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German Pages 204 Year 2000
Widerstand und Macht: Theater in Chile Heidrun Adler, George Woodyard (Hrsg.)
THEATER IN LATEINAMERIKA Herausgegeben von der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika Band 9
Widerstand und Macht: Theater in Chile
Herausgegeben von Heidrun Adler und George Woodyard
Vervuert • Frankfurt am Main 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Widerstand und Macht: Theater in Chile / hrsg. von Heidrun Adler und George Woodyard. Frankfurt am Main : Vervuert, 2000 (Theater in Lateinamerika ; Bd. 9) Span. Ausg. u.d.T.: Resistencia y poder: teatro en Chile ISBN 3-89354-329-5 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abbildung: Somos pro von Ulrich Weiss, Chile Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Inhalt Vorwort
9
Juan Villegas
Theaterdiskurse in Chile in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
15
Jacqueline E. Bixler
Machtspiele und existentielle Lähmung im Theater von Egon Wolff
39
Maria de la Luz Hurtado
Isidora Aguirre im Licht der Geschichte
59
George Woodyard
Jorge Diaz: Chilenisches Theater aus dem Exil
79
Laurietz Seda
95
Wer überwacht Überwacher? Marco Antonio de la Parra: Solofiir Carlos unddie Sigmund Pedro Bravo-Elizondo
Juan Radrigän, die Diktatur und sein Theater
105
Oscar Lepeley
Das chilenische Protesttheater in den ersten Jahren der Militärdiktatur
119
Heidrun Adler
Das Haupt der Medusa Zwei Theaterstücke von Ariel Dorfman
131
Ramön Griffero
Das chilenische Theater zum Ende des Jahrhunderts Elsa M. Gilmore Reiteration, Reproduktion und Reinskription:
Sergio Arraus Vallejo
139 151
Nieves Olcoz
Bild-Gefühl: Chilenische Dramatik der neuen Generation
165
Bibliographie
185
Die demokratische Gesellschaft unterhält das Theater als Forum der Erörterung und der Korrektur ihrer eigenen Praxis und als Instrument des Einspruchs gegen sich selbst.
Vorwort
Peter Iden1
Von Alters her ist das Theater ein Schauplatz für Kritik an der Gesellschaft, ein Medium der Auseinandersetzung mit den Themen der Zeit. Es beschreibt, stellt heraus, betont das eine, fragt nach den Konsequenzen des anderen, bezieht Position. Es stellt Öffentlichkeit her, das ist seine Funktion vom frühen religiösen Ritual bis zur postmodernen Performance. Seine Kritik hat unterschiedliche Grade und Formen, zeigt grobe Raster, Aufbrüche, Verfremdungen und neue Ästhetiken. In seiner Darstellung gerät es nicht nur in Konfrontation zum Publikum, sondern auch zu dem Dargestellten und wirkt so auf die Situationen zurück. Diesen dialektischen Prozess zwischen Theater und Öffentlichkeit meint der Titel dieses Bandes: Widerstand und Macht: Theater in Chile, der die Anthologie Theaterstücke aus Chile, das sechste Projekt der Reihe Moderne Dramatik Lateinamerikas begleitet. 2 Der Titel ist nicht Macht und Widerstand, was dem Theater eine einseitige Richtung gegen eine dominierende Macht gäbe, bzw. sein Arrangement mit dieser Macht. Unser Titel soll beide Begriffe dem Theater zuordnen, dem Theater in Chile - die Anthologie versammelt Stücke aus den Jahren 1968 bis 1999. Wie an einem Modell gleichsam läßt sich mit den verschiedenen Bildern, die das chilenische Theater in diesen Jahren von den Chilenen entwickelt, Erich Fromms Definition des Theaters als „Medium der gesellschaftlichen Rekonstruktion"3 belegen.
1
Theater als Widerspruch. München 1984, S. 46.
2
Bisher erschienen sind: 1. Theaterstücke aus Argentinien, hrsg. von Hedda Kage, Halima Tahán. St. Gallen, Berlin, Säo Paulo 1993. 2. Theaterstücke aus Mexiko, hrsg. von Heidrun Adler, Víctor Rascón Banda. Ebd. 1993 mit Begleitband: Materialien zum mexikanischen Theater, hrsg. von Heidrun Adler, Kirsten Nigro. Berlin 1994. 3. Theaterstücke aus Brasilien, hrsg. von Henry Thorau, Sábato Magaldi. Berlin 1996. 4. Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, hrsg. von Heidrun Adler, Kati Röttger. Frankfurt/Main 1998 mit Begleitband: Geschlechter - Performance, Pathos, Politik, (Adler, Röttger 1998). 5. Kubanische Theaterstücke, hrsg. von Heidrun Adler, Adrián Herr. Frankfurt/Main 1999 mit Begleitband: Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater (Adler, Herr 1999).
3
Erich Fromm: Haben und Sein. Stuttgart 1976.
10
Heidrun Adler Chile hat ca. 14 Millionen Einwohner, die Hälfte davon ist unter 20 Jahre alt. 70% der Bevölkerung sind Mestizen, 25% Weiße, 2% Indianer, die restlichen 3% sind Asiaten. Trotz wiederholter innenpolitischer Krisen lebten die Chilenen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in relativem Wohlstand; das Land erreichte früh einen hohen Grad sozio-kultureller Integration. Dennoch erfährt auch Chile die Polarisierung zwischen Stadt und Land und, durch die Landflucht, in den Städten das Anwachsen der Slums. 1970 wird Salvador Allende Präsident. Er versucht, mit seinem „sozialistischen Experiment" der wachsenden sozialen Probleme Herr zu werden. Streiks und Unruhen sind die Folge, die 1973 zum Putsch der Militärs unter General Augusto Pinochet eskalieren. Fast 17 Jahre bleibt Pinochet an der Macht. Lange Zeit herrschen Belagerungs- und Ausnahmezustand; Folter- und Mordkommandos gehören zum Alltag; Dissidenten verschwinden in Lagern und Gefängnissen. Mit dem Slogan „Nationalismus, Disziplin und Marktwirtschaft" stabilisiert sich Mitte der 80er Jahre die chilenische Wirtschaft. Davon profitiert allerdings nur etwa die Hälfte der Bevölkerung. 1987 gelten noch immer fast 6 Millionen Chilenen als arm. 1989 bringen freie Wahlen ein Ende der Ära Pinochet. Die Bilanz: 100 000 Folteropfer, 1000 Verschwundene. Ein großes Problem für die demokratischen Regierungen nach Pinochet bilden die Anhänger des Generals, die in großer Zahl noch immer Einfluß auf das Parlament und auf das Militär ausüben.4
In welcher Weise das chilenische Theater in den Jahren der bürgerlich-konservativen Regierungen, zur Zeit Salvador Allendes, unter der Militärdiktatur v o n Pinochet und danach die verschiedensten Diskurse entwickelt hat, darüber gibt Juan Villegas einen einleitenden Überblick. Er zeigt auf, wie das Theater unmittelbar auf politische Veränderungen reagiert u n d in welcher Vielfalt und Komplexität sich diese Reaktionen darstellen. Theater wirkt d u r c h die Bilder, die es v o n den Menschen ausstellt. Jeder Einzelne im Publikum m a g sie anders bewerten. Aber das Theater liefert eine Position, an der er die eigene messen kann, mit Zustimmung, Vorbehalt, Betroffenheit oder Widerspruch. Die Aufsätze v o n Jacqueline E. Bixler, Maria de la L u z H u r t a d o , George W o o d y a r d , Laurietz Seda, Heidrun Adler analysieren A u t o r e n und Stücke, die sich in erster Linie inhaltlich mit den Verschiebungen der politischen Kräfte u n d d e m daraus entstehenden Klima der Gesellschaft auseinandersetzen. Es sind Autoren u n d Stücke, die W i d e r s t a n d leisten gegen das V e r d r ä n g e n , das Vergessen und gegen die Macht der Gleichgültigkeit, der Angst und der Gewohnheit. In Machtspiele und existentielle Lähmung im Theater von Egon Wolff zeigt Jacqueline E. Bixler wie Wolff, der vor Allende das schlechte Ge4
Mai's ]Neltführer 17: Chile. Dreieich 1999, S. 39-45.
Vorwort
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wissen der chilenischen Bürger als Alptraumszenario dramatisierte, in den 80er Jahren dieselben Bürger als hilflose und sinnlose Gestalten auf den Trümmern ihrer Vergangenheit darstellt. Seine Figuren treiben Simulationsspiele, die das Klima des Landes widerspiegeln. Die auseinanderfallende Familie kommt der Auflösung der Gesellschaft gleich in einem Land, das von radikalem politischen Gegensatz geteilt und von Angst gelähmt ist. Maria de la Luz Hurtado stellt mit Isidora Aguirre eine Autorin vor, die ihre Theaterarbeit explizit in den Dienst des politischen Widerstands gestellt hat. Formal mit didaktischem Theater mit klaren sozialistischen Zielen, inhaltlich mit Stücken, die Randgruppen der chilenischen Gesellschaft zeigen, um dem politischem Denken ihrer Zuschauer eine klare Richtung zu geben. Aguirre stellt die Armen und Rechtlosen Chiles auf die Bühne, darunter die Mapuche-Indianer, die unter Pinochet bewußt ausgegrenzt wurden. Mit ähnlichen Szenarien arbeitet Juan Radrigän. Bravo Elizondo hebt hervor, daß dieser Autor seinen Diskurs in den konkreten Fakten der jüngsten Geschichte verankert. Während Wolff die Würde des Bürgertums beschäftigt, thematisiert Radrigän die Würde der Armen. Beide Autoren weisen auf ein fundamentales Problem jener Jahre hin, denn der Verlust der Würde ist für die eine Klasse so katastrophal wie für die andere. Im Theater konzentrieren sich Beispiele für Gut und Böse, für Exzesse oder Nichtstun auf „den überschaubaren Ausschnitt und haben als Anschauung gewordenes Denken die Beweiskraft des Paradigmas." (Iden 1984: 66) Aber heute sind so klare Standpunkte, wie Aguirre und Radrigän sie einnehmen, kaum noch wirklich zu beziehen. Zwar gibt es in Chile den krassen sozialen Gegensatz, aus dem ihre kritische Haltung produktiv wird, doch politisch und moralisch sind die Positionen keineswegs so eindeutig. Wer ist Opfer, wer ist Täter? Den für unsere Zeit so typischen Rollenwechsel zwischen beiden stellt Laurietz Seda an dem Stück Solo für Carlos und Sigmund von Marco Antonio de la Parra zur Debatte. Freud und Marx, zwei Ikonen der abendländischen Moral, der bürgerlichen und der proletarischen, stehen als Exhibitionisten und als Terroristen auf der Bühne. Dieser ungewöhnliche Zugriff des Autors auf den Stoff der Zeit läßt keine Festlegung auf gut oder böse zu. Der außerordentliche sinnliche Reiz der von dem ständigen Rollenwechsel der beiden Figuren ausgeht, zwingt den Zuschauer zu ungewohnten Gedankenspielen und Fragen nach Verantwortlichkeit. Vor dem Hintergrund
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Heidrun Adler
einer von den politischen Ereignissen verwirrten Gesellschaft verweist Seda auf die Fragwürdigkeit eindeutiger Positionen. Wie Chile von außerhalb, aus dem Exil, erlebt wird, stellt George Woodyard mit Jorge Diaz: Chilenisches Theater aus dem Exil am Beispiel der jüngsten Stücke des Autors dar. Diaz, der sich in den 60er Jahren mit absurden Stücken über die Kommunikationslosigkeit der bürgerlichen Familie einen Namen gemacht hat, beschäftigt nun die Psyche der Heimatlosen. Woodyard unterstreicht die positive Perspektive, die Diaz seinen Figuren gibt. Von Folter zutiefst verwundet, von Heimweh und Armut gezeichnet, resignieren die Menschen, die Diaz auf die Bühne stellt, nicht. In den Figuren und in dem, was sie tun, zeigen sich die Vorstellungen, die wir von uns selbst haben. Dabei ist das direkte Erkennen gar nicht so wichtig, vielmehr die Ahnungen, die Assoziationen, die das Schauspiel in uns weckt. In der theatralen Transformation finden wir eine Abbildung der Wirklichkeit. Diaz entwirft ein optimistisches Bild. „Das Leben geht weiter", verkündet das Theater. Aber wie geht man mit den „unaussprechlichen" Erlebnissen um? Folter und Tod gingen nicht von einer abstrakten Macht aus, die mit den freien Wahlen von 1989 aus dem chilenischen Leben verschwand. Dieselben Menschen, die nun im Theater sitzen, waren daran beteiligt, als Täter, als Mitläufer, als Opfer. Auf die Mittäterschaft aller verweisen die Theaterstücke von Ariel Dorfman. Der Autor bestreitet die Neutralität des Zuschauers, indem er dem Publikum einen Spiegel vorhält und damit jeden in die Handlung einbezieht. Oscar Lepeley berichtet in Das chilenische Protesttheater in den ersten Jahren der Militärdiktatur über das Phänomen von ALEPH, dem Theater von Oscar Castro, in den verschiedenen Lagern für politische Gefangene. Nicht die Themen stehen hier im Vordergrund, vielmehr das Theaterspiel schlechthin. Widerstand leistet es hier in der Erinnerung auf sich selbst, in der Rekonstruktion der künstlerischen Kreativität. Das Theaterspiel erzeugt Erlebnisse, der Akteure wie der Zuschauer, die durch ihre Gemeinsamkeit Solidarität schaffen, in erster Linie aber Widerstand gegen das Vergessen, das Auslöschen der Individualität und gegen den Verlust von Würde und von Hoffnung in einem Gefangenenlager. Für „das Theater danach" entwickelt Ramön Griffero in seinem Aufsatz über seine eigene Theaterarbeit Das chilenische Theater zum Ende des Jahrhunderts eine neue Theorie, die sich von den europäischen Paradigmen löst und allein die chilenischen Parameter benutzt. Sein Widerspruch gegen die chilenische Gegenwart äußert sich nicht in harten, apodiktischen Urteilen, das Land quasi von außen betrachtend, vielmehr
Vorwort
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fühlt sich Griffero dazugehörig: „Wir leben hier zusammen weiter." Griffero hebt hervor, daß die existentiellen Forderungen der Chilenen technische Forderungen an das Drama stellen. Die formale Rekonstruktion des Theaters muß aus der Wiedergabe der zwischenmenschlichen Beziehungen nach der „Eiszeit" erfolgen. Er beschreibt seine Theaterarbeit explizit als „Notwendigkeit und Widerstand". EL TROLLEY, sein klandestines Theater in den 80er Jahren, war nicht nur ein Treffpunkt für verbotene künstlerische Manifestationen von Dissidenten, seine Texte und Inszenierungen suchten eine andere Ästhetik, eine „politische Poetik, die ein Publikum erschüttern konnte, das in einer erschütternden Wirklichkeit lebt." Radikaler als alle anderen formuliert Griffero seine Visionen. Klarsichtig zeigt er die Entwicklung einer Theatersprache, die nicht allein Widerstand leistet gegen politischen Machtmißbrauch. Zwei Aufsätze, Reiteration, Reproduktion und Reinskription: Sergio Arraus ,Vallejo' von Elsa M. Gilmore und Die Emotion des Bildes: Chilenische Dramaturgie ,neuer Generation' von Nieves Olcoz, belegen diese neue Theaterkonzeption. Gilmore beschreibt Arraus Techniken - Zusammenstellungen von Texten verschiedener Genres -, mit denen er die narrativen Klischees demontiert, die sich um eine lateinamerikanische Ikone, den Dichter César Vallejo, tradiert haben, und unterstreicht die Impulse, die vom Theater ausgehen, um über einen ausgeprägten Individualismus zur Neubewertung der lateinamerikanischen Kultur zu gelangen. Olcoz zeigt wie Juan Claudio Burgos seine performance von einem Bild ausgehend entwickelt - hier Las Meninas von Velázquez - und stellt dabei heraus, wie zerbrechlich der Körper dem Wort gegenüber ist und zugleich doch so stark, um das Wort zu entwerten. Grifferos Beschreibung seiner Suche nach einer „Dramaturgie des Raums" und die von Gilmore und Olcoz von der „Zerstörung des gesellschaftlichen Projekts und der Sinnleere für eine neue Architektur der Zeit" führen zurück auf den Titel dieses Bandes. Sie bestätigen, daß das moderne chilenische Theater auch eine Macht darstellt, die Erinnerung einfordert, individuelle und kollektive Würde anmahnt und die das Theater selbst aus der Vormundschaft der europäischen Theaterwissenschaft befreit. Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt. Theodor W. Adorno 5 Heidrun Adler 5
Noten zur Literatur III. Frankfurt/Main 1969, S. 114.
Juan Villegas
Theaterdiskurse in Chile in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Veränderungen im Theater lassen sich weder durch eine immanente Entwicklung noch durch den Wandel von einer Dekade zur nächsten erklären, sondern durch historische Ereignisse, die grundlegend die Wahrnehmung der Welt, die politischen Interessen sowie die Auffassung von Theater und Kultur sowohl der Produzenten als auch der potentiellen Zuschauer prägen. Die wesentlichen Tendenzen des chilenischen Theaters werden von verschiedenen historischen und sozialen Faktoren bestimmt. In den 40er Jahren vollzieht sich die Veränderung parallel zu ähnlichen Bewegungen in ganz Lateinamerika und ist Teil eines Modernisierungsprozesses, der mit dem politischen Aufstieg des Mittelstandes einhergeht und eine Folge nationaler Programme repräsentativer Demokratien mit aktiver Partizipation des Volkes ist. Er stellt die Nationalisierung und den Schutz nationaler Wertsysteme in den Vordergrund und sieht den Staat als richtungsweisend für die Kultur und die Kultur als einen Beitrag zum sozialen Wandel. Vorbild der innerhalb dieser Programme angestrebten Kultur ist die als „universell" angesehene Kultur Mitteleuropas. Der Kampf um die Macht der zwei wichtigsten politischen Kräfte jener Epoche - der marxistische Sozialismus und die Christdemokratie - erklärt viele der kulturellen Merkmale jener Zeit. In Chile gerät das Programm 1970 mit der Wahl von Salvador Allende in die Krise, weil sich nun der Staat sehr stark dem marxistischsozialistischen System zuneigt und damit bei den anderen politischen Kräften des Landes heftige Reaktionen hervorruft. Auf kultureller Ebene und im Theater charakterisiert sich diese Zeit durch politische Radikalisierung und durch das Bedürfnis, alle Kunstformen jeweils im Licht ihres Beitrages für oder gegen den „revolutionären" Prozeß zu betrachten. Der Militärputsch von 1973 stoppt dieses politische Engagement und verschärft gleichzeitig die Antithese Diktatur/Demokratie. Von 1973 bis 1990 ist diese Antithese die Basis aller politischen und kulturellen Aktivitäten. Sowohl die Diktatur als auch die vom autoritären Regime aufgezwungene liberalistische Politik des freien Marktes beeinträchtigen zutiefst das kulturelle Schaffen. Das Aufkommen demokratischer Kräfte und die ersten Anzeichen einer Lockerung der Macht der Militärregierung geben 1983-84 Raum für eine Kultur und ein Theater, die ihren Protest unmittelbarer formulieren als in den Jahren zuvor. Die Rückkehr zur
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Juan
Villegas
Demokratie 1990 verändert grundlegend die künstlerischen Ausdrucksformen. Zu diesem Zeitpunkt werden politische Konnotationen eher ausgespart und stärker die ökonomischen und die Produktion bestimmenden Faktoren in den Vordergrund gerückt. Das System des freien Marktes und die Kommerzialisierung, die gewaltige Entwicklung der Kommunikationssysteme sowie die Öffnung des Fernsehens für internationale Kanäle durch das Kabel führen zu einem Kunst-Rezipienten und potentiellen Theaterzuschauer, der von neuen künstlerischen Tendenzen beeinflußt ist, die keine politischen Implikationen mehr haben und nicht im Sinne eines gesellschaftlichen Programms funktionalisiert werden. Dieses neue Publikum ist formalen Veränderungen, den Mittel des „Marketings" und den internationalen Techniken gegenüber durchaus aufgeschlossen. Der Wettbewerb des freien Marktes, die kulturelle Intertextualität zu internationalen Tendenzen, die Schwächung des nationalen Programms mit seiner Betonung auf „national" fördern andererseits länderübergreifende künstlerische Tendenzen und ermöglichen die Entstehung von kulturellen Gruppierungen, für die „national" nicht mehr das definierende Element ist. Was das Theater angeht, so verlagert sich der Diskurs ins Formale und auf die Arbeit von Gruppen aus den kulturellen Randgebieten. Modernisierung des Theaters und Vorstellungen zur nationalen Erneuerung: 1940 bis 1970 Das „moderne" Theater in Chile beginnt nach Ansicht vieler Theaterhistoriker mit der Gründung des T E A T R O E X P E R I M E N T A L der U N I VERSIDAD DE CHILE (1940) und des T E A T R O DE E N S A Y O der UNIVERSIDAD C A T Ó L I C A (1943). Beide Gruppen repräsentieren die kulturellen Strömungen, die sich im Kontext der Modernisierung und Industrialisierung des Staates als Produkt des politischen und kulturellen Aufstiegs des Mittelstandes herausbildeten. Der Schlüsselbegriff für die theatralen Intentionen beider Gruppen hieß Modernisierung, was hier Trennung vom „verknöcherten" Theater realistischen Ursprungs und von Schauspielund Regieformen aus der spanischen Tradition bedeutete. Gleichzeitig versuchte man, einen Zuschauer zu „erziehen", der die neuen Formen verstehen und schätzen kann. Die Erneuerung des Theaters bestand hauptsächlich darin, moderne - sprich europäische - Strömungen aufzunehmen. Auf politischer Ebene hieß Modernisierung in erster Linie
Theaterdiskurse in Chile
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Nationalisierung, was wiederum im Theater zur Förderung nationaler Produktionen von nationalen Autoren mit nationalen Themen führte.1 Den vorherrschenden Theaterdiskurs Chiles jener Zeit produzierte der gebildeten Mittelstand und richtet sich auch an ihn als Zielgruppe. Geprägt wurde er vom ideologischen Machtkampf zwischen Christdemokratie und UNIDAD POPULÄR. Trotz ihrer Übereinstimmung, was die Notwendigkeit eines sozialen Wandels betraf, suchten beide Gruppierungen gemäß ihrer ideologischen Herkunft unterschiedliche Antworten auf die Probleme des Landes und forderten unterschiedliche Vorgehensweisen zur Erreichung ihrer Ziele. Im Hinblick auf das Theater stimmten sie allerdings darin überein, daß theatrale und rhetorische Codes verwendet werden sollten, die man im Rahmen der dominierenden abendländischen Kultur „ästhetisch" verwirklicht sah. Das Modell für „gutes Theater" war das europäische und selbst die Streifzüge ins sogenannte „nationale Theater" benutzten zumeist die von der europäischen Kultur sanktionierten Theatertechniken. Die Mittel des epischen und des absurden Theaters waren bis 1973 Hauptbestandteil des vorherrschenden Theaterdiskurses in Chile, und die Theaterkritik bezeichnete diejenige Stücke als die wichtigsten, die sich in diese Tendenzen einfügten. Andererseits führte die politische Bedeutung der unteren Schichten dazu, daß Autoren beider ideologischer Ausrichtungen versuchten, in ihren Stücken jene Gesellschaftsschicht darzustellen. Der eigenen Ideologie und den jeweiligen nationalen Intentionen entsprechend zeigten sowohl Christdemokraten als auch die Parteien marxistischer Orientierung diese Schichten aus ihrer eigenen Perspektive. Der Modernisierungsprozeß des Theaters und seine Funktionalisierung für die jeweiligen nationalen Programme dauerte bis Ende der 60er Jahre. 1970 gipfelte der Gegensatz zwischen Marxismus und Christdemokratie in der Wahl Salvador Allendes. Der Zeitraum von 1970-1973 unterscheidet sich von dem vorherigen, und noch größer ist der Unterschied zur darauffolgenden Zeit.2 National und international anerkannte Autoren dieser Zeit sind unter anderen Jorge Diaz, Egon Wolff und Isidora Aguirre, die zu Klassikern des modernen chilenischen Theaters geworden sind und noch heu-
1
Vgl. María de la Luz Hurtado: „Teatro y sociedad chilena. La dramaturgia de la renovación universitaria entre 1950 y 1970". (1986: 96-107)
2
Vgl. Juan Villegas: „Los marginados como personajes: Teatro chileno de la década de los sesenta". (1986: 85-95)
Juan
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Villegas
te Stücke schreiben. Für diese Zeit sind ferner Luis Alberto Heiremans, Sergio Vodanovic und Maria Asunciön Requena zu nennen. In der imaginären Welt des Dramas kommen verschiedene Themen, zum Tragen, die auf die aktuellen nationalen Probleme anspielen. Zum Beispiel die Landflucht und das Anwachsen der unteren Bevölkerungsschichten, die in erster Linie Arbeitskräfte ohne jede Ausbildung hervorbringen. Isidora Aguirre wird mit Los papeleros (1963) bekannt, ein Stück, das sich der Mittel des epischen Theaters bedient und eine optimistische Sichtweise der Revolution zeigt, mit der die Unterschicht an die Macht kommt. Es geht um Personen sozialer Randgruppen. Die Handlung spielt auf einer Müllkippe, wo die Eigentümer die Bewohner ausbeuten und ihnen das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. Die Menschen rufen eine Protestbewegung gegen die Besitzenden ins Leben. Der Aufruhr endet mit dem Brand des Hauses, in dem der Vertreter des Patrons lebt. Neu ist, daß eine Frau die Führung der Rebellion übernommen hat; sie will für ihren Sohn eine bessere Gesellschaft aufbauen. Jorge Diaz macht mit El cepillo de dientes (1961) auf sich aufmerksam, ein Stück, das dem Theater des Absurden zugeordnet wird. Sein Thema ist die bürgerliche Familie. Der Theaterdiskurs verdeutlicht das Scheitern der Kommunikation auf individueller Ebene, denn der Sprache fehlt die nötige kommunikative Kraft. Der Mensch ist ein einsames Wesen. Jorge Diaz setzt sich aber auch explizit mit den gesellschaftlichen Problemen der Zeit auseinander. Topografia de un desnudo (1968) beschreibt gesellschaftliche Marginalität. Seine Vorstellungen von einer sozialen Erneuerung stammen eindeutig aus der Christdemokratie. Egon Wolff erlangt mit Los invasores (1963) und Flores de papel (1970)3 internationales Ansehen. Auch er stellt die Welt des Mittelstandes dar, spart aber das Konfliktpotenzial mit den unteren Schichten nicht aus. In Los invasores geht es um das Großbürgertum, dessen persönlicher Egoismus den Widerstand der zur sozialen Unterschicht degradierten Arbeiterklasse provoziert. Die Lösung des gesellschaftlichen Übels soll hier eine moralische Besserung des kapitalistischen Individuums bringen, nicht aber notwendigerweise die Abschaffung des Kapitalismus als Produktionssystem. In Flores de papel wird der soziale Antagonismus auf individueller Ebene hergestellt. Eva, eine unverheiratete Frau aus dem Bürgertum, nimmt Merluza in ihrer Wohnung auf, einen 3
„Invasoren", deutsch von Gerd-Rainer Prodtmann, in Theaterstücke von H. Adler, M. Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 9-48.
aus Chile, hrsg.
Theaterdiskurse in Chile
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Mann aus den Slums, der nach und nach von der Wohnung Besitz ergreift, Gegenstände zerstört und Eva vollkommen seinem Willen unterwirft. Zwar gibt es verschiedene Lesarten des Stückes, doch ist die Präsenz der gesellschaftlichen Klassen und die Vernichtung der Bourgeoisie durch das Lumpenproletariat auffällig.4 D i e Zeit der UNIDAD POPULÄR: 1970 bis 1973
Obgleich in der Zeit der UNIDAD POPULÄR die sozialen Spannungen zunahmen und die politischen Gegensätzen verstärkt aufbrachen, erlebte das Theater keinen radikalen Wandel. Die nationale Radikalisierung schaffte das Bedürfnis nach einem noch stärker in den nationalen Belangen engagierten Theater. Einer der in dieser Zeit aufgeführten Texte ist Chiloe cielos cubiertos von Maria Asunciön Requena. Wie auch andere Stücke der Autorin handelt dieses von geographisch am Rande lebenden Menschen - Chiloe ist eine Insel vor der Küste Südchiles -, vom Mangel an Arbeitsplätzen und von Männern, die auf der Suche nach Arbeit ihre Familien verlassen. Die gesellschaftliche Antwort dieses Stückes heißt Kollektivismus und Kooperativen, und seine Botschaft läßt sich somit dem Programm der Christdemokraten zuordnen. Das Neue lag vor allem in der Ausbildung von Theaterleuten, von sogenannten monitores, in der Regel aus dem universitären Bereich, die sich um die politische Bildung der städtischen Randgruppen und der Landbevölkerung bemühten. Gleichzeitig wurden Theatergruppen gefördert, die ihre Aktivitäten in die ländlichen Gebiete verlagerten. Das Kollektivtheater gewann an Bedeutung und Anerkennung. Generell wurden jedoch dieselben Autoren gespielt wie zuvor. Theater im autoritären Staat: 1974 bis 1990 Der Militärputsch von 1973 war ein bestimmender Faktor im kulturellen Leben Chiles. Er veränderte die Machtverhältnisse innerhalb des Landes und verwies die bisherigen kulturellen Machtträger in die Opposition. Diese behielten aber ihre Präsenz im Kulturbereich. Die politisch und wirtschaftlich ins Abseits gedrängte Kultur benutzte alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um der neuen politischen Macht entschieden entgegenzutreten. Das eigene Prestige wurde geltend gemacht, um 4
Zu den verschiedenen Lesarten siehe José Varela (1987).
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Juan Villegas
die kulturellen Diskurse, die dem politischen Regime seine Rechtmäßigkeit absprachen, zu untermauern und aufzuwerten.5 Das chilenische Theater von 1973 bis 1990 setzt sich aus einer Vielzahl von Diskursen zusammen, sowohl aus den kulturell beherrschenden als auch aus den marginalen Gesellschaftsbereichen. Alle sind jedoch von der Erfahrung des autoritären Regimes geprägt, von seinen ideologischen Beschränkungen und von direkten und indirekten Zwängen. Die Ausübung politischer Macht auf die Kultur beeinflußte sowohl die Produktion als auch die Rezeption theatraler Diskurse, auch wenn dies die an die gesellschaftlich marginalen und kulturell hegemonischen Schichten gerichteten Diskurse in unterschiedlichem Maße betraf. Das politische Regime beeinträchtigte in vielfacher Hinsicht die Theaterpraxis. Einerseits verließen viele Schauspieler, Regisseure und ganze Theatergruppen das Land; sie emigrierten in andere Länder Lateinamerikas oder nach Europa; einige zogen von Land zu Land. Innerhalb Chiles polarisierte das autoritäre System den Theaterdiskurs - für oder gegen das Regime -, zwang zu indirekter und symbolischer Sprache auf der Bühne und trug direkt und indirekt zur Kanonisierung kritischer nationaler und ausländischer Autoren bei, die nur nach dem Kriterium ihrer kritischen Haltung gegenüber dem Regime beurteilt wurden. Andererseits führte das Wirtschaftssystem des freien Marktes, die Konjunktur des „Marketings" als Instrument der Kommerzialisierung und die stärkere Nutzung des Fernsehens und seiner internationalen Shows zu einem Theater, dessen Schwerpunkt auf dem Spektakulären und der Unterhaltung ohne politisches Engagement lag. Generell lassen sich aus dem Blickwinkel der Politik und ihrem Verhältnis zur Produktion von Kultur und Theater zwei signifikative Momente darstellen. 1983 ist ein Schlüsseldatum der Veränderung. In diesem Jahr kam es zu den ersten Massenprotesten gegen das Regime, vor allem in Santiago. Und eine spürbare politische Öffnung seitens der Regierung führte dazu, daß einige Gruppen ihre Kritik und ihren Protest offener formulierten. Im Theater zeigt sich dies auch in der Verarbeitung von Themen, mit denen sich vorwiegend die Opposition beschäftigte.
5
Zur Analyse der Auswirkungen des Staatsstreiches auf das soziale Bewußtsein in Chile und auf die nationale Kultur siehe José Joaquín Brunner: Un espejo trizado (1988), siehe die Kapitel „Entre la cultura autoritaria y la cultura democrática", S. 79-104 und „Políticas culturales de la oposición de Chile", S. 105-132.
Theaterdiskurse in Chile
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Innerhalb dieser allgemeinen Skizzierung muß jedoch differenziert werden: Der herrschende Theaterdiskurs bleibt derjenige der Mittelschicht, die Texte produziert, die sich an die traditionellen Zuschauer des sogenannten Bildungstheaters richten. Dieser Diskurs verwendet theatrale und ästhetische Codes, die sich aus ihrer Übereinstimmung mit den internationalen Kulturströmungen rechtfertigen. Innerhalb der kulturell dominierenden Diskurse sind zwei Tendenzen zu unterscheiden: zum einen der Autoritarismus, der den politischen und kulturellen Prinzipien der offiziellen Politik treu bleibt und zum anderen die ideologisch alternativen Diskurse, die es sich zur Aufgabe machen, das politische Regime in Frage zu stellen. Daneben existieren andere Diskurse, die sich hauptsächlich an populäre und marginale Schichten wenden. Das autoritäre Theatersystem unterstützt in jeder Weise die politischen Machthaber. Es hinterfragt weder die Basis noch die Rechtmäßigkeit der politischen Macht und stützt sich auf einen Kanon vermeintlich „universeller" Kunst, die keine Bezüge auf die nationale Situation aufweist und für eine Interpretation der Geschehnisse in Chile keinen Raum läßt. Interessant ist, daß einige Intellektuelle des Regimes sich durchaus der Notwendigkeit bewußt waren, einen kritischen Theaterdiskurs herzustellen.6 Das wichtigste Instrument jenes Diskurses war das TEATRO NACIONAL. Es trat das Erbe des INSTITUTO DEL TEATRO der UNIVERSIDAD DE CHILE und seiner Theatergruppe an, die im TEATRO ANTONIO VARAS spielte. Der politische Machtwechsel verwandelte die ehemalige Bastion der Theaterlinken in einen Hort der Nicht-Dissidenten und des „universellen" Theaters. Gespielt wurden vornehmlich die „Klassiker" des westlichen Theaters, in erster Linie des spanischen Theaters, mit Schwerpunkt auf Themen, die vom herrschenden politischen Diskurs als universell und unverfänglich erachtet werden. Die Beschreibung von Piña macht diese Tendenz deutlich: In der ersten Zeit der Militärregierung nimmt das Evasionstheater zahlenmäßig zu. Hinzukommen die Kleinkunstbühnen („Café-concert") und jene Theaterformen, die später zum großen Show-Theater im Stil des CASINO LAS VEGAS und der Inszenierungen des Schauspielers Tomás Vidiella werden sollten. Ganz anders als man annehmen sollte, weist der Spielplan jener Zeit eine Überfülle von Produktionen auf, die sich allerdings zwischen Kindertheater, musikalischer
6
Ein wenig erforschter Aspekt des chilenischen Militärregimes ist sein kulturelles Projekt. Die Dokumentation über die Aufführung von Tres Marias y una Rosa ist dazu sehr aufschlußreich. Vgl. dazu Hans Ehrmann (1989:155-161).
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Juan Villegas
Komödie in schlechtester Broadway-Manier und Kleinsttheater bewegen, mit denen sich ein Samstagabend totschlagen läßt. (Pina 1996:140)
Viele Theatergruppen, vor allem die mit einer kommerziellen Ausrichtung, folgten dieser Linie. Wiederaufnahmen von bestimmten chilenischen „Klassikern" wurden gewöhnlich unpolitisch und zu einer Fernsehvision der Wirklichkeit umgedeutet. So auch bei der Neuinszenierung von Chiloe cielos cubiertos von Maria Asunciön Requena. Gesellschaftskritik und materielle Probleme der Armen auf der Insel Chiloe, also das kollektivistische Anliegen, verschwanden. 7 Die Version von 1988 verwischte das politische Problem zugunsten von Folklore und einer Showchoreographie, die die Elemente des Magischen und des Aberglaubens in Komik oder Sentimentalität verwandelten.8 Das autoritäre System produzierte keine nennenswerten Theatertexte, die sich an soziale und kulturelle Randgruppen richteten. Seine politische, ideologische und kulturelle Botschaft wurde vorzugsweise durch das Fernsehen an das Volk vermittelt. Neben dem autoritären Diskurs entstand ein System alternativer Theaterdiskurse, die ebenfalls von der kulturellen Mittelschicht produziert wurden und mit dem Autoritarismus um das gleiche Publikum konkurrierte. Charakteristisch ist ihre kritische Haltung gegenüber der politischen Macht. Sie wurden auf verschiedene Arten zum Schweigen gebracht: z. B. indirekte Zensur, politischer Druck, politisches und wirtschaftliches Exil oder dadurch, daß bestimmte Theatergruppen wieder institutionalisiert wurden. Dieses Theatersystem hat große Aufmerksamkeit des kritischen Diskurses im In- und Ausland auf sich gezogen. Unsere Einteilung in zwei Perioden (1973-1983 und 1983-1990) kommt in diesem Diskurs in aller Deutlichkeit zum Tragen. Die Mehrzahl jener alternativen Diskurse, ob von nationalen oder ausländischen Autoren, verfolgt eine ähnliche Linie wie zuvor beschrieben: Es handelt sich um politisch konnotierte Texte, die auf die aktuelle Lage des Landes anspielen, und um Texte mit universaler Ausrichtung, deren Problemstellung über Grenzen, soziale Bedingungen und natio-
7
8
Vgl. Juan Villegas: „Maria Asunción Requena: éxito teatral e historia literaria". (1995:19-38) Diese Sichtweise wurde durch verschiedene Fernsehsendungen noch verstärkt, in denen die Tänze und Lieder aus Chiloé besonders hervorgehoben wurden.
Theaterdiskurse in Chile
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nale Politik hinausgehen.9 Die traditionellen Theaterzuschauer wollten vorwiegend Theatertexte mit offen und potentiell kritischer Haltung, um damit als Zuschauer zu Komplizen zu werden und zu bewirken, daß die Texte als Protest oder Anklage gelesen wurden. Weder synchron noch diachronisch betrachtet ist dieser Diskurs gleichförmig. Vor 1983 zeigt er sich kämpferischer in seiner Opposition zum Militärregime und greift verstärkt zu den Mitteln der Anspielung oder Auslassung oder kritisiert das Regime in seiner wirtschaftlichen Dimension. Während dieses Zeitraums werden Theatertexte zu einem wesentlichen Instrument der Dissidenz. Unter dem Druck eines politisch autoritären Systems, das direkt oder indirekt die Äußerungen der Kritiker kontrollierte, manipulieren die Produzenten jener Theaterdiskurse sowohl ihr Signifikat als auch den Signifikanten. Rodrigo Cánovas sieht beispielsweise einen Wendepunkt um 1980: Zwischen 1973 und 1980 schafft das unabhängige professionelle Theater einen alternativen Diskurs zum autoritären Kulturmodell. Seine kritische Funktion ist von unleugbarem Wert, denn in jener Zeit gab es keine öffentlichen Räume, in denen sich die Opposition ausdrücken konnte (wir meinen damit eine kritische Presse oder Radiosender, Gewerkschafts- und Studentenbewegungen, wirksam arbeitende politische Parteien).
Hurtado und Ochsenius verweisen in diesem Zusammenhang auf ein Theater, das sie als „Dokumentartheater der Kontingenz" bezeichnen und dem sie eine „unmittelbarere kritische Funktion" zuschreiben.10 Eine entscheidende Intention dieser Stücke ist es, die Situation des Ausschlusses vom herrschenden wirtschaftlichen und sozialen System zu zeigen, von der breite Sektoren der chilenischen Gesellschaft betroffen sind. Diese Situation wird durch den autoritären Charakter des Staates und seiner wirtschaftlichen Maßnahmen verursacht und verschärft. (1982: 34)
Der alternative Theaterdiskurse dieser Periode kritisierte vor allem die wirtschaftlichen Aspekte und hob nicht auf die Rechtmäßigkeit des Regimes ab oder auf die Situation von Verfolgung und Terror, die erst im 9
Dieser Diskurs soll in unserem Aufsatz nicht weiter ausgeführt werden. Es gibt verschiedene Theatertexte wichtiger Autoren innerhalb dieser Ausrichtung, z.B. Un oscuro vuelo compartido von Jorge Díaz, der ebenfalls v o m Theater der UNIVERSIDAD CATÓLICA inszeniert wurde; abgedruckt in APUNTES 97 (1988: 48-81).
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Vgl. Hurtado, Ochsenius: „Transformaciones del teatro chileno en la década del 7 0 " (1982).
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zweiten Abschnitt angeprangert werden sollte. In der zeitgenössischen Presse war die Kritik an der Regierung ausschließlich wirtschaftlicher Natur. Ein Beispiel dafür ist Lindo país con vista al mar (ICTUS 1 9 7 9 ) von de la Parra, Gajardo und Osses, in dem die Ideologie des freien Marktes scharf kritisiert wird. In die gleiche Richtung geht Renegociación de un préstamo relacionado, bajo fuerte lluvia en cancha de tenis mojada von Julio Bravo (Coproducción von ICTUS und TEATRO LA COMEDIA 1983). Hier liegt die Betonung auf der satirischen Darstellung junger Ökonomen, die dem Wirtschaftsmodell der sogenannten „School of Chicago" anhängen. Ein weiteres Beispiel für die Darstellung von sozialer Ausgrenzung, in diesem Fall von Frauen, ist Tres Marias y una Rosa (1979) von David Benavente, das gewisse internationale Verbreitung fand. 11 Die Handlung kreist um einige Frauen, die sich zusammentun, um „arpilleras" herzustellen. Trotz leichter Bezüge, die ein eingeweihter Leser als Anspielungen auf das diktatorische System verstehen könnte, sind es wirtschaftliche Aspekte, die den dargestellten Situationen und Lösungen zugrunde liegen: nämlich die Fähigkeit der Frauen, sich zu einer Kooperative zusammenzuschließen und das geschickte „Vermarkten" ihrer Produkte. Der Wandel von 1983 manifestierte sich im Theater in einer offeneren Kritik an Menschenrechtsverletzungen und darin, daß der brutale Machtmißbrauch der Regierung angeprangert wird. Ferner präsentieren die an die Mittelschicht gerichteten Texte offen einige der brennenden Fragen der Zeit: das erzwungene Exil, die Rückkehr der Exilierten, die Lebensbedingungen der Armen, die Gewalt, die von den sogenannten „Ordnungskräften" ausgeübt wird. Sich daran anschließende Diskussionen wurden zu Foren für die großen Themen der Opposition. Es wurden sowohl nationale als auch ausländische Stücke zu diesen und damit verbundenen Themen aufgeführt.12 Mehrere Theatergruppen wurden zu Symbolen der Opposition geg e n d a s R e g i m e , ICTUS u n d d a s TEATRO DE LA UNIVERSIDAD CATÓLICA
(TEUC) waren die repräsentativsten. TEUC war eng mit der Katholischen Kirche verbunden - einer mächtigen oppositionellen Kraft. Eine seiner schärfsten Attacken auf das Militärregime war das Stück Pachamama
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Siehe dazu eine kurze Analyse von Boyle (1992: 78-84).
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Interessanterweise wurden hauptsächlich argentinische Autoren aufgeführt, darunter Roberto Cossa und Griselda Gambaro.
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(1988) von Omar Saavedra Santis, Regie Raúl Osorio.13 Das Stück beschreibt einen Zustand der Diktatur, der sich auf die damalige Situation des Landes übertragen läßt, und bringt Figuren auf die Bühne, die mit den Machthabern jener Zeit assoziiert werden könnten. Für den Großteil der Zuschauer bestand eine klare Beziehung zwischen der chilenischen Situation und der auf der Bühne gezeigten Welt. Es wird ein Volk gezeigt, das von einem Diktator, Quinto Chasán, regiert wird, der sich entschließt, den Bau eines Schiffes nach einem uralten Vorbild zu genehmigen. Der Text zeigt einen Raum, der sich durch die Unterdrückung von Freiheit und die Rechtfertigung von Gewalt gegen diejenigen, die sich dagegen auflehnen, definiert. Das Stück ist auch eine Parodie auf die auswärtigen Beziehungen und die Einmischung ausländischer Wissenschaftler.14 Das wichtigste Symbol ist das Meer - Ausdruck eines Glaubens, der per Dekret vom Vater des Quinto Chasán verboten worden war. Es repräsentiert die Freiheit, innerhalb seiner archetypischen Bedeutungsmöglichkeiten. Weitere Symbole sind die Reise und das Schiff. Das Motiv des Schiffbaus bildet den Kern der dramatischen Handlung, denn die Fortschritte beim Bau bringen die Bauern der Verwirklichung ihres Wunsches, das Meer zu bereisen, näher. Es stellt sich heraus, daß Quinto Chasán machtpolitisch gesehen mit der Aufhebung des Dekrets einen Fehler beging. Denn Quinto Chasán wird ermordet, die Diktatur setzt sich in ihrer ganzen Macht durch, und die Existenz des Meeres wird strikt verboten. Das Stück endet mit dem Aufstand der Bauern, die die neuen Diktatoren und ihre Gefolgsleute töten. Der Protest gegen die Diktatur wird von einem bestimmten Zeitpunkt an hauptsächlich in Aufführung von Klassikern der abendländischen Theaterkultur zum Ausdruck gebracht. Die Texte wurden nicht allein wegen ihres „kulturellen" Wertes ausgewählt und aufgeführt, sondern wegen ihres Potentials an politischer Bedeutung. Héctor Noguera, Schauspieler, Regisseur und Lehrer an der Schauspielschule des TEUC, bemerkt dazu: „In Chile griff man seit dem Staatsstreich auf das klassisches Theater zurück." Weiter schreibt er über die Auswahl der Stücke:
13
Siehe dazu
14
Man muß beachten, daß dieser Text von einem Chilenen geschrieben wurde, der in der damaligen DDR lebte. Seine Sichtweise der italienischen Wissenschaftler muß daher in diese Richtung interpretiert werden.
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Andererseits und im geringeren durch die Umstände bedingten Maße war es eine Form, unter dem Schutz der Autorität der Klassiker das Verbotene auszusprechen (dennoch wagte lange Zeit niemand, Fuenteovejuna aufzuführen). So inszenierte Eugenio Dittborn mit der Theatergruppe der UNIVERSIDAD CATÓLICA 1974 La vida es sueño von Calderón de la Barca, eine Inszenierung, in der der Freiheitskampf des Segismundo im Mittelpunkt steht. Ebenfalls unter der Regie von Dittborn zeigte die Inszenierung von Le bourgeois gentilhomme von Molière, wie das Streben eines Arrivisten zum Wahnsinn führt. In der Hamlet-Inszenierung von Raúl Osorio ging es hauptsächlich um die Unrechtmäßigkeit der Macht von Claudio. (Noguera 1988:111-112)
Die Gruppe ÌCTUS inszenierte einen der gewagtesten chilenischen Texte, in dem eine Gesellschaft unter dem Druck ständiger Angst gezeigt wird: Está en el aire von Carlos Cerdas, in dem Roberto Parada die Hauptrolle des Exequiel Soto spielte, ist eine Denunziation der Unterdrückungsmethoden und der Ignoranz gewisser Gesellschaftsschichten, die die Gewalt des politischen Systems leugneten und nicht sehen wollten.15 Die Aufführung schneidet das Thema der Verschwundenen an, weist ausdrücklich auf die Existenz einer Geheimpolizei hin und verfolgt den Prozeß von Verschwinden, Folter und Tod einer der Figuren. Ein weiterer wichtiger Aspekt des alternativen Diskurses ist die Dekonstruktion der nationalen Geschichte und die damit oft verbundene Einsicht in die Unzulänglichkeit der herrschenden Klasse. Unter den Stücken dieser Ausrichtung fand Lo crudo, lo cocido, lo podrido von Marco Antonio de la Parra, das im Oktober 1978 uraufgeführt wurde, die größte Resonanz in Chile. Es gibt keinen direkten Verweis auf die Diktatur. Dennoch wurde die Premiere auf Anordnung des Rektors der UNIVERSIDAD CATÓLICA „wegen der Sprache wie auch der Respektlosigkeit des Inhaltes" 16 abgesagt. In der Dokumentation ist folgende Anmerkung des Rektors der Universität zu finden: „Der Text des Stückes erscheint mir vulgär und ungehobelt und hat meiner Meinung nach nicht das Niveau, das eine Universität ihrem Publikum bieten sollte." Mit diesem Text wurde der Autor bekannt und begann seine Karriere als der respektlose Dramatiker der Mittelschicht. Die Handlung des Stückes spielt in einem traditionellen Restaurant „Los Inmortales" (Die Unsterblichen), wo drei junge Männer - offensichtlich die letzten Überlebenden einer Geheimen 15
Roberto Parada war ein renommierter Schauspieler, Mitglied der Kommunistischen Partei und - was in diesem Fall von großer politischer Bedeutung war - Vater eines der vom Regime ermordeten Lehrer.
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Das Zitat stammt aus dem Abdruck einer Dokumentation in El Sur, Concepción 1. Juli 1978, S. 2.
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Burschenschaft - auf Kundschaft warten und dabei unaufhörlich streiten, sich gegenseitig geißeln und strafen. Es entsteht der Eindruck, als seien sie Überbleibsel einer mächtigen Organisation, die das Geschick des Landes lenkte. Die Burschen können das Lokal aber nicht verlassen; die Rituale der Bruderschaft werden nachgespielt. Der Politiker Ossa Moya tritt auf, wohl der letzte Vertreter eines „demokratischen" Systems, das auf Schiebung, Betrug und politischem Schwindel beruht. Der alte und stets betrunkene Politker stirbt. Die Burschen können diesem Ort der Unterdrückung entfliehen.17 Allerdings läßt sich der Text auch als Unterstützung der Kampagnen des Militärregimes lesen, die sich gegen die Korruption während der Demokratie richteten. Den gleichen zweideutigen Charakter zeigt ein anderes erfolgreiches Stück von de la Parra. In La secreta obscenidad de cada dia (1978)18 werden zwei westliche „Standard-Lektüren", Sigmund Freud und Karl Marx, satirisch dargestellt. Beide werden als pädophile Exhibitionisten und am Ende als Terroristen gezeigt. Im Verlauf des Dialogs gibt es eindeutig negative Bezüge auf das in Chile herrschende Regime. Ein weiteres Motiv, das im Theater nach 1980 auftaucht, ist das Exil und die Rückkehr aus dem Exil. Damit beschäftigt sich besonders Jaime Miranda, der seine Karriere als Theaterautor im Ausland (in Venezuela) begann. Von dort aus ging er mit der Gruppe Los CUATROS und seinem ersten Stück Por la razön y lafuerza (1981) auf internationale Tournee. Es zeigt eine Gruppe von chilenischen Emigranten auf dem Flughafen von Caracas. Das Handlungsmotiv des Wartens bringt die Figuren dazu, über ihr Heimweh, die Schwierigkeiten, die sie durchlebt haben, und ihre verklärte Vision von Chile ohne Militärregierung zu sprechen. Regreso sin causa, das zweite Stück, wurde im November 1984 von der Gruppe LA TAQUILLA in Santiago aufgeführt. Es zeigt nicht nur die Probleme der Menschen im Exil, sondern auch die Probleme, die sie bei ihrer Rückkehr haben. Auch Jorge Diaz beschäftigt sich in Ligeros de equipaje, 1987 von der Gruppe TEATRO DEL ALMA aufgeführt, und in Dicen que la distancia es el olvido (1987)19 mit den Folgen des Exils. In dem zweiten Stück geht es um die Psyche von Folteropfern. 17
J. A. Pina meint, das Theater habe sich „zugunsten einer expressionistischen und absurden Dramatik" vom Realismus abgekehrt. (1978: 45)
18
„Solo für Carlos und Sigmund", deutsch von Dagmar Ploetz, in Theaterstücke aus Chile (Adler, Hurtado 2000), S. 107-144.
19
Abgedruckt in Gestosl, 3 (April 1987). „Aus den Augen, aus dem Sinn", deutsch von Heidrun Adler, in Theaterstücke aus Chile (Adler, Hurtado 2000), S. 171-214.
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Für die politischen Zielsetzungen der Linken und der Katholischen Kirche war die Mitwirkung der unteren Bevölkerungsschichten im Kampf gegen das Militärregime unverzichtbar. Im Theater manifestiert sich dies in zahlreichen Texten, in denen diese Gesellschaftsschichten dargestellt werden oder deren Botschaft sich speziell an sie als potentielle Zuschauer richtet. Die Bedeutung jener sogenannten „marginalen" Bevölkerungsteile im Kampf gegen die autoritäre politische Macht führte zu einem signifikativen Wandel in ihrer Darstellung. Figuren aus diesen Schichten werden zu Protagonisten in zahlreichen Stücken, oder die Handlung spielt an einem Ort gesellschaftlicher Marginalität.20 Im fiktiven Raum des Theaters liegt oftmals die einzige Rettung vor der Unterdrückung in der Verteidigung der Freiheit, die in den unteren Schichten stattfindet. Unserer Ansicht nach resultiert diese idealisierte und utopische Vision daraus, daß der Mittelstand für die intensive Teilnahme jener Schichten an den täglichen Protesten gegen die Regierung dankbar war. Ein Beispiel dafür ist der TALLER DE INVESTIGACIÓN TEATRAL unter der Leitung von Raúl Osorio, Lehrer an der Theaterschule der UNIVERSIDAD CATÓLICA, der mit Studenten und Ehemaligen jener Schule Stücke wie Los payasos de la esperanza (1977)21 und Tres Marías y una Rosa inszenierte. In Los payasos de la esperanza geht es um zwei Clowns, die sich auf die Vorstellung vorbereiten. Während ihrer Probe reden sie über ihr Leben, ihr soziales Umfeld, das geprägt ist von Armut und sozialer Ausgrenzung, und über ihre Ängste, die sie angesichts eines bevorstehenden Besuchs empfinden. Von der Struktur her ähnelt der Text Warten auf Godot. Die Wahl der Sprache und Redewendungen macht das Stück zweifellos zu einem Text für Zuschauer aus den populären Schichten. Von der internationalen Kritik wurde vor allen Juan Radrigán für seine Darstellung der Randgruppen gelobt. Sie wertete sein Werk als einen Spiegel der gesellschaftlichen Situation jener Schichten zur Zeit des autoritären Regimes. Für manch einen wurde er zur Symbolfigur der Kritik an der offiziellen Politik. Technisch gesehen bemüht sich das Theater Radrigáns jedoch vorwiegend darum, den ästhetischen und theatralen Codes des gebildeten chilenischen Zuschauers gerecht zu werden. In Testimonios de las muertes de Sabina (1980) zeigt er den Dialog eines Ehepaares, Rafael und Sabina, mit Bezüge auf weitere Figuren, die 20
Vgl. dazu die Aufsätze von Villegas: „Los marginados como personajes" (1986: 8595) und „La no marginalidad de la marginalidad". (1989:187-201)
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Vgl. die Interpretation von Boyle. (1992: 70-78)
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nicht auftreten - die beiden Kinder des Paares und Turnio, Sabinas Freund vor der Ehe. Das Stück zeigt die Weltsicht von Menschen, die unter dem Druck eines sozialen Systems leben, das sie nicht verstehen, und die am Unverständnis und fehlender Kommunikation untereinander leiden. Hinzukommt, daß ihre Kinder sie verlassen haben. Im Grunde wird eine existentielle Einsamkeit beschrieben, die Sabina bewußt wird und die sie verbalisiert, während Rafael darauf nicht eingeht und aggressiv, spöttisch oder zynisch reagiert. Der Text ist in soweit eine Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung, als er die Ungerechtigkeit der Welt und ein ungerechtes und unverständliches System mit seinen blind autoritätshörigen Gefolgsleuten offenlegt. Der chilenische Theaterdiskurs zeigte auch Texte, deren Problemstellung nicht einfach der Diktatur zuzuordnen ist. Die Zuschauer waren jedoch hauptsächlich an einer kritischen Dramatik interessiert, und unpolitische Dramatik fand meistens wenig Zuspruch beim Publikum. In dem Maße in dem der Druck des autoritären Systems nachließ, wuchs das Interesse der Zuschauer. Man könnte sogar sagen, daß die Anfang der 80er Jahre noch wenig ausgeprägte Tendenz am Ende der Dekade größere Bedeutung erlangt und die Theaterdiskurse der Zeit nach der Diktatur vorwegnimmt. Die Themen von persönlicher, existentieller Tragweite waren für die chilenischen Zuschauer jener Zeit nicht sonderlich attraktiv. Ein interessantes Beispiel ist Un oscuro vuelo compartido (1988) von Jorge Diaz in einer Aufführung des T E U C . E S beschäftigt sich mit einem auf chilenischen Bühnen fast nicht vorhandenen Thema: der Drogensucht, ihren Konsequenzen für das Individuum, den Ängsten und jener anderen Art der Unterwerfung und Diktatur, die aus der Abhängigkeit resultiert. Die Handlung kreist um drei Personen: Ana, die mit Martin, einem gescheiterten Musiker, in einem Raum zusammenlebt, und Rafael, ein Polizist, der auf der Suche nach Ana ist. Die Figuren verstricken sich in eine Reihe merkwürdiger Beziehungen. Lange Abwesenheit Anas, Aufenthalte in geschlossenen Räumen, Vergewaltigungen - offen bleibt, ob es Wirklichkeit oder Anas Phantasien sind, denn in der Beziehung zu Martin überwindet Ana vorübergehend die Sucht, und Martin hat eine leise Hoffnung, wieder Musik machen zu können. Das Stück endet mit einem leichtem Optimismus.22
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Ein wenig untersuchtes Theaterphänomen in Chile ist die Beziehung zwischen einigen Autoren, ihre durchgängige Präsenz auf chilenischen Bühnen und ihre Präsenz im Lehrprogramm der höheren Schulen. Einer ist Jorge Diaz, von dem
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In dieser Zeit erlangen Politik und soziale Mobilmachung wieder hohen Stellenwert, da die traditionellen Formen des Protestes und der Partizipation der bürgerlichen Demokratie vernichtet und verschwunden sind. Die ins Abseits geratenen politischen Parteien, die aktive Position der Katholischen Kirche und die Nachlässigkeit der Regierung und ihr Mangel an Sensibilität in Bezug auf die sozialen Fragen führten zu Übergriffen in den Vororten von Santiago und in den Armenvierteln. Als Instrument der direkten Opposition gegen das Militärregime bekamen die unteren Schichten eine außerordentliche politische Bedeutung. Diese verstärkte unserer Ansicht nach das Interesse der Mittelschicht an der Darstellung des einfachen Volkes und an der Suche nach Möglichkeiten, sich mit diesen Schichten zu verständigen, um wieder die Führung über sie zu erlangen. Die Opposition begriff die Wirksamkeit des Theaters als Instrument der Massenkommunikation und nutzte es als Alternative zu den offiziellen Medien der politischen Machthaber wie Fernsehen und Presse. So entwickelte sich das Theater in den Armenvierteln auf verschiedene Weise. Einen wichtigen Beitrag leistete die Kirche, die junge Leute bei der Bildung von Amateurtheatergruppen und der Entwicklung von Theaterformen unterstützte. Die inszenierten Texte wurden oft von den Mitgliedern der Gruppe geschrieben, die als Kollektivtheater arbeitete. Natürlich richteten sich diese Gruppen an den eigenen Bevölkerungssektor. Eine weitere Vorgehensweise war die Entsendung von „Theaterpädagogen", die selbst zuvor eine theaterpraktische Ausbildung durchlaufen haben und nun Theatergruppen in den Vierteln bilden und leiten. Auf diese Weise florierten Theatergruppen und -aktivitäten in den Randgebieten Santiagos und einigen Provinzen. 23 Diego Munoz verweist auf zwei interessante Aspekte: In der Hauptstadt entsteht ein Volkstheater, das von Schichten produziert und rezipiert wird, die gesellschaftlich und kulturell von den Wohltaten des von der Militärregierung propagierten Gesellschaftsmodells ausgeschlossen sind. U m 1978 gibt es schon zahlreiche Theatergruppen, jugendliche Studenten, Arbeitslose, Arbeiter und Hausfrauen, die sich anfangs mit Hilfe der Katholischen viele Stücke gespielt wurden. Einige davon richteten sich an ein jugendliches Publikum. Ich habe dieses Thema begrenzt in „La reescritura de la historia del teatro y los programas de educación secundaria" (Villegas 1992: 37-42) untersucht. 23
Die vollständigste Studie über diese Theaterformen ist der von Muñoz; Ochsenius; Olivari und Vidal herausgegebene Band: Poética de la población marginal. El teatro poblacional chileno: 1978-1985.
Antología
crítica. M i n n e a p o l i s 1 9 8 7 . V i d a l b e g a n n d i e
Arbeit zu diesem Thema mit der Mitherausgabe von Teatro chileno de la crisis institucional, 1973-1980: Antología crítica. (Vidal; Hurtado; Ochsenius 1982).
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Kirche zusammenfinden und beginnen, Theater zu spielen, und auf diesem Wege auf aktuelle Probleme ihrer Gemeinden aufmerksam machen. [...] Wir haben schon eingangs darauf hingewiesen, daß wir einer Kulturpraxis gesellschaftlich marginaler Schichten gegenüberstehen, die mit Hilfe der dramatischen Umsetzung ihres Alltags eine Organisationsform und einen Bewußtwerdungsprozeß suchen, der es ihnen erlaubt, sich als soziale Subjekte mit Plänen zur Veränderung der Gesellschaft zu konstituieren. (1987:11-12)
Einige dieser Gruppen hatten auch außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes Erfolg, die Mehrzahl existierte jedoch nur vorübergehend, zum einem wegen der fehlenden Professionalität ihrer Mitglieder und zum anderen weil es keine dauerhafte institutionelle Unterstützung gab. Ihre Präsenz innerhalb der chilenischen Kultur war kaum wahrnehmbar, und ihre Aufführungen und Festivals wurden von Kritik und Presse kaum beachtet. Theaterdiskurse der neuen Demokratie: 1990-1999 Wie zuvor beschrieben nahm Ende der 80er Jahre die Zahl der Stükke ab, deren zentrales Thema die Kritik am politischen System ist. Die demokratischen Wahlen von 1990, das vom neuen Regime angestrebte gesellschaftliche Einvernehmen - Concertacion National - bewirkten einen radikalen Wandel der chilenischen Theaterdiskurse und eine Aufwertung der bis dahin nicht dominanten Strömungen. Zwar gibt es noch Texte, die das Militärregime und seine Schergen anprangern, die Haupttendenzen gehen jedoch in eine ganz andere Richtung. Mehrheitlich suchen sie ein Theater, das den nationalen Konflikt verschweigt, sie tendieren zum Spektakulären, zur formalen Innovation und zur Enthistorisierung der Geschichte. Zudem steigt die Zahl der Aufführungen ausländischer Autoren, und die seit den 60er Jahren gespielten Autoren sind auch weiterhin auf der Bühne zu sehen. Einige klassische Stücke werden wiederaufgenommen. Jorge Diaz bleibt einer der meist gespielten Dramatiker, sowohl mit seinen schon „klassischen" als auch mit neuen Stücken. Genauso ergeht es Egon Wolff und Luis Alberto Heiremans. Auch Juan Radrigän bleibt auf dem Spielplan. Noch stärker als in der Zeit zuvor arbeiten Schauspieler und Schauspielerinnen in Fernsehproduktionen und „telenovelas", den Serien, was ihnen zu größerer Bekanntheit und wirtschaftlicher Stabilität verhilft. Neu ist die Tendenz, auch jenen gesellschaftlichen Gruppen Raum zu gewähren, deren Ausgrenzung von der chilenischen Kultur bisher nicht in Frage gestellt wurde, nämlich den Frauen und den Homosexu-
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eilen. Thema sind weiterhin die unteren sozialen Schichten - die Elendsviertel - , allerdings mit anderen Konnotationen als zuvor. Theatrale Experimente und Suche nach neuen Theatersprachen In seinem Aufsatz über das chilenische Theater der 80er Jahre weist Juan Andrés Piña darauf hin, daß eine der Tendenzen die Überwindung des realistischen Worttheaters sei: Hier werden die unterschiedlichen Möglichkeiten des Theaters wie Szenario, Schauplatz der Handlung, visuelle Ausdrucksmittel, Musik, das Nebeneinander bühnenbildnerischer Elemente, verschiedene Schauspielstile und Maske ausgelotet und dem gesprochenen Dialog gleichgestellt. (Piña 1990/91: 85)
Verschiedene Dramatiker suchen dieses Experiment. Einer der aktivsten ist Ramón Griffero, dessen Stücke in Off-Theaterräumen gespielt wurden. Griffero beginnt mit dem Schreiben unter der Diktatur und nimmt auf gewisse Weise spätere formale Experimente vorweg. Seine Theaterausbildung durchläuft er zunächst im Ausland. 1973 verläßt er Chile, studiert in England, an der Filmschule in Brüssel und später am Zentrum für Theaterstudien in Leuven. 1982 kehrt er nach Chile zurück und hat seitdem eine Reihe von Stücken geschrieben, deren gemeinsamer Nenner das formale Experiment ist. Eduardo Guerrero beschreibt sein Werk folgendermaßen: Das Theater Ramón Grifferos ist ein Bildertheater, auch wenn seine Bilder sich letztlich auf das Wort stützen; gleichzeitig ist es ein Theater, das ständig versucht, linguistische Systeme zu überschreiten, die durch den wiederholten und eindimensionalen Gebrauch an Kraft verloren haben... es ist ein Theater, das experimentieren und eine neue Theatersprache finden will. (1993: 129)
Einer seiner stärksten Texte ist Cinema Utoppia (1985).24 Darin wird „die Theaterbühne zum Film. In der Tat stehen wir vor einem Phänomen, das man,Theater im Theater im Kino' nennen könnte. " (Guerrero 1993:132) Eine der im In- und Ausland erfolgreichsten zeitgenössischen Gruppen auf der Suche nach einer neuen Bühnensprache ist LA TROPPA. Theatertechnisch betrachtet ist sie eine der originellsten Gruppen überhaupt. Sie spielt ein Theater mit Schauspielern und Marionetten, wobei sie die 24
„Cinema-Utoppia", deutsch von Bernd Kage, in Theaterstücke aus Chile (Adler, Hurtado 2000), S. 145-170.
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Codes beider Theaterformen integriert. Die Schauspieler tauschen ihre Funktionen aus. Sie werden zu Marionetten und lassen die Marionetten zu Personen werden. In Gemelos (1999) geht es um den Holocaust. Es wird das Bild einer von Menschen zerstörten Welt entworfen und gleichzeitig ihre Fähigkeit zum Überleben gezeigt. Die Folgen des Krieges werden aufgezeigt, wie Kinder masochistische Praktiken übernehmen, um die Grausamkeit der Erwachsenen zu ertragen. In der Inszenierung erscheint die Bühne wie eine Art Puppenhaus, in dem die Schauspieler viel zu groß für den Raum wirken. Dadurch entsteht das Ambiente einer grausamen und verzweifelten Kinderwelt. Das Szenario unterstreicht den Text, der auf Motive, Figuren und Bezüge aus Kindermärchen zurückgreift.25 Enthistorisierung der Geschichte Eine der stärksten Strömungen der letzten drei bis vier Jahren ist die Darstellung einer nationalen Vergangenheit frei von sozialen Konflikten. Nach Ansicht von Maria de la Luz Hurtado entspricht diese Tendenz einer Rückkehr „zu unserer Wirklichkeit durch die Wiederaufbereitung traditioneller Stücke, Gattungen und Themen." 2 6 Diese Tendenz entspricht der offiziellen Politik. Die politische Philosophie der Concertacion National hat zur Folge, daß die Konflikte der Diktatur totgeschwiegen und aus der Vergangenheit nur die konfliktfreien Aspekte herausgegriffen werden. Im Theater verwischt die Darstellung der chilenischen Vergangenheit die historischen und sozialen Gründe der Konflikte. Oder es werden Theaterräume konstruiert, in denen das Sentimental-Affektive dominiert, soziale Schichten werden als Stereotype vorgestellt, der Bühnenraum ist voll von musikalischen Elementen der traditionellen Folklore - Lieder und Tänze -, und der Zuschauer versinkt in utopischen Welten, in denen das Böse nur von einzelnen und abstrakten Mächten ausgeht. Die Botschaft ist stets optimistisch.
25
Zu LATROPPAsiehe María de la Luz Hurtado: „Recorrido a través de LATROPPA", in APUNTES 109 (1995).
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María de la Lut Hurtado: „La identidad en el teatro chileno actual". (1966: 22) Dort schreibt sie, daß in diese Linie der sog. „chilenidad" auch El desquite von Andrés Pérez, die Wiederaufnahme von La pérgola de las flores von Isidora Aguirre, El zorzal ya no canta más (1996) von Gustavo Meza, Río abajo von Ramón Griffero und La pequeña historia de Chile von Marco Antonio de la Parra gehören.
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Das beste Beispiel, mit dem diese Tendenz einsetzte, ist die Inszenierung von La Negra Ester nach einem Text von Roberto Parra unter Mitwirkung von Andrés Pérez. 27 Pérez hatte großen Einfluß auf die Theaterarbeit in Chile. Seine Ausbildung absolvierte er in Frankreich bei Mnouchkine und in den Schulen des Nouveau Cirque. Nach seiner Rückkehr nach Chile war La Negra Ester seine erste Inszenierung. Für viele Kritiker war das Stück von durchschlagender Wirkung auf die nationale Szene. María de la Luz Hurtado sagt: „es bleibt ein kulturelles Phänomen, das die Schranken des üblichen Theaterpublikums durchbrochen und die ganze Gesellschaft ergriffen hat." (1996: 22) Sergio Pereira Poza meint seinerseits: Daher b e g a n n m a n in Chile v o n der „Post-LA Negra Ester-Zeit" z u sprechen und d a m i t alle Bühnenrealisierungen zu bezeichnen, die a u s g e h e n d v o n ihrem jeweiligen künstlerischen A n s p r u c h die kanonischen F o r m e n v o n A u f f ü h r u n g u n d Wirklichkeitsauffassung zu variieren versuchten. ( 1 9 9 3 : 1 1 5 )
Unserer Ansicht nach liegt die große Wirkung nicht nur in den formalen Innovationen: Circensische Elemente werden eingesetzt, metatheatralische Mittel betonen, daß es sich hier um ein Schauspiel handelt, Musik und Folkloretänze, Figuren aus den Randschichten als nicht-tragische Personen und eine starke Dosis Melodramatik. Der Einfluß von La Negra Ester beruht auch auf seiner Lesart der Geschichte. Die enthistorisierenden Züge treten am stärksten in El desquite zum Vorschein, das ebenfalls von Andrés Pérez inszeniert wurde. 28 Das Thema ist typisch für Melodrama und Gesellschaftsstück des Jahrhundertbeginns: die sexuelle Ausbeutung der jungen Landarbeiterin durch den Gutsherrn. Die Inszenierung nähert sich allerdings in Rhythmus, Schauspiel, Bühnenbau und -aufteilung dem Stil der Postmoderne. Die tiefe Bühne bildet eine Art Synthese des folkloristischen Chiles: Tonkrüge, Ponchos, Gitarren usw.
27
D a s S t ü c k w u r d e v o n d e r COMPAÑÍA GRAN CIRCO TEATRO i m D e z e m b e r 1 9 8 8 a u f
der Plaza O ' H i g g i n s in Puente Alto uraufgeführt, d a n a c h in C e r r o Santo Lucia d e Santiago gespielt, tourte d u r c h Städte im Süden Chiles und 1 9 8 9 d u r c h K a n a d a , U S A u n d E u r o p a . 1 9 9 0 m a c h t e die K o m p a g n i e eine w e i t e r e erfolgreiche U S A Tournee. Siehe d a z u d e n Stückabdruck in APUNTES 9 8 (Herbst-Winter 1989), S. 335 4 u n d d e n A u f s a t z „ P r á c t i c a s teatrales i n n o v a d o r a s en la e s c e n a nacional chilena" v o n Sergio Pereira Poza. ( 1 9 9 3 : 1 1 5 - 1 2 6 ) 28
Siehe d a z u Alicia del C a m p o : „Retrato d e familia: lo popular c o m o espejo narcisista d e lo nacional en El desquite". ( 1 9 9 7 : 1 3 7 - 1 4 8 )
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Noch auffälliger ist diese Lesart der Geschichte in La reina Isabel cantaba rancheras von Hernán Rivera Letelier, das in einem kleinen Dorf, wahrscheinlich einer Enklave der Minenarbeiter, im Norden des Landes zur Zeit des Salpeterabbaus spielt. Das Augenmerk liegt wieder einmal auf dem melodramatischen Leben von Prostituierten, jedoch nicht auf den potentiellen sozialen Konflikten, wie früher üblicherweise die Minen und Salpetergruben dargestellt wurden. Ähnlich ist die Darstellung der chilenischen Wirklichkeit in El membrillar es mío (me lo quieren quitar), eine 1998 unter der Regie von Rodrigo Bastidas inszenierte Kollektivproduktion des TEATRO A P A R T E . Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß die Handlung in einem Dorf des Landesinneren spielt. Das Bühnenbild zeigt alle sozialen Gruppen rund um den Dorfplatz. Thema ist der wirtschaftliche Wiederaufbau des Dorfes, das zu einem Touristenort werden soll. Das Stück endet gut mit einem gemeinsamen Fest, folkloristischen Tänzen und Motiven. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Theaters dieser Zeit ist, „die von den Randgruppen erzählte Geschichte Chiles" 29 umzusetzen, d.h. die Stimme von Frauen, Homosexuellen, Asozialen und Armen hörbar zu machen. Ferner muß auf einen sich entwickelnden Diskurs verwiesen werden, der mit feministischen Tendenzen außerhalb des Landes einhergeht, auch wenn dieser Diskurs im nationalen Panorama keine große Rolle spielt. Claudia Echenique, Regisseurin und Schauspielerin in Cariño Malo von Inés Stranger sagt, sie habe bei ihrer Inszenierung begriffen, „was es bedeutet, eine Frau zu sein und kreativ umzusetzen, was uns eigen und ursprünglich ist." Sie fügt hinzu „unsere Beweggründe bestanden stets darin, nach unserer Identität zu suchen und uns selbst zu bestätigen." (1990/91: 8) Inés Stranger hat mehrere Stücke geschrieben, die Frauen auf eine besondere Art aus dem eigenen weiblichen Blickwinkel darstellen. Zudem versucht sie, eine ethnische Randgruppe einzubeziehen, die traditionell nicht im chilenischen Theater vorkommt: die Indianer. Cariño Malo, das vom Theater der UNIVERSIDAD CATÓLICA inszeniert wurde, ist laut Juan Andrés Piña ein „expressiver und gebrochener Gefühlsausbruch eines multiplen femininen Charakters." (1990/91: 86) Nach Meinung des Kritikers „schöpft es aus den affektiven und persönlichen Erfahrungen der sieben Frauen, die an der Inszenierung beteiligt waren."
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So nennt es Alfredo Castro in Bezug auf La manzana de Adán. (Castro 1 9 9 0 / 9 1 : 45)
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(87)30 In Malinche (1993) gerät Stranger die Darstellung der Indianer allerdings äußerst idealistisch und symbolhaft. Eine weitere, wenn auch schwächere Tendenz stellt auf ernsthafte und respektvolle Weise den Bereich erotischer Marginalität dar: Transvestiten, Lesben und Schwule. La manzana de adán (Mai 1990), nach Texten von Claudia Donoso, in einer Theaterversion von Alfredo Castro, beschäftigt sich beispielsweise mit dem Thema der Transvestiten. Alfredo Castro schreibt dazu: In diesen dokumentarischen Texten, die Claudia Donoso aufgearbeitet hat, erzählen die Transvestiten von ihrem täglichen Kampf ums Überleben und reden ganz unverblümt von Liebe, Politik, Alter, Unterdrückung, Sexualität usw., aber aus dem Blickwinkel derjenigen (nach Meinung der interviewten Frauen), die nicht an der großen nationalen Fernsehserie teilhaben. (1990/91: 45)
Der Bereich sozialer Marginalität ist auch ein häufiges Thema in den Stücken von Luis Rivano. Das erste erfolgreiche Stück Te llamabas Rosicler (1976) wurde von der Theatergruppe IMAGEN unter der Regie von Gustavo Meza inszeniert. Darauf folgte ¿Dónde está la Jeanette? (1984). 1991 wird El rucio de los cuchillos aufgeführt, Regie Silvia Santelices. Rivano zeigt Figuren aus den unteren Volksschichten, Delinquenten, Zuhälter, Prostituierte etc. und läßt sie naturalistisch reden, manchmal witzig, meistens mit melodramatischen Zügen. Dieser Überblick läßt viele Nuancen und Aspekte des chilenischen Theaters, Gruppen, Regisseure und Schauspieler unberücksichtigt. Er geht nicht ein auf die große Vielfalt der Theatermacher und -gruppen in der Provinz. Er verdeutlicht jedoch, wie unmittelbar das chilenische Theater auf den historischen Wandel, auf den Machtkampf zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Gruppen und auf die ideologische Hegemonie im Land reagiert. Darüber hinaus zeigt er deutlich die Pluralität der zu berücksichtigenden Faktoren und wie komplex eine umfassende Beschreibung zu sein hätte. Vor allem wird klar, daß keine Strömung bevorzugt behandelt werden darf, daß das nationale Theater vielmehr die Vielfalt ist, die sich aus den ideologischen Varianten seiner Produzenten, aus den unterschiedlichen Zuschauertypen und aus dem konfliktiven Zusammenspiel von ideologischen und
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Zu Cariño Malo vgl. Heft 101 von APUNTES (Frühjahr 1990 - Sommer 1991), mit dem Text des Stückes und verschiedenen Aufsätzen zu Text und Inszenierung.
Theaterdiskurse in Chile
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theatralen Codes der Texte und den Veränderungen der politischen Machtverhältnisse herleitet. Deutsch von Almuth Fricke
Literatur Boyle, Catherine M.: Chilean Theater: 1973-1985. Marginality, Power, Selfhood. Cranbury 1992. Brunner, José Joaquín: „Políticas culturales de la oposición en Chile", in Un espejo trizado. Santiago de Chile 1988, S. 105-132. : „Entre la cultura autoritaria y la cultura democrática", in Un espejo trizado (1988: 79-104). Campo, Alicia del: „Retrato de familia: lo popular como espejo narcisista de lo nacional en El desquite", in Del escenario a la mesa de la crítica, hrsg. von Juan Villegas. Irvine 1997, S. 137-148. Cánovas, Rodrigo: „ICTUS y Radrigán: mejorando al hombre", in Lihn, Zurita, Ictus, Rodrigan: literatura chilena y experiencia autoritaria. Santiago de Chile 1986. Castro, Alfredo: „Vagando por los márgenes", in APUNTES 101 (Frühjahr 1990/ Sommer 1991), S. 45-49. Cossi, Enzo: „Political Theatre in Present Day Chile: A Duality of Approaches", in NEWTHEATRE QUARTELYVI, 22 (Mai 1990), S. 119-127. Díaz, Jorge: „Un oscuro vuelo compartido", in APUNTES 97 (Frühjahr/Sommer 1988), S. 48-91. Ehrmann, Hans: „Pedro, Juan, María y Rosa. Memorandum oficial sobre Tres Marías y una Rosa", in GESTOS 4 , 8 (November 1989), S. 155-161. Guerrero, Eduardo: „Espacio y poética de Ramón Griffero. Análisis de su trilogía Historias de un galpón abandonado, Cinema Utoppia, y 99 La Morgue", in Hacía una nueva crítica y un nuevo teatro latinoamericano, hrsg. von Alfonso de Toro, Fernando de Toro. Frankfurt/Main 1993, S. 127-136. Hurtado, María de la Luz: „Teatro y sociedad chilena. La dramaturgia de la renovación universitaria entre 1950 y 1970", in APUNTES 94 (1986), S. 220-223. : „Recorrido a través de LATROPPA", in APUNTES 109 (1995), S. 55-68. : „La identidad cultural en el teatro chileno", en TEATRO XXIII, 3 (Frühjahr 1996), S. 21-23. : Teatro chileno y modernidad: Identidad y crisis social. Irvine 1997. ; Ochsenius, Carlos: „Transformaciones del teatro chileno en la década del 70", in Teatro chileno de la crisis institucional, 1973-1980: Antología crítica. Minneapolis 1982. Muñoz, Diego; Ochsenius, Carlos; Olivari, J. L; Vidal, Hernán (Hrsg.): Poética de la población marginal. El teatro Chileno: 1978-1985. Antología crítica. Mineapolis 1987. Noguera, Héctor: Criterios para una apreciación del teatro clásico en Latinoamérica", in APUNTES 97 (Frühjahr-Sommer 1988), S. 111-115. Parra, Roberto: „La Negra Ester", in APUNTES 98 (Herbst/Winter 1989), S. 33-54.
Juan Villegas
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Juan Villegas: Direktor von The Irvine Hispanic Theater Research Group der University of California, Irvine. Gründer und Direktor von GESTOS. Revista de Teoría y Práctica del Teatro Hispánico. Prof. h. c. der Universidad de Chile. Sein Spezialgebiet ist Literaturtheorie - Theater und Lyrik. Publikationen: La interpretación de la obra dramática (1971, 1986); La estructura mítica del héroe (1973), Estructuras míticas y arquetipos en el Canto general de Neruda (1976); Interpretación de textos poéticos chilenos (1977); Estudios sobre poesía chilena (1980); Interpretación y análisis del texto dramático (1982); Teoría de historia literaria y poesía lírica (1984); Ideología y discurso crítico sobre el teatro de España y América latina (1988); Nueva Interpretación y análisis del texto dramático (1991); Para un modelo de historia del teatro (1997). Essays. Romane: La visita del presidente o adoraciones fálicas en el valle del Puelo (1983); Las seductoras de Orange County (1989); Oscura llama silenciada (1993).
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Machtspiele und existentielle Lähmung im Theater von Egon Wolff Fast siebzehn Jahre lang lebten die Chilenen unter einer Diktatur, während der das Land politisch und wirtschaftlich in eine allgemeine Lähmung verfiel. Diese Lähmung hatte verschiedene Gründe, u.a. den Militärputsch, die ihn begleitenden Repressionen und eine wirtschaftliche Rezession, die die Bürger verunsicherte und Tausenden den Arbeitsplatz nahm. Der politischen und wirtschaftlichen Lähmung folgte der Verfall der menschlichen Beziehungen, denn die Menschen waren gezwungen, sich aus den gemeinschaftlichen Räumen ins Abseits ihrer Häuser zurückzuziehen, wo sie anfingen, sich gegenseitig zu attackieren. Dazu der Dramatiker und Psychiater Marco Antonio de la Parra: Our history was halted and put between parentheses. [...] Fear and inability to face the truth made Chileans create tiny islands inside their houses and communities. (Constable, Valenzuela 1991:142)
Die Tatsache, daß keiner wußte, was man über das Regime sagen durfte und wie man es sagen konnte, hat zu dem sogenannten apagon cultural, der kulturellen Eiszeit, geführt, die sich in den ersten Jahren der Diktatur auf den chilenischen Bühnen breitmachte. Statt Zensur, Exil oder gar Tod zu riskieren, reflektierten die meisten Dramatiker das, was im Land geschah, lieber in einem metaphorischen Mikrokosmos, der in der Regel aus einer Gruppe dramatischer Figuren besteht, die den Tag damit verbringen zu spielen bzw. zu streiten.1 Dabei wurde die Parallele 1
Obgleich viele Theaterkünstler auf der schwarzen Liste der Regierung standen und ins Exil gehen mußten, genoß das Theater größere Ausdrucksfreiheit als das Fernsehen, das Kino oder andere Kommunikationsmedien. „It is perhaps paradoxical that theater, with its long commitment to portraying Chilean reality, has been allowed such freedom of expression and has used this space since 1973 in such a way as to express overt dissent. The relative freedom from repression of the theater has been explained in terms of the perception of its impact on society, which is deemed to be minimal." (Boyle 1992: 191) Juan Andrés Piña verweist auf ein offizielles Memorandum und erklärt, daß der Regierung bewußt war, daß eine Zensur des Theaters dazu geführt hätte, mehr Publikum anzuziehen: „Jede Art von Repression hätte großes nationales und internationales Interesse an dem Stück zur Folge und zu seiner entsprechender Verbreitung geführt." (Piña 1992: 79)
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zwischen der persönlichen und der politischen Ebene nicht besonders herausgestellt. Laut Catherine Boyle war dies auch nicht nötig, da jeder die Umstände kannte: If the reasons for the lower-caste, the characters' immobility, their lack of purpose, and the senselessness of their existence are not explained, it is because, generally, that is not necessary, for the other codes and references to contemporary circumstances inevitably place the drama in the present period and indicate the cause of the protagonists' state. (1992:193)
Gefangen in den eigenen vier Wänden durchleben die Figuren den Terror, die Erstarrung und die Hoffnungslosigkeit, die von einem Regime verursacht wurden, das ungenannt bleibt. In The Theatre of Revolt erläutert Robert Brustein, daß während der 70er Jahre ein Theater der existentiellen Revolte das aufklärerische Volkstheater der 60er ersetzte: „It is the revolt of the fatigued and the hopeless, reflecting - after the disintegration of idealist energies - exhaustion and disillusionment." (1964: 27) Der ehemalige Held wird von einem Anti-Helden abgelöst: „usually a tramp, a proletarian, a criminal, an old man, a prisoner, confined in body and spirit, and deteriorating in his confinement." (32) Egon Wolff zeigt in seinen Stücken, die unter der Militärherrschaft entstanden sind, die individuelle Revolte dieses alten, armen, verzweifelten und hoffnungslosen Menschen. Zum Zeitpunkt des Putsches, 11. September 1973, war Egon Wolff bereits einer der wichtigsten und produktivsten Theaterautoren des Landes. 2 Der Staatsstreich fiel mit einer langen Periode des Schweigens des Autors zusammen, der diese Schaffenspause jedoch nicht der politischen Veränderung, sondern der Gewalt seines eigenen Stückes Flores de papeft (1970) zuschreibt. 1976 erklärt Wolff:
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Das dramatische Werk von Wolff umfaßt folgende Stücke: Mansión de lechuzas (1957), Discípulos de miedo (1958), Parejas de trapo (1959), Niñamadre (1960), Esas 49 estrellas (1962), Los invasores (1963), Los signos de Caín (1969), Flores de papel (1970), Kindergarten (1977), Espejismos (1979), José (1980), Álamos en la azotea (1981), El sobre azul (1983), La balsa de la Medusa (1984), Háblame de Laura (1986), Invitación a comer
(1993), Cicatrices (1994) und Claroscuro (1995).
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Papierblumen. Deutsch von Karl Bernheim. Bernheim/Norderstedt 1978. Übersetzt sind ferner: Kindergarten, deutsch von Kurt und Walter Weyers. Bernheim/Norderstedt 1985 und Invasoren, deutsch von Gerd-Rainer Prothmann, in Theaterstücke aus Chile (Adler, Hurtado 2000), S. 9-48. Escena Verlag. Deutsche Erstaufführung: 1987, Staatstheater Hannover.
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[Flores de papel] war für mich eine zu gewaltsame Katharsis, wie ein Fieberkrampf. Seitdem konnte ich kein Theater mehr schreiben. Es machte mir zu viel Angst. (Otano 1985:19)
Mit Kindergarten kehrt Wolff 1977 zum Theater zurück und schreibt dann in schneller Folge Espejismos, José, Alamos en la azotea, El sobre azul, La bolsa de la Medusa und Häblame de Laura. Doch die Angst, die ihm Fbres de papel verursachte, scheint nicht geringer geworden zu sein, sondern hat sich nach Ansicht von J. A. Pina eher verstärkt: „In Kindergarten ist Wolfis Blick skeptisch, ironisch und sogar verzweifelt." (1985:111) Wenngleich Wolff sich nie als politischer Autor verstanden oder sich direkt in die chilenische Politik eingemischt hat, fällt auf, daß die beiden Zeitabschnitte, in denen der Autor nicht geschrieben hat (1970-1977 und 1986-1993), mit den zwei wichtigsten Momenten des politischen Wandels zusammenfallen: dem Sturz von Allende und dem Ende der Diktatur von Pinochet. Es ist, als wäre Wolff durch die radikalen politischen Veränderungen im Land in denselben Lähmungszustand verfallen wie seine Figuren, die er unter der Diktatur erschaffen hat. Jorge Diaz erklärte damals: Die chilenischen Theaterautoren sind zur Zeit verstummt, weil sie sich in einer Übergangsperiode befinden, weil neue Leute an der Reihe sind oder weil die Alten sich über eine Reihe von völlig neuen Klassenphänomenen klar werden müssen. (Boyle 1992: 49) 4
Unter dem Militärregime hat Wolff nur wenig Theater geschrieben, das man der Form oder Intention halber als „politisch" einstufen könnte. Man findet hingegen eine deutliche Neigung zum spielerischen Theater, das Terror, Haß, Enttäuschung, Armut und moralischen Verfall spiegelt, von denen die chilenische Gesellschaft in den 70er und 80er Jahren durchdrungen war.5 In einem Interview von 1978 erklärt Wolff, daß seine Stücke „politisch" seien, allerdings verdeckter: 4
Es gibt mehrere Untersuchungen zum chilenischen Theater während des Militärregimes; am vollständigsten hinsichtlich der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontextualisierung der dramatischen Produktion ist die Studie von María de la Luz Hurtado, Carlos Ochsenius: „Transformaciones del Teatro Chileno en la década del 70", in Hurtado (1997) und das schon zitierte Buch von Catherine M. Boyle.
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Die Stücke, deren politisch-ökonomische Intention am offenkundigsten ist, sind José und La balsa de la Medusa, die eingehend von Juan Andrés Piña (1981: 61-64),
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Früher gab es in meinen Stücken eine sozialkritische Absicht, die den Konflikt und die Entwicklung des Themas überlagerte. Heute lasse ich die Situation aus den Figuren heraus entstehen und überlasse ihnen die Lösung. (Pina 1981: 65)
Die Machtfrage hat jetzt nicht mehr so sehr mit den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Gruppierungen zu tun, wie dies in Invasoren und Flores de papel der Fall war, sondern mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. George Woodyard meint: Viele seiner Figuren sind von Macht besessen, sie benutzen und mißbrauchen Macht, um andere Menschen aus der unmittelbaren Umgebung, besonders aus dem Familienkreis, auszunutzen und zu verletzen. (Wolff 1990: xvii)
Da die Figuren in ihrem Haus und in wirtschaftlicher und moralischer Armut eingeschlossen sind, verlegen sie sich aufs Spiel. Dabei handelt es sich nicht um das unschuldige und kurzweilige Spiel von Kindern, sondern um ein intensives und gewaltsames Spiel. Es spiegelt das, was im Land geschieht, nämlich die Spannung zwischen Macht und politisch-existentieller Lähmung wider. Die besten Beispiele dafür sind die Stücke Kindergarten (1977), Älamos en la azotea (1981) und Häblame de Laura (1986). 6 Jedes dieser Stücke zeigt eine Familiensituation, in der alte Menschen, die sehr eingeschränkt und heruntergekommen leben, alles aufs Spiel setzen, um ihren Stolz und die Kontrolle über das eigene Leben nicht zu verlieren. In allen drei Stücken verleiht einzig das Spiel dem Leben der Figuren einen Sinn und gibt ihnen das, wenn auch vergängliche Gefühl, Herr über ihr Leben zu sein und ihrer existentiellen Lähmung entfliehen zu können. In herkömmlicher Sichtweise führt der dramatische Konflikt zu einer Veränderung in der bisherigen Ordnung (oder Unordnung). In den drei Dramen ist der spielerische Konflikt jedoch mit einer rituellen Atmosphäre gepaart, die eine von Wiederholung und Obsession geprägte Pedro Bravo-Elizondo (1981: 65-70) und Catherine M. Boyle (1987: 43-52) analysiert worden sind. 6
Diese drei Stücke sind nicht die einzigen spielerischen Dramen von Wolff. Auch in El sobre azul und La balsa de la Medusa dominiert das Spiel, es fehlt ihnen jedoch das häusliche und familiäre Ambiente. El sobre azul ist die einzige Farce von Wolff und wirkt eher wie eine spielerische Übung; das Stück trägt den Untertitel: „Farce in zwei unnützen Akten über den unnützen Akt, eine Farce zu schreiben". Auch La balsa de la Medusa soll nicht in unserer Untersuchung berücksichtigt werden, weil hier die politische Absicht des Spiels explizit ist, worauf schon von anderen Kritikern hingewiesen wurde.
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Existenz andeutet, in der es keine dauerhafte Veränderung gibt noch geben kann. Laut Maria de la Luz Hurtado schafft Wolff menschliche Typen, „die in einem Ritual von Simulationsspielen leben, um die existentielle Leere ertragen zu können." (1997: 202) Zwar bezeichnen die Personen wiederholt ihre täglichen Verrichtungen als „Spiel", tatsächlich ist es aber ein sich wiederholender und notwendiger Bestandteil ihrer Existenz. Einerseits läßt sich die völlige Lähmung des Individuums mit dem Militärregime vergleichen, dessen Grundlage Ordnung und Stabilität sind. Andererseits reflektiert sie den Zynismus des Autors, der 1987 vom „Verlust seines Glaubens an den Menschen und seine Wandlungsfähigkeit" sprach.7 Auf allen Ebenen - der persönlichen, wirtschaftlichen und politischen - bietet das Spiel den einzigen Ausweg aus einer stagnierenden Existenz. In seiner schon klassischen Studie über den Homo ludens hebt Johan Huizinga die Ähnlichkeit zwischen dramatischem Konflikt und der konfliktiven Natur des Spiels hervor: ,Playing together' has an essentially antithetical character. Tension and uncertainty are among the general characteristics of play. They increase enormously when the antithetical element becomes really agonistic. (1950: 47)
Obgleich die Konflikte von Wolffs Figuren mit der Zeit einen spielerischeren Charakter angenommen haben, heißt das nicht, seine Stücke seien frivol.8 Ganz im Gegenteil, wie Huizinga erläutert: „The consciousness of play being ,only pretend' does not by any means prevent it from proceeding with the utmost seriousnees." (9) Die Spiele, die zwischen den Figuren von Wolff ablaufen, haben einen bitterernsten Anlaß, denn es geht um den Stolz und die Würde der Spieler. Während die Dialoge und Situationen eine kräftige Prise Humor enthalten, sind die Spiele an sich ernst und demonstrieren die Unfähigkeit des Menschen zur Veränderung, seine ständige Unmenschlichkeit gegenüber seinem Nächsten und sein Bedürfnis, seiner realen Armut und Verzweiflung zu entkommen oder sie zumindest zu verbergen.
7
In einem Vortrag von Egon Wolff über sein Theater am 29. 12. 1987 auf einem Kongreß der Modern Languages Association in San Francisco.
8
Das Konzept des Spiels im Theater wird von mir in zwei Aufsätze gründlich analysiert: „Los juegos crueles de Egon Wolff: ¿Quién juega?", in ALBA DE AMÉRICA 7, 12-13 (1989), S. 245-261 und „Games and Reality on the Latin American Stage", in LATR 12,2 (1984), S. 21-35.
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Trotz des kindlichen Titels zeigt Kindergarten den ritualisierten Kampf dreier sechzigjähriger Geschwister. Mico und Toño bringen ihr Leben damit zu, sich zu beschimpfen und gegenseitig bloßzustellen. Aus heiterem Himmel besucht sie nach langer Abwesenheit ihre Schwester Meche. In ihrer Gegenwart wird das tägliche Ritual gegenseitiger Attakken der Brüder zur ménage à trois, und es entsteht eine verwirrende Mischung aus Spiel und Ernst, Zärtlichkeit und Gemeinheit, Lüge und Wahrheit, in der jeder versucht, den anderen in dem grausamen Zeitvertreib verbal zu übertreffen. Selbst wenn die zwei Brüder behaupten, das Spiel diene nur dazu, ihre Leben erträglicher zu machen, ist das Ziel letztlich die Herrschaft über den anderen. Alt und von der Außenwelt abgeschoben bleibt ihnen nur die Macht über die Situation in den eigenen vier Wänden. Von Anfang an wird deutlich, daß es sich um drei Figuren aus der traditionellen Gesellschaft von Santiago handelt, die jetzt im Hinterzimmer eines Schirmgeschäftes leben. Wolff schafft eine Atmosphäre von Alter und Stagnation. In den Bühnenanweisungen heißt es: Eingerichtet mit der erstickenden Pedanterie, die in Räumen herrscht, die nur noch aus Familienerinnerungen und Erbstücken bestehen, gibt es in dem Hinterzimmer alte Möbel unterschiedlichster Stilrichtungen [...] und über allem hängt der ranzige Geruch nach alten Fasern, Sperma, Schimmel und Tabakqualm. (1990: 355)
Die scheinbar harmlosen Regenschirme sind Metaphern von Macht und Repression. Toño beschreibt sie als „vielleicht unterdrückte PhallusSymbole... mit erigierter Spitze" (359), und hebt sie später auf eine politische Ebene, wenn er aus der Zeitung vorliest, in der eine große Trockenheit angekündigt und gesagt wird, daß die Regierung, u m möglichen Zwischenfällen vorzugreifen, ein Dekret verabschiedet hat, daß den Gebrauch, die Ausstellung und den Verkauf von Regenschirmen [...] und sonstigen phallischen Accessoires verbietet. (358)
Auch wenn dies der einzige explizite Bezug auf die Regierung jener Zeit ist, wird damit ein Zusammenhang zwischen der physischen Impotenz der Alten und ihrer politischen Machtlosigkeit hergestellt. Die pathetischen Anstrengungen der Brüder, ihre Würde inmitten der offensichtlichen Misere aufrechtzuerhalten, zeigen sich schmerzlich in ihrem Aussehen und im Bühnenbild. Frank Dauster schreibt: „Die drei Geschwister sind Repräsentanten einer Bourgeoisie, die so herunter-
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gekommen ist wie ihr Haus." (1983: 10) Toño hat das Gehabe des Schönlings und Müßiggängers beibehalten: Obwohl er schon über 60 ist, hat er ein gepflegtes Äußeres. Trotz seines armseligen, alten Pyjamas, seines zerschlissenen Satin-Morgenmantels und seiner ausgetretenen Hausschuhe ist er sorgfältig rasiert und sein spärliches Haar mit Pomade in Form gebracht. In der Art, wie er stets versucht, Würde und Haltung zu bewahren, liegt etwas Pathetisches. (355)
Mico, der Besitzer des Schirmladens und Hauseigentümer, ist das Gegenstück zu Toño. Seine Ausdrucksweise und sein Benehmen ist geziert, sein Tonfall geschwollen und frömmlerisch. Was ihn zur Zielscheibe von Toños bissigen Endzeitkommentaren macht. Der körperliche Verfall der Figuren dient als Metapher für die Dekadenz der gesellschaftlichen Klasse, der sie angehören bzw. angehört haben. Einmal ruft Meche aus: „Oh, die Zeit! Mein Gott, was haben sie nur mit uns gemacht?" (367) Das Spiel beginnt, wenn sich der Vorhang hebt und Toño vergeblich den Zucker sucht: „Wie? Sind wir heute Morgen mit Lust zum Spielen aufgestanden?" (356) Kurz nachdem die Brüder ihr tägliches Spiel aufgenommen haben, taucht Meche auf, mit einer blonden Perücke, einem fadenscheinigen Négligé und einer dicken Schicht Puder und Creme im Gesicht. Anfangs übernimmt Meche nur den Part des Publikums, doch bald gesellt sie sich zu den beiden, die ihr das, was sie „den Sarkasmus der Sánchez Uriarte" nennen, beibringen. Während die verbale Schlacht immer heftiger wird, kämpfen die Brüder jeweils um die Gunst der Schwester. Es geht soweit, daß niemand mehr Spiel von „Realität" unterscheiden kann. Trotz dieser Verwirrung von Leben und Theater, scheint um so deutlicher die wahre Situation dieses merkwürdigen Trios durch, je heftiger das Spiel des „Sich die Haut herunterreißen" wird. Sie spielen nicht nur, um sich zu amüsieren, sondern um dem anderen die Maske vom Gesicht zu zerren und ihn zu zwingen, seine Situation einzugestehen, ihr ins Auge zu schauen, der Gegenwart und der Vergangenheit. Ihre Behauptungen, Pech gehabt zu haben und ungerecht behandelt worden zu sein, werden durch die schmerzhafte und erniedrigende Zurschaustellung ihrer Irrtümer und Perversionen in der Vergangenheit immer unglaubwürdiger. Toño, der unbarmherzigste der drei, steht am schlechtesten da, wenn Meche und Mico ihm seine Maske aus Überheblichkeit und Sorglosigkeit runterreißen, und er als pathetischer Don Juan und chronischer Verlierer im Spiel des Lebens entblößt wird. Der letzte Schlag gegen seinen falschen Stolz wird ihm versetzt, wenn er zugeben
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muß, daß er mit kompromittierenden Fotos von ihm und einem jungen Mädchen erpreßt wird. Die nicht sichtbare Präsenz der Erpresser versinnbildlicht die ständige Bedrohung durch eine feindliche und schreckliche Außenwelt. Zwar willigt Mico ein, seinem Bruder zu helfen, doch das ist nicht das Ende der Kämpfe. Der Vorhang fällt inmitten eines Schimpfwortes und unterstreicht somit den rituellen und endlosen Charakter dieser Spiele als Überlebensstrategie. Erst am Ende läßt sich die scheinbar ironische Behauptung von Toño als wahr akzeptieren, daß dieser erbarmungslose Zeitvertreib „das Leben erträglicher macht". (365) Auch wenn es grausam und sadistisch erscheint, ist das Spiel die einzige Art, sich abzulenken und die existentielle Lähmung zu überwinden, die durch ihre Armut und ihren Stolz entstanden ist. Wie Mico es ausdrückt: „Wir müssen uns zanken, um weiterleben zu können." (363) Sowohl die „erstickende Pedanterie" der Bühne als auch der erbärmliche Anblick der Personen sind Zeichen für eine heruntergekommene gesellschaftliche Klasse, die sich eitel an einer verklärten Vergangenheit festklammert. In dieser politischen Epoche, die so wenig Grund für Hoffnungen gab, hingen viele Menschen ihrer Vergangenheit nach: Dialogues are littered with nostalgic recollections of times past. They relate to a time of relative strength, of a well-established identity, of participation in making decisions about their own lives. They take the shape of childhood memories, of times of security in a safe family unity when there was hope in the future. (Boyle 1992: 85)
Meche, Toño und Mico sind sich ihres „Abstiegs" wohl bewußt, und nur das Spiel und die Lüge ermöglichen ihnen das Überleben. Sie sind nicht so sehr Individuen, als vielmehr Vertreter einer dekadenten und im Niedergang befindlichen Klasse, die sich verzweifelt an die letzten Überbleibsel ihrer Würde klammert. Auf den ersten Blick scheint Álamos en la azotea ein ganz untypisches Stück in Wolfis Werk zu sein, eine Komödie ohne größeren gesellschaftlichen und politischen Anspruch. Tatsächlich wurde das Stück trotz seines bissigen Humors und der einfallsreichen Dialoge von der Kritik überhaupt nicht beachtet. Es ist anzunehmen, daß die Kritiker sich nicht gründlich damit beschäftigt haben, weil es sich um eine Komödie handelt, eine Gattung, der oft mit Mißachtung begegnet wird, weil sie keine ernsthaften Ziele verfolgt. Allerdings ist, wie der Theaterautor Sergio
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Vodanovic schreibt, die Komödie zuweilen die Gattung, die am eindrucksvollsten das Klima von Unterdrückung vermittelt: Die Entwicklung des künstlerischen Schaffens eines lateinamerikanischen Dramatikers erfolgt stets in Übereinstimmung mit der politischen Entwicklung seines Landes - das heißt mehr oder weniger abhängig von Freiheit oder Unfreiheit in seiner Welt. Man muß nur die politische Geschichte dieser Länder betrachten, dann wird das Schweigen, die Radikalisierung oder offenkundige Frivolität der Autoren verständlich. Es gibt Zeiten, in denen das Erscheinen einer leichten, harmlosen und gut gemachten Komödie ein besseres Indiz für politische Repression in bestimmten Ländern ist als das zündendste Stück revolutionären Theaters. (Hurtado 1997: 27)
Auch wenn Álamos en la azotea zunächst zum sogenannten leichten Theaters zu gehören scheint, zeigt eine sorgfältige Analyse viele Techniken und Anliegen aus Kindergarten: eine begrenzte Personenzahl, der ständige Kampf zwischen Menschen, die sich im Grunde lieben, verbaler Sadismus, thematische Zielrichtung auf das Alter, auf Außenseitertum und Verlust der Würde. Wie in Kindergarten stammen die Figuren aus derselben Familie. Der 65-jährige Moncho, ein ehemaliger Friseur, lebt allein in „einem Mansardenzimmer einer Pension, in einem heruntergekommenen Stadtviertel, in den Außenbezirken der Hauptstadt." (1990: 525) Seit dreizehn Jahren lebt er getrennt von seiner Frau Wanda, die als Friseuse arbeitet, während Moncho sich den Lebensunterhalt damit verdient, daß er Papierservietten zuschneidet und auf der Straße verkauft. Jeden Samstag besucht ihn seine Schwiegertochter Angela, ein wahrer Engel. Sie versucht, die Streitigkeiten zwischen Moncho und Wanda und zwischen Roberto, Monchos Sohn, und den Eltern zu schlichten. Roberto verzweifelt am starrsinnigen Stolz seines Vaters. In seinem Äußeren wie auch in seinen Gewohnheiten und seiner Persönlichkeit erinnert Moncho stark an Toño aus Kindergarten. „Er ist an die 65 und trägt einen verschlissenen, alten Bademantel über dem Pyjama, Pantoffeln an den nackten Füßen und eine Wolldecke um die Schultern." (526) Wie Toño weigert sich Moncho, seinen erbärmlichen Zustand einzugestehen und versucht die Fassade von „Valentin", dem großen Friseur, aufrechtzuerhalten. Kommt Besuch, öffnet er erst, wenn er die Servietten versteckt, eine Hausjacke aus Taft mit seidenem Einstecktuch übergezogen, sich gekämmt und parfümiert und auf dem Tisch einen großen Bauplan für ein Einkaufszentrum ausgebreitet hat, obwohl alle wissen, daß dieses Zentrum schon vor vielen Jahren gebaut wurde und dort schon „Pappeln auf dem Dachgarten" wachsen. Bei jedem Besuch sind Angela und Roberto
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über diese Vorspiegelungen von Reichtum, Komfort und Vitalität verzweifelt: ROBERTO Papa, du schneidest hier diese blöden Servietten aus und verkaufst sie auf der Straße, in Restaurants und Cafés, weil du keinen Peso hast. Du stirbst vor Kälte in diesem Loch und ernährst dich nicht ausreichend, weil du nichts weiter bist als ein alter Starrkopf, halbtot vor krankhaftem Stolz! [...] Die Jacke ziehst du nur über, wenn wir kommen, das einzige anständige Kleidungsstück, das dir geblieben ist. [...] Wann hören wir endlich mit diesen Spielchen auf? MONCHO erregt Das stimmt nicht ganz. Ich lebe von der Pacht für das Zentrum... (534)
Diese seit dreizehn Jahren existierende „Ordnung" zerbricht, wenn Angela Moncho mitteilt, Wanda würde ihn gern wieder in dem gemeinsamen Friseursalon sehen. Moncho gibt Stück für Stück die lächerlichen Gründe preis, aus denen er sich von Wanda getrennt hatte: Sie sagte immer, das Haar „schlängele" statt „welle" sich. Sie gestattete Moncho nicht, Eukalyptusblätter gegen Asthma aufzukochen. Sie sah die Arbeit immer als Geschäft, während er sie als eine Kunst betrachtete. Und schließlich, was das Schlimmste für ihn war, wusch sie sich auf eine Art die Hände, die ihn verrückt machte: Wenn sie sich die Hände wäscht, bleibt die Welt stehen... Sie baut sich vor dem Waschbecken auf, als würde sie einem Stier entgegentreten... Sie wirft die Ellbogen nach hinten, krempelt die Ärmel hoch, dreht den Hahn auf, als wär es der Niagarafall, schnappt sich die Seife und beginnt, sich die Arme bis zu den Schultern hoch zu waschen, als wäre es das Wichtigste auf der Welt... Das ist eine Manie. (540)
Die traurige Wahrheit ist, daß Moncho nicht einmal sein tägliches Leben unter Kontrolle hat. Er stirbt vor Kälte in einem sinnlosen Kampf gegen den Stromzähler, den er daran hindern will, ihm einen Centavo „abzuluchsen". Auch gegen den Nachbarn unter ihm führt er einen ständigen Krieg, indem er mit der Kaffeebüchse auf den Boden schlägt, damit der andere ihm mit Schlägen gegen die Decke antwortet. Ihm gefällt der Gedanke, daß Wanda ihn braucht, denn es gibt ihm die Möglichkeit, die Kontrolle des „Spiels" an sich zu ziehen. So verlangt er, Wanda solle kommen und ihn selbst darum bitten. Wenn Angela gegen die lächerlichen Bedingungen, die Moncho stellt, protestiert, antwortet er einfach: „Das sind die Spielregeln, mein Kind." (541) Der traurigen Reali-
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tät, in der er lebt, zum Trotz, dominiert Moncho die Familie mit seinem Starrsinn, seinen Lügen und Beschimpfungen. Doch trotz seiner verbalen Attacken hat Moncho nicht nur seine Jugend, seine Gesundheit und seinen Wohlstand eingebüßt, sondern auch sein berufliches Können. Nach einem völlig mißlungenem Versuch an Angelas Haar, muß er seine Niederlage eingestehen: Oh, Mädchen, wie d u m m sind wir; wir klammern uns an unseren armen Stolz und meinen, damit leben zu können. [...] Ich bin nichts als ein sentimentaler Alter, der in einer vergangenen Welt gestrandet ist, die keinen Bestand mehr hat. [...] Ich stehe außerhalb dieser Welt, mein Kind, und das Schlimme ist, das meine alte schöner war... unschuldiger, verstehst du..? Ich bin draußen; das muß ich akzeptieren... (560 f.)
Von einem Tumor gequält und ohne berufliche Aussichten willigt Moncho am Ende in den Vorschlag seiner Familie ein, zu Wanda in ihr Landhaus zu ziehen, wo er ihr beim Rosenschneiden helfen soll. Doch bevor er sich mit diesem Plan abfindet, will Moncho den letzten ihm noch möglichen Sieg erringen und so seine Würde wahren. Er bringt alle dazu, mit irgendeinem Gegenstand auf den Boden zu schlagen, während Moncho glücklich die Schlußworte der Komödie ausruft: „Wir haben ihn besiegt! Wir haben diesen Mistkerl besiegt!" (568) Dieser Sieg erscheint uns winzig, aber für Moncho ist er Symbol für einen viel größeren existentiellen Triumph, der für ihn unerreichbar ist. Auch wenn die Bezüge auf den historischen und politischen Kontext nicht so offensichtlich sind wie in Kindergarten, zeigt Álamos en la azotea das gleiche Thema: Alter und Hinfälligkeit; die gleiche wirtschaftliche Dekadenz; den gleichen falschen Stolz und den gleichen pathetischen Kampf, um Herr des eigenen Schicksals zu bleiben. Der existentielle Erstickungstod, den Moncho durchlebt, läßt sich auf eine ganze Nation übertragen, die laut Catherine Boyle „lived awaiting the moment of resolution of a prolonged period of stalemate." (1992: 18) Doch das wirkliche Leben endet nicht immer wie eine Komödie, und nicht alle können davon träumen, sich zurückzuziehen und Rosen zu schneiden. Mit Habíame de Laura kehrt Wolff zum schwarzen Humor und zum Klima von Perversion und Sadismus zurück, das schon in Kindergarten geherrscht hat. Statt der Beziehung zwischen Geschwistern bzw. Eheleuten zeichnet das Stück die merkwürdige und wenig orthodoxe Beziehung zwischen Alberto, einem Witwer mittleren Alters und Schuhverkäufer, und Cata, seiner Mutter, die den gemeinsamen Haushalt führt. Während Toño und Mico das Spiel betrieben, sich Dinge zu sagen, um
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das ohnehin schon kaputte Bild des anderen zu zerfetzen, schlagen Cata und Alberto die Zeit tot, indem sie derbe und manchmal grausame Scherze übereinander machen, in dem verzweifelten Versuch, der täglichen Monotonie einer sinnlosen Existenz zu entfliehen. Im Scherz geben sie eine faszinierende Mischung aus Banalitäten, Liebesbezeugungen, Beschimpfungen, Witzen, Anekdoten und Erinnerungen an bessere Zeiten von sich. Wie in den zuvor analysierten Stücken spielt die Handlung auf engstem Raum: Lieblos eingerichtetes, unordentliches Wohnzimmer. Gegenstände, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben und nicht zueinander passen; sie dienen eher dem Überleben als einem ästhetischen Lebensentwurf. (1990: 623)
Wie in Kindergarten ist diese Sammlung aus Gerümpel ein visuelles Zeichen dafür, wie wenig die Figuren im Leben erreicht haben; es symbolisiert die Sehnsucht nach wohlhabenderen und glücklicheren Zeiten. Doch Cata und Alberto verstecken sich nicht unter der Maske von Wohlstand und Komfort wie Mico und Tono, sondern ihr Äußeres ist genauso ungepflegt wie ihre häusliche Umgebung. Cata, in den Sechzigern und fettleibig, tritt in jeder Szene mit demselben zerschlissenen Morgenrock, den alten Pantoffeln und einer erloschenen Zigarette zwischen den Lippen auf. Alberto, etwa vierzig, ist „etwas dick, schwammig, ungepflegt." (623) Visuell vermittelt die Unordnung der Bühne und der Figuren von Anfang an einen Mangel an Stolz und Elan. Zudem legt die Tatsache, daß alle drei Szenen zur gleichen Zeit an drei aufeinanderfolgenden Tagen spielen, nämlich wenn Alberto von der Arbeit kommt, die Vermutung nahe, daß es sich um eine starre Routine in einer unabänderlichen Situation handelt. Der Auftritt von Alberto zu Beginn jeder Szene entfesselt das tägliche Spiel, das immer mit einem dummen, kindischen Scherz beginnt. In der ersten Szene serviert Cata Alberto eine Tasse mit heißer Salzbrühe, nachdem sie ihm geschworen hat, es sei Kakao. Um sich zu rächen ersinnt Alberto seinerseits Streiche: er tut so, als wolle er Cata vor einem Brand retten, den er selbst vor der Tür in einem Kohlenbecken entfacht hat. Die Scherze sind zwar äußerst infantil, nehmen jedoch durch die Wiederholung in jeder Szene und als integraler Bestandteil des täglichen Lebens einen rituellen Charakter an. Wenn sie gerade einmal keine lächerlichen Scherze machen, führen Cata und Alberto einen banalen Dialog und tauschen Anekdoten aus.
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Ziel dieser Geschichten ist es, den Zuhörer zu rühren und ihn dazu zubringen, sie zu glauben. Cata erzählt erotische Abenteuer aus ihrer Jugend und Klatsch über die Nachbarn, doch der größere Geschichtenerzähler ist Alberto. Er berichtet von seiner langweiligen und erniedrigenden Arbeit als Schuhverkäufer. Doch dann springt er von der immer noch glaubwürdigen Geschichte vom epileptischen Anfall eines Arbeitskollegen zu dem spannenderen Bericht vom Brand des Schuhgeschäfts, von seinem Chef Lozada, der versucht hat, ihn mit einem Schraubenzieher zu vergewaltigen, zu dem Versuch Lozadas, seine eigene Tochter zu erdrosseln und berichtet schließlich wie er, Alberto, die Tochter vergewaltigt hat. Wenn Cata diese Schwindeleien nicht mehr spannend, überzeugend und unterhaltsam findet, wird Albert heftiger, morbider, sadistischer. In einem Zustand zunehmender Erregung, die bis zum Schlußvorhang nicht abreißt, berichtet Alberto, wie er sich, nachdem er das Mädchen vergewaltigt hat, die Tochter des Gasablesers vorgenommen hat, danach einen Grashüpfer und schließlich einen Kolibri. George Woodyard meint, „die letzten Bilder, die Vögel und andere fliegende Elemente zeigen, vermitteln den Wunsch zu fliehen." (1990: xvii) Das sich wiederholende Thema der Vergewaltigung unterstreicht Albertos Mangel an Beherrschung und Macht über das eigene Schicksal und seinen brennenden Wunsch, in seinem Leben etwas außergewöhnliches geschehen zu lassen. Gleichzeitig weist die zunehmende Gewalttätigkeit seiner Erzählung darauf hin, daß etwas sehr schreckliches passieren muß, um ihn aus seiner unendlichen Lähmung zu befreien. In diesem Sinn erinnert Alberto uns an den verängstigten Sprecher von Neruda in dem Gedicht „Walking Around", wenn er klagt: Weißt du, daß mir heute auf dem immer gleichen Heimweg schwindelig geworden ist? Jahre lebe ich nun in derselben Wohnung, und nie, kein einziges Mal, habe ich einen anderen Heimweg genommen. [...] Weißt du, daß ich manchmal sogar gerannt bin, nur um herauszufinden, ob ich rennend der Vorherbestimmung entgehen kann und daß irgendwann vielleicht, irgendwann einmal, meine Alte... die Wäscherei nicht mehr dort ist? ... Aber sie ist immer da. Und die Wände sehen aus, als würden sie mir ins Gesicht lachen... (635)
Margaret Sayers Peden schreibt: „Fear, possibly, is the key word in a study of Wolff's theater." (1976:197) Während in den frühen Stücken die Angst vor der Veränderung regiert (Invasoren, Papierblumen), quält Alberto nicht die Armut, in der er lebt, oder seine Arbeit im Schuhgeschäft, sondern das Vorhersagbare und Unabänderliche seiner Existenz. Um dieses Leben erträglicher zu machen, erfindet er neue Wirklichkeiten, so
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die Existenz von Laura, deren Name plötzlich in der zweiten Szene auftaucht: ALBERTO
Laura denkt genauso.
CATA U n d w e r ist L a u r a ?
ALBERTO Habe ich dir nie von der kleinen Neuen erzählt, die im Geschäft angefangen hat? CATA Nein, du hast mir nie von ihr erzählt. ALBERTO Ich gehe mit ihr ins Bett. (637 f.)
Wie alle Geschichten von Alberto ist auch diese zu Anfang glaubhaft, wird jedoch bald grausig und pervers. Cata will wissen, ob sie wahr oder gelogen ist, doch für Alberto spielt die Wahrheit keine Rolle, und es ist besser, sie zu vergessen, als sie zu suchen: „Wofür brauchst du die Wahrheit? ... Die Wahrheit ist langweilig. Nur die Lüge ist aufregend und unterhaltsam." (630) In seiner unabänderlichen Lage ermöglichen ihm Lügen, das Leben zu ertragen, denn sie verschaffen ihm Frieden, eine Ausflucht und eine Gelegenheit zu Kreativität. Wie El Merluza in Papierblumen unternimmt er „kreative" Anstrengungen, die in Zerstörung und Perversion gipfeln, doch in seinem Fall werden die Handlungen nicht zur Wirklichkeit. Wie die Geschwister in Kindergarten und das Ehepaar in Älamos en la azotea leben Alberto und Cata eine unberechenbare Beziehung von gegenseitiger Abhängigkeit und Haßliebe. Der Austausch von Zärtlichkeiten wechselt ständig mit bissigen Bemerkungen über Albertos Feigheit und berufliche Erfolglosigkeit sowie über Catas körperlichen Verfall. Statt ihren Sohn zu trösten, streut Cata Salz in seine Wunden, beschimpft ihn, weil er sich nicht traut, eine Gehaltserhöhung zu fordern. Sie redet ständig von den besseren Zeiten. Obwohl Alberto keinen Gewaltakt begeht, von dem wir sicher wissen, fragt man sich, wie weit man ihn bringen muß, damit diese entsetzlichen Geschichten von Vergewaltigung und Mord Wirklichkeit werden. Wie die existentielle Lähmung von Alberto endet Häblame de Laura ohne Auflösung. Wenn der Vorhang fällt, sitzen Cata und Alberto wie immer Arm in Arm vorm Fernseher und kommentieren die körperlichen Eigenheiten der Schauspielerinnen: CATA Hübsches Mädchen, findest du nicht? ALBERTO H m m . . . CATA E r d b e e r m ü n d c h e n . . .
ALBERTO CATA
Ja?
Hmm... Ich würde gern...
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ALBERTO Ich w ü r d e gern zusehen, wie sie von einem Stachelschwein vergewaltigt wird. Der Schatten der Fische, die in ihrem durchscheinenden Gefängnis schwimmen, fallt auf die gegenüberliegende Wand. Beleuchtet werden sie im Gegenlicht durch den blauen Widerschein des Fernsehschirms. Das Paar verharrt in der Umarmung und sieht fern, während der Vorhang fällt. (658f.)
Laut Boyle ist das Fernsehen eine der Waffen, die das Militärregime zur Kontrolle über die Massen nutzte: This was the ideal medium for a modern authoritarian government: it kept people home, created a direct link between individual and the state, filtered reality through an appealing prism, and encouraged consumption instead of thought. (1992:155)
So gesehen besteht kein großer Unterschied zwischen dem Fernsehschirm und dem durchsichtigen Aquarium. Da sie keine authentische und freie Existenz haben, leben Alberto und Cata in ihrem eigenen „durchscheinenden Gefängnis" und sehen über den Bildschirm eine Welt, die außerhalb ihrer Reichweite liegt. Wie die Fische schwimmen Mutter und Sohn im Nichts und sind gefangen in ihrer armseligen, lästigen und unabänderlichen täglichen Routine. Vorläufig ist reden und spielen das einzige, was sie in dieser monotonen und lähmenden Umgebung tun können. In den drei Stücken variiert zwar die Form, der Blickwinkel ist aber im Grunde der gleiche: eine kleine Personengruppe, meistens aus derselben Familie und fortgeschrittenen Alters kämpft um die Erhaltung der Würde, des Stolzes und der Selbstbeherrschung. Boyle schreibt: „This decaying family has been seen as an allegory for the demise of the old aristocracy and for the social stagnation that afflicts the country." (1992: 192) Obwohl Wolff selbst zur chilenischen Bourgeoisie gehört, ist er seit den 50er Jahren ihr unbarmherzigster Kritiker. In Kindergarten, Alamos en la azotea und Häblame de Laura attackiert Wolff das Bürgertum, doch es sind nicht die heutigen Bürger9, sondern die von früher, die im Alter die Maske, die Nostalgie, die Lüge und das Spiel dazu benutzen, ihre Würde 9
Wolff will nicht für die unteren Schichten schreiben. Juan Villegas erläutert: „Dies sind keine Texte, die sich an die unteren Schichten richten, sondern an die Bourgeoisie des Landes und Mittelschicht. [...] Wie uns die Kritik gezeigt hat, geht es bei der Botschaft darum, die Aufmerksamkeit der chilenischen Mittelklasse zu erregen." (1983:193) Das läßt darauf schließen, daß Wolff mit den festgefahrenen Figuren dem Publikum die eigene existentielle Lähmung vor Augen führen will.
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und die Fassade von Wohlstand aufrechtzuerhalten. Die Bedrohung und Lähmung geht nicht mehr von der Revolution des Volkes aus, wie in Invasoren und Papierblumen, sondern von der eigenen Armut und der Weigerung, der Realität ins Auge zu sehen. Statt sich vor einer Veränderung in ihrem Leben zu fürchten, fürchten sie, daß möglicherweise keine Veränderung stattfinden könnte. Pina schreibt dazu: „Die einzige Lebenseinstellung ist selbstzerstörerisch und hinfällig, sie sind ohne Lebensmut und unwiderruflich verurteilt." (1985: 30) In ihrer beschränkten und festgefahrenen Welt besitzen sie nur das Spiel und die Sprache, die ihnen ermöglichen, ihre Phantasien auszuleben und neue Wirklichkeiten zu entwerfen, die sie selbst kontrollieren. Die existentielle Lähmung der Figuren und ihr Kampf um die Macht lassen sich mit den Theorien Michel Foucaults über Wissen und Macht in Bezug setzen. In allen Fällen nutzen die Figuren ihre Kenntnis der winzigsten und demütigenden Details aus der Existenz ihres Nächsten, und seien sie noch so klein, um Herrschaft herzustellen und zu erhalten. Die Herrschaft determiniert gleichzeitig das Verhalten und die Persönlichkeit des Beherrschten: „The individual, with his identity and characteristics, is the product of a relation of power exercised over bodies, multiplicities, movements, desires, forces." (1980: 74) Foucault weitet diesen Machtbegriff vom Individuum auf die Nation aus: „Power is that concrete power which every individual holds, and whose partial or total cession enables political power or sovereignty to be established." (88) Das Individuum, das die Macht auf persönlicher Ebene verloren hat, läßt zu, daß sich andere seiner bemächtigen. Von daher dient das Machtspiel zwischen den zwei verarmten Alten als mikrokosmische Vision eines Kampfes um Macht und Würde, den sich die heruntergekommene chilenische Mittelklasse auf nationaler Ebene lieferte. Wolff hat immer unabhängig gearbeitet. Als Chemie-Ingenieur, ein Beruf, den er immer noch ausübt, konnte er sich nie ganz dem Theater widmen. Dadurch blieb er etwas am Rande des Theater-Mainstream. Er hat sich auch nicht den bekannten Theatergruppen angeschlossen (wie IMAGEN, DETUCH, ICTUS). Pina beschreibt seine Außenseiterrolle sowohl auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher und beruflicher Ebene: Wolff paßt weder in die Welt seiner Freunde, denn in seinen Stücken ist er ein scharfer Kritiker des bürgerlichen Lebens, noch in die Theaterszene von Santiago. Seine Stücke stören, denn sie rütteln a m verborgenen, verschütteten oder eingeschlafenen Bewußtsein einer seit jeher v o m nationalen Literaturbetrieb in Frage gestellten Gesellschaftsklasse. (1981: 66)
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Seine Außenseiterrolle ist auch politisch, da er nicht Partei ergreift, was zu zweifelhafter Beurteilung und leidenschaftlichen Diskussionen über die „Botschaft" von Stücken wie Papierblumen und La balsa de la Medusa geführt hat.10 Obwohl er eine ganze Reihe von Stücken während der Militärdiktatur geschrieben hat, besteht der Autor darauf, daß er weder für noch gegen das Regime geschrieben habe. Wie er sagt, gehen seine Anliegen über die politisch-wirtschaftlichen Konflikte und den Konflikt zwischen Armen und Bourgeoisie hinaus. In Bezug auf seine neueren Stücke behauptet Wolff, daß keines davon aus der Regierung Pinochets resultierende Probleme reflektiert, denn mein heutiges Theater beschäftigt sich viel mehr mit Problemen, die über das Zeitgeschehen hinaus weisen. Es gibt in Chile eine Problemschwelle, deren Beweggründe viel tiefer liegen, als das politische Tagesgeschehen. Die beschäftigt mich. Pinochet hat die Probleme weder geringer noch größer gemacht. Für mich ist er nichts als ein, wenn auch schmerzlicher Zwischenfall in der traurigen Geschichte meines Vaterlandes. 11
So hartnäckig der Autor auch sein nach dem Putsch entstandenes Theater entpolitisieren mag, sein wiederkehrender Blick auf die Alten, Verarmten, Ausgegrenzten und von Angst und falschem Stolz Gelähmten läßt sich nicht übersehen. Wie soll man die existentielle Lähmung dieser Menschen nicht mit dem Regime, mit der Wirtschaftskrise und anderen repressiven Maßnahmen wie Exil, Ausgangssperre, schwarze Listen und Zensur in Zusammenhang bringen? In dem Buch A Nation of Enemies beschreiben Pamela Constable und Arturo Valenzuela das Chile des Militärregimes als ein Land „divided by hatred and frozen by fear" und erklären, daß „by September of 1973, the façade of civility had fallen away, exposing society's most primitive fears and permitting democracy to degenerate into a screaming match." (1991:141) Gefangen in den vier Wänden ihrer verfallenen Behausungen, beginnen die Figuren - Mico und Toño, Moncho und Wanda, Alberto und Cata - sich gegenseitig anzugreifen und sich die prätentiöse Fassade von moralischem und wirtschaftlichem Wohlstand herunterzureißen, um dem Publikum das wahre Gesicht ihrer Existenz zu offenbaren. Da sie ihrem existentiellen Erstikkungstod nicht entfliehen können, bleibt ihnen einzig das Spiel der Dominanz über ihre Verwandten. Der ständige Kampf zwischen den Perso10
Vgl. die Untersuchungen von Catherine M. Boyle zu La balsa de la Medusa und von Diana Taylor zu Papierblumen.
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Persönlicher Brief vom 3. März 1999.
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nen ist ihr tägliches Brot, das ihnen das Gefühl gibt, lebendig zu sein und ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Boyle meint: On one level [the games] are infantile, the pastimes of those who have no contribution to make to society. But, on another level, and deriving from this, games are the last remaining vestige of their role. (1992:116 f.)
In seinen Theaterstücken aus den 50er und 60er Jahren zeichnet Wolff realistische und psychologische Portraits einer etablierten Klasse, die um ihre Stellung in der Gesellschaft Santiagos fürchtet. In den Stükken aus den 70ern und 80ern begegnen wir einer Mittelklasse im Abstieg, die ihre gesellschaftliche Stellung verloren hat und darum kämpft, sich einen Rest von Würde zu erhalten. Nicht einmal die Familie ist heil geblieben; keine der drei gezeigten „Familien" könnte als „funktionstüchtig" bezeichnet werden. Das Auseinanderfallen des familiären Kerns spiegelt die Auflösung der Gesellschaft, die ihrerseits die von Haß geteilte und vor Angst gelähmte Nation wiedergibt. Die Bedrohung, die vorher von einer anderen gesellschaftlichen Gruppe ausging, entsteht jetzt in der eigenen Klasse und manchmal sogar in der eigenen Familie. Die Tatsache, daß fast alle diese Personen alt sind, unterstreicht lediglich ihren Verfall, ihr Außenseitertum und ihre Enttäuschung. Sie repräsentieren letztlich eine Klasse, die genauso obsolet geworden ist wie sie selbst. Auch wenn Wolff behauptet, sein Theater nach dem Putsch sei nicht politisch, läßt sich nicht bestreiten, daß diese armseligen und pathetischen Personen Vertreter einer verbrauchten, verängstigten und im Persönlichen, Sozialen und Politischen gelähmten Gesellschaft sind. Der physische Verfall der Bühne - kaputt und heruntergekommen - und der Personen - alt, aufgedunsen und pathetisch - ist Metapher für einen ebenso fadenscheinigen gesellschaftlichen Hintergrund. Mit großem Humor, mit Ironie und Zynismus benutzt der Wolff der 70er und 80er Jahre diese bittersüßen, konfliktreichen und spielerischen Dramen, um seiner persönlichen Philosophie Ausdruck zu verleihen, nämlich daß der Mensch unfähig zur Veränderung ist. Er verwendet sie auch als Waffe, um das Machtspiel und die Lähmung zu kritisieren, die auf einer viel breiteren Ebene stattfanden, in einer Nation, die wie Toño, Moncho und Alberto, Fiktionen erfand, um ihre Würde zu erhalten und der erstickenden und schrecklichen Wirklichkeit zu entkommen. Deutsch von Almuth Fricke
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Jacqueline E. Bixler: 1980 Promotion an der Universität von Kansas. Lehrstuhl für Lateinamerikanische Literatur und Kultur am Virginia Polytechnic Institute und an der State University. Publikationen: Convention and Transgression: The Theatre of Emilio Carballido. Lewisburg 1997. Zahlreiche Aufsätze über lateinamerikanische Dramatik.
María de la Luz Hurtado
Isidora Aguirre im Licht der Geschichte Isidora Aguirre begleitet ihre Zeit als außerordentlich engagierte Frau. Viele ihrer Stücke sind aus einer militanten Haltung heraus entstanden und an die Bedürfnisse gesellschaftlicher und politischer Organisationen gekoppelt. Über vier Jahrzehnte, in denen sie vor allem als Theaterautorin und gelegentlich als Regisseurin und Bühnenbildnerin gewirkt hat, stellt sie ihr Theater unbeirrt in den Dienst der Ärmsten und der von Wohlstand und Gerechtigkeit Ausgeschlossenen. Das dramatische Schreiben interessiert sie nicht, um damit Dinge aus ihrem Innenleben zum Ausdruck zu bringen und ihre persönlichen Widersprüche hineinzuprojizieren. Für sie sind Malerei, Tanz, Musik und gelegentlich der Roman (ihre fiktive Autobiographie Doy por vivido todo lo soñado und Carta a Roque Dalton) die geeigneteren Vehikel, um diesen Ebenen ihres Ichs Ausdruck zu verleihen: „Ich schreibe Romane, um meinen Gefühlen Luft zu machen." 1 Am Theater interessiert sie seine Offenheit für andere Kunstformen. Hier kann sie ihre vielseitigen Begabungen aus den verschiedensten Bereichen der Kunst, mit denen sie aufgewachsen ist, einbringen.2 Besonders reizt sie am Theater die Möglichkeit, Gruppen anzusprechen und zu mobilisieren, den vom herrschenden System Ausgeschlossenen Würde zu geben und die Flamme der Rebellion und Aktion zu zünden, um die Lebensbedingungen der Besitzlosen zu verändern. Am Anfang ihrer Laufbahn als Dramatikerin war sie sehr erfolgreich im institutionellen Theater. Als das politische Leben in Chile und Lateinamerika sich mehr und mehr in den Machtkampf zwischen den gegensätzlichen Gesellschaftsentwürfen verstrickte, beschloß sie, sich dem Kommunismus, globaler gesehen, dem Kampf des Sozialismus anzuschließen. Sie begleitete diesen Prozeß mit ihrem Schreiben und auch mit dem Theater, 1
Aus einem Interview mit Ana M. Larrain in „Suplemento Revista de Libros", in El Mercurio (7.10.1990), S. 1.
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Isidora Aguirra stammt aus einer Künstlerfamilie, in der Musik, Malerei, Tanz und Literatur zum Alltag gehörten. In dieser Familie spielten die Frauen immer eine aktive Rolle, und Isidora ist in diesem Selbstverständnis groß geworden, wie sie 1995 in einer Begegnung mit Studenten aus dem Kurs „Zeitgenössisches chilenisches Theater" von María de la Luz Hurtado in der Theaterschule der UNIVERSIDAD C A T Ó L I C A erzählt. Die Begegnung wurde auf Video aufgezeichnet und von Francisco Albornoz transkribiert.
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Marta de la Luz Hurtado
das an der Basis der Gesellschaft entstand. Durch das Theater wurde sie zur sozialen Aktivistin und nahm an der Kampagne für die Präsidentschaft des Kandidaten der UNIDAD POPULÄR, Salvador Allende, teil. Während seiner Amtszeit besuchte sie Fabriken, Gewerkschaften und Elendsviertel, um dort mit den Menschen und über sie Theater zu machen. Als sich die Situation nach dem Militärputsch grundlegend änderte, blieb Isidora Aguirre im Land. Sie setzte ihre Arbeit fort und unterstützte die von der neuen Situation am stärksten Betroffenen: die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, diejenigen, die mit ansehen mußten, wie ihre Angehörigen in diesem ungleichen Kampf ums Leben kamen; die indianische Bevölkerung, deren Situation als unterdrücktes Volk sich noch verschärfte. Sie weitete ihre Tätigkeit auf ganz Amerika aus, indem sie ihr Theater und ihr Wort den Chilenen im Exil brachte, die ihrer Trauer und Solidarität Ausdruck geben wollten, und den gesellschaftlichen Gruppierungen, die in anderen Länder für die gleiche Sache kämpften. So finden wir in dem großen Werk von über zwanzig Theatertexten verschiedener Gattungen, die Isidora Aguirre seit 1955 bis heute geschrieben hat3, eine ganze Reihe von Stücken, die aus einem ganz eigenen Blickwinkel das soziale Ethos und die Lebenserfahrung der konfliktreichen Jahren zwischen den 60ern und 90ern auf unserem Kontinent zeigen. In dieser Zeit erlebten wir auf sehr polarisierende Weise die Infragestellung der Vorherrschaft der Bourgeoisie in den 60ern, den Kampf um die Errichtung eines sozialistischen Staates in den 70ern und danach die Unterdrückung und radikale Umkehr in dem Gesellschaftsentwurf neoliberalistischer Prägung, der von der Militärdiktatur in der zweiten Hälfte der 70er und in den 80er Jahren getragen wurde. Der Übergang 3
Stücke von Isidora Aguirre: Pacto de media rtoche (1954), Carolina o la eterna enmascarada (1955), Entre dos trenes (1956), Las pascuales (1957), Dos más dos son cinco (1957), La micro (1957), Las sardinas o La supresión de Amanda (1958), Población Esperanza (1958, mit Manuel Rojas), La pérgola de las flores (1959, mit Francisco Flores del Campo), Los papeleros (1963), La dama del canasto (1965), Maggi ante el espejo (1968), Los que van quedando en el camino (1969), ¿Quién tuvo la culpa de la muerte de María González? (1970), En aquellos locos años veinte (1974), Lautaro (1982), Federico Hermano... (1986), Retablo de Yumbel (1987), Diálogos de Fin de Siglo (1989), Bolívar y Miranda (1993). In deutscher Übersetzung liegt vor: Die guten Tage, die schlechten Tage (Los que van quedando en el camino), deutsch von Fritz Rudolf Fries. Henschel Schauspiel 1975. Österreichische Erstaufführung: Linz 1976, BRD-Erstaufführung: Bielefeld 1976, DDR-Erstaufführung: Sömmerda 1978.
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zur Demokratie durch einen Zusammenschluß von Zentrum und Linken (Zusammenschluß der Parteien für Demokratie) im letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts hält am neo-liberalistischen Modell fest, versucht aber gleichzeitig, die Schlechterstellung der Ärmsten abzuschwächen und über die Einhaltung der Menschenrechte zu wachen. Interessant an dieser dramatischen Ausrichtung von Aguirre ist vor allem ihre Weitsicht, mit der sie neuralgische Themen des Zeitgeschehens in den Blick nimmt und sie gleichzeitig mit einem Netz von Assoziationen und Andeutungen versieht, das Licht auf Schlüsselmomente der chilenischen und lateinamerikanischen Geschichte und Identität wirft. Anhand dieser zeitlichen Distanzierung äußert sich ihre Überzeugung, daß die großen Widersprüche und Herausforderungen an Bewußtsein und Erfahrung zutiefst im Kollektiven wurzeln, in der Kultur, in den Organisationsformen unserer Gesellschaften und auch in den Formen des Widerstandes gegen die etablierten Systeme, in einer ständigen Dialektik von Utopie und Herrschaft, von menschlichen Werten und Machtmißbrauch bzw. Gewalt. Daher spielen die Stücke von Aguirre nur selten im Hier und Jetzt oder stellen herrschende gesellschaftliche Einstellungen und Werte (z.B. die Konsumgesellschaft, Leistungsorientierung, Individualismus, etc.) in Frage. Sie verlegt die Zeit der Handlung in andere geschichtliche Epochen und rekonstruiert in diesem Rahmen das gesellschaftliche Kräfteverhältnis und die Strukturen, die das Handeln der Subjekte tragen; Anliegen und politische Ausrichtung des Einzelnen interessierten sie dabei weniger. Doch fordert sie keinen deterministischen Strukturalismus; oft beweist sie große Feinfühligkeit, wenn es um die Entdeckung der geheimen Winkel des Bewußtseins, der dunklen und der hellen Bereiche ihrer Figuren geht. Die Konflikte werden nicht notwendigerweise in der Gegenüberstellung von Guten und Bösen dargestellt. Aguirre zeigt zwar deutlich, welcher der Protagonisten ihre eigene Sache unterstützt, denn es sind meistens historische „Helden", sie dringt aber auch in das Innenleben der Gegenspieler und erforscht deren menschliche Grundhaltung. So zeigt ihr Gesamtwerk interessante Variationen der Darstellung sozialer Konflikte und des Aufeinandertreffens der widerstreitenden Kräfte. Diese Variationen geben Einblick in die Entwicklung der Autorin und der kulturellen Gruppierungen, denen sie angehört.
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Die 60er Jahre: Volk versus Bourgeoisie Bekannt wurde Isidora Aguirre durch La pérgola de las flores (1959), einer der größten Publikumserfolge überhaupt im chilenischen Theater (die Uraufführung durch das TEATRO DE ENSAYO der UNIVERSIDAD CATÓLICA 1960 zählte ungefähr 500.000 Zuschauer). Das Stück ist von zahlreichen Ensembles nachgespielt worden, zuletzt 1996 in der Inszenierung von Andrés Pérez. La pérgola de las flores ist eine musikalische Komödie mit Musik von Carlos Flores de Campo; die dramatische Struktur ist typisch für das saínete. Es erzählt die Geschichte von Carmela, einem jungen Mädchen vom Lande, das in die Stadt kommt. Die Gegenüberstellung Land /Stadt verweist auf die Topoi Land = Reinheit, Leben, gesunde Gefühle versus Stadt = körperlicher und moralischer Verfall, Nationalstolz, Überfremdung, kurz gesagt: Tradition/Moderne. Der dramatische Weg von Carmela besteht im Kennenlernen der Gebräuche und Sitten der Stadt, ihrer Sprache, Kleidung, Verhaltensweise etc., besonders aber im Kennenlernen der Liebe: ein junger Aristokrat macht ihr den Hof und führt sie ins gesellschaftliche Milieu von Luxus, Festlichkeiten und äußerem Schein ein. Erst am Schluß erkennt Carmela, daß dies nicht ihr Platz ist, verzichtet auf ihre Verkleidung als „feine Dame" und schenkt ihre Liebe einem jungen Mann, der wie sie vom Land zugewandert ist und mit dem sie im Vertrauen auf dieselben Wurzeln und soliden Werte leben kann. Bis hierhin ist das Stück nicht anders als Hunderte von ähnlichen zarzuelas und saínetes. Das Verdienst von La pérgola de las flores liegt in der geschichtlichen Einbettung des Stückes. Es spielt in den „wilden 20er Jahren", einer Zeit krasser Gegensätze zwischen dem Luxusleben der Eliten und der quälenden Armut der übrigen Schichten, in denen sich erstmals populäre Organisationen zusammenschließen. Carmela spielt eine wichtige Rolle in der Strategie ihrer Verwandten, mit der diese ihr Anrecht auf Arbeit verteidigen. Auf der Grundlage historischer Fakten rekonstruiert Aguirre den Kampf der pergoleras, der Blumenverkäuferinnen auf der Hauptstraße Santiagos. Sie wollen verhindern, daß die Frauen im Zuge der Stadterneuerung ihre traditionellen Verkaufsorte aufgeben müssen. Die pergoleras symbolisieren den Hauch von Gefühl in der Großstadt: ihre vergänglichen und duftenden Blumen kontrastieren zu Zement, Lärm und Verschmutzung durch den wachsenden Verkehr. Sie verkörpern die pragmatische Lebensart der einfallsreichen Frauen vom Lande, die im Gegensatz zur französisierten Manieriertheit der Oligarchie steht.
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Die pergoleras wollen den Bürgermeister davon überzeugen, dem städtischen Vorhaben nicht zuzustimmen. Der Schlüssel zu dieser ihnen nicht zugänglichen gesellschaftlichen Welt, wo politische Entscheidungen bei gesellschaftlichen Anlässen gefällt werden, ist Carmela. Mit dem Rückhalt ihrer sozialen Gruppe tritt Carmela in die Welt der Oberschicht ein und gewinnt die Liebe des Adeligen. Am Ende haben die pergoleras ihr Ziel erreicht, und Carmela hat nebenbei eine Lektion gelernt. Der dramatische Gegensatz besteht somit zwischen der Oligarchie und der politischen Klasse, der Carmela angehört, dem Volk. Dabei dient die Satire als scharfe Waffe, mit der die Verlogenheit und die Vetternwirtschaft der herrschende Klasse bloßgestellt wird. Allerdings ist es ein sympathischer Humor, der liebenswerte Charaktertypen mit deutlich erkennbaren Eigenheiten zeichnet und am Ende dazu führt, daß deren gute Seiten zutage treten und der Sache der pergoleras Recht gegeben wird. In dem Stück wird gezeigt, daß die verschiedenen sozialen Klassen kompromißfähig und imstande sind, über ihre unterschiedlichen Interessen zu verhandeln und sich so zu einigen, daß jeder Gruppe bestimmte Wohltaten eines gerechten Staatswesens zugute kommen. Die unteren Schichten fühlen sich am Ende als Teil einer großen nationalen Gemeinschaft und rechtfertigen ihre Verhandlungen und den Druck, den sie ausgeübt haben, als eine nützliche Formel für mehr soziale Gerechtigkeit. Es gibt eine Instanz der Gleichheit, an die appelliert werden kann, und es besteht die Möglichkeit, Unterstützung bei anderen Organen des Staates zu finden; z. B. sympathisiert der Polizist, der von den Frauen aus der Oberschicht herbeigerufen wird, um Carmela zu verhaften, mit der Sache des Volkes und versucht stattdessen, die reichen Damen in Haft zu nehmen. Ein schärferer Ton bestimmt Población Esperanza (1958, Co-Autor Manuel Rojas). Auch dieses Stück ist emblematisch, da es mit der Dominanz der Salonstücke auf chilenischen Bühnen gebrochen hat, die die inneren Widersprüche der Bourgoisie erforschen und dabei den Anspruch haben, diese Klasse sei stellvertretend für die gesellschaftliche Gesamtheit. Población Esperanza greift eine Strömung auf, die um 1920 bedeutsam war, als Agitationen des Volkes die soziale Frage zur Sprache brachten, und das Theater die Landbevölkerung, die Arbeiter und die benachteiligten Großstadtbewohner zu seinen Protagonisten machte. Damals war das Theater politisch dem Anarchismus und verschiedenen Formen eines anti-bürgerlichen Sozialismus verbunden und seiner Weltsicht lag ein starker Naturalismus zugrunde.
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Población esperanza porträtiert die erbärmlichen Lebensbedingungen der Bewohner eines Elendsviertels. Die Menschen leben vom absoluten Minimum, sind unterernährt, haben oft kein Dach über dem Kopf, und sind so allen möglichen Krankheiten ausgesetzt. Sie leiden unter Einsamkeit, da es unmöglich ist, unter diesen Bedingungen eine harmonische Familie bzw. ein harmonisches Paar zu bilden. Gewalttätigkeit, Prostitution und Alkoholsucht fördern ein Abgleiten in die Kriminalität. Das Stück handelt von einer Sozialarbeiterin (Aguirre arbeitete in jener Zeit in diesem Beruf), die sich in einen jungen Mann aus dem Viertel verliebt und versucht, ihm und dem kleinen Waisenjungen, um den er sich kümmert, zu helfen. Nach mehreren dramatischen Wendungen, in denen es scheint, als könne dieser Engel der Vorsehung sie retten, wird der Mann von der Mafia ermordet, von der er zuvor versucht hat, sich zu distanzieren. Mit ihm stirbt die Hoffnung der anderen. Es gibt keine Rettung aus dem sich ewig wiederholenden Kreislauf der Armut. Das Drama hatte große Wirkung, weil es eine schonungslose Durchleuchtung dieser sozial benachteiligten Gruppe zeigt. Die Gefühlsnähe, mit der diese Welt geschildert, die Glaubwürdigkeit, mit denen ihre Schwächen und Mängel gezeichnet werden, und die poetischen Augenblicke, in denen sich verborgene Wahrheit und existentielle Ängste dieser Figuren offenbaren, führten zu Empathie zwischen Bühne und Publikum. Die Antagonisten sind hier nicht die anderen Gesellschaftsklassen; es sind die Lebensbedingungen, die das Gesellschaftssystem diesen Menschen auferlegt hat (in Form von Beschäftigungsstruktur, Gesundheitsund Erziehungssystem, Justiz, Sozialversicherung etc.). Sie selbst reproduzieren und verschlimmern ihre Lebensbedingungen, weil sie nichts besitzen, an dem sie sich festhalten könnten. Die Botschaft bzw. These des Stücks ist eindeutig: diese Menschen können sich nicht allein helfen, sie brauchen die solidarische und entschlossene Hilfe von sozialen Gruppierungen, die nicht nur über Bildung und solide humanistische Grundlagen verfügen (wie die Sozialarbeiterin), sondern auch über die Mittel zur systematischen wirtschaftlichen, erzieherischen sozialen Unterstützung von Kind an, die nur eine staatliche Politik leisten kann. Vor dem Hintergrund der „Allianz für den Fortschritt", die von den USA zu jener Zeit initiiert wurde, um Lateinamerika in eine Dynamik der technisch-kapitalistischen Entwicklung einzubinden, erhält das Stück Sinn. Und nicht nur in diesem Rahmen, es ist auch offen gegenüber anderen zu der Zeit diskutierten entwicklungspolitischen Ansätzen, die immer mehr den Blick auf die enorme Kluft zwischen Arm und Reich und auf die Schwäche jener sogenannten demokra-
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tischen Staaten lenkten, die gerade die Bedürftigsten außer Acht lassen, weil ihnen eine Mittelklasse fehlt, die politischen Druck auf den Staat ausüben könnte. Isidora Aguirre entwickelt die Handlung des Stücks zwar nach Art des psychologische Realismus, doch reißt sie erstmals Szenen auseinander und durchbricht die dramatische Abfolge durch eingeschobene Bilder und Episoden, in denen die Welt der jeweiligen Figuren nachempfunden wird. Sie fügt menschliche Typen und Geschichten ein, die sie selbst in diesem sozialen Umfeld kennengelernt und recherchiert hat. Die gleiche Methode wendet sie in Los papeleros (1963) an. Doch in diesem Stück geht die dramatische Innovation noch weiter. Es spielt im sozialen Milieu von Leuten, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, aus Mülltonnen und auf Müllkippen Papier zu sammeln; es handelt sich um Menschen, die in den Abfällen der kapitalistischen Industriegesellschaft leben. Das Stück untersucht, wie der Abstieg von einer von Mangel geprägten Existenz bis zur völligen Mittellosigkeit, zum gesellschaftlichen Paria verlaufen kann. Trotz ihrer Randexistenz haben die Figuren einen Chef: er ist eine unmenschliche und kalte Person, die nie körperlich in Erscheinung tritt, sondern lediglich mit blecherner Stimme über einen Lautsprecher mit ihnen kommuniziert. Dieser Patron, eine Art von Mafia-Capo, nimmt ihnen Geld dafür ab, daß er ihnen erbärmliche Hütten auf die Müllhalde stellt, und fordert einen Anteil an ihren mageren Einkünften. Somit gibt es in Los papeleros ein neues Element: den radikalen Gegensatz zwischen Menschen in extremer Armut und Bedürftigkeit und dem „Ausbeuter" ihrer Notlage. Nachdem wir einiges über das Leben, die Enttäuschungen und Sehnsüchte der Figuren erfahren und vor allem die Geschichte der Guatona Romilia verfolgt haben, konzentriert sich der Konflikt auf die Wut und Frustration, die der Patron dadurch hervorrief, daß er sein Versprechen, ihnen Häuser zu geben, nicht eingelöst hat. Angetrieben von ihrer Liebe, die den Sohn vor der Spirale der Armut bewahren will, wird Romilia zur sozialen Aktivistin, sie organisiert die Papiersammler und bringt sie schließlich zur aktiven Rebellion. Sie setzt die Müllkippe in Brand und stachelt die Papiersammler zum Kampf auf. Weil sie nun nicht einmal mehr ihre ärmlichen Hütten haben, sollen sie Wohnraum besetzen.4 Allerdings läßt die Autorin offen, ob die Papier-
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Damals gab es in Chile eine Welle sozialer Agitationen und Besetzungen bzw. illegaler Aneignung städtischer Grundstücke, aus denen die sogenannten poblaciones
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Sammler am Ende der Anführerin folgen werden. Sie stehen gleichzeitig unter anderen Einflüssen, die ihr Bewußtsein und ihren Willen manipulieren: ein Prediger, der ihnen die Gerechtigkeit Jehovas anpreist, und der Chef, der sie per Megaphon dazu drängt, wieder an die Arbeit zu gehen. Ähnliches finden wir beispielsweise in Stücken von Jorge Díaz aus dieser Zeit - El lugar donde mueren los mamíferos (1963), Topografía de un desnudo (1965) -, in denen der Gegensatz von Bourgeoisie und gesellschaftlich entrechteten Gruppen zugespitzt gezeigt wird. In den beiden Stücken von Díaz und in Invasoren von Egon Wolff sind die Hauptfiguren ebenfalls Lumpensammler und Bewohner von Müllkippen. Während Wolff die Beweggründe der am Konflikt beteiligten Gruppen miteinander konfrontiert, versehen Díaz wie Aguirre ihre volkstümlichen Charaktere mit Menschlichkeit, die sie den Vertretern der Bourgeoisie völlig absprechen, indem sie sie zu eindimensionalen Wesen reduzieren und als kaltherzige Ausbeuter charakterisieren. Aguirre zeigt wie Wolff die Möglichkeit eines Volksaufstand gegen diese Klasse. Mit eingeschobenen Episoden in Los papeleros gibt sie alptraumhaften Delirien Raum, die auf groteske Weise das Grauen und die Brutalität jener Existenzen in Verdammnis zum Vorschein bringen. In einer Szene rühren die Papiersammler in einer Suppe aus alten Schuhen, während sie mit absurden Worten ihre Situation beschreiben. Die Autorin nähert sich einem epischen Realismus, obwohl sie erklärt, daß sie damals nichts von Brecht kannte, sondern aus reiner Intuition schrieb.5 Aguirre benutzt auch der „lira popular", der volkstümlichen Dichtung, angelehnte Formen, z.B. Flugblätter mit Gedichten, die auf Straßen und Märkten verteilt wurden. Es waren Satiren auf die herrschende Klasse oder die Forderung nach dem Erhalt von volkstümlichen Sitten und Gebräuchen: ROMILIA spricht über die Gesinnung des Denen, die in L u m p e n kommen, ist nicht mal Gott wohlgesonnen. Die Misere hat uns nied're Klassen zu wahren Ketzern werden lassen. Reicht man uns einmal die Hand,
Lumpensammlers
callampas, die „Pilz-Siedlungen" (da sie von einem Tag auf den anderen wie Pilze aus d e m Boden schössen) als Elendsgürtel von Santiago entstanden. 5
Die erste Brecht-Inszenierung in Chile war 1953 Mutter Courage v o m Theater der UNIVERSIDAD DE C H I L E .
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sind wir außer Rand und Band. Statt ihnen Dank zu bekunden, erhalten sie nur Bißwunden.
Unterstützung des gesellschaftlich organisierten Kampfes Anfang der 70er Jahre Aguirre erzählt, der Dichter Pablo Neruda habe sie auf die Idee gebracht, ein Stück über den Kampf der Bauern und seine blutige Unterdrückung zu schreiben, der in den 30er Jahren in der Ortschaft Ranquil stattfand.6 Wieder beschäftigte sie sich mit der Geschichte, fuhr an den Ort des Geschehens und sprach mit Überlebenden und Zeugen. Daraus entstand Los que van quedando en el Camino (Die guten Tage, die schlechten Tage)1, in dem sie erstmals das Spiel der Durchdringung von Geschichte und Gegenwart explizit formuliert. Aguirre schreibt das Stück 1969, dem Jahr eines erbitterten Präsidentschafts-Wahlkampfes, in dem sich drei vollkommen unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe gegenüberstehen. 8 Sie setzt die Regierung, unter der die blutigen Ereignisse von 1934 geschehen waren, mit der christdemokratischen Regierung jener Zeit gleich, die eine weitreichende Agrarreform umsetzen wollte und zweifellos eine reformerische Alternative zu den revolutionären Bestrebungen im Stück darstellte. Die Ideologie und Wahrnehmung der Gegenwart bestimmt die Kenntnis und Sichtweise der Vergangenheit. Der Originaltitel Los que van quedando en el Camino (wörtlich „Die auf der Strecke bleiben") stammt aus den Aufzeichnungen aus dem kubanischen Befreiungskrieg von Che Guevara, 6
Im Wahlkampf zur Präsidentschaft Allendes und bei Demonstrationen der sozialen Organisationen während seiner Regierungszeit wurden die Ereignisse von Ranquil immer als Beispiel für Unterdrückung angeführt, wie auch das Massaker an Minenarbeitern in Santa Maria de Iquique Anfang des 20. Jahrhunderts, über das die Musikgruppe QUILAPAYÜN ein Lied schrieb, das zu einer unvermeidlichen Referenz in jener Zeit der starken Verquickung von Politik und Kunst wurde.
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Deutsch von Fritz Rudolf Fries. Henschelverlag. Berlin/Ost 1975. Alessandri vertrat die technokratische Rechte, Tomic die Christdemokraten mit einem am Zentrum orientierten sozialdemokratischen Ansatz und Allende die Linke und ihre sozialistischen Anliegen. An der Regierung war E. Frei M., Christdemokrat, der mit großer Mehrheit regierte und wichtige soziale Reformen in Gang gebracht hatte, wie die Agrarreform und die Verstaatlichung des Kupfers, die Haupteinnahmequelle des Landes. Der Wahlkampf der Christdemokraten richtete sich speziell an die Bewohner der Elendsviertel in den städtischen Randgebieten und an die Bauern, denn sie waren ihr politisches Hauptkapital.
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und das Stück schließt mit einem Lied, das der II Declaración de La Habana von Fidel Castro entnommen ist. Im Prolog und Epilog werden die Ereignisse von 1934 mit denen von 1969 gleichgesetzt. Die Botschaft des Stückes wird den Schauspielern (die aus ihren Rollen heraustreten) in den Mund gelegt. Zu jeder Behauptung und Anschuldigung fügt der Chor ein „So wie heute" hinzu. Ein Chor erzählt im Prolog des Stückes, daß in den zwanziger Jahren eine „fortschrittliche" 9 Regierung den armen Bauern Land versprach. Dadurch beflügelt und im Vertrauen auf die Justiz, forderten die Bauern ihre Rechte ein. Die Landbesitzer schlössen sich gegen sie zusammen, u m ihre Privilegien zu wahren. Armut und Ungerechtigkeit herrschten so weiterhin auf dem Land. Denn die Gesetze, die von der herrschenden Klasse diktiert werden, nutzen der beherrschten Klasse nicht. Daher begaben sich die Bauern mit ihrem Aufstand in die „Illegalität". Und die „progressive Regierung, die sie darin bestärkt hatte, für ihre Rechte zu kämpfen, gab eine blutige Antwort!" So wie die Bauern 1969 eine blutige Antwort erhielten: Heute verspricht die Regierung den Bauern erneut Land... doch weiterhin regiert der Hunger in den Dörfern... der Hunger kennt keine Geduld... heute weniger als gestern... Morgen weniger als heute! (Aguirre 1 9 7 5 : 1 0 f.)
Dieses Theater Brechtscher Prägung ist heroisch und melodramatisch. Die Polarisierung von Gut und Böse steht vor der Handlung und wird durch diese nicht grundlegend verändert: die Kritik der einen Seite ist gleichzeitig Bestätigung der anderen. Die Lebensweise, der Glauben und das Handeln der Protagonisten, d.h. der Landbevölkerung, sind beispielhaft und sollen nachgeahmt werden. Hauptfigur in dem Stück ist neben der ländlichen Bevölkerung auch eine einzelne Frau, Lorenza. Die alte Frau, die das Massaker von Ranqufl überlebt hat, erzählt ihre Geschichte dem Großneffen. Ihre Erinnerung wird lebendig, als sie den Marsch von erschöpften und elenden Bauern vorüberziehen sieht, die in die Stadt wollen, um dort ihre Rechte einzufordern. Wie in Los papeleros hat diese Frau aus dem Volk großen Kampfgeist und ist zu Opfern für die Sache ihrer Klasse bereit. Seite an Seite hat sie mit den Männern gearbeitet (mit ihren Brüdern, ihrem Verlobten), denen sie sich nicht unterordnet. Sie weiß, der Mutter Respekt zu zollen, einer Frau, die aus einer von Tradition bestimmten Welt stammt. Sie achtet die körperliche Arbeit auf dem Feld genauso wie die Notwendigkeit, sich zu bilden und intellektuell zu verfeinern (der Führer ist Juan Leiva, 9
Die Anführungszeichen entsprechen dem Originaltext.
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ein in der Sache engagierter Lehrer). Lorenza schätzt ihre Freiheit, am Kampf teilzunehmen, und stellt sie über ihre emotionalen Bedürfnisse: LORENZA sich auf das Land beziehend, das sie mit ihren Brüdern urbar machen will Schon schlagen wir Wurzeln, das ist die Liebe, die uns gemäß ist. Es gibt Dinge, die wichtiger sind als das Hochzeitsdatum. ROGELIO Ist gut, Lorenza, ich hab verstanden, wir beide sind mit dem Kampf u m das Land verheiratet, und nicht mal mit 'ner Axt kann man uns trennen! (50-53)
Obwohl sie die Ehe zurückweist, erfüllt Lorenza ihre Mutterrolle und zieht ein Waisenkind in ihrer Familie groß. Die Familie verfügt über eine eigene Kultur, die ihr Selbstbewußtsein und Stolz verleiht. Aber damit nicht genug: die Schule, die Gewerkschaft und Partei erscheinen als Organe, die den Kampf um die Selbstbestimmung unterstützen.10 So sagt Dominga, die Schwester Lorenzas: DOMINGA Ich bin Kommunistin! ... Das ist es... entschlossen kämpfen, damit jedes Kind, das geboren wird, was immer auch seine Herkunft sei, Brot und Bildung hat und ihm die Zukunft offen steht. Und wenn es Juan Leiva sagt, wird's wohl gut fürs Volk sein, so ist es doch, Schwester? LORENZA Ich glaube an Gerechtigkeit, egal unter welchem Namen. (59)
Die Gegenspieler des Triumphes der Bauern sind deren eigene verinnerlichte Verhaltensweisen als beherrschte Klasse (Unwissenheit, Angst, Zwietracht untereinander) wie auch die Institutionen, die von der herrschende Klasse kontrolliert werden (Bürokratie, Polizei, Justiz etc.). Das Verdienst dieses Stückes ist sein ganzheitlicher Blick auf die Gesellschaft, der alle Bereiche, Klassen und Institutionen einbezieht. Dieser Ansatz ist kennzeichnend für die historisch-materialistische Analyse, die in den 70er Jahren in der lateinamerikanischen Linken sehr verbreitet war. In Los papeleros ist dieser Ansatz noch nicht zu finden. Was die Form ihres Kampfes angeht, so würden die Bauern im Stück lieber den legalen Weg nehmen, doch als sie sich inhumanen Lebensbedingungen ausgesetzt sehen, da der Staat seine Versprechen nicht eingehalten hat, entscheiden sie sich für den revolutionären bzw. bewaffneten Kampf. Lorenza sagt über ihr Leiden, nachdem sie mit Polizeigewalt von ihrem Land vertrieben wurde: 10
Vgl. eine ältere Veröffentlichung von mir: Sujeto social y proyecto histórico en la dramaturgia chilena actual. Constantes y variaciones entre 1960-1973. Santiago 1983.
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[Was uns angetan wird], ist nicht weniger verbrecherisch, weil man kein Blut fließen sieht. Wäre es nicht, weil meine Brüder es mir verbieten, ich schwör dir, ich ging nachts in die Häuser der Reichen um zu stehlen. So viel Brot, das verdirbt. Haben sie denn gar kein Gewissen, frag ich mich? (69)
LORENZA
Nach dieser Rechtfertigung des Aufstandes der Bauern überfällt ein Bruder von Lorenza zwei Polizisten. Einer von ihnen stirbt, den anderen nehmen sie gefangen. Der bewaffnete Kampf hat begonnen, und es ist von Revolution die Rede. Revolution? Sind das nicht zu große Worte? Sieh doch, Genosse: wenn man uns in der „Legalität" des Hungers sterben läßt, so ist es besser, sich zu erheben und im Kampf zu sterben. Du kannst das nennen, wie du willst. Ich nenne es Revolution. (79)
NÜNEZ
ROGELIO
Die Bauern erheben sich. In der Hauptstadt erfährt man nur von der Angst der Großgrundbesitzer. Polizei und Militär werden entsandt, die Bauern werden eingekreist, gefoltert, getötet. Es sterben u.a. der Führer Juan Leiva und Rogelio, der Verlobte von Lorenza. Und da lag er wie ein Heiligenbild, mit seiner Fröhlichkeit und seiner Revolution auf den Lippen. Seine Revolution, die das schönste für ihn war, weil er so an sie geglaubt hat! Ihre Stimme bricht. Ich weiß nicht, wie sein Tod war, noch wo, noch wann... ich weiß nur, daß sie ihn mir getötet haben, ihn, der die Sonne war, die mir das Licht brachte... ROGELIO Der Tod existiert nicht, Lorenza, wenn einer mit seinen Idealen in die Ewigkeit geht, lächelt Hab ich dir das nie gesagt? (92) LORENZA
Die Erinnerungen an den grausamen Tod ihrer Familie vermischen sich mit den Rufen der Arbeiter: „Hoch leben die heldenhaften Bauern, die in Ranquil gekämpft haben." Damit kehrt das Stück in die Jetzt-Zeit zurück, und man hört den gleichen Ruf zur Unterstützung der Bauern auf ihrem Marsch in die Hauptstadt im Jahr 1969. Das Stück treibt somit aktiv dazu an, daß die Bauern sich Land aneignen und dafür auf allen Ebenen kämpfen. In seinem Vorwort zum Stück schreibt der Schriftsteller Volodia Teitelbaum: Es ist ein realistisches und sozialkritisches Drama... ein politisches Agitationsstück. [...] Es geht um die Bewußtwerdung der eigenen Situation und die Verpflichtung zu handeln. (1)
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Die Anforderungen an eine Inszenierung des Stückes sind ganz einfach. Sogar die Beleuchtung ist ersetzbar durch Stellwände, deren unterschiedliche Farben Orte und dramatische Atmosphären symbolisieren; das Stück kann in jedem nicht für Theater vorgesehenen Raum aufgeführt werden. Als Ausdruck der Großzügigkeit dieses Staates, der in dem Stück so heftig kritisiert wird, findet die Uraufführung 1969 im Theater der UNIVERSIDAD DE CHILE statt, d.h. im Hauptzentrum für staatliche Bildung des Landes. Das gleiche passierte in der UNIVERSIDAD CATÓLICA, deren Leitung die Reformen befürwortete und ein Stück förderte, das die Universitätsverwaltung kritisiert und ihre Autorität in Frage stellt. Es handelt sich um Nos tomamos la Universidad von Sergio Vodanovic, im selben Jahr wie Los que van quedando en el camino uraufgeführt. Nach dem Sieg der UNIDAD POPULAR widmet sich Isidora Aguirre ausschließlich dem Theater, um damit den politischen Kampf ihrer Partei zu unterstützen: „Ich machte theatralisierte Politik."11 Ausgehend von einer ganz schematischen und überzeichneten Dramaturgie machte sie didaktisch-erzieherisches Theater, in dem es ausschließlich um das Zeitgeschehen ging. Sie arbeitete mit der semi-professionellen Gruppe Los CABEZONES DE FERIA (mit Puppen im Stil des BREAD AND PUPPET THEATRE) wie auch mit Mitgliedern politischer Basisorganisationen: Slumbewohnern, Arbeitern, Jugendlichen, Bauern. Außerdem schrieb sie Libretti für Massenereignisse, wie 1972 die Historia de las Juventudes Comunistas (Geschichte der Kommunistischen Jugend), die von mehreren Theatergruppen - Choreographie Patricio Bunster und Regie Víctor Jara - inszeniert wurde.12 11
„Ich machte theatralisierte Politik, die auf Allende zugeschnitten war (10 Basisprojekte zur sozialen Unterstützung). Wir spielten auf Lastwagen, die bei der Kampagne zur Präsidentschaftswahl mitmachten. Danach arbeitete ich mit Jugendlichen aus Slums schematische Stücke über Pressemeldungen aus, in denen Ausbeutung offenbar wurde. Ich habe ein Buch von mehr als 100 Seiten über diese Erfahrung geschrieben." (Begegnung mit Isidora Aguirre, 1995).
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Dies ist ein Moment revolutionärer Agitation in einem Land, in dem sich das Theater in die „Schützengräben" oder auf die Straße begibt. Das kommerzielle Theater, das häufig auch ein anti-bürgerliches Theater gemacht hatte, erlitt einen großen Publikumseinbruch. Ausgerechnet eine Gruppe wie ICTUS, die traditionell politisches Theater machte, entschloß sich ein Stück über ein Thema zu inszenieren, das in der öffentlichen Debatte fehlte. Sie machten ein Stück über die Liebe, wie sie in unterschiedlichen sozialen Gruppen erlebt wird (Tres noches de un säbado). Junge Autoren wie Marco Antonio de la Parra gestanden später, daß es in jener Zeit der UNIDAD POPULÄR unmöglich war, einen dramatischen Text zu schreiben, denn dafür verlief das Leben viel zu rasant und gab ständig neue Impulse. In
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Politisches Theater unter der Diktatur in den 80er Jahren In der Zeit der Repression des Militärsregimes zwischen 1973 und 1989 bleibt Isidora Aguirre in Chile. Sie sagt, sie habe damals die Immunität von La pérgola de las flores genossen. Die politische Polizei habe sie in Ruhe gelassen, weil sie die Autorin eines Stückes war, mit dem sie die Herzen der Menschen erobert hatte.13 Sie tat das, was viele Gruppen taten, die unter starker Zensur weiter Theater machen und humanistisches Gedankengut erhalten wollten, ohne auf den Protest gegen die Übergriffe der Regierung zu verzichten. Sie zog sich auf die sogenannten „Klassiker" zurück, vor allem auf Stücke, die Gerechtigkeit und politische Gewalt thematisieren; sie adaptierte und inszenierte u.a. Fuenteovejuna von Lope de Vega und Richard III. von Shakespeare. Nach fast zehn Jahren schrieb Aguirre erst 1980 wieder Theaterstükke von weitreichenderer Wirkung; besonders hervorheben möchte ich Lautaro (1981), Retablo de Yumbel (1986) und Diálogos de fin de siglo (1988). Wieder ist das Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart im Spiel: In Lautaro, geschrieben im Auftrag einer Mapuche-Organisation, die sich gegen ein Gesetz auflehnt, das ihre ohnehin schon geschmälerten Rechte auf Landbesitz verletzt, wendet sich Aguirre den Anfängen der Conquista zu. In Retablo de Yumbel, das sie selbst als „Theater der solidarischen Unterstützung" für eine Theatergruppe aus Yumbel bezeichnet, beschäftigt sie sich mit der schmerzlichen Geschichte der Verschwundenen-Verhafteten aus dieser Gegend und verbindet sie mit der Legende des Heiligen Sebastian, einem christlicher Märtyrer aus der Zeit der Christenverfolgung im Römischen Reich, heute Schutzpatron von Yumbel. In Diálogos de Fin de Siglo spielt die Handlung während der „Bürgerrevolution" von 1891, der blutigsten in der Geschichte Chiles, und beschäftigt sich vor allem mit der Figur des Präsidenten Balmaceda, der - wie Allende ein halbes Jahrhundert später - nach seiner Niederlage Selbstmord begeht. Allen Stücken ist gemeinsam, daß sich die Helden vor eine schwierige Entscheidung gestellt sehen. Bei Lautaro sind es seine Integrität und sein starkes Engagement für die Sache, mit denen er den Befreiungskampf vorantreibt; beim Heiligen Sebastian der Glaube und die Evangelisierung und bei dem jungen Gefolgsmann von Balmaceda seine politi-
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einer Gesellschaft, die das Leben als tägliches Drama erlebte, wurde dramatisches Theater überflüssig. Begegnung mit Isidora Aguirre 1995.
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sehe Überzeugung, die dazu führen, daß die, die sie am meisten lieben, zu ihren Todfeinden werden. Lautaro, der Anführer der Mapuche-Kämpfer, gerät mit seinem Ziehvater in Konflikt, der kein Geringerer ist als der spanische Eroberer Pedro de Valdivia, bei dem er von klein auf gedient hat; der Heilige Sebastian überwirft sich mit seinem engsten Freund und früheren Waffenbruder, dem Kaiser Diokletian; Felipe, der junge Balmaceda-Anhänger, mit seinem Vater, der gegen Balmaceda ist. Das Thema des Bruderzwistes, den jeder Bürgerkrieg in sich trägt (unterschwellig existierte er schon in Chile, als der bewaffnete Konflikt ausbrach und wurde auf brutale Weise nach dem Militärputsch von 1973 weitergeführt), war Auslöser für Aguirres Überlegungen: Ist es legitim, zu den Waffen zu greifen, wenn dies bedeuten kann, daß man die eigenen Eltern und Geschwister umbringen muß? Welche Ideale rechtfertigen ein solches Handeln, welche nicht? Was passiert, wenn eine Seite bewaffnet ist und über alle Macht verfügt (wie Diokletian/die Militärs, die ihre Gegner gefangen nahmen und umbrachten), und auf der anderen Seite Menschen stehen, deren einzige Waffe ihre Ideale und religiöse bzw. politische Überzeugungen sind (wie die ermordeten Bauern aus Yumbel, der Heilige Sebastian bzw. der Idealist und Balmaceda-Anhänger Felipe)? Diesen grundlegenden Zwiespalt formuliert Lautaro und findet eine Lösung, wenn er als Erwachsener mit dem Geist seines toten Vaters spricht: LAUTARO Sprich zu mir, Curinancu! Sprich zu mir mit der Stimme des Donners! [...] leidenschaftlich Sieh mich jetzt an! Begreifst du nicht? Bin ich Valdivia treu, verrate ich mein Volk. Bin ich meinem Volk treu, muß ich jenem in die Hand beißen, der mir Tag für Tag Nahrung gab und... Zuneigung. Pause Er liebt unser Land, respektiert unsere Rasse, träumt von einem neuen Reich, mit gerechten Gesetzen, das wir gemeinsam bilden werden. Pause Mein Volk wünscht seinen Tod. Und ich... verbirgt seine Gefühle ich liebe ihn wie einen zweiten Vater...!
Curinancu öffnet ihm Seele und Geist für die Treue und den Schutz seines angestammten Volkes. Nachdem er bewirkt hat, daß Lautaro erkennt, welche Schmähungen und Opfer der Spanier ihnen auferlegt, sagt er zu ihm: „Mein Sohn, geh mit den deinen und zeig ihnen den Weg! Möge Gottvater dich beschützen. Geheilt sei deine Seele." Das Stück unterstreicht von Anfang an die Rechtmäßigkeit des Kampfes. Im Prolog evoziert der Chor das idyllische Paradies eines Amerika ohne Spanier, und es heißt: „In diesem Land sind immer wir gewesen." Danach wird vom Verlust des Landes an die Fremden berichtet. Die Erzählung grün-
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det auf dem Weiterleben einer oralen Tradition, die von der Autorin und ihren Mapuche-Figuren aufgenommen wird: „Das habe ich von meinem Vater gehört, der es von seinem hörte/als er mir singend/von der Kindheit erzählte/von der Jugend des Mapuche-Volkes..."14 Das Epos zeigt aber auch die menschlichen Seiten des Konflikts und erforscht die Erfahrungsbereiche Lautaros: seine Liebesverhältnisse, die Beziehung zu seinem Vater, zu Valdivia etc. Auch Valdivia werden Ideale zugestanden; er ist kein Antagonist in der Manier der Bürger oder Polizeikräfte aus Aguirres Stücken der 60er Jahre. Allerdings ist der Bruch unwiderruflich; der Freiheitskampf des eigenen Volkes ist, ganz gleich, wer der Gegner ist, ein Imperativ. Die Vorfahren und ihre Helden sind die Führer, die den Weg erleuchten. In Los que van quedando en el camino wird 1969 Che Guevara angerufen, hier gilt der Kriegsruf Lautaro. Und es sind nicht die Figuren, die ihn ausstoßen, sondern die Schauspieler und Schauspielerinnen der Gegenwart: CHOR DER SCHAUSPIELER ES wird abwechselnd gesprochen und dabei ein charakteristisches Teil des Kostüms abgelegt: Perücke, Gurte, Helme, Bart etc. Aus den Figuren werden die heutigen Schauspieler. Sie sprechen, ohne die Stimme zu heben. Der Chor singt die Strophe aus „Indio Hermano" von Illapu. Sprechgesang mit Instrumentalbegleitung: Von dir lernte ich, geliebter Bruder, Indio von hier, von dir lernte ich, der grausamen Unterdrückung zu widerstehen./ Ich werde nicht wanken, denn meine Bestimmung lautet, mich dieser Zivilisation aus Macht und Ambition zu widersetzen. Ich werden nicht wanken, denn so kann ich nicht weiterleben: betrogen, allein, versklavt, traurig und ohne Liebe./ [...] Hunger, Schmerz oder Kerker sind mir gleich, denn ich bin ein Mensch und kein Teil in dieser Angelegenheit. Bruder Indio, du hast mir geholfen, in meiner Brust die Flamme der Befreiung neu zu entfachen. Lautaro stößt den Kriegsschrei der Mapuche aus, und die Schauspieler stimmen ein.
Die chilenische Inszenierung von 1982 - Regie Abel Carrizo, Andrés Pérez als Hauptdarsteller - hob ganz eindeutig auf diese Assoziation ab. Valdivias spanische Gefolgsleute trugen in der Schlußszene Sonnenbril14
Isidora Aguirre lebte bei Mapuche-Familien in Araukanien, als sie Lautaro schrieb: dort entdeckte sie, daß die orale Tradition dieses Volkes lebendig ist. (Begegnung mit I. Aguirre 1995).
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len und Maschinenpistolen statt Gewehre als Anspielung auf das Stereotyp der Sicherheitskräfte des Militärapparates von 1980.15 Das Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart, das in El retablo de Yumbel den Heiligen Sebastian mit den Verhafteten und Verschwundenen aus Yumbel in Beziehung setzt, besteht darin, daß in beiden Fällen die Mörder ihnen nahestehende Menschen vom gleichen Stand waren und die Tat ohne vorheriges Urteil begangen wurde. Sie werden aufs äußerste geschändet, erst am Körper, indem man sie zerstückelt, und dann, indem man sie immer wieder vergräbt und ausgräbt (d.h., das verehrte Bild des Schutzheiligen von Yumbel), so daß es jedes Mal wie ein erneutes Verbergen und eine Wiederauferstehung der Wahrheit scheint. Obgleich das Martyrium des Heiligen unermeßliche Trauer in den Menschen hervorruft, die ihm nahe waren, spornt es sie dazu an, den Kampf für seine Sache weiterzuführen. Retablo de Yumbel beginnt mit den Worten: In diesem Theaterspektakel erzählen wir die grausame Geschieht' v o m Jüngling Sebastian und seinem Debakel. ZWEITE M U T T E R Sie ist wahr und nicht erlogen! DRITTE M U T T E R E S wurd' nicht gestraft, obwohl betrogen. BECKENSCHLÄGER An dieser Stelle sei betont, in dieser Welt sind wir's gewohnt: JULIANA Daß der Verbrecher frei ausgeht. ZWEITE MUTTER Und der Unschuldige u m Gnade fleht. A L L E DREI Es wird nicht gestraft, obwohl betrogen. Pauke und Becken BECKENSCHLÄGER
In dem Stück benutzt Aguirre den Kunstgriff des Theaters im Theater. Eine Gruppe aus der Gemeinde von Yumbel probt für eine Aufführung über das Leben des Heiligen. Die Aufführung ist wie ein Gemälde voll bunter Jahrmarktsatmosphäre, es greift auf die Tradition der amerikanischen Folklore, auf die Kindlichkeit und den Einfallsreichtum des Wander- und Kasperltheaters zurück. In der Szene mit den römischen Soldaten binden sich die Schauspieler Stoffpferdchen um die Hüften; sie spielen auf einem Podest unter drei Bögen für jede römische Episode; goldene Engel hängen über der Bühne, die Schauspieler wechseln vor 15
Während des Militärregimes gab es eine Debatte unter den Führern der Opposition, ob der Kampf gegen das Regime über politischen Druck und Verhandlung geführt werden (was am Ende obsiegen und z u m Pakt über den Übergang zur Demokratie in den 90er führen sollte) oder ob man z u m bewaffneten Kampf greifen sollte. Eines der wichtigsten Guerilla-Kommandos jener Zeit w a r die LautaroGruppe.
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dem Publikum Masken und Kostüme und schlüpfen mit größter Selbstverständlichkeit von einer Figur bzw. Epoche in die andere. Licht und Ton sind grundlegend für den Wechsel von Ambiente und Epoche. 16 Alles, was mit der Theateraufführung über das Leben des Heiligen zu tun hat, wird in einer volkstümlichen Versform - Dezimen - gesprochen, während die Schauspieler in den Probenpausen über ihr jetziges Leben reden und viele von ihnen Verwandte von Verschwundenen sind, die nach deren Körper und nach Gerechtigkeit für ihre Angehörigen suchen. Das Motto des Stücks lautet: Niemand darf zulassen, daß das Geschehene in Schweigen und in Vergessenheit fällt, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Die Krise der Utopien in den 90ern Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts beschäftigen sich die bedeutendsten Stücke von Aguirre weiterhin mit der Gründungsgeschichte Chiles und Amerikas: in Diego de Almagro mit der spanischen Conquista und in Bolivar y Miranda mit den Helden der Unabhängigkeitsbewegung von der spanischen Kolonie. In diesen Stücken verfolgt Aguirre wieder das Thema von Feindschaft und Mord unter politischen Rivalen, die einst brüderlich einer gemeinsamen Sache und Tradition gedient haben. Almagro, der erste spanische Entdecker in Chile stirbt in einem spanischen Gefängnis in Peru als Gefangener von Pizarro, mit dem er Ruhm und Abenteuer erlebt hatte. Das gleiche widerfährt Miranda, der Ideologe und große Kämpfer für die Unabhängigkeit Amerikas, der im Auftrag seines Gefährten Bolivar ermordet wird. Für Isidora Aguirre lautet die zentrale Frage zu diesem Zeitpunkt: Trägt jede politische Bewegung schon den Keim der Korruption in sich, selbst wenn sie zeitweise imstande war, die höchsten Ideale und einen brüderlichen Geist zu entflammen? Ist die amerikanische Sache von Beginn an durch eine Geschichte der Utopien geprägt, denen Frustration folgt? Ist es die Bestimmung dieser Kämpfer, daß sie im Alter zu Einsamkeit verdammt sind, als unverstandene Überlebende von Heldentaten, die längst keinen mehr begeistern noch interessieren? Vielleicht entspricht dies ihrer eigenen Stimmung. Ihre Stücke aus den 90ern sind nicht von professionellen Theatern aufgeführt worden. Sie empfindet, daß die postmodernen Tendenzen der gegenwärtigen Kultur und die in 16
Vgl. meinen Aufsatz: „La experimentación de formas dramáticas en las escrituras femeninas/escrituras de la mujer", in LATR (Spring 1998), S. 33-43.
Isidora Aguirre im Licht der Geschichte
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der Theaterjugend dominierende Strömung, die sie als subjektivistisch bzw. als Projektion individueller Probleme bezeichnet (im Gegensatz zum Theater, das im Dienst einer Sache steht), sie in eine Situation von gegenseitiger Entfremdung gebracht haben. Dennoch ist die Schlußfolgerung für Aguirre weder völlige Hoffnungslosigkeit, noch hält sie es für notwendig, ihre eigenen Utopien und ihre Weltsicht in Frage zu stellen. Sie ist der Überzeugung, daß selbst wenn der Lauf der Geschichte eine Bedrohung für die revolutionären Anliegen darstellt, diese nicht schwanken dürfen. Es könnte immer noch ein unverhoffter Wandel für diejenigen eintreten, die nicht aufgehört haben, die Revolution zu proklamieren. In diesem Geist endet Bolívar y Miranda. Bolívar, auch er besiegt und auf dem Totenbett liegend, versöhnt sich innerlich mit seinem ehemaligen Gefährten in Kampf und Idealen. Im Fieberwahn kehrt er in die Zeit zurück, als er selbst noch Utopien anhing, und rezitiert noch einmal seine flammende Declaración de Jamaica von 1815. Seine letzten Worte sind: „General Miranda... Ich habe Ihren Posten eingenommen! Wer übernimmt den meinen?" Zweifellos ist es zuallererst Isidora Aguirre selbst, die ihre Überzeugung an die junge Generation weitergibt: „Ich glaube, das Theater ist eine Waffe, die wir (Theaterleute), unfähig zu Waffen zu greifen oder in der Politik zu streiten, sehr effizient einsetzen können." 17 Doch diese Waffe hat für sie eine Reichweite, die sich nicht im Hier und Jetzt erschöpft: Wir müssen „im Boden fest verwurzelt in die Zukunft blikken."18 Deutsch von Almuth Fricke
Literatur Hurtado, María de la Luz: Sujeto social y proyecto histórico en la dramaturgia chilena actual. Constantes y variaciones entre 1960-1973. Santiago 1983. : „La experimentación de formas dramáticas en las escrituras femeninas/escrituras de la mujer", en LATR (Spring 1998), S. 33-43. Larraín, Ana M.: „Interview con Isidora Aguirre" in El Mercurio (7.10.1990), S. 1.
17
Begegnung mit Isidora Aguirre von 1995.
18
Ebenda.
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María de la Luz Hurtado
María de la Luz Hurtado: Soziologin mit Schwerpunkt Kultursoziologie und Forschungstätigkeit in den Bereichen Theater-, Fernseh- und Filmgeschichte. Leiterin der theaterwissenschaftlichen Forschungsabteilung der UNIVERSIDAD CATÓLICA DE C H I L E . Herausgeberin der Zeitschrift APUNTES. Publikationen: Sujeto social y proyecto histórico en la dramaturgia chilena actual. Constantes y variaciones entre 1960-1973. Santiago 1983. Teatro y sociedad chilena: la dramaturgia de la renovación universitaria entre 1950 y 1970. Santiago 1986; Historia de la televisión en Chile. Santiago 1989; „Influencia de Grotowski en el teatro latinoamericano", in APUNTES 99 (1990), S. 97-104; „Transformaciones y rupturas de lenguaje en el teatro chileno frente al autoritarismo y la democracia", in Cultura, autoritarismo y redemocratización en Chile, hrsg. von Garretón, Sosnowski, Subercaseaux. Mexiko 1993, S. 71-87; „Itinerario: La mujer en el teatro chileno", in APUNTES 108 (1994), S. 96-107; „Chile. De las utopías a la autoreflexión en el teatro de los 90", in APUNTES 112 (1997), S. 13-30; „La experimentación de formas dramáticas en las escrituras femeninas/escrituras de la mujer", en LATR (Spring 1998), S. 33-43.
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Jorge Diaz: Chilenisches Theater aus dem Exil Seit seinem Fortgang aus Chile 1965 bis zu seiner endgültigen Rückkehr 1994 hatte Jorge Diaz seinen Wohnort in Madrid, auch wenn er stets der chilenischen Theaterszene verbunden blieb. Als Sohn spanischer Eltern, die 1934 nach Chile kamen, ist das spanische Blut in seinen Adern sicherlich Grund für seine Vorliebe für das Mutterland. Der Wechsel von einer frei gewählten Demokratie zu einer repressiven Diktatur erschien wie eine Ironie, als wenige Jahre später eines der härtesten Regime ganz Lateinamerikas in Chile die Macht übernahm. Im spanischen Theater gab es zwar noch Zensur, aber man konnte sich innerhalb eines „Theaters des Möglichen", wie Buero Vallejo es genannt hat, mit dieser Situation arrangieren. Andererseits war die Repression in Chile nach dem Militärputsch so erdrückend und auch gefährlich, daß viele Theaterleute sich gezwungen sahen, außer Landes zu gehen. In anderen Aufsätzen in diesem Band sind die politische Situation und die Theaterentwicklung in Chile während der Pinochet-Zeit eingehend erläutert worden. Hier genügt die Feststellung, daß sich dieses Phänomen bezogen auf Jorge Diaz aufgrund seiner relativen Isolation anders verhält. Er blieb zwar mit den Leuten von ICTUS in gutem Kontakt, begann aber gleichzeitig in der Madrider Szene mitzuwirken und entwickelte das, was als seine „Theater-Schizophrenie" beschrieben worden ist. (Woodyard 1992) Da er beide kulturellen und linguistischen Codizes beherrschte, war es ihm möglich, einen dramatischen Rhythmus zu finden, der beiden Welten entsprach, obwohl er selbst nach einer gewissen Zeit der Abwesenheit aus Chile seine Fehler eingestand. (Über die Inszenierung von Piel contra piel1 in Santiago sagt er: „Es hat ausgereicht, daß ich zehn Jahre außer Landes war, um bei meiner Rückkehr gehörig ins Fettnäpfchen zu treten, da mir der notwendige Kontakt zu dieser Wirklichkeit fehlte.") (Epple 1986: 151) Soweit ich weiß, gibt es weltweit wenige Beispiele für dieses Phänomen, denn gewöhnlich hat jemand, nachdem er seine Heimat verlassen mußte, Schwierigkeiten, sich über sein Land auf dem Laufenden zu halten. (Ein außergewöhnlicher Fall ist José Triana, der weiterhin als Kubaner schreibt, obwohl er von seinem Geburtsland Kuba seit 20 Jahren getrennt lebt.) 1
Haut an Haut. Deutsch v o n Bettina Trefz. Stückgut. Deutsche Erstaufführung, Hamburg, Theater in der Basilika, 1994.
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George Woodyard
Das Theater von Diaz, das sich seit seinen ersten Stücken durch Wortspiele und eine herausragende Sprachtechnik auszeichnet, ist stets ein für das Leben und soziale Umfeld engagiertes Theater gewesen. Nach seinem Umzug nach Spanien verlagert Diaz die Betonung verstärkt auf den gesellschaftspolitischen Aspekt, verborgen unter der Maske einer verschlüsselten Sprache, wie man in dem exzellent gearbeiteten Stück La orgästula (1969-70) sehen kann, das gleichzeitig das Ende einer Epoche bedeutet. Ab 1970 wird eine solidere und praktischere Hinwendung zum engagierten Theater spürbar, die mit Stücken wie Mear contra el viento (1974) kulminiert, das sich durch seine verbitterte Darstellung der nordamerikanischen Intervention in Chile durch die ITT (International Telegraph and Telephone Corporation) hervorhebt. In meinem Aufsatz soll dargelegt werden, wie das Theater von Diaz die Probleme, die mit der Krise der politischen Repression in Chile einhergehen, aufnimmt. Viele Chilenen gingen auf der Suche nach der relativen Sicherheit in einem anderen spanisch-sprachigen Land nach Spanien, wo sie versuchten, Arbeit zu finden und ihr Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Doch dies gelang nicht notwendigerweise, denn es war schwer, sich der neuen Umgebung anzupassen. Diaz sagt selbst: Bei der Ankunft in Spanien findet man eine komfortable und gastfreundliche Welt vor. Doch sobald man wirklich versucht, sich in das neue Umfeld einzugliedern und dort Wurzeln zu schlagen, erweist sich der erste Eindruck als zweitrangig und oberflächlich, denn eine sehr streng gegliederte und harte Ordnung tritt zum Vorschein, angesichts derer sich der Südamerikaner verwirrt und verloren fühlt. (Epple 1986:147)
Das Trauma, das der sogenannte „Sudaca" 2 im Madrid dieser Jahre erleidet, ist der Stoff für viele der Stücke, die hier untersucht werden. Das Grundproblem beruht auf zwei Ausdrucksformen von Macht: der herrschenden Macht des Staates und der psychologischen Macht des Individuums. Was den Staat betrifft, so liegt sein Machtmonopol in Zeiten der Diktatur, in denen eine einzige ideologische Ausrichtung die Kontrolle über die Gesellschaft übernimmt, auf der Hand. Diejenigen, die die Waffengewalt haben, können, wenn sie wollen, die Massenmedien, den 2
„Sudaca" - eine spanische Bezeichnung für den Lateinamerikaner - „ist ein Wort, das in Spanien eine abwertende Bedeutung hat. Der argentinische Komponist und Sänger Alberto Gambino hat jedoch vor kurzem ein Musical inszeniert, das er Sudaca nannte und sich damit den Terminus aneignete, um die Identität der Exilgemeinschaft zu verteidigen." (Epple 1986:146 f.)
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internationalen (und oft auch nationalen) Verkehr, die Kunst, das Bildungssystem und andere soziokulturelle Bereiche beherrschen, egal ob in einer rechtsgerichteten Diktatur wie in Chile oder einer linksgerichteten wie im Fall Kubas. Die Macht auf zwischenmenschlicher Ebene ist ein komplizierteres Phänomen und läßt sich auf interne Machtstrukturen bzw. auf deren Fehlen ausweiten, wenn das Individuum sich isoliert und von seinen traditionellen Kontrollmechanismen abgeschnitten fühlt. Michel Foucault hat viel über dieses Phänomen geschrieben: Power is not an institution, a structure, or a certain force with which certain people are endowed; it is the name given to a complex Strategie relation in a given society. (1980: 236)
Wie wir im weiteren sehen werden, liegt bei Diaz die Macht in Händen einiger dramatischer Figuren und fehlt merklich den anderen, was zu außerordentlichen Konflikten im dramatischen Kontext und Diskurs führt. Alle Stücke, die in diesem Aufsatz behandelt werden sollen, basieren auf zwei Phänomenen: Folter und/oder Exil. Die Folter, und besonders die Folter in Chile, ist erstaunlich gründlich dokumentiert. Ein Bericht von Amnesty International von 1983 dokumentiert zum Beispiel mehrere Fälle von körperlicher und seelischer Folter und bezieht dabei Haftdauer und die erlittene Gewaltanwendung ein: Schläge auf unterschiedliche Körperpartien, die „Telefon" genannte Methode, 3 Stromschläge, die „Parilla" („Elektrogrill"), Verbrennungen, Aufhängen, totale körperliche Erschöpfung, Ersticken, Drohungen gegen Verwandte, Vergewaltigungen und eine Vielzahl anderer Greueltaten. Die schreckliche Dokumentation ist die reale Grundlage für die in den Texten von Jorge Diaz dramatisierten Geschichten. Er persönlich war nie direktes Opfer von Folter, war damit aber ständig durch den Kontakt mit anderen Exilsuchenden konfrontiert, die in den bösen Jahren der militärischen Repression aus Chile ankamen.4 Das Exil ist ein weiteres in der spanischsprachigen Welt gut dokumentiertes Phänomen; es existierte schon vor der Regierung des Königspaares Ferdinand V. von Aragonien und Isabel I. von Kastilien im 15. 3
Das „Telefon" bestand „aus gleichzeitigen und wiederholten Schlägen mit der flachen Hand auf die Ohren, was zu starken Kopfschmerzen und Verlust des Gleichgewichtsinns führt." (Amnesty 1 9 8 3 : 1 5 )
4
Eine der eindrücklichsten Studien dazu ist das Buch von Hernán Vidal über den Fall „Sebastián Acevedo". (1986)
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Jahrhundert. Ihre Edikte, die zunächst die Ausweisung der Araber und später der Juden verfügten, führten zu einer riesigen Zahl von Exilanten. Im Namen der Reinheit des Blutes (als frühe Manifestation eines „ethnic cleansing") trat Spanien in jener schändlichen Epoche einen Weg an, der im 20. Jahrhundert mit dem Massenexil als Folge des Spanischen Bürgerkrieges kulminieren sollte.5 In unserer Untersuchung wird das Wort „Exil"6 zur Beschreibung dieses Phänomens verwendet, während Diaz von „Entwurzelung" bzw. einer „multiplen Verwurzelung" spricht. Homi Bhabha macht in seinem Vorwort zu dem Buch von Hamid Nacify auf folgendes aufmerksam: It is time, I think, to activate an archaic root of the „exilic". If, in everyday speech and writing, we consciously read „exile" as enforced displacement and dislocation, then it is worth remembering that the term also carries within it, invisibly, unconsciously, its Latin root, salire: „to leap". It is the ethical „leap" that requires us [...] to revise our knowlegde of some of the „savage" discourses of power, possession, knowledge and belonging. (1999: XII)
Entscheidend ist immer der unfreiwillige Aspekt des Exils - die Menschen werden nicht „ausgewiesen", weil sie anderswo ein besseres Leben gesucht haben, sondern weil sie Opfer eines grausamen Schicksals sind, ihrer natürlich Umgebung entrissen und gezwungen, sich an einem fremden Ort niederzulassen. Elba Andrade und Walter Fuentes schreiben in der Einführung zu ihrem Buch: Das Ausmaß, in dem die Zeit der Diktatur das nationale Leben in Chile in Mitleidenschaft gezogen hat, hat zweifellos alle Merkmale eines großen historischen Traumas [...] Während der fast zwei Jahrzehnte Militärherrschaft (19731990) wurde das kollektive Bewußtsein der Chilenen von einer Terrormacht beherrscht, die sich der systematischen physischen und psychologischen „Ausrottung" von Menschen widmete [...] In diesem Paradigma aus Angst und Terror darf nicht der Massenexodus von Chilenen ins Ausland vergessen werden oder die Folgen von Verfolgung, Zensur und psychologischem Druck und die Wehrlosigkeit, die durch ein System geschaffen wurde, das die elementarsten Menschenrechte negierte. (1994:15 f.)
5
6
Siehe das Buch von Ramón Gómez Molina (1977), das die schlimmsten Details beschreibt. Im „Pequeño Larousse Ilustrado" als „Ausweisung" definiert. Man muß zwischen diesen beiden Begriffen und „Ausbürgerung" unterscheiden, die die Bedeutung von „fortgehen", von der „Heimat" oder „dem Vaterland getrennt werden" implizieren.
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Die Theaterlaufbahn von Jorge Diaz umfaßt seit seinen Anfängen bei ICTUS in Santiago bis heute fast 40 Jahre. Eines der ersten wichtigen Stücke, das er über besagte Thematik kurz nach dem Militärputsch schreibt, ist Toda esta larga noche? Das Stück, das 1976 in Madrid geschrieben und 1981 in Deutschland uraufgeführt wurde, dramatisiert das Leben von vier Frauen, die in einem politischen Gefängnis inhaftiert sind. Im Grunde sind sie eher „Verschwundene" als Häftlinge, also Menschen, die - wie so viele - sich in den härtesten Zeiten der Repression in Chile „in Luft auflösten". Das Bild wirkt erschütternd auf den Leser/Zuschauer, der nichts von den Geschehnissen in den Konzentrationslagern weiß. Jorge Diaz schrieb das Stück ausgehend von einer Begegnung „mit vier chilenischen Schauspielerinnen, die Ende 1976 gleichzeitig in Madrid ankamen.8 [...] Ich erhielt ein Schema und einige Dialoge, die ich weiterentwickelte und dramatisch gestaltete." (Diaz 1996: 214) In den drei Akten entwickelt sich ein Zusammenspiel zwischen den vier Frauen, das die Gründe für ihre Inhaftierung und die damit verbundenen Emotionen offenlegt. Die Macht funktioniert hier mindestens auf zwei Ebenen: am deutlichsten in der Beziehung zwischen den Frauen und denjenigen, die im Gefängnis das Sagen haben. Dabei handelt es sich um unsichtbare Figuren, die nur als körperlose Stimmen in Erscheinung treten; sie kommen zu den Zellen, um eine der Frauen hineinzubringen oder herauszuholen. Sie brüllen ihre Befehle wie Tiere und schüchtern damit nicht nur die Frauen, sondern auch das Publikum ein, denn das Unsichtbare kann noch mehr Angst einflößen als das Sichtbare. Zwischen den Frauen zeigt sich, wie die Umwelt ein Klima von Zweifel und Verdacht erzeugt, des Wissen-Wollens und Nicht-Wissen-Wollens und der Suche nach einer Vertrauensperson, was am schwierigsten ist. Die vier Frauen verkörpern alle möglichen Kombinationen der sozialen Schichten von ganz unten bis zur Oligarchie, der unterschiedlichen Identitäten von der Anonymität bis zur Berühmtheit und der Politik von einer völlig unbedarften bis zur höchst engagierten Haltung. Der traurigste Fall ist die unschuldige Jimena, die, nachdem sie im Gefängnis gefoltert wurde, bei einer Entbindung stirbt. Die Repression ist greifbar - die Isolation und Trennung von Familie und Freunden. 7
8
Diese ganze lange Nacht. Deutsch von Barbara Sabine Kulenkampff und Thomas Martin. Stückgut. Deutsche Erstaufführung Lübeck, Bühnen der Hansestadt, 1981. Die vier Schauspielerinnen waren Inés Moreno, Gloria Laso, Eliana Vidal und Gabriela Hernández.
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Díaz manipuliert die dramatische Spannung durch den Auftritt und Abgang der Frauen im Verlauf der Handlung und steigert damit die Möglichkeit, noch mehr Drohung und Folter ausgesetzt zu werden. Die akustischen Effekte der Metalltüren flößen Angst ein, während der ähnliche Klang der Blechteller der anderen Gefangenen einen Akt der Solidarität bedeutet. Oksana Bauer hebt zudem den furchtbaren dramatischen Effekt hervor, der durch die Stille erzeugt wird. (1999: 143) Die Tropfen, die an einem regnerischen Herbsttag von der Decke fallen, verweisen auf den psychischen Zustand der Frauen - es ist, als würden sie verrückt werden. Ein intertextueller Bezug auf Gedichte aus Las alturas de Machu Picchu von Pablo Neruda, das große Poem der Solidarität mit den Armen, verhilft dem Stück, wie „eine Taube zu fliegen". Tatsächlich lautet der Untertitel des Stückes „Canto subterráneo para blindar una paloma" (Unterirdischer Gesang als Panzer für eine Taube).9 Das Neugeborene von Jimena wird Paloma getauft, die Taube als Symbol der Hoffnung, diesen Horror zu überleben. Genauso wird mit Zitaten des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez auf seine Opposition gegen jegliche Beschränkung der menschlichen Freiheit verwiesen. Ligeros de equipaje (1982) ist vorwiegend ein Monolog. Díaz sagt über das Stück: Es beruht auf den Erlebnissen zweier befreundeter Schauspielerinnen: Montserrat Julio, die als Kind auf der Winnipeg nach Chile kam, dem von Neruda gecharterten Schiff, und deren Geschichte im ersten Teil erzählt wird; und im zweiten Teil geht es u m Carla Cristi, ebenfalls katalanischer Herkunft, die nach Chile emigriert w a r und nach dem Militärputsch 1973 nach Spanien zurückging. (Epple 1 9 8 6 : 1 4 8 )
In demselben Interview sagt Díaz: In meinen letzten beiden Stücken Ligeros de equipaje (1982) und Dicen que la distancia es el olvido (1986) entwickle ich eine dramatische Situation, die ich zuvor nie ausprobiert habe. Es geht u m lateinamerikanische bzw. chilenische Problem e in Spanien. Das bedeutet, in einem Stück Lateinamerika und Spanien darzustellen. (Epple 1986:146)
9
Es ist nicht ungewöhnlich, auf einen zweiten Titel für Stücke von Diaz zu stoßen. Oksana Bauer erklärt dies folgendermaßen: „Jorge Diaz überarbeitet seine Stücke gern und falls die Überarbeitung den Charakter des Stückes soweit verändert, daß der Originaltitel nicht mehr paßt, wählt er einen neuen." (1999: 2)
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Die Hauptperson in Ligeros de equipaje ist Mara, eine Schauspielerin, die sich auf eine Vorstellung vorbereitet. Während sie wegen ihres späten Auftrittes in besagter Vorstellung eine Nervenkrise erleidet, durchlebt sie die Erinnerungen an ihre leidvolle Vergangenheit. (Eine weitere Figur ist der Regisseur, der jedoch kaum in Erscheinung tritt.) Mara unterhält einen „Dialog" mit ihm und „anderen Figuren", die als OffStimmen oder Geschöpfe ihrer Phantasie auftreten. Im Verlauf mehrerer Auftritte und den Vorbereitungen Maras auf die Vorstellung offenbart sich ihre Geschichte seit ihrer Kindheit im Bürgerkrieg in Barcelona bis zu ihrer Ankunft in Chile, wo sie - Ironie des Schicksals - später den gleichen Greueln ausgesetzt sein sollte. Sie wurde Opfer von Folter, weil sie einen Freund versteckt haben soll, wovor sie weder ihre Unschuld noch ihre Berühmtheit als Schauspielerin retten. Die Szenen stellen ausführlich und in der ganzen Brutalität die Greueltaten nach, die ihre Folterer ihr zufügen, wobei der hinterhältigste von allen derjenige ist, der vorgibt ihr „helfen" zu wollen und von ihr ein Geständnis erpresst, durch das sie sich angeblich vor den anderen Schergen retten kann. Die Redewendung „mit leichtem Gepäck reisen", ein Zitat aus einem Gedicht von Antonio Machado, das dem Stück als Epigraph vorangestellt ist (zusammen mit Zitaten von Daniel Sueiro und T. S. Eliot), verdeutlicht die Vergänglichkeit jener wurzellosen Existenz. Diaz bemerkt dazu: Lange Zeit verwendete ich das Wort „Entwurzelung" und dachte, darin läge der Schlüssel des Problems. Das heißt, ich bin entwurzelt, dies war immer meine Lebensbedingung und das einzige, was ich tun kann, ist, mich mit dieser Entwurzelung abzufinden. Obwohl ich schon viel über die „Entwurzelung" geschrieben habe, vertrete ich mittlerweile das Konzept der „multiplen Verwurzelung", denn ich bin der Überzeugung, daß der Mensch die Fähigkeit und das Recht hat, an vielen Orten Wurzeln zu schlagen. (Epple 1986:147)
Dicen que la distancia es el olvido (1985) 10 scheint anfangs nichts mit dem politischen Umfeld Chiles zu tun zu haben. Die erste Szene zeigt eine Frau mittleren Alters mit einem zwanzigjährigen Strichjungen in Madrid, die sich nach dem Geschlechtsverkehr ankleiden. Doch langsam werden die Versatzstücke der politischen Vergangenheit der Frau und
10
Deutsch von Heidrun Adler, in Theaterstücke aus Chile, hrsg. von H. Adler, M. Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 171-214. Die im folgenden zitierten Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Ausgabe des Stücks.
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ihres seelischen und emotionalen Zustandes sichtbar. Das Stück basiert laut Oksana Bauer auf einem authentischen Fall, über den er [Diaz] durch die Presse erfahren hatte. Es ist die Geschichte einer jungen argentinischen Untergrundkämpferin, die während ihrer Gefangenschaft eine Liebesbeziehung mit ihrem Folterer eingeht. (159)
Claudia, Opfer des brutalen Pinochet-Regimes, hat unter Folter ihre Freunde verraten. Ihr Ehemann Diego wurde umgebracht, weil er nichts wußte, und sie wurde gefoltert, um aus ihr Information herauszuholen. Am Ende empfindet sie Hörigkeit gegenüber Martin, ihrem Folterer, denn er ist ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie beschreibt einen Traum: Ich war über einen Schlauch mit einer Kapsel verbunden... und der Schlauch riß. Ich entfernte mich langsam aber unaufhaltsam von jeder Form des Lebens, von allen anderen. Dieser dünne Schlauch ist der Folterer. Wenn er reißt, bleibt nur noch unendliche Leere. (Diaz 2000: 203 f.)
Sie heiratet Martin, der sie wenig später verläßt und ihre Tochter Ana (aus erster Ehe) mitnimmt. Die Folgen von Folter und Verrat haben sie zerstört, sie fühlt sich nutzlos. Ihr jetziger spanischer Ehemann ist ein mitfühlender Mensch, der ironischerweise einen wichtigen Posten im Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte innehat. Sie aber lehnt ihn ab und zieht die schmutzigen und geheimen Treffen mit einem Strichjungen vor, der sie mißhandelt und vergewaltigt. Das Stück rekonstruiert den Prozeß, durch den Claudia zum Opfer geworden ist. Für das Opfer einer von einem aggressiven Staat auf institutioneller und politischer Ebene organisierten Folter ist es schwer, später zu einem psychischen Gleichgewicht zurückzukehren. Die Folter ist von so traumatischer Wirkung, daß der Peiniger zum Lebensretter werden kann. 11 Für Claudia sind ihre außerehelichen Beziehung befriedigend, weil sie sie in ihrer Selbstverachtung bestärken. So sagt sie: „Ich muß mich bestrafen, meine Einsamkeit bestrafen." (184) Ihr Mann verunsichert sie, 11
A m Beispiel ähnlicher Fälle von Folter in Argentinien nennt Diana Taylor das Phänomen in ihrem Buch Disappearing Acts das „Stockholm Syndrome". (1997: 3) In der Dokumentation von Amnesty International wird folgender Fall zitiert: „Er [der Folterer] behauptete unter anderem, man habe Waffen gefunden und daß nun der Gefangene alles gestehen müsse, denn würde er dies nicht tun, könne er nicht verhindern, daß die anderen ein weiteres Mal gefoltert würden." (1983:120)
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denn „Ich ertrage es nicht, mich als Opfer zu sehen, und er macht, daß ich mich so sehe!" (193) Statt dessen möchte Claudia „jemanden, der mich verachtet, der mich nicht liebt." (ibid.) Ihr Mann versteht zwar etwas von Menschenrechten, aber aus einer abstrakteren und intellektuellen Perspektive. Er sagt zu ihr: Ich bin es leid, alle deine Macken mit Exil und Folter zu entschuldigen, ohne daß dadurch irgend etwas erklärt würde. Ich glaube nicht, daß die Folter notwendigerweise Neurosen nach sich zieht, noch daß das Exil so entscheidend ist, daß es ein Paar auseinanderbringt. (203)
Worauf sie antwortet: Du bist der Experte, was Exil und Folter angeht, der brillante Verteidiger der Menschenrechte [... ] Weißt du, Andrés, was man bei solchen Aussagen sagt, ist nie real, obwohl man die Wahrheit sagen will. Aber die Wahrheit ist eine so scheußliche Wunde, die einen so wahnsinnig macht, daß man nicht darüber sprechen kann. Der Psychiater und du, ihr wißt davon nichts. Ihr werdet es nie verstehen, (ibid.)
Das Stück ist eine klassische Studie über die Machtverhältnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen. Claudia fühlt sich völlig machtlos und liefert sich letztlich all denen aus, die ihr helfen wollen, nicht nur ihrem Mann, sondern am Ende auch dem Paar aus Chile, daß sie überredet zurückzukehren und ihre Tochter einzufordern. Selbst von ihrer Freundin Nina, die ihr ihre Wohnung für ihre „Treffen" überläßt, fühlt sie sich enttäuscht. Die Folter ist eine so menschenverachtende Erfahrung, die Claudia als Individuum zerstört hat. Erst am Ende, als Claudia (alias Mercedes) ihre Koffer packt, um nach Chile zurückzukehren, läßt sich das Ausmaß ihres Leidens und die heroische Anstrengung erfassen, die sie unternimmt, um wieder zu sich selbst zu finden. Mit diesem Stück versetzt uns Jorge Díaz in eine schwer verständliche Welt. Für einen „normalen" Menschen ist dies alles so fern vom Alltag, daß es fast unbegreiflich erscheint, obwohl Nina sagt: „Normal. Nun, ich hasse das Wort ,normal'. Wir sind alle anormal." (187) Man darf nicht vergessen, daß Tausende von Menschen in Chile und Argentinien in den Jahren ihrer „schmutzigen Kriege" fürchterlich gelitten haben, als Opfer einer Politik, die alle, die nicht mit dem Staat konform gingen, auslöschte. Dies war (und ist) eine Realität, die angesichts all der zerstörten Leben und der großen psychologischen Spaltung quer durch die Bevölkerung immer noch Wirkung zeigt.
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In diesem Stück hebt sich besonders die Art und Weise hervor, wie Díaz die dramatische Spannung aufrecht erhält. Das Stück hat zwar einerseits eine politische Aussage, zeichnet sich andererseits vor allem durch seine spritzigen Dialoge aus, die ganz typisch für Díaz' spielerischen Umgang mit der Sprache sind. In den Szenenanweisungen am Anfang verweist Díaz auf die Notwendigkeit, den chilenischen, peruanischen bzw. spanischen Akzent je nach sozialer Schicht beizubehalten, was dem Stück eine internationale und authentische Note verleihen soll. Der Autor bemerkt, daß „Madrid immer schon die Kloake gewesen ist, in die alle marginalen Dialekte der Welt eingeflossen sind. In Madrid gibt es keine Madrider." (172) Diese etwas übertriebene Bemerkung verweist auf die Mischung von Exilanten in der spanischen Hauptstadt. Der einzige Madrider im Stück ist Paco, für den das Leben ganz einfach ist: „Was zählt, is Sex und Geld." (2000: 178 f.) Als Strichjunge nutzt er seine sexuellen Fähigkeiten zum Überleben. Alle anderen leiden unter den Auswirkungen der Entwurzelung. Nicht nur der Akzent, sondern die Sprache an sich sind im Stück bedeutsam, ein Thema, mit dem sich Díaz schon sehr intensiv in seinen frühen Stücken beschäftigt hat. Die Sprache taugt wenig, um die menschlichen Bedürfnisse auszudrücken. Wenn Claudia und Andrés keine gemeinsame Ebene der Verständigung mehr finden, sagt Claudia: ungeduldig Mein Gott, die Worte taugen nichts! Sie bedeuten für dich nicht dasselbe wie für mich. Verlangen ist für mich ein Messerstich, ein Rausch, und für dich eine Gemütsbewegung. Andrés, reden wir nicht mehr davon. Wir müßten eine neue Sprache erfinden. (201)
La otra orilla ist ein weiteres Stück über das Exil aus spanischer Perspektive. Im November 1986 geschrieben, als die Situation in Chile schon auf eine positive Öffnung hindeutete, erfaßt das Stück die vielfältigen Variationen des Seelenzustands des Exilanten, seine Frustrationen und die Parameter seines psychischen Zustands. Wie schon in früheren Stücken ist der Ort der eigentlichen Handlung Madrid, aber darüber hinaus zeigt es den emotionalen Einfluß (oder vielleicht eher die Geschichte) Chiles, Argentiniens und sogar einiger Regionen Spaniens. Mit Hilfe eines Epigraphs von Mario Benedetti wird von Anfang an das schmerzliche Gefühl des Exils erzeugt: „Das Merkwürdige, das Unglaubliche ist, daß ich, der Aussicht meiner Schutzlosigkeit zum Trotz, nicht weiß, was der Wind des Exils mir sagen wird..." (Díaz 1996: 277) Vom Wind in einen unbekannten oder noch nicht bekannten Raum verweht, tragen alle Figuren die Spuren emotionaler Entbehrung. Gegen
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Ende des Stückes zitiert eine Figur noch einmal den berühmten und exilierten Schriftsteller aus Uruguay: „ganz allein da zu stehen ist ein weißes Durcheinander/eine Verschwendung des eigenen kleinen Feuers." (306) Alle Figuren entbehren menschliche Zuwendung und das Wohlgefühl, das eine beständige und treue Freundschaft geben würde. Alle waren gezwungen, aus politischen Gründen Asyl zu suchen. Es sind fünf Personen und jede trägt Narben in der Seele. Es handelt sich um folgende Personen: Benigno, der 72jährige Großvater, der in Mieres (Spanien) geboren wurde, wo er bis zu den Streiks des Bürgerkriegs als Minenarbeiter arbeitete. Damals verließ er das Land mit seinem Sohn Manuel (jetzt 52 Jahre), dessen Mutter unter der Geburt starb, nachdem Faschisten sie geprügelt hatten. Nach dem Militärputsch in Chile kehren die beiden mit Manuels Tochter Camila (jetzt 17 Jahre alt) nach Madrid zurück, allerdings ohne deren Stiefmutter, die die Familie wegen eines Gefolgsmannes der Faschisten verlassen hat, der ironischerweise die Verantwortung für Manuels Entlassung aus seiner Stelle an der Universität trägt. Die Person, die nicht zur Familie gehört, ist Trotsky, ein Argentinier und ebenfalls Flüchtling vor dem schmutzigen Krieg im eigenen Land; er ist der Motor der dramatischen Handlung. Mit einer Katalanin verheiratet, hat er die Rolle, die Fäden der einzelnen Schicksale zusammenzuführen. Auch er fühlt sich gescheitert; wie der historische Trotzky ist er ein politischer Exilant mit viel persönlichem Gepäck. Wenn seine Frau ihn am Ende verläßt, macht er Pläne, in Madrid zu bleiben, obwohl seine Umgebung in völliger Auflösung begriffen ist. Trotsky ist das perfekte Chamäleon - er schreibt eine anonyme Kolumne für Frauen und begibt sich in einer anderen Zeitschrift in die Welt der Schwulen -, er ist ein Mann ohne eigene Werte. Für Trotsky ist „der Atlantik ein mit Flüchtlingen in beide Richtungen verstopfter Durchgang" (299) und mit Genugtuung konstatiert er: „Die armen Spanier! Wir Latinos haben sie ganz schön durcheinander gebracht. Die wissen nicht mehr, ob von dort kommen bedeutet, Fascho oder subversiv zu sein." (299) Den Regeln der Machtpolitik entsprechend, wie sie Foucault formuliert hat, ist hier zu beobachten, wie sich Menschen in Opfer der absoluten wie auch der persönlichen Macht verwandeln. Auf der Makroebene sind alle Opfer einer massiven und repressiven Macht, die die politische Richtung dreier Länder radikal verändert hat: Spanien, Chile und Argentinien. Für jemanden, der die furchtbaren Auswirkungen von Folter und Exil nicht erlebt hat, ist das tiefe Gefühl der Hilflosigkeit, das dadurch hervorgerufen werden kann, schwer verständlich und kaum ein-
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zuschätzen. Auf persönlicher Ebene sind die dem Stück innewohnenden Spiele ebenso alarmierend und tiefgehend. Die Tochter Manuels, Camila, widersetzt sich dem Druck des Vaters, mit ihm nach Chile zurückzugehen, weil sie nicht weiter von einem Ort zum anderen ziehen möchte. Sie will Wurzeln schlagen, um das (uneheliche) Kind zu schützen, das sie im Leib trägt. Der Auftritt von Cecilia, die aus Chile mit ihrem neuen Mann ankommt und auf der Suche nach Möglichkeiten ist, das Geld zu investieren, das dieser aus Chile mitgebracht (dort gestohlen?) hat, birgt Kritik an der chilenischen Gesellschaft, die sich die Diktatur zunutze gemacht hat, um sich selbst zu bereichern. Die Bedrohung, die von Cecilia ausgeht, ist allerdings dadurch geschmälert, daß ihr alle wegen ihres Klassendünkels, ihrer halbherzigen Versuche, sich den Verlassenen zuzuwenden, und ihrer verdächtigen und heuchlerischen politischen Haltung, ablehnend entgegentreten. Am Ende bietet Jorge Diaz eine für alle annehmbare Auflösung: Benigno kehrt todkrank und mit seinen Rauchgewohnheiten, die ihn in der falschen Hoffnung auf ein langes Leben wiegen, in seine Heimatregion zurück. Manuel macht sich für seine Rückkehr nach Chile bereit, um dort nach einer Frau zu suchen, die kurz zuvor wieder aufgetaucht und ebenfalls ein Opfer staatlicher Gewalt ist. Für Camila scheint es die Möglichkeit zu geben, wieder mit dem Vater ihres Kindes zusammenzukommen. Nur die neu angekommene Mutter bleibt außen vor, als Opfer des eigenen Opportunismus. Manuel macht ihr klar: „Auf deine Weise wirst du nun auch das Exil erleiden." (303) Alle übrigen trennen sich, wenn sie auch nicht als Familie zusammen bleiben, zumindest in Freundschaft. Diaz erweist sich erneut als Meister eines beweglichen und schnellen Dialoges, der fließend von einer Episode zur nächsten, von einer Figur zur anderen, von einem Land zum anderen übergeht. Die Verwendung typischer Musikstücke (z.B. von Quilapayün oder Intillimani) trägt dazu bei, die Szenenübergänge flüssig zu gestalten und das passende Ambiente zu schaffen. Die psychologischen Konzepte hat er zwar schon in früheren Stücken verwendet, jedoch beleuchtet er hier die Bezüge auf „das andere Ufer" in der Bedeutung von Exilerfahrung bis Tod. Manuel erinnert sich an seine Kindheit: Ich war vier und glaubte, die ganze Erde wäre Spanien und das Wasser, das ich sah, ein Fluß. Ich dachte, wir könnten vom anderen Ufer aus den dort Gebliebenen zuwinken. (309)
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Von totaler Naivität bis zur Hoffnung auf Utopien zeigt La otra orilla verschiedene Entwürfe, um das Glück anderswo, in einem anderen Land, in einer anderen Welt zu finden. Das Schöne an dem Stück ist, daß alle Personen, jeder auf seine Weise, einen Weg finden, um mit den Enttäuschungen des Lebens fertig zu werden. Es sind keine völlig hilflosen Personen, sondern Menschen, die gelernt haben, sich den neuen Umständen und neuen Realitäten anzupassen, die von den Gegebenheiten außerhalb ihrer Kontrolle abhängen. Wenn Macht in den Händen korrupter und verblendeter Menschen liegt, ist sie ein Übel, das das Leben Tausender Unschuldiger verändern bzw. zerstören kann, wie wir in dem Fall Chiles und Argentiniens in den 70er Jahren gesehen haben. Die andere Seite wollte allerdings darauf beharren, daß die Mittel notwendig waren, um ein extrem starkes politisches Ungleichgewicht zu jener Zeit auszugleichen, aber es bleibt immer die Frage, ob der Zweck die repressiven Maßnahmen rechtfertigt. Jorge Diaz, der über vier Jahrzehnte lang seinen Beitrag zum Theater geleistet hat, ist einer der bekanntesten Schriftsteller Lateinamerikas. Als er in Spanien lebte und sich der Theaterbewegung in Madrid anschließen wollte, fühlte er sich wegen seines Akzents, seines Andersseins nicht akzeptiert, obwohl er Sohn von Spaniern war. Er hat dazu gesagt, daß es in Madrid auf dem Theater eine rassistische Intoleranz gegenüber den,Akzenten' gibt. [...] Ein Schauspieler oder eine Schauspielerin m i t , Akzent' hat auf der Bühne große Probleme... Das Absurde an dieser Intoleranz ist, daß Spanien das Land mit den meisten regionalen Akzenten in ganz Europa ist. Es ist beinah ein Zusammenschluß verschiedener Länder. (Epple 1986:147)
Für sich persönlich meint Diaz: Wenn ich nach Chile fahre, wird mir gesagt, daß ich nicht mehr wie ein Chilene spreche, aber wenn ich hier bin, spreche ich auch nicht wie ein Spanier. Es genügt, eine Fahrkarte für die U-Bahn zu kaufen; mit diesen zwei Worten weiß jeder, daß man nicht von hier ist. Dadurch fühlt m a n sich im Niemandsland, und andererseits bestätigen sich die eigenen Identitätsmerkmale, (ibid.) 12
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Zu einem anderen Zeitpunkt bestätigt Diaz allerdings die Gastfreundschaft in Madrid gegenüber den Flüchtlingen: „Ich empfinde Madrid als einen großen Strand, an dem alle Schiffbrüchigen landen und einen Ort finden, u m ihr Leben neu zu beginnen." (Epple 1986:147)
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Noch ein weiteres, sehr kurzes Stück behandelt das Exil: Muero, luego existo (1986) hat Anklänge an Jorge Diaz' „absurde" Phase. Es geht um den Exilanten Zoilo, der feststellt, „als man mich in Chile verhaftet hat, hat mir niemand geholfen." (1986: 32b) Danach „kam ich mit Frau und Kindern hierher. Erst solidarische Umarmungen, dann Hunger. Maria ist wieder zurückgegangen, und ich habe die Kleinen vernachlässigt." (34b) Halbtot vor Hunger geht er in ein Krankenhaus und will sein Blut verkaufen, um die Kindern ernähren zu können. Bei der Befragung zu seinen etwaigen Krankheiten wird festgestellt, daß er unter einem anderen Namen schon zu häufig Blut verkauft hat, und ihm wird das „Spenden" verweigert. Gleichzeitig bietet man ihm mit Rücksicht auf seine schwierige Lage die Möglichkeit an, „überflüssige" Organe zu übertriebenen Preisen zu verkaufen (Haut, Finger, Darm, eine Niere, einen Lungenflügel, ein Auge, einen Hoden, einen Arm usw.). Als man ihm am Ende Geld für seinen ganzen Körper bietet, stößt er sich ein Messer in den Bauch (für 3 Millionen Peseten), um ein neues Leben zu beginnen. Ich weiß, daß Maria froh sein wird, wenn ich nach Chile zurückkomme... Wir könnten sogar noch mehr Kinder bekommen... Und auch ein rotznasiges Enkelkind. (36b)
In seinem verzweifelten Zustand bemerkt er nicht einmal, daß sein Tod die Träume von einem Familienleben unmöglich macht. Diese Prämisse scheint genauso absurd wie die Geschichte in El lugar donde mueren los mamiferos (1963)13, in der die irregeleiteten bürgerlichen Werte zu unverständlichen Auswüchsen führen. Das Exil ist zwar nur ein Nebenaspekt in diesem Stück, dennoch ist es organischer Bestandteil in der Weiterentwicklung des Themas, da es wiederum um den verzweifelten (und letztlich sinnlosen) Versuch geht, sich der neuen Umgebung anzupassen. Was Zoilo angetan wird, ist letztlich eine Art legaler Folter im Rahmen der Normen der heutigen Gesellschaft. Trotz seiner „Entwurzelung" in Madrid, oder um seinen eigenen Begriff zu verwenden, seiner „multiplen Verwurzelung" an beiden Orten, zeugt die Dramatik von Jorge Diaz in all diesen Jahren von seiner Sensibilität für das Thema der Exilanten, vielleicht aufgrund seiner eigenen Entwicklung und Geschichte, und von seinem Einfühlungsvermögen in das Thema der Folter, einer der unsäglichen Greuel unserer „modernen" Gesellschaft. Der dramatische Aufbau seiner Stücke ist geprägt 13
Der Ort an dem die Säugetiere sterben. Deutsch von Thomas Martin und Philipp Willfort. Stückgut. Deutsche Erstaufführung München, 1980.
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von seinem geschickten Umgang mit konfliktiven Strukturen und von seiner Tendenz, Figuren zu zeichnen, die in ihrem ethisch-sozialen Umfeld engagiert und durch ihre in Aufruhr geratene Umwelt ihrer Chancen beraubt sind. Die Stärke von Diaz ist sein sprachliches Können im Einsatz der leisen Töne, des genauen Worts, der Stimmungen, des Witzes, des schwarzen Humors und in der Zeichnung seiner Figuren, die gegen die Wirklichkeit kämpfen. Bemerkenswert ist, daß diese Figuren, nachdem sie im tiefsten Schlamm gesteckt haben, am Ende oft einen positiven Ton anschlagen und mit erhobenem Kopf in eine helle und optimistische Zukunft blicken. Deutsch von Almuth Fricke Literatur Amnesty International French Medical Commission and Valérie Marange. Doctors and Torture. Resistance or Collaboration? Introduction by Charles Glass; Translation by Alison Andrews. London 1989. Amnistía Internacional. La tortura en Chile. Madrid 1983. Andrade, Elba; Fuentes, Walter (Hrsg.): Teatro y dictadura en Chile: Antología crítica. Vorwort von Alfonso Sastre. Santiago de Chile 1994. Bauer, Oksana M.: Jorge Díaz: Evolución de un teatro ecléctico. Ann Arbor 1999. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London, New York 1994. : „Preface: Arrivals and Departures", in Home, Exile, Homeland: Film, Media and the Politics of Place, hrsg. von Hamid Naficy. New York, London 1999. Boyle, Catherine M.: Chilean Theater, 1973-1985: Marginality, Power, Selfhood. London, Toronto 1992. Diaz, Jorge: „Muero, luego existo", in Literatura Chilena 10. 2, 3 (April/September 1986 [Doppelnummer]), S. 31-36. : „Dicen que la distancia es el olvido", in GESTOS 3 (April 1987), S. 170-206. : Antología subjetiva. Santiago de Chile 1996. [Toda esta larga noche; Ligeros de equipaje; La otra orilla] : „Aus den Augen, aus dem Sinn", in Theaterstücke aus Chile, hrsg. von Heidrun Adler, María de la Luz Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 173-216. Epple, Juan Armando: „Teatro y exilio. Una entrevista con Jorge Díaz", in GESTOS 2 (November 1986), S. 146-154. Foucault, Michel: Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings. New York 1980. Gómez Molina, Ramón: Qué son los exiliados. Barcelona 1977. Muñoz, Diego; Ochsenius, Carlos; Olivari, José Luis; Vidal, Hernán (Hrsg.): Poética de la población marginal: Teatro poblacional chileno: 1978-1985. Antología crítica. Minneapolis 1987. Rojo, Grinor: Muerte y resurreción del teatro chileno 1973-1983. Madrid 1985.
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George Woodyard: Professor im Departament of Spanish and Portuguese der University of Kansas seit über 30 Jahren. 1967 Gründer und leitender Direktor der Zeitschrift LATIN AMERICAN THEATRE REVIEW. Publicaciones: mit Leon F. Lyday: Dramatists in Revolt. Austin, London 1976; Mitherausgeber von 9 Dramaturgos Hispanoamericanos. Girol, 2. Ed. 1998; African And Caribbean Theatre. Cambridge 1994; mit Osvaldo Pellettieri: Eugene O'Neill AI Happening. Buenos Aires 1995; mehrerer Ausgaben des Cambridge Guide sobre teatro latinoamericano; Aufsätze u.a. über Roberto Cossa, Jorge Diaz, Ricardo Halac, Eduardo Pavlovsky, Hebe Serebrisky, Jose Triana, Oscar Villegas und viele mehr.
Wir werden nie erfahren, was fiir Stücke geschrieben worden wären, wenn die Geschichte Chiles eine andere Wendung genommen hätte. Marco Antonio de la Parra Unsere Gesellschaft ist keine Gesellschaft des Schauspiels, sondern eine der Überwachung. Michel Foucault Laurietz Seda
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Marco Antonio de la Parra: Solo für Carlos und Sigmund M a r c o A n t o n i o de la Parra ist einer der wichtigsten Dramatiker im c h i l e n i s c h e n T h e a t e r u n d sein geschickter U m g a n g m i t linguistischen, sexuellen, kulturellen, ästhetischen u n d literarischen C o d e s hat i h m ein e n Platz i m Theater der Welt gesichert. Sein D e b ü t als Theaterautor hat er 1978 gleich mit zwei Stücken: Lo crudo, lo cocido y lo podrido u n d Matatangos.1 Lo crudo, lo cocido y lo podrido, das in der UNIVERSIDAD CATÓLICA aufgeführt w e r d e n sollte, w u r d e zensiert u n d abgesetzt, n a c h d e m eine K o m m i s s i o n der Universität die Generalprobe gesehen u n d das Stück als beleidigend u n d unflätig eingestuft hatte. J u a n A n d r é s Piña schreibt dazu: Es ist ein unbequemes Stück, sehr umgangssprachlich und freizügig, dessen Thema darauf zielt, einige der nationalen Mythen zu demontieren. Diese undurchsichtige und verdorbene Welt durfte in jenem Augenblick nicht in einer akademischen Institution gezeigt werden. (1990:158) D a s V e r b o t v o n Lo crudo, lo cocido y lo podrido führte dazu, d a ß Pub l i k u m u n d Kritik erst recht auf Matatangos a u f m e r k s a m w u r d e n , u n d de la Parra v e r w a n d e l t e sich d a n k der positiven u n d begeisterten Kritiken, die das S t ü c k b e k a m , v o m S c h m u t z f i n k e n u n d F r e c h d a c h s in einen an1
Weitere Stücke von de la Parra sind: La secreta obscenidad de cada día (1983), El deseo de toda ciudadana (1987), Infieles (1988), King Kong Palace o El exilio de Tarzán (1989), Dostoievski va a la playa (1990), El padre muerto (1991), Límites o Los cuerpos de delito (1991), Dédalus en el vientre de la bestia (1992), Penúltima comedia inglesa (1992), Tristón e Isolda (Bolero) (1993), Telémaco/subeuropa (1993), Heroína (1993), Madrid/Sarajevo (1993), El continente negro (1994), La libre empresa (1994), La pequeña historia de Chile (1994) (Abdruck in Apuntes 109 (1995), 17-38), Lucrecia & Judith (Comedia sin cabeza) (1994), El ángel de la culpa (1995), La voluntad de poder (1996), Casandra insomne o la puta madre (1997), La tierra insomne (1997), Carta abierta a Pinochet (1998), Monogamia (2000).
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gesehenen Theaterautor. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß nicht nur der Reiz des Verbotenen die Zuschauer ins Theater lockte. Die Dramatik von de la Parra brach mit dem Realismus, der bis dahin die Theaterszene beherrschte. De la Parra nimmt Bolero-Texte, Operetten-Figuren, Personen aus der Weltgeschichte, Protagonisten anderer Romane oder Stücke, Zeremonien und Rituale, die er in einen völlig anderen Kontext versetzt. (Pina 1990:160)
In Matatangos erscheint Gardel, die Protagonisten in Solo für Carlos und Sigmund sind Marx und Freud, und in King Kong Palace sehen wir Tarzan, Jane und den Zauberer Mandrake, Comikfiguren aus den 50er Jahren. Zudem finden wir intertextuelle Bezüge auf Macbeth, King Lear, Hamlet, Romeo und Julia, Othello und König Odipus. Der Autor mischt Texte aus der Volksliteratur und -kultur mit Bezügen auf die Hochkultur und will damit die nationalen Mythen auseinandernehmen und zersetzen. Die Kritik sieht in de la Parra einen postmodernen Autor, er selbst hängt jedoch keinen Dogmen oder theoretischen Schulen an, sondern verwendet Zeichen und sexuelle Codes, wenn sie ihm geeignet erscheinen, seiner Sorge über die aktuelle politische Situation in Chile und Lateinamerika Ausdruck zu verleihen, ohne dabei in Schwarzweißmalerei zu verfallen.2 Wie wir wissen, hat seine Generation unter der Diktatur von Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 die schwierigsten Jahre der chilenischen Geschichte erlebt. In dem Klima jener Jahre von Gewalt und Verboten mußte man neue Formen des literarischen Ausdrucks finden. Aus diesem Grunde wurde die Zweideutigkeit, laut de la Parra, zum „Requisit des Denkens". (1988: 39) Ausgangspunkt für unsere Untersuchung ist der Gebrauch des doppelten Codes und das Konzept eines panoptischen Überwachungssystems, das Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen vorstellt. Der Körper soll als ein Zeichen dargestellt werden, das zwischen Sexualität und Politik oszilliert und dadurch die Macht untergräbt, die von der Fähigkeit des Individuums zur Überwachung gespeist wird. Mit anderen Worten soll gezeigt werden, daß die Macht, die durch Überwachung aufrecht erhalten wird, verletzlich und instabil ist, denn die Überwacher können leicht zu Überwachten werden.
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Siehe hierzu die Aufsätze von Jacqueline Bixler (1993, 1995) und von Juan Andrés Piña; ferner meine Doktorarbeit, De Cortés al Mago de Oz: Estrategias posmodernas en el teatro latinoamericano
actual
(1980-1992).
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Solo für Carlos und Sigmund (La secreta obscenidad de cada día) wurde im Mai 1984 uraufgeführt.3 Das Stück zeigt die Begegnung zweier bedeutender Figuren der modernen Gesellschaft: Karl Marx und Sigmund Freud treffen sich vor einer Mädchenschule. Der erste Lacheffekt wird erzielt, wenn die zwei als Karikaturen von Exhibitionisten auftreten und um die Bank vor dem Gymnasium streiten, wo sie ihren „perversen Akt" durchführen wollen. Im Streit um die Bank und in ihren Gesprächen nehmen die Figuren die Gestalt unterschiedlicher Personen an und werden schließlich zu Komplizen und Freunden. Das Stück endet damit, daß aus der Schule einige Minister heraustreten, die dort zu einem Festakt waren. Freud und Marx öffnen ihre Mäntel und richten ihre Waffen auf die Staatsmänner. Die Doppeldeutigkeit der Worte erzeugt Humor und Ambiguität und verzögert die Auflösung bis zum Schluß, wenn klar wird, daß die Figuren keine Exhibitionisten sind, sondern Männer, die gegen ein autoritäres Regime kämpfen. De la Parra verbirgt den politischen Inhalt des Stückes hinter der Zweideutigkeit der Dialoge und Parodien, worauf Jacqueline Bixler, Elsa M. Gilmore und Juan Andrés Piña hingewiesen haben. Solo für Carlos und Sigmund erfordert, wenn man am Schluß angelangt ist, eine Neubewertung des Gesehenen/Gelesenen. De la Parra versteht es, mit der Erwartungshaltung seines Publikums/seiner Leserschaft zu spielen; er verzögert die Entschlüsselung des Rätsels, um das Stück interessanter zu machen. Peter Brooks hat in Reading for the Plot: Design and Intention in Narrative gezeigt, daß die Texte, die die Auflösung an den Schluß stellen, am schwierigsten zu lesen sind4: To speak of „binding" in a literary text is thus to speak of any of the normalizations, blatant or subtle, that force us to recognize sameness within difference, or 3
Deutsch von Dagmar Ploetz, in Theaterstücke aus Chile, hrsg. von H. Adler, M. Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 107-146. Aufführungsrechte bei Suhrkamp Theaterverlag (Spectaculum 48). U r a u f g e f ü h r t i m Theater CAMILO HERNÁNDEZ in
Santiago de Chile. De la Parra führte Regie und spielte den Sigmund, León Cohen den Carlos. Deutsche Erstaufführung: Städtische Bühnen Freiburg, 1988. Ferner übersetzt: Untreue (Infieles, 1988). Deutsch von Heidrun Adler. Frankfurt/Main 1 9 8 9 u n d Dostojevsky
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am Strand
(Dostoievsky
en la playa).
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López. Frankfurt/Main 1990. Brooks untersucht das Konzept der Lust des Lesers anhand einer Analyse von Jenseits des Lustprinzips (1920) von Sigmund Freud. Marco Antonio de la Parra hat sein Stück zwischen Oktober 1983 und März 1984 geschrieben, und das Buch von Brooks erschien 1984; de la Parra konnte diese Theorie kaum kennen. Aber der Autor ist Psychiater und mit den Freudschen Texten, auf denen Brooks' Theorie basiert, vertraut.
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Laurietz Seda the very emergence of a sujet from the material of fabula. As the word binding suggests, these normalizations and the recognitions they provoke may in some sense be painful: they create delay, a postponement in the discharge of energy, a turning back from inmediate pleasure, to ensure that the ultimate pleasurable discharge will be more complete. The most effective or, at least, the most challenging texts may be those that are most delayed, most highly bound, most painful. (1984:101 f.)
Erst am Ende von Solo für Carlos und Sigmund erkennt der Leser alle Schlüssel, die ihm im Lauf des Stückes an die Hand gegeben worden sind. Der Autor spielt auf intelligente Weise mit den doppelten Codes aus dem Problemkreis von Restriktion, Überwachung und Überwachtwerden. Aufgrund der Zweideutigkeit des Textes schwankt der Körper zwischen Sexualität und Politik, denn wir haben es mit zwei Exhibitionisten zu tun, die am Ende in Wirklichkeit Terroristen sind. Die doppelte Bedeutung von Worten wie Geschütz oder Kaliber im Kontext des Exhibitionismus lenken den Blick vom Politischen auf die Sexualität. De la Parra benutzt die Doppeldeutigkeit, die er mit sexuellen Anspielungen, Worten aus der Waffensprache, Auslassungen und unbeendeten Sätzen erzeugt, um den Blick in Bewegung zu halten und damit die Überwachung zu untergraben. Foucault schreibt dazu: Zu ihrer Durchsetzung muß sich diese Macht mit einer ununterbrochenen, erschöpfenden, allgegenwärtigen Überwachung ausstatten, die imstande ist, alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar. Ein gesichtsloser Blick, der den Gesellschaftskörper zu einem Wahrnehmungsfeld macht: Tausende von Augen, die überall postiert sind [...] (1977: 275)
In Solo für Carlos und Sigmund sieht man (was später noch zu erläutern ist), daß das Machtsystem, das sich durch Überwachung am Leben erhält, weder perfekt noch monolithisch ist, sondern eher verletzlich und instabil, da der Überwacher auch zum Überwachten werden kann. Wir wissen, daß die Jahre, in denen das Stück geschrieben wurde, die schwierigsten in der chilenischen Geschichte waren. Wegen der brutalen und andauernden politischen Repression konnte nicht offen gesagt werden, was man dachte. Da de la Parra schon 1978 Erfahrung mit der Zensur machte, unterminiert er die Normen jetzt lieber zwischen den Zeilen, so wie es jemand tun würde, der sich von einem allmächtigen Auge überwacht fühlt. Das Dilemma des Autors und der chilenischen Gesellschaft wird den Protagonisten von Solo für Carlos und Sigmund in den Mund gelegt: CARLOS Angenommen, das Land wäre beschissen, muß man das aussprechen oder muß man es nicht aussprechen?
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SIGMUND
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M a n m u ß es aussprechen!
CARLOS Nein, nein, Vorsicht, pscht... SIGMUND Man muß es sagen, sage ich Ihnen... Sehen Sie, ich werde Ihnen erklären, was mit Ihnen los ist, Sie sind befangen im Hamletschen Dilemma des chilenischen Menschen unserer Zeit: Sagen oder nicht sagen? ... Nun, ich sage Ihnen, man muß es sagen... Oder sollen wir immer die Betrunkenen spielen, u m zu sagen, was wir denken? Oder Narren, mal sehen, ob uns ein kleines Lachen gelingt? Oder Mystiker? (128)
Marco Antonio de la Parra spricht aus, was mit seinem Land los ist, aber er tut dies indirekt, zwischen den Zeilen, mit doppelten Bedeutungen, denn er selbst ist Opfer des „Hamletschen Dilemmas" angesichts der drohenden Zensur und Repression. In Überwachen und Strafen erläutert Michel Foucault die Funktion des Panopticon, wie es J. Bentham entwickelt hat. Auch wenn das panoptische Gefängnis mit seinen strahlenförmig angeordneten Zellen ein architektonisches Gebäude ist, benutzt Foucault das Beispiel um zu zeigen, wie das Überwachungssystem zur Aufrechterhaltung von Kontrolle, Disziplin und Macht über die Menschen funktioniert. In der Hauptsache bewirkt es „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt." (1977: 258)5 Mit anderen Worten heißt dies, das Individuum muß sich unter ständiger Bewachung fühlen und wissen, damit es die Zwänge der Macht von allein wiederholt und aus eigenem Antrieb auf sich wirken läßt. So funktioniert es in Diktaturen, wie de la Parra sie erlebt hat. In Solo für Carlos und Sigmund ist von dem Augenblick, in dem die Personen die Bühne betreten, ein Klima der Überwachung spürbar. Sigmund, der als erster auftritt, schaut sich vorsichtig um, als suche er jemanden. Natürlich erscheint diese Handlungsweise für den unschuldigen Blick des Zuschauers, der noch nicht die Auflösung des Stückes kennt, überhaupt nicht verdächtig, da er ja annehmen muß, daß die als 5
Die Architektur des panoptischen System sieht laut Foucault folgendermaßen aus: „An der Peripherie ein ringförmiges Gebäude, in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so daß die Zelle von beiden Seiten von Licht durchdrungen ist. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich v o m Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau erkennen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar." (1977: 256 f.)
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Exhibitionist verkleidete Figur nicht bei ihrer Tat überrascht werden will. An einer anderen Stelle in dem Stück wird das Konzept der Überwachung noch deutlicher, wenn Sigmund mit dem Rücken zum Publikum seinen Regenmantel öffnet und Carlos sein „Kaliber" zeigt: CARLOS Ich meine, mit so einem Kaliber... zeigt einen winzigen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. SIGMUND springt auf Sagen Sie das nicht!... flüstert unruhig Die haben weitreichende Mikrophone... unter Umständen werden wir sogar beobachtet... sieht sich ängstlich um oder gehören Sie etwa zu denen? [...] SIGMUND völlig außer sich Sie sind enttarnt! Los, raus mit dem Knüppel! Her mit der Zwangsjacke! Wo sind die Handschellen? Foltern Sie mich, jagen Sie mich in die Luft, schneiden Sie mir die Kehle durch! Was benutzt ihr zur Zeit? He? Ich habe Sie enttarnt! Ihr haltet euch für so schlau, aber ich bin gleich dahintergekommen, war alles nur Verkleidung, nur eine Falle. Kommen Sie! Befriedigen Sie doch Ihre Perversion, Sie sind wahrscheinlich weit unmoralischer und sadistischer als ich! Nur zu! Ich weiß doch schon, daß Sie zu denen gehören! (117 f.)
Publikum und Leser glauben, Carlos bezeichne mit dem Vokabular aus der Waffensprache („Kaliber") Sigmunds Geschlechtsteil, und lachen darüber, während die Worte bei Sigmund Mißtrauen wecken, da er sich überwacht fühlt. Seine Reaktion zeigt, was Foucault als die Funktion des panoptischen Systems beschrieben hat: das Individuum fühlt sich dauernd überwacht, und so wird das automatische Funktionieren der Macht sichergestellt. Abgesehen davon, daß Sigmund sich überwacht fühlt, versucht er, als er glaubt, enttarnt worden zu sein, zunächst Carlos zum Schweigen zu bringen. Danach gibt er Carlos genaue Anweisungen, was er mit ihm tun muß, nachdem er ihn entdeckt hat, und stiftet ihn selbst dazu an, Macht gegen ihn zu gebrauchen, denn er verdächtigt ihn, Teil des repressiven Systems zu sein. Sigmund und Carlos haben beide den Verdacht, der eine könne den anderen überwachen. Gleichzeitig fühlen sie sich von außen überwacht. Sie können die Macht nicht lokalisieren, denn sie wissen nicht genau, ob sie beobachtet werden, aber sie sind sicher, daß sie unter ständiger Beobachtung stehen. Foucault weist darauf hin, daß „je zahlreicher diese anonymen und wechselnden Beobachter sind, das Risiko des Überraschtwerdens für den Häftling um so größer wird und um so unruhiger sein Bewußtsein des Beobachtetseins." (1977: 260) Da sie sich die ganze Zeit überwacht fühlen, das Zentrum der Macht aber nicht festmachen können, verlegen sich Carlos und Sigmund darauf, jedes Mal, wenn ein Auto vorüberfährt, in dem ein Überwacher sitzen könnte, unterschiedli-
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che Rollen anzunehmen. Sigmund tut so, als würde er Seilchen springen, holt einen Plüschhund hervor, mimt einen Straßenverkäufer und einen Clown, während Carlos irgendwelche Kinderspiele macht, imaginäre Tauben füttert, einen Verkäufer von Elektrogeräten aus Taiwan, einen Altwarenhändler und einen Zirkusansager spielt. Das metatheatrale Spiel bzw. die Maskerade funktioniert nach dem Prinzip der russischen Puppe: aus Angst, enttarnt zu werden, schlüpfen die beiden immer wieder in die nächste Figur. Dabei spiegeln die Masken die verschiedenen Facetten ihrer Lebensgeschichten als Folteropfer, Folterer, Arbeiter, Arbeitslose und Revolutionäre. Am Ende bleibt die wahre Identität der Personen offen. Während ein Rätsel gelöst wird, stellt sich ein anderes. Sind die Männer wirklich Karl Marx und Sigmund Freud? Oder sind es zwei Terroristen unter falschem Namen? Oder zwei Verrückte, die glauben, Marx und Freud zu sein? Eine erneute Lektüre des Stücks scheint erforderlich. Aber vielleicht spielt es keine Rolle, die wahre Identität der zwei herauszufinden. Ganz im Gegenteil. Wenn es sich bei den Personen des Stücks um zwei Verrückte handelt, dann ist die Macht nicht bedroht und das Stück kann unbemerkt die Zensur passieren. An anderer Stelle erregt eines der Autos, das an Marx und Freud vorbeifährt, wieder ihren Verdacht, überwacht zu werden. Sie nehmen an, daß darin Evaristo Romero fährt, der Kellner des Restaurant „Los Inmortales" aus Lo crudo, lo cocido y lo podrido. Damit kein Zweifel bleibt, daß es sich wirklich um denselben Evaristo Romero aus diesem Theaterstück handelt, läßt de la Parra Sigmund folgende Frage stellen: „Ist das der Kellner von dem Restaurant, wo man die Leichen in den Séparés gefunden hat?" (123) Die Erwähnung dieser Figur wird zur Büchse der Pandora in der fiktiven Welt von Solo für Carlos und Sigmund. Erstens weiß das Publikum, dem de la Parras Laufbahn als Theaterautor vertraut ist, daß Lo crudo, lo cocido y lo podrido mit der Begründung verboten wurde, es sei beleidigend. Zweitens wird durch das Zitat einer Figur aus einem anderen Stück des Autors der fiktionale Charakter von Solo für Carlos und Sigmund betont, damit das Stück leichter die Zensur passieren kann. Allerdings macht sich de la Parra mit diesem intertextuellen Verweis auch über die Zensur lustig, indem er ihren Blick auf ein zuvor verbotenes Stück lenkt. Während er dem Publikum/Leser vertraulich zublinzelt, fordert er die Zensoren implizit heraus. Drittens suggeriert der Autor mit der Erwähnung von Evaristo Romero, daß jeder Mensch zum Unterdrücker werden kann. Diese Idee wird noch verstärkt, wenn es heißt, daß Sigmund und Carlos unter Romero als Lehrmeister zu foltern gelernt haben: CARLOS
Mich hat Romero angelernt...
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Laurietz Seda SIGMUND Was? Auch Sie? CARLOS Auch ich... SIGMUND Sagen Sie bloß, daß Sie auch... CARLOS A u c h das. SIGMUND U n d auch...?
Carlos Das auch. SIGMUND Das heißt, Sie waren auch mein Kollege... CARLOS Sind wir jetzt doch auch, oder? SIGMUND Und Sie haben auch mit der... Er macht eine Handbewegung, die den Gebrauch der „picana eléctrica" anzeigt. (125)
Die Wiederholung des Wortes „auch" erweckt den Eindruck, als würde nichts gesagt werden, dabei wird in Wirklichkeit alles mit Gesten gesagt, die ihren Höhepunkt in der Anspielung auf die „picana eléctrica" als Folterinstrument erreichen. Romero (der erwähnt wird, aber nicht auftritt), Sigmund und Carlos sind Beispiele für die „verkehrte Welt", in der der Gefolterte zum Folterer, der Uberwachte zum Überwacher wird. Dies unterstreicht die Idee, daß die Macht wegen ihrer Instabilität verletzlich ist. In dieser „verkehrten Welt" übernimmt die Bank als einziges Requisit eine wichtige Funktion mit vielfacher Bedeutung. Die Bank steht wie die Doppeldeutigkeiten und die Vervielfältigung der Personen nach dem Prinzip der russischen Puppe für die Vielfalt der Funktionen, die sie auf der Bühne übernehmen kann. Aus der Parkbank wird die Couch eines Psychoanalytikers oder eine Folterbank. Am Ende des Stücks eröffnet sich eine weitere Dimension dieser karnevalesken Welt, in der die Rollen vertauscht sind. Das Stück endet, wenn beide Personen verkünden, daß die Minister aus dem Gymnasium herauskommen und sie ihre Waffen auf sie richten, der eine einen kleinen Revolver und der andere eine Magnum oder große Parabellum. Statt jedoch auf die Minister zu zielen, die nie auf der Bühne erscheinen, richten sie ihre Waffen auf das Publikum. Dadurch wird laut Elsa M. Gilmore „dem Publikum im Stück ein fest definierter physischer Platz zugewiesen. Das Stück verweigert dem Zuschauer die passive Beobachterrolle und fordert von ihm eine eindeutige und unumgängliche Mitwirkung." (1994:14) Die Feststellung von Gilmore ist wichtig, wenn man bedenkt, daß de la Parra das Konzept des panoptischen Systems untergraben will, indem er es verletzlich macht. Er legt nahe, daß die Allmacht des Wächters sich nur äußert, weil die Bewacher auch überwacht werden. Die Annahme, daß das Theater wie eine Art panoptischen Systems funktioniert, wo sich die Schauspieler vom Publikum beobachtet fühlen und der Zuschauer die Rolle des Überwachers übernimmt, fügt dem Stück eine neue Di-
Wer überwacht die Überwacher?
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mension hinzu. Durch die letzte Handlung von Marx und Freud, die aufs Publikum zielen, wird die vierte Wand durchbrochen und dem Zuschauer bewußt gemacht, daß seine Macht zerbrechlich und vergänglich ist. Schließlich besteht der „perverse Akt" von Carlos und Sigmund nicht nur darin, daß sie auf die Minister anlegen, sondern daß sie dem Zuschauer die Unbeständigkeit seiner Macht als Überwacher vor Augen führen, denn auch er wird überwacht. Das Publikum, das gekommen ist, die Schauspieler zu „überwachen", bemerkt erst am Ende, daß seine privilegierte Situation labil ist. Der sexuelle Körper, der dem Publikum gezeigt und auf den während des gesamten Stückes angespielt worden ist, verwandelt sich in den politischen Körper, der die Macht des Bewachers erzeugt. Die Doppeldeutigkeit von sexuellem Körper/politischem Körper wird schon im Originaltitel, La secreta obscenidad de cada dia (wörtlich: Die geheime Obszönität des Alltags), des Stücks erkennbar, der zunächst einmal sexuelle Konnotationen hat. Ferner erinnert der spanische Titel auch an „die bekannten Verse des Vaterunsers und das ähnlich lautende ,pan nuestro de cada dia', unser tägliches Brot" (Gilmore 1994: 7) und verurteilt damit versteckt die tägliche Unmoral eines Überwachungsstaates, der sich von Zensur und Repression nähren muß, um überleben zu können. Zwar bezieht sich das Wort Obszönität auf die Verletzung des Schamgefühl, bedenkt man aber den politischen Inhalt des Stückes und die Doppeldeutigkeit von sexuellem Körper/politischem Körper, stellt sich die Frage: wessen Schamgefühl wird eigentlich verletzt? Das der Schulmädchen oder der Minister? Das der Politiker? Das des Publikums?6 Die geheime Obszönität bezieht sich nicht nur auf das Böse (Folter, Gewalt, Korruption, Verbote, Zensur und Tod), das die chilenische Gesellschaft jener Zeit peinigte, sondern auch auf die Erkenntnis, daß innerhalb dieser chilenischen Gesellschaft alles, sogar das Theater, die Schauspieler und Zuschauer, zu Vehikeln der Überwachung geworden sind und gleichzeitig nicht verhindern konnten, überwacht zu werden. Deutsch von Almuth Fricke
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Jacqueline Bixler berichtet, daß eine Kritikerin schrieb, wie „witzig es war, daß am Premierenabend der linksgerichtete Teil des Publikums erst Ovationen gab und dann plötzlich still wurde, woraufhin die Rechten zu applaudieren begannen. De la Parra hat eben vor niemandem Respekt." (1995: 304)
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Literatur Bixler, Jacqueline: „Kitsch and Corruption: Referential Degeneration in the Theatre of Marco Antonio de la Parra", in SIGLO XX/XXI CENTURY (1993), S. 11-29. : „From Indecency to Ideology: Sociosemiotic Subversion in Secret Obscenities", in The Theatre of Marco Antonio de la Parra, hrsg. von Charles Philip Thomas. New York 1995. Brooks, Peter: Reading for the Plot: Design and Intention in Narrative. New York 1984. De la Parra, Marco Antonio: La secreta obscenidad de cada día. Santiago de Chile 1988. : „Obscenamente (In)fiel o una personal crónica de mi prehistoria dramatúrgica", in La secreta obscenidad de cada día. Santiago de Chile 1988. Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Berlin 1976. : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Deutsch von Walther Seitter. Frankfurt/Main 1977. Gilmore, Elsa M.: „Contigüidad y ambigüidad en La secreta obscenidad de cada día", in LATR 2 8 , 1 (1994), S. 7-15.
Piña, Juan Andrés: „Pastiche y tragedia contemporánea en las obras de Marco Antonio de la Parra", in King Kong Palace/Dostoievski va a la playa. Santiago de Chile 1990. Seda, Laurietz: De Cortés al Mago de Oz: Estrategias posmodernas en el teatro latinoamericano actual (1980-1992). Dissertation 1989, University of Kansas. Laurietz Seda: (1960 in Puerto Rico). Studium an der Rutgers Universität. Promoviert 1989 an der Universität von Kansas; lehrt Lateinamerikanische Literatur an der Fakultät für Klassische und Moderne Sprachen an der Universität von Connecticut. Publikationen: Aufsätze zum Theater aus Puerto Rico, Kuba, Chile und Argentinien und über Aspekte des Theaters Lateinamerikas in USA.
Die Armen sind immer allein, so wie der Himmel, das Mitgefühl und die Hunde. Juan Radrigán
Pedro Bravo-Elizondo
Juan Radrigán, die Diktatur und sein Theater Auf einer meiner regelmäßigen Reisen ins Chile des Militärregimes im Jahr 1982 war das in Theaterkreisen meist besprochene Stück Hechos consumados eines gewissen Juan Radrigán, das im September 1981 uraufgeführt worden war. Ich sah es in dem Irmenhof eines Vereins, dessen Namen ich nicht erinnere. Der Großteil der Zuschauer waren junge Leute. Der Autor war anwesend und als ich ihn um ein Interview bat, schlug er vor, es bei ihm zu Hause in der Avenida La Paz zu führen. Das vorangestellte Zitat stammt von ihm.1 Der Mensch und der Autor Es ist ein Irrtum zu glauben, Juan Radrigán sei in der Literaturszene wie ein Pilz aus dem Boden geschossen. In der ersten Nummer der Zeitschrift QUILODRÁN, die von Luis Rivano geleitet wurde, veröffentlicht der Autor von La sangre y la esperanza 1960 seine Erzählung El nacimiento del miedo. Dort stößt man schon auf das Thema, das seine Dramatik durchdringen sollte: das Leben der einfachen Leute, der Olvidados, die Vergessenen von Buñuel, und der Kampf gegen die sowohl materielle wie auch geistige Armut der Menschen. Juan Radrigán Rojas wird am 23. Januar 1937 in Antofagasta geboren. Von seinem sechsten Lebensjahr an arbeitet er in wechselnden Berufen und Jobs, vom Sargmacher in La Vega (dem Markt), über Anstreicher, Schreiner, Klempner, Textilarbeiter bis zum Buchhändler. Seinem Band mit Erzählungen Los vencidos no creen en Dios (1962) folgen die Romane El vino de la cobardía, Queda estrictamente prohibido und La ronda de las manos ajenas (1968). Er wurde Dramatiker, weil er seinen Ideen Ausdruck verleihen wollte, Dichter ist er jedoch aus Leidenschaft. So wun1
„El dramaturgo de Los olvidados: Entrevista con Juan Radrigán", in LATR 17,1 (1983), S. 61-63. Ein interessantes und ausführliches Interview mit Radrigán führte auch Marina Pianca in Testimonios de Teatro Latinoamericano. Buenos Aires 1991, S. 183-196.
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dert es nicht, daß er 1975 den Gedichtband El dia de los muros veröffentlicht. Die Verpflichtung, zu jenem Chile Stellung beziehen zu müssen, durch das er 1973 arbeitslos wurde (er war damals Textilarbeiter), gibt den Anstoß für sein dramatisches Schaffen, das die reißende Kraft eines über die Ufer tretenden Flusses annehmen soll. 2 Erst kürzlich wurde in der Zeitschrift GESTOS das Stück El principe desolado3 abgedruckt, auf das ich später zurückkommen werde. Juan Radrigäns Drang zu Schreiben fand in jenem historischen Augenblick die richtige Nische. Als Theaterkünstler und -autoren nach dem Putsch zwischen dem Exil (es wird oft vergessen, daß Ecuador, Costa Rica, Honduras, Mexiko, Argentinien, Peru, Venezuela, Kanada, USA und Europa exilierte Theaterleute aus Chile aufnahmen) oder dem Bleiben - als Arbeitslose - wählen mußten, blieb Raum für Leute wie Radrigän und Luis Rivano, die in ihren Dramen über diejenigen schrieben, die in den Statistiken als Arbeitslose vorkommen. Für die hauptstädtischen Kritiker sind es die Armen, die Prostituierten und bestenfalls die gesellschaftlichen Außenseiter. In erster Linie Gustavo Meza und Tennyson Ferrada mit ihrer Gruppe IMAGEN haben den beiden Autoren Raum gewährt und ihre Stücke inszeniert, deren Protagonisten aus den oben beschriebenen Schichten stammen. Sie inszenierten Te llamabas Rosicler von Luis Rivano sowie eine Episode von Radrigän in dem Stück ¡¡¡Viva Somozalll (1980), das er gemeinsam mit Meza verfasst hat. Die existentiellen und kulturellen Erfahrungen, die Radrigän von klein auf prägten, ermöglichen ihm, seine Umwelt genau zu beobachten und Geschichten zu erzählen. Als absoluter Autodidakt ist er der Auffassung, daß er viel analytischer und demagogischer geworden wäre, hätte er eine reguläre Theaterausbildung durchlaufen. In dem, was er zu sagen hat, und zu Zeiten Pinochets gab es reichlich davon, meidet er die 2
Weitere Stücke von Radrigän sind: Testimonios de las muertes de Sabina (1979), ¡¡¡Viva Somozalll (1980), Redoble fúnebre para lobos y corderos (1981), Hechos consumados (1982), Las brutas (1983), El toro por las astas (1984), Informe para indiferentes, Las voces de la ira, El loco y la triste (alie 1985), Made in Chile, Pueblo de mal amor (1986), Los borrachos de la luna (1987), La contienda humana (1988), Balada de los condenados a soñar (1989), Piedra de escándalo (1990), Islas de porfiado amor (1993), El encuentramiento (Oper, 1995), Parábola de los fantasmas borrachos (1996). Veröffentlicht wurden: Cuestión de ubicación, Isabel desterrada en Isabel, Sin motivo aparente, El invitado, La felicidad de los García, El príncipe desolado. Unveröffentlicht sind: Volarán sueños esta noche, Muertito que andai penando, Crónica del amor furioso, Medea mapuche, La cantautora und Los profetas mudos.
3
Juan Radrigán: „El príncipe desolado", in GESTOS 13,26 (1998).
Juan Radrigán,
die Diktatur und sein
Theater
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Vereinfachung, denn das Pamphlet wirkt nur für den Augenblick, nicht darüber hinaus. Seine Theatererfahrung gründet in seiner Leseerfahrung; das ist ein recht weiter Begriff. In einem Interview in der schon erwähnten Ausgabe von GESTOS, antwortet er auf die Frage, warum er El prínicpe desolado geschrieben habe: Jedenfalls sind die einzigen möglichen Vorläufer, die ich in meiner langen Vergangenheit entdecken kann, meine gescheiterten Begegnungen mit den Philosophen mit „Theologen-Komplex", die in meiner Jugend gelesen wurden. Sie waren sich alle einig, daß das Böse aus der Freiheit des Menschen resultiert: Schelling, Kant, Fichte und vor allem Leibniz mit seiner pathetischen Teodicea. (1998:130)
Und hier glaube ich, behielt Radrigán noch ein As im Ärmel, denn er nannte nicht Papini und El Diablo, der in den 50er Jahren außerordentlich beliebt war, aber das ist ein anderes Thema. Hier offenbart sich eine weitere Realität, die ich für sehr chilenisch halte: nämlich die merkwürdige Auffassung, daß ein Arbeiter ohne höhere bzw. universitäre Bildung nicht über Werke sprechen darf, die dem Kanon der Weltliteratur zugerechnet werden. Warum erregen denn Schriftsteller wie Juan Radrigán und andere so viel Aufmerksamkeit, wenn sie in den privilegierten Kreis der Intellektuellen eintreten? Dazu folgende Bemerkung aus der schon zitierten Zeitschrift: Für mich sind allerdings zwei Dinge ganz klar: erstens werden wir die Welt trotz Bibel, Das Kapital, Don Quijote und all der Dichter nicht durch Schreiben in Ordnung bringen, und zweitens wäre diese Welt, die wir nicht ordnen können, ohne Kunst grau, stumm und leer. (131)
Der historische Kontext Hernán Vidal trifft mit seiner These den Nagel auf den Kopf, daß Radrigán seinen Diskurs nicht in den metaphysischen Höhenflügen eines ahistorischen menschlichen Essentialismus verankert, sondern in den konkreten Auswirkungen der jüngsten chilenischen Geschichte. (1984: 50) 4 Aber diese Behauptung verliert an Gültigkeit, wenn Radrigán sich in das ahistorische und metaphysische menschliche Wesen vertieft,
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María de la Luz Hurtado, Juan Andrés Piña, Hernán Vidal: Teatro de Juan Radrigán. Santiago de Chile 1984. Meine Kommentare zu den Stücken stammen aus dem genannten Text.
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wie wir es bei der Untersuchung von El principe desolado noch sehen werden. Die Würde der Armen, besonders während des Militärregimes, hält Radrigán für reiner und ursprünglicher, im Sinne von klar und primitiv. Und er fügt einen Gedanken hinzu, den sich die offizielle d.h. herrschende Kritik zunutze machte: „Sie haben nicht das Problem von mangelnder Verständigung oder dergleichen. Sie haben das Problem des HUNGERS." Beide Ideen zusammen genommen, die der Würde und die des Hungers, sind charakteristisch für das Umfeld Chiles jener Jahre. Nachdem der Schock und die Angst überwunden waren, die die Beisetzung von Pablo Neruda für die gesellschaftliche Mittel- und Unterschicht bedeutete,5 reagierte das Volk mit einem Theater, das ein unmittelbares Ergebnis der theaterpädagogischen Arbeit der sogenannten Amateurtheater in der ASOCIACIÓN NACIONAL DE TEATRO-AFICIONADOS DE CHILE (ANTACH) war, die unter Salvador Allende der Gewerkschaft CENTRAL U N I C A DE TRABAJADORES (CUT) angegliedert war. 6 Die zweite Waffe des Protests war der Gesang der Liedermacher, hinzukam noch die Poesie. Juan Radrigán war ein eifriger Teilnehmer und Gast bei diesen Veranstaltungen, die ab 1976 wieder neuen Auftrieb bekamen. Seine Stücke wurden bevorzugt bei Gewerkschaften, in Stadtteilen, Schulen und ganz generell an Orten gespielt, die immer schon abseits der Spielstätten der professionellen Theater des Zentrums lagen. (Andrade, Fuentes 1994: 63) Auch wenn an diesen Orten Gesprächsrunden und Diskussionen stattfanden, so ging die Sympathie und Identifikation des Autors mit den Bewohnern dieser Elendsviertel doch nie soweit, daß er ihre Ideen in seinen Dramen übernommen hätte. Das Publikum äußert Meinungen, reagiert und ist nicht schockiert vom Thema bzw. der Sache, denn die Wirklichkeit übersteigt ihre persönlichen Existenznöte. Bei einer philosophischen Betrachtung des Theaterdiskurses, die seinen Kontext berücksichtigen muß, um die wechselseitige Beziehung von Ideologie und Theatertext ausmachen zu können, scheint die Behauptung nicht zu gewagt, daß Radrigán uns Chile aus einem ganz anderen Blickwinkel zeigt. Diese Haltung bedeutet aber nicht, daß seine 5
Vgl. Juan González: „El entierro de N e r u d a " , in Literatura Chilena en el Exilio 4 (1977), S. 31-32. Eine andere Sicht v o m Mitlitärputsch findet man in dem Bericht von Carlos Orellana: ¿Que hacía yo el 11 de septiembre de 1973? Santiago de Chile 1997, S. 179-192.
6
Pedro Bravo-Elizondo: „Reseña Actual del Teatro en Chile", in Literatura Chilena en el Exilio 4 (1977), S. 14-15. Vgl. zu dem Thema Diego Muñoz, Carlos Ochsenius, J.L. Olivari, Hernán Vidal (Hrsg): Poética de la población marginal. El teatro poblacional chileno: 1978-1985. Antología crítica. Minneapolis 1987.
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Botschaft, deren Inhalt und seine Weltsicht nicht auch andere gesellschaftliche Schichten der chilenischen Nation erreichen. Der Beweis war die überschwengliche Rezeption seiner Stücke in den Theaterkreisen im Zentrum von Santiago. Testimonios sobre las muertes de Sabina Zwei Personen und ein sparsames Bühnenbild sind die Welt von Radrigäns erstem Stück. Rafael und Sabina sind ein altes, aber rüstiges Ehepaar, Besitzer eines Obststandes, an dem sie seit mehr als 30 Jahren arbeiten. Der Ton des Dialoges ist von Anfang an festgelegt. Sie reden ohne Zorn über ihre Schwierigkeiten mit dem herrschenden bürokratischen System und über das, was sie in ihrem bescheidenen Leben erreicht und geschafft haben. Das Gespräch dreht sich um ihre beiden Kinder und um Anspielungen auf El Turnio, Sabinas Liebhaber in Jugendzeiten. Rafaels Optimismus (oder Zynismus) steht im Gegensatz zu Sabinas Unzufriedenheit mit dem Leben, das sie geführt haben. Radrigän balanciert den Dialog aus, fügt Witze und Anspielungen ein, so daß sich das Publikum aufgrund der eigenen Erfahrung damit identifizieren kann. SABINA
ohne ihn zu beachten Ich hab geträumt, er kommt mich besuchen.
Dasser dich besucht? Herrje, schon wieder so 'ne komische Geschichte. Du tus nix andres als die ganze Zeit nur Bockmist träumen. Einmal laufense hinter dir her, und du kanns nich rennen, dann fällse in 'en Loch und komms nich unten an. Warum träumste lieber nich ma, daste auf der Rennbahn gewonnen has. Träumma was Schönes. Ich wette, jetzt haste schon wieder irgendwas Komisches geträumt. SABINA Nee, nix Komisches; ich hab geträumt, ich bin mir selbst erschienen. RAFAEL Siehste? Was hab ich dir gesagt? So wie alste geträumt has, daste träums. (78) RAFAEL
Zu Sabinas Frustration, weil sie am Ende ihres Lebens merkt, daß sie niemals ein erfülltes Leben gehabt hat, stets war es nur um das reine Überleben gegangen, verschärft noch durch die latente Bedrohung des Systems, kommt ein unbegründetes Schuldgefühl hinzu, das sich am Ende jedes Aktes zeigt und immer stärker wird: I: Von weitem hört man Schritte von jemandem, der näherkommt; II: Man hört Schritte, die näherkommen, jetzt von zwei oder drei Personen-, III: Man hört Schritte, die schwer und bedrohlich näherkommen.
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Die Protagonisten bringen mit Worten zum Ausdruck, was die Szenenanweisungen unterstreichen: SABINA ES is schon ein Monat her, ein Monat, wo wir nich ruhig schlafen können... RAFAEL düster Das is das schlimmste, es is keiner da, gegen den man kämpfen kann; wir wissen nich, von wo se uns die Luft abdrücken, wissen nich mal, was wir gemacht hab'n... (82)
In diesem Zusammenhang auf Kafka zu verweisen, wäre banal. Es ist das historische Chile, das die verschiedenen Tode Sabinas zuläßt. Sie hat nichts, an dem sie sich festhalten könnte, außer ihrer Traumwelt, ihrer Sehnsüchte. Radrigáns Gedankengang ist offensichtlich. Das schlimmste an der Theaterarbeit unter der Diktatur war die Schönfärberei des Leidens.7 Im Programmheft zu Hechos consumados schreibt Radrigán, wenn er in seinen Stücken eine Welt in Trümmern zeige, dann nur, weil von dort aus mit dem Wiederaufbau begonnen werden müsse. Cuestión de ubicación Cuestión de ubicación ist die dritte Episode in dem Stück ¡¡¡Viva Somozall!, das Radrigán in Zusammenarbeit mit Gustavo Meza geschrieben hat. Ich hatte Gelegenheit, es im Theatersaal der UNIVERSIDAD TÉCNICA DEL ESTADO Z U sehen. Das Stück bekam in Theaterkreisen nicht die gleiche Resonanz wie seine anderen Arbeiten. Meiner Ansicht nach ist es jedoch aufschlußreich dafür, wie ernsthaft sich der Autor der Welt der „Ausgegrenzten", wie es Radrigán selbst nennt, annimmt. Hauptpersonen sind Domitila und Emeterio, die Eltern von Elizabeth und Cristián. Alle leben in einem Bretterverschlag mit gestampfter Erde als Boden. Das Mobiliar beschränkt sich auf eine Pritsche, ein Etagenbett, einen wackeligen Tisch, eine Kommode und ein paar Stühle. Elizabeth ist eine kränkliche junge Frau und ihr Bruder glaubt, sie leide an Anämie oder Tuberkulose. Sie sagt: ELIZABETH Keinen Schimmer; der Olle von der Versicherung meint, ich bin unterernährt, aber Mama hat gesagt, daß wir, wenn die Glotze fertig bezahlt is, zu 'nem echt guten Doktor gehn... Scheiße, aber jetzt hamse wieder von vorn angefangen...
7
Vgl. Elba Andrade, Walter Fuentes (Hrsg.): Teatro y dictadura en Chile. Antología crítica. Santiago de Chile 1994.
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CRISTIAN Die brauchten eben 'nen Farbfernseher: die Schwarz-Weiß-Kisten sind doch total out. (103)
Hier liegt der Kern des Problems: die Öffnung für eine ungebremste Importpolitik, die von der School of Chicago und der Theorie des freien Marktes ausgelöst wurde, erreicht die untersten Bevölkerungsschichten. Die Eltern kommen mit einem Farbfernseher nach Hause, stoßen jedoch auf ein schier unlösbares Problem, wohin damit? Auf den Tisch (er wakkelt), aufs Bett (in dem muß Elizabeth liegen), auf die Kommode (sie ist zu schmal), auf zwei nebeneinander geschobene Stühle (die Stuhlbeine sind nicht in Ordnung). In dem ganzen Aufruhr wird Elizabeth völlig vergessen. Sie umschreibt ihren Zustand mit einem schönen Satz: „Es is so, als ob ich falle, aber innerlich. Ich will nich schlafen... Will nich fallen." (117) Die Eltern tun alles, um den neuen Farbfernseher, made in Hongkong!, an einem auffälligen Ort zu plazieren und damit den Neid der Nachbarn zu erregen. Sie haben laut Emeterio ein Standortproblem, das metaphorisch für ihre gesellschaftliche und politische Situation ist. Elizabeths Freund Genaro wird von ihnen nicht akzeptiert, weil er nur Verlader ist und nach Ansicht des Vaters ein Extremist. Es ist bemerkenswert, wie Elizabeth ihn verteidigt: „Aber der hat doch noch nie 'ne Kirche betreten!" Dies wird verständlich, wenn man sich an die entscheidende Rolle erinnert, die die Kirche unter der Diktatur bei der Verteidigung der Menschenrechte gespielt hat. Emeterio hält voller Stolz auf sein Wissen eine hochtrabende Rede, die genau die Beobachtung Radrigáns widerspiegelt, daß die Leute sich geändert, sich „etabliert" haben. EMETERIO ZU Domitila Nein, lasse doch diskutiern, um Zweifel aus der Welt zu räumen, is so 'ne Unterhaltung schonma gut, damit einem hinterher nich das eigene Wort im Mund verdreht wird: is mir egal, ob dieser Genaro Verlader is, meine Kleine, aber der is nich da, wo er hingehört, der weiß nich, wohin er im historischen Kontest gehört, der is doch innerlich pervertiert. (109)
Als Cristián und Elizabeth den letzten Satz nicht kapieren, hilft Domitila ihrem Mann aus der Verlegenheit: „Die gegen die Regierung sind, mah, das hat dein Vater doch deutlich gesagt." (109) ,Innerlich pervertiert' war der Lieblingssatz des Regimes, um die politischen und gesellschaftlichen Anliegen ihrer Gegner zu klassifizieren. Elizabeth stirbt, während die Eltern und Cristián jubelnd die Neuigkeit vom angeblichen Triumph Somozas in Esteli, Nicaragua, hören. Cuestión de ubicación ist das bewegendste von Radrigáns Stücken, denn
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Pedro
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es zeichnet sehr lebendig die Entfremdung durch die Konsumgesellschaft in einem immer noch in Entwicklung befindlichen Land. Das Phänomen der Entfremdung wurde auch von der Theatergruppe ICTUS
sehr treffend in der Theateradaptation einer Erzählungen von Marco Antonio de la Parra, Darío Osses und Jorge Guajardo in Lindo país esquina con vista al mar (1980) dargestellt. Weiterhin zeigt uns Radrigán das Aufsteigertum, das nicht nur für die chilenische Mittelklasse typisch ist. Die Vornamen der Eltern, die sehr volkstümlich sind, stehen im Gegensatz zu den middle-class-Namen ihrer Kinder, Elizabeth und Christian. Die Paare, die Radrigán in Testimonios de las muertes de Sabina und Cuestión de ubicación wählt, stehen für eine Schicht der gespaltenen, verfeindeten Nation, zu der das Land wurde, nachdem es sein Glück vergeblich auf dem friedlichen Weg des Sozialismus gesucht hatte. Jahre später sollte Radrigán folgende Einschätzung zum Chile des Militärregimes abgeben: Vor 1973 hat es in unserem Land andere furchtbare Ereignisse gegeben, aber keines erschütterte so sehr unsere Fundamente wie dieses. [...] Friedliche Nachbarn zeigten, daß sie zu schrecklichen Folterern werden konnten, unscheinbare Bürger wurden zu unbarmherzigen Mördern und viele, sehr viele Menschen machten bei diesem Geschäft aus Angst und Schmerz mit, alles Leute, die man kannte und die zu Unbekannten, zu erklärten oder möglichen Feinden wurden. (Andrade, Fuentes 93)
Hechos
consumados
Mit Hechos consumados8 entstand das sogenannte „Radrigän-Phänomen" oder das, was Grínor Rojo als die große Entdeckung des chilenischen Theaters zwischen 1979 und 1982 bezeichnet hat. 9 Radrigán steht in der Nachfolge des chilenischen Theaters der Armen, - des Theaters von Acevedo Hernández, Elizaldo Rojas, Isidora Aguirre und Victor Torres (ich würde noch Luis Emilio Recabarren und Rufino Rozas vom Anfang des Jahrhunderts hinzufügen) er meidet jedoch den Naturalismus von Ace-
8
„Vollendete Tatsachen". Deutsch von Gerd-Rainer Prothmanri. Frankfurt/Main 1988. Ferner übersetzt sind: Grabenkämpfe (La contienda humana). Deutsch von Heidrun Adler. Frankfurt/Main 1988. Deutsche Erstaufführung an den Städtischen Bühnen Dortmund 2. 7. 1988. Sowie „Verrückt und traurig" („El loco y la triste"). Deutsch von Ulrich Kunzmann, in Theaterstücke aus Chile, hrsg. von Heidrun Adler, María de la Luz Hurtado. Frankfurt/Main 2000, S. 49-106.
9
Vgl. Muerte y resurrección del teatro chileno, 1973-1983. Madrid 1986.
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vedo und Rojas, die Brechtsche Ästhetik von Aguirre und die stark soziologische Ausrichtung von Torres, während er, andererseits, eine offensichtliche Verwandtschaft zu Beckett hat, - besonders in der Zeichnung der Figuren als Außenseiter, arme Schlucker und Typen, die schon bessere Zeiten erlebt haben. Wir finden keinen zweiten Dramatiker, der es wie Radrigán versteht, die Grenzsituation auf die Bühne zu bringen, in die ein immer höherer Prozentsatz der chilenischen Arbeiter gedrängt wird. (1986:129)
Aus zwei Gründen erscheint mir das Zitat interessant: der einzige Theaterautor, den die chilenischen Kritiker jener Zeit immer wieder zitieren, ist Antonio Acevedo Hernández, der „proletarische Schriftsteller". Und es wundert nicht, daß die, von denen er so genannt wird, die Repräsentanten des herrschenden Diskurses sind. Der zweite Grund ist die Bezeichnung „Theater der armen Leute", das mehrfach von den Kritikern aus Santiago, der Gebildeten Stadt, wie sie Angel Rama einmal bezeichnet hat, als Pamphlet-Theater abgetan wurde, besonders wenn sie sich auf das Arbeitertheater der Jahrhundertwende aus den Wüsten Nordchiles bezogen. In dem Einakter Hechos consumados mit vier Hauptpersonen, Marta, Emilio, Miguel und Aurelio, den man im chilenischen Slang den loco de los tarros, den Verrückten mit den Blechdosen, nennen würde, spielt die Handlung „an einem öden Ort jenseits der Stadtgrenze. Steine, Unkraut, einige Papierfetzen, etc." (275) Emilio hat Marta aus dem Kanalwasser gerettet, in das sie vermutlich geworfen wurde, als man entdeckte, daß sie zuviel gesehen hatte und wußte. Von dem öden Ort aus beobachten sie eine Menschenmenge, die in eine bestimmte Richtung läuft. Das Leitmotiv wird sich im Verlauf der dramatischen Handlung wiederholen: das Auftauchen von Aurelio, der aus der Nacht hervorkommt und dadurch zu einem übernatürlichen Wesen wird, außerhalb der harten Wirklichkeit von Emilio und Marta. Betrachten wir diesen für Radrigán so bezeichnenden poetischen Ausdruck: Die Lumpen, die er trägt, sind nicht zu beschreiben; in Wirklichkeit sind es gar keine Lumpen, denn es besteht ein feiner Unterschied zwischen dem, was die Zeit abnutzt und was die Berührung und der tägliche Gebrauch verschleißt: seine Kleidung ist von der Zeit abgenutzt. Trauben von leeren Büchsen, hängen an dem Körper. (280)
Aurelio ist Träger einer Energie und Kraft, die sich aus dieser ewigen Zeit speisen, die er verkörpert. Er sagt:
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Der Wind der Ungerechtigkeit erklingt wieder... Bis wann noch? Warum? Pause Er klingt und klingt... Wonach sucht er jetzt? Bis wann noch? Pause Wo ist das Brot und der Weizen? Was ist aus der kosmischen Freude geworden, ein Kind zu haben? War der Schweiß umsonst, den wir vergossen haben? [...] An seinem
Körper scheppert wie zufällig eine Blechdose. Er steht reglos, lauscht, sein Ausdruck verändert sich, wird fröhlich. Er läßt die Büchsen lärmen. Er k o m m t in Weiß und lä-
chelt: der Tod kommt lächelnd! Natürlich, denn was fällt, wird gereinigt wiedergeboren! ... Oh Gott, endlich hast du dich entschlossen, den Menschen hochzuhalten! (282)
Der letzte Satz faßt den Inhalt und die Botschaft des Stückes zusammen: Es geht um die Würde des Menschen. Sie ist der Beweggrund für den unermüdlichen Marsch der Menge und Grund für Emilios Tod. In seinem Schlußsatz, mit dem er sich an Miguel, den Wächter richtet, schwingt eine tiefe Gewißheit mit: Aber verstehen Sie mich recht: schon so viele Male wurde ich gezwungen, zwei Schritte zu tun. Viele Male mußte ich Ja sagen, wenn ich Nein meinte; schon so viele Male mußte ich wählen, ein Nichts zu sein. (315)
In diesem Stück sieht man deutlich, was Radrigán mit „friedliche Nachbarn zeigten, daß sie zu schrecklichen Folterern werden konnten", meinte. Es ist das düstere Erbe des Pinochetismus. Ich habe einmal die Behauptung aufgestellt, daß in der chilenischen Dramatik Radrigán für die Armen das ist, was Egon Wolff, Sergio Vodanovic und Fernando Cuadra für die Bourgeoisie und Mittelklasse sind. Sie sind alle ihrer Klasse treu und diese Treue ermöglicht ihnen, Höhen und Tiefen dieser Existenzen darzustellen. Ein interessanter Punkt in Radrigáns Dramatik ist der Gebrauch einer hintergründigen Sprache. Selbst in dramatischen Situationen gibt es Zweideutigkeiten, Maskerade, Spott und Hinterlist. Sabina sagt zu Rafael: „Es is wie wenn die Ziegenböcke sich verlieben, man muß abwarten, nix weiter als abwarten, dann is man wieder allein" und Rafael antwortet: „Häh, wieso'en allein? Und ich, mich hamse wohl an die Wand gemalt?" Wenn sie ihn fragt, ob er den Herd repariert habe, antwortet er: „Na logisch. Nich von ungefähr hab ich 'en Diplom als Paraffin-OfenSpezialist." In Cuestión de ubicación meint Elizabeth, als ihr Bruder sie los schickt, um Renato zu Hilfe zu holen: „Mensch, verzieh dich, der geht ganz scharf ran, erst wird man angetatscht und dann fragt er, waste eigentlich willst." In Hechos consumados sagt Emilio, wenn Marta behauptet, sie interessiere nur das Leben: „Und warum wollste dich dann umbringen? Weilste so zufrieden warst, daß das neue Auto da war?" Marta
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Juan Radrigän, die Diktatur und sein Theater
will wissen: „Schon gut, sag mir wo wir sind." Emilio antwortet: „Wode willst, auf 'em Weg. Aber nich in 'er Mitte, am Rand." Dies ist schon per se sarkastisch, gleichzeitig aber die Realität ihres Daseins. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt in den Stücken ist die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Er oder Sie, eines Chefs, der bedrohlichen Schritte. Catherine Boyle bezeichnet dies als „the ubiquitous ,Er." 1 0 Radrigän explores this world as it relates to a perpetual spiral of deprivation and worsening social conditions, and in terms of the nature of human relationships in such poverty. [...] Why does this happen? Who is to blame? Can they blame anyone apart from an impersonal being they can only refer to as „El" and who, in his most extreme expression, may be God? (1992:139)
So unterbricht Emilio Marta, als sie sagt: „Herrje, Gott sollte..." und sagt: „Häng's nich Gott an. Nich Er verteilt die Dinge, hat sie höchstens gemacht; verteilen tun andere." (286) Auf die Frage von José Miguel Varas „Was würdest du sagen, ist der grundlegende Inhalt dieser Stücke?"11 gab der Autor eine eindeutige Antwort: Im Grunde sollen alle meine Stücke die menschliche Würde betonen. Angesichts dessen, was uns widerfahren ist, angesichts dieses Regimes. Das heißt nicht, daß wir keine Würde haben. Aber die Gewalt dieser Macht hat uns alle niedergedrückt, und wir haben einiges verloren. Ja, wir haben ein wenig unsere Würde verloren. (1985:157)
Es ist offensichtlich, daß der Unnennbare in den Stücken nicht Gott, sondern ein Lehrling Gottes oder eines Hexers ist, den man in jenem Augenblick nicht direkt und explizit erwähnen durfte. Daher rühren das Schweigen, die Symbole, das stillschweigende Einverständnis und die Komplizenschaft mit den Zuschauern. 1984 wird in Santiago Las voces de la ira uraufgeführt, das laut Radrigän in demselben Interview ein Mißerfolg war, weil es „zu direkt war. Denn es geht um einen Diktator, seine Gegner, die Toten. Es ist mein einziges Stück, das weder in der Presse noch vom Radio besprochen wurde." (158) Furcht und Angst waren ungebrochen. Man könnte auch über das Stück sagen „und nach dem Ge-
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Chilean Theater, 1973-1985.
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„Juan Radrigan. Teatro de la dignidad y de la marginalidad", in CHILE 31 (Madrid 1985), S. 153-163.
Marginality, Power, Selfhood. London, Toronto 1992. ARAUCARIA
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schehen, hat's niemand gesehen, hat's niemand gesehen" - wie in den Versen von Carlos Pezoa Veliz. Zum Schluß möchte ich das letzte Stück, das ich von Radrigán kenne, untersuchen und daran eine gewisse Konstante bzw. ein fundamentales Anliegen des Autors aufzeigen. Milan Kundera hat behauptet, jedes literarische Schaffen ließe sich in einem Wort zusammenfassen: Würde durch Armut, Marginalität? El príncipe desolado12 „Luzbel und seine sterbende Frau im Dunkeln, eisiges, trostloses Ödland". Vor diesem Hintergrund beginnt das Stück, das sich wiederum mit dem Thema der Marginalität beschäftigt, diesmal jedoch aus der Perspektive „einer irrealen, imaginären Welt", was man in der Literatur als Konstrukt bezeichnet. Und die Hauptfigur ist der Verachtete, Beraubte, Verfolgte: Luzbel. Der Unsterbliche, der voller Tod ist, die tragische Gestalt per se: der Ausgegrenzte." (Radrigán 1998: 130) Luzbel versucht verzweifelt das Leben seiner Frau Lilith zu retten. Der Garten Eden ist die Lösung. Die Liebe zu ihr ist stärker als die ihm für seinen Ungehorsam auferlegte Strafe, daß er nicht zurück darf. Lilith versucht, ihn davon abzubringen, denn das Paradies ist „jetzt ein Ort der Bedrohung für uns" (134), zudem hat ihr alter Körper keine Kraft mehr. „Wie fürchterlich wurdest du bestraft, als man dich unsterblich werden ließ, jede Liebe, jede Zweisamkeit wird für dich immer flüchtig sein" (135), sagt Lilith. Die schon erwähnten Anklänge an Giovanni Papini im Stück werden von ferne erkennbar. Was für ein Gott ist dieser Gott, ein Gott der Liebe, der seinem Lieblingssohn, weil er ungehorsam war, für immer und ewig die Vergebung verweigert? Luzbel antwortet Yalad, einem seiner Söhne: Sei still, du hast keine Ahnung von den Genüssen des Lebens, du verabscheust deinen Vater, verurteilst deine eigene Mutter zum Tode, und all dies tust du im
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Juan Radrigän: „El principe desolado", in GESTOS 13, 26 (1998). Im Dezember kündigte mir Juan Radrigän in einem Brief an: „Wir inszenieren gerade Los profetas mudos. Leider glaube ich, daß es in Chile nicht möglich sein wird, das Stück, das ich dir geschickt habe - El principe desolado -, zur Aufführung zu bringen. Es heißt, es sei gegen die Kirche, gegen das Militär, gegen das Gute, gegen allzu viele Dinge. Deshalb lies es wenigstens. Danach verschwindet es wieder in der Versenkung. Oder ist es dort geblieben dank unseres höchsten Gottes der Waffen, unseres Oberbefehlshabers, des Unnennbaren?"
Juan Radrigán, die Diktatur und sein Theater
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Namen des Guten! Was soll das für eine Lehre sein, die das Entsetzliche in Wohltätiges verwandelt? (138)
Die Worte eines anderen seiner Söhne, Selem, ermöglichen uns das Stück mit Blick auf die Ereignisse von 1973 zu lesen, was einfach zu entschlüsseln ist, da der Autor wie immer über Ausgrenzung redet: Es gab kein Massaker, wegen deines einfältigen und tragischen Stolzes hast du dich in gewundenen Labyrinthen verloren; Kraft bedurfte es, um dich und die, die du vergiftet hast, fern zu halten, damit der Weg zur finalen Ordnung und zum Guten sauber und rein bleibt! (139)
Die sprachliche Ebene, die formale Struktur als Tragödie mit Verwendung von Chören - der Toten Edens und seiner Belagerer - die philosophischen Überlegungen, die Wahl der Figuren, der analytische Blick auf die Vergangenheit bedeuten eine Wende im Schreiben von Juan Radrigän, der Autor derer, die keine Stimme haben, der Armen, der Slumbewohner, der Verfolgten in Zeiten, in denen es mehr als je zuvor eines Schimmers von Hoffnung und Gerechtigkeit bedurfte. Ich bleibe jedoch bei meiner Behauptung, daß das Thema der Würde, das am Anfang seines literarischen Schaffens stand, weiterhin Gültigkeit hat.13 Und was macht der Autor in diesem Chile einer fast institutionellen Demokratie? In neusten Pressemeldungen liest man über eine Dramatiker-Werkstatt für Schauspieler, die Juan Radrigän leitet. Er ist überzeugt, daß es in Chile „an Theaterautoren mangelt und es nur sehr wenige gibt, die mit Kontinuität arbeiten. [...] Im Workshop überwiegen Texte, die Einsamkeit und Verlassenheit ausdrücken." 14 Betont werden muß, daß der Mensch und Autor Radrigän seinen Idealen treu geblieben ist, in einer Gesellschaft, in der die sogenannte „Krise der Ideologien" der Mehrheit als Entschuldigung dient, keine entschiedene Position gegen ein Land zu beziehen, in dem Worte wie Solidarität, Verständigung und Engagement einer fernen Vergangenheit angehören. Doch die geschlossenen Tore des Verständnis und der Verständigung werden sich ir13
Davon möchte ich andere Dramatiker jener Zeit nicht ausschließen, wie David Benavente und ICTUS mit Pedro, Juan y Diego (1976), Raúl Osorio und Mauricio Pesutic und TALLER DE INVESTIGACIÓN TEATRAL (TIT) mit Los Payasos de la Esperanza (1977), Sergio Vodanovic und ICTUSmit ¿Cuántos años tiene un día?, Benavente und der TIT mit Tres Marías y una Rosa (1979), um nur einige zu nennen. Zu dem gleichen Zeitabschnitt vgl. Hurtado, Ochsenius, Vidal 1982.
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La Tercera. Sección Cultura (Noviembre 21,1998).
Pedro Bravo-Elizondo
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gendwann öffnen müssen. Radrigän verfolgt dieses Ziel mit seinen Werken und seiner pädagogischen Arbeit. Deutsch von Almuth Fricke
Literatur Andrade, Elba; Fuentes, Walter (Hrsg.): Teatro y dictadura en Chile. Antología crítica. Santiago de Chile 1994. Bravo-Elizondo, Pedro: „Reseña actual del Teatro en Chile", in Literatura Chilena en el Exilio 4 (1977); S. 14-15. : „El dramaturgo de Los olvidados: Entrevista con Juan Radrigán", in LATR 117, 1 (1983), S. 61-63. Boyle, Catherine: Chilean Theater, 1973-1985. Marginality, Power, Selfliood. London, Toronto 1992. González, Juan: „El entierro de Neruda", in Literatura Chilena en el Exilio 4 (1977), S. 31-32. Hurtado, María de la Luz; Ochsenius, Carlos; Vidal, Hernán (Hrsg.): Teatro Chileno de la Crisis Institucional: 1973-1980. Antología Crítica. Minneapolis 1982. — ; Piña, Juan Andrés; Vidal, Hernán: Teatro de Juan Radrigán. Santiago de Chile 1984. Muñoz, Diego; Ochsenius, Carlos; Olivari, J.L.; Vidal, Hernán (Hrsg.): Poética de la población marginal. El teatro poblacional chileno: 1978-1985. Antología Crítica. Minneapolis 1987. Orellana, Carlos: ¿Qué hacía yo el 11 de septiembre de 1973? Santiago de Chile 1997, S. 179-182. Pianca, Marina: „Entrevista con Juan Radrigán", in Testimonios de Teatro Latinoamericano. Buenos Aires 1991, S. 183-196. Rojo, Grinor: Muerte y resurrección del teatro chileno, 1973-1983. Madrid 1986. Varas, Miguel: „Juan Radrigán. Teatro de dignidad y de la marginalidad", in ARAUCARIA DE CHILE 31 (1985), S. 153-163. Publizierte wie nicht publizierte Stücke von Juan Radrigán werden in der Bibliographie am Ende dieses Bandes aufgeführt. Pedro Bravo-Elizondo: Promotion an der Universität von Iowa, lehrt Lateinamerikanische Literatur an der Universität von Wichita. Mitglied des Beirats der LATIN AMERICAN
THEATRE
REVIEW.
Publikationen: Teatro hispanoamericano de crítica social. Madrid 1975; Teatro documental latinoamericano. Antología. México 1982; La dramaturgia de Egon Wolff. Santiago 1985; Teatro y cultura obreros en Chile 1900-1930. Madrid 1986; zahlreiche Aufsätze zum lateinamerikanischen Theater.
Oscar Lepeley
Das chilenische Protesttheater in den ersten Jahren der Militärdiktatur Das Wesen der dramatischen Gattung, daß nämlich der Text über die Aufführung beim Publikum greift, hat vermutlich bewirkt, daß die chilenischen Militärbehörden Schwierigkeiten hatten, Zensur auf das Theater auszuüben. Dies war entscheidend für die Entwicklung des dramatischen Schaffens nach dem Putsch. Da die Behörden dies anfangs offensichtlich nicht bedacht hatten, konnten sie später nicht mehr durchsetzen, daß dramatische Texte vor der Aufführung zur Zensur vorgelegt werden müssen. Was zunächst eine Nachlässigkeit war, konnte später nicht mehr rückgängig gemacht werden. Man könnte auch sagen, daß die Behörden zu stark darauf vertrauten, daß die Mechanismen der Selbstzensur reibungslos funktionierten und die Theaterleute „vernünftig" genug wären, die Staatsmacht nicht mit etwas „Unangemessenem" zu überraschen. In der durch Angst und Schrecken vergifteten Atmosphäre der Repression gab es Gründe genug für diese Annahme. Man konnte nicht davon ausgehen, daß sich Dissidenten in einem öffentlichen Saal mehr oder minder frei, mit lauter Stimme und vor vielen Menschen äußern würden. Man wußte doch, daß die Polizei und Agenten jeder Zeit in diesen Räumen auftauchen und Schauspieler und Zuschauer festnehmen konnten. Die Diktatur hatte Intellektuellen und Künstlern deutliche Signale gesetzt, um sie unter Kontrolle zu halten. Schwarze Listen wurden in Umlauf gebracht, die es einer großen Anzahl von Schauspielern und Theaterkünstlern untersagten, in den Medien zu arbeiten. Schon im Dezember 1973 stellte die Gewerkschaft der Theater-, Radio- und Fernsehschauspieler SIDARTE fest, daß 9 0 % der chilenischen Schauspieler kein Engagement hatten und 2 5 % ins Ausland gegangen war. (LAS ULTIMAS NOTICIAS vom 2 7 . Dezember 1 9 7 3 ) . Viele von ihnen waren verhaftet: Pancho Morales, Marcelo Romo, Coca Rudolphy, Iván San Martín, Hugo Medina sind einige, an die sich Alejandro Sieveking erinnert. (Sieveking 1 9 8 0 : 1 0 6 ) Héctor Lillo, der offizielle Präsident von SIDARTE erklärte 1 9 7 5 , „96% der chilenischen Schauspieler sind ohne Arbeit". (Bravo Elizondo 1977: 15) Sieveking beschuldigt Lillo, seine Kollegen an die Militärbehörden verraten zu haben, und weist damit auf einen weiteren Aspekt der Unsicherheit hin, in der die Theaterkünstler lebten. Sieveking, Theaterautor und Mitglied des TEATRO DEL ANGEL, beschreibt, wie sein Thea-
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ter zweimal durchsucht wurde, obwohl ein so harmloses Stück wie Gespenster von Ibsen gespielt wurde. Beim ersten Mal, sagt er, wurde Marcia Maiocco verhaftet, beim zweiten kamen sie lediglich, „um das Stück zu sehen." (Sieveking 1980:106) Die Universitätstheater und Theaterakademien unterlagen drastischen Umstrukturierungen. Die Theaterfakultät der UNIVERSIDAD DE CHILE wurde für sechs Monate geschlossen, was mit dem Ausschluß der Mehrzahl der Wissenschaftler, Schauspieler und Studenten einherging. 1 9 7 6 wurde sie in TEATRO NACIONAL CHILENO umbenannt. In der UNIVERSIDAD CATÓLICA wurde 1 9 7 6 die ESCUELA DE ARTES DE LA COMUNICACIÓN geschlossen und die Einschreibung in der Theaterschule, die später durch die ESCUELA DE TEATRO, CINE Y TELEVISIÓN ersetzt wurde, auf Eis gelegt. Das Theater der UNIVERSIDAD DE CONCEPCIÓN wurde ebenfalls 1976 geschlossen. Das gleiche Schicksal ereilte das Theater der UNIVERSIDAD TÉCNICA DEL ESTADO, TEKNOS.
Theaterleute verschwanden oder wurden umgebracht; unter ihnen Juan McLeod, Schauspieler der Theatergruppe EL ALEPH; Víctor Jara, Schauspieler, Regisseur und Sänger; Sergio Leiva, Lehrer und Schauspieler; Ana Maria Puga, Schauspielerin des TEATRO DEL NUEVO EXTREMO; Alberto Ríos, Lehrer an der Theaterschule der UNIVERSIDAD DE CHILE. (Rojo 1985: 31) Der Fall von EL ALEPH
Die Theatergruppe, die den ersten Versuch eines kritischen Theaters unternommen hatte, mußte unter ungewöhnlich starken Repressionen leiden. E L ALEPH plante nach Aussagen ihres Leiters Oscar Castro im März 1974 die Aufführung eines anspruchsvollen Stückes des kritischen und unbequemen Theaters, dem die Gruppe ihre Arbeit gewidmet hat. Es sollte auch eine Antwort auf das oberflächliche Vaudeville-Theater sein, das sich nach dem Staatsstreich durchgesetzt hatte. Sie erarbeiteten ein Stück mit Texten aus der Bibel, dem Quijote und Der kleine Prinz. Im Oktober desselben Jahres wurde das Stück unter dem Titel Y al principio existía la vida uraufgeführt und fast einen Monat lang gespielt. In einem neueren Interview mit María de la Luz Hurtado meint Castro zu dem Stück: „Wir glaubten, dies sei die Wahrheit, das Militär glaubte es nicht." (Hurtado 1998: 79) Die Reaktion der Diktatur war heftig: Castro wurde verhaftet, gefoltert und in Straflager geschickt, um zwei Jahre später endgültig ins Exil ausgewiesen zu werden. Ein Schauspieler der Gruppe Juan McLeod, Castros Schwester und seine Mutter wurden verhaftet.
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Letztere wurde festgenommen, als sie ihren Sohn im Konzentrationslager besuchte. Juan McLeod wurde ermordet und für verschwunden erklärt. Castro erinnert sich in einem Interview mit Ariel Dorfman, wie er McLeod zum letzten Mal lebend in der Folterkammer sah: Ich wurde abgeholt und in einen Raum gebracht, wo Juanito mit verbundenen Augen von zwei Typen befragt wurde. Dann zeigten sie mir Fotos, um herauszubekommen, ob ich irgend jemanden darauf wiedererkannte. Genau vor McLeod, und ich sagte immer wieder nein.
Castro erinnert sich, wie ihm die Folterknechte, die darauf aus waren, Informationen über die politischen Aktivitäten der Mitglieder der Theatergruppe zu erhalten, androhten, seine Mutter und McLeod zu ermorden. ,... wenn du nicht redest, töten wir dieses Arschloch und deine Mama'. Genauso sagten sie es mir. Unvorstellbar, ich konnte nicht glauben, daß sie so etwas tun würden... Ich wurde auf freien Fuß gesetzt, und Juanito haben sie mitgenommen, und er ist nicht wieder aufgetaucht. (Dorfman 1979:121)
Traurigerweise hielten die Schergen Wort: seine Mutter - eine fast siebzigjährige Hausfrau, die nie etwas mit Politik zu schaffen hatte und bei den Präsidentschaftswahlen den rechtsgerichteten Kandidaten wählte - und der Schauspieler McLeod gehören zu der langen Liste von Verhaftet-Verschwundenen jener Zeit. Das Stück enthielt eine Szene, in der ein Kapitän mit seiner gesamten Besatzung Schiffbruch erleidet. Bevor er untergeht, sagt er in einer Rede ans Publikum, daß sie sich von diesem Zwischenfall nicht unterkriegen lassen sollen, der Kampf müsse weitergehen. Die Allegorie auf die letzten Stunden des Präsidenten Allende, der per Radio ein letztes Mal zu den Chilenen spricht, war zu offensichtlich und führte zu der unbarmherzigen Reaktion, die beschrieben wurde. Am Ende des Stücks steht eine ähnliche Botschaft: Der Prophet wird getötet, während er verspricht, daß der Kampf weitergehen wird, „denn die Wahrheit stirbt am Ende nicht mit ihm, sondern lebt weiter." (117) Heute räumt Oscar Castro ein, daß „das Stück vielleicht ein wenig zu offensichtlich, zu gewagt war" (Hurtado 1998: 79), doch er erklärt, „nach dem Putsch begann die Selbstzensur." (78) Aber Oscar Castro ist auch ein Beispiel für die paradoxe Situation, in der ein Dramatiker sich frei von Zensur und in fast vollkommener künstlerischer Freiheit fühlen konnte, obwohl er politischer Gefangener
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in einem Straflager der Diktatur war. „Nie wurde ich zensiert", erzählt er, obwohl er in den zwei Jahren seiner Haftzeit, eine intensive Theaterarbeit aufrechterhalten hat. Im Straflager Chacabuco führte er mit anderen Gefangenen die Stücke El pirata, El lejano Oeste, Fútbol und das Musical Caldos Bill auf; in Tres Alamos Navidad en la cárcel, Antígone, Mann ist Mann und El Señor Comendador; in Puchuncaví El Señor Comendador, Der kleine Prinz und Juan Salvador Gaviota-, im Chile-Stadion Aschenputtel; im Gefängnis von Los Angeles Destino de diez hombres, im Öffentlichen Gefängnis von Santiago Los sordos y el gotoso und La defensa de la defensa - die zwei letzten wurden vor der Aufführung verboten. Castros Bericht über die Theateraktivitäten in den Konzentrationslagern zeugen von der Unberechenbarkeit der Zensur in den ersten Jahren der Diktatur. Im Gefängnis hatte er nichts zu verbergen, denn alle kannten ihn und seine politische Haltung, so daß er sich dort freier fühlte als in irgendeinem Theater Santiagos. Der Leiter von EL ALEPH erinnert sich daran, daß das Militär dazu überging, die Stücke zu lesen, wenn sie erfuhren, daß der Autor Lagerinsasse war. Sie wollten mögliche versteckte Botschaften herausfinden. Einmal beschlossen die inhaftierten Theaterkünstler daher, Namen „ausländischer Theaterautoren" zu erfinden. Im Gefangenenlager Melinka erfanden sie den Namen eines gewissen Emil Kan, den sie vor dem Lagerkommandanten als polnischen Autor ausgaben, der Gefangener in den Konzentrationslagern der Nazis gewesen sei und in Buenos Aires lebe, demnach also ein polnischer Jude sei; das Stück sei 1956 geschrieben worden. Der Kommandant: „Wenn es von 1956 ist und von einem Polen, könnt ihr es ohne weiteres aufführen, ich will es aber auf alle Fälle vorher sehen." (Dorfman 1979:133) So wurde das Stück nicht vorher gelesen, sondern in einer Vorstellung begutachtet, die Castro als Generalprobe nutzte und sich dabei vorsah, nicht die Dinge hervorzuheben, auf die die Premiere den Akzent legen sollte. Der Kommandant bemerkte nicht einmal, daß Emil Kan ein Anagramm von Melinka, dem Lager, war. Äußerst paradox war, daß in dem Gefangenenlager Puchuncaví eine Aufführung von Y al principio existía la vida genehmigt wurde - wegen dieser Inszenierung war Castro in Santiago verhaftet worden. Er beschreibt die Aufführung sogar als die Beste von allen [...] mit großartigen Schauspielern und einem Ensemble, wie ich es nie wieder haben werde, mit Orchester und Musik von Angel Parra, der sie heimlich für die Premiere komponiert hatte. (133)
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Castro erzählt, daß der Lagerkommandant das Wort „compromiso" zensierte, was sowohl „politisches Engagement" als auch allgemeine „Verpflichtung, Verbindlichkeit" bedeuten kann. In dem Stück ist „compromiso" ein Zitat aus den Evangelien, in dem Jesus sagt, „el compromiso mio es estar siempre con los pobres/meine Verpflichtung ist es, stets auf Seiten der Armen zu stehen." Obwohl ihm die Passage aus der Bibel vorgelegt wurde, bestand der Kommandant darauf, der Begriff sei politisch und müsse auf jeden Fall geändert werden. Er zensierte die Bibel. Als Castro im Lager von Ritoque war, zeigte er mit seinen Leuten zu Weihnachten ein Stück, in dem es einmal heißt: „Nace el Salvador/Der Heiland ist geboren." Der Kommandant wollte nicht, daß Christus so genannt wurde, wahrscheinlich weil er den Namen Salvador als Anspielung auf Allende verstand: „Nenn ihn Jesus, mein Junge, oder Christus, aber nicht Salvador." Der Name mußte geändert werden. Bei anderer Gelegenheit wurde Zoogeschichte von Albee aufgeführt; an einer Stelle heißt es „die Pfote des Hundes war rot" und der Kommandant zensiertedas Wort „rot", „sagt gefärbt, aber nicht rot". (132) Der Freiraum, den der Leiter von E L A L E P H im Gefängnis wahrnahm, war also sehr relativ und Stück für Stück hart erkämpft. Dabei kam ihm der Umstand zugute, daß die Militärjunta weltweit für ihre Verletzungen der Menschenrechte angeprangert wurde, und darüber hinaus das Internationale Rote Kreuz Zugang zu den Lagern hatte, in denen Castro in Haft war, und über Listen der einsitzenden Gefangenen verfügte - das gab es in den ersten Monaten der Diktatur nicht. Der Fall Hojas de Parra Ein weiteres eindeutiges Signal der Diktatur an Theaterkünstler und intellektuelle Dissidenten generell könnte man als „de facto"-Zensur bezeichnen: Im März 1977 wurde das Zelttheater L A FERIA in Brand gesetzt. Dort spielte die Gruppe von La FERIA ungefähr zwei Wochen lang das Stück Hojas de Parra, das auf Texten von Nicanor Parra basierte, die fast alle schon in Gedichtbänden publiziert waren. Nach sechs Tagen erfolgreicher Aufführungen und einer wütenden Attacke des offiziellen Presseorgans L A SEGUNDA, das das Stück als regierungsfeindlich beschimpfte, wurde der Spielort, ein Zirkuszelt, vom Amt für Öffentliche Hygiene des Nationalen Gesundheitsdienstes mit der Begründung geschlossen, der Ort sei „gesundheitsschädlich". Es war ein offenes Geheimnis, daß damit das Stück zensiert wurde, selbst wenn der Schauspieler José Manuel Salcedo anfangs versöhnlich versuchte, die Situation als Übereifer
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der Beamten für Öffentliche Hygiene abzutun und sagte, daß „die Behörden, die weisungsbefugt" in Sachen Theater sind, aus politischer Sicht nichts gegen das Stück einzuwenden gehabt hätten, als sie die Aufführung sahen. (Quß PASA, 17. März 1 9 7 7 : 2 4 - 2 7 ) Nachdem eine Aufhebung der Zensur erreicht worden war, wurde das Stück sofort wieder abgesetzt, diesmal von den Städtischen Behörden. Am gleichen Tag wurde das Zelt von Unbekannten, die völlig ungestraft während der nächtlichen Ausgangssperre agieren konnten, niedergebrannt. Der Brand verursachte verständliche Erregung in der chilenischen Theater- und Künstlerszene, vor allem, wenn man weiß, daß es gleichzeitig eine Serie von Attentaten gegen Orte gab, in denen linksgerichtete Künstler nach dem Putsch versuchten, ihre künstlerischen Aktivitäten öffentlich wieder aufzunehmen. Auslöser für den Zorn der Militärbehörden gegen Hojas de Parra war, wenn man dies auch nicht offiziell zugab, daß das Stück offenbar den vom Regime verordneten Rückzug aus der Politik durchbrach. Parra parodierte beispielsweise Leitsprüche, die das politische Leben Chiles stark geprägt haben - am Anfang des Stück wird ein Transparent mit dem Spruch entrollt „Die vereinigte Linke und Rechte sind unbesiegbar". Mit dem Kandidat „Niemand" wurde eine Wahlkampagne für die Präsidentschaft auf die Schippe genommen. Man tat so, als stünde das Zelt, in dem das Stück gespielt wurde, neben einem Friedhof und plötzlich füllte sich das Zelt mit Kreuzen, denn auf dem Friedhof wurden in letzter Zeit viele Toten begraben. All diese Anspielungen auf die jüngste Geschichte des Landes, zu einem Zeitpunkt, als jegliche politische Betätigung verboten war, führten zu den beschriebenen Konsequenzen, mit einem der schockierendsten Gewaltakte, die begangen wurden, um Dissidenten im Bereich des Theaters zum Schweigen zu bringen. Die Mehrwertsteuer und das chilenische Theater Ein weiterer Aspekt, der die Entfaltung des chilenischen Theaters jener Zeit schwer beeinträchtigt hat, war die Ausweitung der Mehrwertsteuer auf Theateraktivitäten. Diese Steuerbelastung betraf alle Konsumgüter und Dienstleistungen in einer Höhe von 25%. Im Kulturbereich wurde sie als „Kultursteuer" bekannt und hatte verheerende Auswirkungen. Die Preise von Büchern, die wegen der Wirtschaftskrise ohnehin schwer zu bekommen waren, wurden um den genannten Betrag erhöht. Die Folge war ein deutliches Sinken des Absatzes und der Verlagstätigkeit im allgemeinen sowie eine Veränderung der Lesegewohnheiten der
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Chilenen.1 Diese Maßnahme war zweifellos einer der Gründe für den apagón cultural, die „kulturelle Eiszeit", die Chile in jenen Jahren durchlebte. Den Theatern genehmigte die Regierung eine Steuerbefreiung, wenn das aufzuführende Stück von einer Universität oder ausländischen Botschaft als „kulturell wertvoll" eingestuft wurde. Ab August 1980 verordnete das Dekret 3454: alle Aufführungen, die nicht vom DEPARTAMENTO DE EXTENSIÓN C U L T U R A L DEL MINISTERIO DE EDUCACIÓN (der dem Bildungsministerium angegliederte Kulturbereich) genehmigt worden sind, werden, wie jede andere Ware auch, mit 20% besteuert. (HOY 14.1.1981: 43)
Diese Maßnahme konnte zwar als Förderung des kulturellen Lebens gewertet werden, aber ihre Umsetzung lag im freien Ermessen der erwähnten offiziellen Behörde, die die Anträge der Theatergruppen auf diese Vergünstigung genehmigte oder ablehnte. Der Leiter des DEPARTAMENTO DE EXTENSIÓN CULTURAL DEL MINISTERIO DE EDUCACIÓN G e r m á n Domín-
guez sagte tatsächlich:
Dies ist alles sehr willkürlich, das gebe ich zu. Es ist willkürlich und hängt von rein persönlichen Kriterien ab. Es gibt keine genauen Regeln, die festlegen, wann ein Stück künstlerisch und kulturell wertvoll ist. Mir wurde diese Verantwortung übertragen, und ich versuche, so aufrichtig wie möglich zu sein, (ibid.)
Doch am Schluß gesteht er ein, seine eigenen Kriterien für eine Förderung seien: ein Stück soll „positive Werte beinhalten und sich nicht gegen das Regime richten. Kritik darf es geben, aber keine staatlich geförderte." Das zu begutachtende Stück unterlag somit einer politischen Beurteilung aus einer „vollkommen subjektiven Einschätzung", wie Domin-
1
Tatsächlich ist Chile um 1978 zu einem der lateinamerikanischen Länder mit der geringsten Verlagstätigkeit geworden. Laut einer Studie der UNIVERSIDAD CATÓLICA von Santiago und der Bibliotheken von Archiven und Museen mit dem Titel „Die Situation des Buches in Chile", die Pablo Huneus koordiniert hat, wurden 1959 in Chile jährlich 1227 Titel publiziert, 1978 waren es nur noch 330. Die auf den Buchverkauf spezialisierten Buchhandlungen sind von 331 auf 30 zurückgegangen. Mehr als die Hälfte der Chilenen las damals gar nicht und ein Drittel erinnert sich nicht an den Titel des Buches, das sie zuletzt gelesen hatten. Vgl. den Bericht in HOY, 24.-30. Dezember 1980, S. 43 f.
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guez selbst zugab. Dies führte zu dem Paradox, daß Lindo pais esquina con vista al mar von ICTUS, das vom Theaterinstitut der UNIVERSIDAD DE CHILE für „kulturell wertvoll" erachtet wurde und mit dieser Auszeichnung fast ein Jahr lang gespielt wurde, diese Einstufung plötzlich entzogen wurde, nachdem es dem Bildungsministerium zur Begutachtung vorgelegen hatte. ICTUS war danach gezwungen, die Mehrwertsteuer zu entrichten. Der Beamte berichtet, daß in diesem Fall die politische Ausrichtung der von ICTUS aufgeführten Stücke einen klaren und entscheidenden Einfluß hatte, was mich dazu bewog, die Förderung abzulehnen. (Benavente 1989: 312)
Damit ist klar, daß die Maßnahme nichts anderes als eine Art von Zensur für das kritische Theater war. Die ohnehin schon niedrige Kaufkraft der Bevölkerung war nicht dazu angetan, auch noch eine Erhöhung der Preise für Theaterkarten zu verkraften; auf diese Weise strafte die Diktatur das alternative Theater. Die Regierung verteidigte sich: Die Mehrwertsteuer ist keine Zensur, denn diejenigen, die nicht v o m Ministeriu m durch die Befreiung gefördert werden, können ihre Stücke unabhängig davon zeigen, wie es ja auch geschieht, (ibid.)
Darauf erwiderte der Schauspieler Nissim Sharim, daß Zensur nicht nur das Verbot der Aufführung eines Stückes ist, sondern auch, wenn „der Aufführung alle erdenklichen Hindernisse in den Weg gelegt werden", und er fügte hinzu und faßt damit das Problem zusammen, dem sich die Theaterkünstler in den Jahren der Militärregierung konfrontiert sahen: dies w a r die List, mit der die Diktatur gegen die Theater vorging. Es gab keine ausdrücklich restriktiven Zensurvorschriften, doch sobald jemand einen Fehler beging, konnte es damit enden, daß der Saal brannte, (ibid.)
Unter diesen Umständen ist es schwierig zu glauben, es habe keine Zensur für das Theater gegeben. Der Autor Juan Radrigän erklärte in einem Interview, daß die Gelegenheit nicht wahrgenommen würde zu sagen, was direkt gesagt werden müßte, zumal es ja „keine Zensur im Theater gebe" (Varas 1985: 161), und lehnte „jede Form von Selbstzensur" ab. Wir haben schon gesehen, wie Oscar Castro im Gefangenenlager vollkommene künstlerische Freiheit hatte und selbst sagt, daß er nie Probleme hatte und auch nicht zensiert wurde. Allerdings beschreibt er im gleichen Atemzug die Mechanismen der Selbstzensur, durch die diese
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Illusion von Freiheit möglich wurde. Zudem ist es offensichtlich, daß sich diese Äußerungen aus seiner festen Absicht erklären, unter den widrigen Bedingungen einer politischen Haftanstalt weiter Theater zu machen, wo er ausgerechnet aus diesem Grund gelandet war. Anhand konkreter Fakten haben wir versucht aufzuzeigen, mit welchen repressiven und einschüchternden Maßnahmen die Militärregierung den Theaterdiskurs unter Druck setzte und keine abweichende Haltung zuließ. Dem Theater widerfuhr so das gleiche Schicksal wie der chilenischen Gesellschaft jener Zeit. Offiziell gab es wirklich keine vorherige Zensur von Theaterstücken. Das unterscheidet Chile vom Spanien Francos. Gründe dafür können die Unkenntnis der Militärbehörden gewesen sein, was die Mechanismen der Theaterpraxis angeht. Oder auch das zu große Vertrauen in das Funktionieren von repressiven Maßnahmen auf die Massenmedien und die Gesellschaft im allgemeinen, die das Aufkommen kritischer Stimmen verhindern sollten. Man glaubte, daß die Selbstzensur von ganz allein funktionieren würde. Darüber hinaus schätzte man von offizieller Seite den Einfluß des Theaters auf die öffentliche Meinung gering, so daß es, als die Theaterstücke immer stärker die herrschende Wirklichkeit in Frage zu stellen wagten, den Behörden nicht mehr möglich war, eine direkte Zensur auszuüben, ohne dem Ansehen der Regierung zu schaden. Dieses Dilemma wurde durch ein geheimes Memorandum der CENTRAL NACIONAL DE INFORMACIONES (CNI) bekannt, das sich auf das Stück Tres Marias y una Rosa bezog. Das geheime Memorandum der CNI Ein Memorandum der CNI machte die internen Auseinandersetzungen deutlich, die 1979 in Regierungskreisen um das Schicksal des Theaters von Dissidenten in Chile geführt wurden. Die Diktatur mußte sich eingestehen, daß es den Dissidenten gelungen war, eine solide kritische Theaterbewegung von unbezweifelbarer Qualität auf die Beine zu stellen. Jeder Gewaltakt, der sie zum Schweigen bringen könnte, wäre zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv für das Regime gewesen. Das Memorandum war die Reaktion auf die große Wirkung, die das Stück Tres Marías y una Rosa von David Benavente und dem TALLER DE INVESTIGACIÓN TEATRAL (TIT) hatte. Benavente erzählt selbst, wie er und Mitglieder der Gruppe eine Woche nach der Premiere und nachdem sie schon die Befreiung von der Mehrwertsteuer erhalten hatten, unvermittelt von der Chefkommandatur der Militärgarnison von Santiago ins
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Verteidigungsministerium bestellt wurden. Grund für die Vorladung war - wie im Fall von Hojas de Parra - eine böswillige Notiz der offiziellen Abendzeitung LA SEGUNDA zum Inhalt des Stückes, „die auf direktem Wege auf den Schreibtisch des Innenministers gelangt war, von dort zu der CNI und darin weiter zum Militärischen Abschirmdienst." (Benavente 1989: 317) Als geklärt werden konnte, daß die Information falsch war, mußte sich die Zeitung öffentlich korrigieren, und damit war der Fall erledigt, der den sofortigen Spielstopp für das Stück bedeutet hatte. Das Memorandum, das wenige Wochen später durchsickerte, machte deutlich, daß in hohen Regierungskreisen über die alternative Theaterbewegung diskutiert wurde. Es gab zwei Positionen: die eine „ihr sofort den Todesstoß zu versetzen", d.h. sie durch einen Gewaltschlag zu beenden. Die zweite, die von den Autoren des Schriftstücks vertreten wurde, sah eine etwas feinfühligere Alternative vor, die nicht noch größeren Schaden am internationalen Ansehen der Regierung anrichten sollte, denn die Zwischenfälle mit EL ALEPH und Hojas de Parra hatten in der internationalen Künstlergemeinschaft zu scharfen Protesten geführt. Das Memorandum räumte ein, daß „das Stück [Tres Marías y una Rosa] theatralisch von guter Qualität sei" (Benavente 1989: 314), konstatierte aber gleichzeitig, daß es von allen bisher gespielten das „politischste und anspielungsreichste Stück" sei. Wegen seiner Qualität hatten die Kritiker in der Presse und den Medien positive Kommentare abgegeben, was das Publikum in die Aufführungen zog. Das Dokument nennt den Fall der bekannten Journalistin Marina de Navasal, die in dem prestigeträchtigen Programm Teletrece vom Sender der UNIVERSIDAD CATÓLICA ein positives Urteil abgab, was in dem Dokument als „besonders zweckwidrig" bezeichnet wird, (ibid.) Man begriff, daß die künstlerische und kulturelle Bewegung der Linken an Stärke gewonnen hat, u.a. als relativ einfache Kanalisierung der Äußerungen von Widerstand bzw. Dissidenz in Form von künstlerischen Bildern, die, wenn sie von den bestehenden Behörden aufgehoben bzw. verboten werden, das Regime in die Ecke der „AntiKultur" drängen. (314)
Die Militärregierung wollte sich also gewissen Äußerungen von Dissidenten gegenüber ein Ansehen von Toleranz verschaffen, um nicht dem Vorwurf der Repression in diesem Bereich ausgesetzt zu sein. Das Memorandum geht noch stärker ins Detail und sagt ganz deutlich, daß
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Protesttheater
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repressive Aktionen, sei es nun das Verbot eines Stücks wie Tres Marias y una Rosa oder Gewaltmaßnahmen gegen die Mitwirkenden, höchst kontraproduktiv sind und in keinem Fall darauf zurückgegriffen werden darf. (315)
Die Gründe, aus denen von Gewaltmaßnahmen abgeraten wird, sind sehr erhellend dafür, warum das alternative Theater in Chile toleriert wurde. Der erste Grund war: Das Stück hat keinen massiven Einfluß und wird ihn nie haben, weil selbst unter günstigen Bedingungen die Zuschauergruppe im Verhältnis zur Bevölkerungsmasse der Großstadt immer relativ klein sein wird. (315)
Man konnte das alternative Theater daher bestehen lassen, denn es fehlte ihm, gemäß der Überlegungen der CNI-Agenten, an effektiver bewußtseinsbildender und die Massen mobilisierender Kraft; seine Reichweite war gering und damit bedeutungslos. Gleichzeitig zeigte sich, daß jede repressive Aktion gegen das Stück innerhalb des Landes und international einen Propagandaeffekt hätte, was „nicht erwünscht" war, denn damit würde man nur seine heimliche Verbreitung fördern, was dazu führen könnte, daß aus einem harmlosen ein für das Ansehen des Regimes wirklich gefährliches Stück würde. Schließlich könnten repressive Aktionen „den internen und internationalen Kampagnen gegen den apagön cultural und faschistoide Methoden des chilenischen Regimes Nahrung geben." (ibid.) Statt Repressionen gegen das alternative Theater empfahl die CNI einen „,Sonderförderplan' für Kunstformen mit rein nationalem Charakter, die auf traditionelle Werte zurückgreifen" (316), der über Mittel von staatlichen Organisationen und der privaten Wirtschaft verfügen sollte. Zudem empfahl sie, indirekten Druck auf „Organismen auszuüben, die mittelbar an der Entwicklung, Verbreitung und Arbeit von alternativen Theatergruppen beteiligt sind." Die letzte Empfehlung forderte die Regierung dringend dazu auf, die Kommunikationsmedien des Landes unter Druck zu setzen, um „den Einfluß bzw. die Reichweite von Kommentaren unschädlich zu machen bzw. zu mindern, die diesen Typ künstlerischer Äußerung loben" (ibid.), d.h. Journalisten, Kommentatoren und Theaterkritiker sollten eingeschüchtert werden, damit die Selbstzensur wieder effizienter würde. Mit Hilfe dieses Knebels sollte der Erfolg der alternativen Theaterbewegungen boykottiert werden. Zum Glück setzte sich die Meinung der CNI durch, die eine Unterdrückung des Theaters für kontraproduktiv befand. Es hätte auch nicht anders kommen können, denn das Protesttheater hatte bereits einen so-
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liden Textkorpus geschaffen, dessen Sprache tief in den Hoffnungen, Leiden und Sorgen großer Teile der chilenischen Bevölkerung wurzelte. Es war nicht mehr möglich, oder nur auf Kosten des internationalen Ansehens der Militärregierung, diese starke chilenische Theaterbewegung zu zerstören. Deutsch von Almuth Fricke
Literatur Benavente, David: „Ave Felix (Teatro chileno post-golpe)", in Pedro, Juan y Diego; Tres Marias y una Rosa. Santiago de Chile 1989, S. 277-323. Bravo Elizondo, Pedro: „Reseña actual del teatro en Chile", in Literatura chilena en el exilio 4 (1977), S. 15. Dorfman, Ariel: „El teatro en los campos de concentración. Entrevista a Oscar Castro", in ARAUCARIA 6 (1979), S. 115-147. Hurtado, María de la Luz: „Oscar Castro: Pasiones y avatares del alma del ALEPH", in APUNTES 113 (1998), S. 73-88. Rojo, Grinor: Muerte y resurrección del teatro chileno 1973-1983. Madrid 1985. Sieveking, Alejandro: „Teatro chileno antifascista", in Primer coloquio sobre literatura chilena (de la resistencia y el exilio). Mexiko 1980, S. 97-113. Varas, José Miguel: „Juan Radrigán, teatro de la dignidad y de la marginalidad", in ARAUCARIA 31 (1985), S. 161. Zeitschriften: H O Y 2 4 . - 3 0 . Dezember 1 9 8 0 , S . 4 3 f.; 1 4 . Januar 1 9 8 1 , S . 4 3 . QUÉ PASA 1 7 . M ä r z 1977, S. 24-27.
Oscar Lepeley: lehrt an der University of Toledo, Ohio, Lateinamerikanische Sprachen, Kultur und Literatur. Sein spezielles Forschungsgebiet ist das chilenische Theater während der Diktatur von Pinochet. Publikationen: Aufsätze über chilenisches Theater. „Tres Marias y una Rosa", in Imagination Beyond Nation: Latin American Populär Culture, University of Pittsburgh Press, 1998.
Der Spiegel ist ein Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert. Umberto Eco 1
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Das Haupt der Medusa Zwei Theaterstücke von Ariel Dorfman Ariel Dorfman läßt sich nicht auf ein Medium festlegen. Seine Theaterstücke entstehen in der Mehrzahl aus Prosatexten, und seine Romane sind häufig wie Theaterstücke geschrieben.2 Salvador Oropesa interpretiert diese Vorgehensweise zum einen als Universalität und zum anderen als Auflehnung gegen vorgegebene Denksysteme. Mit anderen Worten: als Freiheit, sich über Einschränkungen der eigenen Kreativität hinwegzusetzen und damit, vielleicht, auch Gedanken die Kraft zu verleihen, zu anderen, nicht vorgeschriebenen Denkweisen anzuregen. 3 Auf diese These möchte ich zurückkommen. Ariel Dorfman (1942) ist ein Moralist.4 In allen seinen Publikationen, Romanen, Essays und Theaterstücken hebt er die verschiedenen Formen faschistischen Denkens und Handelns hervor, wobei Faschismus als Normalisierung des Mißbrauchs des Schwachen durch den Starken verstanden wird. Dieser Mißbrauch kann durch einzelne Personen, stellvertretend für den Staat, ausgeübt werden oder durch ein „System". Dorfman läßt erkennen, daß beide Formen ein und dasselbe sind. Wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt, ist er der Täter. Macht ein System Menschen zu Denunzianten und Konformisten, wer ist dann der Täter? Dorfman behauptet: Jeder. Das System sind wir, die es durch Zustimmung oder Schweigen stützen. An zwei Theaterstücken, in denen sich
1
Über Spiegel und andere Phänomene. München 1990, S. 27.
2
Zum Beispiel Konfidenz (1995), ein Roman, der fast ausschließlich aus Telephongesprächen besteht.
3
Salvador A. Oropesa: La obra de Ariel Dorfman: Ficciön y critica. Madrid 1992.
4
„Beobachter der menschlichen Lebensweisen (mores hominum, mores saeculi), der keine Grundsätze des sittlichen Handelns aufstellt, sondern die verschiedenen Tatsachen des seelischen und sozialen Verhaltens beschreibt." In Europa seit dem frühen 19. Jahrhundert die Definition eines Moralisten.
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der Autor mit der unmittelbaren Vergangenheit Chiles beschäftigt, soll dies demonstriert werden. Verschiedene lateinamerikanische Theaterautoren haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie Menschen die traumatischen Erfahrungen einer brutalen Diktatur verarbeiten. Eduardo Pavlovsky, zum Beispiel, beschäftigt die Psyche der Täter, Jorge Diaz die der Opfer. Ariel Dorfman betrachtet die Bewältigung der Vergangenheit unter dem Aspekt der kollektiven Verantwortung.5 Der Tod und das Mädchen Als Theaterautor hat Dorfman mit Der Tod und das Mädchen internationalen Erfolg. Das Stück, 1991 in Santiago de Chile uraufgeführt, wird in Europa und den USA gespielt und 1993 von Roman Polanski verfilmt. In Chile war es ein Flop. Ort und Zeit der Handlung sind Chile nach Pinochets Rücktritt aus dem Amt als Präsident. Drei Personen treten auf: Gerardo, ein Anwalt; Paulina, seine Frau; Roberto Miranda, ein Arzt. Das Stück beginnt wie ein Krimi in bester Hitchcock-Manier: Paulina erwartet ihren Mann, der sich verspätet. Es ist Nacht. Sie hört ein fremdes Auto nahen, dann Stimmen. Sie greift zur Waffe und wartet im Dunkeln. Dieser Einleitung gibt die Angst als Handlungshintergrund für das ganze Stück vor. Gerardo hatte auf dem Heimweg eine Panne und wird von einem Fremden, der vorbeikam, nach Hause gebracht. Er bittet den freundlichen Helfer auf einen Drink ins Haus. Paulina glaubt, an der Stimme des Fremden den Mann zu erkennen, der sie im Gefängnis wiederholt gefoltert und vergewaltigt hat. Anders als, zum Beispiel, in Potestad von Eduardo Pavlosky oder in Dicen que la distancia es el olvido von Jorge Diaz und anderen Stücken beider Autoren, hat die Konfrontation mit der Vergangenheit keine individuelle Bedeutung als pars pro toto. Dorfman benutzt sie vielmehr, um 5
Siehe auch Ramón Griffero: Río abajo (1995), w o das Zusammenleben nach der Diktatur beschrieben wird. Hier liegt das Augenmerk allerdings nicht auf der Verantwortung für die Vergangenheit, als vielmehr auf der Selbstzensur. Der Übergang zur Demokratie in Chile wurde als „Versöhnung" deklariert, „wodurch jeder kritische Gedankengang oder alles, was in irgendeiner Weise unserer Versöhnung im Wege stehen könnte, der Selbstzensur unterlag." Griffero: „Das chilenische Theater z u m Ende des Jahrhunderts", in Widerstand und Macht: Theater in Chile. (Adler, Woodyard 2000), S. 141.
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das schier unlösbare Problem hervorzuheben: Darf die Wahrheit über Verbrechen des Staates dem Frieden dieses Staates geopfert werden? Paulina gelingt es, ihren vermeintlichen Peiniger in ihre Gewalt zu bringen. Der Augenblick, den sie sich in ihren schlimmsten Momenten herbeigesehnt hatte, nun ist er da. Sie kann „es dem Folterer heimzahlen". Jetzt beginnt das eigentliche Drama: Was will das Opfer? Ebenfalls quälen? Töten? Und was würde damit erreicht? Gerardo ist in die Kommision berufen worden, die die während der Militärdiktatur begangenen Verbrechen recherchieren und gegebenenfalls den Gerichten vorlegen soll. Dorfman hebt damit das individuelle Problem einer Begegnung Opfer/Täter in umgekehrter Situation auf die nationale Ebene. Der Auftrag der Kommission wird am Exempel durchgespielt: Für den Täter gilt der juristische Grundsatz in dubio pro reo. Aber dem Opfer obliegt hier die Beweispflicht. Wie will man jedoch die Täter überführen, werrn sie leugnen und darüber hinaus offiziell gedeckt werden, denn ihre Auftraggeber sind ja noch in Amt und Würden? Auf der Bühne hat Paulina eine Waffe, und Miranda ist an einen Stuhl gefesselt. Sie droht, ihn zu töten, wenn er nicht gesteht, was er ihr und anderen angetan hat. Das Dilemma ist offensichtlich: ohne Gewaltandrohung wird Miranda niemals reden. Aber, was ist ein mit Gewalt erzwungenes Geständnis wert? Recht läßt sich nicht erzwingen. Der Autor bezieht eine klare Position: Der Zweck heiligt niemals die Mittel. GERARDO Wir können nicht dieselben Methoden anwenden wie sie. Wir sind anders. [...] PAULINA Erinnerst du dich, was du geschworen hast? Was du mit ihnen machen würdest, wenn du sie findest? Schweigen Du hast gesagt: „Eines Tages, mein Liebes, werden wir alle diese Hurensöhne aburteilen. Du wirst in jedes dieser Gesichter sehen, während sie deine Beschuldigungen anhören. Das schwöre ich dir." GERARDO Das war vor fünfzehn Jahren. (Dorfman 1992: 38)
Mit einem kurzen, ironischen Einschub löst der Autor die sich unerträglich zuspitzende Spannung, wenn er seinen aufrechten Kämpfer für die Menschlichkeit zu ganz männlicher Reaktion ausrasten läßt. Miranda zeigt ihm die Geringschätzung des Faschisten für juristisch korrekte Vorgehensweisen:
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... was jeder richtige Mann tun würde, dessen Frau man vergewaltigt hat. Was ich tun würde, wenn man meine Frau vergewaltigt hätte... Also hören wir doch auf mit dem Quatsch. Ich würde dir die Eier abschneiden. GERARDO Ich hole mir den Revolver und verpasse dir eine Kugel. Kurze Pause Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich deinen Rat befolgen und dir die Eier abschneiden, du verdammter Faschist. Das machen doch die richtigen Kerle, oder? ... Ich nicht. Ich bin ein armseliger, schlapper Anwalt, ein Liberaler, der den Hurensohn, der seiner Frau das angetan hat, auch noch verteidigt... (46) MIRANDA
Die theoretisch klare Vorstellung einer Untersuchung und „Aufarbeitung" der Verbrechen der Militärdiktatur erweist sich in der Praxis als absurdes Unterfangen. Selbstzensur verhindert schon im Ansatz die Aufnahme von Fakten. Gerardo, zum Beispiel, befürchtet negative Folgen für seine Karriere. Er geht in seiner Kompromißbereitschaft so weit, daß er einen faulen Handel mit dem Täter macht, indem er Paulinas Aussagen dem Täter vorspielt, damit der seine eigenen danach ausrichten kann. Eine saubere Beweisführung ist damit nicht mehr möglich. Letztlich geht es hier auch nicht mehr darum, wer was getan hat. Es geht weder um Recht noch um Gerechtigkeit, sondern darum, die Schuld des Einzelnen in die Gesamtsituation des Staates einzugliedern, den status quo ante wiederherzustellen und „Frieden zu schließen". Dorfmann sagt dazu: „Das Stück zeigt die moralischen Schwierigkeiten eines Übergangs, währenddessen Vergebung und Rache gleichermaßen möglich und gerechtfertigt sind." 6 Die Schlußszene zeigt alle drei Personen im Konzertsaal. Zur Musik von Schuberts Der Tod und das Mädchen, die Musik, zu der der Folterer seine „Arbeit" auszuführen pflegte, sehen sich Paulina und Miranda an, dann schaut sie weg. Es wird nicht geklärt, ob Miranda schuldig ist. Ein Kunstgriff des Autors, der auf die kollektive Verantwortung hinweist. Denn Miranda ist keine lapidare Figur. Er ist Arzt, kultiviert, sympathisch. Dennoch ist er in der Lage, sich in die Gefühle des Folterers hineinzudenken: Plötzlich wird es ein Spiel. Eine Neugier überfällt dich, halb krankhaft, halb wissenschaftlich. Wieviel mag die hier vertragen? [...] Du kannst mit ihr machen, was du willst, sie ist dir vollkommen ausgeliefert. Du kannst allen deinen Phantasien nachgeben. Allem, was man dir immer verboten hat... (41)
MIRANDA
6
Ariel Dorfman in Theater Heute 10 (1992), S. 18.
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Fazit: So kann es jedem ergehen.7 Der Leser Das zweite Stück, das hier besprochen werden soll, ist Der Leser, eine Bearbeitung der gleichnamigen Erzählung von 1984. Das Stück wurde 1995 in Edinburgh uraufgeführt (deutsche Erstaufführung 1996). Der Protagonist ist ein Zensor, der in einem Manuskript sich selbst als Romanfigur wiederfindet. Das Spiegelbild konfrontiert ihn mit seinem Leben als Diener eines totalitären Systems, dem er das Leben seiner Frau und seine eigene geistige Freiheit opfert. Seine erste Reaktion ist: verbieten. Doch die Faszination, die der Text auf ihn ausübt, ist größer. Die zweite Möglichkeit zu verhindern, daß seine Schuld an die Öffentlichkeit gelangt, wäre verändern, streichen etc. Aber auch das erweist sich als unmöglich. Der Text gewinnt immer mehr Leben. Die Figur des „realen" Zensors verschmilzt immer mehr mit der des „fiktiven" Zensors. Die Handlungsebenen Zensor/Manuskript oszillieren. Wer liest wen? Wer schreibt/diktiert den Text? Die realistische Erzählung entfaltet sich zu surrealistischen Träumen, zu Spiegelungen und Doppelungen: Der Zensor sucht in dem Manuskript das Ende seiner eigenen Geschichte. Hat er Einfluß auf den Verlauf, indem er zur Romanfigur wird? Als Zensor fürchtet er nichts so sehr wie die Macht des geschriebenen Wortes; es wird ihm zur Wirklichkeit. Das Thema auch dieses Stücks ist Gewalt, hier angewendet von einem System. Dorfman benennt es im Stück als Ökofaschismus mit einer rigorosen Moral.8 Der Zensor hat „zu ihrem eigenen Besten" seine Frau verraten, indem er ein Geständnis für sie schrieb und unterschrieb, in dem es heißt, sie habe gegen die Maximen des Systems verstoßen. Sie ist in einem Umerziehungslager gestorben. Mit dieser Tat erpreßt ihn das System zu wiederholtem Verrat.
7
„Friedliche Nachbarn zeigten, daß sie zu schrecklichen Folterern werden konnten, unscheinbare Bürger wurden zu unbarmherzigen Mördern und viele, sehr viele Menschen machten mit bei diesem Geschäft aus Angst und Schmerz." Juan Radrigän zitiert nach Andrade/Fuentes (1994: 93).
8
Daß diese sich als höchst fragwürdige Doppelmoral erweist, ist eher eine Schwäche des Textes als ein zusätzliches Argument gegen das System.
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Heidrun Adler Und morgen werden Sie mich bitten, es wieder zu tun, richtig? Wieder und wieder. [...] Das ist das Leben, das ich mir selbst geschrieben habe. (Dorfman 2000: 264)
MORALES
Auffallend ist, daß es die Frauen sind, die den Diskurs des Widerstandes tragen. Sie sind es, die den Zensor in seinen verschiedenen Verkörperungen mahnen, keine Angst zu haben. Denn Angst ist das Mittel zur Erpressung, zur Unterdrückung individueller Freiheit. Angst macht die Menschen zu Konformisten. Direktor: „Angst ist die Wurzel aller Weisheit." (259) Es ist eine Frau, die dem Repräsentanten des Systems widerspricht, wenn er sie rügt, ihr Widerstand sei nicht im Text vorgesehen. Jacqueline: „Das ist mein eigener Text." (262) Beide Stücke thematisieren die kollektive Verantwortung. In Der Tod und das Mädchen, einer Geschichte, die sich genauso zutragen könnte, wie wir sie auf der Bühne sehen, wird die Vergangenheit unmittelbar mit der Gegenwart konfrontiert. Durch Mirandas Weigerung, sich dieser Vergangenheit zu stellen - eine Weigerung der Öffentlichkeit, sich der Vergangenheit zu stellen -, wird Paulinas Bericht zur Fiktion. Wir hören erst Paulinas Stimme, dann führt Mirandas Stimme den Text weiter. Ist es sein Geständnis, oder ist es Paulinas Text, den er nachspricht? Die „unaussprechlichen" Erlebnisse der Opfer werden hier durch den Täter zur Geschichte. Die Öffentlichkeit distanziert sich von ihrer Verantwortung. In Der Leser präsentiert sich die Vergangenheit als Fiktion und bewirkt, daß sichtbar wird, wie die Gegenwart die Vergangenheit wiederholt. Fiktions- und Handlungsebene wechseln beständig. Das Konstrukt: System/Individuum/Text, bringt durch illusionäre Mittel - Doppelung, Spiegel etc. - die reale Auseinandersetzung eines Mannes mit sich selbst hervor. Der Protagonist sieht sich vor sein eigenes Gericht gestellt. Seine Flucht vor der Verantwortung für Zustände wie Zensur, wie Konformismus, der nicht nur Verbrechen zuläßt, sondern selbst zu Verbrechen führt, zeigt sich auf der Bühne in den Wiederholungen der Konfliktsituation, die sich jeweils auf das Stichwort „Angst" vollziehen.9 Im Kontext von Dorfmans Stücken und Prosatexten finden wir immer wieder das Spiel mit dem Doppelgänger, der Maske, dem Spiegelbild. In der Schlußszene von Der Tod und das Mädchen läßt er einen Spiegel vor dem Publikum herunterfahren. In der Edinburgher Uraufführung von Der Leser benutzt der Regisseur, Yan Brown, Spiegel, um die 9 Seiten: 225,235, 237,243, 249,252.
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verschiedenen Ebenen des Dialogs des Zensors mit seiner Vergangenheit sichtbar zu machen. Für Dorfmans Prosatexte - zum Theater von Ariel Dorfman gibt es außer Aufführungsrezensionen keine kritische Literatur - hebt Oropesa die Universalität, die Freiheit, außerhalb des vorgegebenen Kanons zu denken hervor. So könnte man die Spiegelkunststücke des Autors als Verfremdungen ansehen; nicht von Figuren, sondern von Situationen. Statt den Schauspielern auf der Bühne sehen sich die Zuschauer plötzlich ins eigene Gesicht. „Die Auslegung der Fabel und ihre Vermittlung durch geeignete Verfremdung ist das Hauptgeschäft des Theaters", schreibt Brecht,10 und Herbert Marcuse fordert eine „neue Sensibilität", um zu einem „neuen Sehen" zu gelangen. 11 Was machen Dorfmans Spiegel und Doppelungen anderes? Sie wiederholen das Vertraute so oft, bis das Ungeheuerliche darin sichtbar wird. So befindet sich Dorfman in bester abendländischer Theatertradition: zitieren wir Ciceros „consuetudo altera natura", das daraus resultierende „de omnibus dubitandum" der Philosophen der Aufklärung, Hegels: „Das Bekannte... wird, weil es uns bekannt ist, nicht erkannt." (1964: 33) In Der Leser wird eine vertraute Situation - um die eigene Haut zu retten, paktiert ein Mann mit dem System - so oft wiederholt, bis deutlich wird, daß dies kein „privater" Akt ist; daß Schuld, und sei sie nur durch mangelnde Courage, durch Mitläufertum entstanden, niemanden aus der Verantwortung entläßt. Dorfman zeigt darüber hinaus, daß der Blick auf die Fratze der eigenen Brutalität, Feigheit und Unmenschlichkeit nicht zu ertragen ist. Es bedarf der Distanz durch die reflektierende Fiktion.12 Perseus bediente sich des Spiegels seines blanken Schildes, um der Medusa das gräßliche Haupt abzuschlagen.
Literatur Andrade, Elba; Fuentes, Walter (Hrsg.): Teatro y dictadura en Chile. Antologia critica. Santiago de Chile 1994. Dorfman, Ariel: „Der Tod und das Mädchen", in Theater Heute 10 (1992), S. 33-42. : „Der Leser", in Theater aus Chile, hrsg. von H. Adler, M. Hurtado, Frankfurt/ Main 2000, S. 217-270.
10 11
12
Kleines Organonßr
das Theater. Frankfurt/Main 1961, S. 49.
Versuch über die Befreiung. Frankfurt/Main 1969, S. 64 ff.
Reflektieren in der doppelten Bedeutung von spiegeln und von nachdenken.
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Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. München 1990, S. 27. Griffero, Ramon: „Das chilenische Theater zum Ende des Jahrhunderts", in Widerstand und Macht: Theater in Chile, hrsg. von H. Adler, G. Woodyard. Frankfurt/Main 2000, S. 137-148. Marcuse, Herbert: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/Main 1969. Oropesa, Salvador A.: La obra de Ariel Dorfman: Ficción y critica. Madrid 1992.
Heidrun Adler: Promotion an der Universität Hamburg, Hispanistik und Geschichte. Gründungsmitglied der Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika. Publikationen: Politisches Theater in Lateinamerika. Berlin 1982; Theater in Lateinamerika. Ein Handbuch, (hrsg.). Berlin 1991; Theaterstücke aus Mexiko, (hrsg. mit Victor Hugo Rascón Banda). Berlin 1993; Materialien zum Theater in Mexiko, (hrsg. mit Kirsten Nigro). Berlin 1994; Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, (hrsg. mit Kati Röttger). Frankfurt/Main 1998; Geschlechter - Performance, Pathos, Politik, (hrsg. mit Kati Röttger). Frankfurt/Main 1998; Performance, Pathos, Política - de los Sexos, (hrsg. mit Kati Röttger). Frankfurt/Main 1998; Kubanische Theaterstücke, (hrsg. mit Adrián Herr). Frankfurt/Main 1999; Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater, (hrsg. mit Adrián Herr). Frankfurt/Main 1999; De las dos orillas: Teatro cubano, (hrsg. mit Adrián Herr). Frankfurt/Main 1999. Aufsätze zu Lyrik, Roman und Theater Lateinamerikas.
Ramón Griffero
Das chilenische Theater zum Ende des Jahrhunderts TEATRO FIN DE SIGLO:
Theater aus Notwendigkeit und Widerstand
Meine Theaterarbeit hat sich im Rahmen vier unterschiedlicher Kontexte entwickelt: Exil, Diktatur, Übergang zur Demokratie, Demokratie, denn das dramatische Schreiben und das Entstehen einer politischen Poetik sind mit diesen gesellschaftlichen Etappen, aus denen ein von Affekten und Emotionen bestimmtes Schreiben hervorgegangen ist, eng verbunden. Ausgangspunkt war mein Bedürfnis, den eigenen Gedanken im Theater als autonomem Medium Ausdruck zu geben und eine Sprache und Theatertheorie zu schaffen, die durch das Zusammenspiel der Poetik des Raums (des theatralen Formats) und der Poetik des Textes zu einem Theaterdiskurs werden, der sich sowohl von den in Chile existenten Paradigmen der Peripherie abhebt als auch von denen des Zentrums. Heute nehmen die jungen Theatermacher in Chile nicht mehr Bezug auf die Produktion der kulturellen Zentren, also Europa, USA etc., sondern ihre Arbeit rekurriert auf die Generation der 80er Jahre, in denen in Chile ein autonomes Autorentheater entstanden ist. Die Theaterwissenschaft und die Kritik können nicht mehr nur an den überkommenen Paradigmen des Theaters festhalten und ihre Analyse darauf beschränken. Das lateinamerikanische bzw. chilenische Theater muß nicht mehr aus der Perspektive einer nicht existierenden Schriftlichkeit betrachtet oder entziffert werden. 1980-1989: Die Errichtung eines autonomen Theaters als Ort des kulturellen Widerstandes Als meine ersten Theaterstücke Opera para un naufragio und AltazorEquinoccio1 mit dem Universitätstheater von Leuven 2 auf Französisch
1
Stücke von Ramón Griffero sind: Opera para un naufragio (1981), Altazor-Equinoccio (1982), Recuerdos del hombre con su tortuga (1982), Historias de un galpón abandonado (1983), Un viaje al mundo de Kafka (1984), Uugghhtt, Fassbinder (1985), CinemaUtoppia (1985), 99 La Morgue (1986), Fotosíntesis-Pomo (1988), Extasis o la senda de la santidad (1993), Río abajo (1995), Brunch (1998).
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aufgeführt wurden, wurde mir klar, daß sich mein Schreiben direkt gegen Pinochet und an das Publikum meines Landes richtete. Schon in diesem Kontext spürte ich, daß das Theater tatsächlich als Waffe des Widerstandes dienen konnte. Nach meiner Rückkehr mietete ich 1984 mit einigen Schauspielern eine große Halle, die der Gewerkschaft der pensionierten Trolleyfahrer gehörte. Daher tauften wir den Ort E L TROLLEY. Er wurde zum Sitz unserer Theatergruppe TEATRO F I N DE S I G L O , die wir so nannten, weil wir zum Ende dieses Jahrhunderts unser Theaterkonzept entwickeln und gleichzeitig an die Tradition des letzten Fin de siede erinnern wollten. E L TROLLEY war ein klandestiner Ort, denn wir richteten den Saal ohne städtische Genehmigungen ein, die uns die Diktatur ohnehin verweigert hätte. Da wir nicht angemeldet waren, mußten wir auch keine Steuern auf die Eintrittskarten an das Regime abführen. Es war ein autonomes Kulturzentrum „autonom, weil niemand uns etwas gegeben hat, und wir keinem etwas schulden, autonom, weil wir uns autonom gegründet haben und autonom verwalten..." so hieß es in unserem Manifest für ein autonomes Theater von 1985. Den Ort und die Theaterproduktionen finanzierten wir durch große Events - mit Festen, die freitags und samstags, den einzigen Abenden ohne Ausgangssperre, stattfanden. Diese ,Events' wurden zu Zentren des politischen und kulturellen Widerstands. Im TROLLEY lebten wir die Freiheit, die außerhalb seiner Mauern nicht existierte. Die Leute, die dorthin kamen, gehörten zu einer Generation, die schon unter der Diktatur geboren war und sie nicht mehr fürchtete als einen autoritären Vater. Sie begegnete ihren Schrecken mit Ironie und Humor. Für diesen neuen Diskurs stehen Musikgruppen wie die PINOCHET BOYS, LOS PRISIONEROS,
oder FISCALES A D H O C (SO nannte man die Militärrichter), die alle im TROLLEY auftraten. So wurde aus EL TROLLEY ein Ort, an dem Künstler, die durch die Diktatur isoliert und verstreut waren, ihre Arbeit zeigen konnten. Es gab Präsentationen von Kulturzeitschriften, Poesie, Prosa und Comic-Strips, Kurzfilmvorführungen, Tanz- und Theateraufführungen, etc. Der Motor des Zentrums war das TEATRO FIN DE SIGLO mit seinen Inszenierungen. Es war klar, daß wir nicht so reden und Theater spielen durften, wie sie es taten. Und mit sie meine ich nicht nur die offiziellen künstlerischen Ausdrucksformen, sondern auch die Kunst der Dissidenten. Das Theater der „Linken" hatte nicht nur seine Glaubwürdigkeit auf der Bühne einINDICE DE DESEMPLEO
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Ramón Griffero w a r von 1973 bis 1982 im Exil. In Leuven, Belgien leitete er das Universitätstheater. (Anm. der Herausgeber)
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gebüßt, sondern auch seine Fähigkeit, das Publikum zu überraschen. Es mußte eine neue politische Poetik gefunden werden, die ein Publikum erschüttern konnte, das in einer erschütternden Wirklichkeit lebt. Inszenierungen unter der Diktatur zwischen 1983 und 1988: ein Zustandsbericht unseres Landes und unserer Gefühle Unsere erste Inszenierung in E L TROLLEY, Historias de un galpön abandonado, nutzte die Halle als Hülle für die Handlung. Den verlassenen Raum füllten wir mit alten Möbeln, und in der Mitte stand ein riesiger Schrank, der in verschiedene Ebenen unterteilt war: Öffnete man ihn, sah man den Salon eines Palastes, in dem die Eliten leben, die in der Halle das Sagen haben. Die Bewohner der Halle hingegen irren umher auf der Suche nach dem, was man ihnen sowohl geistig als auch körperlich entzogen hat. Zum Beispiel die Lehrerin mit ihrer Lampe, die ihre letzten Bücher hütet oder die Frau, die mit ihrem Auto auf der Suche nach ihrem verschwundenen Mann ist. Die Halle stand als Metapher für ein verlassenes Land, für seine verlassenen Menschen, die den Perversionen ihrer Beherrscher ausgeliefert sind, die ihnen eine glänzende Zukunft versprochen hatten. In diesem ersten Stück arbeiteten wir mit einer Theatersprache, die Elemente des lateinamerikanischen Kitsches mit parodierten Versatzstücken aus der musikalischen Komödie, der Oper und dem Ballett verknüpft. Die Figuren aus dem Kleiderschrank sind grotesk und karnevalesk überzeichnet, während die Bewohner, die an diesem verlorenen Ort Schutz suchen, ein schlichter poetischer Realismus kennzeichnet. Der Mißbrauch findet auf sexueller und psychologischer Ebene statt. Die Bewohner der Halle werden Prüfungen unterzogen, durch die festgestellt werden soll, ob sie dem neuen Gesellschaftsclub angehören dürfen oder nicht. In der Inszenierung spielte das plastische und choreographische Element eine wichtige Rolle. Die Hallenbewohner leben zwischen den alten Möbeln und sehen die Welt durch die Scheiben einiger Möbelstükke, die von innen beleuchtet sind. Es ging nicht um die Rekonstruktion des ewig Alltäglichen, wir wollten vielmehr den Seelenzustand zeigen, in dem wir diese riesige und verlassene Fabrikhalle unseres Alltags, d.h. Chile, bewohnten. Das Theater war ein politisches Sprachrohr. Die Zuschauer kamen in E L TROLLEY wie zu einem Treffen im Untergrund und erfuhren durch das Theater, daß sie nicht allein waren, daß jemand öffentlich das Unsagbare aussprach, daß wir noch nicht aufgegeben hatten. All dies war
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unter einem Regime, das absolute Kontrolle über die Medien hatte, nicht selbstverständlich. Nach zehn Jahren Diktatur konnte man eigentlich davon ausgehen, daß die Eindimensionalität schon überall Einzug gehalten hatte. Daher war das Theatermachen für uns überlebensnotwendig. Wer als Schauspieler, Bühnenbildner oder Autor für das Theater im Widerstand arbeitete, wußte, daß er seine Existenz aufs Spiel setzte, daß ihm jede andere Arbeit verboten werden konnte. Nach dieser ersten Erfahrung mußten wir einen Schritt weiter gehen. Wir fühlten, daß es ganz wichtig für uns war, eine starke Position im Künstlerischen zu behaupten, damit unsere Arbeit auch im Politischen bestehen konnte. Das politische Pamphlet im Theater wäre viel zu platt gewesen und die Vermittlung von Ideologie zu klischeehaft. Mein Wunsch war zu zeigen, d.h. die Wahrnehmung über die Emotion und nicht über die Ratio stattfinden zulassen. Ich wollte eine Durchleuchtung der Realität vornehmen, aber als Fiktion. Cinema-Utoppia 1985 fand die Uraufführung von Cinema-Utoppia statt. Ohne daß es unsere Intention gewesen wäre, wurde das Stück formal wie auch inhaltlich zur Bruchstelle in der chilenischen Theatertradition. Wir verwandelten EL TROLLEY in ein altes Kino der 50er Jahre, das Teatro Valencia. Die letzten treuen Zuschauer kommen in die letzte Filmvorführung. Die Stimmung bei den Figuren/Kinobesuchern ist von bedrückender Nostalgie. Den seit Jahren vereinzelten und einsamen Wesen gelingt es erst in der letzten Vorstellung miteinander zu kommunizieren. Diese Wesen im Kino waren auch wir, isoliert und allein, und wir sahen die Greuel, von denen wir nur hinter vorgehaltener Hand wußten, wie einen Film. Im Stück sah man auf der Leinwand einen Zukunfts-Film (aus der Perspektive der 50er Jahre). Er handelt von jungen Leuten im Exil in den 80er Jahren (die allerdings nicht wie die bärtigen und mutigen jungen Männer aussahen, wie man sie sich vorstellte, sondern die als schwache Menschen und Außenseiter mit all ihren Leidenschaften und verdrängten Erinnerungen dargestellt werden, eine verhaftete /verschwundene Freundin, ein homosexuelles Paar, Heroin etc.). Der Film, den wir - wie die Zuschauer im Stück - nicht verstehen konnten, war die Metapher unserer eigenen Wirklichkeit. Das Land war ein großes Kino und wir die Zuschauer eines Films, den wir nicht verstanden.
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Diese Inszenierung ist der Ausgangspunkt für mein Theaterverständnis (in Bezug auf das Schreiben und Inszenieren). Sie ist die Symbiose zweier Poetiken, die sich im Raum vereinen. Das Bühnenformat nehme ich als Quader wahr; als Raum, der kein vorgefertigtes Modell oder keine fertige Ideologie enthält; als Raum, der in Fiktion umgesetzt werden muß und in dem jede Inszenierung durch das Schauspiel, die Beleuchtung etc. einen eigenen Schriftzug, eine eigene Sprache entwikkeln muß; als Raum, in dem keine bestehenden Modelle nachgeahmt werden sollen. Das Kino hat ein Rechteck zum Format ebenso wie das Fernsehen; Fotographie und Plastik entstehen innerhalb dieses Rechtecks, die Umrandung der Guckkastenbühne ist ebenfalls ein Rechteck. Unsere Weltsicht und -Wahrnehmung haben wir in diese geometrische Form gebracht und daraus unsere Erzählformen entwickelt. So auch die Erzählform des Raumes. Mein einziges Paradigma ist das Rechteck, der Bühnenraum, den wir in einen fiktiven Raum verwandeln müssen. Da das Kino eine der zuletzt entstandenen visuellen Erzählformen ist, hat es neue Sichtweisen im Umgang mit dem Bildausschnitt hervorgebracht. Die Elemente der räumlichen Sprache des Films sind grundlegend für die Anwendung auf die Dreidimensionalität der Bühnenkunst. Ich muß die Bühne zum Film machen, um filmisches Theater machen zu können. Dabei ist zu betonen, daß filmisches Theater nicht den tatsächlichen Einsatz von Film oder Video auf der Bühne meint, sondern die Umwandlung von filmischen Codes in theatrale Sprache. Zwischen 1985 und 1987 entstehen ferner Un viaje al mundo de Kafka und Uugghhtt, Fassbinder, filmisches Theater über Ausschnitte aus verschiedenen Fassbinder-Filmen zum Thema Homosexualität und Heterosexualität. Die Bühne war ein Filmset, der von Querelle zu Katzeimacher zu Petra von Kant wechselte. Es war eine Inszenierung aus räumlichen Fragmenten und (Film-)Einstellungen, die eine politische Position zur Sexualität einnahm. 99 La Morgue Das letzte Stück, das wir in EL TROLLEY inszenierten, war 99 La Morgue, das 1987 während des Ausnahmezustandes uraufgeführt wurde. Das Land war schon längst ein Leichenschauhaus. Das Stück zeigt das Leichenschauhaus mit dem Autopsie-Tisch und der Wand mit den Kühlfächern für die Leichen als multiplen Raum. Im Vordergrund standen hohe grüne Wände, hinter denen sich andere Räume verbargen. Das Bühnenbild von Herbert Jonckers war ein richtiger Filmset, in dem die
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Einstellungen wechselten. Die Mauern des Leichenschauhauses wurden zu den Mauern der Stadt, in der eine Frau entführt wird, die Wände öffneten sich, und man sah Bilder aus der Vergangenheit. Durch den Bühnenaufbau konnten die Schauspieler gleichzeitig zu den szenischen Sequenzen erscheinen. Statt mit Auf- und Abgängen bzw. black-outs arbeiteten wir mit Überblendungen. Das Stück beginnt mit einem Staatsstreich und der Ankunft eines neuen Leiters des Institutes für Gerichtsmedizin. So gelangt der Terror der Straße auch an den Ort der Toten. Die Schutzheilige von Chile, die Heilige Jungfrau von Karmel, lebt im Leichenschauhaus, und unter dem Autopsietisch hocken die gelähmten Gründungsväter des Vaterlandes. Der Direktor des Leichenschauhauses fälscht die Autopsieberichte von Tod unter Folter in Tod durch Unfall und vergeht sich nachts an den Leichen. Germán, ein junger Arzt im Praktikum, bemerkt die Unregelmäßigkeiten und findet ständig rote Fische im Innern der Leichen. Ein junger Mann, der von der Folter wiederaufersteht, hält sich lieber im Leichenschauhaus versteckt, als sich wieder in den Terror zu begeben, der draußen herrscht. Am Ende vermischt die kollektive Demenz, die im Inneren des Leichenschauhauses herrscht, Wirklichkeit mit Paranoia. Und der junge Mediziner endet in geistiger Verwirrung. Die Normalität war das Anormale und das Anormale die raffinierteste Form von Legalität. Es war ein sehr heftiges Stück über die Erinnerung und über die mentalen Abnormitäten. Als 1988 das Plebizit gegen Pinochet gewonnen und mehrere freie Kulturzentren eröffnet wurden, endete für El TROLLEY die Zeit als Ort des Widerstandes. Seine Aufgabe war erfüllt, und in dem neu entstehenden Kontext hatte E L TROLLEY keine Daseinsberechtigung mehr. Der kreative Autismus zwischen 1989 und 1993 Die Rückkehr zur Demokratie bewirkte bei mir und vielen anderen chilenischen Künstlern eine Art schöpferischen Autismus. Angesichts der veränderten Situation stellte sich uns die Frage, von wo aus wir schreiben sollten. Die Funktion bzw. Rolle des Theaterkünstlers unter der Diktatur war mir völlig klar gewesen, und ich mußte die Zielrichtung meiner Stücke und die Leidenschaft, die mich zum Schreiben trieb, nicht suchen. Doch wo sollte eine neue politische Poetik herkommen, jetzt da die ersehnte Demokratie gekommen war, wo konnten wir einen neuen Antrieb finden? Worüber sollten wir schreiben, wenn nicht nur um des Schreibens willen, welche Rolle spielten wir in einer Demokratie,
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die es siebzehn Jahre lang nicht gab? Wir mußten unserem Berufsleben wieder Sinn verleihen. In dieser Zeit entstanden Erzählungen und Theorie, doch erst 1993 führte ich wieder ein Stück auf, Extasis o la sendet de la santidad. Es geht um den Lebensweg eines jungen Mannes, der Heiligkeit erlangen möchte. Er geht verschiedene Wege: den der Liebe, den des Bösen, um dem Teufel zu begegnen, er streift durch Grünanlagen und wird zum Strichjungen für Männer und Frauen. Am Ende geht er zum Militär, wo er gezwungen ist zu morden. Der Mann, der die kollektiven Utopien verloren hat, konzentriert seine Energie auf die Suche einer individuellen Utopie, nämlich ein Heiliger zu sein. Dadurch gerät er in Konflikt mit seiner Umwelt, die kein Anderssein zuläßt, sondern nur Uniformität akzeptiert. (Der Prozeß des Übergangs zur Demokratie in Chile wurde als „Versöhnung" deklariert, wodurch jeder kritische Gedankengang oder alles, was in irgendeiner Weise unserer Versöhnung im Wege stehen könnte, der Selbstzensur unterlag.) Extasis war ein verstörendes Stück. Zwar gab es nicht mehr die Zensur des autoritären Regimes, und wir befanden uns auch nicht mehr in der Außenseiterrolle wie zuvor. Es gab aber sehr wohl eine Zensur durch die Massenmedien, die kaum über die Inszenierung berichteten, die auf dem Internationalen Festival für Zeitgenössische Dramatik in Veroli, Italien uraufgeführt wurde. Die kritische Haltung und die Theaterarbeit überhaupt wurden wieder an den Rand gedrängt, nicht so sehr, was ihre Präsenz in öffentlichen Räumen anging, aber in Bezug auf ihre geringe Verbreitung im Vergleich zu Fernsehen und Zeitungen. Für mich stellt das Stück einen weiteren Schritt in der Formulierung einer Dramaturgie des Raumes dar. Diese Dramaturgie basiert diesmal nicht auf dem architektonischen Aspekt der Bühne, sondern allein auf der Transformation der Körper und dem von ihnen gezeigten Bildausschnitt in Relation zu den verschiedenen Räumen, die sie darstellen. 1995-1999: Die Rückkehr zum politischen Schreiben Mit Rio abajo, inszeniert vom TEATRO N A C I O N A L , fand ich zum politischen Schreiben in der Demokratie zurück. In dem Stück wird das Chile nach der Diktatur in einem dreistöckigen Wohnblock dargestellt, in dem die neuen gesellschaftlichen Außenseiter wohnen. Einmal diejenigen, die eine unbequeme Vergangenheit haben: Der ehemalige Folterknecht, der jetzt als Drogenhändler arbeitet, lebt in dem Haus mit der
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Witwe eines Verhaftet-Verschwundenen zusammen. Sie wartet immer noch auf ihren Mann und steht stellvertretend für die jüngste Geschichte. Die anderen Bewohner stehen für die Jugend im heutigen Chile, die nicht am wirtschaftlichen Aufschwung teil hat bzw. wegen ihrer Herkunft im Abseits steht: Die Dicke aus dem dritten Stock, der junge Schwule, die Tochter des Folterers mit ihrem übersteigerten gesellschaftlichen Ehrgeiz und Waldo, die Hauptperson, der seine Einsamkeit mit dem Fluß und dessen Geistern teilt. Die Inszenierung stand mehr als zwei Jahre auf dem Spielplan und machte deutlich, daß es ein Bedürfnis gab, sich mit dem gesellschaftlichen Gedächtnis auseinanderzusetzen. Das Stück wurde auch in Bogotá und in Argentinien gespielt und in Frankreich unter dem Titel A la dérive inszeniert. Aus der horizontalen Raumanordnung von Cinema-Utoppia wird hier eine vertikale Ausrichtung: Sieben Wohnungen und Existenzen sind parallel zu sehen, eine Vielfalt von Fragmenten und Geschichten, die sich räumlich gesehen zu einem Ganzen zusammenfügen. In meinem letzten Stück Brunch, das vor kurzem vom TEATRO N A CIONAL uraufgeführt wurde, löst sich der Text aus seiner absoluten Bezogenheit auf das Bühnenbild und erweitert sich auf die Gedankenwelt eines zum Tode Verurteilten. Er ist verurteilt durch seine Gedanken, verurteilt durch seine reine Existenz, verurteilt, weil er ein VerhaftetVerschwundener ist, verurteilt in einer Umwelt, in der es keinen Platz für ihn gibt. Während er auf die Hinrichtung wartet, schreibt er Geschichten, die er dem Wachmann erzählt und die theatral umgesetzt werden. Durch die Poetik des Raumes entstanden zwei identische Bühnenbilder. Das eine im Vordergrund, das zweite im Hintergrund, getrennt durch Glaswände. Durch das Spiel des Lichts verdoppeln sich die Personen. Die Erzählung des Stücks wurde so teils parallel wiedergegeben, teils auf anderer Ebene. Der Text des Stücks ist auf das Jahrtausendende gerichtet, an dem wir zum einzigen Mal die Dinge vom Ende her betrachten können. Mit dem Ende des Jahrhunderts endet auch das TEATRO FIN DE SIGLO. Bei seiner Gründung sollte das Theater das umsetzen, was wir damals - als junge Menschen - als das unsrige empfanden. Es sollte unsere Weltsicht und unser Land in einer Theatersprache zeigen. Wir hoffen, daß sich unsere ersten Träume zumindest teilweise erfüllt haben.
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Theoretischer Exkurs: Die Dramaturgie des Raums Am Jahrtausendende befinden wir uns in einer Phase des Wandels. Die Perspektiven in der Wahrnehmung unserer Umwelt verändern sich, bisher gültige Paradigmen werden außer Kraft gesetzt und Schemata des gesellschaftlichen Denkens verkehren sich. Es heißt, uns stehe ein neues Mittelalter bevor, in dem die Eindimensionalität wieder die Herrschaft übernimmt (als Folge der Globalisierung), oder daß wir uns in einer neuen Renaissance befinden, die alle bestehenden kulturellen Bezüge neu kodifiziert und in allen Äußerungen Fragmente aus unserer Imagination offenlegt. Es gibt eine neue Autonomie in Bezug auf das Zentrum, denn in den Bereichen des Denkens entstehen neue Zentren, die unabhängig sind von der klassischen Hegemonie der Industrieländer. Der Wandel des Geistes der Epoche läßt sich nicht bestreiten. Und auch die Bühne - als Ort der Reflexion, Abstraktion bzw. des Unterbewußtseins unserer Umwelt - erreichen die Wellen der Geschichte. In allen Codes und Texten der Theatersprache und in der sinnlichen Wahrnehmung der Theatermacher hallt das Echo des Jahrhundertendes. Innerhalb der Pluridimensionalität der Bühnenkunst verspürt man es im Zerbrechen der „szenischen Wahrheit" der als Dogmen tradierten Formen des Theaters. Die „szenische Wahrheit" ist die Essenz eines Paradigmas, die uns eine Inszenierungsmethode an die Hand gibt; es ist der Glaube, auf den sich Schüler und Anhänger einer Methode stützen. Das Zerbrechen der „szenischen Wahrheit" eines Theatermodells ist eng mit dem Zerfall der ideologisch-künstlerischen Postulate verbunden, auf das es gründete. Der Wahrheitsverlust der vorherrschenden Theaterparadigmen bzw. Modelle von Wirklichkeitsdarstellung betrifft die Integrität der Theatersprache, die narrative Struktur des Textes, das Ordnungssystem der theatralen Zeichen und grundlegend die Form, wie ein Schauspieler Emotion und die damit verbundenen gestischen Hieroglyphen übersetzt. Von einer anderen Warte aus betrachtet demonstriert uns die Erfahrung des Zerfalls ideologischer Wahrheiten, daß das Zerbrechen einer Wahrheit das Ende einer Macht, einer Denkweise und in diesem Fall einer künstlerischen Arbeitsweise beinhaltet. Die Theatralität der Moderne basiert auf der Fotokopie von Modellen und im Fall Chiles vor allem in der Aufbereitung der Forderungen von Stanislavski, Brecht, Barba und des sogenannten Armen Theaters bzw. Volkstheaters. Diese Modelle erschöpfen sich, da sie schon vorher definierten künstlerischen Prinzipien verhaftet sind. Man darf nicht ver-
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gessen, daß die Methode von Stanislavski eine Reaktion auf den Verlust des vorangegangenen Theatermodells war, des Theaters der Schauspielstars, während die Brechtsche Ästhetik als ideologische Alternative zur „szenischen Wahrheit" des bürgerlichen Theaters entstand. Ein Schauspieler in schwarzem Trikot, der mit Armbewegungen einen Baum mimt, oder eine Gruppe von Frauen in Unterwäsche (falls dies je ein Zeichen von Innovation gewesen ist) wirken durch die Veränderung der Wahrnehmung nur noch naiv, genau wie die verstellte Stimme des Liebhabers, der ernsthafte und didaktische Effekt der Brechtschen Verfremdung oder die Ethno-Masken und die Stelzen einer Gruppe von Barba-Schülern. Es ist das gleiche Gefühl, wenn wir alte Fotos betrachten und über unsere Aufmachung von damals lächeln. Wo sind die Texte, die uns das Schreiben und Schauspielen im Einklang mit der neuen Wahrheit lehren? Die szenische Wahrheit von heute. In welchem Modell ist sie zu finden? Wo ist die Methode, die wir lernen und weitertragen können, wo finden wir sie? Die szenische Wahrheit ist schizophren geworden, da sie nicht mehr einem einheitlichen Ganzen bzw. organisch strukturierten Modellen unterliegt. Es ist ein besonderer Augenblick, denn in dem Maße, wie die großen Wahrheiten in sich zusammenstürzen, verschwinden auch die Limitierungen, die sie uns gesetzt haben. Dadurch öffnet sich der Weg zu einer Theatralität, die sich auf die künstlerische Schaffenskraft und Wahrheit konzentriert, die allein für und im Autor und Theatermacher existiert, der seine Wahrnehmungsfähigkeit auf sein Schaffen richtet und dabei als Bezugspunkt die gesamte kulturelle Tradition nimmt, in der er lebt, ohne dabei seine Arbeit rechtfertigen oder an ein bestehendes Modell anpassen zu müssen. Damit soll nicht die Gültigkeit von älteren Methoden oder Prinzipien negiert werden. In dem neuen Kontext werden sie jedoch nicht mehr dogmatisch gehandhabt, was ermöglicht, sie als Teil einer allgemeinen Tradition zu sehen. Die neue Bühnensprache führte zu einer Vorherrschaft des Regisseurs, da er durch seine direkte Beziehung zur Aufführung diese Sprache erzeugt und die dramatischen Texte neu strukturiert und bearbeitet. Daraus folgerte man eine Entwertung der Rolle des Autor, zumal das dramatische Schreiben in eine thematische Krise geraten und die ideologische und psychologische Motivation verloren gegangen war, und man angesichts des Zerfalls der bestehenden Modelle in einer Strukturkrise steckte.
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Die junge chilenische Dramatik eignet sich die Theatralität unter den veränderten Gegebenheiten neu an. Der Autor ist nun frei von den Anforderungen bestehender Modell, von einem auferlegten gesellschaftlichen Engagement und von der Verpflichtung, transzendent zu sein. Heute bewegt sich das Transzendente in der unsichtbaren Welt der Sinne, während das große kollektive Unterbewußte untergegangen bzw. fragmentiert ist. Das Thema, das die kollektiven Leidenschaften hervorruft, ist seinerseits schizophren geworden. Dadurch ist das Theater wieder auf sein einzig gültiges und abstraktes Format verwiesen worden: den Raum der Aufführung. Der Raum als bestimmende Einheit, in der die gestischen Hieroglyphen des Schauspielers, seine Kinesis und die Äußerungen seiner Emotionen sich allein auf die Bedürfnisse der Inszenierung abgestimmt entwickeln. Der Raum wird gelesen, erdacht, rekonstruiert, inszeniert. Es ist der Begegnungsort aller Künste und Kulturformen; von Kino, Video, Tanz etc. Notwendigerweise bringt das Herausarbeiten der Codes eines Stückes und deren Inszenierung die Formulierung abstrakter, symbolischer und ideologischer Bilder mit sich, aus denen ein Subtext und eine vielschichtige und vom Autor geprägte Sprache entsteht. Potenziert durch das geschriebene Wort, das gleichzeitig Bild ist, ist aus dieser Symbiose von Poetik des Raumes mit der Poetik des Textes meine Arbeit entstanden, die ich als Dramaturgie des Raumes bezeichnet habe. In einer Gesprächsrunde im HAUS DER KULTUREN DER WELT in Berlin
konnte dies vor den deutschen Kritikern und Wissenschaftlern nicht bestehen, da sie unser Theater immer noch von ihren Parametern aus interpretieren und in ihm das Eigene suchen. Sie vergleichen unsere Dramatik mit der ihren und können nicht die umgekehrte Lektüre zulassen, nämlich daß unsere Autoren eine schöpferische Autonomie haben. Genauso geschieht es in dem vor kurzem erschienenen Buch von Patrice Pavis über „Stimmen und Bilder des zeitgenössischen Theaters", in dem die Modelle zum zeitgenössischen Theater nur der europäischen Dramatik entsprechen, während das zeitgenössische Schaffen außerhalb Europas nicht beachtet wird. Zum Abschluß meiner Überlegungen läßt sich festhalten, daß die Veränderungen in der Bühnenkonzeption an diesem Jahrtausendende zu einer Neubelebung der Theatralität geführt haben. Für den chilenischen Fall bedeutet es, daß man sich nicht mehr darauf beschränkt, die Modelle A oder X nachzuahmen oder zu fotokopieren, sondern daß aus der imaginären Konfrontation mit dem Raum und dem szenischen Text ein eigenständiges Theater entsteht. Der Schritt von der Kopie zur eigenen
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Urheberschaft ist ein entscheidender Augenblick in der Neubestimmung unserer Theatralität. Er ermöglicht uns, die tiefgehende Veränderung in unserer Art zu sehen und zu denken theatral umzusetzen und damit Grenzen zu überschreiten. So kann unsere Erfahrung zu einem Beitrag zum zeitgenössischen Welttheater werden. Deutsch von Almuth Fricke
Ramón Griffero (1954): Autor und Dramaturg. Von 1979 bis 1982 leitete er das Universitätstheater von Leuven, Belgien. Gründer und Leiter des CENTRO CULTURAL E L TROLLEY und des TEATRO FIN DE SIGLO in Santiago de Chile, 1983 bis 1988. Er gilt als Erneuerer der chilenischen Szene in den 80er Jahren. Seit 1991 leitet er das TEATRO ITINERANTE des Erziehungsministeriums. Werke: Opera para un naufragio (1981), Altazor-Equinoccio (1982), Recuerdos del hombre con su tortuga (1982), Historias de un galpón abandonado (1983), Un viaje al mundo de Kafka (1984), Uugghhtt, Fassbinder (1985), Cinema-Utoppia (1985), 99 La Morgue (1986), Fotosíntesis-Porno (1988), Extasis o la senda de la santidad (1993), Río abajo (1995), Brunch (1998).
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Reiteration, Reinskription und Reproduktion: Sergio Arraus Vallejo Die Untersuchung des 1990 von Sergio Arrau1 geschriebenen Stückes Mi Vallejo: Paris ...y los caminos konzentriert sich auf den biographischen Aspekt des dramatischen Textes. Die Analyse wird sich teilweise auf Untersuchungen zur fiktionalen Biographie von Ina Schabert und David Epstein stützen. Obwohl beide sich mit dem narrativen Text beschäftigen, sind ihre Ergebnisse, die für eine bestimmte literarische Form gelten, die biographische Daten und Vorgehensweisen benutzt, vorzüglich auf ein Stück wie Mi Vallejo: Paris ...y los caminos anwendbar. So deuten wir den Titel, den Arrau gewählt hat, in diesem Sinne emblematisch für den biographischen Blick des dramatischen Textes. Aus dieser Sicht besteht er aus zwei Teilen. Der erste, Mi Vallejo: Paris, steht im Singular, ist hinweisend, speziell und bedeutungsschwer. „Mi" (mein) weist auf Authentizität und kulturelles Eigentum hin; „Vallejo" auf die Identität einer literarisch/kulturellen Ikone; „Paris" auf eine vorherrschende Kultur. Im Gegensatz dazu suggeriert „...y los caminos" (und die Wege) einen mehrdeutigen Bruch. Es steht im Plural, ist offen und ungenau. Wir werden zeigen, daß Arraus Text beide Teile widersprüchlicher Bedeutung, die der Titel birgt, unmittelbar bestätigt. Er versucht dabei, einen Vallejo zu retten, der von den vielen biographischen Geschichten befreit ist, die über Jahrzehnte von Zeitgenossen, die ihn persönlich kannten, und von der Literaturkritik fabriziert worden sind, der aber im Einklang ist mit den poetischen Stimmen, die in seinen Gedichten zu hören sind.
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Sergio Arrau Castillo (1928) organisierte nach der Wahl Allendes Volkstheatergruppen in den Armenvierteln von Santiago. Zusammen mit Orlando Rodríguez und Víctor Torres gründete er die ART Theaterworkshops. Seine Stücke Lisistrata Gonzalez, Un tal Manuel Rodríguez und Nosotros los de abajo stammen unter anderen aus dieser Zeit. Nach dem Militärputsch von 1973 fand Arrau eine neue Heimat in Peru, wo er erfolgreich weiterschrieb: Santa María del salitre, Bodas de plata, Mi Vallejo: Paris ...y los caminos etc. Für seine Stücke erhielt er Anerkennungen bei Ausschreibungen wie z. B. Andrés Bello und Casa de las Américas. Geschichte ist für Arrau von ganz persönlichem Interesse und spielt eine bestimmende Rolle in seinen Stücken.
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Mi Vallejo: Paris ...y los caminos erschien 1990, nur zwei Jahre nach einer Fülle wissenschaftlicher Kongresse und öffentlicher Ehrungen zum 50. Todestag des Dichters. Im Gegensatz zu den vielen Bänden mit Aufsätzen und Anthologien zum selben Thema steht der dramatische Text für sich selbst. Er ist eine dramatische Collage aus Fragmenten von César Vallejos lyrischen Gedichten und Essays, aus Gerichtsakten, Briefen und Biographien, die sein Leben betreffen. Diese alternieren im dramatischen Text mit kurzen fragmentierten Szenen, die den Dichter und andere Figuren zeigen. Die Besetzung besteht aus César Vallejo, von dem einzigen Schauspieler auf der Bühne dargestellt, mehreren Marionetten und großen „Puppen" im Stil des traditionellen peruanischen Theaters2, aus Stimmen ohne Körper sowohl anonymer wie identifizierbarer Personen aus Vallejos Leben und dem undeutlichen Schatten des Todes. Der Text ist linear gebaut, indem er die meisten der Gedichte Vallejos und das zitierte oder paraphrasierte Material in konventioneller, wenngleich nicht immer leicht erkennbarer chronologischer Reihenfolge bringt. Eine Anspielung auf die Vorgehensweise von Richter Elas Iturry, der Vallejo 1920 ins Gefängnis in Trujillo warf, findet sich zum Beispiel vor einer Gruppe von Zitaten aus El arte y la revolución, das in die Pariser Zeit nach 1921 gehört, und diese wiederum gehen den meisten Bezügen auf España, a-parta de mí este cáliz aus 1938 voran. Ein anderes organisierendes Schlüsselelement ist der musikalische Hintergrund. Er besteht aus einer Reihe leicht erkennbarer Musikstücke, die auf bestimmte Orte und Begebenheiten anspielen und auf diese Weise nicht nur die Chronologie unterstreichen, sondern Vallejos Leben als Ganzes zeigen. Text und Dialog, die sich auf die frühen Jahre in Santiago de Chuco beziehen, werden von einem Huayno3 begleitet. Den Umzug nach Lima zeigt ein Vals4; den nach Paris ein paar Takte aus Die Internationale; den nach Spanien Joaquín Rodrigos Concierto de Aranjuez. Die Hochzeit des Dichters mit Georgette Philippart 1934 wird vom Hochzeitsmarsch gekennzeichnet; aufeinander folgende Reisen nach Moskau von Die Wolgaschiffer und schließlich sein leidenschaftliches Engagement für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg mit dem Lied Los cuatro generales.
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Siehe dazu Publikationen von Lucia Lockert und Lady Rojas-Trempe über den Gebrauch von Masken, Marionetten, Kleidung, Musik etc., wie sie die Theatergruppe YUYACHKANI vor allem in den 80er Jahren benutzten. Lied der Quechua-Indianer. Ein vals limeno ist ein Tanz im 3 / 4 Takt, aber kein Walzer. (Anm. d. Ü.)
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Als generative Vorgabe des Stückes dient eine rückblickende Meditation des bereits gestorbenen Vallejo über den nahenden Tod. Ina Schaber bezeichnet diese Vorgehensweise als herausragendes Merkmal fiktionaler Biographien. Im erzählenden Genre wie im dramatischen Text liefert sie die Möglichkeit eines gebrochenen Diskurses, wie wir ihn in Arraus Titel bereits nachgewiesen haben: [...] Meditation über den nahenden Tod bietet die Möglichkeit an, das Leben in einem letzten Rückblick und darüber hinaus aus einem ganz persönlichen Blickwinkel zu zeigen. [...] Erfahrungen von Identität, die auf das gesellschaftliche Leben und das Leben danach ausgeweitet werden, führen vom individuellen Kern einer Person weg, werden von einer starken zentripetalen Kraft ausgeglichen, da das Bewußtsein subjektiver Identität im Augenblick ihrer vorweggenommenen Auslöschung ebenfalls eine außerordentliche Intensität erfordert. (1990:194)
Wenn der Vorhang aufgeht, visualisiert die Bühne in der Tat die erste Hälfte der von Schabert beschriebenen Dualität. Mi Vallejo: Paris ...y los caminos könnte eine passende Unterschrift unter dem ersten Bild sein, das dem Zuschauer geboten wird: „In der Mitte eine Parkbank. [...] Auf der Bank sitzt César Vallejo und meditiert, der Hut ruht auf einem Knie." (1993: 105) Arraus Bühnenanweisung ist eine Anspielung auf das berühmte schwarz-weiß Profil, das Juan Larrea von dem nachdenklichen, ausgemergelten Vallejo im Park von Fontainebleau, Paris April 1926, gemacht hat, und das im Lauf der Jahre in zahllosen Publikationen verbreitet worden ist. Diese oft erschienene Photographie des lateinamerikanischen Dichters, der am Rande der französischen Gesellschaft sein Leben fristet, ist zu einer Ikone geworden. Dieses Bild und die gewöhnlich damit verbundenen Assoziationen und Reaktion lösen sich jedoch sofort auf, wenn Vallejo sich aufrichtet und zum Publikum spricht: „Ich starb in Paris, im Regen, an einem Tag, an den ich mich wirklich nicht mehr erinnere. Und was bedeutet das schon? Man stirbt, und es ist zu Ende, sei es in Paris oder in Timbuktu." (105) Die bittere Parodie auf Piedra negra sobre una piedra blanca ist eine radikale Abkehr von den Themen ,Peruanische Identität' und ,Marginalisation', die visuell mit dem fast photographisch getreuen Bühnenbild und lyrisch mit den traurigsten Zeilen aus den Poemas humanos assoziiert werden. Die Veränderung des visionären Originaltextes „ich werde in Paris sterben, im Regen, an einem Tag, an den ich mich bereits erinnere" zur prosaischen Äußerung „ich starb an einem Tag, an den ich mich nicht mehr erinnere", steht in schockierendem Gegensatz zu dem thematischen Reper-
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toire, das gewöhnlich mit Vallejos poetischer und sozialer Identität assoziiert wird. Arraus Vallejo entzieht der möglichen Erwartung des Publikums, was seine eigene Identifizierung als Peruaner oder Lateinamerikaner angeht, sofort jede Basis und erinnert auf diese Weise an das Possessivpronomen des Titels. Wahrscheinlich würde Mein Vallejo nicht gleichgültig der Aussicht auf ein Begräbnis auf dem Pariser Friedhof Montrouge (wo er tatsächlich ruht) oder in dem exotischen Timbuktu entgegensehen. Vielmehr würde Mein Vallejo es vorziehen, in seiner Heimat Santiago de Chuco zu ruhen, was hier nicht einmal genannt wird. Diese Äußerung der Figur widersetzt sich entschieden einer Reduzierung Vallejos auf ein flaches schwarz-weiß Bild, wie er von vielen akademischen und „ehrenden" Publikationen bewundert wird. Gerade diese einschränkende Tendenz charakterisiert jedoch die populären und gelehrten Darstellungen Vallejos. Americo Ferrari weist auf die große Zahl eindimensionaler Vallejos hin, die die Kritik seit seinem Tod 1938 produziert hat, und auf die unerbittliche ästhetische und politische Dychotomie zwischen den unterschiedlichen Interpretationen: [...] viele Kritiker lesen und interpretieren nicht nur einen besonderen Vallejo, sondern verteidigen und verbreiten dieses Bild auch noch, mehr als einmal, mit ungewöhnlicher Schärfe gegenüber anderen. [...] Allein diese Leidenschaft der Vallejo-Interpreten könnte als Beweis dafür gelten, daß der peruanische Dichter in seinem Jahrhundert ein einzigartiger Dichter ist. (1988: 27)
Eine der verbreitetsten Versionen dieses Vallejo setzt ihn „an den Scheideweg des peruanischen Dramas", eine Position, die von Arraus Protagonisten sofort verworfen wird. Die Meditationen seiner Figur zu ihrem nahenden Tod suggerieren einen Vallejo, dessen Identität keineswegs ausschließlich oder gar entschieden von Heimweh5 gekennzeichnet ist.
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Ernesto More's Vallejo, en la encrucijada del drama peruano zeigt den Dichter als den typischen peruanischen Cholo. In seinem Buch Al amor de Vallejo (1980) spricht Juan Larrea von einem metaphysischen Vallejo, der nur als Jung'sche gebrochene Persönlichkeit verstanden werden könnte. George Lambies El pensamiento político de César Vallejo y la Guerra Civil Española (1993) konzentriert sich auf Vallejo als
marxistischen Intellektuellen und engagierten Kommunisten. Ein Aufsatz von Max Silva Tuesta, César Vallejo: Vida y Obra (1994 von Roland Forgues publiziert) zeigt den Dichter als Opfer eines Tantalus-Komplexes und seine literarische Ar-
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Über die generative Eingangsszene hinaus ist der dramatische Text als doppelte Reihe von Zitaten und Paraphrasen aus Vallejos bekannten oder weniger bekannten Werken, dramatischem Dialog etc. strukturiert. Diese beiden Textstränge präsentieren Vallejo aus wechselnder Sicht. Die eine repräsentiert den Blick des Eingeweihten und wird von der Figur Vallejo vorgetragen; die andere beschreibt Vallejo von außen, nämlich wie andere ihn sehen. Diese doppelte Perspektive entspricht dem, was Ina Schabert über die Beziehung zwischen biographischer Sicht und erzählendem Inhalt in fiktionalen Biographien herausfand. Sie schreibt, daß der Blick des Eingeweihten meist einen Bericht unvermittelter persönlicher Erfahrungen, privater Ereignisse, Anekdoten und Ähnliches beibringt. Der Blick von außen neigt eher dazu stereotype Konzeptionen dessen zu sein, was (der Beschriebene) gedacht, gefühlt, getan haben mag. [...] Die Lebensgeschichte wird auf diese Weise zu jenem anderen Leben in der Vorstellung der Menschen; Biographie als ideographischer Diskurs wird zur Wiedergabe der synchronen und diachronen Entwicklung dessen, was man von dem Beschriebenen weiß. (1990:183)
Arraus dramatischer Text setzt beide Perspektiven nebeneinander und illustriert jede aus einer Vielzahl historischer und rein dramatischer Quellen, um das Publikum mit wechselnden Vorstellungen von Vallejos Erfahrungen in Paris zu konfrontieren. Die Poemas humanos und Poemas en prosa, die Essays aus El arte y la revolución, zahlreiche Artikel und Briefe, viele davon beschreiben im Detail sein Elend, werden in der Mehrzahl von Vallejo selbst vorgetragen. Auf der anderen Seite wird der Blick von außen von Biographien, kritischen Aufsätzen und Auslegungen seiner Gedichte belegt, die zum Kanon für die Vallejo-Interpretation geworden sind. In dem folgenden Beispiel beginnt der Text mit Vallejos subjektiver und recht krasser Beschreibung seines Lebens, in der Stadt des Lichts. Dieser Teil des Textes ist fiktiv bis auf die Erwähnung der Fünfhundert Sol Münze, über die sich die Vallejo-Forscher André Coyné und Juan Espejo Asturrizaga nicht einig sind.6 Unmittelbar darauf folgt beit als Produkt dieses Komplexes. Es gibt noch viele andere Interpretationen - in der Mehrzahl sind sie nicht miteinander vereinbar. 6
Siehe Cronología de vivencias e ideas, zusammengestellt von Angel Flores und publiziert in Aproximaciones a César Vallejo, Band 1. Die Eintragung für den 17. Juni 1923 beschreibt Vallejos Vorbereitungen für seine Reise nach Frankreich. Flores zitiert A n d r é Coyne, dem zufolge Vallejo „eine Münze von Fünfhundert Goldsoles" mitnahm. (51)
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eine Paraphrase in der dritten Person von Ernesto Mores Bericht über das erste verzweifelte Jahr Vallejos in Paris. Der dritte und letzte Abschnitt ist ein Zitat aus dem Gedicht La rueda del hambriento aus Poemas humanos, das von der Vallejo-Forschung gewöhnlich als sinnbildlich für die verzweifelte wirtschaftliche Lage des Dichters in der französischen Hauptstadt angesehen wird. Der Protagonist beginnt mit der nicht dokumentierten Episode und dem Hinweis auf die umstrittene Münze: Hier... habe ich keine Wohnung und nichts zu essen. Kaum kam ich an, verlor ich das Goldstück, das mir mein Bruder Néstor gab. Nun ja, ich verlor es nicht, m a n hat es mir im Bordell gestohlen. Es w a r diese Mirtho, A n m u t mit Schweißgeruch. Er setzt sich auf die Bank. (Übergang zur Paraphrase des More Textes.) Die Metro fährt bis halb zwei Uhr morgens. Für den Preis einer Fahrt hat man es stundenlang warm, fährt von einem Ende der Stadt zum anderen, ohne aufzutauchen. Danach... bleibt nur noch die Parkbank, gut in Papier eingewickelt. Er legt sich auf die Bank. (Übergang zum Zitat aus La rueda del hambriento.) Wird es jetzt auch kein Stück Brot für mich geben? Ich muß nicht mehr sein, was ich immer sein muß, aber gebt mir einen Stein, auf den ich mich setzen kann, aber gebt mir, auf Spanisch etwas, nun ja, zu trinken, zu essen, zu leben, zu rasten, und dann werde ich gehen. (114)
Die stilistische Folge von Prosa zu Gesprächs- und schließlich zu lyrischem Text, sichtbar begleitet von der Veränderung der Körperhaltung des Protagonisten ( stehen, sitzen, liegen) unterstreicht die sich wandelnden Perspektiven, die über die Jahre den Pariser Vallejo charakterisiert haben. Der textuelle Wechsel suggeriert den Wandel von Vallejos Lebensgeschichte vom subjekt-zentrierten zum text-zentrierten Blick, vom persönlichen Wissen zum mythischen Blick von außen. Eine weitere Beobachtung Schaberts zur fiktionalen Biographie, die hier anwendbar ist, weist darauf hin, daß im Lauf einer Erzählung, in diesem Fall eines ganzen Dramas, eine solche textuelle Entwicklung zeigt, wie das Bild des zu Beschreibenden immer wieder erneuert wird [...] von einer seiner Handlungen zur anderen, die ihn in einem anderen Licht erscheinen läßt, von einer Generation von Kritikern und Forschern zur anderen... (1990:183)
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In seiner Untersuchung Recognizing Biography beschreibt David Epstein eine weitere Dualität, die dem widersprüchlichen Inhalten des Titels Mi Vallejo: Paris ...y los caminos entspricht. Epstein schreibt, daß biographische Berichte, die von virtuell dematerialisierten Biographen charakterisiert sind, kaum die Innen- oder Außenpolitik herausfordern. Es gibt jedoch andere Biographien, in denen der Brennpunkt vom vorgegebenen Subjekt der Beschreibung weggleitet hin zum Biographen selbst. Nach Epstein nehmen diese Texte eine bestimmte Distanz ein, die die biographische Stabilität bedrohen: Der generative Rahmen ,das Erkennen des zu beschreibenden Subjekts' ist eine konservative Kraft des biographischen Erkennens, ein kontextueller und intertextueller Verteidiger des Glaubens. Ganz im Gegensatz dazu steht ein anderer generativer Rahmen, ,das Erkennen des Biographen', ein radikal stabilisierendes Element, das das biographische Erkennen an sich bedrohen kann. (1987: 81)
In Arraus dramatischem Text, weist die dramatische Figur von Vallejo auf ihren biographischen Bezug und identifiziert sich mit ihm, indem sie dessen bekannten Satz aus El arte y la revolución zitiert: „Der Künstler ist unausweichlich ein politisches Subjekt." Unmittelbar nach dieser Aussage destabilisiert sie jedoch diese Identifikation, indem sie auf Arrau weist, als den Schöpfer einer nicht authentischen, metatheatralen Situation: Also dann, meine Herren, soll dies aufgeführt werden! Und was ist es, sagen Sie es mir. Das alberne Machwerk eines Herrn X, der ohne jede Erlaubnis sich daran macht, in mir herumzustochern; in meinem Werk, w a s dasselbe ist. Er plündert mich. Mit welchem Recht? Wer hat ihm das erlaubt? Aber das ginge ja noch, wenn er mein Bild nicht wie in einem Jahrmarktspiegel verzerren würde. Er erfindet einen Vallejo, der ich nicht bin, das versichere ich Ihnen. (119)
Diese Äußerung der Figur unterstreicht die Vorherrschaft des Autors/Biographen in dem Raum, der gewöhnlich von dem zu beschreibenden Subjekt und/oder einer Figur, die nach diesem Subjekt geschaffen wurde, beherrscht wird. Arrau wird darum des Diebstahl, der Verzerrung, der Erfindung einer anderen Fiktion eines Subjekts beschuldigt, das mit Vallejo identifiziert wird und mit seinem literarischen Werk identisch ist. Die Stabilisierung, die mit diesem Erkennen des Autor/Biographen-Rahmens beginnt, löst eine metatheatrale Kettenreaktion aus, die rasch andere Aspekte des Dramas destabilisiert. Es gibt eine explizite Bestätigung der Collage-Komposition des dramatischen Textes
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(„Es ist ein Produkt des fiebernden Gehirns eines Plünderers, der Fragmente meiner Schriften mit rostiger Schere zusammenschneidet und dann durch meinen Mund Traumata erbricht.") und der performativen Aspekte des Dramas („Was sage ich, mit meinem Mund! Ich starb in Paris, im Regen. Durch den Mund eines Schauspielers!") und des Publikums („Diese Person kann gut oder schlecht sein, das werden Sie bestimmen, aber sie hat nichts mit mir zu tun, wenn sie sich noch so sehr bemüht, mich nachzuahmen und so zu tun, als wäre sie Vallejo.") (120) Durch die metatheatrale Gegenüberstellung von Vallejo-Figur auf der einen Seite und Arrau-Autor auf der anderen, manifestiert der dramatische Text ausdrücklich, was er die ganze Zeit andeutet. Wie im Fall fiktionaler Biographien, stellt diese Strategie klar, daß der Text eine Sammlung ist aus „unzureichenden Versionen einer Person ist, die von dem stets sichtbaren Faden der [...] kompositorischen Vorgaben zusammengehalten werden." (Schabert 1990: 204) Im Laufe der Zeit werden bestimmte Erzählformen, Figuren, Genres etc. von der Gesellschaft als Klischees angesehen. Nach Anton Zijderveld hat der klischeebildende Prozess zur Folge, daß der ursprünglichen Bedeutung die Funktion, der substantiellen Rationalität die funktionale Rationalität übergeordnet werden. (1979: 10) Durch beständige Wiederholung wird ästhetisches Material dessen beraubt, was Benjamin seine ,Aura' genannt hätte oder Pierre Bourdieu seine ,Distinktion'.7 Die-
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In seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner mechanischen Reproduzierbarkeit definiert Benjamin Aura als einen Effekt, der große Kunstwerke kennzeichnet, vor allem in der vorindustriellen Zeit, als die Massenreproduktion solcher Dinge unmöglich war. Benjamin zufolge werden echte Kunstwerke als einzigartig empfunden und mit einer Distanz versehen, die die Zeit überwinden und diese Werke mit Ewigkeit umgeben. Benjamin behauptet, daß mechanische Reproduktion diese drei Dimensionen der Aura auflöst. Pierre Bourdieu schreibt in seinem Aufsatz Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, daß die kulturelle Erfahrung und Fähigkeit des Individuums, künstlerische Codes zu entschlüsseln (als Gegensatz zur oberflächlichen Freude an Kunstwerken) normalerweise der gesellschaftlichen Klasse dieses Individuums entspricht. Distinktion ist die Eigenschaft des Kunstwerks und anderer kultureller Produkte und Praktiken, deren Verständnis über den oberflächlichen oder sinnlichen Grad hinaus die Beherrschung spezifischer kultureller Codes erfordert. Solche Objekte und Praktiken gehören den oberen Klassen, weil sie sich von der Kunst, die den Massen gefällt, unterscheidet. Distinktion ist daher sowohl ein ästhetischer wie ein kultureller Wert. Während Arraus Stück weder eine kanonische noch eine elitistische Betrachtung der Lyrik Vallejos vorträgt, übermittelt es eine Wahrnehmung ihrer Einzigartigkeit, ihrer
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se Metamorphose schafft ein doppeltes Ergebnis: einerseits löscht sie die ursprüngliche Distanz und Bedeutung des Klischees, während sie es andererseits angenehm und zugänglich macht. Mi Vallejo: Paris ...y los caminos läßt erkennen, daß die vielen Identitäten und die von der VallejoForschung vorgebrachten, sich gegenseitig ausschließenden biographischen Rahmen (Vallejo der Marxist, der unermüdlich für die Spanische Republik arbeitet; Vallejo der ergeben betende Christ; Vallejo der Cholo, in steter Sehnsucht nach der peruanischen Sierra etc.) zur klischeebildenden Bedeutung geworden sind, durch die Lesern und Zuschauern der Zugang zu Vallejos Lyrik ermöglicht wird, in Zidjervelds Worten: „Kunstwerke in einer leichten Form und ohne viel Nachdenken zu konsumieren und zu verdauen." (1979: 12) Arraus dramatischer Text geht sogar noch weiter und behauptet, daß die klischeebildende Manipulation von Vallejos Werk und Biographie zu einem zweiten Tod geführt hat, der verwirrender ist als der physische Tod, da das Subjekt unter düsteren mythischen und ideologischen Diskursen begraben wurde. Zu Klischees versteinerte biographische Prosa von außen beherrscht Vallejos Bemühungen, über sein Leben zu sprechen. Nirgends ist dies offensichtlicher als in der letzten Szene, in der der bereits tote Vallejo die Verse von Piedra negra sobre una piedra blanca rezitiert und noch einmal stirbt. Chronische Unterernährung und andere Folgen extremer Armut führten im April 1938 zum physischen Tod von Cesar Vallejo. Am Ende des Textes von Arrau ist die Figur des Vallejo, die auf der Bühne zusammenbricht, weniger ein Opfer des Hungers als der klischeehaften Beurteilung von außen. Diese ist es, die den Dichter manipuliert, „ihn in ein gezähmtes Wesen ohne Fissuren verwandelt, das er niemals gewesen war, und ihn auf diese Weise posthum noch einmal sterben ließ." (Oviedo 1989:12) Als wollte er keinen Mythos bestehen lassen, legt Arraus Text am Ende die Klischees offen, die der echte Vallejo geprägt und, zum Beispiel, in seinen Essays verbreitet hat. Eine solche Demontage der Vorstellung der Figur von sich selbst, geht an die Wurzeln des Mannes, seiner Ideologie und selbst seiner Ethik. In einem der längsten und persönlichsten Dialoge des Dramas macht die Puppe, die Georgette spielt, Vallejo Vorwürfe, die er in einer formalistischen und selbstgefälligen Weise beantwortet:
Beständigkeit und ihrer technischen Raffinesse, alles Werte, die verlorengehen, wenn sie dem klischeebildenden Prozess untergeordnet werden.
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GEORGETTE sadistisch, grausam Du wolltest nicht, daß ich Mutter wurde. VALLEJO Keine Melodramen, bitte. GEORGETTE D a s ist die W a h r h e i t .
VALLEJO Ich tat es zu deinem Besten. GEORGETTE Meinem Besten? Deiner Bequemlichkeit. VALLEJO „Kein militanter Revolutionär kann - oder soll - Kinder haben." Darüber waren wir uns immer einig. GEORGETTE Ich nicht. Jede Abtreibung zerstörte meine Zukunft. [...] Wie gut du das Schreckliche mit einem Fächer aus Worten zu verbergen verstehst! Was für ein großer Dichter du bist, Vallejo! (121)
Mi Vallejo: Paris ...y los caminos versinnbildlicht nicht nur die Demontage Vallejos als nationale Figur ohne Schatten oder Kratzer, die bestimmte ideologische Paradigmen personifiziert. Es zerstört auch die großen Metaerzählungen des Marxismus und der männlichen Weltsicht, in die so viel von Vallejos Poesie und der Vallejo-Forschung festgeschrieben ist. Der Blick von innen und der von außen sind jedoch nicht die einzigen Aspekte, die die Ökonomie von Arraus dramatischem Text beherrschen. Der Verlust jenes Vallejo, der von beiden Diskursen dargestellt wird, steht im Gegensatz zur Gegenwart der Poesie und den Prosafragmenten, die im Text ohne Kommentar oder Kritik auftauchen. ...y los caminos suggeriert Möglichkeiten, die gerade innerhalb dieser Kompositionsform bestehen. Wenn wir den Blick von innen und den von außen als Stränge eines nutzlosen Fischnetzes betrachten, das Vallejos Realität nicht einzufangen vermag, sind die unveränderten Lyrikfragmente wie Stücke eines entgleitenden Körpers, die durch die Löcher des Netzes entwischen. Einerseits kultiviert daher Arraus Schreiben „die Zweifel des Lesers, daß der Text (die biographische Struktur des Textes) schließlich nichts weiter ist, als [...] eine Kette von Löchern." (Schabert 1990: 204) Andererseits bleiben Vallejos Gedichte frei und unverändert von allen vergeblichen Versuchen, sie einzufangen. Patrice Pavis beobachtete vor langer Zeit, daß in der postmodernen Kunst das Subjekt im literarischen Werk bestehen bleibt, aber mit anderen Funktionen identifiziert wird als früher: Das menschliche Wesen erscheint nicht mehr als Individuum, das historisch von einer radikalen Bühnenanweisung plaziert wird, von einer soziohistorischen Erklärung, die alle Fragen beantwortet. Es ist vielmehr eine Nummer, eine Ziffer, ein verfremdetes Wesen oder eine absurde Verhaltensweise - wie im Theater desselben Namens - erstickt, epigonenhaft und schließlich didaktisch,
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oder gar eine Maschine, um Texte abzulassen, ohne sich selbst in einer plausiblen Situation zu befinden. (1986:16)
Weniger lang ist es her, daß Erika Fischer-Lichte - über Postmoderne in den 90ern sprechend - meinte, eine zweite Phase des postmodernen Theaters sei durch die Rückkehr zum Text charakterisiert, aber ohne jede begleitende Nostalgie nach den ethischen und ästhetischen „Universen" des Modernismus. Fischer-Lichte schreibt ferner, daß der einzige Protagonist dieses Prozesses der Text sei (1996: 297), um von jedem einzelnen Mitglied des Publikums aufgenommen, verarbeitet und nach eigenem Willen neu geschaffen zu werden. Die Vorstellungen beider Kritiker könnten zusammen eine korrekte Beschreibung von Subjekt und Text in Mi Vallejo: Paris ...y los caminos beibringen. Indem er Vallejo und seine Biographie der konventionellen Klischees beraubt, öffnet der Text in der Tat die Wege (...y los caminos) zu einer unmittelbaren Rezeption der Vallejo Gedichte. Diese Texte sind nicht durch irgendeinen moralischen Filter programmiert, noch sind sie Teil gegensätzlicher biographischer oder autobiographischer Sichtweisen. Vielmehr sind sie, und gerade durch ihre Fragmentierung, frei geliefertes ästhetisches Material. Es kommt allein auf das Individuum Zuschauer/Zuhörer an, wie er/sie die Inhalte aufnehmen will. Dasselbe kann über die Behandlung des Subjekts gesagt werden, dessen Identität von allen Mythen befreit wurde, dem aber am Ende erlaubt ist, wie Vallejo dem Tod gegenüberzutreten. Am Ende bemerken wir eine Bewegung von der reinen Destruktion - die im besten Fall eine negative Freiheit bieten kann - zur Rekonstruktion. (Bertens 1996: 104) In der Schlußszene von Arraus Stück ist Vallejo in keiner Weise das privilegierte, weiße Subjekt, das der herrschenden Kultur seine Stimme gibt, sondern der einsame, dunkelhäutige DritteWelt Mann, der Fragmente einiger der schönsten Gedichte rezitiert, die in spanischer Sprache geschrieben wurden. Vallejo dice hoy la muerte está soldando cada lindero... Alfonso: estás mirándome, lo veo... En suma, no poseo, para expresar mi vida, sino mi muerte... ¡Ah! Desgraciadamente, hombres humanos, hay, hermanos, muchísimo que hacer... Madre, me voy mañana a Santiago... Esta noche desciendo del caballo... Quisiera escribir, pero me sale espuma...
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Aber während die Figur auszusprechen scheint, was Pavis und Fischer-Lichte beschreiben, wird sie vom dramatischen Text keineswegs zur Maschine reduziert. Ihre momentanen Ekstasen, ihre Sorgen und ihr letztes Zögern, bevor sie zusammenbricht, bieten die Möglichkeit eines neuen Blicks auf das Subjekt, das der dramatische Text so eifrig demontiert hat. Nach Schabert ist dies ironischerweise die Funktion analoger fiktionaler Biographien. Über sprachliche Zweifel hinaus, über die destruktivistischen Vermutungen, daß Sprache ein grobes Netz sei, ungeeignet die Realität einer anderen Person einzufangen, und über die ausschließende biographische Verfahrensweise hinaus [...] erkennen wir wieder Spuren des Glaubens an die Möglichkeit zwischenmenschlichen Wissens. Ein indirekter Einblick oder mindestens die Annäherung an einen indirekten Einblick in die innere Welt einer anderen Person könnte erreicht werden [...] selbst, wenn es nur der Einblick in seine besondere Art ist, sich zu bemühen, sich verzweifelt zu bemühen, wahre Erkenntnis von sich selbst und von der Welt zu erlangen. (1990: 215)
Die Vernichtung der Figur und einer offiziellen Erinnerung, wie sie der erste Teil von Arraus Titel kennzeichnet, führt unserer Meinung nach nicht zum Ende des Textes, des Subjekts oder der Menschlichkeit. Vielmehr beinhaltet sie die Öffnung neuer unvermittelter und unbekannter Wege, um Bedeutung aufzunehmen und zu schaffen. Es steht jedem Einzelnen in Arraus Publikum frei, das Erbe Vallejos anzunehmen, das ihm nicht mehr aufgezwungen, sondern schlicht angeboten wird. Jeder mag am Ende annehmen, ablehnen oder sich das Beste davon aneignen. Deutsch von Heidrun Adler
Literatur Arrau, Sergio: „Mi Vallejo: París ...y los caminos", in GESTOS 16 (Nov. 1993). 103-132. Benjamin, Walter: „The Work of Art in the Age of Mechanical Reproduction", in ILLUMINATIONS. New York 1969. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in Schriften, Bd. 1. Frankfurt/Main 1955, S. 366-405. Bertens, Hans: „The Politics of the Postmodern", in Ethics and Aesthetics. The Moral Turn of Postmodernism, hrsg. Von Gerhard Hoffmann; Alfred Hornung. Heidelberg 1996. Bourdieu, Pierre: Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste. Cambridge 1984. Epstein, William H.: Recognizing Biography. Philadelphia 1987.
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Ferrari, Américo: „Vallejo, Vallejos: vida y obra", in INSULA 43-501 (Sept. 1988), S. 2728. Fischer-Lichte, Erika: „The Return of the Text: Implied Ethics of Postmodern Theatre", in (Hoffman, Hornung 1996). Flores, Angel: Aproximaciones a César Vallejo. New York 1971. Larrea, Juan: Al amor de Vallejo. Valencia 1980. Lockert, Lucía: „El teatro popular Yuyachkani: objetivos dinámicos de su integración", in ALBA DE AMÉRICA 7,12-13 (July 1989), S. 373-379. More, Ernesto: Vallejo, en la encrucijada del drama peruano. Lima 1968. Oviedo, José Miguel: „Vallejo cincuenta años después", in HISPANIA 72, (March 1989), S. 9-12. Pavis, Patrice: „The Classical Heritage of Modern Drama: The Case of Postmodern Theatre", in MODERN DRAMA 29,1 (March 1986), S. 1-22. Rojas-Trempe, Lady: „Yuyachkani y su trayectoria dramática en Perú", in LATR 28,1 (Fall 1994), S. 159-165. Schabert, Ina: In Quest of the Other Person. Fiction as Biography. Tübingen 1990. Vallejo, César: El arte y la revolución. Lima 1973. : Obra poética completa. Lima 1983. Zijderveld, Anton C.: On Clichés. The Supersedure of Meaning by Function in Modernity. London 1979. Elsa M. Gilmore: Lehrt Spanisch und Fanzösisch an der U.S. Naval Academy. Ihr Spezialgebiet ist das zeitgenössische Theater in Chile und das Latino Theater in den USA. Publikationen: Aufsätze und Rezensionen in GESTOS, LATR, OLLANTAY THEATRE MAGAZINE, und in anderen Zeitschriften und kommentierten Anthologien. Zur Zeit bereitet sie eine komentierte englischsprachige Ausgabe von Latino-Stücken vor.
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Bild-Gefühl Chilenische Dramatik der neuen Generation Mit der Bezeichnung Neue Generation im Titel meines Aufsatzes1 ist eine Gruppe junger chilenischer Dramatiker gemeint, deren Gemeinsamkeit in dem Versuch besteht, eine Poetik der Bilder auf der Grundlage einer dramatischen Erzählstruktur zu kreieren. Als Beispiel für die Arbeit dieser neuen Autoren möchte ich das Werk des bereits anerkannten, aber wenig bekannten Dramatikers Juan Claudio Burgos vorstellen. Die hervorstechendsten Merkmale seines Theaters sind: die Definition von Dramatik als Aspekt der Inszenierung von Schrift; das Schreiben für und die Herausforderung an die Inszenierung; die Konzeption von Theatralität als linguistisches Experiment; die Figuration von Bildern als Medien einer Sprachenergie, von der die Repräsentation geleitet ist; Sprache als Wegweiser des Körpers; der materielle Kompromiß der Sprache mit der szenischen Illusion; das Szenarium als metamorphosierter Inhalt des Wortes; Dramatik als Wissenschaft einer von den schwindelerregenden Vermächtnissen der Geschichte heimgesuchten und entfremdeten Repräsentation dessen, was am künstlerischen und politischen Körper des 20. Jahrhunderts sichtbar ist. Im Kontext dieses Theaters wird Energie als die spannungsgeladene Spielart des Sinns verstanden, der vom Zeichen eingefordert wird. Es handelt sich im folgenden um eine Passage entlang verschiedener Bühnenereignisse, die in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Form der Sukzession2 stattfindet. Dabei wird die sogenannte Bild-Zeit in BildSprache und Bild-Denken überführt, die sich wiederum im Körper überschneiden. Die Aufgabe des Dramatikers besteht in diesem Zusammenhang darin, nach Sinn als Vergangenheit von Sprache zu fragen und sich mit dieser Form der Prä-Existenz in einer Sprachdisziplin auseinanderzusetzen, die ebenso gebrochen und überholt ist wie ihre Zeit. Wenn die Möglichkeit von Sprache etwas mit der Beschränktheit von Existenz zu tun hat, ist es unmöglich, Theater zu machen, ohne die Geschichte des Körpers zu erzählen, ohne in die Poetik des dichten und 1
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Latin American Theatre Today [IV Congreso de Teatro Latinoamericano]. University of Kansas, 29. 3. - 1 . 4. 2000. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes werde ich das hier angesprochene Bergsonsche Konzept weiter ausführen.
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sedimentierten Körpers einzusteigen, der uns verbleibt. Die Theatralität erhebt Zweifel über die Arten der Aktualisierungen, die unsere Gegenwart füllen, über ihre Logiken von Ereignishaftigkeit und Sinn. Dramaturgien, die sich mit den nicht sichtbaren Spuren des Körpers beschäftigen, stellen die postmodernen Modi in Frage, das Ereignis zu übergehen, es nicht festzuhalten. Denn diese doppelte Ignoranz des Raumes bedeutet im Grunde, die Geschichte des Körpers zu negieren. Das Theater greift die drängenden Fragen über unser Relativitätssystem auf. Welches ist das Verhältnis des Körpers zu den zerstörten Räumen? Welcher künstlerischen Herausforderung verpflichtet sich das Theater heute als Refugium des erzählerischen Potentials, dessen, was in Auflösung begriffen, sprachlos ist. Der Körper ist zugleich eine Architektur im Zwiespalt, die mit geringerem Energieaufwand verzweifelte Geschichten liefert. Das Theater weigert sich, diese Erzählung zu unterdrücken, und sucht bessere Bedingungen für eine irreversible Dauerhaftigkeit des Bildes, für die Fähigkeit, die Bewegung des bewegten Körpers zu destillieren, inspiriert von den Denkutopien eines Deleuze und eines Guattari. Dieser dramatische Weg interpretiert die körperliche, bereits unübersehbar angeschlagene Aktion neu, von der unser semantisches Universum durchzogen wird, sowie die Schwierigkeit des Sinns, sich in der Dauerhaftigkeit anzusiedeln. In der Auseinandersetzung mit dieser Entwertung des Diskurses offenbart sich eine Krise der Verhältnismäßigkeit, die alles Gegenwärtige nur noch im Bild versteht. Von daher ergibt sich die Frage, was ein Körper macht - wie er seine Repräsentation sucht - wie er eine Geschichte verteidigt; und zwar in der Konfrontation mit einem unfreien Publikum, das einen erheblichen Verlust seiner Identität erlitten hat - meinungslos, konsensfreudig, Befürworter oberflächlicher Kompromisse (wie z.B. Konsumgewinn), in der Konfrontation mit einer gravierenden linguistischen Entwertung. Die prekären Umstände des kollektiven Traums, die Krise der Identifikation zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, bringt die Entblätterung des Subjekts ans Tageslicht, einem Subjekt ohne Architekturen, das den Sinn einer Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und der politischen Institution ohne Identitätsbeweise zu konstruieren hat. Das Bild, das Cafe, Geheimnisse des Raumes, vermischte und aufeinander bezogene, gefangene Identitäten, schwarze Löcher, Exponate des Verschwiegenen, die Juan Claudio Burgos erlauben, einen Kampfplatz gegen die Sprache der Repräsentationen zu eröffnen, den Gestus einerseits neu zu organisieren, ihm andererseits aber auch sein Alter zu lassen und somit seine Ambiguität zu bewahren.
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La defense Der Gestus der Materialisierung des Imaginären, mit dem der Leib „der visuelle Raum seiner Anschauung" (Benjamin VI, 113f; in Weigel 1992: 56) ist, bildete den Anlaß für einen Text kleineren Formats von Juan Claudio Burgos, betitelt La defense. Darin bezieht er sich auf das Bild Las Meninas von Veläzquez, um es in eine Installation dramaturgischer Komposition zu verwandeln. Das ,performative Handeln der Bilder' als kulturelle Theatralität par excellence entsteht hier aus der ästhetischen Beschwörung der Gemeinschaft der Künste: die Komplizenschaft sämtlicher Poetiken, die Manipulation des Objekts. Das privilegierte Objekt ist der Körper. Das Objekt ist das Subjekt. Die Liste der dramaturgischen Aufgaben ist lang: Wie organisiert man den Körper als Objekt? Wie bringe ich den Leibraum ins Spiel? Das Verhältnis zum Anderen ist zu reinigen, zu erweitern, zu verändern. Es gilt, dem Phänomen der Relation zu lauschen. Den Bildern zu lauschen. Das Schicksal des Körpers neu zu bestimmen. Den Körper in Relation zu seinem Schicksal als Objekt neu zu organisieren. Die Schnittstelle zu sehen, nicht zu repräsentieren. Die kontrollierte Welt der Bühne läßt nur einen eingeschränkten Gestus zu. Es könnte darauf ankommen, uns auf die grundlegende Suggestion unserer Zeit einzulassen: das Vermögen zu einer Versöhnung mit dem Chaos durch die Kühnheit des Blicks. Erotismus und Eschatologie für die Repräsentation, Eingriffe als Bilder der Gegenwart des Leibes: Bild 1. Die Verteidigung der Pseudonymphe mitten im Misthaufen. Oder die Verteidigung der Scheiße selbst, die unfähig ist, sich zu entscheißen. Wenn ihr seht, daß ich komme, versteckt euch nicht, ich flehe euch an, versteckt euch nicht, ihr alle, die Sau unter dem Mist möchte herauskommen, auch wenn ich keine Sau bin und nicht im Misthaufen, aber so elend so entsetzlich elend, von unaussprechlichem Elend, mit der Hand im Mund, daß Sie und ich selbst mich für eine Sau im Misthaufen halten müssen, aber das bin ich nicht, ich sage Ihnen, ich kann alles sein nur keine fügsame kleine Sau in einem Misthaufen, ich möchte auch gesehen werden, wenn ihr den Kot der Tiere aufhebt, Hühnerkacke, von spanischen Hühnern, von Enten, von Gänsen, dann könnt ihr auch meine Nasenspitze ansehen, diesen Hauch von Jungfräulichkeit, den Gott, der Herr, mir gegeben hat. Ah, seht ihr mich nicht, ah seht ihr mich nicht? Ich wette mit euch, ihr könnt mich nicht sehen. Ihr habt keine Augen, mich zu sehen. Das verspreche ich euch. Das verspreche ich euch. (2)
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Wir sprechen über Mutationen der theatralen Schreibweise, über Architektur und Skulptur als treibende Kräfte des Textes. Äußere Welt und Leib (vgl. Benjamin, Anm. d. Übers.). Theater, das installiert und komponiert; einen Körper als umgrenzten Ort entwirft, als Behälter eines Programms; einen Körper, der an den Rändern der Erzählung zur Erscheinung gelangt, der sich in den Urmaterien suhlt, Asche, Abfall, leiblicher Auswurf. Das Wagnis, Teile des Körpers in Verbindung zu bringen, die sonst in keiner symbolischen Verbindung miteinander stehen. Die Formen zu perforieren, für ihren inneren Gebrauch. Das Nicht-Gewöhnliche zu bewohnen. Dem sich öffnenden Raum zu lauschen. Mit fremdem Blick und mit festem Blick. Der Mobilität zu lauschen. Als würde man eine unsichtbare Stadt mit einfachsten Elementen konstruieren. An diesem Punkt des Leibes läßt sich Text fassen („in sich hineinfressen"3).4 CHOR DER GESCHÜRZTEN FRAUEN
Der Blinde im Sanatorium hat der Kleinen gesagt, daß sie mitten auf dem Bild ist, daß sie die Dogge ansehen soll, die zu ihren Füßen liegt, weil die Kleine damit beschäftigt ist, die Rose zu richten, die auf ihrer flachen Brust hängt, hört sie dem allegorischen Blinden im Sanatorium nicht zu, der hinter ihr steht, nur wenige Meter von ihrem Ohr entfernt, könnte er ihr zurufen, sie solle aufpassen, daß sie nicht auf die Pfote des Hundes tritt, daß sie, wenn sie ihr Glaspantöffelchen auf die Krallen der Dogge stellt, spüren wird, wie das zarte Fleisch ihrer Beinchen durchbohrt wird von den lüsternen Zähnchen der Dogge, des Hundes, des Haushundes, des goldenen Windhundes, der die Beine der Majestäten leckt, wenn sie Tee trinken, wenn sie im runden Salon beraten, wenn Felipe die Brüste seiner Frau packt, der goldene Windhund, der feine Hund, die Dogge, die Dogge, die Dogge hat kein Gefühl für Größe, es fehlt ihr an Perspektive, und das Mädchen in seiner Zartheit ist nicht in der Lage, ihren Fuß aus dem Maul des Hundes zu ziehen, aber dort sitzt er, der Hund, der römische cave canem, der ohne Mitleid das Füßchen hütet und beißt, das Lackpantöffelchen aus Mozambique des Mädchens, bereit zur Pfote zu werden, das Lackpantöffelchen aus Mozambique des Mädchens, bereit, von Veläzquez gemalt zu werden, und ein erschüttertes Ahh läßt den Pinsel von Veläzquez über die Leinwand zittern. Die verzerrten Könige oder die Verzerrung der Könige. Die geschürzten Frauen sammeln die Früchte auf, sie stecken sie der Gruppe alberner Könige in den Mund, während sie um sie herumschwänzeln. (6-7)
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Benjamin (V 2/1014,) in Weigel 1992: 53. Anm. d. Übers. Eine Überlegung, die aus den szenischen Experimenten mit Jesús Barranco, David Ojeda und Domingo Prtega hervorgeht.
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Der Leib im Dienst der Performance des Bildes und des Körpers fragt sich fortwährend, was der Raum ausdrückt, wie er sich so manipulieren läßt, daß ich als Leib in ihm arbeiten kann. Im Raum gibt es immer eine Semantik. Sie ist für uns genauso wichtig wie der Ausdruck, den uns der Raum gewährt. 5 Jede Bewegung hat einen Sinn, bewirkt eine minimale Veränderung; einen Raum, der uns ausdrückt, uns besitzt. In der Unsichtbarkeit läßt sich ebenfalls arbeiten, in einem nicht kanonischen Raum. Die Obszönität als Figur der Verführung zum Diskurs. Die Sexualität als „Verlockung am äußersten Rand des gesamten aktuellen Diskurses" (Foucault 1999: 46/47). Das Körperbewußtsein zieht die Politik des Objekts nach sich, die Spekulation über ihr Bewegungsgesetz, ihr Objekt-Sein, ihr Objektiviertsein. Der Körper, als Installation der Neo-Avantagarde im ausgehenden 20. Jahrhundert, erhebt jetzt den Anspruch, daß ich dieser Raum in der Zeit bin und somit eine Form der Zeitlichkeit zu schaffen oder vielleicht auch - im Zeitalter des technischen Verschwindens des Ortes der Kultur die Form der Zeitlichkeit. Wenn man die Auffassung Kristevas über die Möglichkeiten der zeitgenössischen Kunst extrem weiterdenkt (1998: 30), könnte man sagen, daß die Körper-Installation mich in den Schlund meiner schwarzen Stimmen stößt, in den heiligsten Schrein meiner Restbestände, wo ich mir die Komplizenschaft mit meinen eigenen Regressionen erlauben kann, das schreckliche Privileg schon nicht mehr zu wissen, wer ich bin, am äußersten Punkt meines physischen Lebens, mitten in der Verlockung meines Autismus, in der der Körper als Stützpunkt für das Ich auftaucht und für die Entscheidung der Sprache, eine physische Handlung zu sein. In diesem Sinne ist der Körper im letzten Theater eine große Installation des Schmerzes. Die Theaterkunst führt uns zu der Erfahrung des Körpers als Erfahrung des Realen zurück. In einer Welt, die das Reale negiert, in der das Reale nicht existiert. Der Körper ist meine Visite(nkarte) zum Sakralen.
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Anm. d. Übers.: vgl. Weigel 1992, 55f: Benjamin nimmt „eine materielle Fundierung oder materialistische Wende in der psychoanalytischen Betrachtungsweise vor: im Leib- und Bildraum des Surrealismus eine Materialisierung des Bildes in leiblichen Innervationen, d.h. eine Verleiblichung des Ausdruckskörpers, bei der der Körper zur Bildmaterie wird, eine buchstäbliche, nicht mehr allegorische Form der Verkörperung; in den dialektischen Bildern des Passagen-Projektes eine Materialisierung der Sprache des Unbewußten und eine Verräumlichung der Traumstruktur, d.h. eine Materialisierung des Imaginären in der organischen und anorganischen Außenwelt, dem Gesellschaftskörper."
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Nieves Olcoz Der Spiegel oder der Monolog des Erscheinens Sie, dieselbe, die andere, die darauf besteht, Nymphe zu heißen, nun ohne jede Spur von Scheiße am Körper. Hier drinnen erscheint alles. Meine Eltern. Die Spiegel, wenn ich mich darin anschaue, erscheinen. Meine Amme, die mich an die Hand nimmt, damit ich ins weiße Wasser des Spiegels trete, erscheint auch. Ich erscheine auch und werde vergehen in diesem immerwährenden Erscheinen. Eine Frau, zum ersten Mal Die Schürzen auf den Tisch, Fräulein. Ja, sie wieder mit dem Bienenstimmchen. Ich muß es mir aufsetzen, ich muß mich bedecken. Eine Frau, zum zweiten Mal
Ja.
Der Tanz des Schweigens beginnt wieder. Ein Chor von geschürzten Frauen kleidet die Mädchen an. Es spricht nur eine, jene, die glaubt eine Nymphe zu sein, aber alle können sprechen, sie können den Misthaufen füllen. Die Frauen stimmen Liedchen mit albernen Worten an, während sie sich schürzen. Sie helfen sich gegenseitig. Zum ersten Mal erscheint Die Dogge, sie liegt auf dem Teppich und beobachtet die Akrobatik der Frauen, die sich schürzen, sich schürzen. (3-4)
Mitten in dieser Intelligenz des Theatralen muß der Zuschauer im Sinne von Körpererfahrung die idealistische Trennung zwischen Existenz und Erscheinung aufgeben, auch wenn er sich dieser Wahrnehmungskategorie widersetzt, was das neue Körpertheater durchaus berücksichtigt. Die Materie wird niemals aufhören, in ihrer Ausdehnung Körper zu sein. Für den Übergang ist die Rolle der Sprache fundamental. Und sie reißt dabei alle komplexen Qualitäten des Materials mit sich fort. Die Wiederaufwertung des Subjekts insistiert auf dieser Einsamkeit der Sprache, welche von der Kunst begleitet werden möchte. Es gibt weder eine einstimmige Interpretation, noch Perzeption, so wie auch jeder Körper einmalig ist. Ich kann nur versuchen, dich zu meiner Sprache zu verführen, dich zu meinem Delirium einzuladen. Ohne Verstümmelung gibt es keine Sprache. Die Identitätslosen Er sagt, meins sei kein Theater. Mein Part sei ein Mangel an Respekt vor der uralten Kunst der Repräsentation. Wo, Herr Schlachter? Wo? Wenn hier niemand spricht, wie man es gewohnt ist.
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Aber nein, Herr. Wer hat Ihnen gesagt, daß die Menschen hier reden. Das gibt es nicht. Das ist Fiktion. (26)
Es gibt keine gewöhnlichen Dialoge im Theater von Juan Claudio Burgos. Der Autor wertet den direkten Stil als nicht darstellbar ab und betrachtet ihn als Metadiskurs, ohne bildhafte Qualität und nicht für die Erprobung der Repräsentation geeignet. Allerdings gibt es Stimmen in El Café o los indocumentados, die unbedachten Stimmen, „apostrophiert von den Düften". Die Erinnerung ist eine Folge von Handlungen, die sich in Bildern ausdrückt und sich aus einer materiellen, von Sprache strukturierten Energie zusammensetzt. Der Bildraum ist der Leibraum. 6 Das Stück beginnt erneut mit einer plastischen Vorgabe: ein degenerierter Degas, ein unvollendeter Balthus. Eine Bühne der Nation der Hunde, eine Metamorphose der Kindermeute, des Mannes, der keine Kinder retten kann, des falschen Apostels, der vom Theater spricht und den Namen des Todes trägt. In dieser szenischen Komposition besteht der materielle Modus im politischen Modus, Imagination zu denken und in den kollektiven Traum einzugreifen. Die Imaginationen und Repräsentationen ihrer Akteure bestehen aus einer physischen Generation von Ideen und Handlungen, die im Leibraum zusammenströmen als Generation der Gegenwart. Das leibliche Moment hat sich in Material verwandelt, das sich als gegenwärtig im Sinne einer „Politik als Repräsentation" erweist, im wahrsten Sinne der barocken Legalität des Diskurses, wie es Benjamin ausdrückt, für den die Repräsentation „... nichts geringeres leistet als das Bild der Welt in all seiner Dichte in ein Zeichen zu überführen." (Weigel 1992: 39) Burgos liefert eine materialisierte erneute Lesung der Bild- und Leib-Räume, die in der Form von leiblichen Innervationen des Kollektivs7 (dargestellt von einer Gruppe blinder Musiker) zur Darstellung kommen, und zwar als Wirklichkeit, die sich selbst übersteigt: die Matrix des zerstörten Landes, in dem die Kategorie der Repräsentation selbst einen Grenz-Fall der Grausamkeit darstellt; die Radikalisierung der nicht sichtbaren Spuren des Körpers, der nicht darstellbaren Welt; die spezifische Syntax des zerstörten Körpers als Bedingung für Sinngebung; das 6 7
Peter Brook: The Empty Space. London 1968. Weigel (1992: 56)
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Ausdrucksverhältnis zwischen Gedächtnisökonomie und Leibkultur im Sinne eines linguistischen Materialismus, der die Geschichte als Erzählung einer Geschichte in Bildern begründet, wie ein bastardisiertes Bewußtsein des Körpers. Das Subjekt, das die Vergegenwärtigung über den Einsatz des Gedächtnisses zuläßt, ist die Hure (cf. Benjamin 1969), die materielle Stimme, die extreme Verzerrung des Körpers der Nation. Was sie hervorbringt/ gebiert, ist das absolute, durch die Zerstörung delirierende Bewußtsein. Den Kernpunkt dieser Art von Theatralität bildet eine „Szene der Erinnerung" im Sinne Benjamins, Detonationsladung, die das Objekt der Repräsentation in seiner ganzen Gegenwärtigkeit zum Explodieren bringen wird. Das, was Sigrid Weigel in ihrer Revision des historischen Projekts von Benjamin „das Verlassen des epischen Elements der Geschichte und den Zerfall der Geschichte in Bildern - nicht in Geschichten" (1992: 41) nennt, wie die Formen des Bruchs mit der Kontinuität des Diskurses, die Aporien und Unausweichlichkeiten der Repräsentation, welche die aktuelle Konfiguration der bildlichen und leiblichen Szenarien aufdekken: die Gegenwart des Körpers für - mit den Worten Weigels - „eine dialektische Repräsentation der Stadien der Geschichte" (1992: 42) und „für die Lesbarkeit der Bilder der Geschichte". Die Geschichte ist in Bildern aufgehoben; Erinnerungszitate, die den Sinn entstellen, gerieren eine figurenlose Autorität der Stimmen, ein politisches Arbeiten in Bildsphären des Politischen, eine zerstörte Praxis, die nicht versucht, ihrem eigenen Text zu widersprechen, sondern das Uneigentliche des Einmaligen zu aktualisieren, eine Arbeit der Aneignung auf die Gefahr hin zu leisten, sich zu erinnern. FRAU
Ich glaube, ich träume, was mir passiert. Es ist kein Traum, nicht wahr? Das Leben hier ist kein Traum, nicht wahr? Aber warum sagen Sie nichts. Warum schweigen Sie? Ich muß Ihnen Argumente liefen, damit Sie mich verteidigen können. Dieser Ort wird eingeebnet werden. Er ist eine Spielhölle. Man dealt. Man verkauft Körper. Die Jungen werden mit falschen Versprechen angelockt. Sie beißen an wie die Fische. Wie Hasen. Hinter den Vorhängen sind die Kühlschränke.
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Wo sie die Toten verstecken. Es ist die letzte Bastion des Regimes. Ich komme nicht aus Gewohnheit her. Ich kann nirgendwo mehr hingehen in dieser verfaulenden Stadt. Hierher zu kommen ist trotz allem poetisch. Sie glauben mir nicht? POETISCH. (8)
Die Zeit ist überfüllt mit Körpern, Klang und Bewegung, alle Zitate des politischen Blicks, des historischen Blicks auf das Gewesene, heimliche Überschneidungen, die dem Subjekt ein Bild über dessen leibliche Grenzen auferlegen: verletzt, gewaltsam gefangen, undurchdringlich. Das Subjekt, das mit einer unorganischen Sprache ausgestattet ist, zerstückelt, dringt in den Bildraum ein, nimmt mit seinem eigenen Leib an ihm teil, „wo ein Handeln selber das Bild aus sich herausstellt und ist, in sich hineinreißt und frißt, wo die Nähe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bildraum sich auf." (Benjamin in Weigel 1992: 51) Die Sprache ist das Territorium von Bild und Leib, die Szenerie des Gefühls, auf der Bild und Leib zusammenfallen, und derjenige, der liest, sich nicht von dem, der handelt, unterscheiden kann:
Der Leser ist vom Handelnden nicht mehr als derjenige, der ein Bild entziffert, nicht mehr von demjenigen, der ein Bild darstellt bzw. in actu ist, zu unterscheiden. (1992: 52) Die roten Vorhänge des roten Bildes gehen auf. An Haken hängendes Fleisch wird sichtbar. Ein Junge kommt von der Straße herein, wo es vor wenigen Minuten noch geregnet hat. Der Schlachter zerlegt den Jungen. Der Junge kreischt nicht. Der Junge ist nur ein Kalb. Die Frau schweigt. Sie trinkt nur Kaffee. Der Mann sagt nichts. SCHLACHTER
Das Fräulein bittet mich um die, die man essen kann. Wir Menschen sind nicht bereit, das warme Blut mit dem Mosser, dem Mässer zu opfern. Man soll die Schüsseln bringen, wo sollen sie stehen, damit das Fleisch hineinfällt, das Blut, nachdem die Aorta, die Hohlvene des Tieres aufgeschlitzt ist? Das ganze Opfer heute Abend, alles im Nu gesagt, ohne Zeit zur Vorbereitung zu haben. Fräulein, wenn Sie nicht gehen, wird Ihr Kleid mit dem Blut des Tieres beschmutzt. Ich muß ihm das Messer tief in die Vene stoßen, das gibt einen Schwall, Fräulein, verstehen Sie das, verstehen Sie das, verstehen Sie das, verstehen Sie das? Wie gut, daß man mich versteht in diesem Leben. Es gibt nichts besseres, als daß man verstanden wird, meinen Sie nicht, Fräulein, daß es ein Privileg ist, von jemandem verstanden zu werden? Das Fräulein ist eine gute Seele, man soll sie nicht verkaufen, ihre Seele aus Porzellan, ich bin poetisch, ich bin recht melancholisch, ich komme aus Italien, aus dem Süden Italiens, man verachtet mich, weil ich keinen anderen Beruf habe als Kühe zu töten, als Stiere zu töten, als Esel zu töten, als Hühner zu töten, als das Blut mit den Gefrorenen, den Ge-
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ronnenen zu töten in dem Kessel, in dem die Kutteln gekocht werden, ich muß gehen und ein wenig schlafen, um ein wenig auszuruhen, wir sind bereit, für die Verhöre, wenn die Herren Polizisten kommen. (6) In El Café o los indocumentados wird die Funktion der Spur, des hinterlegten Gedächtnisses der Frau durch die Metatheatralität des Schlachters blockiert. Die Sprache ist die höchste F o r m der Vergegenwärtigung, als gelesenes Bild, als dialektisches Bild der Vereinigung ohne Distanz schlechthin, Metabolismus zwischen Materie u n d Bild, N ä h e oder Gegenwart der Darstellung des Identitätslosen. Das W o r t als Bühne, Theater des Körpers, Technik der Vergegenwärtigung, wirre Trächtigkeit der Dinge. „Sie ist in u n s e r e m R a u m (nicht wir in ihrem) vorzustellen." (Benjamin in Weigel 1992: 53) SCHLACHTER
Ich wiederhole dem Mann, der in der Zeitung blättert, daß die Musik ihm nichts nützt. Daß dies ein Ort ist, wo das Wasser spät kommt und wo man eine Melodie anstimmt, die auch nichts nützt. Der Mann antwortet nicht. Er trinkt Wasser aus dem Glas, und die Frau fährt fort in ihrem Monolog. Es ist ein endloser Monolog. Fünf Minuten lang spricht sie allein. Sie beginnt mit dem Thema vom Wasserglas auf dem Tisch. Sie klagt über die schlechte Bedienung. Niemand kommt, wenn man um etwas Wasser bittet, um den Kaffee abzukühlen, das scheint das Leitmotiv ihres Monologs zu sein. Sie bittet verzweifelt um Wasser. Niemand kommt. Der Mann glaubt, einen nicht ganz zwanzigjährigen Jungen zu sehen, der an den Tisch kommt und der schreienden Frau ein Glas Wasser bringt. Über ihr Geschrei sieht die Frau den Jungen nicht, der ihr ein Glas Wasser bringt. Es ist ein Junge mit Beamtengesicht. Der nicht oft gelogen hat. Der hier arbeitet, um seine Familie zu erhalten. Der kaum Familie hat. Mit dessen Geschichte man allein schon ein Melodrama schreiben könnte. Der Mann am Tisch versucht, ihn anzusehen. Der Junge weicht dem Blick aus. Der Mann denkt an die Frau, die nach Wasser ruft. Es muß eine betrunkene Frau sein. Bestimmt hatte sie einiges getrunken, als sie ins Café kam. Eine Frau, die bei Sinnen ist, spricht nicht, wie es diese Frau tut. Der Mann löst das Geheimnis der Frau, indem er sie für betrunken hält. Es ist eine schlecht geschminkte Frau. Ihr Mund ist vom Lippenstift verschmiert. Ihre Augen ein schwarzer Fleck. Der Mann hört ihr zu, wie sie laut nach Wasser ruft. Das Thema Wasser fließt hin und wieder in den Monolog der Frau ein. Er kann ihr keinen Namen geben. Wie kann diese betrunkene Frau heißen, die im Café in der Avenida Sainte Jeanne nach Wasser ruft. Er wagt nicht, sie nach ihrem Namen zu fragen. Die Frau läßt keinen Raum in ihrem Monolog, damit niemand sie etwas fragt. Sie fragt und antwortet sich selbst. Sie beherrscht den Dialog. Sie bewegt sich leicht im kurzen Satz. Zu Anfang hält er sie für eine Schriftstellerin. Erfolglose Schriftstellerin. Er gibt nicht an, wie er zu diesem Schluß kommt. [...] Die Frau hat nur Ohren für das, was sie sagt. Sie hat nur Augen für die Bilder, die aus ihrem Mund kommen. Sie ist eine egoistische Frau. Der Junge spielt bei diesem Spiel
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mit. Er kann der Geschichte der Frau nur folgen. Er hört roten Stein wie der Mann und bleibt ungerührt. Nichts. Der Mann legt die Zeitung auf den Tisch und folgt dem Monolog der Frau. Sie hat in Wahrheit nichts getrunken. Sie trinkt nicht. Aus einigen Worten kann man schließen, daß die Frau keine Alkoholikerin ist. Aber der Mann ist zu müde. Ihm fehlt das Gespür, dies zu entdekken... (19)
Die Hure, die Frau an der Schwelle des Erwachens, besetzt mit ihrem Leib das innere Gebiet des Übergangs zwischen Traum und Wachen, phantasmagorische Gewalt der Gruppe, die von niemandem entziffert werden will. Die Sprache ist der Wahnsinn des Leibes, der das unmögliche Bild gebiert, verdrängt, visionslos, die Überlagerung, an der - wieder Benjamin - „die Geschichte Gegenstand einer Konstruktion ist" (Weigel 1992: 57). Das von der Frau Empfangene dringt in ihren Leib ein, kämpft gegen die Arbeit der Bilder, die seine Unterscheidung verhindern möchte, widersteht dem Verschwinden des Körpers, indem sie ihren Leib zur Mimesis des Schreckens zwingt. Leib und Sprache begreifen als Zerstörung jene Idee der Konstruktion des künstlerischen Prozesses, die den historischen Prozeß durch den Eingriff in die Repräsentationen kompromittiert. Das Bild ist ein Szenario der Spannung, Widerstand des Leibes gegen die Situation des Verschwindens, die den Verlust eines Begriffs, seiner distinktiven Grenzen antizipiert, die Versunkenheit in Fremdes, die Negation des Leibraumes unter der Herrschaft der Diktatur. Auf diese Weise sprechen wir vom Leibraum und vom Bildraum als denjenigen Räumen, die von einem politischem Handeln bewegt sind, das über die Sichtbarmachung der Perversion der Sprache den Schrecken austreibt. Eine Sprache des Leibes, weil somit das Vergessene sichtbar wird und „die vergessene Fremde unseres Körpers - der eigenen Körper - ausdrückt" (1992: 62), - erinnern wir uns an Benjamins Lektüre von Kafka. Die Frau Mit der Erwählung der Frau als Urheberin von Wort, Leib und Bild wird im Theater des Todes der Schrei in das Wort verlegt. Lyotard stellt in seinem Aufsatz Reescribir la modernidad: ensayo sobre lo inhumano (1998) die Konstanz eines diskursiven Vermächtnisses der Frau fest, „das ihr Leiden im Wahrnehmen und Empfangen markiert," „ein Leiden, das durch das Unvermögen verursacht wird, sich mit dem Objekt des Blicks vollständig zu vereinigen und es zu beherrschen" (1998: 29). Ein Begehren also, das an einer Gedächtnissperre leidet, ein Leib des Raum-
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Denkens, der Bild-Bewegung. Aber die Karte unserer narrativen Lücken bietet eine Erzählung, die andere Möglichkeiten von Sinn, Sprache und Körper birgt, eine Erzählung, die uns etwas angeht. Die etwas mit der Erfahrung der Bedrohung des Körpers zu tun hat, mit der Problematik seines Exils. In diesem theatralen Feld ist die Erzählung der Frau die von der Hypertrophie der Privatheit, von der negativen Entropie. Die Frau ist irgendein Subjekt. Sexualität ist der privilegierte Diskurs der Macht in einer Kultur der Intervention. Macht ist der Raum Gottes am Ende des Jahrhunderts, die Besetzung des theologischen Vakuums der Modernität. Sie skizziert weite, irreduzible Geographien des Körpers. Die Folgen ihres Produktionsprozesses beginnen sich auf alarmierende Weise festzusetzen, gewissermaßen mit der Qualität einer Unterschrift oder Benennung, die über den eigentlichen Sirin von Geschichte entscheidet und die Kunst verpflichtet, sie erneut zu erzählen, um sie zu retten. Innerhalb dieser Chronotopie des Todes der Geschichte besteht die Aufgabe des Künstlers in der moralischen re-ecriture des Mythos. Der Wettbewerb um das (Aus)Sprechen der Frau als rhetorische Kategorie trifft direkt in das Herz der Gefühlskompetenz und Innerlichkeit; ebenso wie die semantische Dämonisierung und das Problem der schwarzen Stimmen zwischen den Tretminen des Stils. Zornentbrannt spricht er sentimental und gewichtig, betrachtet ein Album der besorgten Wahrnehmung, das sich nicht zurückgeben läßt. Ihn interessiert die linguistische Spaltung, ihn irritiert die Unentschlossenheit, er nimmt an der konstanten Erfahrung des Bruches teil. Er bietet Material für ein noch höheres Ausdrucksvermögen an: die Präzision der Gewalt in der Gewalt, die leibliche Materie, der er sich bedient, die Muttersprache. Auf dem Weg des Sprachleibs liegt die Verunglimpfung der Bildung, die in dem Spiel mit der Figur von Borges dargestellt wird, dem großen Zweifler der Sprache, der die Totalisationen und größten Wünsche des Wortes träumt (den Traum Gottes). Die Frau könnte zum Geschlecht der Borges gehören, das Verzicht übt, entsagt: Epilog oder wohin das Geständnis der Frau gehört FRAU Ich bin eine junge Frau. Ich habe mit dem Mann geschlafen, den Sie tot sehen. Ich schreibe Erzählungen. Ich bin Volksschullehrerin. Ich habe einige Zeit in der Sierra gearbeitet. Ich lese Borges.
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Ich arbeite in einer Fabrik. Ich unterrichte die Arbeiter. Ich bin Jüdin. Ich wohne in einem möblierten Zimmer. Ich habe in den letzten zwei Wochen mit dem Mann geschlafen. Ich hatte diesen Mann vierzehn Tage in meinem Bett. Ich habe die Hauswirtin getäuscht. Niemand sah mich mit ihm hereinkommen. Finden Sie mich überzeugend?
[...]
Ich habe kein Privatleben. Ich komme aus der Schule, gehe in die Fabrik. Eine leichte Arbeit. Leichtverdientes Geld. Um meinen Vater zu erhalten. Er ein Invalide. Ein zirrhotischer Invalide. Sie finden meine Geschichte traurig. Ich habe schlimmere. Die interessieren Sie nicht. Ich füttere meinen Vater. Der Alte schluckt das Essen. Er sieht kaum noch. Nichts. Der Alkohol macht ihn blind. Macht ihn stumm. Er ist nur ein Mund. Ein Eingeweide. Ein Darmausgang. Eine einzige Linie.
[...]
Es hat keinen Sinn weiterzusprechen. (24)
Das Theater scheint das Schreiben der Frau als konzeptionell dramatisches, essentiell performatives und epistemologisch notwendiges zu verteidigen, notwendig für Körper ohne Gleichgewicht. Es beklagt den unerträglichen Mangel an symbolischen Gütern. Es erforscht Knechtschaften. Es funktioniert optimal. Als ob es noch eine Möglichkeit der Konstruktion einer Stimme gäbe, die keine Positionen des Anderen formuliert oder nur die von Körpern von der anderen Seite: der Alkohol, der Durst, der Sex, der Tod, das Buch. Die schwierige Chance des Körpertheaters besteht in der Illusion, die ästhetische Erfahrung in den Dienst einer verzweifelten Wahrheit zu stellen, an deren Beginn die Angst steht. Am Ende der Dialektik und der Faszination existiert nur noch der Zorn eines polymorphen Faust, ein permanenter Aufruhr des Begehrens. Daraus entsteht dann der Wunsch
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nach einem Wissen, das sich vornimmt, das Heilige mit Blick auf die Grenze zu retten, am Abgrund, ohne Vertrauen in den Körper. Ausgehend von der Geschichte der Frau lautet die Frage des Theaters, ob wir in der Lage sind, das Verschwinden da zu ideologisieren, wo sich mein Sinn erfüllt; ob ich mit einem Subjekt ohne Antworten leben kann, im ständigen Schaffensprozeß, am Abgrund oder mit einem radikalen Bewußtsein über das Intime. Es gibt das Bedürfnis nach einem Subjekt der kleineren, prekäreren Versuchungen, der Suche im Inkonsequenten, im Verworfenen, in der verlorenen Zeit des Aufruhrs. (Kristeva 1990) Die Aufgabe der Sprache dieses Theaters besteht darin, die Lösung im Körper zu suchen, zwischen Materie und Erinnerung, jener BildBewegung und Bild-Zeit, die Bergson formuliert. Die physischen Aktionen sind die physischen Realitäten der Welt des handelnden Bewußtseins. Die Dualismen der Wahrnehmung kreisen um eine andere Grammatik der Repräsentation, die, indem sie den Körper der Außenwelt ausliefert, eine eigene Lesart von Theatralität definiert, weil sie mit dem epochalen Phänomen der Antirepräsentation konfrontiert ist. Die Bilder befinden sich auf der Bühne, und das Reale ist die Leere, die das Imaginäre verrät oder simuliert, nicht umgekehrt. Das Bild ist die Stütze der Welt, und es ist vom Leib nicht zu trennen. Die Materie und die Erinnerung teilen die Versuchungen der Camouflage, Tätowierung oder Einschüchterung (Caillois 1960: 31). Das Bild ist die physische Aktion zwischen Darstellung und Objekt. Es ist ein Leibraum. Eine Erkundung des Leib-Denkens. Das Leib-Denken erkundet zwischen Ding und Wort ein Konzept der Realisierung. Es gibt einen Spannungsbogen - in diesen Stücken auf obsessive Weise in Szene gesetzt - zwischen praktischem Nutzen des Leibes als Objekt und der Möglichkeit, den Nutzwert der Aktion zu transzendieren, um zur reinen schöpferischen Energie selbst zurückzugelangen. Das Leib-Denken der neuen theatralen Metaphorik stellt das Verhältnis zwischen dem analytischen Zustand des Geistes und der essentiellen Existenz der Materie in Frage sowie die Vermittlung zwischen beiden durch die Sprache. Bergson würde sagen, dieses Verhältnis existiert: es ist real und intim. Deleuze würde vorschlagen, es schrittweise aufzulösen, um das Sagbare und Sichtbare neu zu ordnen, indem der Körper die Position der Schnittstelle zur historischen Ebene der nicht-diskursiven Praktiken des Sichtbaren einnimmt, weil - und darin folgt er wiederum Foucault unsere Sichtverhältnisse irreduktibel sind (1986: 50-62). Schließlich hat das Theater die Neigung, unmögliche Gedächtnisschnitte vorzunehmen.
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Das Theater will wissen, was unser Körper macht und bedeutet, wenn die Sprache ihn bis zum Äußersten treibt. Theatralisch gesehen ist das, was der Körper am Schnittpunkt mit dem Objekt entdeckt, die Geburt der Zeit, die Operation der Erinnerung. Raum ist zunächst eine nicht wahrgenommene Bewegung. Das Café ist ein Nicht-Ort. Der Körper der Frau hingegen kennt eine Ausdehnung von Bewußtsein und Bild. Was wir hier anschauen, sind Subjekt und Objekt als Komplizen der Wahrnehmung, zum inneren Bruch bereit, als höchste Priorität der Geschichte des Zeichens: L'aspect subjectif de la perception consistant dans la contraction que la mémoire opère, la réalité objective dans la matière se confondant avec les ébranlements. Multiples et successifs en lesquels cette perception se décompose intérieurement. (Bergson 1997: 74).
Ohne Konfrontation mit der Materie existiert keine Zeit. Wenn man nun aus dieser besonderen Fähigkeit unseres Gedächtnisses die These ableitet, daß die Materie nur die Kräfte ausüben kann, die wir wahrnehmen8, dann wäre gerade das Theater in der Lage, uns die poetische Kraft der artikulierten Wahrnehmung zurückzugeben. Es fungiert als Laboratorium einer Theorie der Komposition, in dem „meine Gegenwart in dem Bewußtsein besteht, das ich von meinem Körper habe" (Bergson 1964: 154), 9 meine unmittelbare Aktion als Form der Erinnerung.10 Die 8
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Anm. d. Ü.: Olcoz bezieht sich hier auf folgende Passagen bei Bergson: „Daß die Materie ohne die Mitwirkung eines Nervensystems und ohne Sinnesorgane wahrgenommen werden könnte, ist theoretisch nicht undenkbar, aber praktisch unmöglich, weil eine Wahrnehmung dieser Art zu nichts gut wäre. Sie würde einem Phantom anstehen, aber nicht einem lebenden, d.h. handelnden Wesen. (...) mein Nervensystem, das zwischen die Objekte, welche meinen Körper affizieren und die, auf welche ich Einfluß habe, eingeschaltet ist, [ist] nur einfach ein Konduktor, der Bewegung weiterleitet, verteilt oder aufhebt. (...) Man kann demnach sagen, daß jede Einzelheit der Wahrnehmung völlig von den sensorischen Nerven abhängt, daß aber die Wahrnehmung als Ganzes wirklich und schließlich in der Tendenz unseres Körpers zur Bewegung hat." (74 f.) Bergson kritisiert mit diesem Ansatz die traditionelle, philosophiegeschichtlich untermauerte epistemologische Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt, Körper und Geist. Anm. d. Übers.: Das Zitat geht wie folgt weiter: „Im Räume ausgedehnt, hat mein Körper Empfindungen und führt zugleich Bewegungen aus. Da Empfindungen und Bewegungen sich in bestimmten Punkten dieser Ausdehnung lokalisieren, kann es in einem gegebenen Augenblick nur ein einziges System von Bewegungen und Empfindungen geben. Aus diesem Grund erscheint mir meine Gegenwart als
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Materie zieht sich nicht zusammen, sie demontiert sich und schafft Möglichkeiten, indem sie neue Architekturen der Zeit zwischen den Schichten der Ausdrucksfunktionen sucht. Genau an diesem Punkt erscheint, dramaturgisch betrachtet, die Frau in der Erinnerung der Wahrnehmung, als ausgelieferter Körper, unterschlagen, widerstandsfähig: Kultur der Verteidigung des Körpers und der Konsequenz des Körpers (Suleiman 1995); in der Poetik bis zum Äußersten getrieben. Über dem semantischen Abgrund, den er selbst erzeugt, klammert sich der Körper bis zuletzt an den Raum. Darin besteht die Komplexität der Krankheit des Vergessens als ersehnter Ort. Die nicht empfundene, nicht repräsentierbare Geschichte vom Ende des 20. Jahrhunderts wird zum Teil von diesem Roman der Prüfung erzählt. Er hat etwas mit dem zarten Körper von Ophelia unter der Architektur des Eingriffs, mit der Freiwilligkeit des Körpers von Antigone gegenüber dem Diskurs des Krieges, mit der emblematischen Defiguration des Theaters der Frau zu tun. Körper und Medien der Macht und der Materie.
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ein absolut bestimmtes Ding, das sich von meiner Vergangenheit scharf unterscheidet. Zwischen die Materie, die ihn beeinflußt, und die Materie, die er beeinflußt, hineingestellt, ist mein Körper ein Tätigkeitszentrum, der Ort, wo die empfangenen Eindrücke intelligent ihre Bahn wählen, um sich in ausgeführte Bewegung umzusetzen: er stellt also den aktuellen Zustand meines Werdens dar, was in meiner Dauer gerade in der Bildung begriffen ist. Allgemeiner gesagt, in dieser Kontinuität des Werdens, welche die Wirklichkeit selbst ist, wird der gegenwärtige Augenblick durch den quasi momentanen Schnitt gebildet, den unsere Wahrnehmung in die im Ablauf begriffene Masse vollzieht, und was wir die materielle Welt nennen, das ist gerade dieser Schnitt: unser Körper nimmt ihr Zentrum ein; er ist von dieser materiellen Welt ein Teil, dessen Ablauf wir direkt fühlen; in dieser Aktualität besteht die Aktualität unserer Gegenwart." (155) Anm. d Übers.: Vgl. dazu Bergson: „Nach unserer Ansicht ist der Unterschied [zwischen den aktuellen Empfindungen und der reinen Erinnerung] ein radikaler. Meine aktuellen Empfindungen nehmen bestimmte Teile der Oberfläche meines Körpers ein; an der reinen Erinnerung hingegen ist kein Teil meines Körpers beteiligt. Zweifellos wird sie, indem sie sich materialisiert, Empfindungen erzeugen; aber in demselben Augenblick wird sie aufhören, Erinnerung zu sein und in den Zustand einer gegenwärtigen Sache übergehen, die aktuell erlebt wird, und ich kann ihr den Charakter als Erinnerung nur dadurch wiedergeben, daß ich zu der Tätigkeit zurückkehre, durch welche ich sie, virtuell wie sie ist, aus der Tiefe meiner Vergangenheit wachrief." (155)
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Konklusion Die Dramaturgie des Bildes hat mit einem Prozeß der Materialiserung und Dematerialisierung von Sprache zu tun, der vom Körper geordnet wird. Der Körper ist eine diskursive Konstruktion, ein materielles Gedächtnis. Den Körper verschwinden lassen kann einzig die Sprache. Dramatik ist jedesmal mehr eine Aufrufung des Körpers und als solche in der Lage, Materialismus gewissermaßen vertragsgemäß herzustellen. Der Prozeß des Dramas ist zutiefst in die komplexesten materialistischen Mechanismen der Sprache verstrickt, bis hin zum Verhältnis des Körpers zur Stimme. Seine allererste Einschreibung geht auf die Überlegung von Elaine Scarry in Literature and Body (1988: IX-XI) über die besondere Fähigkeit des Diskurses zurück, das Erscheinen und Verschwinden des Körpers zu regulieren: Eine Anthropologie des Raumes, die sich in Lateinamerika mit dem politischen Sinn verbündet hat. So erhöht sich der Antrieb zur Bildung weiterer diskursiver Formationen oder Fähigkeiten der Kultur, in der Auseinandersetzung mit einer Einzigartigkeit, die nicht monolithisch sein darf: die Biographie, die Historiographie, der medizinische Fall, der Kriminalfall, die Elegie. Das Theater übernimmt die Erforschung der Eigenheiten und Attribute des Körpers als Sprechakte, indem es den Diskurs zwischen dem Einzelnen und dem Vielfachen auf dem Register zwischen Stimme und Körper reguliert. Eine materielle Entscheidung, mit der die Sprache einen Akt der Vergegenwärtigung vollzieht. Wenn die Performance ausgeschöpft ist, erscheint der Körper nur noch als Wahrnehmung seines Verschwindens, mit dem größten Aufwand an Materialität. Das Theater des Sprechens, die Stücke, die uns beschäftigen, bestehen auf der Verwundbarkeit des sozialen Vertrags, der von den Praktiken des Diskurses verletzt wurde und auf dem unversöhnlichen Gedächtnis des politischen Körpers; auf der Zerbrechlichkeit des Körpers gegenüber dem Wort und dessen performativer Macht, ihn in Verruf zu bringen; die Erfahrung von Geschlecht oder Rasse als Bezeichnungen des Körpers im Sprechen; die Anatomisierung des Diskurses. Verzeichnisse des Schmerzes, Fragmentierung der Totalität und Rückgewinnung des Körpers in technischen Höhenflügen der Sprache angesichts des Verlusts des Subjekts. Wege des Körpers, ausgestattet mit dem, was Scarry „its power to absorb the artifacts of culture into its öwn interior matter" (1988: VII) nennt. Die Figur der verletzten Frau drückt einen politischen und kulturellen Zusammenbruch mit einem großen, nie dagewesenen Kriseneffekt aus, eine epistemologische Untersuchung, die der höchsten Anforderung
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an die Fähigkeit zur und Notwendigkeit von Erkenntnis unterliegt: es geht um den Verlust des Körpers, die Zerstörung des sozialen Projekts und die konzeptionelle Leere hinsichtlich einer neuen Architektur der Zeit. Uns fehlt eine andere Ontologie des Zustands, der genau das ist, was wir tatsächlich einfordern, wenn wir zur Empfindsamkeit des Raumes zurückkehren, zur Erfahrung des Körpers. Der uns bekannte Umgang mit Autorität und Programmierung erlaubt uns keine Schnitte in die Geschichte. Die Zeit gehört uns nicht, denn der Raum ist eine Form der gestohlenen Schönheit. Mit der demokratischen Frustration entwikkelt der Körper das weibliche Begehren, unhintergehbar und vielfach zu sein. Ein Begehren, das explizit und intentional ästhetisch und politisch ist: eine Verpflichtung zur wahrheitsgetreuen Anwendung von Zeichen zur symbolischen Realisation von Sprachen, die mit dem Bewußtsein über die eigene Materialität beginnen. Das Begehren meines Körpers ist Denken. Das Wissen ist das einzige, das mir Zukünftigkeit über den Besitz des Gestern garantiert. Das zuverlässige Wissen, der materielle Körper, gründet sich auf meinem Eindringen in die Monumentalität der Sprache, die Praktiken ihrer Spiegel-Ökonomie. Was ich als Subjekt einer politischen, medialen, vergeßlichen Globalisierung zurückgewinnen möchte, ist die Materialität des Körpers mit seiner Geschichte der Gewalt und seinen Gesetzen der Morphologie, mich dabei verpflichtend, mich in meiner eigenen Theatralität in den Kulturtext zu stürzen, mit der ganzen Problematik meiner Geschichtlichkeit. Wenn die Nation traditionell über das Ausgeschlossene definiert wurde, dann legt es das Theater von Juan Claudio Burgos darauf an, die Verwundbarkeit unserer Materialisation einzuklagen. Das Programm seiner Erzählung kennt aber noch eine weitere Herausforderung, die zu einem materiellen Begriff des Körpers zurückkehren will, der sich mit dem Sinn von Sprache konfrontiert: die Bühne als performative Möglichkeit, diese Ordnung, die mich in die Sprache einschließt, ausgehend von den eigenen Bedingungen meiner subjektiven Materie neu zu diskutieren und auszuprobieren. Bei der großen Frage nach dem nächsten Opfer der Sprache wird dasjenige, was von der Macht und der Sprache verlassen ist, vielleicht eine andere symbolische Kraft haben: in Zeiten einer extremen Sinnlosigkeit von Sprache, des Referenzverlustes oder der väterlichen Lücke den Sinn der Entfremdung zu pflegen. Irgendwie handelt es sich darum, das Wesen der Macht selbst zu verändern, die Gewalt ans Licht zu bringen, die jedem symbolischen Kontrakt inne-
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wohnt (Girard 1983), sowie um die Möglichkeit eines anderen Raumes der Bedeutungen, um die Bedürfnisse des Körpers für eine rückhaltlose Praxis der Repräsentation ausgiebig zu analysieren. Deutsch von Kati Röttger Literatur Benjamin, Walter: „El Surrealismo: La última instantánea de la inteligencia europea", in Iluminaciones I. Madrid 1980, S. 41-64; dtsch. „Der Surrealismus: Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligentsia", in Illuminationen. Frankfurt/Main 1969. Bergson, Henri: Matière et mémoire. Paris (1939) 1997. [Deutsch: Materie und Gedächtnis und andere Schriften. Frankfurt/Main 1964.] Burgos, Juan Claudio: La defense ; Los indocumentados. Caillois, Roger: Méduse et Cie. Paris 1960. Deleuze, Gilles: Foucault. Minnesota 1986 Foucault, Michel: Entre filosofía y literatura. Barcelona 1999. Girard, Roger: La violencia y lo sagrado. Barcelona 1983. Kristeva, Julia: Sentido y sinsentido de la revuelta. Literatura y psicoanálisis. Buenos Aires (1996) 1998. Lyotard, Jean-Francois: Lo inhumano. Buenos Aires 1998. Scarry, Elaine (hrsg.): Literature and the Body: Essays on Populations and Persons. Baltimore and London 1988. Suleiman, Susan R. ed.: The Female Body in Western Culture. Cambridge 1995. Weigel, Sigrid: Cuerpo, Imagen y Espacio en Walter Benjamin: Una Relectura. Buenos Aires 1999. [Deutsch: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt/Main 1997. Sowie: Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin. Hrsg. von Sigrid Weigel. Köln et al., Böhlau Verlag, 1992.]
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Heidrun Adler, Kati Röttger (Hrsg.): Theaterstücke lateinamerikanischer Autorinnen, Frankfurt 1998,440 S., (Theater in Lateinamerika, 2), ISBN 3-89354322-8 Heidrun Adler, Kati Röttger (eds.): Performance, Pathos, Política de los Sexos. Teatropostcolonialde autoras latinoamericanas, Frankfurt/Madrid 1999, 244 p., (Teatro en Latinoamérica, 3), ISBN 3-89354-323-6, ISBN 84-95107-31-7 Heidrun Adler, Adrián Herr (Hrsg.): Kubanische Theaterstücke, Frankfurt 1999, 412 S„ (Theater in Lateinamerika, 4), ISBN 3-89354-324-4
Heidrun Adler, Adrián Herr (eds.): De las dos orillas: Teatro cubano, Frankfurt/Madrid 1999,224 p„ (Teatro en Latinoamérica, 5), ISBN 3-89354-325-2, ISBN 84-95107-38-4
Heidrun Adler, Adrián Herr (Hrsg.): Zu beiden Ufern: Kubanisches Theater, Frankfurt 1999,228 S., (Theater in Lateinamerika, 6), ISBN 3-89354-326-0
Neuerscheinungen der Reihe „Theater in Lateinamerika"
Heidrun Adler, George Woodyard (eds.): Resistencia y poder: teatro en Chile, Frankfurt/Madrid 2000,192 p., (Teatro en Latinomérica, 8), ISBN 3-89354-328-7, ISBN 84-95107-94-5
Heidrun Adler, George Woodyard (Hrsg.): Widerstand und Macht: Theater in Chile, Frankfurt 2000, 204 S., (Theater in Lateinamerika, 9), ISBN 3-89354329-5
Heidrun Adler, Maria de la Luz Hurtado (Hrsg.): Theaterstücke aus Chile, Frankfurt 2000, 348 S., (Theater in Lateinamerika, 10), ISBN 3-89354-327-9
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