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German Pages [315] Year 2018
L’Homme Schriften Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft
Band 25
Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Mineke Bosch/Groningen, Bozˇena Chołuj/Warschau, Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/ Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Margareth Lanzinger/Wien, Sandra Maß/Bochum, Claudia OpitzBelakhal/Basel, Regina Schulte/Berlin, Xenia von Tippelskirch/ Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Therese Garstenauer
Russlandbezogene Gender Studies Lokale, globale und transnationale Praxis
Mit 12 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Historisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt der UniversitÐt Wien und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Erstellt mittels WordArt.com (https://wordart.com) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-565X ISBN 978-3-7370-0876-1
Inhalt
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9 11
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12 15
2 Geschlechterpolitiken und -verträge im postsowjetischen Russland . .
19
3 Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen 3.1 Diskurse, Praktiken, Felder und Räume . . . . . . . . . . . 3.2 Forschung über Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . 3.3 Geopolitische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Norden und Süden, Zentren und Peripherien . . . . . 3.3.2 ›Ost‹ und ›West‹ als spezifische geopolitische Differenzierungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Globale Machtverhältnisse in den Sozialwissenschaften . . . 3.4.1 Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Gender Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Transfer, Verflechtung, Zirkulation . . . . . . . . . . . 3.5 Sozialwissenschaften in Russland: »provinzielle« und »einheimische« Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Transnationale russlandbezogene Gender Studies: Gegenstandsklärung und zentrale Fragen . . . . . . . . . . . 1.3 Aus einer Dissertation ein Buch machen: Aufbau des Buches
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27 28 33 37 37
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40 48 48 53 56
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61
4 Russlandbezogene Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Geschlechterforschung in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Erste Feministinnen und das Moskauer Zentrum für Gender Studies (MZGS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Sommerschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Frauen-NGOs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Zentren für Gender Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71 72 78 83 85 87 88
6
Inhalt
4.1.6 ›Westliche‹ Förderfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Russian Women’s and Gender Studies: Englischsprachige Länder 4.3 Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge: Deutschsprachige Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Slawistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Osteuropageschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Interdisziplinäre Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Russian Women’s/Gender Studies abzählen . . . . . . . . . . . .
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103 110 112
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119 120 121 123 131
5 Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse . . . . . . . . . . 5.1 Beschreibung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Sampling und die Entstehungsbedingungen der Interviews 5.1.2 Strukturierung der Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Geometrische Datenanalyse (GDA): Spezifische Multiple Korrespondenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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135 135 139 143
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171
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175 176 177
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188 197
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199 218
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231 237 246 254 260
8 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorträge, unveröffentlichte Manuskripte und Berichte Internet-Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277 277 301 302
6 Analyse der Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Erste Dimension: Über Russland forschen . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Russian Studies: Dominanz in der ersten Dimension . . . 6.1.2 Russland als Objekt der Forschung: Dominiertheit in der ersten Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zweite Dimension: Internationale frauenpolitische Netzwerke . 6.2.1 Postsowjetisches Selbstbewusstsein: Dominanz in der zweiten Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Rezeption: Dominiertheit in der zweiten Dimension . . . 7 Der zweidimensionale Raum des Möglichen transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . 7.1 Gemeinsame Projekte (Doppelte Dominanz) . . . . . . . 7.2 Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit) . . . 7.3 Slawistik (Dominierte Dominanz) . . . . . . . . . . . . . 7.4 Gender Studies nebenberuflich (Doppelte Dominiertheit)
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Inhalt
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der Abbildungen und Tabellen . . . . . . . . . Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere für die Analyse verwendete Texte . . . . . . Fragenleitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der in Abschnitt 4.4 analysierten Zeitschriften: Feminist/Women’s/Gender Studies . . . . . . . . . .
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307 307 308 309 309
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1
Einleitung
Gabriele Griffin und Rosi Braidotti stellen in ihrem Buch »Thinking Differently. A Reader in European Women’s Studies« den Leser_innen folgende Aufgabe: »[W]rite down – without looking them up – the names of five American feminists, five British feminists; and five feminists who are German, Italian, Spanish, Slovenian, Greek, Hungarian, Portuguese, Finnish, and Belgian. How did you get on? The likelihood, since you are not a beginner in Women’s and Gender Studies, is that you could manage American and British, and possibly those relating to your own country of origin, but beyond that?«1
Der nächste Rechercheauftrag der beiden Autorinnen lautet, nachzusehen, welche Bücher von amerikanischen, britischen und anderen Feminist_innen man in seinem Regal stehen hat. Wiederum nehmen sie an, dass bei den meisten Leser_innen wohl amerikanische, britische und französische Autor_innen sowie solche aus dem eigenen Land vertreten sein werden. Die Chancen, Werke von Autor_innen aus anderen Ländern im eigenen Regal zu finden, sind dagegen relativ gering. Von russischen Feminist_innen und Forscher_innen war gar nicht erst die Rede.2 Die Idee, mich mit Kontakten und Kooperationen zwischen russischen und ›westlichen‹ Geschlechterforscher_innen und somit mit transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung zu befassen, entstand im Zuge meiner Auseinandersetzung mit Geschlechterforschung in Russland.3 Die 1 Gabriele Griffin u. Rosi Braidotti, Introduction: Configuring European Women’s Studies, in: dies. (Hg.), Thinking Differently. A Reader in European Women’s Studies, London 2002, 1–28, 1. Dass die beiden überwiegend von »feminists« schreiben, soll hier nicht irritieren: In ihrer Verwendung des Begriffs ist er ident mit »gender scholar«. 2 In einem anderen Beitrag des Bandes – über die Verwendung der Begriffe sex und gender in europäischen Sprachen – wird allerdings auch auf Russland Bezug genommen, vgl. Rosi Braidotti, The Uses and Abuses of the Sex/Gender Distinction in European Feminist Practices, in: dies./Griffin, Thinking Differently, 285–307, 297ff. 3 Dazu habe ich meine Diplomarbeit verfasst, die stark überarbeitet als Buch erschienen ist, vgl. Therese Garstenauer, Geschlechterforschung in Moskau. Expertise, Aktivismus und Akademie, Berlin u. a. 2010; vgl. auch dies., Frauen- und Geschlechterforschung in Rußland, in: Österreichische Osthefte, 43, 4 (2002), 525–542.
10
Einleitung
Bezugnahme auf das ›westliche‹ Ausland – in Gestalt von Literatur, Theorien, Methoden, Personen, Finanzierungen und anderem mehr – war hier allgegenwärtig und unübersehbar. Die Sankt Petersburger Soziologinnen Anna Temkina4 und Elena Zdravomyslova charakterisieren diese Importverhältnisse so: »The main concepts of gender research – gender, feminism, women’s subjectivity – have been taken over from Western feminist discourse and were introduced to the Russian public early in the 1990s; Russian gender studies began to develop as a whole thanks to the application of Western concepts and theories.«5 Noch deutlicher formuliert es Elena Gapova, eine Sozialwissenschafterin aus Belarus, die inzwischen in den USA lebt und arbeitet: »[…] ›gender‹ IS Western knowledge: conceived, born and nurtured in Western academia«.6 Wenn Geschlechterforschung also vielfach – und nicht nur von Russland aus gesehen – als etwas westlich Konnotiertes betrachtet wird,7 so ist man als nicht-westliche Geschlechterforscherin gewissermaßen gezwungen, dazu Stellung zu beziehen, ob im Positiven oder im Negativen. Selbst ein Nicht-Bezugnehmen, sei es mit Absicht oder aus Informationsmangel, wird zu einer Stellungnahme. Geschlechterforschung kann in und für Russland nicht sinnvollerweise völlig abgekoppelt von internationalen Tendenzen erfunden und betrieben werden, angesichts langjähriger Entwicklungen an anderen Orten.8 Eine solche Konstellation legt nahe, dass die Analyse eine Perspektive, die über nationale Kontexte hinausgeht, einnehmen muss. Interesse an Gender Studies in und über Russland – und damit auch an Rezeption oder Kontaktaufnahme – kommt außerhalb Russlands häufig nicht 4 Zu den Konventionen der Transliteration und Übersetzung: Russische Namen und Begriffe werden entsprechend der im deutschsprachigen Raum gebräuchlichen wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben. Bei Literaturangaben weicht in manchen Fällen aufgrund unterschiedlicher nationaler Transliterationsweisen die Schreibweise eines Namens von der im Text üblichen ab (zum Beispiel Barcˇunova/Barchunova, Chotkina/Khotkina, Posadskaja/ Posadskaya, Lipovskaja/Lipovskaia). Übersetzungen der Titel russischsprachiger Literatur ins Deutsche werden in eckigen Klammern nach dem Originaltitel angegeben. Übersetzungen von publizierten Textpassagen aus dem Russischen ins Deutsche sind mit »Übersetzung aus dem Russischen TG« gekennzeichnet. Zitierte Passagen aus den von mir in russischer Sprache geführten Interviews werden ohne Kennzeichnung in meiner deutschen Übersetzung angeführt. 5 Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova, Gender Studies in Post-Soviet Society : Western Frames and Cultural Differences, in: Studies in East European Thought, 55, 1 (2003), 51–61, 51. 6 Elena Gapova, On »Writing Women’s and Gender History in Countries in Transition«, and what we saw there, 2003, 7, unter : http://www.indiana.edu/~reeiweb/newsEvents/pre2006/Ga pova%20paper.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018. 7 Stellvertretend für zahlreiche andere Publikationen sei hier nur ein klassischer Artikel genannt: Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes. Feminist Scholarship and Colonial Discourses, in: Feminist Review, 30, 1 (1988), 61–88. 8 Das bedeutet freilich nicht, dass so etwas nicht versucht wird, siehe dazu Kapitel 4.1.
Danksagungen
11
aus dem disziplinären Umfeld von Geschlechterforschung, sondern aus Fächern, die sich mit Russland oder Osteuropa beschäftigen. Das können philologische Disziplinen sein, wie die in deutschsprachigen Ländern übliche Slawistik. Das können interdisziplinäre Area Studies ebenso wie eine russlandspezifische Politik- oder Geschichtswissenschaft sein. Abgesehen von wissenschaftlich Interessierten haben auch politisch aktive Personen immer wieder Kontakt zu russischen Geschlechterforscher_innen gesucht, insbesondere zu solchen, die ihrerseits feministisch aktiv sind. Britische, US-amerikanische, deutsche oder australische Geschlechterforschung ohne expliziten Russlandbezug kommt dagegen in der Regel recht gut ohne Kontakt mit russischer Geschlechterforschung aus. Dies ist der globalen Arbeitsteilung in den Sozial- und Geisteswissenschaften (deren Teil die Geschlechterforschung ist) geschuldet, die teilweise politischen und ökonomischen Einteilungen korrespondiert. In dieser Studie werden wissenschaftssoziologische Konzepte diskutiert und angewendet, welche die ungleich mächtigen Positionen von Zentren, Semiperipherien und Peripherien der Wissenschaft thematisieren und erklären. Dabei wird diese Imbalance aber auch kritisiert und Vorschläge werden formuliert, wie sie untergraben werden kann.9 Diese Konzepte wurden vor allem im Hinblick auf den globalen Süden im Verhältnis zum globalen Norden entwickelt und erfahren hier gewissermaßen eine ›Osterweiterung‹. Russland ist ein Spezialthema, das in der Regel nur dann breitere mediale und mittelbar auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit bekommt, wenn in der Region politische Umbrüche geschehen oder wenn aufsehenerregende Ereignisse so wie etwa das Punk-Gebet von Pussy Riot und die darauffolgende Verurteilung einiger der Aktivistinnen stattfinden. Der Gegenstand, um den es hier gehen soll, ist nicht Geschlechterforschung in Russland, sondern russlandbezogene Geschlechterforschung mit unterschiedlicher geopolitischer Verortung und die Bedingungen, unter denen diese Forschung produziert und rezipiert wird.
1.1
Danksagungen
An dieser Stelle danke ich zuerst all jenen Personen, die in Interviews ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Einschätzungen mit mir geteilt haben: Ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Einige von ihnen haben meine Arbeit auch anderweitig unterstützt, durch das Vermitteln von weiteren Kontakten, durch Hilfe bei der Organisation meiner Forschungsreisen, durch Literaturhinweise und Buchge9 Vgl. Syed Farid Alatas, Academic Dependency and the Global Division of Labour in the Social Sciences, in: Current Sociology, 51, 6 (2003), 599–613; Raewyn Connell, Southern Theory, Cambridge 2007. Näheres dazu in den Kapiteln 3.3 und 3.4.
12
Einleitung
schenke, durch fachliche und private Gespräche und durch ihre Gastfreundschaft. Ich danke den Betreuer_innen meiner Dissertation: zunächst Ulrike Felt und später Josef Ehmer für ihr Interesse, ihre Fragen und ihre Kommentare. Wendy Faulkner war während meines Aufenthaltes an der University of Edinburgh 2002/2003 meine Betreuerin vor Ort und hat mir einige wertvolle Anregungen für meine Arbeit gegeben. Rita Stein-Redent, die in sich die seltene Kombination von Kenntnissen über Sozialwissenschaften, Geschlechterforschung und Russland vereint, war nicht nur Zweitgutachterin im Promotionsverfahren, sondern auch interessierte und kompetente Begleiterin des Forschungsprojekts. Ich danke den Teilnehmer_innen der Sommerschulen der Vienna Interdisciplinary Research Unit for the Study of (Techno)Science and Society (VIRUSSS), insbesondere Veronika Wöhrer und Katja Mayer, sowie den Teilnehmer_innen des Dissertant_innenseminars von Josef Ehmer – hier insbesondere David Mayer, Werner Lausecker, Annemarie Steidl und Sigrid Wadauer – für Diskussionen, die mein Projekt weitergebracht haben. Alexander Mejstrik danke ich für seine präzisierenden Einwände und seinen geübten Blick für die Interpretationen von Dimensionen mehrdimensionaler Forschungsgegenstände. Den Herausgeberinnen und Redakteur_innen der Reihe »L’Homme Schriften« danke ich für die Einladung, mein Buch in dieser Reihe zu veröffentlichen und ihre Geduld angesichts verstrichener Deadlines. Zwei anonymen Gutachter_innen bin ich für ihre kritische Durchsicht des Manuskripts und hilfreiche Anmerkungen sehr verbunden. Nikola Langreiter hat durch ihr kundiges und genaues Lektorat dieses Buch lesbarer und kohärenter gemacht. Die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien und die Österreichische Forschungsgemeinschaft haben schließlich dankenswerterweise durch ihre finanzielle Unterstützung den Druck dieses Buches ermöglicht.
1.2
Transnationale russlandbezogene Gender Studies: Gegenstandsklärung und zentrale Fragen
Interesse an Geschlechterforschung in und über Russland kann nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Russische Protagonist_innen der Geschlechterforschung wie etwa Tat’jana Barcˇunova unterstreichen den transnationalen Charakter ihres Fachs: »Gender studies in Russia, both in terms of institutional development, research methods, and discourse, go beyond the frames of a national academic project and constitute a complicated network of researchers; one that integrates scholars from the West, Russia, and other regions of the former Soviet Union. […] My point here is that in some aspects the appropriation of gender studies by the Russian academic tradition is similar to its appropriation by other non-English speaking countries and research
Gegenstandsklärung und zentrale Fragen
13
traditions (say, German): it is a transnational networking, and translation project as everywhere else.«10
Transnational heißt hier, dass durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit Phänomene eigener Qualität entstehen, die weder dem einen noch dem anderen Kontext zugeordnet werden können. Eine isolierende oder gar exotisierende Perspektive ist also fehl am Platz. In dieser Studie geht es um die Bedingungen, unter denen transnationale Geschlechterforschung, deren Gegenstand oder Kontext das vorrevolutionäre, das sowjetische und/oder das postsowjetische Russland sind, praktiziert wird. Ich werde mich hauptsächlich mit in Russland betriebener Geschlechterforschung beschäftigen, dabei aber teilweise auch russischsprachige Forschung in Belarus und der Ukraine berücksichtigen. Ebenso interessieren mich Forscher_innen, die in Russland Gender Studies betrieben haben, ehe sie in ein anderes Land gezogen sind, und ihre Werke. Darüber hinaus werde ich mich mit Forschungen und Forscher_innen außerhalb Russlands beschäftigen, die russlandbezogene Geschlechterforschung praktizieren. Konkret konzentriere ich mich auf deutsch- und englischsprachige Geschlechterforschung, wie sie von Forscher_innen aus Großbritannien, den USA, Deutschland und Österreich praktiziert wird. Diese Perspektive legt nahe, dass es um lokale ebenso wie um globale Verhältnisse gehen wird sowie um die Verbindungen zwischen diesen Ebenen.11 Ich beschäftige mich mit Geschlechterforschung (in diesem Buch synonym und abwechselnd verwendet mit Gender Studies) in einem sehr weit gefassten Sinn und als Überbegriff, der auch Frauenforschung, Männerforschung, LGBTForschung und Queer Studies inkludiert.12 Eine Abgrenzung der Geschlechterforschung von Nicht-Geschlechterforschung ist nicht immer klar zu treffen. Human- und sozialwissenschaftliche Forschung kann eigentlich nicht ohne die Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen auskommen. Dass sie es immer wieder einmal tut, kann mit gender blindness ebenso zu tun haben wie mit einer bewussten Fokussierung auf andere wichtige Kriterien. Nichtsdestotrotz: die Wissenschaften vom Menschen befassen sich mit geschlechtlich identifizierten Personen. Feministische »Kritik schlechter Wissenschaft«13 hat 10 Tatiana Barchunova, Gender Studies in Russia as a Transnational Project, in: Martina Ineichen u. a. (Hg.), Gender in Trans-it. Transcultural and Transnational Perspectives, Zürich 2009, 95–115, 95. 11 Vgl. Valerie Sperling, Myra Marx Ferree u. Barbara Risman, Transnational Advocacy Networks and Russian Women’s Activism, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 26, 4 (2001), 1155–1186, 1155. 12 Diese spezifischen Ausprägungen werden jedoch konkret benannt, wenn es dezidiert um sie geht. 13 »Kritik schlechter Wissenschaft« bezieht sich auf feministische Kritik an einer Wissenschaft vom Menschen, die androzentrisch verzerrt ist, weil sie Mensch mit Mann gleichsetzt: »[…]
14
Einleitung
sicher dazu beigetragen, dass diesem Umstand in den letzten Jahren zunehmend Rechnung getragen wird, dass etwa nicht mehr leichthin Mann mit Mensch gleichgesetzt wird. Was ist nun also Geschlechterforschung? Müssen darin Schlagwörter wie Geschlecht, Gender, Queer, Männer, Frauen oder ähnliche vorkommen? Muss auf bestimmte einschlägige Autor_innen (z. B. Judith Butler, Rosi Braidotti, Raewyn Connell, Luce Irigaray oder Robert Kimmel, um nur eine kleine Auswahl zu nennen) Bezug genommen werden? Ist Geschlechterforschung das, was Geschlechterforscher_innen von Berufs wegen produzieren – und wenn ja, wer ist Geschlechterforscher_in? Ist das eine Person, die sich selbst so bezeichnet oder von anderen dafür gehalten wird, die in einem entsprechend benannten Institut oder Zentrum arbeitet, die ihre Beiträge in Fachzeitschriften für Geschlechterforschung veröffentlicht und auf Gender-Konferenzen vorträgt, eine Person, die überwiegend oder nur fallweise zu geschlechterspezifischen Thematiken arbeitet? Und außerdem: Muss Geschlechterforschung feministisch motiviert und engagiert sein? Eine klar abgezirkelte Definition (»Geschlechterforschung liegt genau dann vor, wenn (1), (2), (3) …«) an den Anfang setzen zu wollen ist wohl ein sinn- und aussichtsloses Vorhaben, das auch nicht der wissenschaftlichen Konstruktion des Forschungsobjektes dient. Auseinandersetzungen darüber, ja Kämpfe darum, was Geschlechterforschung ist und was nicht, sind Teil des untersuchten Gegenstandes. Besser ist es wohl, bestimmte Kriterien oder noch besser : Indizien zu identifizieren, die Forschung auszeichnen, welche als Geschlechterforschung bezeichnet wird und die in unterschiedlichem Maße zutreffen können – oder nicht.14 Aus pragmatischen Gründen werde ich als ein zentrales Kriterium Selbst- und Fremdzuschreibungen wählen. Als Geschlechterforschung im Sinn meiner Studie gilt dementsprechend Forschung, für die eines oder mehrere der folgenden Merkmale zutreffen: Die Autorin oder der Autor bezeichnet die eigene Forschung (oder Teile davon) als Frauenforschung (zˇenskie issledovanija/feminologija/Women’s Studies), Männerforschung (muzˇskie issledovanija/Men’s Studies), Männlichkeitsforschung (issledovanija muzˇestvennosti/masculinity studies), Geschlechterforschung, Gender Studies (gendernye issledovanija), Feministische Forschung (feministskie issledovanija/Feminist Studies), LGBT Studies (LGBT issledovanija) oder Queer feminist researchers in biology and social sciences have shown in convincing detail the sexist and androcentric results of research that does not carefully enough follow well-understood principles of method and theory. Basing generalizations about humans only on data about men violates obvious rules of method and theory.« Sandra Harding, Whose Science? Whose Knowledge? Thinking from Women’s Lives, Ithaca, NY 1993, 57. 14 So funktionierte denn auch die konkrete Forschungstätigkeit, insbesondere die Suche nach Interviewpartner_innen: Manche fand ich aufgrund ihrer Publikationen, andere traf ich bei Konferenzen, wieder andere wurden mir empfohlen. Manche verweigerten ein Interview, weil sie sich definitiv nicht als Genderforscherin sehen.
Aus einer Dissertation ein Buch machen: Aufbau des Buches
15
Studies (kvir issledovanija), wobei auch Mehrfachnennungen möglich sind. Entsprechende Forschungen werden in einschlägigen Zeitschriften, Sammelbänden oder anderen wissenschaftlichen Formaten veröffentlicht. Die zentrale Frage dieses Buches ist: Unter welchen Bedingungen wird transnationale russlandbezogene Geschlechterforschung betrieben? Aus dieser zentralen ergibt sich eine Reihe von spezifischeren Fragen. So ist einmal zu klären, wie die globalen Machtverhältnisse in den Sozial- und Geisteswissenschaften, zu denen Gender Studies ja gehören, sich gestalten und welche Arbeitsteilung sich daraus ergibt. Besonders interessant ist hier die Positionierung Russlands in globaler Perspektive, das ja weder dem ›Norden‹ noch dem ›Süden‹ zuzurechnen ist. Ebenso ist aber danach zu fragen, wie die Sozial- und Geisteswissenschaften innerhalb Russlands strukturiert sind und wo und wie sich transnationale Anknüpfungspunkte ergeben. Ein Buch über russlandbezogene Geschlechterforschung kommt nicht umhin, historische Abrisse der Entwicklung des Spezialfachs in russisch-, englisch- und deutschsprachigen Kontexten zu bieten, also die Fragen danach zu beantworten, wie sich russlandspezifische Geschlechterforschung in diesen unterschiedlichen Kontexten entfaltet hat und welche Konjunkturen sich über die vergangenen Jahrzehnte bis heute beobachten lassen. Eine detaillierte Betrachtung der Praxis anhand von Interviews erlaubt die Auseinandersetzung mit weiteren Fragen: Wie positionieren sich Protagonist_innen der russlandbezogenen Geschlechterforschung in diesem transnationalen Kontext? Wie sehen sie das jeweilige Gegenüber, wie beschreiben sie ihr Verhältnis zu Personen, Institutionen, Forschungen und anderen relevanten Elementen? Was ist der Status von Gender Studies im jeweiligen akademischen und politischen Umfeld? Was sind, mit Bourdieu gesprochen, die relevanten Kapitalsorten15 im Feld der transnationalen russlandbezogenen Geschlechterforschung (falls von einem Feld die Rede sein kann)? Welche Kriterien strukturieren, wiederum in Bourdieu’scher Terminologie ausgedrückt, den Raum des Möglichen16 von transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung?
1.3
Aus einer Dissertation ein Buch machen: Aufbau des Buches
Ein Buch aus einer Dissertation zu machen, die vor gut acht Jahren approbiert wurde, ist eine Aufgabe, die notwendig und schwierig, zugleich aber auch schön und wichtig ist. Warum sie notwendig ist, versteht sich: eine nicht publizierte 15 Vgl. Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 1, Hamburg 1997, 49–79. 16 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Frankfurt a. M. 2001, 371.
16
Einleitung
Dissertation wäre in meinem akademischen Umfeld eine unverzeihliche Lücke. Die Aspekte der Schwierigkeit, Wichtigkeit und Schönheit stehen miteinander in Verbindung. Die Forschungen für die Dissertation liegen nun schon einige Jahre zurück. Es ist klar, dass in diesen Jahren Veränderungen in der russlandbezogenen Geschlechterforschung vonstattengegangen sind. Diesen Veränderungen muss in einer aktualisierten Version Rechnung getragen werden, und das bedeutet viel Arbeit und Mühe. Es bedeutet aber auch, Dinge besser ausdrücken, Argumente klarer formulieren und Zusammenhänge besser verstehen zu können. Ein Vorteil ist hier, dass in der Zwischenzeit auch viele Kolleg_innen Gedanken und Forschungsergebnisse entwickelt, niedergeschrieben und veröffentlicht haben, die zuvor noch inoffiziell, provisorisch und implizit waren. Insbesondere die wissenschaftssoziologischen Forschungen von Forscher_innen wie Elena Gapova,17 Julia Lerner18, Veronika Wöhrer19 sowie von Michail Sokolov und Kiril Titaev,20 auf die ich bei der Erstellung der Dissertation noch keinen Zugriff hatte, sind für die Analyse von transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung von unschätzbarem Wert. Auch die geopolitischen Verhältnisse und ihr Einfluss auf Konjunkturen von Interesse sind bei der Publikation eines Buches, das sich (wenn auch unter in transnationaler Perspektive) auf ein spezifisches Land konzentriert, relevant. So viel Aufmerksamkeit seitens westlicher Beobachter/innen wie in den Jahren um 1991 hat Russland in der Zwischenzeit wohl nie mehr erhalten. Das kann man auch an der Frequenz russlandbezogener Beiträge in Fachzeitschriften für Feministische Forschung, Frauen- und Geschlechterforschung ablesen, die ich in Kapitel 4.4 präsentiere. In den 1990er Jahren war Russland wie auch andere postsozialistische Länder aus ›westlicher‹ Sicht ein hoffnungsträchtiges Labor 17 Elena Gapova, Gendernye issledovanija kak zerkalo postsovetskoj akademii [Gender Studies als Spiegel der postsowjetischen Akademie], in: Galina Aleksandrovna Komarova (Hg.), Antropologija akademicˇeskoj zˇizni: mezˇdisciplinarnye issledovanija [Anthropologie des akademischen Lebens: interdisziplinäre Forschungen], Moskva 2010, 64–85; dies., Nacional’noe znanie i mezˇdunarodnoe priznanie: postsovetskaja akademija v bor’be za simvolicˇeskie rynki [Nationales Wissen und internationale Anerkennung: die postsowjetische Akademie im Kampf um symbolische Märkte], in: Ab Imperio, 4 (2011), 289–323. 18 Julia Lerner, »We teach our students to do science like in the West«. Exploring the Mimetic University in Post-Soviet Russia, in: Julia Resnik (Hg.), The Production of Educational Knowledge in the Global Era, Rotterdam 2008, 187–213. 19 Veronika Wöhrer, Gender Studies as a Multi-Centred Field? Centres and Peripheries in Academic Gender Research, in: Feminist Theory, 17, 3 (2016), 323–343. 20 Michail Sokolov, Rossijskaja sociologija posle 1991 goda: intellektual’naja i institucional’naja dinamika »bednoj nauki« [Die russländische Soziologie nach dem Jahr 1991: intellektuelle und institutionelle Dynamiken einer »armen Wissenschaft«], in: Laboratorium, 1 (2009), 20–57; ders. u. Kirill Titaev, Provincial’naja i tuzemnaja nauka [Provinzielle und einheimische Wissenschaft], in: Antropologicˇeskij forum [Anthropologisches Forum] (2013), 1–27.
Aus einer Dissertation ein Buch machen: Aufbau des Buches
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für Veränderungen, die unter Schlagwörtern wie »Demokratisierung«, »Liberalisierung«, »Zivilgesellschaft« und generell »Transformation« diskutiert wurden. Russland hat sich anders als erhofft in Richtung einer »gelenkten Demokratie«21 entwickelt, konservative Kräfte haben viel Einfluss gewonnen, und das hat auch Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse im Land. Politische Entwicklungen in Russland und damit verbunden auch seine geopolitische Positionierung haben mittelbar und unmittelbar auch Einfluss auf die Möglichkeiten von Geschlechterforschung in Russland – man denke nur an in den letzten Jahren erlassene Gesetze wie etwa jenes über Organisationen, die als »ausländische Agenten« behandelt werden.22 Dadurch waren viele außeruniversitäre Zentren für Gender Studies gezwungen, ihre Tätigkeit einzustellen. Das Datenmaterial für meine Studie entstand zwischen 198923 und 2008. 32 der 42 Interviews habe ich in den Jahren 2002 bis 2008 selbst geführt. Die Erzählungen in den Interviews beziehen sich auf den Zeitraum von den 1970er Jahren bis zu den späten 2000er Jahren. Damit erhält man genaue Einblicke in die Entstehung und Entwicklung von russlandbezogener Geschlechterforschung, die um die Jahrtausendwende eine Art Hochblüte erlebte, insbesondere die in Russland verortete. In der Zeit, die zwischen Abschluss der Dissertation, auf der das Buch beruht, und der Fertigstellung des Manuskripts vergangen ist, hat sich vieles geändert. Dieses Buch wird also auch eine aktuelle Darstellung des Status quo von Geschlechterforschung in Russland bieten, was gegenwärtig heißt, von schwierigen Verhältnissen und massiven Rückschlägen zu erzählen. Umso wichtiger erscheint es mir, über diese Entwicklungen zu berichten. Es wird also im Folgenden zuerst um aktuelle gesellschafts- und geschlechterpolitische Verhältnisse in Russland gehen. Darauf folgt ein Abschnitt, in dem Forschungswerkzeuge und theoretische Konzepte der Arbeit vorgestellt und erörtert werden. Ich erläutere, inwiefern Diskurse, Felder und Räume für die Studie von Nutzen sind und welcher Form der Forschung über Geschlechterforschung diese Untersuchung zuzuordnen ist. Geopolitische Modelle für die Aufteilung der Welt, insbesondere das Verhältnis zwischen ›Ost‹ und ›West‹ erhalten als nächstes Aufmerksamkeit. Darauf aufbauend wird die ungleiche Verteilung von Macht und Aufgaben in den globalen Sozial- und Geisteswissenschaften diskutiert. Russlandbezogene Geschlechterforschung hat sich in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich entwickelt. So wird nachgezeichnet, wie in Russland seit den frühen 1990er Jahren, in angelsächsischen Ländern 21 Tam#s Csillag u. Ivan Szel8nyi, Drifting from Liberal Democracy : Traditionalist/Neoconservative Ideology of Managed Illiberal Democratic Capitalism in Post-Communist Europe, in: Intersections. East European Journal of Society and Politics, 1, 1 (2015), 1–31. 22 Siehe dazu Kapitel 4.1.5. 23 Die frühesten hier ausgewerteten Interviews, wurden nicht von mir geführt. Näheres dazu in Kapitel 5.1.
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Einleitung
seit den 1970er Jahren und im deutschsprachigen Raum ebenfalls seit den frühen 1990er Jahren Forschungen in diese Richtung entstanden sind und welche grenzüberschreitenden Berührungspunkte sich ergeben haben. Das empirische Herzstück dieser Studie ist eine Analyse von 42 Texten mittels geometrischer Datenanalyse, einem statistischen Verfahren, das ermöglicht, die wichtigsten Differenzierungs- und Hierarchisierungskriterien eines Forschungsgegenstandes zu ermitteln. Hier wird dargelegt, wie sich globale Arbeitsteilung konkret manifestiert und welche Formen der Zusammenarbeit es gibt. Ich arbeite die Unterschiede hinsichtlich der Etablierung und Institutionalisierung von Forschung über Geschlechterverhältnisse und Russland in den untersuchten nationalen Kontexten heraus. Ein abschließendes Kapitel resümiert die Ergebnisse und skizziert Perspektiven der weiteren Entwicklung transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung.
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Geschlechterpolitiken und -verträge im postsowjetischen Russland24
Vorstellungen und Meinungen über Russland und seine Bewohner_innen werden von Nichtruss_innen oft auf Basis von Ethnostereotypen gebildet.25 Solche Vorstellungen sind nicht notwendigerweise völlig unzutreffend, aber bei der Bildung von Ethnostereotypen werden Merkmale, die einem beim anderen als außergewöhnlich auffallen, als typische Charakteristika zugewiesen, trennende Momente werden vor den verbindenden gesehen.26 Mediale Berichterstattung fokussiert vielfach gerade auf Auffälligkeiten und unterstützt so eine Verfestigung von Stereotypen.27 Das Ziel dieses Unterkapitels ist es, Geschlechterverhältnisse und Geschlechterpolitiken im gegenwärtigen Russland knapp zu skizzieren. Dabei will ich mich nicht auf einzelne international medienwirksame
24 Dieser Abschnitt ist die erweiterte Version eines bereits erschienenen Berichts, vgl. Therese Garstenauer, Gender und Queer Studies in Russland, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (L’Homme. Z. F. G., 28, 2 (2017), 127–136. 25 Der Begriff »Stereotypen« wurde von Walter Lippmann in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt, vgl. Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922. 26 Vgl. Edgar Hoffmann u. Ulrich Theißen, Ethnostereotype in der Businesskommunikation, in: Wolfgang Stadler u. a. (Hg.), Junge Slawistik in Österreich. Beiträge zum 1. Arbeitstreffen, Innsbruck, 24.–26. 2. 1999, Innsbruck 2000, 13–45, 18. 27 Was Mischa Gabowitsch über die Rezeption russischer Literatur (Belletristik) berichtet, entspricht dem hier Beschriebenen: »Just as with most countries, foreign publishers tend to judge both mass literature and fiction produced for more restricted circles of the intellectual elite by their value as ›ethnic‹ literature depicting ›specifically Russian‹ realities and reproducing stereotypes about Russia. Incidentally, this trend coincides with a fashion that has been prevalent in Russia itself since the mid-1990s. Taken together, these factors push many Russian writers, especially those who live on foreign grants and fees, to stress the purportedly specifically Russian traits of their characters and style. In line with common stereotypes about Russia, those Russian works which have been successful abroad in recent years are mostly full of chaos, violence, murder, mafia, and alcohol – or the kind of ›spirituality‹ and ›sentimentality‹ traditionally associated with Russia.« Mischa Gabowitsch, Translation as Tragedy and Farce. The Politics and Politicians of Translation in Post-Soviet Russia, in: Eurozine 19. 1. 2005, unter : http://www.eurozine.com/translation-as-tragedyand-farce/, Zugriff: 31. 3. 2018.
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Geschlechterpolitiken und -verträge im postsowjetischen Russland
Ereignisse wie die Aktionen der Künstlerinnengruppe Pussy Riot28 oder homophobe und feminismusfeindliche Aussagen von Vertretern der RussischOrthodoxen Kirche beschränken.29 Bezugnehmend auf Ergebnisse sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschungen will ich vielmehr klar machen, in welchem sozialen und politischen Umfeld Gender Studies im postsowjetischen Russland existieren. In den Zeiten von Glasnost’ und Perestrojka und mehr noch in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion wurde Russland seitens westlicher Beobachter_innen vielfach als Projektionsfläche für allerlei Hoffnungen in Sachen Demokratisierung und zivilgesellschaftlicher Entwicklung gesehen. Diese Hoffnungen sind in der Zwischenzeit eher nicht erfüllt worden: »However, the transformation in many postcommunist countries, especially among the nonBaltic former Soviet republics, did not mean a move toward democracy, and even in more democratic postcommunist states, the regime change did not foster women’s movements.«30 Russland ist gegenwärtig formal ein demokratischer Staat, allerdings wird diese Demokratie aufgrund der Zentralisierung der Macht beim Präsidenten sowie der Einschränkung der Pressefreiheit und bürgerlicher Rechte als illiberal oder gelenkt31 bezeichnet. Für die sozialwissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Dynamiken von Geschlechterverhältnissen bietet sich das Konzept des Geschlechtervertrags (sexual contract bzw. gender contract) an, wie es feministische Kritikerinnen traditioneller androzentrischer und geschlechterblinder Theorien des Gesellschaftsvertrags formuliert haben.32 Es handelt sich dabei um explizite und implizite Verhaltensregeln, gegenseitige Verpflichtungen und Rechte, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in einer Gesellschaft definieren. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Arbeitsteilung in der Sphäre der Erwerbstätigkeit 28 Vgl. Marina Yusupova, Pussy Riot: A Feminist Band Lost in History and Translation, in: Nationalities Papers. The journal of nationalism and ethnicity, 42, 4 (2014), 604–610. 29 Vgl. Miriam Elder, Feminism Could Destroy Russia, Russian Orthodox Patriarch Claims, in: The Guardian, 9. 4. 2013, unter : https://www.theguardian.com/world/2013/apr/09/fe minism-destroy-russia-patriarch-kirill, Zugriff: 31. 3. 2018; Andr8 Ballin, Russisch-Orthodoxe Kirche will Referendum über Schwulenverbot, in: DerStandard.at, 10. 1. 2014, unter : http://derstandard.at/1388650700545/Russisch-orthodoxe-Kirche-fordert-Referendumueber-Schwulenverbot, Zugriff: 31. 3. 2018. 30 Vgl. Janet Elise Johnson u. Aino Saarinen, Twenty-First-Century Feminisms under Repression: Gender Regime Change and the Women’s Crisis Center Movement in Russia, in: Signs, 38, 3 (2013), 543–567, 543. 31 Csillag/Szel8nyi, Drifting. Andere Attribute für diese Demokratie sind etwa »hybrid«, »soft authoritarian« »hegemonic authoritarian« »semiauthoritarian«, Johnson/Saarinen, Feminisms, 546. 32 Vgl. Carol Pateman, The Sexual Contract, Stanford 1988; Yvonne Hirdman, State Policy and Gender Contracts: The Swedish Experience, in: Eileen Drew, Ruth Emerek u. Evelyn Mahon (Hg.): Women, Work, and the Family in Europe, London 1998, 36–46.
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ebenso wie im privaten (reproduktiven) Bereich. Solche Verträge sind historisch veränderlich, und es können zu einer Zeit unterschiedliche Varianten koexistieren. Für das sowjetische und frühe postsowjetische Russland haben Anna Rotkirch und Anna Temkina dieses Konzept angewendet, der Fokus liegt dabei stark auf der Position der Frauen. Geschlechterverträge sind ihnen zufolge: »[…] kontextuell bedingte, hierarchisch strukturierte Muster der Interaktion zwischen den Geschlechtern. Die Geschlechterordnung betrachten wir als Gesamtheit der Geschlechterverträge, die unterschiedliche Geschlechterrollen und -status für verschiedene Sphären des gesellschaftlichen Lebens in der Sowjetzeit und für unterschiedliche soziale Schichten der postsowjetischen Periode vorschreiben.«33
Sie beschreiben zunächst drei Varianten, die in der Sowjetunion Gültigkeit hatten: Erstens den legitimen Vertrag der arbeitenden Mutter, welcher der offiziellen Ideologie entsprach und mittels staatlicher Unterstützung ermöglichte, dass Frauen produktive und reproduktive Arbeit verbinden konnten. Dieser Vertrag zwischen den sowjetischen Frauen und dem Staat unterstützte den Ausschluss von Männern aus der Familienarbeit, was bis heute Auswirkungen hat.34 Zweitens gab es den alltäglichen Vertrag, der sich der staatlichen Kontrolle entzog und in dessen Rahmen der Alltag organisiert wurde. Dieser Vertrag implizierte unter anderem, dass die häusliche Arbeit und Versorgung der Kinder hauptsächlich den Frauen zufiel. Darüber hinaus gab es drittens noch illegitime Geschlechterverträge, denen etwa von der heterosexuellen Norm abweichendes sexuelles Verhalten zugerechnet wird, das teilweise auch strafrechtlich verfolgt wurde.35 Vor- und außereheliche geschlechtliche Beziehungen, die in der spätsowjetischen Gesellschaft keine Seltenheit waren, verorten die Autorinnen im Übergang zwischen alltäglichen und illegitimen Geschlechterverträgen.36 In der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich eine Fortschreibung des Geschlechtervertrags der arbeitenden Mutter als dominantes Modell beobachten.37 Nadja Nartova hat anhand von entsprechenden Internetplattformen und -foren ana33 Anna Rotkirch u. Anna Temkina, Sovetskie gendernye kontrakty i ich transformacii v sovremennoj Rossii [Sowjetische Geschlechterverträge und ihre Transformation im heutigen Russland], in: Sociologicˇeskie issledovanija [Soziologische Forschungen], 11 (2002), 4–15, 6, Übersetzung aus dem Russischen TG. 34 Vgl. Jennifer Utrata, Doing Age and Gender in Russia’s Single-Mother Families, in: Gender & Society, 25 (2011), 616–641. 35 Vgl. Alexander Kondakov, An Approach to the History of Sexual Minority Discrimination, in: Sortuz: OÇati Journal of Emergent Socio-Legal Studies, 2, 2 (2008), 22–29, 25f. 36 Rotkirch/Temkina, Kontrakty, 11. 37 Nadja Nartova, Gendernyj kontrakt sovremennogo rossijskogo obsˇcˇestva i nekonvencional’nye gendernye identicˇnosti [Der Geschlechtervertrag der heutigen russischen Gesellschaft und nichtkonventionelle Genderidentitäten], in: Zˇensˇcˇina v Rossijskom Obsˇcˇestve [Die Frau in der Russischen Gesellschaft], 3 (2008), 56–64, 61.
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lysiert, dass dieses Modell (abgesehen von der implizierten heterosexuellen Beziehung) sogar von lesbischen Frauen gelebt und propagiert wird: »So kann man sagen, dass die Übertretung des heterosexuellen Vertrags im Punkt ›Begehren‹ [Richtung des Begehrens, TG] durch homosexuelle Frauen, die in öffentlichen Debatten zur Stigmatisierung homosexueller Frauen führt, von ihnen selbst durch quasi-öffentliche Deklarationen ihrer Übereinstimmung mit allen anderen Punkten des dominanten Geschlechtervertrages normalisiert und überwunden wird. Als Resultat dessen ergibt sich für homosexuelle Frauen eine Ressource zur Legitimierung der eigenen Lebensform, und der dominante Vertrag erhält noch größere Bestätigung und Bekräftigung.«38
Zusätzlich entstanden neue Varianten: der Geschlechtervertrag der professionellen, karriereorientierten Frau, jener der Hausfrau und des Familienerhalters und unter den neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen auch der »Sponsorvertrag«, das heißt, eine Frau tritt im Austausch gegen Geld, Geschenke, die Miete einer Wohnung u.a.m. in eine sexuelle Beziehung zu einem wohlhabenden Mann.39 Die 1990er Jahre boten ein relativ günstiges politisches Umfeld für die Etablierung von Geschlechterforschung, zumal der russische Staat dafür nicht allein finanziell aufkommen musste: »During the Yeltsin period, Russia was seeking integration into international politics. In 1995, the Russian Federation signed a Declaration against all forms of sexual violence and against discrimination against women. In this context, there was support for education and research as well as corresponding organizations that complied with this agenda. The second set of reasons for the favorable disposition toward gender studies was the sorry state of the budget in the Russian academy, which had lost a substantial share of its government support. This encouraged the administrations of universities and academic institutes to support new internal projects that promised to bring in grants. […] By complying with international standards, the creation of centers for gender studies gave their institutions a renovated look. So, the new gender centers led to an influx of international funding for projects and thereby helped the academy to survive.«40
Viele Autor_innen konstatieren seit Beginn der Nullerjahre eine politische Entwicklung, die nach einer Periode politischen Desinteresses an Geschlechterfragen diese in den Mittelpunkt politischer Diskurse stellt.41 Speziell in der 38 Nartova, Kontrakt, 63, Übersetzung aus dem Russischen TG. 39 Diese Transformation der Geschlechterverträge nahm ihren Anfang bereits in den späten 1980er Jahren, vgl. Rotkirch/Temkina, Kontrakty, 11. 40 Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova, Gender’s Crooked Path: Feminism Confronts Russian Patriarchy, in: Current Sociology, 62, 1 (2014), 253–270, 256. 41 Vgl. beispielhaft Temkina/Zdravomyslova, Path; Francesca Stella u. Nadya Nartova, Sexual Citizenship, Nationalism and Biopolitics in Putin’s Russia, in: Francesca Stella u. a. (Hg.),
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dritten Amtszeit Putins ab 2012 sprechen manche Autor_innen sogar von einem biopolitical turn.42 Damit ist, Bezug nehmend auf Michel Foucaults Überlegungen, eine Form der Disziplinierung einer Gesellschaft gemeint, in der der Staat sich in vielen Bereichen in die Angelegenheiten seiner Bürger_innen einmischt: Gesundheit, Hygiene, Ernährung, Sexualität, Fortpflanzung und anderes mehr. Das impliziert eine Ab- und Ausgrenzung von ›Anderen‹ innerhalb der Gesellschaft (Homosexuelle, »ausländische Agenten«43, Migrant_innen, Muslim_innen) wie auch außerhalb. Der Westens wird als dekadent und degeneriert, als förderliches Umfeld für Homosexualität, Pädophilie und andere unerwünschte Abweichungen, gesehen. Russland wird vor dieser Folie als letzte Bastion der Normalität dargestellt.44 Hier sei auch auf die seit 2011 auf regionaler und 2013 auch auf föderaler Ebene in Kraft gesetzten Gesetze über das Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen verwiesen, welche die Arbeit von LGBT-Organisationen erschwert oder unmöglich gemacht haben.45 Auffällig ist in diesem Zusammenhang die fixe Verbindung von Homosexualität und Pädophilie, die im offiziellen Diskurs gang und gebe ist. Man denke in diesem Zusammenhang an die Aussagen des Präsidenten Putin und des Vizepremierministers Dmitrij Kozak im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen 2014 in Socˇi, dass homosexuelle Sportler_innen willkommen seien, solange sie die Kinder in Ruhe ließen.46 In diese Richtung gehen auch gegen die Einrichtung einer Jugendgerichtsbarkeit in Russland gerichtete Initiativen, die befürchten, dass eine solche Gerichtsbarkeit die Position der Familien unterminieren könnte, wenn etwa vernachlässigte oder misshandelte Kinder ihren Eltern weggenommen werden.47 Unterstützung finden solche
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Sexuality, Citizenship and Belonging. Trans-National and Intersectional Perspectives, Abingdon 2016, 17–36. Vgl. Andrey Makarychev u. Sergei Medvedev, Biopolitics and Power in Putin’s Russia, in: Problems of Post-Communism, 62 (2015), 45–54, 45. Siehe dazu auch Kapitel 4.1.5 über Zentren für Gender Studies in Russland, die als NGOs registriert sind bzw. waren. Oleg Riabov u. Tatiana Riabova, The Decline of Gayropa? How Russia intends to save the World, in: Eurozine, 5. 2. 2014, unter : http://www.eurozine.com/the-decline-of-gayropa/, Zugriff: 31. 3. 2018. Föderales Gesetz der Russischen Föderation vom 30. Juni 2013, Nr. 135-F3, »Über den Eintrag von Änderungen im Artikel 5 des Föderalen Gesetzes ›Über den Schutz von Kindern vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung Schaden zufügen‹ und einzelne Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation zum Zweck des Schutzes von Kindern vor Informationen, die traditionelle familiäre Werte ablehnen.« Charlotte Knight u. Kath Wilson, Lesbian, Gay, Bisexual and Trans People (LGBT) and the Criminal Justice System, London 2016, 219. Natalia Sherstneva, Why are Children’s Rights so Dangerous? Interpreting Juvenile Justice in the Light of Conservative Mobilization in Contemporary Russia, in: Marianna Muravyeva u. Natalia Novikova (Hg.), Women’s History in Russia: (Re)Establishing the Field, Newcastle 2014, 193–215.
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konservativen Initiativen sogar in der offiziellen Politik, etwa durch die DumaAbgeordnete Jelena Mizulina, die von 2011 bis 2015 Vorsitzende des Komitees der staatlichen Duma für Frauen-, Familien- und Kinderfragen war und die federführend in der Durchsetzung homophober Gesetze war.48 Sie ist Mitinitiatorin des Anfang Februar 2017 verabschiedeten Gesetzes, das häusliche Gewalt (sofern sie nicht öfter als einmal im Jahr vorkommt) nicht mehr mit zwei Jahren ahndet, sondern nur mehr mit Geldstrafen oder kürzeren Gefängnisaufenthalten.49 Mitunter werden sogar in akademischen Zeitschriften Gender Studies und Queer Studies als Teil einer politischen »soft power« desavouiert, die russische Werte unterminiere und die demographische Entwicklung gefährde.50 Dieser Artikel wurde allerdings umgehend in einer Replik für die mangelhafte wissenschaftliche Basis seiner alarmistischen Argumente kritisiert.51 Die pronatalistische und nationalistische Politik unter Putin zeitigte Maßnahmen wie etwa das 2007 eingeführte Mutterschaftskapital (materinskij kapital), das Müttern von zwei oder mehr Kindern einen erheblichen Geldbetrag zuspricht,52 der für Wohnbau, Pensionsvorsorge oder Bildung der Kinder verwendet werden kann. Tatsächlich ist in der Zwischenzeit die Geburtenrate angestiegen (2000: 1,2; 2015: 1,78).53 Ein schwacher Einfluss der pronatalistischen Politik auf die Geburtenrate konnte statistisch nachgewiesen werden, dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der Beobachtungszeitraum noch etwas kurz ist, um die Nachhaltigkeit der Maßnahme umfassend zu beurteilen.54 Qualitative Untersuchungen haben gezeigt, dass die bürokratischen Hürden zur Erlangung 48 Janet Elise Johnson, Pussy Riot as a Feminist Project: Russia’s Gendered Informal Politics, in: Nationalities Paper. The Journal of Nationalism and Ethnicity, 42, 4 (2014), 583–590, 588. 49 Föderales Gesetz vom 7. Februar 2017, Nr. 8-F3 über den Eintrag einer Änderung im Artikel 116 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation; vgl. Shaun Walker, Fury at Russian Move to Soften Domestic Violence Law, in: The Guardian, 19. 1. 2017, unter : https://www.the guardian.com/world/2017/jan/19/russian-soften-domestic-violence-law-decriminalise-wo mens-rights, Zugriff: 31. 3. 2018. 50 Vgl. Sergej V. Ustinkin u. a., Gendernye strategii ›mjagkoj sily‹ NPO kak instrument pereformatirovanija kul’turnogo koda obsˇcˇestva i gosudarstva Rossii [Gender-Strategien der ›soft power‹ von NGOs als Instrument der Umformatierung des kulturellen Codes der Gesellschaft und des Staates in Russland], in: Vlast’ [Macht], 1 (2016), 5–15. 51 Vgl. Marina A. Kasˇina, O naucˇnom podchode v diskussii o znacˇenii gendernych issledovanij i gendernogo zakonodatel’stva dlja Rossii [Über den wissenschaftlichen Zugang in der Diskussion über die Bedeutung von Gender Studies und Gender-Gesetzgebung für Russland], in: Vlast’, 6 (2016), 138–144. 52 Im Jahr 2017 kam es auf eine Summe von 453.026 Rubel, das sind umgerechnet etwas mehr als 6.600 Euro. Diese Angaben stammen von der offiziellen Website zu diesem Programm unter : http://materinskij-kapital.ru/, Zugriff: 31. 3. 2018. 53 Federal’naja sluzˇba gosudarstvennoj statistiki, Zhenshiny i muzhchiny Rossii [Frauen und Männer Russlands], Moskva 2016, 28. 54 Vgl. Dragan Miljkovica u. Anna Glazyrina, The Impact of Socio-Economic Policy on Total Fertility Rate in Russia, in: Journal of Policy Modelling, 37 (2015), 961–973, 970.
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der Unterstützung relativ hoch sind und dass hauptsächlich urbane Mittelschichtfamilien von der Maßnahme profitieren.55 Die betroffenen Mütter beziehungsweise Eltern sehen das Mutterschaftskapital nicht unbedingt als Motivation, ein zweites Kind zu bekommen: »We gave birth to two children not for the sake of the maternity capital, I would say. And we didn’t really count on this piece of paper. (Male, 30 years old, Volgograd)«56 Soziologische Untersuchungen zeigen, dass Mutterschaft für die meisten russischen Frauen eine sehr zentrale Rolle spielt, dass mindestens ein Kind zu bekommen die soziale Norm ist.57 Richtet man den Blick auf Vorstellungen und Praxis von Maskulinität, so trifft man zunächst auf die Ausläufer einer spätsowjetischen Krise der Männlichkeit: reale Männer konnten nicht bestehen im Vergleich mit hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen wie der heroischen Vätergeneration (Kriegshelden, Erbauer der Sowjetunion) oder imaginierter westlicher Männlichkeit.58 Ein neuerer gesellschaftlicher Trend bringt eine Aufwertung der russischen Männer und Männlichkeit mit sich, die vielfach positiv auf die Person des Präsidenten Bezug nimmt.59 Es ginge aber zu weit, zu denken, dass von diesem beschriebenen biopolitischen turn die russische Bevölkerung lückenlos erfasst und kontrolliert sei. Die Autoren des oben zitierten Aufsatzes zu Biopolitik und Macht konzedieren selbst »[…] the question remains as to the effectiveness and implementation of biopolitics in contemporary Russia, a modernized, secularized urban society with a considerable extent of permissiveness in social norms, especially as regards sex, reproduction and the family«.60 Ich weise an dieser Stelle auf zwei Initiativen im Kontext sozialer Medien hin, die sich öffentlichkeitswirksam gegen patriarchalische und heteronormative Politiken richten: Die Journalistin Lena Klimova hat unter dem Titel »Deti 404« (Kinder 404 – benannt nach dem Code der Fehlermeldung, die angezeigt wird, wenn eine Internetseite nicht (mehr) exis55 Vgl. Ekaterina Borozdina u. a., Using Maternity Capital: Citizen Distrust of Russian Family Policy, in: European Journal of Women’s Studies, 23 (2016), 60–75, 73. 56 Borozdina u. a., Capital, 71. 57 Vgl. Oksana Sinjavskaja, Sergei Zacharov u. Marina Kartseva, Povedenie zˇensˇcˇin na rynke truda i detorozˇdenie v sovremennoj Rossii [Das Verhalten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt im zeitgenössichen Russland], in: Tat’jana Maleva u. Olga Sinyavskaja (Hg.), Roditeli i deti, muzˇcˇini i zˇensˇcˇiny v sem’e i obsˇcˇestve [Eltern und Kinder, Frauen und Männer in Familie und Gesellschaft], Moskva 2007, 421–476; Anna Temkina, Childbearing and Work-Family Balance among Contemporary Russian Women, in: Finnish Yearbook of Population Research, XLV (2010), 83–101, 87. 58 Vgl. Elena Zdravomyslova u. Anna Temkina, The Crisis of Masculinity in Late Soviet Discourse, in: Russian Studies in History, 51, 2 (2012), 13–34. 59 Oleg Riabov u. Tatiana Riabova, The Remasculinization of Russia?, in: Problems of PostCommunism, 61, 2 (2014), 23–35; Valerie Sperling, Sex, Politics & Putin. Political Legitimacy in Russia, New York 2015. 60 Makarychev/Medvedev, Biopolitics, 51.
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Geschlechterpolitiken und -verträge im postsowjetischen Russland
tiert) eine Plattform für minderjährige LGBT-Personen geschaffen.61 Sie will damit einerseits zeigen, dass es solche Personen sehr wohl gibt – entgegen der Meinung von Personen, die Minderjährige vor homosexueller Propaganda zu schützen glauben müssen – und andererseits diesen jungen Menschen eine Möglichkeit bieten, sich selbst (anonym) artikulieren zu können. Eine Initiative vergleichbar dem deutschen #aufschrei von 2013 wurde 2016 unter der Bezeichnung #Janebojus’skazat (i. e. Ich habe keine Angst es zu sagen) von der ukrainischen Journalistin Nastya Melnychenko gestartet. Unter diesem Hashtag berichteten seitdem zahlreiche Frauen aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion über ihre Erfahrungen sexueller Gewalt.62 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der gegenwärtigen russischen Politik und Gesellschaft konservative, patriarchale und antiwestliche Werte eine starke Rolle spielen. Für Gender Studies, insbesondere wenn sie sich als kritische Wissenschaft verstehen, bedeutet das kein sehr förderliches Umfeld. Die Situation hat sich verglichen mit den 1990er Jahren verschlechtert. Gender Studies werden stark als Import aus dem westlichen Ausland wahrgenommen wird, der für russische Verhältnisse keine Relevanz hat oder sogar eine Gefährdung traditioneller Werte darstellt. Konkret kann hier etwa auf die Aktivitäten des konservativen Politikers Vitalij Milonov63 hingewiesen werden, auf dessen Initiative hin die Überprüfung der Europäischen Universität Sankt Petersburg durch die Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft eingeleitet wurde, als deren Resultat der Universität die Lizenz für die Lehre von Dezember 2016 bis August 2018 entzogen wurde. Milonov äußerte dazu in einem Interview, dass er auf Beschwerden von Studierenden dieser Universität reagiert hatte: »I can’t remember most of them, but one was the teaching of gender studies at the school. I personally find that disgusting, it’s fake studies, and it may well be illegal,« he said. »But I’m not qualified to judge, so I handed it on to the proper authorities.«64
61 Vgl. Lena Klimova, Stranica najdena [Seite wurde gefunden], o. O. 2017, unter : https://www. litres.ru/lena-klimova/stranica-naydena/, Zugriff: 31. 3. 2018; vgl. auch David Schmidt, »Ich zeige anderen meine Monster«, in: Die Zeit, 31. 5. 2015, unter : http://www.zeit.de/gesell schaft/2015-05/wie-lena-klimova-den-hass-bezwingt/komplettansicht, Zugriff: 31. 3. 2018. 62 Vgl. Shaun Walker, Russian and Ukrainian Women’s Sexual Abuse Stories Go Viral, in: The Guardian, 8. 7. 2016, unter : https://www.theguardian.com/world/2016/jul/08/russian-ukrai nian-women-sexual-abuse-stories-go-viral, Zugriff: 31. 3. 2018. 63 Milonov ist seit 2007 Mitglied der gesetzgebenden Versammlung Sankt Petersburg und seit 2016 Deputierter der Staatsduma. 64 Fred Weir, Why is Someone Trying to Shutter one of Russia’s Top Private Universities?, in: Christian Science Monitor, 28. 3. 2017, unter : https://www.csmonitor.com/World/Europe/ 2017/0328/Why-is-someone-trying-to-shutter-one-of-Russia-s-top-private-universities, Zugriff: 31. 3. 2018. Mehr zur Europäischen Universität Sankt Petersburg unter 4.1.5.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
In diesem Kapitel lege ich dar, auf welchen Theorien und Konzepten meine Studie basiert und welche Forschungsdiskussionen sie aufgreift und weiterführt. Die Anordnung der Unterkapitel folgt der Richtung vom Allgemein-Abstrakten zum Speziell-Konkreten: Zuerst diskutiere ich, welche Konzepte für die Konstruktion meines Forschungsgegenstandes relevant sind, wobei teilweise Diskurs(e), aber vor allem Praktiken, Felder und Räume des Möglichen, entlehnt und abgewandelt aus dem Bourdieu’schen Instrumentarium, zur Anwendung kommen. Meine Forschung ist einerseits im Bereich der neuesten transnationalen russischen Geschichte, andererseits in dem der Wissenschaftsforschung verortet, genauer gesagt in den Social Studies of Social Sciences and Humanities. Innerhalb der Wissenschaftsforschung, die generell mehr Interesse für Naturund Technikwissenschaften aufweist,65 ist das eher ein Nischenprogramm, das aber aufgrund des selbstreflexiven Anspruchs des Feldes stets aktuell bleibt.66 Jene Sozial- und Geisteswissenschaften, um die es hier im Detail geht, sind russlandbezogene Gender Studies. Damit sind zwei weitere interdisziplinäre Bereiche einbezogen: die Frauen- und Geschlechterforschung und jenes Fach, das im angelsächsischen Raum als Russian Studies bezeichnet wird.67 Unterschiedliche Arten der Forschung über Frauen- und Geschlechterforschung werden in einem Unterkapitel dargelegt. Fragt man danach, wie sich internationale Kontakte und Kooperationen in 65 Robin Bauer, Grundlagen der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, in: Kirsten Smilla Ebeling u. Sigrid Schmitz (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, Wiesbaden 2006, 247–280, 254; Katja Mayer u. Therese Garstenauer, To Study Soft Sciences, Vortrag bei der EASST Conference »Reviewing Humanness: Bodies, Technologies and Spaces«, Lausanne, 23.–26. 8. 2006. 66 Vgl. Michael Mair, Christian Greiffenhagen u. W. W. Sharrock, Social Studies of Social Sciences. A Working Biography, National Centre for Research Methods Working Paper 8 (2013), unter : http://eprints.ncrm.ac.uk/3219/1/soc_studies_of_soc_science.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018. 67 Die unterschiedlichen disziplinären Strukturen im deutsch- und englischsprachigen Raum werden in den Kapiteln 4.2 und 4.3 erörtert.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
der russlandbezogenen Geschlechterforschung gestalten, so steht die Frage nach der geopolitischen Verortung Russlands und seiner entsprechenden Position innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften weltweit, im Raum. Um diese Frage zu beantworten, werde ich erst einige Konzepte erörtern, mittels derer die Welt politisch und wirtschaftlich strukturiert und aufgeteilt wird. Nach einer ausführlichen Diskussion von ›Ost(en)‹ und ›West(en)‹ als spezifische und für meine Forschung besonders relevante geopolitische Differenzierungskriterien soll gezeigt werden, wie sich geopolitische Vorstellungen auf die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und auf Gender Studies im Besonderen umlegen lassen und welche globalen Machtverhältnisse und Arbeitsteilungen daraus resultieren. Bevor schließlich Sozialwissenschaften in Russland aus wissenschaftssoziologischer Perspektive betrachtet werden, diskutiere ich Zugänge der Erforschung transnationaler Wissenschaftspraxis mit einem speziellen Fokus auf Transfer und Zirkulation von Wissen.
3.1
Diskurse, Praktiken, Felder und Räume
In diesem Abschnitt soll kurz geklärt werden, mit welchen Konzepten und Forschungsprogrammen in dieser Studie umgegangen wird. In meiner Studie analysiere ich umfangreiches Textmaterial in interpretativer Weise. Es geht um Texte, und zwar (überwiegend) um in Gesprächssituationen erzeugte Texte. Darin ist die Rede von unterschiedlichen Weisen, Gender Studies unter bestimmten Bedingungen in nationalen oder transnationalen Kontexten zu praktizieren. Diese Kontexte sind durch Beziehungen zwischen ungleich Mächtigen geprägt. Legt dies nicht die Anwendung diskursanalytischer Werkzeuge nahe? Um diese Frage sinnvoll zu beantworten, muss man sich erst darüber Klarheit verschaffen, von welchem Diskurs und von welcher Diskursanalyse denn die Rede ist. Die Auswahl ist groß und dementsprechend auch die begriffliche Verwirrung. So wie »Feminismus« ist »Diskurs« ein Begriff, der schon wieder nichtssagend wird, wenn man ihn nicht mit präzisierenden Adjektiven und Namen von Autor_innen in Verbindung bringt. Von der Bedeutung »Rede« oder »Gespräch«68 bis zur Diskurstheorie nach Jürgen Habermas69, von 68 »Dieses Diskursverständnis greift Bedeutungsgehalte auf, die mit dem alltagssprachlichen Verständnis von ›discours(e)‹ im angelsächsischen und französischen Sprachraum einhergehen. So bezeichnet etwa der ›discours‹ im Französischen eine gelehrte Abhandlung oder eine Rede, in der ein Thema systematisch erörtert wird. Ähnlich wie im angelsächsischen ›discourse‹ wird darunter aber auch ein Gespräch bzw. – vor allem sprachlich vermittelte – Kommunikationsprozesse zwischen mehreren Teilnehmern verstanden.« Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, in: ders. u. a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, 113–143, 129.
Diskurse, Praktiken, Felder und Räume
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Michel Foucaults Diskursbegriff bis zur Critical Discourse Analysis nach Norman Fairclough reicht das Spektrum.70 Ich beginne mit einem Zugang, der ein zentrales Thema meiner Studie, nämlich die Vorherrschaft des ›Westens‹ in Angriff nimmt. Stuart Hall, im Umfeld der Critical Discourse Analysis angesiedelt, beschreibt Diskurse – in diesem Fall bezogen auf den »discourse of the West and the rest« – folgendermaßen: »In common-sense language, a discourse is simply ›a coherent or rational body of speech or writing; a speech or a sermon‹. But here the term is being used in a more specialized way […] By ›discourse‹, we mean a particular way of representing ›the West‹, ›the Rest‹, and the relations between them. A discourse is a group of statements which provide a language for talking about – i. e., a way of representing – a particular kind of knowledge about a topic. When statements about a topic are made within a particular discourse, the discourse makes it possible to construct the topic in a certain way. It also limits the other ways in which the topic can be constructed.«71
Diskursanalysen in den historischen Wissenschaften beziehen sich in der Regel auf einen Diskursbegriff in der Foucault’schen Tradition. »Unter Diskurse sind gesellschaftliche Redeweisen zu verstehen, die institutionalisiert sind, gewissen (durchaus veränderbaren) Regeln unterliegen und die deshalb auch Machtwirkungen besitzen, weil und sofern sie das Handeln von Menschen bestimmen. […] Diskurs, so verstanden, meint also immer Form und Inhalt von Äußerungen; seine Analyse beantwortet, grob gesagt, die Frage danach, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von wem wie sagbar war bzw. sagbar ist. Das bedeutet, dass immer auch die Frage danach gestellt ist, was nicht sagbar war bzw. ist.«72
Dabei ist – nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher und uneindeutiger Sichtweisen Foucaults selbst – nicht klar wie man Diskurse von Nicht-Diskursen unterscheidet.73 Die schwierige Unterscheidung zwischen Diskurs und anderen, 69 »Jürgen Habermas etwa begreift in seiner diskursethischen Perspektive Diskurse als rationale Argumentationsprozesse, d. h. als kommunikative Veranstaltungen, die spezifischen Kriterien des argumentativen Austauschs folgen.« Keller, Diskursanalyse, 128. 70 Norman Fairclough grenzt die Critical Discourse Analysis von diskursanalytischen Ansätzen ab, die sich auf Michel Foucault berufen. Sie hat einen explizit kritischen Anspruch. Mittels Critical Discourse Analysis sollen sprachliche Äußerungen kritisiert und soziale Machtverhältnisse herausgearbeitet werden: »The aim of critical social research is better understanding of how societies work and how they produce both beneficial and detrimental effects, and how the detrimental effects can be mitigated if not eliminated.« Norman Fairclough, Analysing Discourse. Textual Analysis for Social Research, London/New York 2003, 202f. 71 Stuart Hall, The West and the Rest: Discourse and Power, in: ders. u. Bram Gieben (Hg.), Formations of Modernity, Cambridge 1992, 275–331, 291. 72 Margarete Jäger, Kritische Diskursanalyse. Patriarchat und Einwanderungsdiskurs, in: Reiner Keller u. a. (Hg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 3, Wiesbaden 2008, 455–472, 456f. 73 Beispielsweise: »[…] der Diskurs [darf] nicht für die Gesamtheit der Dinge gehalten werden
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
nicht-diskursiven Phänomenen beschäftigt die Sozial- und Geisteswissenschafter_innen.74 Obwohl meine Fragestellungen auch mit diskursanalytischen Zugangsweisen bearbeitet werden könnten, steht ein anderes Forschungsprogramm im Zentrum meiner Studie. Ein Grund für diese Entscheidung besteht für mich darin, dass aus meiner Sicht Diskurse forschungspraktisch nur schwer erfasst oder operationalisiert werden können. Entweder wird Diskursanalyse ohnehin nicht als Forschungstechnik und -programm, sondern vielmehr als theoretischer Rahmen gesehen.75 Oder aber es wird eine Analyse mit bewährten sozialwissenschaftlichen Techniken durchgeführt: in der Regel inhaltsanalytische oder hermeneutische Verfahren, die dann eben Diskursanalyse genannt werden.76 Trotz aller Ausweitungen des Diskursbegriffs bleibt er »stark im Verbalen verfangen«77 und greift damit zu kurz, weil mich die materiellen Bedingungen dessen, was gesagt und getan wird, ebenso interessieren, wie das, was gesagt und getan wird. Zudem ist in meiner Analyse die Verbindung zwischen der sozialen Position und der entsprechenden Positionierung zentral: welche Standpunkte vertritt und lebt ein_e Protagonist_in, die im Verhältnis zu den anderen Prot-
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[…], die man sagt, und auch nicht für die Art und Weise, wie man sie sagt. Der Diskurs ist genauso in dem, was man nicht sagt, oder was sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt. Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwingender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.« Michel Foucault, Der Diskurs darf nicht gehalten werden für …, in: Daniel Defert, FranÅois Ewald u. Jacques Lagrange (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976–1979, Frankfurt a. M. 2003, 164–165, 164. »Wenn von und für Diskursanalytiker(innen) eine Preisfrage ausgesetzt werden würde, dann wäre wohl eine der ersten zu beantwortenden Fragen, was denn eine ›nichtdiskursive Praktik‹ sei.« Daniel Wrana u. Antje Langer, An den Rändern der Diskurse. Jenseits der Unterscheidung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken, in: Forum Qualitative Sozialwissenschaften, 8, 2 (2007), Artikel 20, o. S., unter : http://www.qualitative-research.net/in dex.php/fqs/article/view/253/557, Zugriff: 10. 10. 2017. »Diskursanalyse beziehungsweise Diskurstheorie ist keine Methode, die man ›lernen‹ könnte, sondern sie erscheint mir eher als eine theoretische, vielleicht sogar philosophische Haltung.« Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, 8. Reiner Keller schlägt eine Orientierung an der Grounded Theory vor (siehe dazu Kapitel 2.1): Reiner Keller, Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), 16, 4 (2005): Das Gerede vom Diskurs – Diskursanalyse und Geschichte, hg. von Franz X. Eder, 11– 32. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch in einem Methodenband, der eher der Critical Discourse Analysis zuzurechnen ist, vgl. Stefan Titscher u. a., Methods of Text and Discourse Analysis, London/Thousand Oaks/Delhi 2003. Eine sehr konkrete Handlungsanweisung findet man bei Siegfried Jäger, Einen Königsweg gibt es nicht. Bemerkungen zur Durchführung von Diskursanalysen, in: Hannelore Bublitz u. a. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a. M./New York 1999, 136–147. Jäger, Diskurs, 95.
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agonist_innen eine bestimmte Position einnimmt?78 Ich ziehe es daher vor mit einem anderen Forschungsprogramm zu arbeiten, das ebenfalls auf unterschiedliche Machtverhältnisse abzielt und von Pierre Bourdieus Feldkonzept ausgeht. Dies geschieht ganz im Sinne des Erfinders, der seine Forschungswerkzeuge angewandt wissen will: »Anders als die theoretische Theorie, ein prophetischer oder programmatischer Diskurs, der sich selbst Zweck ist und der aus der Konfrontation mit anderen Theorien erwächst und von ihr lebt, stellt sich die wissenschaftliche Theorie als ein Wahrnehmungs- und Aktionsprogramm dar, das sich nur aus der empirischen Arbeit, in der es realisiert wird, erschließt. Als vorläufige Konstruktion, die für und durch die empirische Arbeit Gestalt annimmt, gewinnt sie weniger durch die theoretische Auseinandersetzung als durch die Konfrontation mit neuen Gegenständen.«79
Feld ist bei Bourdieu prinzipiell ein relationales Konzept: es ist aufgebaut aus dem Verhältnis zwischen den Positionen, welche die Akteure im Feld einnehmen: »Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder, bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt.«80
Kampf, Spiel oder Markt sind Vergleiche, die Bourdieu heranzieht um zu verdeutlichen, dass es in einem Feld um etwas geht, das von denen, die im Spiel sind, anerkannt wird. Nach Bourdieu gibt es für jedes Feld Kapitalformen oder -sorten, um deren Akkumulation die Beteiligten sich bemühen: Für das universitäre Feld wären das etwa wissenschaftliches (z. B. Forschungsergebnisse, Publikationen), akademisches (z. B. Professuren, Mitgliedschaften in universitären Gremien) und intellektuelles (z. B. mediale Auftritte) Kapital.81 »Wer sich am Kampf beteiligt, trägt zur Reproduktion des Spiels bei, indem er dazu beiträgt, den Glauben an den Wert dessen, was in diesem Feld auf dem Spiel steht, je nach Feld mehr oder weniger vollständig zu reproduzieren.«82 Zu einem Feld gehört also ein Interesse daran, »mitzuspielen«. Dieses Interesse, aber auch die Fähigkeit, der Sinn für das Spiel beruht auf dem Habitus, der einverleibten Geschichte: womit man unter bestimmten sozialen, politischen, familiären Umständen groß geworden ist, was man (in einem sehr umfassenden, bei weitem 78 Vgl. Bourdieu, Regeln, 365f. 79 Pierre Bourdieu, Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld, in: ders., Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 2, Hamburg 1997, 59–78, 59. 80 Pierre Bourdieu, Über einige Eigenschaften von Feldern, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 2001, 107–114, 108. 81 Vgl. Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1992, 93f. 82 Bourdieu, Eigenschaften, 109.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
nicht nur kognitiven Sinn) gelernt und (nicht nur in materieller Hinsicht) geerbt hat. Der Habitus ist Voraussetzung ebenso wie Ergebnis der Erfahrung im sozialen Spiel. Wenn das Spiel nun russlandbezogene Geschlechterforschung heißt, kann man danach fragen, was einen für dieses Spiel geneigt, geeignet und fähig macht.83 Alexander Mejstrik hat allein und mit Kolleg_innen in mehreren historischen Gegenstandskonstruktionen, ausgehend von Bourdieus Feldkonzept, das Forschungsprogramm der Variationen und Kontraste entwickelt.84 Es geht ihm unter anderem darum, über topologische Feldvorstellungen (z. B. Feld als etwas in dem man sich herumbewegen kann, das ein Oben und Unten, ein Innen und Außen hat oder in einem anderen Feld enthalten ist) hinwegzukommen.85 Ein Forschungsgegenstand wird dabei mithilfe statistischer Verfahren und geometrischer Repräsentationen als vieldimensionaler Raum des Möglichen konstruiert, in dem jeder beobachtete Fall positioniert werden kann – jeweils in Relation zu den Positionen der anderen. Das inzwischen – entgegen der Intention Bourdieus – zur Theorie erstarrte Repertoire an Kapitalsorten (kulturelles, ökonomisches, soziales, symbolisches)86 wie auch das vielzitierte zweidimensionale Modell des sozialen Raums, konstruiert aus Kapitalvolumen und -struktur87, wird in diesem Zusammenhang geöffnet. »Ebenso scheint das vordefinierte Modell der Kapitalverteilung des sozialen Raumes – Kapitalvolumen als erste und Kapitalstruktur als zweite Dimension – für offen dimensionale Felder zu starr. Es unterstellt ja, dass sich ein Feld zumeist auf zwei Kapitalsorten beschränkt und, folgenschwer, dass diese beiden Kapitalien dasselbe Ge83 Bourdieu bezeichnet eine solche Neigung, die auf keiner bewussten Entscheidung, sondern auf einem Gefühl, einer Selbstverständlichkeit beruht, als illusio: »An der wissenschaftlichen, literarischen, philosophischen usw. illusio teilhaben heißt Einsätze ernst nehmen (und manchmal eine Frage von Leben und Tod daraus machen), die, aus der Logik des Spiels selbst hervorgegangen, dessen Ernst begründen, mögen sie auch den bisweilen so genannten ›Laien‹ oder in anderen Feldern Engagierten unverständlich blieben oder als ›uninteressant‹ oder ›zwecklos‹ erscheinen.« Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, 20. 84 Alexander Mejstrik, Zwischen totaler Ertüchtigung und spezialisiertem Vergnügen. Die Tätigkeiten Wiener Arbeiterjugendlicher als Erziehungseinsätze, 1941–1944, Dissertation, Wien 1993; ders. u. a., Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit: vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völkischen Schaffen 1938–1940, Wien u. a. 2004; ders., Kunstmarkt: Feld als Raum. Die österreichischen Galerien zeitgenössischer Kunst 1991–1993, in: ÖZG, 17, 2/3 (2006): Kunstmarkt, hg. von dems. u. Peter Melichar, 127– 188. 85 Alexander Mejstrik, Welchen Raum braucht Geschichte? Vorstellungen von Räumlichkeit in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, in: ÖZG, 17, 1 (2006), 9–64. 86 Bourdieu, Kapital. 87 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, 212f. Für ein vereinfachtes Schema vgl. Markus Schwingel, Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, 104.
Forschung über Geschlechterforschung
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wicht in der Feldstruktur haben. Beides trifft für Felder als dimensionale Einsatzhierarchien von Praktiken nicht zu.«88
Wie eine solche Umsetzung von statten geht, werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 darlegen, in denen ich die Ergebnisse der Analyse meiner Daten präsentiere. Die Wahlverwandtschaften zwischen Bourdieu’schen Feldern und Räumen einerseits und den statistischen Verfahren der geometrischen Datenanalyse89 andererseits werden in meiner Studie produktiv gemacht. Pierre Bourdieu erklärt dazu in »Soziologie als Beruf«: »Wenn ich zum Beispiel die Korrespondenzanalyse90 viel verwende, dann, weil ich meine, daß diese ein im wesentlichen relationales Verfahren ist, dessen Philosophie völlig dem entspricht, was meiner Ansicht nach die soziale Realität ausmacht. Es ist ein Verfahren, das in Relationen ›denkt‹, so wie ich es mit dem Begriff Feld zu tun versuche. Man kann also nicht die Objektkonstruktion und die Instrumente der Objektkonstruktion trennen, denn man braucht Instrumente, um von einem Forschungsprogramm zu einer wissenschaftlichen Arbeit zu kommen.«91
Auch postsowjetische Forscher_innen, die sich mit den Machtverhältnissen innerhalb der postsowjetischen Sozialwissenschaften und Gender Studies auseinandersetzen, verwenden vorzugsweise das Bourdieu’sche Instrumentarium für ihre Analysen.92
3.2
Forschung über Geschlechterforschung
Welche Arten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlechterforschung gibt es, und welchen Platz nimmt darin meine Studie ein? Forschung über Geschlechterforschung kommt zumeist in einer der folgenden Spielarten (oder Kombinationen daraus) vor,93 die charakteristisch für die Erforschung von Wissenschaft sind: Ideengeschichtlich im Sinne einer klassischen internalisti88 Mejstrik, Kunstmarkt, 173. 89 Vgl. Henri Rouanet, Werner Ackermann u. Brigitte Le Roux, The Geometric Analysis of Questionnaires: The Lesson of Bourdieu’s La Distinction, in: Bulletin de methodologie sociologique, 65 (2000), 5–18, 6. 90 Die Korrespondenzanalyse ist ein Teil des Instrumentariums der Geometrischen Datenanalyse, das auch in meiner Studie zur Anwendung kommt. 91 Pierre Bourdieu, »Inzwischen kenne ich alle Krankheiten der soziologischen Vernunft«. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais, in: ders., Jean-Claude Chamboredon u. JeanClaude Passeron (Hg.), Wissenschaft als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, Berlin/New York 1991, 269–284, 277. 92 Vgl. Gapova, Zerkalo; dies., Znanie; Sokolov, Sociologija; Artyom Kosmarski, Space, Power, and Prestige in the Academic Field: A Case-Study of Russian Scholars, in: Focaal. European Journal of Anthropology, 53 (2009), 89–102. Näheres zu solchen Forschungen in Kapitel 3.5. 93 Vgl. Garstenauer, Geschlechterforschung, 4.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
schen94 Beschreibung von Wissenschaft, die sich für die Entwicklung von Theorien, Forschungsthemen und Forschungswerkzeugen interessiert.95 Hier sind etwa die in den letzten Jahren zahlreich erschienenen Handbücher und Einführungsbände einzuordnen. Anders als in solchen aus angelsächsischen Ländern96 findet man in deutschsprachige Bände in der Regel eine Aufgliederung nach Gender Studies in einzelnen Disziplinen.97 Das mag mit unterschiedlichen akademischen Kulturen zu tun haben, möglicherweise aber auch damit, dass Geschlechterforschung in den USA und Großbritannien eine autonomere Position gegenüber traditionellen Disziplinen einnimmt.98 Zu den ideengeschichtlichen Studien gehört meine nicht. Wiewohl ich immer wieder auf inhaltliche Aspekte eingehen werde, ist meine Perspektive auf die transnationale russlandbezogene Geschlechterforschung eher eine externalistische. Biografische beziehungsweise autobiografische Arbeiten können nicht immer scharf von ideengeschichtlichen unterschieden werden, etwa wenn bestimmte Denkweisen oder Forschungsthemen von prominenten Einzelpersonen vertreten wurden. In auto/biografisch ausgerichteten Arbeiten werden Protagonist_innen der Frauen- und Geschlechterforschung vorgestellt oder sie erzählen selbst ihre Lebensgeschichten.99 Wiewohl meine Studie nicht diesem Typus 94 Zur Internalismus-Externalismus-Debatte vgl. David Hess, Science Studies. An Advanced Introduction, New York/London 1997, 127f. 95 Vgl. etwa Therese Frey Steffen (Hg.), Gender Studies: Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik, Leipzig 2006 oder Cornelia Behnke u. Michael Meuser, Geschlechterforschung und qualitative Methoden, Opladen 1999. 96 So etwa der Einführungsband von Richardson und Robinson, der nicht nach Disziplinen, sondern nach Themen wie etwa Bodies/Identities, Institutions oder Feminist Methodology gegliedert ist, vgl. Diane Richardson u. Victoria Robinson (Hg.), Introducing Gender and Women’s Studies, Basingstoke 20154. 97 Nur z. B.: Ruth Becker u. Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2010; Hadumod von Bußmann u. Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch, Stuttgart 20052 ; Marlen Bidwell-Steiner u. Karin S. Wozonig (Hg.), Die Kategorie Geschlecht im Streit der Disziplinen. Gendered Subjects, Bd. 1, Innsbruck/Wien/Bozen 2005. Zur Praxis der Interdisziplinarität in den europäischen Gender Studies vgl. Veronica Vasterling u. a., Practising Interdisciplinarity in Gender Studies, York 2006. 98 Das gilt auch für die russlandspezifische Geschlechterforschung, wie in Kapitel 4.2 gezeigt wird. 99 Brigitte Lichtenberger-Fenz u. Doris Ingrisch, Lust am Denken – Lust am Leben. Wissenschaft(erinnen) im Selbstportrait, Strasshof 2000; Ulrike Vogel, Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität, Wiesbaden 2006. Eine neuere Studie von Ulla Bock basiert auf Interviews mit Professorinnen, die seit den 1980er Jahren Lehrstühle für Frauenund Geschlechterforschung an deutschsprachigen Universitäten innehatten, vgl. Ulla Bock, Pionierarbeit: Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung 1984–2014, Frankfurt a. M./New York 2015.
Forschung über Geschlechterforschung
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zugerechnet werden kann machen biografische Erzählungen einen wesentlichen Teil der Interviews aus, die ich in ihrem Rahmen geführt habe. Die Geschichte der Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung wurde in den vergangenen Jahren verstärkt untersucht und dokumentiert, was manche Autor_innen als Indiz für die wachsende Etabliertheit der Interdisziplin sehen: »Such studies and debates about ›what happened‹ and which reflect on and analyse changing institutional, political, methodological, and theoretical changes are, we contend, a central part of both establishing, recognising, and legitimising women’s and gender studies as a field in its own right.«100 Diese Spielart findet man vielfach in Publikationen, die als Berichte für nationale und supranationale Einrichtungen fungieren. Beispiele für solche Publikationen sind etwa einige der Bände »Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft« des österreichischen Bundesministeriums für Bildung Wissenschaft und Kultur101, oder auf europäischer Ebene die Reihe »The Making of European Women’s Studies«, in der seit dem Jahr 2000 acht Bände erschienen sind.102 Motivationen für die Studienwahl von Absolvent_innen der Frauen- und Geschlechterforschung ebenso wie die Chancen dieser Absolvent_innen am Arbeitsmarkt stehen im Zentrum des Interesses von evaluativen Studien, die häufig mehrere Länder vergleichen. Im Rahmen eines von der Europäischen Kommission geförderten Projektes, das von der Universität Hull aus koordiniert wurde, wurden einschlägige Daten für die Länder Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Slowenien, Spanien und Ungarn erhoben.103 Fragen der Institutionalisierung von Geschlechterforschung werden in meiner Studie mitberücksichtigt. Seltener finden sich konkrete empirische Studien, in denen Frauen- und Geschlechterforschung als sozialwissenschaftliches Forschungsobjekt konstruiert
100 Ulrika Dahl, Marianne Liljeström u. Ulla Manns, Introduction, in: dies. (Hg.), The Geopolitics of Nordic and Russian Gender Research 1975–2005, Stockholm 2016, 9–32, 23. 101 Z. B. Gertraud Seiser u. Eva Knollmayer (Hg.), Von den Bemühungen der Frauen in der Wissenschaft Fuß zu fassen (Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft 3), Wien 1993; Sabine Kock u. Gabriele Moser (Hg.), Perspektiven von Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien (Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft 18), Wien 2005. 102 Die letzte Ausgabe dieser Reihe erschien 2009, vgl. Berteke Waaldijk u. Else van der Tuin (Hg.), The Making of European Women’s Studies, Bd. IX: Work in Progress Report on Curriculum Development and Related Issues in Gender Education and Research, Utrecht 2009. 103 Gabriele Griffin, Doing Women’s Studies: Employment Opportunities, Personal Impacts and Social Consequences, London 2005; vgl. auch Birgit Riegraf u. a. (Hg.), Gender Change in Academia: Re-Mapping the Fields of Work, Knowledge, and Politics from a Gender Perspective, Wiesbaden 2010.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
wird.104 Geschlechterverhältnisse in der Wissenschaft im Allgemeinen und in spezifischen Fächern im Besonderen wurden in zahlreichen Studien erforscht.105 Dagegen sind Arbeiten, die Frauen- und Geschlechterforschung in dieser Weise untersuchen, eher die Ausnahme. Brigitte Hasenjürgen untersuchte vor gut zwanzig Jahren die sozialen Hintergründe und Laufbahnen von Sozialwissenschafter_innen, darunter auch Frauenforscherinnen.106 Sabine Hark hat 2005 eine Diskursgeschichte des Feminismus vorgelegt.107 Es geht dabei um die Frauen- und Geschlechterforschung und ihre Institutionalisierung in Deutschland, somit um die Disziplinierung einer politischen Bewegung, die sich im akademischen Feld etabliert und um Machtkämpfe innerhalb dieses (Sub-)Feldes. Ihre Arbeit beruft sich stark auf Forschungswerkzeuge von Pierre Bourdieu, ebenso wie es das »Querelles-Jahrbuch« des Jahres 2007 tut. Bourdieus Soziologie wird darin als »Herausforderung für die Frauen- und Geschlechterforschung« angenommen – einerseits für die eigene Forschungspraxis, andererseits für einen selbstreflexiven Zugang.108 Die bisher genannten Arbeiten erforschen im Wesentlichen nur einen nationalen Kontext. Einige neuere Studien erweitern die Perspektive, entweder durch vergleichende Ansätze oder durch einen relationalen Zugang, der die Entwicklung von Gender Studies in einem Land in größere geopolitische Zusammenhänge stellt, was auch für meine Untersuchung zutrifft. Veronika Wöhrer untersuchte etwa die Relationen zwischen Geschlechterforscher_innen in unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten. In ihrer Dissertation legt sie dabei einen Schwerpunkt auf (nicht ausschließlich akademische) feministische Kooperationen zwischen tschechischen, slowaki-
104 Auch biografische Forschungen sind empirisch fundiert, fokussieren aber auf Personen/ Protagonist_innen als Gegenstand der Untersuchung. 105 Vgl. etwa Harriet Zuckermann (Hg.), The Outer Circle: Women in the Scientific Community, New York 1991; Harding, Whose Science; Londa Schiebinger, Has Feminism Changed Science?, Cambridge, MA 1999; Sandra Beaufay¨s, Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003; Bettina Heintz, Martina Merz u. Christina Schumacher, Wissenschaft, die Grenzen schafft: Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich, Bielefeld 2004; Anne E. Lincoln u. a., The Matilda Effect in Science: Awards and Prizes in the US, 1990s and 2000s, in: Social Studies of Science, 42, 2 (2012), 307–320. 106 Brigitte Hasenjürgen, Soziale Macht im Wissenschaftsspiel. SozialwissenschaftlerInnen und Frauenforscherinnen an der Hochschule, Münster 1996. In eine ähnliche Richtung geht Sünne Andresen, Der Preis der Anerkennung. Frauenforscherinnen im Konkurrenzfeld Hochschule, Münster 2001. 107 Sabine Hark, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M. 2005. 108 Ulla Bock, Irene Dölling u. Beate Krais (Hg.), Prekäre Transformationen. Pierre Bourdieus Soziologie der Praxis als Herausforderung für die Frauen- und Geschlechterforschung, Göttingen 2007.
Geopolitische Konzepte
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schen, deutschen, amerikanischen und anderen Protagonist_innen.109 In weiterführenden Projekten wurde der Fokus ihrer Forschungen noch globaler, indem noch Geschlechterforschung in Indien als Vergleichsobjekt hinzugenommen wurde. So untersuchte sie etwa, wie Einführungen in das Feld der Gender Studies und andere einschlägige Bücher und Textsorten in den unterschiedlichen nationalen Kontexten strukturiert sind, auf welche Autor_innen Bezug genommen wird. Auf diese Weise wird die ungleiche globale Arbeitsteilung in den Gender Studies sehr deutlich und fundiert dargelegt.110 Ein schwedisch-finnisches Team hat ein Buch über die geopolitischen Implikationen der Entwicklung von Gender Studies in skandinavischen Ländern und Russland zwischen 1975 und 2005 verfasst.111 Dies ist insofern eine spannende Kombination, als sich unterstützt durch die geographische Nähe einige erfolgreiche Kooperationen zwischen skandinavischen und russischen (v. a. Sankt Petersburger) Forscher_innen ergeben haben. Über die nicht immer einfache Praxis von Feministischer, Frauen- und Geschlechterforschung in Portugal und der dazugehörigen transnationalen Vernetzungen und Beziehungen hat Maria do Mar Pereira eine ethnographische Studie durchgeführt.112 Wiewohl das kleine südwesteuropäische Land geopolitisch völlig anders gelagert ist als Russland findet man Ähnlichkeiten hinsichtlich der marginalen Position der Gender Studies in beiden Ländern, die der sozialwissenschaftlichen Peripherie113 zugerechnet werden können. Meine Studie fokussiert in ähnlicher Weise zunächst auf einen nationalen Kontext, geht aber mit Blick auf den transnationalen Charakter von Gender Studies in und über Russland über diese Grenze hinaus.
3.3
Geopolitische Konzepte
3.3.1 Norden und Süden, Zentren und Peripherien Eine zentrale Frage meiner Studie betrifft die Machtverhältnisse und die daraus resultierende Arbeitsverteilung innerhalb der Sozialwissenschaften in globalem Maßstab. Ich setze hier Sozialwissenschaften und Gender Studies nicht gleich, vieles, was über globale Arbeitsteilung in den Sozialwissenschaften geschrieben wird, hat aber auch für Gender Studies und Feministische Forschung Gültigkeit. Vgl. Wöhrer, GrenzgängerInnen. Vgl. Wöhrer, Multi-Centred Field, mehr zur Arbeitsteilung im Kapitel 3.4.2. Vgl. Dahl/Liljeström/Manns, Geopolitics. Vgl. Maria do Mar Pereira, The Importance of Being »Modern« and Foreign: Feminist Scholarship and the Epistemic Status of Nations, in: Signs, 39, 3 (2014), 627–657. 113 Näheres dazu in Kapitel 3.4.1. 109 110 111 112
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
Darüber hinaus sind speziell in Russland Gender Studies in den Sozialwissenschaften am stärksten vertreten.114 Zudem werde ich auch Forschungen diskutieren, die dezidiert globale Verhältnisse innerhalb der feministischen Forschung und Geschlechterforschung thematisieren.115 Konzepte, die für die Analyse dieser Verhältnisse verwendet werden, beziehen sich oft auf metageographische Einteilungen, die aus den Sphären von Politik und Wirtschaft stammen. Sozialwissenschaften sind von diesen Verhältnissen nicht unabhängig, wiewohl sie und ihre globale Arbeitsteilung nach eigenen Spielregeln funktionieren. Raewyn Connell listet eine Vielzahl von Varianten auf, zu denen sie bemerkt: »[…] through all the ambiguities of terminology, the realities of global division show through. All these expressions refer to the longlasting pattern of inequality in power, wealth and cultural influence.«116 Zunächst gibt es die Unterscheidung zwischen dem globalen Norden und Süden, wie sie etwa im Kontext der Vereinten Nationen verwendet wird, und die Connell auch selbst in ihrer Begrifflichkeit von »Northern« beziehungsweise »Southern Theory« aufgreift.117 Analog dazu gibt es die Unterscheidung zwischen »metropole« und »majority world«,118 die speziell hervorhebt, dass eine Minderheit das (ökonomische, politische, wissenschaftliche) Sagen gegenüber einer von ihr abhängigen Mehrheit hat. Eine ähnliche Vorstellung steht hinter den Begriffen »One-Third«/ »Two-Thirds Worlds«, die von Gustavo Esteva and Madhu Suri
114 Das führt die Philosophin Irina Zˇerebkina auf den russischen Entstehungskontext zurück, in dem Geschlecht als Analysekategorie primär mit sozialem Status (nicht aber mit Identität, Subjektivität, Körperlichkeit) in Verbindung gebracht wurde, vgl. Irina Zherebkina, On the Performativity of Gender: Gender Studies in Post-Soviet Higher Education, in: Studies in East European Thought, 55, 1 (2003), 63–97, 66. Vgl. auch folgendes Statement »Da ›Geschlecht‹ in den Gender Studies als sozial verstanden wird und die Soziologie die Wissenschaft von der Gesellschaft ist, ist verständlich, dass Gender Studies auf Soziologe als soziologischen Diskurs basieren, weil sie Geschlecht eben als soziales Phänomen und nicht irgendein anderes beschreiben.« Pocˇemu sociologija – »ljubimyj« diskurs razvitija gendernych issledovanij v byvsˇem SSSR? Diskussija (28 oktjabrja 2009 goda, Foros, 13-ja Mezˇdunarodnaja Sˇkola po Gendernym Issledovanijam »Gendernye issledovanija: vozmozˇnosti dlja novoj politicˇeskoj antropologii v byvsˇem SSSR«) [Warum ist Soziologie der »Lieblings«-Diskurs in der Entwicklung von Gender Studies in der ehemaligen UdSSR? Diskussion (28. 10. 2009, Foros, 13. Internationale Schule für Gender Studies »Gender Studies: Möglichkeiten für eine neue politische Anthropologie in der ehemaligen UdSSR«], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 19 (2009), 70–91, 93, Übersetzung aus dem Russischen TG. 115 Vgl. Wöhrer, Multi-Centred Field; Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes Revisited, in: Signs, 28, 2 (2003), 499–535. 116 Connell, Theory, 212. 117 Dies ist freilich nur eine Achse der globalen Unterscheidung. Da die Ost-West-Begrifflichkeit für diese Studie sehr zentral ist, werde ich später näher darauf eingehen, siehe Kapitel 3.3.2. 118 Connell, Theory, 212.
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Prakash formuliert wurden.119 Alfred Sauvy prägte Mitte des 20. Jahrhunderts die Unterscheidung zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt, von denen die erste die industrialisierte westliche Welt meint, die zweite den sozialistischen Teil der Welt und die dritte schließlich die unterentwickelten, ausgebeuteten Länder, die heute als globaler Süden bezeichnet werden.120 Diese Unterscheidung ist nach dem Ende des Kalten Kriegs obsolet geworden.121 Ich erwähne sie hier, weil in den geopolitischen Modellen, die aus nur zwei Teilen bestehen, Russland und genereller das postsozialistische Osteuropa oft gar nicht vorkommen. So fragte Jennifer Suchland, eine der wenigen Expertinnen sowohl für Gender Studies als auch für Russian Studies: »Where do the experiences and voices from the former second world fit in transnational feminist discourses, and why have they been forgotten?«122 Eine Unterscheidung zwischen dem industrialisierten Zentrum und der Peripherie, die Rohstoffe liefern und im Zentrum produzierte Konsumgüter erwerben darf, findet sich schon in den 1950er Jahren bei dem argentinischen Ökonomen Raffll Prebisch.123 In der World Systems Theory, ausgearbeitet von Immanuel Wallerstein,124 kommt zwischen Zentrum (core) und Peripherie (periphery) auch noch eine Semi-Peripherie (semi-periphery) ins Spiel, die autonomer als die Peripherie ist, aber dennoch vom Zentrum abhängig ist. »The core-periphery distinction, widely-observed in recent writings, differentiates those zones in which are concentrated high-profit, high-technology, high-wage diversified production (the core countries) from those in which are concentrated lowprofit, low-technology, low-wage, less diversified production (the peripheral countries). But there has always been a series of countries which fall in between in a very concrete way, and play a different role.«125
119 Vgl. Gustavo Esteva u. Madhu Suri Prakash, Grassroots Post-Modernism: Remaking the Soil of Cultures, London 1998, zit. nach Mohanty, Revisited, 506. Mohanty findet diese Terminologie aufschlussreicher und weniger irreführend als jene von ›Westen‹ und ›Dritter Welt‹. 120 Alfred Sauvy, Trois mondes, une planHte, in: L’Observateur, 118, 14. 8. 1952, 14. 121 Vgl. Christoph Kalter, Die Entdeckung der Dritten Welt: Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a. M./New York 2011, 71. 122 Jennifer Suchland, Is Postsocialism Transnational?, in: Signs, 36, 4 (2011), 837–862, 837f. In Chandra Talpade Mohantys Neudiskussion ihres klassischen Essays »Under Western Eyes« spricht sie von »First« und »Third World«, dazwischen gibt es keine zweite Welt. Mohanty, Revisited, 505f. 123 Raffll Prebisch, Commercial Policy in the Underdeveloped Countries, in: The American Economic Review, 49, 2 (1959), 251–273. 124 Immanuel Wallerstein, The Modern World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York 1976. 125 Immanuel Wallerstein, Semi-Peripheral Countries and the Contemporary World Crisis, in: Theory and Society, 3, 4 (1976), 461–483, 462.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
Eine solche Aufteilung der Welt lässt sich, wie wir weiter unten sehen werden, auch auf die Sozialwissenschaften in globaler Perspektiver umlegen. Zunächst ist aber noch eine ausführlichere Diskussion der Kategorien ›Ost‹ und ›West‹ an der Reihe.
3.3.2 ›Ost‹ und ›West‹ als spezifische geopolitische Differenzierungskriterien Die unterschiedlichen und relationalen Verwendungen der Begriffe ›Ost(en)‹ und ›West(en)‹ ist eines der Phänomene, die die meine Faszination für mein Forschungsthema genährt haben. Es steht außer Frage, dass diese Bezeichnungen für Himmelsrichtungen semantisch und politisch vielfältig aufgeladen und alles andere als unschuldig und beliebig sind. »In public discourse, ›East‹ and ›West‹ are used to refer to two parts of Europe which are thought of as opposing each other in a dichotomous way. Another ›East‹-›West‹ dichotomy is that of ›Asia‹ and ›Europe‹, in which the former continent is not identified with Chinese, Japanese, Indian or other great culture, but is seen as the direct opposite of a humanistic, rational, tolerant, and enlightened Europe. Thus, ›East‹ and ›West‹ are not simply geographical, but essentially cultural and moral distinctions.«126
Eberhard Stöltings Analyse, auf die ich weiter unten noch näher eingehen werde, bezieht sich primär auf den Referenzrahmen Europa, wo die Vorstellung des ›Westens‹ auch entstanden ist. Stuart Hall, in dem Bemühen, zu erfassen, wo und was denn dieser ›Westen‹ sei, schreibt »It’s true that what we call ›the West‹ in this second sense did first emerge in Western Europe. But ›the West‹ is no longer only in Europe, and not all of Europe is in ›the West‹. […] ›Eastern Europe doesn’t (doesn’t yet? never did?) properly belong to the West‹, whereas the United States which is not in Europe, definitely does. These days, technologically speaking, Japan is ›western‹, though on our mental map it is about as far ›East‹ you can get. By comparison, much of Latin America which is in the Western hemisphere belongs economically to the Third World, which is struggling – not very successfully – to catch up with the ›West‹.«127
Dieser ›Westen‹ – verstanden als entwickelt, urbanisiert, industrialisiert, kapitalistisch, säkularisiert und modern – entstand, so Stuart Hall, in der frühen Neuzeit, beginnend mit der europäischen Expansion.128 Der ›Westen‹ wurde zum Maßstab, verglichen mit dem alles andere (»the rest«) primitiver, bis hin zur 126 Erhard Stölting, The East of Europe: A Historical Construction, in: Roswitha Breckner, Devorah Kalekin-Fishman u. Ingrid Miethe (Hg.), Biographies and the Division of Europe, Opladen 2000, 23–38, 23. 127 Hall, West, 275. 128 Hall, West, 279f.
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Barbarei war. Diese Konstellation bezeichnet Hall als »discourse of the West and the rest«.129 Dieser ›Westen‹ benötigte und benötigt ein Anderes, eine Folie für die eigene Zivilisiertheit. Als dieses Andere können der ›Orient‹130 oder der ›Balkan‹131 dienen. Auch im ›Osten‹ Europas kann ein solches Anderes gefunden werden. Larry Wolff hat auf Basis von literarischen und dokumentarischen Berichten westeuropäischer Reisender seit dem 18. Jahrhundert gezeigt, wie der ›Osten‹ Europas ge- und erfunden wurde. Wolff meint auch, dass die Teilung Europas (und darüber hinaus der ganzen Welt) im Kalten Krieg durch den historischen und symbolischen Hintergrund des ›barbarischen Osteuropas‹ an Deutlichkeit gewann, und dass diese Unterteilung auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs noch die Vorstellungen von Europa strukturiert. »The shadow persists, because the idea of Eastern Europe remains, even without the iron curtain. This is not only because the intellectual structures of half a century are slow to efface themselves, but above all, because that idea of Eastern Europe is much older than the Cold War […]. The distinction is older than Churchill and the Cold War, but it is by no means a matter of time immemorial, undiscoverably ancient. It was not a natural distinction, or even an innocent one, for it was produced as a work of cultural creation, of intellectual artifice, of ideological self-interest and self-promotion.«132
Der »Erfindung Osteuropas« geht eine Bedeutungsverschiebung voraus: Ehe das Andere der zivilisierten Welt mit dem Namen ›Osten‹ belegt wurde, war es der ›Norden‹, der diese Position einnahm – interessanterweise konträr zur gegenwärtig etablierten Nord-Süd-Unterscheidung: »Im Weltbild der klassischen Antike galt der Norden noch als Heimat der unzivilisierten Barbaren, als Heimstatt des ›Anderen‹, von dem sich der Süden als Hort der Kultur abgrenzte.«133 Frithjof Benjamin Schenk kritisiert an Larry Wolffs Darstellung, dass dessen Darstellung der Erfindung Osteuropas aufgrund selektiver Quellenauswahl nicht korrekt datiert ist. Mit Bezugnahme auf Hans Lemberg weist Schenk darauf hin, dass Russland bis in die 1830er Jahre noch dem ›Norden‹ zugeordnet wurde. Die ›Nord‹-›Ost‹-Verschiebung habe sich erst unter Einfluss
129 Hall, West, 275. 130 Edward W. Said, Orientalism, London 1995 (Orig. 1976). 131 Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York 1997; dies.: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 28, 3 (2002), 470–492. 132 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994, 3f. 133 Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft, 28, 3 (2002), 493–514, 505. Diese Nord-Süd-Vorstellung ist aber nicht als ungebrochenene Tradition von der Antike bis zur Neuzeit zu verstehen. Vielmehr wurde sie in der Zeit des Humanismus und der Renaissance populär und hielt sich bis ins 19. Jh.
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des Wiener Kongresses und des Krimkriegs vollzogen.134 Wolff und Schenk sprechen beide von »Mental Maps«, also von verinnerlichten Vorstellungen darüber, wie die Welt strukturiert ist. »Die geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Mental-Maps-Forschung hat gezeigt, dass die meisten der gängigen Großraumvokabeln in unserem Wortschatz weniger wertneutrale Begriffe als Termini mit einer benennbaren politischen Geschichte sind. Da weder das menschliche Bedürfnis nach Orientierung im Raum noch der Druck geopolitischer Diskurse auf die räumliche Vorstellungswelt der Menschen in der Zukunft verschwinden werden, bleiben kognitive Karten weiterhin Faktoren des historischen Prozesses.«135
Um die konkreten Verwendung der Begriffe ›Ost‹ und ›West‹ etwas zu systematisieren, entlehne ich ein Schema von Erhard Stölting. Nachdem er etabliert, dass im europäischen Kontext eine ›Ost‹-›West‹-Dichotomie besteht, bestimmt Stölting vier Varianten, in denen diese Dichotomie kommunikativ umgesetzt wird.136 Sie ergibt sich aus der Kreuzung der jeweiligen Perspektive des ›Ostens‹ oder des ›Westens‹ mit einer positiven oder negativen Einschätzung des ›Ostens‹ und des ›Westens‹, die schematisch etwa so dargestellt werden kann: Tabelle 1: Osten/Westen (nach Erhard Stölting)
Sicht des Westens Sicht des Ostens
Osten negativ / Westen positiv
Osten positiv / Westen negativ
Contempt Self-Contempt/Admiration
Nostalgia Resentment
Die erste ist die der Verachtung oder Geringschätzung (contempt), in der ein moralisch und kulturell höherstehender ›Westen‹ auf einen unterentwickelten und amoralischen ›Osten‹ blickt. Die von Larry Wolff gesammelten Reiseberichte können als Beispiele dafür genannt werden.137 Stölting erwähnt die na134 Vgl. Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom ›Norden‹ zum ›Osten‹ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 33 (1985), 48–91. 135 Schenk, Mental Maps, 514. 136 Stölting unterscheidet zwischen kulturellen, wirtschaftlichen u. a. Differenzen und der Konzeptualisierung derselben: »Although the topic here is the conceptualization of a difference and not the difference itself, this does not mean that differences do not exist. But it does imply that these differences are interpreted by means of conceptual schemes which have a life of their own, and which have particularly grave consequences.« Stölting, East, 23. 137 Hier könnte auch auf das Buch von Vesna Goldsworthy über Repräsentationen des Balkans in westeuropäischen und US-amerikanischen Büchern und Filmen verwiesen werden: Vesna Goldsworthy, Inventing Ruritania. The Imperialism of the Imagination, New Haven/ London 1998. Wojciech Orlinski erstellt eine Auflistung der zahllosen imaginären Kleinstaaten (Ruritanien, Herzoslowakien, Vulgarien, Krakosien, Molwan%en …), die in der Literatur, im Film und in Computerspielen auftauchen, vgl. Wojciech Orlinski, Ex oriente horror, Osteuropa-Stereotypen in der Populärkultur, in: Transit, 31 (2006), 132–152.
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tionalsozialistische Ideologie, die Slawen als Untermenschen betrachtet, als ein Beispiel; ein anderes ist die Legitimation für russische koloniale Expansionen nach Zentralasien seit dem 19. Jahrhundert. Das zeigt, dass der ›Osten‹ nichts Absolutes ist, dass etwa auch Russland seinen ›Osten‹ hat. Eine weniger radikale Manifestation dieser konzeptuellen Konstellation sieht Stölting in der Haltung ›westlicher‹ Expert_innen aller Art, die versuchen, ›westliche‹ Modelle auf Russland anzuwenden oder die ein Aufholen Russlands, einen Übergang in Richtung Demokratie, Marktwirtschaft und anderer ›westlicher‹ Werte favorisieren.138 Wechselt man die Perspektive unter Beibehaltung, dass der ›Westen‹ das Bessere sei, und der ›Osten‹ etwas Minderwertiges, so ergibt sich eine von Russ_innen vertretene Haltung, die die ›westliche‹ Vorrangstellung akzeptiert und als etwas Erstrebenswertes erachtet. Das Eigene wird dagegen als rückständig betrachtet, als etwas, das zu überwinden ist. In diesem Zusammenhang erwähnt Stölting die Tradition der russischen ›Westler‹, also Autoren des ˇ aadaev, Alexander Herzen oder Vissarion Belinski. 19. Jahrhunderts wie Petr C Wenn die grundlegende Dichotomie von ›Ost‹ und ›West‹ umgekehrt bewertet wird, wenn also der ›Osten‹ positiv konnotiert wird und der ›Westen‹ das negative Gegenbild abgibt, so ergeben sich wiederum zwei Varianten, die Stölting mit Ressentiment und Nostalgie bezeichnet. Mit Ressentiment ist etwa die Haltung der Slawophilen, zu denen auch die Schriftsteller Fedor Dostoevskij und Alexander Solsˇenicyn gezählt werden, umschrieben: Der Westen sei moralisch bankrott, ihm wird als positive Alternative die traditionelle russische sobornost’139, Spiritualität und auch der russisch-orthodoxe Glaube entgegengestellt. Durch die politischen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts in Russland hat sich eine solche Haltung heute im Vergleich zu den 1990er Jahren wieder stärker verbreitet.140 Die Soziologin Elena Zdravomyslova bezieht sich in einer Analyse der unterschiedlichen gegenwärtig in Russland propagierten soziologischen Traditionen, explizit auf die historische Unterteilung in »Westernizers« und »Slavofiles« und bezeichnet auch aktuelle Protagonist_innen der russischen Soziologie mit diesen Termini.141 Von Nostalgie spricht Stölting, wenn aus der 138 Die Vorstellung von der Rückständigkeit Russlands hat auch in der Wirtschaftsgeschichte Erwähnung gefunden, vgl. Alexander Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge, MA 1962. 139 Der Begriff ähnelt in seiner Bedeutung dem der organischen »Gemeinschaft« von Ferdinand Tönnies, die der rationalen »Gesellschaft« entgegengesetzt wird, vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1920 (Orig. 1887). 140 Vgl. Riabov/Riabova, Decline. 141 Elena Zdravomyslova, What is Russian Sociological Tradition? Debates among Russian Sociologists, in: Sujata Patel (Hg.), The ISA Handbook of Diverse Sociological Traditions, Los Angeles u. a. 2010, 140–151, 146. Siehe auch Kapitel 3.5 zu den Sozialwissenschaften in Russland.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
Sicht des ›Westens‹ der ›Osten‹ das Ursprünglichere, Unverfälschtere und daher Erstrebenswertere ist. Als ein Beispiel für aktuelle nostalgische Ideen über Russland kann das größtenteils über das Internet abgewickelte Heiratsvermittlungsgeschäft genannt werden. Russische Frauen werden von westeuropäischen und amerikanischen Männern als femininer, traditioneller und somit als attraktivere Ehepartnerinnen verglichen mit den emanzipierten »westlichen« Frauen betrachtet.142 All diese Sichtweisen (mit Ausnahme explizit slawophiler Standpunkte) finden sich in der einen oder anderen Ausprägung in meinen Interviews: Etwa wenn eine deutsche Wissenschafterin von russischen Kolleg_innen spricht, mit denen man einfach nicht zusammenarbeiten kann, weil sie so »sowjetisch« seien (Rückständigkeit); wenn ein russischer Forscher feststellt, dass es russische Gender Studies gar nicht gibt – sondern nur amerikanische, englische und französische (Selbstverachtung/Bewunderung); wenn eine russische Forscherin die attraktiven, erfolgreichen Sowjetfrauen den unschönen und ignoranten amerikanischen Feministinnen gegenüberstellt (Ressentiment) oder wenn eine britische Forscherin von der Menschlichkeit und Großzügigkeit von Russ_innen schwärmt, die so ganz anders als die Leute im ›Westen‹ seien (Nostalgie). Dabei muss eine wichtige Einschränkung gemacht werden: Während vom ›Westen‹ relativ viel und in vielfältigen Bedeutungsnuancen und Kontexten gesprochen wird, kommt der Osten seltener und weniger differenziert vor. Niemand spricht in den Interviews je von »uns im Osten« – der ›Osten‹ scheint auch in diesem Zusammenhang immer das Andere zu sein, auch für jene, die aus Sicht des ›Westens‹ den ›Osten‹ repräsentieren.143 Es war im Lauf meiner Forschungstätigkeit unübersehbar, dass die Begriffe ›Ost‹ und ›West‹ sich ungebrochener Beliebtheit und Verbreitung erfreuen, auch wenn schon manche Bemühungen zu ihrer Dekonstruktion angestellt wurden. So bemerken die Autor_innen eines Aufsatzes über die (Un-)Übersetzbarkeit von »Queer«: »We want to express our uneasiness in dealing with the terms and concepts of the ›West‹, ›Central and Eastern Europe‹, ›Orient‹ and others. It is important that we highlight the impossibility of a specification of what these terms exactly relate to; yet 142 »The idea of having a wife from a more traditional background, the idea of the man going out to work while the woman stays and tends the home has long been an ideal of mine. […] Probably the only place left on the planet where there are Caucasian women who have notions compatible with mine concerning marriage and its structure is in Russia or that part of the world«, schreibt ein Rezensent des Buches von Weston Rogers, Russian Women & Marriage: Love Letters … from Russia, Dallas, TX 1998, zit. nach Sonja Luehrmann, Mediated Marriage: Internet Matchmaking in Provincial Russia, in: Europe-Asia Studies, 56, 6, (2004), 857–875, 863. 143 Vgl. Abschnitt 5.1.2 zu den in den Interviews angesprochenen Inhalten.
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still, it seems inescapable to use them, while they persist in their abundance of historical, cultural, political, geographical, ideological, and other meanings.«144
Veronika Wöhrer, die in ihrer Dissertation die Verhältnisse zwischen tschechischen und slowakischen Gender-Forscherinnen einerseits und deren deutschen, österreichischen und amerikanischen Kolleginnen andererseits erforscht, schreibt zur Ubiquität und Unumgänglichkeit dieser Begriffe: »Für ForscherInnen wie AktivistInnen, die sich mit den Ländern der ›alten‹ EU und den so genannten ›Erweiterungsländern‹ oder auch den USA, Kanada, Australien im Vergleich zu post-sozialistischen Ländern Europas beschäftigen, scheint kein Weg an den Begriffen ›Ost‹ und ›West‹ vorbeizuführen.«145 Sie lässt die Begriffe ganz beiseite, weil sie ihr zu unklar und zu wenig analytisch sind und zieht es vor, von »postsozialistischen« und »kapitalistischen« Kontexten zu sprechen. Damit kommt sie aber nicht von der ursprünglichen dichotomischen Struktur los: »Ich stehe mit dieser Vorgangsweise dennoch vor einem alten Problem: Wie benenne ich die Unterschiede, ohne deren Konstruktion permanent mitzutragen?«146 Veronika Wöhrer weist darauf hin, dass diese Verbindung zwischen deskriptiven und präskriptiven Praktiken nicht nur ›Ost‹-›West‹-Verhältnisse betrifft, sondern sämtliche Kontexte, in denen es um Identitätspolitik geht. Mit Gayatri Chakravorty Spivak plädiert sie für einen dekonstruktivistischen Umgang mit Identitäten, die nützlich sein können, von denen man aber nicht zu ernsthaft glauben sollte, sie entsprächen der Wirklichkeit.147 Ich stimme mit Veronika Wöhrer darin überein, dass ›Ost‹ und ›West‹ als analytische Kategorien wenig taugen und verwende wie sie die Begriffe in distanzierenden einfachen Anführungszeichen insofern, als dass ich sie nicht als meine eigene Begrifflichkeit verstehe. Ansonsten versuche ich eher, die jeweiligen nationalen Kontexte anzugeben (»britische und amerikanische Forscher_innen« anstelle von »westlichen«), sofern das möglich und sinnvoll ist. Das entspricht nicht den Bestrebungen einer Forschung, die Nationalgeschichte transzendieren will.148 Aus den
144 Robert Kulpa, Joanna Mizielin´ska u. Agata Stasinska, ›(Un)translatable Queer? Or What is Lost and Can be Found in Translation‹, in: Sushila Mesquita, Maria Katharina Wiedlack u. Katrin Lasthofer (Hg.), Import–Export–Transport: Queer Theory, Queer Critique and Activism in Motion, Wien 2012, 115–146, 137f. 145 Veronika Wöhrer, GrenzgängerInnen. Genderforschung zwischen Kapitalismus und (Post-)Sozialismus, Dissertation, Wien 2006, 15. 146 Wöhrer, GrenzgängerInnen, 15. 147 Gayatri Chakravorty Spivak, Reflections on Cultural Studies in the Postcolonial Conjuncture, in: Critical Studies. A Journal of Critical Theory, Literature & Culture, 3, 1 (1991), 63– 78. 148 Michael Werner u. B8n8dicte Zimmermann, Beyond Comparison: Histoire Crois8e and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory, 45, 1 (2006), 30–50; siehe auch Kapitel 3.4.3.
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von mir geführten Interviews wie auch der einschlägigen Literatur149 entnehme ich aber, dass der jeweilige nationale Kontext für die Möglichkeiten von Forschung, Publikationen, Lehre, Reisen und Kooperationen so wichtig ist, dass er wohl bis auf weiteres in Betracht gezogen werden muss.150 Es geht mir nicht darum, festzustellen, was eigentlich dahinter steckt, was und wie ›Ost‹ und ›West‹ wirklich seien. Vielmehr möchte ich einerseits genau hinsehen, wo, wie und wann die Begriffe verwendet werden: ist die Rede von geographischen Gegenden oder Richtungen, ist die Rede von Denksystemen, von wirtschaftlichen Verhältnissen oder von Personen (z. B. ›Ossies‹, ›Westler‹)? Andererseits sollen diese Verwendungen zueinander und zu anderen Aspekten in Relation gesetzt werden. Denn wenn ›Ost‹ und ›West‹ auch wichtig und verbreitet zu sein scheinen, werden die Begriffe nicht von allen und nicht in der gleichen Weise verwendet.151 Es gilt, was Edward Said über ›Orient‹ und ›Okzident‹, die ja teilweise synonym mit ›Ost‹ und ›West‹ verwendet werden, festgestellt hat: »I say that words such as ›Orient‹ and ›Occident‹ correspond to no stable reality that exists as a natural fact. Moreover, all such geographical designations are an odd combination of the empirical and imaginative.«152 Forscher_innen wie Madina Tlostanova haben am eigenen Leib multiple Andersheit im postsozialistischen Kontext erlebt, wie dieses ausführliche Zitat zeigen soll, in dem die Komplexität dessen, was oft unter ›Ost‹-›West‹-Relationen subsumiert wird, deutlich wird: »In Madina’s experience as a postcolonial post-Soviet feminist other, the situatedness of epistemic coloniality is multiple and non-homogenous. Its overlapping configuration includes Western/Northern academia which usually refuses to see her colonial difference from Russia, or her shifting and unstable ethnic-national belonging. Paradoxically, this optic also sees Madina as problematically European, while in Russia she is always automatically racialised as Asiatic and/or Black and therefore subhuman. 149 Vgl. dazu das Kapitel 3.5 zu den Sozialwissenschaften in Russland. 150 Hier befinde ich mich in Übereinstimmung mit Hans-Ulrich Wehler, der meint: »Auch wenn die Vorzüge der Globalgeschichte betont werden, ändert das vorerst einmal nichts daran, dass die Nationalstaaten und Nationalgesellschaften dort, wo sie sich mit ihren Organisationsprinzipien durchgesetzt und behauptet haben, auf absehbare Zeit ›den umfassendsten Bezugsrahmen‹ der in ihnen lebenden Menschen darstellen.« Hans-Ulrich Wehler, Transnationale Geschichte – der neue Königsweg historischer Forschung?, in: Gunilla Budde, Sebastian Conrad u. Oliver Janz (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, 161–174, 172. In diese Richtung argumentiert auch Margrit Pernau: »[…] important though entanglements may be, it cannot – and in fact should not – be ignored that nations have been an important category since the eighteenth century«, Margrit Pernau, Wither Conceptual History? From National to Entangled Histories, in: Contributions to the History of Concepts, 7 (2012), 1–11, 5. 151 Siehe dazu vor allem Kapitel 5.1.2, das die in den Interviews angesprochenen Inhalte präsentiert. 152 Said, Orientalism, 331.
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Another level of epistemic coloniality in Madina’s experience then comes from the Russian caricature of Western coloniality. […] Several times when Madina has introduced her own terms into the Russian academic context her colleagues have asked her which Western theorist produced these terms. In their view, her role was merely to apply someone else’s ideas to the analysis of the post-Soviet reality. Finally, Madina has experienced epistemic coloniality through a harsh rejection of her work by certain local ethnic-national postcolonial elites and academic circles in the Caucasus and Central Asia including those of local gender studies. […] In the latter case again (as in the Soviet colonial times) one can be pardoned from this prescribed academic identity only if she is able to secure a stable place in Russian academia and/or media.«153
Sie und ihre Mitautor_innen schlagen neue Strategien vor, produktiv und konterhegemonial mit Unterschieden und Hierarchien umzugehen. Einerseits sprechen sie von »border thinking«, das auf dekoloniale Theorien Bezug nimmt und empfiehlt, eine Perspektive von außerhalb der hegemonialen Positionen einzunehmen, alternatives (nicht-westliches) Wissen und alternative Ausdrucksformen zu nutzen.154 In Tlostanovas Fall impliziert das auch eine »Trickster«-Identität, die sich nicht nur über sprachliche, ethnische und nationale Grenzen hinwegsetzt, sondern auch abwechselnd oder gleichzeitig die Register von Wissenschaft, Kunst und politischer Aktivität bedient.155 Andererseits kommt der (auf Jos8 Esteban Munoz zurückgehende) Begriff der feministischen »disidentification« ins Spiel, die es ermöglichen soll, in dominanten Ideologien weder aufzugehen noch sich dagegen zu stellen. Vielmehr soll mittels eines dritten Weges an der und gegen die Ideologie gearbeitet werden. »Disidentification is a performative mode of tactical recognition that various minoritarian subjects employ in an effort to resist the oppressive and normalizing discourse of dominant ideology. Disidentification resists the interpellating call of ideology that fixes a subject within the state power apparatus. It is a reformatting of self within the social, a third term that resists the binary of identification and counteridentification.«156
In einer Diskussion über die Thesen von Tlostanova und ihren Koautor_innen unter postsowjetischen Gender-Forscher_innen zeigt sich, dass diese Thesen als mutig und provokant wahrgenommen werden und dass die Idee von Russland/ der Sowjetunion als koloniale Macht interessant gefunden wird. Allerdings wird 153 Madina Tlostanova, Suruchi Thapar-Björkert u. Redi Koobak, Border Thinking and Disidentification: Postcolonial and Postsocialist Feminist Dialogues, in: Feminist Theory, 17, 2 (2016), 211–228, 215. 154 Walter Mignolo u. Madina Tlostanova, Theorizing from the Borders: Shifting to Geo- and Body-Politics of Knowledge, in: European Journal of Social Theory, 9, 2 (2006), 205–221. 155 Tlostanova/Thapar-Björkert/Koobak, Border Thinking, 217. 156 Jos8 Esteban Munoz, »The White to Be Angry«: Vaginal Davis’s Terrorist Drag, in: Social Text, 52/53 (1997), 80–103, 83.
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der Autorin auch Oberflächlichkeit in ihren Analysen und zu wenig konkrete Auseinandersetzung mit der postsowjetischen Geschlechterforschung vorgeworfen wird.157 Ob »border thinking« und »disidentification« also gangbare Wege zur Überwindung der hierarchischen ›Ost‹-›West‹-Verhältnisse aufzeigen, bleibt fraglich. An den Beispielen, die dazu gebracht werden, fällt auf, dass hier oft die Grenzen der akademischen Wissenschaft überschritten werden, und Kunst und Aktivismus mehr Möglichkeiten bieten, dem wirkmächtigen Schema von tonangebendem ›Westen‹ und rückständigem ›Osten‹ zu entkommen.158 Die Sozialwissenschaften sind in dieser Hinsicht, wie das folgende Unterkapitel darlegt, ein sehr hartnäckiger Fall.
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3.4.1 Sozialwissenschaften Die globale Wissenschaftslandschaft ist von großen Ungleichheiten und Hierarchien geprägt. Auch die in den letzten Jahrzehnten aufgekommene Begeisterung über die Globalisierung, die eine »verstärkte[n], gleichberechtigte[n] und grenzenlose[n] Kommunikation und Information« sowie »die zunehmende Internationalisierung der Soziologie«159 mit sich bringt, ändert daran wenig. Das in Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie entworfene Verhältnis zwischen ökonomischen Zentren, Semi-Peripherien und Peripherien hat Syed Farid Alatas auf die Sozialwissenschaften angewendet. Er bezieht sich in seinen Arbeiten nicht auf Osteuropa, dennoch lassen sich seine Kriterien der Arbeitsteilung auch auf die Situation des postsowjetischen Russlands anwenden.160 Fol-
157 Vgl. Sergeij Abasˇin u. Svetlana Sˇakirova, Dekolonial’nye gendernye e˙pistemologii Madiny Tlostanovoj: novye akademicˇeskie vyzovy gendernym issledovanijam v Rossii? Obsuzˇdenie knigi M. V. Tlostonovoj Dekolonial’nye gendernye e˙pistemologii (M. 2009) [Die dekolonialen Gender-Epistemologien Madina Tlostanovas: eine neue Herausforderung für Gender Studies in Russland? Diskussion des Buches von M. V. Tlostanova Dekoloniale GenderEpistemologien (Moskau 2009), in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 19 (2009), 267–279. 158 Diesen Eindruck hatte ich auch bei der Lektüre eines kritischen Artikels über Solidarität seitens ›westlicher‹ Künstlerinnen wie Madonna oder Sting. Vgl. Katharina Wiedlack u. Masha Neufeld, Lost in Translation? Pussy Riot Solidarity Activism and the Danger of Perpetuating North/Western Hegemonies, in: Religion & Gender, 4, 2 (2014), 145–165, 147. 159 Wiebke Keim, Vermessene Disziplin. Zum konterhegemonialen Potential afrikanischer und lateinamerikanischer Soziologien, Bielefeld 2008, 29. 160 Vgl. Alatas, Dependency. Es versteht sich, dass die postsowjetischen Sozialwissenschaften eine andere Vorgeschichte haben als jene in den (südostasiatischen und anderen) Ländern, von denen Alatas spricht. Durch die weitgehende Isolation der sowjetischen Sozialwis-
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gende Charakteristika zeichnen die »Social Science Powers« des Zentrums aus, gemeint sind in erster Linie die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich: »[…] countries which (1) generate large outputs of social science research in the form of scientific papers in peer-reviewed journals, books, and working and research papers; (2) have a global reach of the ideas and information contained in these works; (3) have the ability to influence the social sciences of countries due to the consumption of the works originating in the powers; and (4) command a great deal of recognition, respect and prestige both at home and abroad.«161
Es ergibt sich daraus eine entsprechende Arbeitsteilung nach Theorie und Empirie: »There is hardly any original metatheoretical or theoretical analysis emerging from the Third World. While there is a significant amount of empirical work generated in the Third World much of this takes its cues from research in the West in terms of research agenda, theoretical perspectives and methods.«162
Dieses Verhältnis beruht nicht auf Gegenseitigkeit, wie sich auch analog für die Geschichtswissenschaft beobachten lässt: »Historiker aus der Dritten Welt fühlen sich verpflichtet, die europäische Geschichtsschreibung zu berücksichtigen; wogegen Historiker aus Europa ihrerseits keine Notwendigkeit erkennen, dieses Interesse zu erwidern.«163 Forscher_innen in der Peripherie müssen also Theorien und Methoden der social science powers rezipieren und anwenden oder sind im äußersten Fall nur Lieferant_innen von empirischem Anschauungsmaterial, das anderswo analysiert wird.164 Hinsichtlich der europäischen Geschichte und Geschichtswissenschaft bemerkt Dipesh Chakrabarty : »[…] alle anderen Geschichten sind Gegenstand der empirischen Forschung, die einem theoretischen Skelett, welches substanziell ›Europa‹ ist, Fleisch und Blut verleiht.«165 Syed Farid Alatas nennt sechs Dimensionen der Abhängigkeit der akademischen Peripherie vom Zentrum: »Dependence on ideas, […] the media of ideas, […] the technology of edu-
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senschaften von theoretischen und methodischen Diskussionen in nichtsozialistischen Ländern ergibt sich aber ein ähnlicher Effekt. Alatas, Dependency, 602. Alatas, Dependency, 604. Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren: Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria u. Regina Römhild (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M./New York 2013, 134–161, 134. Für die Arbeitsteilung zwischen osteuropäischen und ›westlichen‹ Sozialwissenschafter_innen wurde in den 1990er Jahren ganz Ähnliches konstatiert. Vgl. György Csepeli, Ant#l Örkeny u. Kim Lane Scheppele, Acquired Immune Deficiency Syndrome in Social Science in Eastern Europe, in: Social Research, 63, 2 (1996), 489–509, 491f. Chakrabarty, Europa, 135.
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cation, […] aid for research as well as teaching, […] investment in education, […] demand in the West for their skills.«166 Diese Auflistung zeigt, dass die Abhängigkeit epistemologische, methodische und ebenso materielle Aspekte aufweist. Ein weiteres Charakteristikum der Arbeitsteilung betrifft das Objekt der Forschung: Während »Social Science Powers« über den eigenen nationalen Kontext wie auch über andere Länder forschen, sind Sozialwissenschaften in abhängigen Ländern auf Forschungen über das eigene Land beschränkt. Meine Recherchen in deutsch-, englisch- und französischsprachigen Fachzeitschriften für Geschlechterforschung haben ergeben, dass russische Autor_innen sich darin ausnahmslos zu russlandbezogenen Themen äußern.167 Russische Geschlechterforscher_innen beschäftigen sich meines Wissens deutlich überwiegend mit Geschlechterverhältnissen in Russland. Eine der wenigen Ausnahmen stellen die Arbeiten von Ol’ga Sˇnyrova und Igor’ Sˇkol’nikov zur britischen Frauenbewegung dar.168 Dabei gilt: »the centre of gravity for acquisition of knowledge about a people is located elsewhere«.169 Mit anderen Worten: in Russland entstandene und auf Russisch publizierte Forschung mag interessant sein, die größere internationale Verbreitung und internationale Relevanz haben dennoch Forschungen im Rahmen von im ›Westen‹ verorteten Russian Studies die in entsprechenden angloamerikanischen Journals veröffentlicht werden. Als drittes gibt Alatas an, dass vergleichende Studien eher das Prärogativ des Zentrums sind und die Peripherie in der Regel Studien über nur einen nationalen Kontext produziert – in der Regel den eigenen.170 166 Alatas, Dependency, 604. 167 Siehe die Auflistung in Kapitel 4.4. 168 Vgl. Ol’ga Sˇnyrova u. Igor’ Sˇkol’nikov, Suffrazˇism kak fenomen Britanskoj istorii: osnovnye problemy i podchody [Die Frauenwahlrechtsbewegung als Phänomen der britischen Geschichte: Grundlegende Probleme und Zugänge], in: Natal’ja Pusˇkareva (Hg.), Social’naja istoija [Sozialgeschichte], Moskva 2003, 173–194; Weitere Beispiele finden sich in Lorina Repina, Gender Studies in Russian Historiography in the Nineteen-Nineties and Early Twenty-First Century, in: Historical Research, 79, 204 (2006). Es fällt allerdings auf, dass Sˇnyrovas neuere Publikationen in englischer Sprache wiederum die russische Frauenbewegung zum Thema haben, was darauf hindeutet, dass eine russische Historikerin im internationalen Kontext ausschließlich mit Forschung zu ihrem nationalen Kontext gefragt ist. Vgl. etwa Olga Shnyrova, The Woman Question and the National Question in the Russian Empire: Interconnections between Central and Borderland Women’s Suffrage Organizations during the First Russian Revolution 1905–1907, in: Clare Midgley, Alison Twells u. Julie Carlier (Hg.), Women in Transnational History. Connecting the Local and the Global, London/New York 2016, 98–116. 169 Takami Kuwayama, Native Anthropologists: With Special Reference to Japanese Studies Inside and Outside Japan, in: Japan Anthropology Workshop Newsletter, 26, 7 (1997), 52– 56, 54. 170 Eine interessante Abweichung von dieser Regel findet man bei Maria Do Mar Pereira, die in ihrer Ethnografie über Feministische Forschung und Gender Studies in Portugal die spe-
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Abgesehen von »Social Science Powers« und akademischer Peripherie gibt es in Alatas’ Modell noch die sozialwissenschaftliche Semiperipherie. Das bezieht sich auf akademische Communities, die auch von den Ideen und Theorien des Zentrums abhängig sind, dabei aber selbst Einfluss auf die Sozialwissenschaften der Peripherie ausüben können, etwa durch Forschungsgelder, Stipendien für postgraduierte Studierende, Finanzierung internationaler Konferenzen und ähnliches. Als Beispiele werden Australien, Japan, die Niederlande und Deutschland genannt.171 Die serbische Soziologin Marina Blagojevic´ schreibt über Sozialwissenschaften in Ost-, Mittel- und Südosteuropa und lokalisiert sie in einer »semi-periphery of Europe«, der sie einen hybriden, instabilen Status zuschreibt: »The prevailing condition of the semiperiphery is not a set of stable characteristics, more, it is unstable condition, conditional reality, a mixture of simulacrum and authenticity, part of the continuum between the core and the periphery […]«.172 Dabei bezieht sie sich allerdings eher auf das Modell von Wallerstein als auf sozialwissenschaftliche Semiperipherien. Die russischen Sozialwissenschaften sind in Alatas’ Modell am ehesten der Peripherie zuzurechnen. Hinter dieser Arbeitsteilung steht ein »vermessener Universalitätsanspruch«,173 der besagt, dass Forschungen, die ihren Ursprung in den »Social Science Powers« haben, quasi von ihrem Kontext losgelöst sind und allgemeine Gültigkeit für die Sozialwissenschaft haben sollen. Die feministische Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway, die den Begriff des situierten Wissens entwickelt hat, kritisiert einen solchen Anspruch als »god trick of seeing everything from nowhere«174, vollzogen durch »a leap out of the marked body and into a conquering gaze from nowhere«.175 Dieser Anspruch ist historisch gewachsen. Raewyn Connell kritisiert in »Southern Theory« die herkömmlichen
171
172 173 174 175
zifischen Probleme kleiner (semi-)peripherer Länder aufzeigt: Hier muss man mitunter eine vergleichende Studie unternehmen, um außerhalb des eigenen Landes auf Interesse zu stoßen: »I wanted to have more international publications and sent book proposals to loads of international publishers. One of the reviewers wrote, ›it’s a pity it’s about Portugal, because it’s such an interesting theme and it’d be perfect if it were about another context, but about Portugal, blergh.‹ … I can only get my work published abroad if I make comparative analyses between Portugal and more well-known countries; otherwise they’re not interested. (Junior WGFS [Women’s, Gender, and Feminist Studies, TG] researcher in the social sciences)« Do Mar Pereira, Feminist Scholarship, 644. Alatas, Dependency, 606. Österreich kann ebenfalls den semiperipheren »social science powers« zugerechnet werden, wie das etwa Veronika Wöhrer macht, die in ihrer Studie zu Zentren und Peripherien in den globalen Gender Studies die deutschsprachigen Regionen zu einer Kategorie zusammenfasst, vgl. Wöhrer, Multi-centred Field, 324f. Blagojevic´, Non-Whites, 49. Keim, Disziplin, 503. Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, 14, 3 (1988), 575–599, 581. Haraway, Knowledges, 581.
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Narrative über die Entstehungsgeschichte der Sozialwissenschaften, die im 19. Jahrhundert als Reaktion auf Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse und in Auseinandersetzung mit diesen in Europa entstanden seien. Ein genauerer Blick auf die Schriften der ›Gründerväter‹ (z. B. Durkheim, Spencer, Comte) zeigt, dass ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Forschungen koloniale Kontexte betraf. »By the time sociology was institutionalised in the final decade of the [19th, TG] century, the central proof of progress – and therefore the main intellectual ground on which the new science rested – was the contrast of metropolitan and colonised societies.«176 Somit ist in dieser Geschichte der hierarchisierende koloniale Blick ein fixer Bestandteil. Die Entstehung scheinbar ortloser, allgemein gültiger »grand theories«177 ist jüngeren Datums. Sie wird zumeist in den USA verortet und mit der Person und dem Werk Talcott Parsons’ in Verbindung gebracht. Dieser hat mit seiner »Structure of Social Action«178 den Versuch gemacht, eben eine solche allgemeine Theorie gesellschaftlicher Vorgänge zu schreiben womit er außerdem eine Kanonisierung der Soziologie179 vorantrieb. Max Weber, Pmile Durkheim und Karl Marx wurden so zur »Dreifaltigkeit«180 der soziologischen Theorie, die in keinem einführenden Lehrbuch fehlen durften. Allzu abgehobene und abstrakte Theorien wurden innerhalb des Fachs kritisiert,181 nichtsdestotrotz bleibt der Stellenwert von theoretischen Modellen in der Soziologie und anderen Sozialwissenschaften hoch. Theorien von weltweiter Bekanntheit und Bedeutung werden in erster Linie im Zentrum beziehungsweise der Metropole geschaffen.182 Ein solcher Standpunkt hat Effekte, wie Connell in seiner Kritik an Modellen von Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und James Coleman zeigt. Diese Modelle beanspruchen Universalität, obwohl sie Ideen von außerhalb des Zentrums ausblenden und manche historischen Aspekte nicht berücksichtigen.183 176 Connell, Theory, 10. 177 Der Ausdruck stammt von Charles Wright Mills, der dazu ironisch bemerkt: »The basic cause of grand theory is the initial choice of a level of thinking so general that its practitioners cannot logically get down to observation. They never, as grand theorists, get down from the higher generalities to problems in their historical and structural contexts.« Charles Wright Mills, The Sociological Imagination, Oxford 1959, 33. 178 Talcott Parsons, The Structure of Social Action, New York 1937. 179 Matthias Junge u. Ditmar Brock, Einleitung, in: dies. u. a. (Hg.), Soziologische Paradigmen nach Talcott Parsons: Eine Einführung, Wiesbaden 2009, 11–16, 11. 180 Connell, Theory, 24. 181 Vgl. Mills, Imagination; Robert K. Merton hat den Begriff der »middle range theories« geprägt, und propagiert, dass Theorien näher an der Empirie entwickelt werden sollen, vgl. Robert K. Merton, On Sociological Theories of the Middle Range, in: ders., Social Theory and Social Structure, New York 1949, 39–53. 182 Connell, Theory, 28. 183 Im Falle von Bourdieus »Theorie der Praxis«, die anhand der Kultur kabylischer Bauern entworfen wurde, kritisiert Connell, dass Bourdieu Autoren wie Frantz Fannon ignoriert,
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Wie könnte eine alternative »pluralistische Universalität«184 zustande kommen – denn das Projekt einer Sozialwissenschaft im globalen Maßstab soll nicht aufgegeben werden? Raewyn Connell schlägt im abschließenden Kapitel von »Southern Theory« einige Punkte vor, die auch in meiner Studie eine zentrale Rolle spielen. Zunächst ist es wichtig, die Unterschiede und Hierarchien zwischen Zentren und Peripherien zu erkennen und zu benennen.185 Weiters sind die materiellen und institutionellen Bedingungen in Betracht zu ziehen, unter denen in unterschiedlichen Kontexten Wissenschaft betrieben, Wissen produziert und zirkuliert wird.186 Ein anderer wichtiger Aspekt ist, die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Formen von Wissen zu berücksichtigen. Das bedeutet einerseits, nicht-›westliches‹, nichtkanonisiertes sozialwissenschaftliches Wissen zu berücksichtigen,187 andererseits auch über die akademischen Grenzen hinauszublicken.188 Schließlich erinnert sie daran, dass Wissen über das Soziale als Wissenschaft funktionieren soll, die grundsätzlich korrigierbar ist und in der die Frage nach Wahrhaftigkeit gestellt wird: »Without that core of concern for truthfulness, the claim that our discourse is social science, and so entitled to a certain attention and respect, is hollow. Therefore the incompleteness of knowledge in, and problematic truthfulness of, metropolitan theory – given its hegemonic position – represents a structural difficulty in world social science.«189
3.4.2 Gender Studies Geschlechterforschung und darunter insbesondere Feministische Forschung190 hat eine jahrzehntelange Tradition der Kritik seitens women of color an falschen Universalismen, die von weißen heterosexuellen Mittelschichtfrauen propagiert
184 185 186 187 188 189 190
vgl. Connell, Theory, 43. Bourdieu analysiere wohl kabylische Verwandtschaftsverhältnisse, klammere dabei aber die historische Erfahrung eines Kolonialkriegs völlig aus, vgl. ebd., 46. Trotz dieser berechtigten Kritik müssen die von Bourdieu entwickelten Forschungswerkzeuge – die auch in meiner Studie ausgiebig zum Einsatz kommen – m. E. nicht in Bausch und Bogen verworfen werden. Keim, Disziplin, 509. Connell, Theory, 212f. Connell, Theory, 217f. So wie das Syed Farid Alatas vorschlägt, der auf Gelehrte der islamischen Welt Bezug nimmt. Vgl. Syed Farid Alatas, Applying Ibn Khaldun: The Recovery of a Lost Tradition in Sociology, New York 2014. Connell, Theory, 220f. Connell, Theory, 227. Mir ist bewusst, dass Feministische Forschung nicht gleichbedeutend mit Frauen- und Geschlechterforschung ist, es gibt aber sehr viele Überschneidungen.
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Denkwerkzeuge: Theoretische und konzeptuelle Überlegungen
werden.191 Diese Forschung wird zwar teilweise als konterhegemonial und multizentrisch beschrieben,192 entkommt aber letztlich auch nicht den herrschenden Spielregeln: »Gender analysis does not escape the North-Atlantic hegemony, of course. I would like a dollar for every Australian text I have read that is framed by Judith Butler’s deconstructionist feminism; the world’s leading contemporary gender theory comes from California with an intellectual background in Paris.«193
Auch Veronika Wöhrer, die Connells These zum konterhegemonialen Potenzial der Gender Studies empirisch überprüft hat, kommt zu einem ernüchternden Fazit: »[T]here are different standpoints within international gender studies debates which are heard and acknowledged, […] there is a certain plurality in these debates. Nevertheless, given the unequal distribution of resources, opportunities and options to be heard and referred to, I doubt that we have achieved multi-centrality. It is mainly theories and critique based and acknowledged in the USA that then travel to Germany, Slovakia or India via readers, textbooks and journals. Scholars from the majority world are published and acknowledged mainly when they have migrated to the academic centre, but not when they stay in their countries of origin.«194
Bei Chandra Talpade Mohanty findet man eine Diagnose des Umgangs feministischer Forschung mit Aspekten des Globalen, speziell aus der Perspektive US-amerikanischer Forschung. Was sie über die Positionierung nicht-›westlicher‹ Kontexte in Curricula von Women’s Studies und Feminist Studies schreibt, lässt sich meines Erachtens auch auf transnationale Forschungspraxis übertragen. Die erste von drei Varianten ist das Modell »Feminist-as-Tourist«, das sie mit »add women as global victims or powerful women and stir«195 umreißt. Das heißt, Curricula, die durchgehend von europäisch-amerikanischen Narrativen geprägt sind, werden um einzelne Module ergänzt, die dann einzelne besonders 191 Darauf hat etwa Veronika Wöhrer hingewiesen, vgl. Wöhrer, Multi-centred field, 324. Zu den bekanntesten kritischen Schriften zählen bell hooks, Ain’t I a Woman? Black Women and Feminism, Boston 1981; Cherr&e Moraga u. Gloria Anzaldffla (Hg.), This Bridge Called My Back. Writings by Radical Women of Colour, Watertown, MA 1981; Mohanty, Western Eyes. Kritik an multiplen, sich überschneidenden und zusammenwirkenden Diskriminierungsformen (etwa auf Basis von Geschlecht und Rasse) formulierte Kimberl8 Crenshaw unter dem Begriff der Intersektionalität, vgl. Kimberl8 Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum, 1/8 (1989), 139–167. 192 Raewyn Connell, Sociology for the Whole World, in: International Sociology 26, 3 (2011), 288–291, 289. 193 Connell, Sociology, 289. 194 Wöhrer, Multi-centred Field, 338. 195 Mohanty, Revisited, 518.
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krasse Beispiele aus nicht-›westlichen‹ Kontexten behandeln wie etwa Mitgiftmorde in Indien. Diese stereotypen Beispiele repräsentieren das ›Andere‹, während europäische US-amerikanische Frauen differenzierter – »vital, changing, complex, and central subjects within such a curricular perspective«196 dargestellt werden. Etwas genauer sieht das zweite Modell, »Feminist-as-Explorer«, hin: Hier ist die Beschäftigung mit nicht-›westlichen‹ Kontexten nicht bloß Ergänzung, sondern der Fokus liegt ganz darauf. Dennoch entkommt auch dieser Zugang nicht dem Kulturrelativismus. »The local and the global are here collapsed into the international that by definition excludes the United States. If the dominant discourse is the discourse of cultural relativism, questions of power, agency, justice, and common criteria for critique and evaluation are silenced.«197 Das Problem liegt vor allem darin, dass der eigene, vertraute und die fremden Kontexte als diskret, voneinander abgeschieden konzipiert werden. Die vielfachen Verbindungen und Abhängigkeiten werden dabei übersehen und der eigene Kontext bleibt unhinterfragt. Als zu präferierende Alternative präsentiert Chandra Talpade Mohanty das Modell der »feminist solidarity or comparative feminist studies«. In diesem Rahmen wird nach Gemeinsamem, Unterschiedlichem und Vergleichbarem gesucht. »[…] within this model one would not teach a U. S. women of color course with additions on Third World/South or white women, but a comparative course that shows the interconnectedness of the histories, experiences, and struggles of U. S. women of color, white women, and women from the Third World/South.«198
Dabei wird besonderes Augenmerk auf Machtverhältnisse in den globalen Verbindungen gerichtet. Ausgangspunkt ist nicht die Region, sondern Problemstellungen und wie sie lokal und global zum Tragen kommen. Wiewohl Mohanty sich mit ihren Modellen auf Curricula in der universitären Lehre bezieht haben diese Zugänge durchaus etwas mit der Praxis und den (Un-)Möglichkeiten von Kontakten und Kooperationen in der russlandbezogenen Gender-Forschung zu tun. Eine »add-Russian-women-and-stir«-Perspektive würde einer solchen entsprechen, die primär Missstände aufgreift (wie etwa die Herabsetzung des Strafmaßes für häusliche Gewalt 2017 oder die Verurteilung der Pussy-Riot-Mitglieder). Die kulturrelativistische Haltung des »Feminist-as-Explorer« ist am weitesten verbreitet. Das hat gewiss damit zu tun, dass ausländische Forscher_innen, die sich mit Geschlechterverhältnissen in Russland beschäftigen, in der Regel in erster Linie Russlandexpert_innen und in zweiter Linie Geschlechterforscher_innen sind. Am schwierigsten und wohl auch am seltensten zu finden ist die Perspektive des Vergleichs und der Soli196 Mohanty, Revisited, 519. 197 Mohanty, Revisited, 520. 198 Mohanty, Revisited, 521f.
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darität, zumal russlandbezogene Geschlechterforschung nach wie vor ganz stark der Logik der Area Studies verhaftet ist: Russland wird eher als Spezialfall behandelt denn als Vergleichsobjekt. In meiner Studie versuche ich durch die Einnahme einer transnationalen Perspektive Vergleich und Solidarität nach Möglichkeit in die Praxis umzusetzen. Das folgende Kapitel greift die (auch von Mohanty aufgeworfene) Frage nach globalen Vernetzungen, der Zirkulation von Ideen und wie in der Forschung damit umgegangen wird, auf.
3.4.3 Transfer, Verflechtung, Zirkulation Meine Studie kann in den Kontext von Forschungsansätzen gestellt werden, die nationalgeschichtliche Einschränkungen zu überwinden suchen, weil mein Forschungsfokus zwar primär auf Russland liegt, dabei aber die internationalen Verbindungen russischer Geschlechterforschung und deren Protagonist_innen mit dem relevanten Rest der Welt untersucht werden. Anstelle der Konzentration auf eine Nation werden Vergleiche angestellt, werden Transfers von Theorien, Ideen und Gegenständen erforscht und wird nach Verflechtungen oder Überkreuzungen von Geschichten gefragt. Eine beinahe schon klassisch zu nennende Sichtweise stammt von Edward Said, der über Theorien auf Reisen schreibt: »Like people and schools of criticism, ideas and theories travel – from person to person, from situation to situation, from one period to another.«199 Es gibt also bestimmte intellektuelle Objekte, und die bewegen sich zwischen Personen, Orten und Zeiten. Metaphorisch wird das Reisen von Theorien dem von Menschen gleichgesetzt. Dabei beschreibt Said vier Stufen dieses Reisens: »First, there is a point of origin, or what seems like one, one set of initial circumstances in which the idea came to birth or entered discourse. Second, there is a distance transversed, a passage through the pressure of various contexts as the idea moves from an earlier point to another time and place where it will come into a new prominence. Third, there is a set of conditions – call them conditions of acceptance or, as an inevitable part of acceptance, resistances – which then confronts the transplanted theory or idea, making possible its introduction or toleration, however alien it might appear to be. Fourth, the now fully (or partly) accommodated (or incorporated) idea is to some extent transformed by its new uses, its new position in a new time and place.«200
Die verwendeten Metaphern (Reisen, Transplantation) machen die Darstellung intuitiv erfassbar, können aber auch unerwünschte Effekte haben. Ich denke 199 Edward W. Said, Travelling Theory, in: ders., The World, the Text, and the Critic, Cambridge, MA 1983, 226–247, 226. 200 Said, Theory, 226f.
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nicht, dass Theorien wie Menschen reisen – auch wenn das Reisen oder NichtReisen (Können) von Personen den Transfer oder Nicht-Transfer von Theorien bedingen kann. Zu einfach und mechanistisch beziehungsweise organizistisch sind diese Vorstellungen, und zudem behaftet mit den Problemen einer jeglichen Transfergeschichte, die Michael Werner und B8n8dicte Zimmermann wie folgt skizzieren: 1. Der Bezugsrahmen, das sind jene Kontexte in und zwischen denen der Transfer vorgeht (Ausgangs- und Ankunftspunkt), ist als klar abgegrenzt und stabil vorgestellt. Da Transfergeschichte einen zeitlichen Verlauf impliziert, müssen diese Annahmen in Frage gestellt werden. 2. Die Analysekategorien, also das, was in Bewegung ist, wird als stabil angenommen. Es muss aber in Betracht gezogen werden, dass die Prozesse und Aktivitäten im Zusammenhang des Transfers das Objekt des Transfers selbst verändern.201 3. Mangelnde Selbstreflexivität kann dazu führen, dass die Kontexte, zwischen denen der Transfer stattfindet (meist nationalstaatliche Gebilde), reifiziert werden. So können selbst Studien, die dazu dienen sollten, die Homogenität von Nationalstaaten und die Undurchdringlichkeit von Staatsgrenzen in Frage zu stellen, hinterrücks die nationalstaatlichen Referenzen bestätigen und bekräftigen. 4. Der Transfer wird als einmalig und unidirektional verstanden. Dabei wird übersehen, dass Transfers wiederholt, unterbrochen, etappenweise oder auch in beide Richtungen stattfinden können.202 B8n8dicte Zimmermann und Michael Werner kontrastieren ihr Forschungsprogramm der Histoire Crois8e203 mit anderen Zugängen, die ähnliche Ziele haben, wie etwa Einflussgeschichte, Transfergeschichte, Shared- oder Connected History. Ohne diesen ihre Nützlichkeit absprechen zu wollen, kritisieren Werner und Zimmermann, dass es all diesen Zugängen letzten Endes nicht 201 Das gilt auch für so scheinbar klar abgegrenzte Gegenstände wie konkrete Texte, wie es sich etwa im Kontext von Übersetzungen zeigt. Vgl. dazu Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova, Feministische Übersetzung in Russland. Anmerkungen von Koautoren, in: Elisabeth Cheaur8 u. Carolin Heyder (Hg.), Russische Kultur und Gender Studies, Berlin 2002, 15–34; Tatjana Barchunova, A Library of Our Own? Feminist Translations from English into Russian, in: Marlen Bidwell-Steiner u. Karin S. Wozonig (Hg.), A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies (Gendered Subjects 3), Innsbruck/ Wien/Bozen 2006, 133–147. 202 Werner/Zimmermann, Comparison, 36f. Dieser Artikel nimmt im Übrigen keinen expliziten Bezug auf Edward Saids Überlegungen. 203 Michael Werner u. B8n8dicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire Crois8e und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002), 607–636.
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gelingt, die nationalen Perspektiven zu überwinden. Die Histoire Crois8e zeichnet sich durch vier Aspekte aus: Erstens wird die Verstricktheit der Forschungsobjekte genannt: Es ist unerlässlich, im Auge zu behalten, dass jedes Forschungsobjekt lokale, nationale und transnationale Aspekte hat und daher nicht als isoliert betrachtet beziehungsweise konzipiert werden kann.204 Der zweite Aspekt ist die eigene Logik des Transnationalen: eine »transnationale Erschließung transnationaler Problemfelder« soll so möglich werden.205 Russische Protagonist_innen der Gender Studies haben wiederholt den notwendig transnationalen Charakter von Gender Studies in und über Russland betont.206 Institutionen wie die European University Sankt Petersburg können beispielsweise als transnationale Objekte oder Akteure betrachtet werden: Wiewohl auf russischem Boden funktioniert diese Universität nicht wie eine russische, sondern eher wie eine amerikanische207 und ist aus Mitteln von ausländischen Stiftungen (MacArthur Foundation, Carnegie Corporation, Ford Foundation, Fritz Thyssen Stiftung u. a.) finanziert.208 Als drittes Kriterium nennen Werner und Zimmermann die Verflochtenheit der Perspektiven: Jedes Forschungsobjekt muss als multiperpektivisch, von unterschiedlichen Blickwinkeln aus gesehen, konzipiert werden.209 Dieser Aspekt erscheint mir besonders relevant für mein Forschungsvorhaben. Die Analyse der Interviews zeigt, dass ein wesentliches Differenzierungskriterium in meinem Gegenstand der Unterschied ist, ob man außerhalb Russlands über Russland forscht oder als Russin oder Russe innerhalb Russlands. Zumindest aus der Außenperspektive ist man im zweiten Fall stets Subjekt und Objekt der Forschung in einem. Viertens geht es um Reflexivität und Distanz: Reflexivität verweist hier darauf, dass die Perspektive der Forscherin oder des Forschers auch in Betracht gezogen werden muss. Distanz bezieht sich auf die Einladung, auch Dinge (Gesellschaften, Institutionen …) zu vergleichen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.210 Die Forderung nach Reflexivität ist nicht neu; Reflexivität scheint mir aber ein notwendiges Attribut guter Forschung zu sein. Damit ist nicht gemeint, am Anfang einer Publikation eine Art ›Outing‹ zu vollziehen (»Ich als linksliberale österreichische Feministin aus katholischem, bildungs-/kleinbürgerlichem Haus …«) und dann auf Basis einer traditionellen Vorstellung des Verhältnisses
204 205 206 207 208 209 210
Werner/Zimmermann, Vergleich, 628. Werner/Zimmermann, Vergleich, 633. Vgl. Barchunova, Transnational Project, 102; Temkina/Zdravomyslova, Path, 259. Vgl. Lerner, Students. Siehe dazu Kapitel 4.1.5 und 4.1.6. Werner/Zimmermann, Vergleich, 632. Werner/Zimmermann, Vergleich, 633.
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zwischen Subjekt und Objekt der Forschung weiterzuarbeiten.211 Reflexive Phasen begleiten vielmehr den gesamten Forschungsprozess. Diese prinzipielle Haltung bilde ich in dieser Arbeit ab, indem ich fallweise aus meinem Forschungstagebuch212 zitiere, das Irrwege wie Erkenntnisfortschritte dokumentiert. Weiters kann ich, mitunter selbst in russlandbezogene Geschlechterforschung involviert, mich im Raum des Möglichen, dessen Konstruktion weiter unten ausführlich dargelegt wird, positionieren.213 Meines Erachtens ist das Forschungsprogramm von Werner und Zimmermann einerseits anspruchsvoll, andererseits bleibt es im Hinblick auf konkrete Forschungspraxis vage. Ich sehe es vor allem als Inspiration und Aufforderung, es sich nicht allzu einfach zu machen. Meine Studie präsentiert Vergleiche – etwa zwischen Entwicklungen russlandbezogener Geschlechterforschung in unterschiedlichen Ländern. Es ist von Transfers die Rede, wenn etwa die (ungleichen) Rezeptionsverhältnisse zwischen Russland einerseits und anderen Ländern mit einer längeren Tradition der Geschlechterforschung andererseits aufgegriffen werden. Und es geht um verflochtene, verkreuzte Perspektiven: Die Analyse der Interviews ermöglicht es nämlich, die Sichtweisen auf (Geschlechterforschung in) Russland von außen in Relation zu Beschreibungen russischer Sozialwissenschafter_innen von innen zu setzen. Im Zusammenhang mit der internationalen Produktion sozialwissenschaftlichen Wissens ist in den letzten Jahren das Konzept der Zirkulation von Wissen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Wiebke Keim hat die wichtigsten diesbezüglichen Modelle214 kritisch diskutiert, nicht in der Absicht, zu bewerten oder eines gegen das andere auszuspielen, sondern sie vielmehr als unterschiedliche Perspektiven auf Aspekte der Produktion wissenschaftlichen Wis211 »Es genügt nicht, die ›erlebte Erfahrung‹ des wissenden Subjekts zu explizieren; man muss die sozialen Bedingungen dieser Erfahrungsmöglichkeit und, genauer gesagt, des Aktes der Objektivierung objektivieren.« Pierre Bourdieu, Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Präsentation, Frankfurt a. M. 1993, 365–374, 365. 212 Das Forschungstagebuch ist ein Instrument, das v. a. in der Anthropologie und anderen Disziplinen, die Feldforschung betreiben, propagiert wird. Für mich war es ein begleitendes und organisatorisches Korrektiv, das ich bei Forschungsaufenthalten und in intensiven Konstruktionsphasen nutzte. Es ist für mich ein probates Mittel zur Beantwortung von Fragen wie: Wo stehe ich im Forschungsprozess? Was erforsche ich eigentlich? Wie bin ich so weit gekommen? 213 Zur Erstellung des Samples der in dieser Studie analysierten Texte, das auch ein mit mir geführtes Interview inkludiert, siehe Kapitel 5.1.1. 214 Vgl. etwa George Basalla, The Spread of Western Science: A Three Stage Model Describes the Introduction of Modern Science into any Non-European Nation, in: Science, Technology and Society, 156, 3775 (1967), 611–622; Pierre Bourdieu, Les conditions sociales de la circulation internationale des id8es: Conf8rence prononc8e le 30 Octobre 1989 pour l’inauguration du Frankreichzentrum de l’Universit8 de Fribourg, in: Actes de la recherch8 en sciences sociales, 5, 145 (2002), 3–8; Said, Theory.
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sens zu sehen. Sie hat folgende drei Typen identifiziert: Rezeption, Austausch sowie Aushandlung von Theorie und Praxis.215 Rezeption, die nur in eine Richtung geht, kann über zeitliche, örtliche, disziplinäre, institutionelle und strukturell-hierarchische Grenzen hinweg geschehen. Das rezipierte Wissen kann dann einfach nur zur Kenntnis genommen werden, akzeptiert, modifiziert oder rundweg abgelehnt werden.216 Als Bedingungen dafür, dass Austausch zustande kommt, nennt Keim Mobilität und persönlichen Kontakt zwischen Forscher_innen sowie die sprachliche Verständigung. Personen in akademischen Zwischenpositionen (»interstitial positions«), also jene, die nicht zu den prominenten Vertreter_innen eines Fachs gehören, tauschen sich eher transnational aus.217 Austausch findet im Modus der Kontroverse wie in der KoKonstruktion neuen Wissens statt.218 Der dritte Typus wird als »Negotiation of Theory and Practice«219 bezeichnet und bezieht sich auf die Zirkulation von Wissen zwischen akademischem und nichtakademischem Bereich.220 Dieser Kontext kommt gerade in der feministischen Forschung ins Spiel, die ja oft mit politischem Engagement unterschiedlichster Formen verbunden ist. Auch »Public Sociology«, also Soziologie, die sich engagiert und nicht nur an ein akademisches Publikum gerichtet sein will, ist im Zwischenbereich von Theorie und Praxis verortet.221 Diese Art Soziologie sehen die russischen Forscherinnen Elena Zdravomyslova und Anna Temkina als zukunftsträchtige Strategie für die Geschlechterforschung in Russland.222 Wie Rezeption, Austausch und die Verhandlung zwischen Theorie und Praxis in Russland vor sich gehen, zeigt das folgende Kapitel.
215 Wiebke Keim, Conceptualizing Circulation of Knowledge in the Social Sciences, in: dies. u. a. (Hg.), Global Knowledge Production in the Social Sciences. Made in Circulation, Farnham 2014, 87–113, 90. 216 Keim, Circulation, 98f. 217 So argumentiert Guilhot in einer Studie zu Wissenszirkulation in der International Relations Theory, vgl. Nicolas Guilhot, The International Circulation of International Relations Theory, in: Keim u. a., Knowledge Production, 63–85, 79. Wiebke Keim unterstreicht, dass dies nur für Wissenschafter_innen des Zentrums gilt. Protagonist_innen der Peripherie, die in transnationalen Austausch treten, sind eher aufgrund von Publikationen und/oder institutionellen Positionen prominente Personen, vgl. Keim, Circulation, 102. 218 Keim, Circulation, 103. 219 Keim, Circulation, 104. 220 Vgl. auch Raewyn Connells Vorschläge für eine Überwindung der Hegemonie der »Northern Theory«, Connell, Theory, 220f. 221 Vgl. Michael Burawoy, For Public Sociology, in: American Sociological Review, 70 (2005), 4–28. 222 Temkina/Zdravomyslova, Path, 254. Die zentrale Rolle politischen Engagements über nationale Grenzen hinweg wird in der Analyse der Interviews (insbes. Kapitel 6.2) deutlich.
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Sozialwissenschaften in Russland: »provinzielle« und »einheimische« Wissenschaft
Die Anfänge sozialwissenschaftlicher Forschung in Russland reichen in das 19. Jahrhundert zurück. Die vorrevolutionäre Soziologie, vertreten durch Forscher wie Pitirim Sorokin oder Maksim Kovalevskij kam nach der Oktoberrevolution bald zu einem Ende. Wenngleich einzelne – unter ihnen auch Sorokin – nach ihrer Emigration in den USA Karriere machten223 und gegenwärtig manche russische Soziolog_innen versuchen, Kontinuitäten zu vorrevolutionären Traditionen herzustellen,224 so bedeutete diese Unterbrechung, dass Sozialwissenschaften für einige Jahrzehnte nur in Form von durch die politischen Rahmenbedingungen eingeschränkten theoretischen Überlegungen zu marxistischleninistischen Schriften existieren durften. Sozialwissenschaften im Sinne von (auch) theoretisch fundierter empirischer Forschung entwickelten sich erst wieder nach Stalins Tod.225 Doch diese Neuentwicklung unterlag vielerlei Einschränkungen und blieb international isoliert.226 Rezeption ausländischer Theorien fand höchstens unter dem Deckmantel der sogenannten »Kritik bourgeoiser Theorie« statt, und die Teilnahme an internationalen Konferenzen war nur wenigen Personen möglich, die im Sinne der KPdSU politisch hinreichend vertrauenswürdig sein mussten.227 Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die Sozialwissenschaften zwar ideologisch freier,228 litten aber an chronischer Unterfinanzierung. Verglichen mit dem Sowjetregime war der Staat nun weniger geneigt, Einfluss auf die Inhalte
223 Vgl. Pitirim A. Sorokin, A Long Journey. The Autobiography of Pitirim A. Sorokin, New Haven 1963. 224 Zdravomyslova, Tradition, 144f. 225 Vgl. etwa Dmitry Shalin, The Development of Soviet Sociology 1956–1976, in: Annual Review of Sociology, 4 (1978), 171–191; Gennadij Batygin (Hg.), Rossijskaja sociologija sˇestidesjatych godov v vospominanijach i dokumentach [Die russische Soziologie der Sechzigerjahre in Erinnerungen und Dokumenten], Sankt-Peterburg 1999. 226 Das galt generell für die sowjetischen Geistes- und Sozialwissenschaften, vgl. Irina Sosunova, Larissa Titarenko u. Olga Mamonova, Internationalization of the Social Sciences and Humanities in Russia, in: Michael Kuhn u. Doris Weidemann (Hg.), Internationalization of the Social Sciences. Asia – Latin America – Middle East – Africa – Eurasia, Bielefeld 2010, 285–305, 286. 227 Zu den Möglichkeiten und Grenzen internationalen Austausches vgl. Therese Garstenauer, Die sowjetischen Sozialwissenschaften der 1950er und 60er Jahre und die internationale soziologische community, in: Annemarie Steidl u. a. (Hg.), Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien 2008, 291–321. 228 Damit ist nicht gesagt, dass die postsowjetischen Sozialwissenschaften frei von jeglicher Ideologie arbeiten konnten, vielmehr entstanden neue ideologische Rahmen. Ich danke einer anonymen Gutachterin für den Hinweis darauf.
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geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung zu nehmen.229 Der Soziologe Michail Sokolov hat sein Fach und dessen Protagonist_innen nach 1991 in Sankt Petersburg eingehend wissenschaftssoziologisch untersucht. Er spricht von einer »armen Disziplin« und legt eindrucksvoll dar, wie negativ sich eine mangelhafte materielle Basis auf Forschung und Lehre auswirkt.230 Die Soziolog_innen, die an staatlichen oder privaten Universitäten oder an der Akademie der Wissenschaften arbeiten, sind so beschäftigt damit, ihren Lebensunterhalt durch intensive Lehre oder Zweit- und Drittjobs zu sichern, dass sie kaum dazu kommen, zu forschen und zu publizieren, geschweige denn, die Arbeiten ihrer Fachkolleg_innen wahrzunehmen. Einen Ausweg aus dieser materiellen und ideellen Misere boten die ausländischen Fonds, die ab den frühen 1990er Jahren und bis in die 2000er Jahre den russischen Sozialwissenschaften beträchtliche Mittel zur Verfügung stellten.231 So entstand neben den akademischen Welten der Universitäten und Akademie-Institute auch jene der Fördermittel-Ökonomie (»grantovaja e˙konomika«):232 Eine kleinere Gruppe von Personen, überwiegend in Moskau und Sankt Petersburg verortet, mit den nötigen Kontakten und Sprachkenntnissen, spezialisierten sich auf das Einwerben von Drittmitteln für die Forschung. Damit verbunden war eine Orientierung nicht auf die russische Community (sofern angesichts der Insularisierung überhaupt von einer Community die Rede sein kann), sondern auf ein internationales, ›westliches‹ Publikum.233 Freilich führte erfolgreiches Lukrieren solcher Förderungen nicht unbedingt zu eigenen Publikationen, mit denen man sich profilieren konnte. Sokolov beschreibt die Situation als »Proletarisierung«: Russische Sozialwissenschafter_innen mussten weiterhin danach trachten, irgendwie Geld zu verdienen, dadurch fehlte oft die Zeit für umfassende eigenständige Forschungen.234 Forschungsergebnisse internationaler Projekte wurden oft ausschließlich von deren ausländischen Leiter_innen publiziert: »Man muss noch hinzufügen, dass die Umstände unter denen die Beschäftigung umgesetzt wird, für die russische Seite oft die Möglichkeit einer Publikation praktisch ausschließt, zumal der westliche Partner die Monopolrechte für die Veröffentlichung für sich behält. Gerade diese Praxis hat unter russischen Forschern zu bittersten Bemerkungen über den ›akademischen Kolonialismus‹ geführt.«235
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Wenn, dann mischen sich eher lokale politische Autoritäten ein. Vgl. Kosmarski, Space, 96. Vgl. Sokolov, Sociologija. Vgl. Gapova, Znanie 302f. Sokolov, Sociologija, 43. Vgl. Gapova, Znanie, 305. Sokolov, Sociologija, 46ff. Sokolov, Sociologija, 48, Übersetzung aus dem Russischen TG.
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Viele aktuelle Analysen der postsowjetischen Sozialwissenschaften konstatieren eine Dichotomisierung des akademischen Feldes. Elena Gapova beschreibt diese etwas plakativ so: »[…] eine ›epistemologische‹ Teilung in zwei unklar abgegrenzte und teilweise sich überschneidende, aber einander entgegengesetzte ›Systeme des Wissens‹. Eines davon wird in seiner am meisten vollendeten Form durch die ›orthodoxe‹ Soziologie und Psychologie an der MGU [Moskauer Staatlichen Universität, TG] vertreten, durch die Theorie der Lebenskräfte (Universität Barnaul),236 ›Feminologie‹237 und Ähnliches, die andere durch wissenschaftliche Diskurse, die meistens von neuen akademischen Institutionen oder von Wissenschaftern, die eine westliche Ausbildung erhalten haben, ausgehen. Die Teilung zwischen ihnen hat den Charakter einer prinzipiellen Nichtanerkennung der Kompetenz der entgegengesetzten Seite und die Ablehnung, mit ihr in einem Feld zu sein (auf denselben Konferenzen aufzutreten, in denselben Publikationen zu veröffentlichen usw.).«238
Der bereits erwähnte Michail Sokolov hat mit Kirill Titaev eine Analyse der postsowjetischen Sozialwissenschaften auf Basis eines Kommunikationsmodells erstellt.239 Diese Analyse erlaubt eine Anknüpfung zu den in Kapitel 3.4.1 dargelegten globalen Modellen: Auf welche Arten verhält sich die russische Sozialwissenschaft zu jener des Zentrums im Sinne von Syed Farid Alatas? Auch hier geht es im Wesentlichen um zwei Richtungen, einerseits die »provinzielle« (provincial’naja nauka), andererseits die »einheimische« (tuzemnaja nauka, auch als »eingeboren« übersetzbar) Sozialwissenschaft.240 Die sogenannte »provinzielle« Sozialwissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie in übertragenem Sinne »gedanklich in einem Gespräch anwesend ist, physisch aber an einem anderen teilnimmt«.241 Das heißt, sie ist dadurch charakterisiert, dass sie sich an Wissen und Wissenschaft orientiert, die anderswo produziert werden, nämlich in den globalen Metropolen. Den Arbeiten von Kolleg_innen, die dieser »provinziellen« Wissenschaft zugerechnet werden, wird ein »chronisches Defizit an Bedeutsamkeit« unterstellt, weshalb sie auch nicht unbedingt rezipiert werden müssen.242 Die Wahrnehmung von Kolleg_innen – in Form von Zitationen 236 »Throughout the 1990s, the Faculty of Sociology at the Altai State University has been actively developing a comprehensive, albeit often confusing, sociological theory, in which issues of ethnic difference become a prominent tool for explaining Russia’s current situation.« Serguei Oushakine, From Russian Tragedy to Vital Forces: Theorizing Post-Soviet Ethnicity, 2005, 1–29, 19, unter : http://www.miamioh.edu/cas/_files/documents/havig hurst/2005/oushakine.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018. 237 Näheres zum diesem Begriff siehe Kapitel 4.1. 238 Gapova, Znanie, 289f., Übersetzung aus dem Russischen TG. 239 Sokolov/Titaev, Nauka. 240 Diese beiden Richtungen verstehen die Autoren als Idealtypen, die im Übrigen auch in ein und derselben Institution vorkommen können. Vgl. Sokolov/Titaev, Nauka, 10. 241 Sokolov/Titaev, Nauka, 8. 242 Sokolov/Titaev, Nauka, 10.
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oder Anwesenheit in Konferenzpanels – beruht zumeist auf Gegenseitigkeit.243 Protagonist_innen der »provinziellen« Wissenschaft finden sich damit ab, dass sie Wissenschafter_innen zweiter Klasse sind und werden in den seltensten Fällen Teil der Wissenschaft der Metropole im Sinne Raewyn Connels (bei Sokolov und Titaev : stolicˇnaja nauka – hauptstädtische Wissenschaft).244 Abgesehen von der Rezeption von Inhalten, die aus dem Kontext der globalen »Social Science Powers« stammen werden auch entsprechende Habitus und Praktiken kopiert. Julia Lerner hat dies am Beispiel der Europäischen Universität Sankt Petersburg ethnografisch erforscht. Die Art, wie Lehrveranstaltungen, Vorträge, Konferenzen, Abschlussprüfungen oder der Umgang zwischen Lehrenden und Studierenden gestaltet werden, beschreibt sie als Mimesis oder Mimikry.245 Einerseits würden die Methoden an dieser neuen Universität im Gegensatz zur sowjetischen (bzw. sowjetisch geprägten) Pseudowissenschaft, die einige der dort Studierenden aus eigener Erfahrung kannten, als »good, real sociological education«, als Auseinandersetzung mit »real, original text[s]« herausgehoben.246 Andererseits wird diese akademische Kultur auch als »pseudo« und »as if« aufgefasst, in Anbetracht dessen, dass die Europäische Universität nicht wirklich eine amerikanische oder britische ist und Abschlüsse ›westlicher‹ Universitäten vom russischen akademischen System nicht anerkannt werden.247 Die Protagonist_innen der »provinziellen«, nach außen orientierten Wissenschaft entstammen vielfach einer bestimmten sozialen Schicht der (post-)sowjetischen Gesellschaft: »Die reformistisch und kosmopolitisch ausgerichteten spätsowjetischen Intellektuellen wiesen ähnliche Lebenstrajektorien und berufliche Ambitionen auf. Viele Vertreter dieser Generation wuchsen in Familien der städtischen Intelligenzija oder der No-
243 Sokolov/Titaev, Nauka, 12. 244 Sokolov/Titaev, Nauka, 10. In der Metropole anzukommen gelingt höchstens, indem der Kontext der Peripherie verlassen wird: »Those (few) authors from the majority world that are referred to in the US and German-based textbooks have mostly published their work with publishing houses based in the metropole […] and/or have completed a substantial amount of their education there.« Wöhrer, Multi-Centred Field, 330. 245 Lerner, Students, 187. 246 Lerner, Students, 199. 247 »Those returning to Russian [sic!] with the aura of Stanford and Cambridge are not automatically able to convert their symbolic capital into Russian currency. They are not accorded the parallel Russian status unless they undergo the trials of a long, bureaucratic process of consent. They are not allowed to supervise students of advanced degrees or to fill certain positions in circles that require official recognition. The graduates of Western universities, who have been deprived of formal recognition on the part of the Russian academic system, turn to alternative Western loci of authority. From them, they copy, imitate and translate the ›correct practices‹ of thinking, writing, researching and teaching.« Lerner, Students, 205f.
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menklatura248 auf und verfügten über die Privilegien ihrer sozialen Schicht und ihrer Zeit: Sie besuchten Spezialschulen, in denen sie Englisch lernten und Teil von im Nachhinein wichtig werdenden Freundesnetzwerken wurden, erhielten oft Zugriff auf ›verbotenes‹ Wissen – zuhause oder in ›Elitefakultäten‹.«249
Höherrangige Wissenschafter_innen waren in der sowjetischen Gesellschaft privilegiert; Personen, in deren Familie schon mehrere Generationen dieser Schicht angehörten, konnten von akkumuliertem Kapital profitieren: »A scientific degree offered both symbolic and material capital as well […]. Soviet science was hierarchically structured; scientific workers situated at different levels of the pyramid led different lives and had different goals. The top of the hierarchy, essentially the scientific echelon of the nomenklatura, behaved similarly to the rest of the Soviet ruling class.«250
Die sogenannte »einheimische« Wissenschaft orientiert sich dagegen ganz am lokalen Umfeld und ihre hauptsächliche Charakteristik besteht darin, dass ihre »akademische Kommunikation eine konsequente Verdrängung der Tatsache der Existenz einer Wissenschaft der Metropole voraussetzt«.251 Ist Verdrängung solcherart unmöglich, dann wird argumentiert, dass eine Auseinandersetzung mit deren Inhalten irrelevant ist, zumal die »einheimische« Wissenschaft mindestens so gut, wenn nicht besser sei. Historisch entwickelte sich diese Situation so: Innerhalb der Sowjetunion fand in den Disziplinen Philosophie, Politische Ökonomie und wissenschaftlicher Kommunismus, aber auch in geisteswissenschaftlichen Fächern ein regelmäßiger Austausch zwischen universitären Kolleg_innen auf Konferenzen und Fortbildungen statt. Mit dem Ende der Sowjetunion waren die marxistisch dominierten Disziplinen zum einen nicht mehr nachgefragt, zum anderen fiel die Finanzierung des interuniversitären Austauschs völlig weg.252 In Kombination mit der bereits erwähnten Verarmung der Wissenschaften253 führte dies zu Universitäten, die eher der Form halber Pu-
248 Nomenklatura bezeichnet ursprünglich das Verzeichnis sämtlicher Führungspositionen in der Partei, der Administration und der Wirtschaft, das als Instrument kommunistischer Kaderpolitik diente. Im übertragenen Sinn sind damit auch die gesellschaftlichen Eliten, also jene, die solche Positionen innehaben, gemeint. Vgl. Michael Voslensky, Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion in Geschichte und Gegenwart, München 1987. 249 Gapova, Znanie, 302, Übersetzung aus dem Russischen TG. 250 Yakov M. Rabkin u. Elena Z. Mirskaya, Russia. Science in the Post-Soviet Disunion, in: Anthony Tillet u. Barry Lesser (Hg.), Science and Technology in Central and Eastern Europe: The Reform of Higher Education, New York/London 1996, 43–52, 45. 251 Sokolov/Titaev, Nauka, 15, Übersetzung aus dem Russischen TG. 252 Sokolov/Titaev, Nauka, 16. 253 Die Gehälter für wissenschaftliches Personal sind auch heute vergleichsweise niedrig. Vgl. Elizaveta Sivak u. Maria Yudkevich, Academic Immobility and Inbreeding in Russia, in:
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blikationen hervorbringen (zumeist in universitätseigenen Zeitschriften und Reihen),254 deren Publikum in lokalen Kolleg_innen, Studierenden und (im Fall der Sozialwissenschaften) manchmal auch der lokalen Verwaltung und Politik besteht.255 Nachwuchswissenschafter_innen wird empfohlen, eher weniger Zitate anderer Autor_innen zu verwenden und große Thesen aufzustellen, um selbst prominenter zu erscheinen.256 Geringe geografische Mobilität führt zu einem Phänomen, das »Academic Inbreeding« genannt wird und das typisch für in Entwicklung begriffene höhere Bildungssysteme ist: Stellen werden überwiegend mit Absolvent_innen der eigenen Institution besetzt.257 Dies wird generell negativ bewertet, weil es Forschung und Lehre beschränkt und weniger innovativ macht, tendenziell immer mehr des immer Gleichen entsteht.258 Unter Umständen kann es freilich auch Vorteile haben, die best(möglich)en Kandidat_innen aus der eigenen Institution einzustellen: »[T]his kind of inbreeding is critical in the early stages of developing departments and disciplinary fields at national and institutional levels, particularly when it is difficult to find better potential candidates from elsewhere. The practice was also seen to create strong institutional identities and permit rapid organizational development, leading to the creation of stable and consistent research teams.«259
Die »einheimische« Wissenschaft wird von den russischen Autor_innen, die selbst der »provinziellen« Wissenschaft zugerechnet werden (oder die wie Elena Gapova inzwischen an einer US-amerikanischen Universität arbeiten), im Vergleich zu der international orientierten überwiegend negativ dargestellt. Sokolov und Titaev argumentieren jedoch auch, dass eine so prestigereiche sozialwissenschaftliche Institution wie die Chicagoer Schule durchaus als »einheimisch« zu betrachten war – im Sinne einer Fokussierung auf den eigenen
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Maria Yudkevich u. a. (Hg.), Academic Inbreeding and Mobility in Higher Education, Basingstoke 2015, 130–155, 132f. »According to the existing rules, Ph. D. candidates are not required to publish abroad. Therefore, the majority of Russian scholars in SSH do not have such publications, and a few have papers published in prestigious world journals. Even among the high-ranking scholars in Russia it is not common or necessary to publish abroad (especially now – within the current cycle of rejection of foreign models and search for national ones).« Sosunova u. a., Internationalization, 289. Sokolov/Titaev, Nauka, 16. So lässt sich behaupten, zu Thema X sei noch nichts geforscht werden – wenngleich das mit »jedenfalls in /Name der Stadt/ hat darüber noch niemand geschrieben« relativiert werden muss. Sokolov/Titaev, Nauka, 19, Übersetzung aus dem Russischen TG. Vgl. Hugo Horta u. Maria Yudkevich, The Role of Academic Inbreeding in Developing Higher Education Systems: Challenges and Possible Solutions, in: Technological Forecasting & Social Change, 113 (2016), 363–372. Diese Studie untersucht das Phänomen an russischen und portugiesischen Universitäten. Horta/Yudkevich, Inbreeding, 365. Horta/Yudkevich, Inbreeding, 367.
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Kontext und intensive empirische Forschungen.260 Freilich geschah dies nicht unter den Bedingungen einer unterfinanzierten Universität, an der Forschung eine untergeordnete Rolle spielte. Zudem war die Situation im Hinblick auf den möglichen Zugriff auf Forschungsliteratur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine ganz andere als im globalisierten und digitalisierten 21. Jahrhundert. Die Tatsache, dass in Russland seit 2005 ein eigener Zitationsindex besteht (Rossijskij indeks naucˇnoj citirovanija, RINC/Russischer Index wissenschaftlicher Zitation), mag als Abschottung und Provinzialisierung, wie als Maßnahme gegen die Dominanz der englischen Sprache261 im internationalen Wissenschaftsbetrieb interpretiert werden.262 Eine aus meiner Sicht politisch wie wissenschaftlich bedenkliche Spielart der einheimischen Sozialwissenschaft stellt die nationalistische Variante dar. Hier geht es nicht bloß darum, sich bewusst auf die vorrevolutionäre Tradition oder die Soziologie der sowjetischen ›Tauwetterphase‹ zu berufen, sondern um eine politisch konservative Richtung: »Another group of Russian sociologists, calling themselves ›enlightened conservatives‹ have strived to construct a national sociology corresponding to their understanding of the values of Russian society. They see Russian culture as being rooted in Orthodox religion, and believe that sociology should be normative. They believe that the mission of sociology is to define the contours of state policies and construct a national ideology that could mobilize and consolidate society.«263
Ein Vertreter des im Zitat skizzierten Standpunkts ist der Soziologe Vladimir Dobren’kov, der Dekan der soziologischen Fakultät an der Moskauer Staatlichen Universität. Im Jahr 2007 kam es ebendort zu studentischen Protesten gegen die konservativen Lehrinhalte, die mangelnde internationale Ausrichtung und die veralteten Lektürevorgaben.264 Infolge der Proteste wurde eine Kommission namhafter russischer Soziolog_innen zur Prüfung der Vorwürfe eingerichtet, 260 Sokolov/Titaev, Nauka, 24. 261 »The case of Russian science is not different from that of other non-English countries, whose international scientific visibility is determined by the capacity of their scientists to write in English and thus publish in major journals produced by leading western nations.« Olessia Kirchik, Yves Gingras u. Vincent LariviHre, Changes in Publication Languages and Citation Practices and their Effect on the Scientific Impact of Russian Science (1993–2010), in: Journal of the American Society for Information Science and Technology, 63, 7 (2012), 1411–1419, 1418. 262 Analysen zeigen, dass russische Forscher_innen entweder im internationalen »Web of Science« oder im »RINC« hohe Zitationhäufikeiten aufweisen. Vgl. Michail Sokolov, Rossijskaja sociologija na mezˇdunarodnom rynke idej [Die russische Soziologie am internationalen Ideenmarkt], in: polit.ru, 10. 9. 2008, unter : http://www.polit.ru/article/2008/ 09/10/sokolov/, Zugriff: 31. 3. 2018. 263 Zdravomyslova, Tradition, 144. 264 Gapova, Znanie, 290.
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die zu dem Schluss kam, dass die Kritik gerechtfertigt war.265 Allerdings hatte diese Einschätzung keinerlei Konsequenzen: Dobren’kov ist bis heute Dekan und gründete 2008 mit dem rechten, neo-eurasistischen Ideologen Aleksandr Dugin ein »Zentrum für Konservative Forschungen« an der Moskauer Staatlichen Universität.266 Eine fragmentierte Sozialwissenschaft ist für Russland problematisch, weil dadurch ihre Autonomie, eigene Regeln und Normen der Forschung zu bestimmen, ohne sich auf die ferne ›westliche‹ Akademie oder auf formelle staatliche Standards267 berufen zu müssen, in Frage gestellt bleibt. Vielleicht können Initiativen wie jene der Europäischen Universität Sankt Petersburg, die eine Zusammenarbeit mit regionalen russischen Universitäten zu stärken sucht, einen Brückenschlag schaffen und die schier unversöhnlichen Gegensätze zwischen »einheimischer« und »provinzieller« Sozialwissenschaft überwinden.268 Einen »dritten Weg« könnte laut Sokolov und Titaev die bereits erwähnte »Public Sociology« bedeuten, die sich nicht an einen mehr oder weniger engen Kreis von Kolleg_innen wendet, sondern an eine breite Öffentlichkeit.269 In diesem Kapitel habe ich die theoretischen Konzepte und Werkzeuge meiner Studie dargelegt. Zentral sind Fragen nach internationalen Hegemonien und daraus resultierende Arbeitsteilungen – und wie diese in das russische wissenschaftliche Feld hineinreichen. Für in Russland forschende und in russischer Sprache publizierende Forscher_innen ist es einigermaßen schwierig, im globalen Diskurs der Sozial- und Geisteswissenschaften Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Gender Studies existieren als Teil dieses globalen Feldes, müssen ihren Platz darin erkämpfen und verteidigen. Ihnen ist der folgende Abschnitt gewidmet: zunächst mit einer ausführlichen Diskussion der Entwicklung der (fast ausschließlich auf russische Themenfelder bezogenen) 265 Andreas Umland, Fascist Tendencies in Russian Higher Education: The Rise of Aleksandr Dugin and the Faculty of Sociology of Moscow State University, in: Demokratizacija, Spring (2011), 1–5, 2. 266 Umland, Tendencies, 3. Dugin, der im Kontext des Russland-Ukraine-Konflikts aufrief, Ukrainer zu töten, wurde 2014 seines Amtes als Vorstand des Instituts für Geschichte und Theorie der Soziologie an der Moskauer Staatlichen Universität enthoben. Vgl. Vadim Rossman, Moscow State University’s Department of Sociology and the Climate of Opinion in Post-Soviet Russia, in: Marlene Laruelle (Hg.), Eurasianism and the European Far Right: Reshaping the Europe-Russia Relationship, Lanham, MD 2015, 55–76, 71. 267 Diese Standards werden von der Hohen Qualitätsprüfungskommission (Vyssˇaja attestacionnaja kommissija) beim Bildungsministerium der Russischen Föderation festgelegt und gelten für Curricula, akademische Abschlüsse, Publikationen und anderes mehr. 268 Europäische Universität Sankt Petersburg, Konkurs na sosdanie partnerstva EUSPb s regional’nym vuzom [Wettbewerb um die Schaffung einer Partnerschaft zwischen der EUSPb und einer regionalen Universität], unter : https://eu.spb.ru/announcements/17985-kon kurs-na-sozdanie-partnerstva-euspb-s-regionalnym-vuzom, Zugriff: 31. 3. 2018. 269 Sokolov/Titaev, Nauka, 25.
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Gender Studies in Russland. Daran schließen Darstellungen russlandbezogener Gender-Forschung und geschlechterspezifischer Russian Studies in deutschund englischsprachigen Ländern an.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung270
Nachdem im vorhergehenden Kapitel die disziplinären und konzeptuellen Rahmenbedingungen meiner Studie dargelegt wurden, gilt es nun, den Gegenstand der Forschung konkreter vorzustellen: russlandbezogene Geschlechterforschung in Russland und anderswo, ihre Entwicklung, ihre Protagonist_innen, ihre Struktur sowie die wichtigsten Forschungsthemen. Die Entwicklung von Frauenforschung,271 Feministischer Forschung,272 Männerforschung,273 Gender Studies274 und Queer Studies275 ist ein bereits viel bearbeitetes Forschungsfeld. Ich werde im Folgenden über spezifisch auf Russland bezogene Geschlechterforschung in russisch-, englisch- und deutschsprachigen Kontexten schreiben, da sich in diesem Rahmen am ehesten konkrete transnationale Anknüpfungspunkte bieten. Dies passiert freilich unter den ungleichen Bedingungen akade270 Einige Teile dieses Kapitels basieren auf Passagen meines Artikels über Gender und Queer Studies in Russland in »L’Homme. Z. F. G.«, vgl. Garstenauer, Gender und Queer Studies. 271 Florence Howe, The Politics of Women’s Studies: Testimony from the 30 Founding Mothers (The Women’s Studies History Series 1), New York 2000; Andrea Maihofer, Von der Frauenzur Geschlechterforschung – modischer Trend oder bedeutsamer Paradigmenwechsel? in: Peter Döge Karsten Kassner u. Gabriele Schambach (Hg.), Schaustelle Gender. Aktuelle Beiträge sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung, Bielefeld 2004, 11–28. 272 Johanna Gehmacher u. Mona Singer, Feministische Forschung in Österreich: Eine Geschichte zur Fortsetzung, in: Christina Lutter u. Elisabeth Menasse-Wiesbauer (Hg.), Frauenforschung, feministische Forschung, Gender Studies (Materialien zur Förderung der Frauen in der Wissenschaft 8), Wien 1999, 19–40; Ellen Messer-Davidow, Disciplining Feminism. From Social Activism to Academic Discourse, Durham 2002; Clare Hemmings, Telling Feminist Stories, in: Feminist Theory, 6, 2 (2005), 115–139. 273 Johannes Moes u. Oliver Geden, Von der kritischen zur reflexiven Männerforschung, in: Kritische Männerforschung, 1, 18/19 (2000), 8–14; R. W. Connell, Masculinities, Cambridge 2005; Michael S. Kimmel, R. W. Connell u. Jeff Hearn (Hg.), Handbook of Studies on Men and Masculinities, London u. a. 2005. 274 Renate Hof, Die Entwicklung der Gender Studies, in: dies./Bußmann, Genus, 3–33; Leora Auslander, Do Women’s + Feminist + Men’s + Lesbian and Gay + Queer Studies = Gender Studies?, in: Differences, 9, 3 (1997), 1–30; Kathy Davis, Mary Evans u. Judith Lorber (Hg.), Handbook of Gender and Women’s Studies, London u. a. 2006. 275 Annamarie Jagose, Queer Theory. An Introduction, New York 1996; Nikki Sullivan, A Critical Introduction to Queer Theory, Edinburgh 2006.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
mischer Dependenz: Russische Geschlechterforscher_innen sind in fast allen Fällen auf russlandspezifische Forschungsgegenstände spezialisiert und werden, wenn überhaupt, in dieser Funktion kontaktiert und zitiert. Sie beziehen sich ihrerseits auf ›westliche‹ Autor_innen, die entweder über Expertise in russlandbezogener Forschung verfügen276 oder Geschlechterforschung ›im Allgemeinen‹ repräsentieren. Umgekehrt werden Geschlechterforscher_innen in Russland in der Regel nur von ausländischen Forscher_innen als potenzielle Kolleg_innen wahrgenommen, welche die relativ selten vorkommende Kombination aus Geschlechterforschung und Russlandexpertise, idealerweise mit passablen Sprachkenntnissen, in sich vereinen.277
4.1
Geschlechterforschung in Russland
In ihren Anfängen zu Beginn der 1990er Jahre waren Gender Studies in Russland fast immer gleichbedeutend mit Frauenforschung. Erst ab den späten 1990er Jahren zeigte sich wachsendes Interesse an Forschung über Männer und Männlichkeiten.278 Vereinzelte Studien zu lesbischen Lebenswelten entstanden seit den frühen 2000er Jahren,279 dezidierte Queer Studies sind eine Errungenschaft der letzten fünf Jahre.280 Eine Ausnahme von der skizzierten Abfolge bilden die Arbeiten von Igor’ Kon (1928–2011), der schon vor 1991 zur Geschichte der Sexualität forschte und dessen Publikationen zu sexueller Kultur und gleichgeschlechtlicher Liebe aus den 1990er Jahren heute als Klassiker gelten.281 276 Karen Petrone und Choj Chatterjee schreiben über die Novosibirsker Wissenschafterin Tat’jana Barcˇunova: »Her command of the feminist theoretical corpus is exemplary, even though she does not find all feminist writings useful. In fact, she feels that Western scholars such as Sheila Fitzpatrick and Nancy Ries, who do not explicitly deal with gender, are more successful in describing the Soviet experience.« Karen Petrone u. Choj Chatterjee, Transnational Feminism: Gender and Historical Knowledge in Post-Soviet Russia, in: Tractus Aevorum, 1, 2 (2014), 153–166, 154. Vgl. auch Barchunova, Transnational Project, 100. 277 Ausnahmen ergeben sich, wenn die Kooperation auch oder vor allem politische Ziele verfolgt, wie in Kapitel 6.2 gezeigt wird. 278 Vgl. Irina Tartakovskaja, Muzˇcˇiny na rynke truda [Männer auf dem Arbeitsmarkt], in: Sociologicˇeskij Zˇurnal [Soziologische Zeitschrift], 3 (2002), 112–125, 112. Vgl. zu dieser frühen Phase auch Garstenauer, Geschlechterforschung, 15–51. 279 Vgl. Nadya Nartova, ›Russian Love‹, or What of Lesbian Studies in Russia?, in: Journal of Lesbian Studies, 11, 3–4 (2007), 313–320. 280 Vgl. Alexander Kondakov, Teaching Queer Theory in Russia, in: QED. A Journal in GLBTQ Worldmaking, 3, 2 (2016), 107–118. 281 Vgl. Igor’ Kon, Klubnicˇka na berezke. Seksual’naja kul’tura v Rossii [Die Erdbeere auf der Birke. Sexuelle Kultur in Russland], Moskva 1997; ders., Lunnyj svet na zare: liki i maski odnopolovoj ljubvi [Mondlicht in der Dämmerung: Gesichter und Masken der gleichgeschlechtlichen Liebe], Moskva 1998.
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Seitdem von Gender Studies in Russland unter diesem Namen (gendernye issledovanija) die Rede ist,282 wird dieses akademische und politische Projekt von dem Vorwurf begleitet, es sei ein Fremdkörper, ein Import aus dem Westen, der für russische Verhältnisse keinerlei Gültigkeit habe.283 In der Tat war die Rezeption von Literatur, Theorien und Methoden aus dem westlichen Ausland für die neu entstehende Inter-Disziplin Gender Studies zentral, und aufgrund der materiellen Unterstützung durch internationale Fonds konnten Forschungszentren etabliert, Forschungsprojekte durchgeführt, Fachzeitschriften284 herausgegeben und Gender Studies sowie Queer Studies an Universitäten gelehrt werden. Dem könnte man entgegenhalten, dass, wie Natal’ja Pusˇkareva schon vor einiger Zeit gezeigt hat, Frauengeschichte bereits in vorsowjetischen Zeiten wenngleich marginal, so doch Thema war.285 In der Sowjetunion griff vor allem die Ethnografie286 Fragen nach Geschlechterverhältnissen auf. Pusˇkareva selbst befasst sich seit den 1970er Jahren mit der Geschichte russischer Frauen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gender Studies und jüngst auch Queer Studies sind jedoch ein Phänomen mit einer neuen Qualität und funktionieren, wie die Sozialanthropologin Tatiana Barcˇunova dargelegt hat, vor allem als transnationales Unterfangen.287 Für Geschlechterforschung in Russland gilt Ähnliches, wie für die in Kapitel 3.5 beschriebenen dort verorteten Sozial- und Geisteswissenschaften, deren Teil sie ja auch ist. Elena Gapova beschreibt einen Markt symbolischer Güter, der zwei spezifische Ausrichtungen aufweist.288 Einerseits besteht eine Orientierung an einer traditionellen, mitunter auch aus sowjetischen Zeiten überlieferten, akademischen Kultur und Methodologie289 – sie wird häufig als feminologija (etwa: Feminologie) bezeichnet. Anna Temkina und Elena Zdravomyslova haben diesbezüglich folgende Einschätzung formuliert: »The […] trend arose in connection with the ›official‹ branch of the Russian women’s movement, which has espoused social ›protectionist‹ ideas. Its advocates avoid the 282 Dies ist seit 1990 der Fall, als das Moskauer Zentrum für Gender Studies (Moskovskij Centr Gendernych Issledovanij) gegründet wurde. 283 Vgl. Temkina/Zdravomyslova, Path, 259. 284 So etwa die seit 1998 erscheinende, am Zentrum für Gender Studies in Char’kiv, Ukraine, herausgegebene »Gendernye Issledovanija« [Gender Studies], neben der in Ivanovo seit 1996 erscheinenden Zeitschrift »Zˇensˇcˇina v rossijskom obsˇcˇestve« [Die Frau in der russischen Gesellschaft] die einzige einschlägige russischsprachige Fachzeitschrift. 285 Natal’ja Pusˇkareva, Russkaja zˇensˇcˇina: istorija i sovremennost’ [Die russische Frau: Geschichte und Gegenwart], Moskva 2002, 11f. 286 Pusˇkareva, Russkaja zˇensˇcˇina, 29f. 287 Vgl. Barchunova, Transnational Project. 288 Vgl. Gapova, Zerkalo, 77. 289 Vgl. Irina Iukina, Overcoming Soviet Academic Discourse in the Regions: The History of Russian Women’s Movements, in: Muravyeva/Novikova, Women’s History, 16–25.
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concepts of patriarchy, the terms of gendered inequality and feminist frames. Instead, they focus on women’s roles in society. Sex-role theory is at the center of women’s study (feminology) so conceived. It is a trend which reveals some continuity with the Soviet tradition of sociology, demography, psychology, sociology of the family, and research into the women’s social problems and sex-role research.«290
Die dazugehörige akademische Community ist in erster Linie russisch und institutionell an staatlichen Universitäten und Instituten der Akademie der Wissenschaften verortet. Andererseits gibt es eine Richtung, die auf eine internationale akademische Kolleg_innenschaft ausgerichtet ist und sich dementsprechend an internationaler Forschung und deren Spielregeln orientiert. In institutioneller Hinsicht ist die zweite Ausprägung stärker an privaten Universitäten und Forschungszentren (etwa an der Europäischen Universität Sankt Petersburg oder am ebendort ansässigen Zentrum für unabhängige Sozialforschung) vertreten. Eine entsprechende Zweiteilung der Geschlechtergeschichte in Russland konstatieren auch Natal’ja Pusˇkareva und Maria Zolotuchina in einem aktuellen Artikel.291 In meiner empirischen Studie liegt der Fokus stärker auf den international ausgerichteten Gender Studies als auf feminologija. Für die folgenden Ausführungen zu Geschlechterforschung in Russland stütze ich mich neben meinen eigenen Lektüren der Arbeiten russischer Geschlechterforscher_innen auf Überblicke und Berichte russischer und nichtrussischer Autor_innen. Das sind Buch- und Zeitschriftenartikel,292 Kapitel in 290 Temkina/Zdravomyslova, Gender Studies, 56. Eine Definition aus einem aktuellen Lehrbuch zu Feminologie und Genderpolitik lautet: »Feminologie (von lat. femina – Frau und griechisch logos – Wort, Lehre) ist die Wissenschaft von der Situation und Rolle der Frau in der Gesellschaft.« Elizaveta Zujkova u. Raisa Eruslanova, Feminologija i gendernaja politika [Feminologie und Genderpolitik], Moskva 2009, 9. 291 Vgl. Natalia Pushkareva u. Maria Zolotukhina, Women’s and Gender Studies of the Russian Past: Two Contemporary Trends, in: Women’s History Review, Special Issue (2017), 1–17. 292 Temkina/Zdravomyslova, Gender Studies; Zoja Chotkina, Gendernym issledovanijam v Rossii – desjat’ let [Die Gender-Forschung in Russland ist zehn Jahre alt], in: Obsˇcˇestvennye nauki i sovremennost’ [Sozialwissenschaften und Gegenwart], 4 (2000), 21–26; Tat’jana Barcˇunova, E˙goisticˇeskij gender, ili vosproizvodstvo gendernoj assimetrii v gendernych issledovanij [Der egoistische Gender, oder die Reproduktion von Gender-Assymetrie in der Geschlechterforschung], in: Obsˇcˇestvennye nauki i sovremennost’ [Sozialwissenschaften und Gegenwart], 5 (2002), 180–192; Galina Brandt, Gendernye issledovanija v Rossii: osobennosti i problemy [Gender Studies in Russland: Besonderheiten und Probleme], in: Ljudmila Popkova u. Irina Tartakovskaja (Hg.), Gendernye otnosˇenija v sovremennoj Rossii: issledovanija 1990-ch godov : sbornik naucˇnych statej [Geschlechterverhältnisse im heutigen Russland: Forschungen der 1990er Jahre: wissenschaftlicher Sammelband], Samara 2003, 23–30; Repina, Russian Historiography ; Elena Kocˇkina, Sistematizirovannye nabroski: »Gendernye issledovanija v Rossii: ot fragmentov k kritieskomu pereosmysleniju politicˇeskich strategii [Systematisierte Entwürfe: »Gender Studies in Russland: Von Fragmenten zu einer Neubewertung politischer Strategien«], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 15 (2007), 92–143; Larisa Titarenko u. Elena Zdravomyslova, Gender Studies: The Novelty at the Russian Academic Scene, in: dies., Sociology in Russia: A Brief
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Werken über die russische Frauenbewegung,293 die Gender Studies als Teil eben dieser Frauenbewegung beschreiben, Festschriften beziehungsweise Beiträge anlässlich von Jubiläen einschlägiger Zentren294 und graue Literatur, wie etwa der Bericht von Stephen Kotkin für die Ford Foundation über die mehr oder weniger erfolgreichen Aktivitäten dieser Institution in Russland.295 Anna Temkina und Elena Zdravomyslova haben mir dankenswerterweise einen unveröffentlichten Forschungsbericht über Geschlechterforschung in Russland überlassen.296 Schließlich werde ich auch auf Diskussionen zwischen postsowjetischen Geschlechterforscher_innen zurückgreifen, die in der Zeitschrift »Gendernye Issledovanija« 2005, 2007 und 2009 veröffentlicht wurden.297
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History, Basingstoke 2017, 125–140. Es fällt auf, dass solche Überblicksdarstellungen bislang fast nie von nichtrussischen Autor_innen verfasst wurden, anders als etwa die zahlreichen Artikel und Monografien zur neuen russischen Frauenbewegung. Ausnahme sind etwa ein kenntnisreicher (wenn auch etwas Sankt-Petersburg-lastiger) Aufsatz von Ingrid Oswald, Gender-Display und Gender Studies im post-sozialistischen Russland, in: Waltraud Ernst u. Ulrike Bohle (Hg.), Transformationen von Geschlechterordnungen in Wissenschaft und anderen sozialen Institutionen, Hamburg 2006, 56–73; oder : Susan Zimmermann, The Institutionalization of Women’s and Gender Studies in Higher Education in Central and Eastern Europe and the Former Soviet Union: Asymmetric Politics and the Regional-Transnational Configuration, in: East Central Europe/ECE, 34/35 (2007/08), 131– 160. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier genannt: Anna Köbberling, Zwischen Liquidation und Wiedergeburt: Frauenbewegung in Russland. Von 1917 bis heute, Frankfurt a. M./New York 1993; Linda Racioppi u. Katherine O’Sullivan See, Women’s Activism in Contemporary Russia, Philadelphia 1997; Britta Schmitt, Zivilgesellschaft, Frauenbewegung und Frauenpolitik in Rußland von 1917 bis zur Gegenwart, Königstein/Taunus 1997; Valerie Sperling, Organizing Women in Contemporary Russia: Engendering Transition, Cambridge 1999; Rebecca Kay, Russian Women and their Organizations. Gender, Discrimination and Grassroots Women’s Organizations, 1991–96, Houndmills/Basingstoke/ Hampshire 2000; Brigitta Godel, Auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. Frauenbewegung und Wertewandel in Rußland, Frankfurt a. M./New York 2002. Moskovskij centr gendernych issledovanij (Hg.), Moskovskij centr gendernych issledovanij 1990–1995, [Moskauer Zentrum für Genderforschung 1990–1995], Moskva 1995; Chotkina, Desjat’ let; Ol’ga Voronina, Elena Ballaeva u. Larisa Lunjakova, Na poroge novych sversˇenij. MCGI otmetil svoe 15-letie [An der Schwelle neuer Errungenschaften. Das MCGI ist 15 Jahre geworden], in: dies. (Hg.), Gender kak instrument poznanija i preobrazovanija obsˇcˇestva [Gender als Instrument der Erkenntnis und der Umgestaltung der Gesellschaft], Moskva 2005, 6–16. Stephen Kotkin, Academic Innovation: Individuals, Networks, Patronage. An Evaluation of Academic Community Building in Russia. Prepared for the Ford Foundation Moscow Office, January–June 2006, Moscow 2006. Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova, Gender Curricula in Russia: Informal Input and Formalization, Sankt Petersburg 2008. Dieser Bericht beruht auf 23 Interviews mit Geschlechterforscher_innen aus mehreren russischen Städten sowie einer finnischen Kollegin. Vgl. »Doing Gender« na russkom pole (Kruglyj stol) [»Doing Gender« auf russischen Boden (Runder Tisch)], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 13 (2005), 191–217; Politicˇeskoe voobrazˇaemoe gendernych issledovanij v byvsˇem SSSR: vzgljady iznutri, snaruzˇi i
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Moskau, insbesondere das Moskauer Zentrum für Gender Studies, aber auch zahlreiche Zentren an Universitäten und Instituten der Akademie der Wissenschaften, war für lange Zeit der zentrale Ort für die Geschlechterforschung in Russland.298 In der folgenden Übersicht gilt die Aufmerksamkeit jedoch auch dem übrigen Russland, also Sankt Petersburg und anderen Städten, in denen Geschlechterforschung praktiziert wird und wurde. Es sind vor allem Universitäten und Forschungszentren in den Städten Tver’, Ivanovo, Samara und Saratov, die überwiegend als die am erfolgreichsten etablierten Manifestationen von Gender Studies genannt werden. Mit weniger Aktivitäten und geringerer internationaler Präsenz sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) auch noch ˇ elny, Tambov oder VlaNovosibirsk,299 Ekaterinburg, Mari-El,300 Naberezˇnye C divostok zu nennen.301 Char’kov in der Ukraine gehört zwar nicht zur Russischen Föderation, soll aber wegen seiner wichtigen Rolle für die russischsprachige postsowjetische Geschlechterforschung erwähnt werden. Obwohl in den letzten Jahren in zentralasiatischen Staaten interessante Entwicklungen in der Geschlechterforschung stattgefunden haben und russische Forscher_innen zunehmend mit Kolleg_innen aus diesen Regionen kooperieren, gehe ich darauf
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so storony (Kruglyj stol) [Das politische Imaginäre der Gender Studies in der ehemaligen UdSSR: Blicke von innen, von außen und von der Seite (Runder Tisch)], in: Gendernye ˇ to zˇe takoe »gendernye issledovanija cˇego Issledovanija [Gender Studies], 15 (2007), 6–74; C by tam ni bylo«? Kruglyj stol (24 oktjabrja 2009 goda, Foros, 13 ja Mezˇdunarodnaja Sˇkola po Gendernym Issledovanijam »Gendernye issledovanija: vozmozˇnosti dlja novoj politicˇeskoj antropologii v byvsˇem SSSR«) [Was ist denn »Genderforschung, was immer das auch sein mag«? Runder Tisch (24. 10. 2009, Foros, 13. Internationale Schule für Gender Studies »Gender Studies: Möglichkeiten für eine neue politische Anthropologie in der ehemaligen UdSSR«], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 19 (2009), 70–91. Einen Überblick über die Entwicklung von Geschlechterforschung in Russland, mit besonderem Fokus auf die Hauptstadt Moskau habe ich bereits an anderen Orten ausführlich dargelegt, vgl. Garstenauer, Geschlechterforschung; dies., Frauen- und Geschlechterforschung. Vgl. Elizaveta Ruzankina, Gendernye issledovanija i gendernoe obrazovanie v Rossii, v stranach vostoka i zapada (regional’nye aspekty) [Gender Studies und Gender-Ausbildung in Russland, in den Ländern des Ostens und des Westens (regionale Aspekte)], Novosibirsk 2015. Natalia Gluchova, Finno-Ugristin aus Josˇkar-Ola war im Sommersemester 2004 KätheLeichter-Gastprofessorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien, vgl. Vina Yun, Frauen in Russland: »Möglichkeiten zur Veränderung«, Gespräch mit Natalia Gluchova, in: dieuniversität, 5. 5. 2004, unter : http://www.dieuniversitaet-online.at/beitra ege/news/frauen-in-russland-moglichkeiten-zur-veranderung/10/neste/87.html, Zugriff: 30. 8. 2009. Auflistungen von Einzelinitiativen und Zentren findet man auf dem Stand des Jahres 2001 bei Ol’ga Chasbulatova, Gendernym issledovanijam v sisteme vyssˇego obrazovanija Rossii – desjat’ let [Gender Studies im System der höheren Bildung Russlands sind zehn Jahre alt], in: Zˇensˇcˇina v Rossijskom Obsˇcˇestve [Die Frau in der Russischen Gesellschaft], 1/2 (2001), 2–14; auf dem Stand des Jahres 2007 bei Kochkina, Nabroski, 126f.
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hier nicht näher ein.302 Elena Kocˇkina gibt für 2007 an, dass in der russischen Föderation an mehr als hundert Universitäten zumindest einzelne Lehrveranstaltungen zu Gender Studies gehalten wurden und dass es an vierzig Universitäten Strukturen wie Programme oder Zentren für Gender Studies gab. Allein zwischen 2002 und 2004 wurden in Russland 350 Dissertationen zu GenderThemen verfasst und die Datenbank des Netzwerkprogrammes des Open Society Institute für das Jahr 2004 enthielt 500 russische Geschlechterforscher_innen. Zehn Institute der Akademie der Wissenschaften unterhielten entsprechende Zentren und 15 weitere Zentren bestanden als nichtstaatliche Organisationen.303 Man kann davon ausgehen, dass diese Zahlen in den vergangenen gut zehn Jahren keinesfalls gestiegen sind, eher sind Zentren und Initiativen wieder eingestellt worden.304 Anna Temkina und Elena Zdravomyslova legen ihrem Bericht über die Entwicklung von Gender Studies in Russland bis 2008 Bruno Latours Actor–Network Theory zugrunde und beschreiben die Gesamtheit an Personen, Organisationen, Institutionen, Publikationen und Veranstaltungen als »work-net«.305 Damit betonen sie die Wichtigkeit von Verbindungen zwischen einzelnen Aktanten (wie menschliche und nicht-menschliche in das work-net Involvierte bei Latour genannt werden) ebenso wie die Flexibilität und Aktivitäten des Ganzen. Ich übernehme für die folgende Übersicht größtenteils die von Temkina und Zdravomyslova getroffene Einteilung nach Aktanten und gehe dementsprechend auf erste Feministinnen, Sommerschulen, charismatische Persönlich302 Vgl. dazu Irina Tartakovskaja (Hg.), »Gendernye Issledovanija«. Regional’naja antologija issledovanij iz vos’mi stran SNG : Armenii, Azerbaidzˇana, Gruzii, Kazachstana, Kyrgyztana, Moldovy, Tadzˇikistana i Uzbekistana [»Gender Studies«. Regionale Anthologie von Forschungen aus acht Ländern der GUS : Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Moldawien, Tadschikistan und Usbekistan] , Moskva 2006; Nicht der letzte Waggon des Zuges. Frauenbewegung und Geschlechterstudien in Kasachstan. Ein Interview von Susan Zimmermann mit Svetlana Shakirova, in : L’Homme. Z. F. G., 16, 1 (2005), 89–96 ; Zimmermann, Institutionalization ; Svetlana Sˇakirova, Gendernye issledovanija kak cˇast’ bol’sˇogo politicˇeskogo proekta [Gender Studies als Teil eines großen politischen Projekts] , Vortrag bei der internationalen Konferenz »Gendernye aspekty social’noj modernizacii obsˇcˇestva« [Genderaspekte der sozialen Modernisierung der Gesellschaft] , Almaty, 18. 5. 2012, unter : https:// www.academia.edu/2269378/TV^UVa^lV_Ybb\VU_SQ^Yp_[Q[_hQbcm_R_\mi_T__`_\YcYhVb[_ T__`a_V[cQ, Zugriff: 31. 3. 2018. 303 Kocˇkina, Nabroski, 96. Bedauerlicherweise liegen keine aktuelleren Zahlen vor; eine eigene Erhebung war mir im Rahmen der Überarbeitung der Dissertation nicht möglich. 304 Näheres dazu in den Unterkapiteln zu NGOs, Zentren und Förderinstitutionen (4.1.4, 4.1.5 und 4.1.6). 305 »Really, we should say ›work-net‹ instead of ›network‹. It’s the work, and the movement, and the flow, and the changes that should be stressed.« Bruno Latour, On the Difficulty of Being an ANT. An Interlude in the Form of a Dialogue, in: ders., Reassembling the Social: An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, 141–156, 143.
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keiten, Frauen-NGOs, Zentren für Gender Studies und westliche Förderfonds ein.306
4.1.1 Erste Feministinnen und das Moskauer Zentrum für Gender Studies (MZGS) Mit »first feminists«307 meinen Temkina und Zdravomyslova nicht etwa die Protagonistinnen der ersten russischen Frauenbewegung, sondern jene Forscherinnen und Frauenbewegungsaktivistinnen – es handelt sich in der Tat ausschließlich um Frauen –, die Geschlechterforschung in Russland unter der Bezeichnung gendernye issledovanija etablierten. In sämtlichen der zahlreichen Publikationen über die neue russische Frauenbewegung, als deren Protagonistinnen sich die Mitarbeiterinnen des Moskauer Zentrums für Gender Studies (MZGS) verstanden, wird über sie berichtet.308 Das Zentrum wurde 1990 im Rahmen des Institutes für sozioökonomische Bevölkerungsprobleme der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion eingerichtet, zunächst als laboratorium, also als Forschungsabteilung. Die Mitarbeiterinnen waren Ökonominnen, Soziologinnen, Philosophinnen, Demografinnen und Historikerinnen. Einige von ihnen hatten sich bereits vor der Gründung des Zentrums für frauenspezifische Themen interessiert und dazu dissertiert.309 Der Russlandhistoriker Stephen Kotkin schreibt in seinem Bericht für die Ford Foundation: »Gender studies in Russia is an implant. It did not exist before the investment in it by Western foundations.«310 Gender Studies in Gestalt des MZGS gab es aber 306 Netzwerk als sozialwissenschaftliches Konzept fand ich für die Konstruktion meines Forschungsgegenstandes nicht geeignet, weil es m. E. die Unterschiede zwischen den vernetzten Elementen zu wenig berücksichtigt. Kotkin bemerkt am Anfang seines Berichtes trocken: »Networks – meaning social relations, broadly conceived, independent of place – are all the rage. Whether a ›network logic‹ has become the dominant form of social organization in ›an information age‹ can be debated.« Kotkin, Innovation, 5. 307 Temkina/Zdravomyslova, Gender Curricula, 13. 308 Eine meiner Respondentinnen bemerkte über ihre Forschungen in Russland: »R 16: I really wanted to get away from Moscow – and from the Gender Studies Institute and the Independent Women’s Forum – not because I thought they were bad but because [laughs] everybody was talking to them […]. I think already by ninety-five ninety-six in Moscow there was a bit of a sense of: ›Oh another Western researcher who wants to come and talk to us about our women’s organisation.‹« Die Zitate aus den Interviews werden hier und im Folgenden mit »R« für »Respondent_in« und der Nummer des Interviews ausgewiesen. 309 Vgl. Ol’ga Voronina, Polozˇenie zˇensˇcˇiny v sem’e i v obsˇcˇestve v SSˇA [Situation der Frau in Familie und Gesellschaft in den USA], Dissertation, Moskva 1981; Valentina Konstantinova, Problemy vzaimodejstvija feministskogo dvizˇenija Velikobritanii s drugimi progressivnymi silami strany [Probleme der Zusammenarbeit der britischen feministischen Bewegung mit anderen progressiven Kräften des Landes], Dissertation, Moskva 1989. 310 Kotkin, Innovation, 74.
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bereits ab 1990, also zu einer Zeit, als die Förderfonds noch keine Aktivitäten bezüglich russischer Gender Studies gesetzt hatten.311 Die Mitarbeiterinnen des Zentrums waren durchwegs Frauenbewegungsaktivistinnen und stellen das Zentrum, das ab 1994 auch als nichtstaatliche Organisation registriert wurde, als eine Art Keimzelle der autonomen spätsowjetischen/postsowjetischen Frauenbewegung dar. Im vorhin erwähnten Bericht Kotkins kommt Ol’ga Voronina, die damalige Leiterin des Zentrums, zu Wort: »›The history of the center‹, Voronina said ›is a little romantic. A small feminist group, ›Lotus‹,312 formed in 1987. It started with four and grew to around 10. This was perestroika. It was in the Institute of Social and Economic Problems of the Population, so demography. The INION [Institute of Scientific Information on Social Sciences of the Russian Academy of Sciences] library had literature on feminism in English. Plus, we were invited to travel abroad, and we brought back books. We used academy resources (offices and the like), but we were independent in our scholarship. In 1994, we got a MacArthur grant for institutionalization. ‹«313
Die Gründung des Zentrums verdankt sich konkret allerdings einem Auftrag der Regierung, ein Programm für den Schutz von Familie, Mutterschaft und Kindheit zu entwerfen.314 Somit ergibt sich eine im internationalen Vergleich eher ungewöhnliche Konstellation für die Entstehung von Geschlechterforschung: eine Kombination aus Forschungsinteresse, zivilgesellschaftlichem Aktivismus und staatlichem Auftrag.315 Es kann angesichts dessen nicht behauptet werden, dass Gender Studies in Russland ursprünglich etwas von außen Kommendes – ein ›Westimport‹ – waren. Wie Anna Temkina und Elena Zdravomyslova spricht auch Elena Kockina davon, dass das MZGS die Gründung weiterer Zentren als »Effekt«316 nach sich 311 Kotkin selbst zitiert Anna Borodina, Mitarbeiterin des Zentrums für Frauengeschichte und Gender Studies in Tver’, wie folgt: »We did what we do now before the grants. We found out about the foundations later. We’ve been working here openly on gender since 1989.« Kotkin, Innovation, 85. Eine kritische Diskussion der in der Sowjetunion entstandenen Forschungen zu Frauen und Feminismus und dessen, wie diese Arbeiten von Protagonistinnen der postsowjetischen Gender Studies betrachtet und rezipiert wurden, findet sich bei Yvanka B. Raynova, Feministische Philosophie in europäischem Kontext. Gender-Debatten zwischen »Ost« und »West«, Wien 2010, 45–48. 312 Eigentlich: LOTOS, als Akrostychon von »Liga ozvobozˇdenija ot stereotipov« [Liga zur Befreiung von Stereotypen], vgl. Moskovskij centr gendernych issledovanij, Centr, 28ff. 313 Kotkin, Innovation, 76. 314 Das Programm wurde bis 1992 ausgearbeitet, allerdings aufgrund der politischen Umbrüche nie von den Auftraggebern diskutiert, geschweige denn umgesetzt. Vgl. Moskovskij centr gendernych issledovanij, Centr, 8; Kocˇkina, Nabroski, 94. 315 Vgl. Gabriele Griffin, The Institutionalization of Women’s Studies in Europe: Findings from an EU-funded Research Project on Women’s Studies and Women’s Employment, in: Eva Blimlinger u. Therese Garstenauer (Hg.), Women/Gender Studies: Against All Odds, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, 43–54. 316 Kocˇkina, Nabroski, 95.
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gezogen habe. Kausalbeziehungen sind schwer nachzuweisen, zweifellos hat das Moskauer Zentrum aber einige Aktionen gesetzt, die für eine Vernetzung von russischen Initiativen sehr wichtig waren: 1990 wurde das Seminar »Frauen in der Politik, Politik für Frauen« veranstaltet, von dessen Teilnehmerinnen eine überregionale Organisation namens »Unabhängige Demokratische Fraueninitiative«317 gegründet wurde. 1991 und ’92 waren die Mitarbeiterinnen des Zentrums federführend bei der Organisation der beiden unabhängigen Frauenforen in der Stadt Dubna nahe bei Moskau.318 Diese Foren, die auch in meinen Interviews angesprochen werden, stellten starke Impulse für Frauenbewegung und Geschlechterforschung in Russland dar – schon allein, indem sie für viele Aktivistinnen die Möglichkeit boten, einander persönlich zu treffen und auch internationale Aufmerksamkeit in feministischen Kreisen hervorriefen. Das MZGS führte seit den frühen 1990er Jahren Forschungsprojekte durch. Zu nennen wäre hier etwa eine soziologische Studie am Kraftfahrzeugwerk ˇ elny (Tatarstan), in der die Auswirkungen der wirtKAMAZ in Naberezˇnye C schaftlichen Veränderungen auf die Situation der Arbeiter_innen untersucht wurden.319 Gemeinsam mit amerikanischen Kolleginnen wurde in Moskau, Pskov und Saratov eine Studie zu verheirateten und in Lebensgemeinschaft befindlichen Paaren durchgeführt. Eines der Ergebnisse war, dass die Befragten zwar oft relativ konservative Vorstellungen darüber formulierten, wie die Arbeitsteilung im Hinblick auf Erwerbs- und Hausarbeit aussehen sollte, diese Vorstellungen der realen Arbeitsteilung in der Paarbeziehung jedoch nicht entsprachen.320 In den Jahren 1997 und ’98 führten Forscherinnen des MZGS 317 »Nezavisimaja zˇenskaja demokraticˇeskaja iniciativa«, abgekürzt: NeZˇDI. Dieses programmatische Akrostichon bedeutet »Warte nicht«. Einen Überblick über Frauenorganisationen in Russland und anderen postsowjetischen Staaten in den 1990er Jahren, der inzwischen eher von historischer denn aktueller Bedeutung ist, bietet das Handbuch: Natal’ja Abubikirova u. a. (Hg.), Spravocˇnik zˇenskie nepravitelstvennye organizacii v Rossii i SNG [Handbuch Frauen-Nichtregierungsorganisationen in Russland und der GUS], Moskva 1998. 318 Schmitt, Frauenbewegung; Godel, Zivilgesellschaft; L. I. Gavrjusˇina, Vtoroj nezavisimyj zˇenskij forum [Das zweite unabhängige Frauenforum], in: Zoja Chotkina (Hg.), Zˇensˇcˇiny i social’naja politika: Gendernyj aspekt [Frauen und Sozialpolitik: Gender-Aspekt], Moskva 1992, 184–188; Moskovskij centr gendernych issledovanij, Centr, insbes. 11–16 und 20–25. 319 Vgl. Anastasia Posadskaja, Zˇenskie issledovanija v Rossii: perspektivy novogo videnija [Frauenforschung in Russland: Perspektiven einer neuen Vision], in: Marina Malysˇeva (Hg.), Gendernye aspekty social’noj transformacii [Gender-Aspekte der sozialen Transformation], Moskva 1996, 11–24; Natal’ja Rimasˇevskaja, Gender i ekonomicˇeskij perechod v Rossii [Gender und wirtschaftlicher Übergang in Russland], in: Marina Malysˇeva (Hg.), Gendernye aspekty social’noj transformacii [Gender-Aspekte der sozialen Transformation], Moskva 1996, 25–40. 320 Das Buch erschien in einer russischen und in einer amerikanischen Ausgabe – mit leicht unterschiedlichen Titeln, vgl. Natal’ja Rimasˇevskaja u. a., Okno v russkuju cˇastnuju zˇizn’. Supruzˇeskie pary v 1996 godu [Ein Fenster in das russische Privatleben. Ehepaare im Jahr
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unter dem Titel »gendernaja ekspertiza« eine Begutachtung von Gesetzesentwürfen im Hinblick auf potenzielle Diskriminierung von Frauen durch, deren Ergebnisse in vier Bänden publiziert wurden.321 Dazu wurde im Sommer 1997 in Rybinsk, einer Provinzhauptstadt im Kreis Jaroslavl’, eine umfangreiche Studie durchgeführt. Unter dem Titel »Frauenrechte in Russland: Untersuchung der realen Praxis ihrer Einhaltung sowie des Massenbewusstseins« wurde mithilfe unterschiedlicher Forschungstechniken der Zustand im Bereich von Grund-, Arbeits- sowie reproduktiven Rechten erhoben.322 Die Ergebnisse zeigten eine sich nur langsam entwickelnde Rechtskultur in der postsowjetischen Gesellschaft und eine Beständigkeit von Geschlechterstereotypen, die Frauen benachteiligen. Die Konferenzen, die das Zentrum veranstaltete, führten Geschlechterforscher_innen aus dem gesamten postsowjetischen Raum zusammen; auch Personen von außerhalb Russlands nahmen an den Tagungen teil.323 Ein weiterer Veranstaltungstyp, die Sommerschulen für Gender Studies, werden in einem eigenen Unterkapitel besprochen. Die Mitarbeiterinnen des MZGS sahen die Aufgabe des Instituts in politikrelevanter Auftragsforschung und Expertise, die als Grundlage für sozialpolitische Entscheidungen dienen soll. Zu seinem 15-jährigen Bestehen schrieben Ol’ga Voronina, Elena Ballaeva und Larisa Lunjakova: 1996], Moskau 1999 sowie Dana Vannoy u. a., Marriages in Russia: Couples During the Economic Transition, Westport 1999. 321 Vgl. Elena Ballaeva, Gendernaja ekspertiza zakonodatel’stva RF: Reproduktivnye prava zˇensˇcˇin Rossii [Gender-Expertise der Gesetzgebung der Russischen Föderation: Reproduktive Rechte der Frauen Russlands] Moskva 1998; Marina Baskakova, Ravnye vozmozˇnosti i gendernye stereotipy na rynke truda [Gleiche Chancen und Genderstereotypen am Arbeitsmarkt], Moskva 1998; Natal’ja Kosmarskaja, »Zˇenskoe izmerenie« vynuzˇdennoj migracii i migracionnoe zakonodatel’stvo Rossii [Die »weibliche Dimension« unfreiwilliger Migration und die Migrationsgesetzgebung Russlands], Moskva 1998; Ol’ga Voronina, Gendernaja ekspertiza zakonodatel’stva RF o sredstvach massovoj informacii [GenderExpertise der Gesetzgebung der Russischen Föderation über Massenmedien], Moskva 1998. 322 Moskovskij centr gendernych issledovanij (Hg.), Prava zˇensˇcˇin v Rossii: issledovanie real’noj praktiki ich sobljudenija i massovogo soznanija [Frauenrechte in Russland: Untersuchung der realen Praxis ihrer Einhaltung und des Massenbewusstseins], 2 Bde., Moskva 1998. 323 Nur z. B.: eine Tagung zur Koordination russischer Geschlechterforschung »Gender Studies in Russland: Probleme des Zusammenwirkens und Entwicklungsperspektiven« (Jänner 1996), sowie jene zum 15-jährigen Bestehen des Zentrums »Gender Studies: Menschen und Themen, die die Gemeinschaft vereinen«. Die Tagungsbeiträge wurden veröffentlicht, vgl. Moskovskij centr gendernych issledovanij (Hg.), Materialy konferencii »Gendernye issledovanija v Rossii: Problemy vzaimodejstvija i perspektivy razvitija« [Materialien der Konferenz »Gender Studies in Russland: Probleme des Zusammenwirkens und Entwicklungsperspektiven«], Moskva 1996; Ol’ga Voronina, Elena Ballaeva u. Larisa Lunjakova (Hg.), Gender kak instrument poznanija i preobrazovanija obsˇcˇestva [Gender als Instrument der Erkenntnis und Umgestaltung der Gesellschaft], Moskva 2005.
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»Die Spezifik des MZGS als wissenschaftliche Schule besteht darin, dass seine Forschungen nicht auf die Untersuchung von Gender-Theorien und -Methodologien abzielen, sondern auf deren Anwendungen im Prozess der Analyse aktueller sozialer Probleme der russischen Gesellschaft.«324
Diese Expertise ist allerdings inzwischen nicht mehr nachgefragt. Aus Aussagen von ehemaligen Mitarbeiterinnen des Zentrums geht eine gewisse Enttäuschung darüber hervor, dass seine politische Bedeutung – im Hinblick auf Beratungstätigkeit für staatliche Organisationen ebenso wie für die russische Frauenbewegung – im Vergleich zu den Anfangsjahren abgenommen hat.325 Bis 2011 wurde das MZGS seitens internationaler Förderfonds, vor allem der John D. and Katherine MacArthur Foundation, finanziell unterstützt. Bis 2013 existierte es noch weiter im Rahmen des Instituts für Sozio-Ökonomische Bevölkerungsprobleme.326 Ein Laboratorium für Gender Studies als Abteilung des Instituts findet sich auf dessen Website bis dato – als Arbeitsschwerpunkte werden Probleme sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, Gender-Aspekte des Gesundheitswesens sowie der Sozialpolitik in den russischen Regionen, die Dynamik der Entwicklung der Familie als soziale Institution sowie die Modernisierung und das Humankapital Russlands angegeben.327 Heute besteht das MZGS, das nie offiziell geschlossen wurde, allerdings nur mehr virtuell in Form eines Internetportals, das als Archiv für postsowjetische Gender Studies dient. Die letzten Neueinträge stammen aus dem Jahr 2014.328
324 Voronina/Ballaeva/Lunjakova, Na poroge, 8, Übersetzung aus dem Russischen TG. 325 Ol’ga Voronina meinte bei einer Podiumsdiskussion 2005: »Ich sehe keine Perspektive einer ernsthaften Institutionalisierung von Gender Studies in unserem postsowjetischen Gebiet. Ich sehe keine Perspektiven für einen konstruktiven Dialog mit der Macht. Ich sehe keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die politische Situation mit so geringen Kräften, wie sie hier vorhanden sind – in Abwesenheit einer Frauenbewegung, in Abwesenheit einer ausreichend entwickelten eigentlich feministischen Theorie.« Ihre Hoffnung setzt Voronina eine sehr langfristige Entwicklung, vgl. Politicˇeskoe voobrazˇaemoe, 14, Übersetzung aus dem Russischen TG. Sergej Usˇakin wird im Bericht von Kotkin mit folgendem Statement zitiert: »After 1998, Moscow’s dominance ended, and regional centers grew in importance: Saratov, Samara, St. Petersburg, Minsk.« Kotkin, Innovation, 110. 326 Persönliche Mitteilung per Mail von Ol’ga Voronina, der ehemaligen Leiterin des Zentrums, 23. 3. 2017. 327 Website des Laboratoriums für Genderforschung beim Institut für Sozioökonomische Bevölkerungsprobleme der Russischen Akademie der Wissenschaften, unter : http:// www.isesp-ras.ru/structure/lab/gender/, Zugriff: 31. 3. 2018. 328 Vgl. die Webplattform des Moskauer Zentrums für Gender Studies, unter : www.gender.ru, Zugriff: 31. 3. 2018.
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4.1.2 Sommerschulen329 Bis Mitte der 1990er Jahre waren in ganz Russland auch außerhalb des Moskauer Zentrums für Gender Studies einschlägige Arbeiten verfasst worden. Unter Gender Studies wurden allerdings die unterschiedlichsten Dinge verstanden, von traditioneller Familiensoziologie sowjetischen Typs bis zu dekonstruktivistischen theoretischen Zugängen.330 Zudem konnte man feststellen, dass intertextuelle Bezugnahmen auf andere Publikationen in Arbeiten von russischen Geschlechterforscher_innen zu dieser Zeit in der Regel amerikanische oder westeuropäische, kaum aber russische Autor_innen betrafen. Gegenseitige Kritik innerhalb der in Entstehung begriffenen Community von Gender-Forscher_innen kam bis in die späten 1990er Jahre praktisch nicht vor, jedenfalls nicht in publizierter Form.331 Das entspricht Verhaltensmustern wie sie Michail Sokolov und Kirill Titaev für die zweigeteilten russischen Sozial- und Geisteswissenschaften, insbesondere die der »provinziellen« Richtung, beschrieben haben.332 Die russischen Sommerschulen für Gender Studies schafften in dieser Situation Abhilfe: Forscher_innen sollten die Möglichkeit bekommen, Arbeiten von Kolleg_innen aus dem eigenen Land kennenzulernen und zu diskutieren, es galt, einen gemeinsamen Wissensstand zu erreichen. Die ersten drei dieser Sommerschulen wurden vom MZGS mit Unterstützung der Ford Foundation organisiert: 1996 in Tver’, 1997 in Togliatti und 1998 in Taganrog. Diese jeweils 14-tägigen Veranstaltungen dienten dem Austausch zwischen etablierten Forscher_innen, Nachwuchswissenschafter_innen und Student_innen in ganz Russland und der GUS. Aber auch einige Wissenschafter_innen und Vertreterinnen von Frauenorganisationen aus dem Ausland wurden eingeladen.333
329 Die Sommerschulen sind kein Spezifikum der Gender Studies. Stephen Kotkin berichtet, dass solchen Schulen von der Ford Foundation und ähnlichen Institutionen auch in der Soziologie, Ökonomie und den Politikwissenschaften finanziert wurden. Sie gelten als eine der effektivsten Fördermaßnahmen, vgl. Kotkin, Innovation, 34. 330 Diskussionen darüber, was »Gender« in der und für die Genderforschung in Russland ˇ to zˇe bedeuten soll, standen etwa 15 Jahre später immer noch auf der Tagesordnung, vgl. C takoe. 331 Zwei kritische Artikel sind etwa Barcˇunova, E˙goisticˇeskij gender ; Sergej Usˇakin, Politika Gendera, ili o nekotorych napravlenijach v rossijskom feminizme [Gender-Politik, oder über einige Richtungen im russischen Feminismus], in: We/My. Dialog Zˇensˇcˇin [Wir/Wir. Dialog der Frauen], 6 (1998), 32–35. 332 Vgl. Kapitel 3.5. 333 Bei der Sommerschule in Valdaj 1996 war beispielsweise Iskra Schwarcz aus Wien anwesend, bei einer der späteren Marja Rytkönen aus Tampere, vgl. Moskovskij centr gendernych issledovanij, Materialy pervoj rossijskoj letnej sˇkoly po zˇenskim i gendernym issledovanijam [Materialien der ersten russischen Sommerschule über Frauen- und Gender-
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Teilnehmer_innen wurden auf Basis ihrer Bewerbungen ausgewählt. Die Themen der Sommerschulen deckten ein breites Spektrum ab. Zum einen ging es um theoretisches und methodisches Basiswissen, zum anderen wurde demonstriert, was Geschlechterforschung in unterschiedlichsten Fächern (Geschichtswissenschaft, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Literaturwissenschaft, Philosophie, Pädagogik, Psychologie) leisten konnte. Besonderer Wert wurde auch auf die informelle, egalitäre Atmosphäre der Sommerschulen gelegt, die einen Kontrast zu bisher bekannten, hierarchischen universitären Umgangsformen boten.334 Die neuen Inhalte waren mitunter nicht leicht verständlich. Eine der Respondentinnen im Bericht von Temkina und Zdravomyslova beschreibt ihre Erfahrung bei der ersten Sommerschule: »I did not understand a lot [laughs]. The language was unknown for me … It was western transliteration, but there was no other way. This was not fully ›perevareno‹, but teachers could not speak more clearly«.335 Während die erste Sommerschule noch hauptsächlich von Moskauer_innen, überwiegend Mitarbeiterinnen des MZGS, bestritten wurde, erweiterte sich das regionale Einzugsgebiet der folgenden beiden Veranstaltungen. Für die erste Sommerschule trafen Bewerbungen aus 19 Städten ein, zwei Jahre später waren es bereits 64.336 In Tver’ und Samara, waren die Sommerschulen ausschlaggebend für die spätere Gründung von Zentren für Gender-Forschung. Die Materialien, speziell die Dokumentation der ersten Sommerschule in Tver’337 waren für die russische Geschlechterforschung sozusagen ein erstes Standardwerk:
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forschung], Moskva 1997; Zoja Chotkina, Natal’ja Pusˇkareva u. Elena Trofimova (Hg.), Zˇensˇcˇina Gender Kul’tura [Frau Gender Kultur], Moskva 1999, 321. Chotkina spricht von einer Gemeinschaft, basierend auf »Prinzipien der Nichthierarchisiertheit und des gegenseitigen Verstehens, die feministische Frauen- und Genderforschung von jeder anderen akademischen wissenschaftlichen Ausrichtung unterscheiden«, vgl. Zoja Chotkina, Al’ternativnye programmy gendernogo obrazovanija v Rossii [Alternative Gender-Lehrprogramme in Russland], in: Ol’ga Chasbulatova (Hg.), Gendernye otnozˇenija v Rossii: istorija, sovremennoje sostojanije, perspektivy [Geschlechterbeziehungen in Russland: Geschichte, gegenwärtiger Zustand, Perspektiven], Ivanovo 1999, 201–205, 203, Übersetzung aus dem Russischen TG. Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 18. Mit »perevareno«, wörtlich übersetzt »verdaut«, ist gemeint, dass das fremde Fachvokabular (noch) nicht in zufriedenstellender und verständlicher Weise ins Russische übertragen worden war. Man fühlt sich an Doris Bachmann-Medicks Überlegungen zum »dritten Raum« in Zusammenhang mit Übersetzung erinnert. Dieser zeichnet sich »durch eine instabile Kommunikationslage aus, die aus der Deplazierung und Dekontextualisierung von Personen und Gegenständen sowie aus dem Aufeinandertreffen kulturdifferenter Verhaltensweisen eine eigene Spannung und Beweglichkeit gewinnt«. Doris Bachmann-Medick, Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung, in: Claudia Breger u. Tobias Döring (Hg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, 19– 36, 22. Chotkina, Programmy, 202. Moskovskij centr gendernych issledovanij, Materialy letnej sˇkoly.
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»This small green brochure is still referred to as the first source for gender education available in Russian language.«338 In Foros (Krim, Ukraine) fanden bereits mehrmals Sommerschulen für postsowjetische Geschlechterforschung statt (zuletzt 2009). Temkina und Zdravomyslova unterscheiden zwei Typen von Sommerschulen: Während die einen (etwa jene in Tver’, Togliatti und Taganrog) eher den Charakter eines »Pionierlagers« hatten, also eher informell abliefen, waren die anderen (wie z. B. jene in Foros, Ukraine) »elitär«, das heißt, die Auswahlkriterien für die Teilnahme waren strenger und es wurde Wert auf die Einladung prominenter internationaler Vortragender gelegt.339 Sergej Usˇakin, ein Sozialwissenschafter aus Barnaul, der inzwischen in den USA lebt, sieht die postsowjetische Geschlechterforschung sehr kritisch, weil sie aus seiner Sicht langweilig geworden ist und sich nicht nachhaltig entwickelt hat340 Er räumt aber ein: »What was good about gender studies in Russia were the summer schools […], which did more for field development than the translations.«341
4.1.3 Personen Temkina und Zdravomyslova entwerfen versuchsweise ein Kollektivporträt der ersten russischen Geschlechterforscher_innen. Es handelte sich um Angehörige der sowjetischen Intelligenzija, Akademiker_innen zumeist nicht der ersten Generation.342 Sie hatten in den frühen 1990er Jahren bereits eine gewisse Reputation in ihrem Fach erworben, manchmal sogar mit Arbeiten zu ›Frauenthemen‹, ehe von ›Gender‹ die Rede gewesen war : Natal’ja Pusˇkareva in Moskau und Valentina Uspenskaja in Tver’ hatten über die Geschichte russischer Frauen geforscht, Ol’ga Voronina über die ökonomische Situation von Frauen in den USA und Anastasia Posadskaja über jene von Frauen in der Sowjetunion. Bei einigen (z. B. Ol’ga Voronina) war das Thema ihrer Forschungen im Ausland verortet, was implizierte, dass sie auch Fremdsprachen (vor allem Englisch, seltener Deutsch oder Französisch) beherrschten. Sie waren offen für Kontakte
338 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 19. Weitere Sommerschulen wurden in den folgenden Jahren laut Temkina und Zdravomyslova in Ekaterinburg, Murmansk, Ivanovo, St. Petersburg und Samara veranstaltet, inzwischen nicht mehr vom MZGS, sondern von lokalen Zentren und Universitäten. 339 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 19. 340 Vgl. Do i posle gendera [Vor und nach Gender], Interview mit Sergej Usˇakin, in: Polit.ru, 21. 6. 2012, unter : http://polit.ru/article/2012/06/21/ushakin/, Zugriff: 31. 3. 2018. 341 Kotkin, Innovation, 110. 342 Zu den biografisch-habituellen Charakteristika postsowjetischer Intellektueller vgl. Gapova, Znanie, 302 und Kapitel 3.5 dieses Bandes.
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mit ausländischen Forscher_innen und reisten ins Ausland, sobald sich dazu Gelegenheiten boten.343 Die relativ erfolgreiche Institutionalisierung von Gender Studies in Russland war in vielen Fällen engagierten und charismatischen Einzelpersonen zu verdanken, die originelle Ideen oder Organisationstalent hatten und darüber hinaus andere dazu inspirierten, sich mit Gender Studies auseinanderzusetzen.344 »Jede Gruppe und jedes Zentrum hatte seine charismatischen Anführer, seine intellektuelle und disziplinäre Geschichte.«345 Persönliche Netzwerke erhöhten die Chancen einer erfolgreichen Etablierung von Gender Studies. Julija Chmelevskaja und Ol’ga Nikonova beschreiben in einem Artikel des Jahres 2003 Ol’ga Chasbulatova, die frühere Leiterin des Zentrums für Gender-Forschung an der staatlichen Universität Ivanovo:346 »Ol’ga Anatol’evna Chasbulatova ist Linguistin. Fünf Jahre vor Beginn der Perestroika erhielt sie ihre zweite Hochschulbildung an der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der gleichnamigen Akademie der UdSSR – eine der wichtigsten Parteikaderschmieden in der Sowjetunion. Ihre Promotion und Habilitation behandelten historische Themen, konkret die Geschichte der Frauenbewegung im vorrevolutionären Russland. Chasbulatova konnte durch ihre Initiative und Entschlossenheit verschiedene interuniversitäre Projekte begründen, die durch das Bildungsministerium finanziert wurden. Dadurch wurde das ›Ivanover Zentrum für gender studies‹ bekannt. In der jüngsten Zeit wurde Chasbulatova Mitglied im Programm Frauennetzwerk des Soros-Fonds.«347
Wenn die Bedeutung einzelner Personen für die Einführung von Gender Studies so groß ist, kann von ihnen auch deren Weiterbestehen abhängen, vor allem, wenn keine ähnlich charismatischen Nachfolger_innen vorhanden sind, wie etwa im Falle der Historikerin Valentina Uspenskaja: »I cannot imagine what will happen with Gender studies in Tver when Valentina Uspenskaya will be retired. She often threatens us by this. But hopefully she will stay long«348 Auch in meinen Interviews ist häufig die Rede von charismatischen oder »besonderen« Personen, wenn über Kooperationspartner_innen gesprochen wird: Persönlichkeiten,
343 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 19f. 344 Meine Befragung Moskauer GenderforscherInnen aus dem Jahr 1999 enthielt auch die Frage: Wer oder was brachte Sie dazu, sich mit Gender Studies zu befassen? Zwei der 28 Respondent_innen nannten als Antwort konkrete Personen, vgl. Garstenauer, Geschlechterforschung. 345 Kocˇkina, Nabroski, 126, Übersetzung aus dem Russischen TG. 346 Über den Hinauswurf des Zentrums für Gender Studies aus der Universität Ivanovo im Jahr 2015 berichte ich im Abschnitt über den Standort Ivanovo. 347 Julija Khmelevskaja u. Olga Nikonova, Gender Studies in der russischen Provinz, in: L’Homme, Z.F.G., 14, 2 (2003), 357–365, 358f. 348 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 23.
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ohne die eine Kooperation gar nicht oder nicht in dieser Qualität möglich gewesen wäre.
4.1.4 Frauen-NGOs »In order to reconstruct the place of Women’s NGOs in the worknet of RGS we take into account a comparative perspective. In the USA and Europe women’s feminist movement was a generating field of women and gender studies. Compared to it the women’s movement and especially the feminist movement in Russia is weak and non-influential.«349
Trotz dieser illusionslosen Einschätzung der gesellschaftspolitischen Stärke einer russischen Frauenbewegung konstatieren Temkina und Zdravomyslova doch, dass diese Bewegung in vielerlei Hinsicht die Entwicklung von Gender Studies in Russland vorantrieb. Vielfach waren und sind Gender-Forscher_innen Wissenschafter_innen und Aktivist_innen in einer Person. Das traf jedenfalls in den späten 1980er und frühen ’90er Jahren zu, eine Periode, die vielfach, auch in meinen Interviews, als eine der Euphorie und intensiven zivilgesellschaftlichen Aktivität beschrieben wird.350 Die bereits erwähnten Frauenforen in Dubna waren Meilensteine für die neue russische Frauenbewegung und die neu entstehende Geschlechterforschung.351 Doch nicht nur die unabhängige Frauenbewegung soll hier genannt werden, die sich von den spätsowjetischen Frauenräten (also der offiziellen Frauenbewegung)352 abgrenzte. Im Fall der bereits erwähnten Professorin an der Universität Ivanovo Ol’ga Chasbulatova waren ihre Verbindungen zur offiziellen Frauenbewegung respektive deren Nachfolgeorganisationen sehr förderlich für die Etablierung von Geschlechterforschung an der dortigen staatlichen Universität.353 349 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 23. 350 Das 1993 gegründete Konsortium der Frauen-NGOs (damals noch der GUS-Staaten) besteht bis heute und besteht aus über hundert Organisationen. Seine Aufgaben betreffen die Wahrung von Frauenrechten und Förderung von qualifizierten Frauen, vgl. die Beschreibung des Konsortiums auf seiner Website: http://wcons.net/en/about/, Zugriff: 31. 3. 2018. 351 Danach gab es keine Foren dieser Art mehr. Ein Grund dafür lag, so Anastasia Posadskaja, in der Erschöpfung der Veranstalterinnen nach so viel organisatorischem Aufwand, vgl. Galina Petriasˇvili, Interv’ju. Asja Posadskaja: Na barrikadach i doma [Interview : Asja Posadskaja: Auf den Barrikaden und zu Hause], in: We/My. Dialog Zˇensˇcˇin [Wir/Wir. Dialog der Frauen], 1 (2005), 36–43, 40. 352 Vgl. Elena Zdravomyslova, Perestroika and feminist critique, in: Aino Saarinen, Kirsti Ekonen u. Valentina Uspenskaia (Hg.), Women and Transformation in Russia, Abingdon/ New York 2014, 111–126, 112f. 353 Diese Unterscheidung zwischen »traditioneller« und »feministischer« Frauenbewegung charakterisierte die Szene in den 1990er Jahren. Das hatte auch Auswirkungen auf den Zugriff auf ausländische Fördermittel, für deren Beantragung man besser ein bestimmtes
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Im Zusammenhang mit meinem Forschungsfokus ist festzustellen, dass die im Lauf der 1990er Jahre entstandenen Frauenorganisationen großes Interesse bei internationalen Forscher_innen hervorriefen: einerseits als Objekt der Forschung, andererseits, gerade bei Wissenschafter_innen, die sich zugleich als Frauenbewegungsaktivist_innen verstehen, auch als potenziell Gleichgesinnte, mit denen man solidarisch ist. Viele jener, die sich außerhalb Russlands mit russlandbezogener Geschlechterforschung beschäftigen, sehen sich auch als Feminist_innen. Allerdings gibt es Hinweise, dass gegenwärtig zwischen akademischer Geschlechterforschung und feministischen Bewegungen in Russland wenig Austausch besteht.354 Auch die Rolle ›westlicher‹ feministischer Ideen scheint für die lokale Praxis von Aktivist_innen heute von geringer Bedeutung zu sein.355
4.1.5 Zentren für Gender Studies Zentren für Geschlechterforschung implizieren einen gewissen Grad an Etabliertheit des Forschungsfeldes. Sein Bestehen hängt dann nicht mehr nur von einzelnen Personen ab, die ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre wieder ändern können, die Universität verlassen oder aus anderen Gründen aufhören, sich mit Geschlechterforschung zu beschäftigen. Temkina und Zdravomyslova beschreiben die übliche Struktur solcher Zentren als bestehend aus einer Leiterin, zwei bis drei Mitarbeiter_innen und einer administrativen Kraft. Wenn die betreffenden Wissenschafter_innen in Forschung und Lehre involviert sind, haben sie meistens seitens der betreffenden Universität Räumlichkeiten zur Verfügung.356 Die im Folgenden beschriebenen Zentren entnehme ich einem von Elena Vokabular beherrschte. Rebecca Kay schreibt dazu: »Women who had little or no exposure to Western models and experiences were understandably unlikely to use such terminology at all. As a result, they were at times dismissed and ignored as insufficiently feminist and therefore not worthy of support or attention, both by western activists and agents and by the more ›feminist‹ or rather more westernized und subsequently more powerful and better funded, Russian women’s organizations.« Kay, Women, 128. 354 Vereinzelte Ausnahmen bilden etwa populäre Diskussionsveranstaltungen über Feminismus und Sexismus anlässlich der Wahl einer »Miss Universität« in Tver’, die von der Historikerin Alisa Klots veranstaltet wurde, vgl. Brejut li feministki nogi? Vse, cˇto vy choteli znat’ o feminizme, no bojalis’ sprosit’ [Rasieren sich Feministinnen die Beine? Alles, was Sie über Feminismus wissen sollten, aber sich nicht zu fragen wagten], in: Novyj kompan’on [Neuer Kompagnon], 21. 3. 2017, unter : https://www.newsko.ru/articles/nk-3832117.html, Zugriff: 31. 3. 2018. 355 Vgl. Vanya Solovey, »Global Standards« and »Internalized Coloniality«: How Feminists in Russia See the »West«, Vortrag bei der Tagung »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity – Queering Concepts on/from a Post-Soviet Perspective«, Wien, 20.–23. 9. 2017. 356 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 28.
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Kocˇkina und anderen erstellten »Ressourcenkatalog« zu Gender-Forschungsausbildung in Russland aus dem Jahr 2003, ergänzt um einige seither erfolgte Gründungen.357 Viele der Zentren für Gender-Forschung in Russland sind oder waren, auch wenn sie räumlich und/oder administrativ zu einer Universität oder der Akademie der Wissenschaften gehören, auch als nichtstaatliche Organisation registriert. Dies ermöglichte ihnen, Mittel von internationalen Förderfonds zu beantragen, was für einige Zeit eine erfolgreiche Strategie darstellte.358 Eine Gesetzesänderung 2006 erschwerte durch bürokratische und steuerliche Auflagen die Existenz von nichtstaatlichen Organisationen in einem Ausmaß, das vielfach zu deren Auflösung führte.359 Noch drastischer wirkte sich das 2012 eingeführte und 2014 verschärfte Gesetz gegen »ausländische Agenten« aus.360 Als solche gelten Organisationen, die sich in Russland politisch betätigen – die Veranstaltung öffentlicher Diskussionen gilt bereits als politische Betätigung im Sinne des Gesetzes – und von Regierungen, Organisationen oder Einzelpersonen außerhalb Russlands materielle Unterstützung erhalten. Eine Organisation, die in das Register der »ausländischen Agenten« des Justizministeriums eingetragen ist, hat zum einen mit bürokratischen Schikanen zu rechnen. Zum anderen, und das ist noch gravierender, leidet die Reputation einer Organisation, die als »ausländischer Agent« gebrandmarkt ist, sodass es etwa schwieriger wird, empirisch zu forschen oder mit Massenmedien zusammenzuarbeiten.361 Neuer357 Elena Kocˇkina, Larisa Fedorova u. Marina Pugacˇeva, Katalog »Resursy : gendernoe obrazovanie v Rossii« [Katalog: »Ressourcen für Gender-Ausbildung in Russland«], Moskva 2003, 126f. 358 Zur Unterstützung russischer Organisationen durch ausländische Förderinstitutionen, deren Anliegen stets war, auf diesem Weg in Russland eine Zivilgesellschaft aufzubauen, vgl. etwa Sarah L. Henderson, Building Democracy in Contemporary Russia. Western Support for Grassroots Organizations, Ithaca/London 2003 sowie Lisa McIntosh Sundstrom, Funding Civil Society. Foreign Assistance and NGO Development in Russia, Stanford 2006. Speziell mit der Förderung von Frauenorganisationen hat sich James Richter beschäftigt, vgl. James Richter, Promoting Civil Society? Democracy Assistance and Russian Women’s Studies, in: Problems of Post-Communism, 40, 1 (2002), 30–41. 359 Gesetz vom 10. 1. 2006 zur Regulierung der Tätigkeit von NGOs auf russischem Boden; vgl. Angelika Nußberger u. Carmen Schmidt, Vereinsleben auf Russisch oder Don Quichote und die russische Bürokratie, in: Russlandanalysen, 138 (2007), 2–6. 360 Föderales Gesetz Nr. 121-F3 vom 20. 7. 2012 »Über die Eintragung von Änderungen in einzelne Gesetzesakte der Russischen Föderation betreffend die Regulierung der Tätigkeit nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion ausländischer Agenten ausfüllen.« Seit 2014 können Organisationen auch ohne Gerichtsbeschluss in das Register der ausländischen Agenten eingetragen werden. 361 Vgl. das Interview mit Viktor Voronkov vom Zentrum für Unabhängige Sozialforschung Sankt Petersburg: Trudno li byt’ inostrannym agentom? [Ist es schwer, ein ausländischer Agent zu sein?], in: Gorod (812), 8. 8. 2016, unter : http://www.online812.ru/2016/08/08/ 003/, Zugriff: 31. 3. 2018. Eine Liste von feministischen Organisationen, die in das Register eingetragen wurden, findet man in Janet Elise Johnson, Feminist Mobilization: How Baitand-Switch Male Dominance Undermines Feminism, and How Feminists Fight Back, in:
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dings wird auch darüber berichtet, dass der russische Inlandsgeheimdienst FSB an Mitarbeiter_innen solcher Organisationen herantritt und sie als Informant_innen anzuwerben sucht.362
Moskau Im Folgenden geht es um die in Moskau existierenden Zentren für GenderForschung an Universitäten und Instituten der Akademie der Wissenschaften, abgesehen von dem bereits erwähnten MZGS. 1995 entstand an der Staatlichen Lomonosov-Universität unter der Leitung von Irina Kostikova eine Forscherinnengruppe für »Feminologie«, die eines der ersten russischsprachigen Einführungslehrbücher für Gender Studies verfasst hat.363 1998 erwuchs aus dieser Gruppe ein »Laboratorium für die Entwicklung von Gender-Pädagogik«, das bis heute Teil der pädagogischen Fakultät ist. An der Staatlichen Linguistischen Universität besteht seit 1998 ein Zentrum für Gender-Forschung in der Sprachwissenschaft, das regelmäßig international besuchte Tagungen veranstaltet.364 Laut seiner Selbstbeschreibung ist das Zentrum an Ansätzen der kognitiven Linguistik, der Diskursforschung und des sozialen Konstruktivismus orientiert. Sprache dient also als Instrument, das auch Zugang zu Wissen über nichtlinguistische Phänomene ermöglichen soll.365 In der postsowjetischen Linguistik werden geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sprache mehrheitlich als extralinguistischen Faktoren geschuldet betrachtet und aus diesem Grund nicht als Gegenstand ›echter‹ Sprachforschung erachtet.366 Generell ist die strukturalistische Tradition dominierend – poststrukturalistische Zugänge, die
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dies., The Gender of Informal Politics. Russia, Iceland, and Twenty-First Century Male Dominance, Basingstoke 2017, 109–140, 119. Das Ansuchen um russische Staatsbürgerschaft des am Zentrum für Unabhängige Sozialforschung tätigen, aus Kasachstan stammenden Soziologen Evgenij Shtorn wurde Anfang des Jahres 2018 abgelehnt, weil er zu einer solchen ›Zusammenarbeit‹ nicht bereit war. Er musste daraufhin das Land verlassen und lebt nun in Irland, vgl. Alexander Kondakov, The Rise of Russia’s Vice Squad, in: Open Democracy, 2. 2. 2018, unter : https://www.opende mocracy.net/od-russia/alexander-kondakov/the-rise-of-russias-vice-squad, Zugriff: 31. 3. 2018. Irina Kostikova (Hg.), Vvedenie v gendernye issledovanija [Einführung in die Gender Studies], Moskva 2000. Vgl. Irina Chaleeva (Hg.), Gender: Jazyk, Kul’tura, Kommunikacija [Gender : Sprache, Kultur, Kommunikation], Moskva 2001; Alla Kirilina u. Marija Tomskaja, Lingvisticˇeskie gendernye issledovanija [Linguistische Genderforschungen], in: Otecˇestvennye zapiski [Vaterländische Notizen], 2 (2005), unter : http://magazines.russ.ru/oz/2005/2/2005_2_7. html, Zugriff: 31. 3. 2018. Vgl. die Website des Laboratoriums, unter : http://scodis.ru/gender/, Zugriff: 31. 3. 2018. Vgl. Aleksandr Persˇaj, Kolonizacija naoborot: gendernaja lingvistika v byvsˇem SSSR [Umgekehrte Kolonisation: Genderlinguistik in der ehemaligen UdSSR], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 7, 8 (2002), 236–249, 243.
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von einer wechselseitigen Beeinflussung von Sprache und außersprachlicher Realität ausgehen, konnten sich bisher wenig durchsetzen.367 Die Verwendung des generischen Maskulinums ist sehr verbreitet und wird im allgemeinen Sprachgebrauch als korrekt und normal betrachtet, während die grammatikalisch weibliche Form als markiert und teilweise abwertend wahrgenommen wird.368 Geschlechtergerechte Sprache und die Sichtbarmachen von Frauen auf sprachlicher Ebene kommen recht selten vor und werden meistens als unnötig betrachtet.369 An der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität befassen sich Forscherinnen wie Galina Zvereva370 oder Ol’ga Vajnsˇtajn schon seit den 1990er Jahren mit Geschlechterforschung.371 Im Jahr 2006 wurde an dieser Universität ein Zentrum für Gender-, Familien- und Jugendforschung eingerichtet, dessen politische Leitung bis zu ihrem Tod 2014 Ljudmila Sˇveceva, Vizebürgermeisterin Moskaus und studierte Politologin, oblag, während die Ethnologin Marija Kotovskaja das Zentrum bis heute wissenschaftlich leitet.372 Auch an Instituten der Akademie der Wissenschaften bestehen Zentren für 367 Vgl. Dennis Scheller-Boltz, Russian Gender Linguistics Forced to Respond. Can Women Be Made Visible in Communication? (With Examples from Polish, Czech, and Slovenian), in: Olena Petrivna Levcˇenko (Hg.), Ljudina. Komp’juter. Komunikacija. Zbirnik naukovich prac‹ [Mensch. Computer. Kommunikation. Wissenschaftlicher Sammelband], L’viv 2015, 95–102, 96. 368 Vgl. Dennis Scheller-Boltz, From Isolation to Integration. Gender and Queer Research in Slavonic Linguistics: Challenges, Approaches, Perspectives. An Introduction, in: ders. (Hg.), New Approaches to Gender and Queer Research in Slavonic Studies, Wiesbaden 2015, 15–31, 16f. 369 Vgl. dazu Maksim Krongauz, Gendernaja paradigma nazvanij ljudej [Gender-Paradigma bei Personenbezeichnungen], in: Scheller-Boltz (Hg.), New Approaches to Gender and Queer Research in Slavonic Studies, Wiesbaden 2015, 165–171, 165; Sasˇa Mitrosˇina, »Doktorka, avtorka, redaktorka«: pocˇemu vsech tak besjat feminitivy [»Doktorin, Autorin, Redakteurin«: Warum Feminitive alle so wütend machen], in: [email protected], 31. 3. 2018, unter : https://lady.mail.ru/article/497578-doktorka-avtorka-redaktorka-pochemu-vsehtak-besjat-feminitivy/, Zugriff: 31. 3. 2018. 370 Zvereva hat einen bemerkenswerten Artikel zur Rezeption ›westlicher‹ oder allgemeiner ›fremder‹ Inhalte im postsowjetischen Russland verfasst, zu denen u. a. auch Gender Studies zählen. Sie unterscheidet hier die Ablehnung des »Fremden«, die kritiklose Übernahme als »Eigenes« und die reflektierte und differenzierte Auseinandersetzung mit dem von außen Kommenden als »Anderem«, vgl. Galina Zvereva, »Das Fremde, das Eigene, das Andere …«. Feministische Kritik und Genderforschung im postsowjetischen intellektuellen Diskurs, in: Cheaur8/Heyder, Russische Kultur, 71–98. 371 Ol’ga Vajnsˇtajn u. Natal’ja Kigaj, Vyssˇije zˇenskije kursy pri Rossijskom Gosudarstvennom Gumanitarnom Universitete: Opyt pervogo goda raboty [Höhere Frauenkurse an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität: Erfahrung des ersten Arbeitsjahres], in:«Zˇensˇcˇiny Rossii: vcˇera, segodnja, zavtra« [Frauen Russlands: Gestern, heute, morgen], Moskva 1994, 77–79. 372 Kocˇkina, Nabroski, 127. Eine derartige Arbeitsteilung in der Leitung eines Zentrums für Genderforschung ist mir ansonsten nicht bekannt.
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Gender Studies, so etwa am Institut für Ethnologie und Anthropologie, an dem die Historikerin Natal’ja Pusˇkareva eine Abteilung für ethnologische GenderForschung (sektor e˙tnogendernych issledovanij) leitet. Pusˇkareva ist eine in der postsowjetischen wissenschaftlichen Community ebenso wie international373 angesehene Spezialistin für die Geschlechtergeschichte Russlands seit dem Mittelalter.374 Sie ist zudem die Präsidentin der für die Vernetzung sehr wichtigen Russischen Assoziation der Forscher für Frauengeschichte (Rossijskaja Associacija Issledovatelej Zˇenskoj Istorii), das heißt des russischen Zweigs der International Federation for Research in Women’s History. Am Institut für Ethnologie und Anthropologie arbeitete auch der 2011 verstorbene Sexualwissenschafter Igor’ Kon, Pionier der Forschung über Kulturen der Sexualität, Homosexualität und andere in der Sowjetunion und in den Jahren darüber hinaus verpönte Themen.375 Die Nationale Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaftswissenschaften (Vyssˇaja Sˇkola E˙konomiki), die auch unter der englischen Übersetzung National Research University – Higher School of Economics firmiert, unterhält Standorte in Moskau, Sankt Petersburg, Nizˇnij Novgorod und Perm’ und gilt als eine der führenden Institutionen für Lehre und Forschung in den Sozialwissenschaften. Es gibt dort keine Zentren für Geschlechterforschung, aber einige Forscher_innen, die in inzwischen geschlossenen Zentren tätig waren, arbeiten nun an Standorten dieser Hochschule.
Sankt Petersburg Sankt Petersburg kann vier universitäre Zentren beziehungsweise Programme für Geschlechterforschung vorweisen. Das international bekannteste ist jenes an der Europäischen Universität Sankt Petersburg, an dem die in Russland und darüber hinaus anerkannten376 Soziologinnen Anna Temkina und Elena Zdra373 So wurde sie mit dem »Outstanding Achievement Award 2017« der amerikanischen Association for Women in Slavic Studies ausgezeichnet. 374 Vgl. (als beispielhafte Auszüge eines sehr umfangreichen Werks) Natalia Pushkareva, Women in Russian History : From the Tenth to the Twentieth Century, Armonk, NY/London ˇ astnaja zˇizn‹ russkoj zˇensˇcˇiny XVIII veka [Das 1997; dies., Russkaja zˇensˇcˇina; dies., C private Leben der russischen Frau im 18. Jh.], Moskva 2012. 375 Über Kon schreibt Alexander Kondakov : »[H]e expressed his deep feeling of intellectual isolation because of his commitment to the study of sexuality, a topic that was silenced in the USSR. Indeed, there were no conferences or workshops to attend, no colleagues to engage with in fruitful conversations. On the contrary, in Soviet times, Kon expected his work to be repressed and carefully monitored everything he wrote in order not to express something subject to criminal law or other sanctions. According to Kon, the situation hardly changed in the 1990s«, Kondakov, Teaching Queer Theory, 107. 376 Das schließe ich aus Aussagen meiner Respondent_innen und aus der großen Anzahl ihrer Publikationen in russischen ebenso wie in amerikanischen, englischen, deutschen, finnischen u. a. Büchern und Zeitschriften.
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vomyslova arbeiten. Es wurde 1997 mit Unterstützung der Ford Foundation eingerichtet und bot bis zum Herbst 2017 im Rahmen des zweijährigen Masterstudium sowie des dreijährigen Doktoratsprogramms in Soziologie und Politologie Module für Gender Studies an.377 Temkina und Zdravomyslova haben Begriffe zur sozialwissenschaftlichen Beschreibung und Analyse sowjetischer und postsowjetischer Gesellschaftsformationen entwickelt, so etwa der Geschlechtervertrag der arbeitenden Mutter.378 Solcherart Forschung entspricht internationalen Standards und wird dementsprechend stärker rezipiert als andere Arbeiten russischer Herkunft.379 Die Europäische Universität in Sankt Petersburg war immer wieder bürokratischen Schikanen von staatlicher Seite ausgesetzt: Im Jahr 2008 war sie von der Schließung bedroht, weil angeblich feuerpolizeiliche Vorschriften nicht eingehalten wurden. Ende 2016 wurde der Universität – ebenfalls mit Berufung auf administrative Verfehlungen – von der Föderalen Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft die Lizenz für die Lehre entzogen.380 Eine Berufung gegen diese Entscheidung und das Beantragen einer neuen Lizenz blieben zunächst erfolglos. Zudem musste die Universität das Gebäude, in dem sie seit ihrer Gründung untergebracht war, ein ehemaliges Stadtpalais in der zentral gelegenen Gagarinskaja ulica, aufgeben.381 Seit dem August 2018 verfügt die Universität wieder über eine Lizenz für die Lehre.382 An der soziologischen Fakultät der Staatlichen Universität Sankt Petersburg leitet Valentina Usˇakova ein Institut für Gender Studies. Sie koordiniert das 2005 377 Andrea Zemskov-Züge, Gender Studies an der Europa Universität St. Petersburg, in: L’Homme. Z. F. G., 14, 2 (2003), 355–357, 355. 378 Vgl. Anna Temkina u. Anna Rotkirch, Soviet Gender Contracts and their Shifts in Contemporary Russia, in: Idäntutkimus: Finnish Journal of Russian and Eastern European Studies, 2 (1997), 6–24; Elena Zdravomyslova, Die Konstruktion der »arbeitenden Mutter« und die Krise der Männlichkeit, in: Feministische Studien, 17, 1 (1999), 23–35, sie dazu auch Kapitel 2 dieses Buches. 379 Wissenschaftliche Texte aus unterschiedlichen nationalen oder disziplinären Kontexten unterscheiden sich nach ihren formellen Kriterien und Stilen, was dazu führen kann, dass der jeweils andere nicht verstanden oder nicht als wissenschaftlich (genug) akzeptiert wird. Zu nationalen Stilen wissenschaftlichen Arbeitens vgl. Anna Breitkopf, Wissenschaftsstile im Vergleich: Subjektivität in deutschen und russischen Zeitschriftenartikeln der Soziologie, Freiburg 2006. 380 Diese Schikanen haben politische Hintergründe, vgl. Weir, Private Universities. 381 Letter from Russia: A Statement from the Public Sociology Laboratory on the Closure of the European University, St. Petersburg, 9. 1. 2017, unter : http://blogs.newschool.edu/tcds/ 2017/01/09/a-statement-from-the-public-sociology-laboratory-on-the-closure-of-the-eu ropean-university-st-petersburg/, Zugriff: 31. 3. 2018; Panna Kelly, European University in Russia faces closure, in: Science Business, 31. 3. 2018, unter : https://sciencebusiness.net/ highlights/european-university-russia-faces-closure, Zugriff: 31. 3. 2018; Weir, Private Universities. 382 Verordnung Nr. 1140 vom 10. 8. 2018 der Föderalen Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.
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eingeführte Magisterstudienprogramm für soziologische Gender-Forschung, das in einem gemeinsamen Projekt mit den Universitäten Bielefeld und Wien entwickelt wurde.383 Dieses Programm ist aktuell der einzige Studiengang für Gender Studies in ganz Russland. Valentina Usˇakova vertritt in einem aktuellen Artikel die Ansicht, dass Gender Studies in der soziologischen universitären Ausbildung immer noch in einem Entstehungsprozess begriffen sind, und weist darauf hin, dass in vielen soziologischen Studienplänen russischer Hochschulen Gender-Aspekte gar nicht vorkommen.384 An der 1996 gegründeten nichtstaatlichen Hochschule Nevskij Institut für Sprache und Kultur existiert seit 1999 ein von der Historikerin Irina Jukina geleiteter interdisziplinärer Lehrstuhl für Gender Studies. Jukina, die Forschungen zur ersten russischen Frauenbewegung vorgelegt hat,385 und andere Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls waren an Konferenzen der Universität Freiburg zu Russischer Kultur und Geschlechterforschung und daraus resultierenden Publikationen beteiligt.386 An der russischen Staatlichen Pädagogischen Herzen-Universität leitet Irina Klecina seit 2003 an der psychologisch-pädagogischen Fakultät ein Laboratorium für die Psychologie der Geschlechterverhältnisse. Eine Absolventin dieser Universität, allerdings im Fach Geschichte, ist Marianna Murav’eva. Sie ist Rechtshistorikerin und forscht vor allem zur Geschichte von (sexualisierter) Gewalt;387 ihre berufliche Laufbahn hat sie unter anderem an die National Research University – Higher School of Economics in Sankt Petersburg, an die Universitäten Oxford und Helsinki sowie an die National Research University – Higher School of Economics in Moskau geführt.388 Darüber hinaus befinden sich in Sankt Petersburg zwei außeruniversitäre 383 Ursula Müller, Birgit Sauer u. Valentina Usˇakova, Gendernye issledovanija v kontekste sociologicˇeskogo obrazovanija. Sbornik naucˇnych stat’ej [Gender Studies im Kontext der soziologischen Ausbildung. Wissenschaftlicher Sammelband], Sankt-Peterburg 2005. 384 Valentina Usˇakova, Gendernaja Problematika v kontekste sociologicˇeskogo obrazovanija [Die Gender-Problematik im Kontext der soziologischen Ausbildung], in: Sociologicˇeskie issledovanija [Soziologische Forschungen], 2 (2017), 149–153, 151. 385 Irina Jukina, Istorija zˇensˇcˇin Rossii: zˇenskoe dvizˇenie i feminizm (1850-e–1920-e gody). Materialy k bibliografii [Geschichte der Frauen Russlands: Frauenbewegung und Feminismus (1850er–1920er Jahre). Materialien zu einer Bibliographie], Sankt-Peterburg 2003. 386 Tat’jana Melesˇko, Zur Opposition ›männlich/weiblich‹: Strategien ihrer Überwindung in der zeitgenössischen russischen Frauenprosa, in: Cheaur8/Heyder, Russische Kultur, 241– 258. 387 Vgl. Marianna Muravyeva, Bytovukha: Family Violence in Soviet Russia, in: Aspasia, 8, 1 (2014), 90–124; dies. (Hg.), Domestic Disturbances, Patriarchal Values: Violence, Family and Sexuality in Early Modern Europe, 1600–1900, New York 2016; dies., Gender and Crime in Russian History, in: Russian History, 43, 3/4 (2016), 215–220. 388 Es fällt auf, dass die jüngere Generation von Forscher_innen national und international viel mobiler ist als ihre Vorgänger_innen, nicht nur, weil sie die Möglichkeit dazu haben, sondern weil sie aufgrund prekärer und befristeter Arbeitsverhältnisse dazu gezwungen sind.
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Einrichtungen mit einschlägigen Schwerpunkten. Am Institut für Unabhängige Sozialforschungen, das von Viktor Voronkov geleitet wird, werden auch Gender und Queer Studies betrieben werden. An diesem Zentrum arbeitete etwa von 2005 bis 2010 Nadja Nartova, die zu (für russische Geschlechterforschung eher ungewöhnlichen) Themen wie neue reproduktive Technologien oder lesbische Kultur forscht.389 Eine der neuesten Publikationen des Zentrums dokumentiert Hassverbrechen gegen LGBT-Personen in Russland.390 Mit dem »VoronkovZentrum« (das unter dieser Bezeichnung in einigen meiner Interviews erwähnt wird) kooperieren auch deutsche Sozialwissenschafter_innen. Seit es 2015 auf die »Liste der ausländischen Agenten« des Justizministeriums gesetzt wurde, ist seine Arbeit erschwert, wird aber fortgesetzt.391 Das von der Feministin Ol’ga Lipovskaja im Jahr 1992 gegründete Petersburger Zentrum für Gender-Probleme war zwar keine per se akademische Einrichtung, wegen seiner Bibliothek und der internationalen Kontakte aber auch für Wissenschafter_innen relevant.392 Eine Sozialwissenschafterin aus Sankt Petersburg erzählte in einem Interview : R 32: »Ein Mädchen, das in unserem Sektor studierte […] erzählte mir von Lipovskaja und dem Gender-Zentrum. Ich ging zu ihnen und sagte: ›Guten Tag, ich habe da so ein paar Bücher [von Betty Friedan und Shulamit Firestone, TG] gelesen.‹ Sie sagten: ›Oh, wie schön! Erzählen Sie uns über diese Bücher.‹ Und ich erzählte […] Zusammen mit [Name Kollegin] und [Name Kollegin] beschloss ich, eine Untersuchung über die politische Partizipation von Frauen zu machen. Sie gaben einen kleinen Geldbetrag dafür her, und das war die erste Untersuchung, die ich über ein Gender-Thema gemacht habe.«
Das Zentrum existierte bis 2004 und wurde dann infolge mangelnder Ressourcen geschlossen.393
389 Vgl. Nadja Nartova, Russian Love. 390 Aleksandr Kondakov, Prestuplenija na pocˇve nenavisti protiv LGBT v Rossii [Hasskriminalität gegen LGBT in Russland], Sankt-Peterburg 2017. 391 Vgl. Voronkov, Inostrannym agentom. 392 Anna Rotkirch, Academic Feminism in St. Petersburg (1985–), in: Norma Corrigliano Noonan u. Carol Nechemias (Hg.), Encyclopedia of Russian Women’s Movements, Westport, CT/London 2001, 199–201. 393 Aleksandr Kondakov hat mit Ol’ga Lipovskaja ein biografisches Interview geführt, in dem zu der Schließung des Zentrums dieser Dialog vorkommt: »›So this is the end …‹, I say. ›What do you mean »the end«?‹ Olga wonders, ›The feminist studies are powerful, because they are right! Well, we all just went by different routes … But I am still a feminist! Besides, my granddaughter is growing up …‹«, Alexander Kondakov, Essay on Feminist Thinking in Russia: To Be Born a Feminist, in: Sortuz: OÇati Journal of Emergent Socio-Legal Studies, 2, 7 (2012), 33–47, 44.
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Ivanovo Das Zentrum für Gender Studies an der Staatlichen Universität Ivanovo nahm eine Sonderstellung innerhalb der russischen Community ein.394 In Ivanovo war lange Zeit die frauendominierte Textilindustrie der wichtigste Wirtschaftsfaktor, dementsprechend existierten starke Frauenräte, deren Arbeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Nachfolgeorganisation Union der Frauen Russlands wiederaufnahm. In Ivanovo entstanden im Lauf der 1990er Jahre zahlreiche Frauenorganisationen. Die bereits als charismatische Gründerinnenfigur erwähnte Ol’ga Chasbulatova hat zur Geschichte der ersten russischen Frauenbewegung publiziert.395 Unter ihrer Leitung wurde 1996 das Zentrum für Gender Studies an der Staatlichen Universität Ivanovo gegründet, das auch für die Dauer dessen Bestehens ein interuniversitäres Netzwerk mit Fokus auf Geschlechteraspekte von Forschung und Lehre administrierte. Dieses Programm hieß zunächst »Frauen Russlands: Probleme der Adaption an neue sozioökonomische Bedingungen«; die Nähe der Bezeichnung zu jener der Bewegung der Frauen Russlands396, ist nicht zufällig, zumal Ol’ga Chasbulatova mit dieser Gruppe kooperierte. 1998 wurde das Programm in »Feminologie und Gender Studies in Russland« (Feminologija i Gendernye Issledovanija v Rossii) umbenannt. Vielfach wird der Begriff feminologija, wie bereits erwähnt, mit einer nicht sehr elaborierten, eher empiristisch ausgerichteten, nicht feministisch motivierten Forschung in Verbindung gebracht.397 Irina Savkina bringt in einem kritischen Aufsatz Beispiele aus einem Konferenzband, der die Materialien einer Tagung in Ivanovo zusammenfasst. Sie zeigt – vor allem mittels ausgewählter Zitate – die Diversität (und Eigentümlichkeit einiger) der dort vertretenen Positionen auf. Essenzialistische und konstruktivistische Zugänge, soziale und biologische Geschlechter werden darin durcheinandergewürfelt.398 394 Die Encyclopedia of Russian Women’s Movements spricht gar von »some of the most interesting developments in the post-Soviet women’s movement and in gender studies«, Valerie Sperling u. James Richter, Ivanovo Women’s Movement (1991-), in: Noonan /Nechemias, Encyclopedia of Russian Women’s Movements, 270–273, 270. 395 Ol’ga Chasbulatova, Opyt i traditsii zˇenskogo dvizˇenija v Rossii (1860–1917) [Erfahrung und Traditionen der Frauenbewegung in Russland (1860–1917)], Ivanovo 1994. 396 Diese von Elena Lachova angeführte Bewegung entstand 1996 nach ihrer Abspaltung von der in den ersten Dumawahlen überraschend erfolgreichen Partei »Frauen Russlands«, vgl. Carol Nechemias, Politics in Post-Soviet Russia: Where are the Women?, in: Demokratizacija, 8, 2 (2000), 199–218, 207f; Zur Person Lachovas vgl. Amy Caiazza, Lakhova, Ekaterina Fillipovna (1948–), in: Noonan/Nechemias, Encyclopedia of Russian Women’s Movements, 283–282. 397 Temkina/Zdravomyslova, Gender Studies, 56. 398 Irina Savkina, Faktory razdrazˇenija: O vosprijatii i obzuzˇdenii feministskoj kritiki i gendernych issledovanij v russkom kontekste [Faktoren der Erregung: Über die Rezeption und Diskussion von feministischer Kritik und Gender Studies im russischen Kontext], in: Novoe literaturnoe obozrenie [Neue Literarische Rundschau], 86 (2007), Internetausgabe,
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Dem kann freilich entgegengehalten werden, dass auch unter dem Titel »gendernye issledovanija« diverse Ansätze und Themen vertreten werden. Forscher_innen an der Universität Ivanovo verfassen auch international beachtete Arbeiten aus Geschlechtergeschichte.399 Abgesehen von inhaltlichen Unterschieden, die vielleicht tatsächlich zu beobachten sind, geht es bei feminologija um eine Abgrenzung von Geschlechterforschung, die sich an ›westlichen‹ feministischen Ansätzen orientiert und sich der unabhängigen Frauenbewegung (also gerade nicht den Frauenräten und ihren Nachfolgeorganisationen) verbunden fühlt.400 Die gute Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Strömungen von Frauenbewegung und Geschlechterforschung, die in der 2001 erschienenen »Encylopedia of Women’s Movements« noch beschworen wird,401 ist jedenfalls seit 2015 beendet, als Ol’ga Sˇnyrova entlassen und das von ihr geleitete Zentrum für Gender Studies aus den Räumlichkeiten der Universität Ivanovo entfernt wurde. Als Gründe wurden Störung der Hausordnung, Nichtbeachtung von Sicherheitsrichtlinien und unerlaubte Benutzung von Räumlichkeiten angegeben. Eine Lokalzeitungsnotiz über den Vorfall endet mit dem Satz: »Es muss angemerkt werden, dass das russische interuniversitäre Zentrum für GenderForschung (ebenfalls in der Staatlichen Universität Ivanovo situiert), dessen wissenschaftliche Leiterin die ehemalige Vizegouverneurin des Gebietes Ivanovo Ol’ga Chasbulatova ist, keinerlei Bezug zum Zentrum unter der Leitung Ol’ga Sˇnyrovas hat.«402 Das von Ol’ga Sˇnyrova geleitete – nunmehr außeruni-
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unter : http://magazines.russ.ru/nlo/2007/86/sa13.html, Zugriff: 31. 3. 2018, o. S., Übersetzung aus dem Russischen TG. Vgl. Ol’ga Sˇnyrova u. Igor’ Sˇkolnikov, Sufrazˇism kak fenomen Britanskoj istorii: osnovnye problemy i podchody [Suffragismus als Phänomen der britischen Geschichte: hauptsächliche Probleme und Zugänge], in: Natal’ja Pusˇkareva (Hg.), Zˇenskaja i gendernaja istorija [Frauen- und Geschlechtergeschichte], Moskva 2003, 173–194 sowie 106–122; Shnyrova, Woman Question. Dafür, dass es sich eher um eine politische Unterscheidung handelt, spricht auch eine Feststellung Elena Kocˇkinas: »Gerade hier können wir vom ersten prinzipiellen politischen Wendepunkt in der ehemaligen UdSSR zwischen dem Netzwerk der Gender Studies und den feminologischen Forschungen sprechen: Während Gender Studies eine kritische politische Position gegenüber der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht in allen gesellschaftlichen Bereichen einnahmen, beschränkten sich die Feminologen eher auf ein objektives Konstatieren von ›Geschlechtsunterschieden‹ und enthielten sich der Kritik an der Macht und der Richtung der Reformen.« Kocˇkina, Nabroski, 96, Übersetzung aus dem Russischen TG. Ol’ga Voronina nennt solche unpolitische Forschungen »Pseudo-Gender Studies«, vgl. Ol’ga Voronina, »Anglijskij recept« dlja rossijskich gendernych issledovanij [Ein »englisches Rezept« für die russischen Gender Studies], in: Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 15 (2007), 174–178, 177. Sperling/Richter, Movement, 272. Centr gendernych issledovanij vyselen iz IvGU za narusˇenie [Zentrum für Gender Studies wegen Übertretung aus der Staatlichen Universität Ivanovo ausquartiert], in: Ivanovonews.ru, 1. 7. 2015, unter : https://www.ivanovonews.ru/news/356164/, Zugriff: 31. 3. 2018.
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versitäre – Zentrum, veranstaltet gemeinsam mit der italienischen Universität Dante Alighieri (Reggio Calabria) Sommerschulen, publiziert und übersetzt Texte und beschreibt seine Mission mit: »Vorantreiben der Ideen von Gleichheit, Toleranz und Demokratie […] Aufklärung und Erziehung der Jugend, Unterstützung von Karriere- und Berufschancen für Frauen«.403 Auf der Website der Universität Ivanovo ist hingegen kein Hinweis auf ein Zentrum für Gender Studies mehr zu finden. Die 1996 gegründete Fachzeitschrift »Zˇensˇcˇina v Rossijskom Obsˇcˇestve« (Die Frau in der russischen Gesellschaft) erscheint nach wie vor, als leitende Redakteurin fungiert Ol’ga Chasbulatova.404 Char’kiv Char’kiv liegt in der Ukraine und ist somit nicht einfach der russisch(sprachig)en Gender Studies Community zuzurechnen.405 Aufgrund seines starken Einflusses auf die russischsprachige Forschung zu postsowjetischen Geschlechterverhältnissen soll es hier dennoch erwähnt werden. Das 1994 gegründete Zentrum für Gender Studies in Char’kiv unterschied sich von anderen Zentren im postsowjetischen Raum durch seinen Fokus auf theoretische Geschlechterforschung. Besonders Irina Zˇerebkina hat sich mit Publikationen hervorgetan, die sich mit psychoanalytischen und poststrukturalen Ansätzen beschäftigen oder die postsowjetische Kultur mit deren Hilfe analysieren.406 Von ihr stammt etwa die These, dass postsowjetische Geschlechterforschung performativ (im Sinne von Judith Butlers Konzept) sei. In diesem Kontext habe die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, geschweige denn eine Essenzialisierung von Geschlecht (anders als in den ›westlichen‹ Gender Studies) niemals eine Rolle gespielt, weil Geschlechterverhältnisse nur sozial konzipiert waren. Daraus erklärt Zherebkina auch die Prädominanz von Fragen des sozialen Status, der Diskriminierung sowie der Frauenrechte und die Abwesenheit der Themen Identität, Körper oder Begehren in der frühen postsowjetischen Geschlechterforschung.407 Seitens ihrer Kolleg_innen wurde teil-
403 Vgl. die Website des Zentrums, unter : http://icgs.ru/ru/, Zugriff: 31. 3. 2018, Übersetzung aus dem Russischen TG. 404 Vgl. die Website der Zeitschrift; sämtliche Artikel sind elektronisch zugänglich, unter : https://womaninrussiansociety.ru/, Zugriff: 31. 3. 2018. 405 Ich danke Ol’ga Plachotnik für einen dahingehenden Kommentar zu meinem Vortrag im Rahmen der Tagung »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity : Queering Concepts on/ from a Post-Soviet Perspective«, Wien 20.–23. 10. 2017. 406 Vgl. Irina Zˇerebkina, »Procˇti moe zˇelanie …« Postmodernizm, psichoanaliz, feminizm [»Lies mein Begehren …« Postmodernismus, Psychoanalyse, Feminismus], Moskva 2000. 407 Vgl. Irina Zherebkina, »How we solve the women’s issue« or Performative Gender in the Former USSR, in: Edith Saurer, Margareth Lanzinger u. Elisabeth Frysak (Hg.), Women’s
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weise Kritik an diesen Arbeiten geäußert, etwa am Umgang der Autorin mit den von ihr rezipierten Konzepten ›westlicher‹ Denker_innen, die mitunter missverständlich oder unvollständig ins Russische übertragen wurden.408 Das Zentrum in Char’kiv kooperierte in den 2000er Jahren mit dem »Iowa State University’s Women’s Studies Program«, wobei die gemeinsamen Aktivitäten hauptsächlich in Curriculumsentwicklung und Lehrendenaustausch bestehen. Die folgende Beschreibung der englischen Version der Projektwebsite zeigt, dass ungeachtet des Beschwörens beidseitiger Stärken eine klassische Arbeitsteilung besteht: Die USA bieten Unterstützung und Knowhow, die Ukraine bietet regionalspezifische Inhalte: »This project addresses the need in Ukraine, and more broadly in the post-socialist countries, for development and dissemination of knowledge about the relationship of gender to the emerging democracies and market economies. The two programs are working collaboratively, drawing on each other’s strengths. The Karazin Kharkiv Center for Gender Studies aims to develop an effective curriculum and to expose its faculty to more active teaching methods. The Women’s Studies Program at ISU is helping the Center in these endeavors as it has a well developed academic program and faculty who are experts in curricular development and innovative teaching. In turn, the Center is aiding the Program with internationalization by working with women’s studies faculty to infuse more content on the post-socialist countries, and especially Ukraine, into their courses.«409
Vom Char’kiver Zentrum wird außerdem seit 1998 die zunächst zweimal jährlich erscheinende Zeitschrift »Gendernye Issledovanija« (Gender Studies) herausgegeben, das für die russischsprachige Gender Studies Community wichtigste Periodikum.410 Anfangs wurden darin hauptsächlich aus dem Englischen übersetzte Artikel veröffentlicht, mit der Zeit entwickelte es sich immer mehr zu einem Forum für Beiträge aus postsowjetischen Ländern. Dass regelmäßig von postsowjetischen Autor_innen verfasste Rezensionen russischsprachiger Arbeiten aus dem Bereich der Gender Studies erschienen, bedeutete in den späten 1990er Jahren eine Innovation.411 Im Herbst 2017 ist nach einer achtjährigen
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Movements. Network and Debates in Post-Communist Countries in the 19th and 20th centuries, Köln u. a. 2006, 281–288, 287. Barcˇunova, E˙goisticˇeskij gender, 189; dies., Perevod i diskursivnoe konstruirovanie naucˇnogo soobsˇcˇestva (Na primere gendernych issledovanij) [Übersetzung und die diskursive Konstruktion einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (am Beispiel von Gender Studies)], Vortrag bei der internationalen Tagung »Gender po-russki: pregrady i predely« [Gender auf Russisch: Hindernisse und Grenzen], Tver’, 10.–12. 9. 2004, unter : http://tver genderstudies.ru/data/downloads/confer03.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018, dies., Library, 145. Website der Iowa State University, College of Liberal Arts and Sciences, unter: http://www.las. iastate.edu/WSP_KCGS_Partners/english/Project_Description.html, Zugriff: 30. 8.2009. Vgl. die Website der Zeitschrift, unter : http://kcgs.net.ua/journal-gs.html, Zugriff: 31. 3. 2018. Noch 2002 konstatierte Tat’jana Barcˇunova in der russischen Community die »praktisch
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Pause erstmals wieder eine Ausgabe der Zeitschrift, unter anderem mit Beiträgen zur Legitimität staatlicher Gewalt und zu Solidarität unter Frauen, erschienen.412
Tver’ Das Zentrum für Frauengeschichte und Geschlechterforschung an der Staatlichen Universität Tver’ kombiniert gesellschaftspolitisches Engagement mit universitärer Forschung und Lehre. Seit den frühen 1990er Jahren gibt es in Tver’ Frauenorganisationen, zu deren Mitgliedern auch Universitätslehrerinnen gehören. Diese gründeten Krisenzentren, veranstalten bis heute Abendkurse für Frauen und halten Lehrveranstaltungen zur Geschlechterforschung. Anfang der 1990er Jahren waren diese Aktivitäten, auch aufgrund teils internationaler Beteiligung, eine gewisse Attraktion, die auch lokales Medieninteresse hervorrief, wie Valentina Uspenskaja, die Leiterin des Zentrums für Frauengeschichte und Geschlechterforschung der Universität schilderte: »It was the epoch of meetings, and we had meetings. The first American women appeared here then. We were a media sensation. There was a newspaper, Sister, and we supported it, we supported females at other newspapers, I went on TV and radio.«413 1998 wurde – wohl auch bestärkt durch die dort abgehaltene Sommerschule des Jahres 1996 – an der Staatlichen Universität Tver’ eine eigenes Zentrum etabliert, das Stephen Kotkin in seinem Bericht sehr positiv erwähnt: »Tver was the strongest place in gender studies seen by this reviewer. The contributing factors included extraordinarily charismatic leadership, uncommonly good relations with the local university leadership and an unusual pre-1917 legacy.«414 Dieses ungewöhnliche Erbe, das Tver’ für die Erforschung von Frauengeschichte prädestiniert, beschreibt Valentina Uspenskaja folgendermaßen: »Here in the university library there is a substantial collection of pre-Revolutionary material on women that somehow survived the wars. It includes pre-revolutionary feminist literature. The collection is unique. Why? Where the university is situated now used to be the Female Teachers’ School founded in the 1870s, not long after the one in St. Petersburg at Smolny. When I studied in the history department here, only scientific communism was taught, but in the library I found documents, sources, on women’s history, primary sources, very high quality materials.«415
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vollkommene Abwesenheit von innerwissenschaftlichen Diskussionen und Kritik«. Wenn jemand Kritik äußerte, dann stets ohne konkrete Namen oder Werke zu nennen, vgl. Barcˇunova, E˙goisticˇeskij gender, 187, Übersetzung aus dem Russischen TG. Gendernye Issledovanija [Gender Studies], 22 (2017). Kotkin, Innovation, 86. Kotkin, Innovation, 85. Kotkin, Innovation, 86.
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Mitarbeiter_innen des Zentrums in Tver’ edierten Texte der ersten russischen Frauenbewegung416 und stellten Forschungen dazu an, mit speziellem Fokus auf die russische Provinz.417 Sie veröffentlichten eine Chrestomathie mit aus dem Englischen übersetzten Texten der Zweiten Frauenbewegung ebenso wie Beiträgen von Gender-Forscherinnen aus Moskau und Sankt Petersburg (wie etwa Tat’jana Klimenkova, Natal’ja Pusˇkareva, Anna Temkina und Ol’ga Voronina).418 Die zahlreichen Publikationen und Tagungsmaterialien419, die das Zentrum für Gender-Forschung in Tver’ produziert hat, sind erfreulicherweise größtenteils im Volltext auf seiner Website verfügbar. Mitarbeiterinnen des Zentrums kooperieren mit dem Slavischen Seminar der Universität Freiburg. Die Literaturwissenschafterin Elena Stroganova war etwa dort als Gastvortragende, Elisabeth Cheaur8 aus Freiburg bekam 2009 den Titel einer Professorin honoris causa der Universität Tver’ verliehen.420 Samara In Samara existierte ein universitäres Zentrum, das einen besonderen Fokus auf Geschlechteraspekte in der Sozialpolitik gelegt hatte. Es wurde im Jahr 1997 gegründet, auch in Folge einer dort veranstalteten Sommerschule für Gender Studies. Die Universität Samara war am von Ivanovo koordinierten interuniversitären Programm »Frauen Russlands: Probleme der Adaption an neue sozioökonomische Bedingungen« beteiligt. Ljudmila Popkova, die langjährige
416 Valentina Uspenskaja, Muzˇskie otvety na zˇenskij vopros v Rossii (vtoraja polovina XIX – pervaja tret’ XX vv) [Männliche Antworten auf die Frauenfrage in Russland (zweite Hälfte 19. bis erstes Drittel 20. Jh.)], Tver’ 2005. 417 Anna Belova, Zamuzˇestvo v provincial’noj dvorjanskoj kul’tury konca XVIII – pervoj poloviny XIX veka [Die Heirat in der provinziellen höfischen Kultur von Ende des 18. bis zur ersten Hälfte des 19. Jh.], in: Valentina Uspenskaja, Elena Stroganova u. Natal’ja Kozlova (Hg.), Zˇenskie i gendernye issledovanija v Tverskom gosudarstvennom universitete [Frauen- und Geschlechterforschung an der Staatlichen Universität Tver’], Tver’ 2000, 21– 31. 418 Valentina Uspenskaja, Feminizm i gendernye issledovanija. Chrestomatija [Feminismus und Gender Studies. Chrestomathie], Tver’ 1999. Der Band erschien ein Jahr vor dem von Temkina und Zdravomyslova herausgegebenen Übersetzungsband, mit dem es auch einige inhaltliche Überschneidungen gibt: Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova (Hg.), Chrestomatija feministskich tekstov : perevody [Chrestomathie feministischer Texte: Übersetzungen], Sankt-Peterburg 2000. 419 Zum Beispiel die Beiträge zur Tagung »Gender po-russki: pregrady i predely« [Gender auf Russisch: Hindernisse und Grenzen], Tver’, 10.–12. 9. 2004, unter : http://tvergenderstu dies.ru/data/downloads/confer03.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018. 420 »Ehrentitel für Slavistik-Professorin«, Pressemitteilung des Informationsdienstes Wissenschaft vom 27. 2. 2009, unter : http://idw-online.de/pages/de/news302999, Zugriff: 31. 3. 2018.
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Leiterin des Gender-Forschungszentrums in Samara, berichtet von Auseinandersetzungen mit konservativen Kollegen: »›At a May 2005 conference, at the plenary session, Malevich, the scientific communist, gave a speech warning that feminism was destroying Russia because it takes women out of the family and home‹, said Liudmila Popkova, head of the Ford-supported Gender Studies Center in Samara. ›It hurts traditions; it’s anti-family.‹ When the rector (a physicist) had given permission to open the gender center (on foreign money), Malevich had sought to be named its director. ›Malevich claimed it was his right to be the boss, since he was senior (a professor). He’s a septuagenarian.‹ I said no to him, ›I will lead it, since it is about gender.‹ Then Malevich said, ›I also do gender now.‹«421
Für ein Zentrum in der Provinz war jenes in Samara sehr gut ausgestattet und konnte entsprechend Forschung auf hohem Niveau betreiben, was im KotkinBericht auch selbstbewusst zur Sprache kommt: »›The level of our [gender] center is equivalent to that of the Moscow center, something unheard of in Soviet times. There is a sense of equivalence among all gender centers. At first, the Moscow group was envious. It was difficult for them to accept us as equals, since they are the capital. Acceptance of equality, outwardly at least, has been only recent. Without Ford, we would have had to go to Moscow for every book, every resource, but we made a breakthrough in that regard, which was the policy of the Ford Foundation.‹ (Elena Zhidkova, Samara)«422
Dieses Statement bildet einen starken Kontrast zu Aussagen von Forscher_innen in von mir geführten Interviews, die in der Provinz unter schwierigen Bedingungen arbeiten.423 Im Jahr 2004 gelang dem Zentrum in Samara ein öffentlichkeitswirksamer Coup: Es reichte erfolgreich eine Klage gegen sexistische Werbung ein: »It was thanks to an experienced, smart lawyer. The ad features a woman sitting at a desk that is piled with paperwork, and it turns into laundry, and she needs the ideal detergent. The ad was judged sexist, and was removed from the air. We got a lot of press, from local papers to Kommersant, and especially the Internet. We have to keep in mind that this is scholarship, not ideology ; we need to maintain a certain level.«424
2012 und 2014 organisierte das Zentrum Sommerschulen speziell für demokratische Jugendorganisationen. Mit Februar 2015 wurde das Zentrum für Gender Studies in Samara in die »Liste der ausländische Agenten« des Justizministeriums eingetragen; sein Internetauftritt ist nicht mehr abrufbar. 421 Kotkin, Innovation, 60f. 422 Kotkin, Innovation, 59. Vgl. dazu die Schilderungen von wissenschaftlicher Praxis in der russischen Provinz in Abschnitt 6.2.2 dieses Buchs. 423 Siehe dazu Kapitel 3.3.2. 424 Kotkin, Innovation, 81.
Geschlechterforschung in Russland
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Saratov 1996 bildete sich aus einer Gruppe von Forscher_innen am Institut für Sozialarbeit der Technischen Universität Saratov ein Zentrum für Sozialpolitik und Geschlechterforschung, das ab 2003 als NGO registriert wurde. Als Leitungsteam wirkten Elena Jarskaja-Smirnova und Pavel Romanov, die 2003 die Zeitschrift »Zˇurnal Issledovanija Social’noj Politiki« (Zeitschrift zur Erforschung von Sozialpolitik) gründeten. Die Mitarbeiter_innen des Zentrums waren sehr erfolgreich im Einwerben von internationalen Fördermitteln.425 Zwischen 2006 und 2010 etwa erhielten sie von der MacArthur Foundation 750.000 Dollar für Forschungsprojekte und die Publikation der Zeitschrift.426 Erforscht wurde die Entwicklung sozialpolitische Prozesse im postsowjetischen Raum,427 ein spezieller Fokus lag auch auf der Sozialarbeit mit Kindern mit Behinderung.428 2013 wurde das Zentrum aufgefordert, sich im Register »ausländischer Agenten« eintragen zu lassen. Das Zentrum wehrte sich auf juristischem Wege, allerdings ohne Erfolg, woraufhin es geschlossen wurde. 2014 verstarb Pavel Romanov nach längerer Krankheit, Elena Jarskaja-Smirnova ist heute Professorin an der National Research University – Higher School of Economics in Moskau.
4.1.6 ›Westliche‹ Förderfonds Obwohl auch Russische Wissenschaftsfonds Grundlagenforschung finanzieren, wie etwa die Russische Stiftung für die Geistes- und Sozialwissenschaften (Rossijskij Gumanitarnyj Naucˇnyj Fond, RGNF) und der Russische Fonds für Grundlagenforschung (Rossijskij Fond Fundamental’nych Issledovanij, RFFI), waren deren Beiträge zur Förderung von Geschlechterforschung im Untersuchungszeitraum relativ gering, weshalb ich hier nicht näher auf sie eingehen werde.429 Es ist kein neues oder gar russlandspezifisches Phänomen, dass US425 Kotkin, Innovation, 96f. 426 Förderdatenbank der MacArthur-Foundation, unter : https://www.macfound.org/grantees/ 137/, Zugriff: 31. 3. 2018. 427 Vgl. Elena Iarskaia-Smirnova u. Pavel Romanov, Gendering Social Work in Russia: Towards Anti-Discriminatory Practices, in: Equal Opportunities International, 27, 1 (2008), 64–76; dies., Doing Class in Social Welfare Discourses: »Unfortunate Families« in Russia, in: Suvi Salmenniemi (Hg.), Rethinking Class in Russia, Farnham 2012, 85–105. 428 Vgl. Elena Iarskaia-Smirnova u. Pavel Romanov, Perspectives of Inclusive Education in Russia, in: European Journal of Social Work, 10, 1 (2007), 89–105. 429 Die folgende Aussage aus einem Bericht des Instituts für Sozial- und Gender-Politik in Saratov über die Jahre 2004/05 bezieht sich auf Frauen- bzw. Gender-Projekte allgemein,
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amerikanische oder westeuropäische Stiftungen finanzielle Mittel zur Förderung der Demokratisierung von Staaten zur Verfügung stellen, die nach Ansicht der Geber einer solchen bedürfen.430 Die Entwicklung einer viel beschworenen Zivilgesellschaft wurde und wird in vielen Teilen der Welt unterstützt, wobei die Umbrüche der späten 1980er und frühen 1990er Jahre einen besonderen Impuls gaben: »The dramatic events of 1989 created a visual narrative of civil society in action and turned academic interest away from a focus on elite bargaining to the role of civil society in toppling authoritarian regimes and reconstructing repressive institutions into democratic ones.«431 Russland stellt aufgrund seiner Geschichte einen vergleichsweise schwierigen Fall dar : »[U]nlike civil societies in other regions, in which foreign donors have attempted to foster relationships with a civil society ›resurrected‹ from the recent past – such as Southern Europe and Latin America, or even Eastern Europe – Russian civil society at the time of transition from Communism had been severely repressed for over seventy years.«432
›Westliche‹ Unterstützung für die Entwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft war, so Lisa McIntosh Sundstrom, seit den frühen 1990er Jahren zu einer »veritable industry«433 geworden. Sie gibt für die Periode von 1990 bis 2002 eine Höhe von ungefähr 860 Millionen US-Dollar an staatlicher Unterstützung für »democracy assistance« seitens der USA an Russland (respektive die Sowjetunion) an. Das Europäische Programm »Technical assistance to the CIS« (TACIS) gab zwischen 1991 und 2001 etwa 800 Millionen Euro für ähnlich orientierte Maßnahmen in Russland aus.434 Die wichtigsten privaten Stiftungen waren die Ford Foundation435, die John D.
430 431 432 433 434 435
inkludiert also auch nichtakademische Projekte »Of the total amount of funds invested by both Russian and foreign/international donors, only an average of 0.53 % were spent on women’s/ gender projects. Notably, foreign/international donors spent 0.48 % of their total funding on such projects, whereas Russian donors spent as little as 0.05 %. In other words, despite the efforts undertaken by the aforementioned donors, their support of gender equality values remains negligible.« Unter : http://www.genderpolicy.ru/base/File/Analiti ka/gender%20in%20donor%20agenda_Eng.doc, Zugriff: 30. 8. 2009. Zur Geschichte der Aktivitäten von Förderfonds in Europa vgl. Giuliana Gemelli u. Roy MacLeod, American Foundations in Europe. Grant-Giving Policies, Cultural Diplomacy and Trans-Atlantic Relations, 1920–1980, Bruxelles u. a. 2003. Henderson, Democracy, 5f. McIntosh Sundstrom, Funding, 4. Lisa McIntosh Sundstrom, Foreign Assistance, International Norms, and NGO Development: Lessons from the Russian Campaign, in: International Organization, 59, 2 (2005), 419–449, 419. McIntosh Sundstrom, Funding, 12f. Die Ford Foundation war auch in Österreich aktiv. Sie finanzierte das 1963 gegründete Institut für Höhere Studien, vgl. dazu Christian Fleck, Wie Neues nicht entsteht. Die Gründung des Instituts für Höhere Studien in Wien durch Ex-Österreicher und die Ford Foundation, in: ÖZG, 11, 1 (2000), 129–178.
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and Katherine T. MacArthur Foundation sowie George Soros’ Open Society Institute. Die Ford Foundation hat nach Angaben von Stephen Solnick, dem für Russland verantwortlichen Vertreter der Institution, zwischen 1996 und 2005 über 25 Millionen US-Dollar in die höhere Bildung in Russland investiert.436 Spezifisch Gender Studies wurden in Form der Unterstützung der ersten drei Russischen Sommerschulen für Gender Studies 1996, 1997 und 1998 ($ 277.000) sowie der Ausweitung des Gender Studies Programms an der Europäischen Universität Sankt Petersburg 1997 ($ 83.600) finanziert.437 2001 erhielt die Staatliche Universität Samara eine Förderung: »to enable the university’s Gender Studies Center to incorporate a gender perspective into standard curricula and to develop as a resource center for the broader academic community of the Volga region«438 ($ 45.000). John Slocum von der MacArthur Foundation hat mir auf Anfrage eine Auflistung der Unterstützungen geschickt, welche die Institution zwischen 1993 und 2006 für Gender Studies im postsowjetischen Raum gewährt haben.439 Nimmt man die 31 in Russland gewährten Unterstützungen in Augenschein, so kann man sehen, dass am meisten Geld in Moskauer Projekte und Institutionen geflossen ist. Erst 2001 sind die ersten Förderungen an Forscher_innen außerhalb von Moskau und Sankt Petersburg gegangen. Tabelle 2: Mittel der MacArthur Foundation nach Städten (1993–2006)440 Städte
Summe in US-Dollar
Moskau (Einzelprojekte, Reisekosten)
144.485
Moskau (Institutionsförderung für das Moskauer Zentrum für Gender Studies) Sankt Petersburg
918.040
Sonstige: Archangel’sk, Ivanovo, Kazan, Saratov, Ufa
250.800
98.000
436 Stephen Solnick u. Alison R. Bernstein, Preface, in: Kotkin, Innovation, 1–3, 3. 437 Vgl. Henderson, Democracy, 129. Der Grant Database auf der Website der Ford Foundation entnehme ich, dass Gender Studies an der Europäischen Universität Sankt Petersburg auch in den Jahren 2005 ($ 240.000) und 2008 ($ 236.500) Förderungen erhalten haben und das Bestehen des Zentrums somit zumindest bis 2011 finanziell abgesichert war, unter : http:// www.fordfound.org/grants/database/, Zugriff: 30. 8. 2009. 438 Ford Foundation Report, Winter 2002, 66, unter : http://www.fordfound.org/pdfs/impact/ ford_reports_winter_2002.pdf, Zugriff: 30. 8. 2009. 439 John D. and Katherine D. MacArthur Foundation, Grant Awards in Support of Gender Studies, unveröffentlichter Bericht, o. O. 2007. 440 Eigene Berechnungen auf Basis der Angaben in MacArthur Foundation, Grant Awards.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
Gefördert wurden Forschungsprojekte (von elf bis über 18 Monate Dauer, im Ausmaß von $ 9.200 bis 20.000) und Konferenzteilnahmen ($ 1.500 bis 2.300 pro Reise). Weiters wurden institutionelle Unterstützungen mit bis zu dreijähriger Dauer gewährt. Die meisten davon erhielt das Moskauer Zentrum für Gender Studies, dessen Bestehen von 1993 bis 2011 von internationalen Förderfonds gesichert wurde.441 Auch die Universität Saratov bekam $ 175.000 »in support of research and analysis on social policy reforms in contemporary Russia and publication of the ›Journal of Social Policy Studies‹« (2006).442 Zu erwähnen sind auch noch die Unterstützung der MacArthur Foundation für zwei wichtige Institutionen im postsowjetischen Raum, nämlich des Zentrums für Gender Studies in Charkov (über $ 980.000 von 1998 bis 2004)443 sowie der European Humanities University ($ 1.900.000 von 2004 bis 2006), die von 1992 bis 2004 in Minsk (Belarus) bestand und nach ihrer Schließung ›ins Exil‹ nach Vilnius (Litauen) ging.444 Etwas später als die beiden genannten Stiftungen trat eine weitere auf den Plan: »Most important in 1998 the Soros Foundation’s Open Society Institute opened an office of the Network Women’s Program in Russia. The program’s budget of more than $ 500,000 in 1999 and 2000 quickly made it the single largest donor to women’s organizations in Russia.«445 Das Open Society Institute förderte Übersetzungen von Fachliteratur ins Russische, Forschungs- und Publikationsprojekte. In einer Aktion zur Bekanntmachung und Verbreitung von gender-spezifischen Inhalten in geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wurde im Jahr 2000 die Herausgabe von Gender-Studies-Sonderausgaben einiger renommierter russischer Fachzeitschriften finanziert, so zum Beispiel die sozialwissenschaftlichen Zeitschriften »Obsˇcˇestvennye Nauki i Sovremennost’« (Sozialwissenschaften und Gegenwart) und »Sociologicˇeskie Issledovanija« (Soziologische Forschungen) sowie das philosophische Journal »Voprosy Filosofii« (Fragen der Philosophie). Unterstützung erhielt die Geschlechterforschung in Russland auch von einigen Botschaften europäischer Staaten, von der internationalen, in den Niederlanden basierten Stiftung Mama Cash sowie von der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung (bis 1998 Frauenanstiftung). Letztere unterstützte etwa die Publikation eines Büchleins mit dem Titel »Gender dlja cˇajnikov« (Gender für Dummies), in dem namhafte russische Gender-Forscherinnen wie Tat’jana Barcˇunova, Ljudmila Popkova, Irina Tartakovskaja, 441 442 443 444 445
MacArthur Foundation, Grant Awards, 1ff. MacArthur Foundation, Grant Awards, 1. MacArthur Foundation, Grant Awards, 5f. Mac Arthur Foundation, Grant Awards, 1. Vgl. James Richter, Evaluating Western Assistance to Russian Women’s Organizations, in: Sarah E. Mendelson u. John K. Glenn (Hg.), The Power and Limits of NGOs: A Critical Look Building Democracy in Eastern Europe and Eurasia, New York 2002, 54–90, 57.
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Anna Temkina, Elena Zdravomyslova und Elena Omel’cˇenko allgemein verständlich zentrale Fachbegriffe erklären: die sozialen und politischen Interpretationen biologischer Fakten, die russische Geschlechterordnung, Männlichkeit, Arbeit und anderes mehr.446 Diese Reihe wird inzwischen auch in Form von online verfügbaren Videovorträgen aktualisiert und weitergeführt.447 Großzügige Unterstützungen solcherart rufen unter den Bedingungen verknappter Mittel für Wissenschaften, insbesondere für Sozial- und Geisteswissenschaften, mitunter auch Unmut und Missgunst hervor.448 Stephen Kotkin lässt in seinem Bericht für die Ford Foundation einige Wissenschafter_innen zu Wort kommen, die nicht mit Gender Studies sympathisieren: »David Konstantinovsky, the sociologist, said, ›If I write an application for some superficial gender project, I’ll get the money. If I apply for a grant to study, over the course of a decade – high school graduates, their aspirations, their jobs and careers, their values – forget it. Gender was not a theme that produced high-quality intellects. Social mobility was such a theme. The whole thing represents a change of slogans: »liberal society« (replaces »socialist society«); »gender« (replaces »scientific communism«). I go to a conference, and I look over the book exhibit there – rape, domestic violence, gender discrimination. I come home, I read the applications for grants or new research on Russia – rape, domestic violence, gender discrimination. The foundations are not studying, they are pushing. They do not want to understand this society, they want to change it, and they did, just not nearly as much as they wanted to.«449 »Svetlana Barsukova, an economic sociologist at the Higher Economics School, said, »Gender is money, a grant.« A geographer acquaintance of mine said to me, »You have a grant, I sit penniless, what should I do? Gender!« So he applied, for ›the geography of gender‹ and he got a grant. He made a map of the Russian regions with a majority of men: the Gulag had mostly men, so those Gulag-receiving regions ended up with strong majorities of males, while the Nazis killed more men than women, so those regions that had fallen under Nazi occupation had strong majorities of women. That was it – he got the grant, issued a publication with the map and supported himself. I wrote a grant with someone, we finished the draft, then we looked where to insert the word »gender«.«450
446 N. I. Alekseeva (Hg.), Gender dlja cˇajnikov [Gender für Dummies], Moskva 2006. 447 Gender dlja cˇajnikov [Gender für Dummies], unter : http://www.colta.ru/rubrics/60, Zugriff: 31. 3. 2018. 448 Vgl. die Forschungen Michail Sokolovs zur ›armen‹ postsowjetischen Sozialwissenschaft, Sokolov, Sociologija sowie Kapitel 3.5 in diesem Buch. 449 Kotkin, Innovation, 79. In der russischen Frauenbewegung scheinen Themen und Probleme ähnlich auszusehen: »[O]ne seminar participant noted, speaking generally about Western funding, ›Our so-called independent, autonomous women’s movement is dependent on Western funding. They finance what they understand, not necessarily what we really need. Right now crisis centers are popular. How do we as a Russian women’s movement evaluate that?‹« Sperling/Marx Ferree/Risman, Global Feminism, 1170. 450 Kotkin, Innovation, 79.
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Barsukova meint, dass andere Probleme wichtiger seien und zieht wie Konstantinovsky Parallelen zur Rhetorik der Kommunistischen Partei und streicht die Inkompatibilität der vorgegebenen Forschungsthemen mit der russischen Gesellschaft heraus: »Other topics are lost. Factories are closed, there is no work, people are forced to grow their own food, yet we are only studying gender. Sure, there is gender in that question, too, but we only get to study gender. It’s like under the Party. You can do things, many things, provided you mouth the slogans. With foundations, it’s the same thing: We can do a lot, but under certain slogans. These are the slogans: female discrimination, liberal values, tolerant society. These are not the values of a traditional society. If you do not hold them you must fake them, even if you know that it is impossible to instill these values in a traditional society. You cannot take the foundation’s money to show that the foundation is wrong.«451
Ein wichtiger Aspekt der Förderungsmaßnahmen war die Finanzierung von Infrastruktur, insbesondere den Zugang zum Internet betreffend. In meinen Interviews wurde speziell von Respondent_innen aus der russischen Provinz betont, wie essenziell für ihre Auseinandersetzung mit Geschlechterforschung die Möglichkeit war, Texte im Netz zu finden. Manche erwähnen auch, dass ohne westliche Förderfonds ein solcher Zugang nicht gegeben wäre.452 Die Aktivitäten der großen Förderinstitutionen sind allerdings bereits seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre zurückgegangen. Gründe dafür waren einerseits, dass die russische Wirtschaft sich erholt hatte und (bis 2008) starkes Wachstum aufwies, sodass prinzipiell auch mehr staatliche Mittel für Forschung und höhere Bildung vorhanden waren.453 Andererseits waren die internationalen Fördergeber mit den Ergebnissen unzufrieden, die im Verhältnis zu den in die russische Forschung und Bildung gesteckten Dollar-Milliarden eher mager schienen. Besonders schlecht schnitten, etwa im Vergleich zu den Wirtschaftswissenschaften, Gender Studies und Politologie ab. Als strategischer Fehler wird rückblickend der Übergang von der relativ erfolgreichen Förderung von Einzelprojekten zu der Förderung von Institutionen betrachtet.454 Nachdem 2015 das Gesetz gegen unerwünschte ausländische Organisationen in Russland er-
451 Kotkin, Innovation, 80. 452 Siehe dazu Abschnitt 4.1.7. 453 Pavel Romanov u. Elena Iarskaia-Smirnova, ›Foreign Agents‹ in the Field of Social Policy Research: The Demise of Civil Liberties and Academic Freedom in Contemporary Russia, in: Journal of European Social Policy, 25, 4 (2015), 359–365, 361. 454 Scott Jaschik, Lost Opportunity in Russia. Ford Foundation Explores how American Philanthropy May Have Erred While Spending $1 Billion Trying to Aid Post-USSR Academe, in: Inside Higher Ed, 31, 1 (2007), unter : https://www.insidehighered.com/news/ 2007/01/31/russia, Zugriff: 31. 3. 2018.
Geschlechterforschung in Russland
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lassen wurde,455 verließen die meisten der großen Institutionen das Land.456 Die Heinrich-Böll-Stiftung unterhält aktuell noch einen Standort in Moskau, mit Irina Kosterina als Koordinatorin des Gender-Programms.457 Es wäre falsch, anzunehmen, dass es in Russland ohne die Finanzierung durch US-amerikanische, westeuropäische oder internationale Fonds überhaupt keine Geschlechterforschung gegeben hätte,458 sie sähe aber sicher anders aus: Es gäbe weniger involvierte Wissenschafter_innen, Zentren, Studierende und Publikationen, vielleicht wären die Aktivitäten auf das Engagement einiger weniger Enthusiast_innen beschränkt geblieben. Die aktuellen und zukünftigen Entwicklungen werden zeigen, was ohne massive finanzielle Unterstützung möglich sein wird. Anna Temkina und Elena Zdravomyslova konstatierten 2014 nüchtern: »Gender studies became narrower and more critical, since today it does not bring money or compliments, but, on the contrary, it can bring disgrace and humiliation.« Sie weisen auf den politischen Backlash gegenüber Feminismus und Gender Studies hin, betonen jedoch zugleich, dass ein gegenläufiger Trend zu beobachten ist: »[T]he development of a democratic community that shares liberal and leftist ideas. Ideas of gender equality and gender freedom are common among educated young people. We work for them. Our expertise and our educational efforts on any given local agenda are addressed to them. We consider gender studies to be one of the most promising and important directions for public sociology. The anti-patriarchal potential of gender studies in the context of authoritarian tendencies can help the democratic opposition to authoritarianism.«459
Was jedenfalls bleibt, ist das Potenzial an Forschung, Forscher_innen und Netzwerken, das bereits entstanden ist, wie aus folgendem Statement hervorgeht: »›The foundations created network people, people in networks and people oriented toward networks‹, said Pavel Romanov, a sociologist in Saratov and a Ford grant recipient. ›Even if we were to be thrown out of where we are now, we’ll find another working position. We’re qualified, and qualified professionals are in demand. The
455 Föderales Gesetz Nr. 129-F3 vom 23. 5. 2015 »Über die Eintragung von Änderungen in einzelne Gesetzesakte der Russischen Föderation«. 456 Vgl. MacArthur Foundation, Statement of MacArthur President Julia Stasch on the Foundation’s Russia Office, 21. 7. 2015, unter: https://www.macfound.org/press/press-releases/state ment-macarthur-president-julia-stasch-foundations-russia-office/, Zugriff: 31. 3.2018. 457 Vgl. die Website der Heinrich-Böll-Stiftung in Russland, unter : https://ru.boell.org/de, Zugriff: 31. 3. 2018. 458 Ähnliche Aussagen finden sich in einigen meiner Interviews; auch Stephen Kotkin teilt diese Ansicht, vgl. Kotkin, Innovation, 74. 459 Temkina/Zdravomyslova, Path, 266.
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money invested in buildings and institutions can be lost – expropriated. The money invested in people will never be lost.‹«460
4.1.7 Fazit Wie inhomogen, in sich gespalten und marginal Geschlechterforschung in Russland auch sein mag, es gibt sie – wenngleich bereits mehr als fünfzehn Jahre nach ihren ersten Schritten der Evaluierungsbeauftragte der Ford Foundation sich nicht ganz sicher zeigt, ob diese Gender Studies nun eigentlich existierten: »Gender studies in Russia is an implant. It did not exist before the investment in it by Western foundations. In some ways, despite that investment, it still does not exist. Gender studies in Russia lacks a refereed journal, although there is a debate whether it needs a separate journal or should seek to be mainstream. Be that as it may, publications in foreign peer-reviewed journals are scarce; monographs based upon original research are scarce. There are a number of regional collective volumes (sborniki), often based on conferences, which come out in miniscule editions. Gender studies is interdisciplinary, not a discipline, but in Russia gender may have done best among sociologists.«461
Dieses harsche Urteil ignoriert die globale Arbeitsteilung in den Sozial- und Geisteswissenschaften (Welche Hürden muss eine russische Forscher_in überwinden, um einen Artikel in »foreign peer reviewed journals« zu platzieren?). Temkina und Zdravomyslova, deren Bericht in gewisser Weise eine Antwort auf Kotkins wenig optimistische Einschätzung ist, halten dem entgegen: »This report was issued in 2006; by that time the international funding of RGS [Russian Gender Studies, TG] had been substantially cut down, and the report was intended to evaluate the effects of donor investments. The evaluation was rather negative. It is difficult to challenge it but we will try. If we apply the formal criteria of institutionalization to the RGS or approach this field from the perspective of American and European Gender Studies Kotkin is absolutely right. […] We define the current stage of GS institutionalization as a process where different players: individuals and institutions are involved, and standards are under negotiations, conflicts and compromises take place. […] In the last 15 years this branch of knowledge production which is new for Russia has achieved visible results on the path of institutionalization.«462
Feminismus, den ein nicht unbeträchtlicher Teil der Gender-Forscher_innen in Russland für untrennbar mit Geschlechterforschung verbunden sieht, hat im 460 Kotkin, Innovation, 61. 461 Kotkin, Innovation, 74. 462 Temkina/Zdravomyslova, Curricula, 1.
Geschlechterforschung in Russland
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akademischen Umfeld einen schweren Stand, wie die Sozialwissenschafterin Irina Tartakovskaja aus Samara konstatierte: »Der Begriff ›Feminismus‹ ruft bis heute in der hiesigen Akademie eine mehrdeutige Reaktion hervor. Und obwohl man im professionellen Umfeld heute schon selten hört, dass ›Feminismus der Faschismus von heute‹ sei (wie es ein junger und sehr fortschrittlicher Kollege vor gerade einmal sieben Jahren ausdrückte), so sind wir noch weit entfernt von einer Anerkennung feministischer Arbeiten als gleichberechtigte und legitime Teile des Korpus’ sozialer Theorie. Der Großteil meiner Kollegen ist bis zum heutigen Tag überzeugt, dass Feminismus die Ideologie von irgendwie unbefriedigten Frauen ist, die ihr Unbehagen gegenüber dem entgegengesetzten Geschlecht in wenig verständlichen radikalen Texte sublimieren, für deren Verfassen aus irgendwelchen Gründen großzügig ausländische Gelder vergeben werden.«463
Dazu muss allerdings ergänzt werden, dass das Problem der »wenig verständlichen Texte« nicht allein die Geschlechterforschung, sondern die postsowjetischen Geistes- und Sozialwissenschaften allgemein betreffen. Die Gründe dafür liegen in der (post-)sowjetischen Geschichte dieser Fächer, wie Mischa Gabowitz erklärt: »In the Soviet Union, disciplines such as political science or sociology were practically non-existent. Many of the non-fiction works translated over the past decade or so use a terminology which simply has no equivalent in Russian, and translators are forced to use calques or neologisms which are still far from being standardised even within any given discipline. The overwhelming majority of readers, educated in Soviet or even most post-Soviet schools and higher education establishments, simply don’t have the cultural baggage necessary to understand this terminology, and many of the problems that are raised in these books; and this problem is exacerbated by the aforementioned poor quality of translation and editing. There is now a caste of authors in Moscow and Saint-Petersburg (and to a much, much lesser extent in other big cities) who are ›fluent‹ in the new language that consists of words such as ›discourse‹ or ›identity‹ (diskurs and identichnost’), but most of their writings are as esoteric to most middle-aged or elderly readers as those of the foreign authors they translated.«464
463 Irina Tartakovskaja, Recensija: Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova (Hg.), Chrestomatija feministskich tekstov, Sankt-Peterburg 2000 [Rezension: Anna Temkina u. Elena Zdravomyslova (Hg.), Chrestomathie feministischer Texte, Sankt Petersburg 2000], in: Sociologicˇeskij Zˇurnal [Soziologische Zeitschrift], 3 (2001), 177–184, 177, unter : http:// jour.isras.ru/upload/journals/1/articles/704/submission/original/704-1269-1-SM.pdf, Zugriff: 31. 3. 2018, Übersetzung aus dem Russischen TG. 464 Gabowitsch, Translation, o.S.
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4.2
Russlandbezogene Geschlechterforschung
Russian Women’s and Gender Studies: Englischsprachige Länder
Internationale Kooperationen, die russische Geschlechterforscher_innen involvieren, verlangen in der Regel sprachliche und fachliche Kompetenzen des nichtrussischen Gegenübers. Aus diesem Grund soll ein Blick darauf geworfen werden, welchen Stellenwert und welche Präsenz Geschlechterforschung in osteuropaspezifischen Fächern hat. In angelsächsischen Ländern, die eine längere Tradition der interdisziplinären Area Studies aufweisen, handelt es sich um Russian oder East European Studies, vormals Soviet Studies, fallweise auch Russian History oder Slavic Studies (Amerikanisches Englisch) beziehungsweise Slavonic Studies (Britisches Englisch).465 Nicht näher eingehen werde ich auf die skandinavischen Länder, obwohl dort – speziell für Forscher_innen im Nordwesten der Russischen Föderation (z. B. Sankt Peterburg, Tver’) –wichtige Ansprechpartner_innen waren und sind. Denn um die Publikationen, die nicht in Russisch466 oder Englisch467 erschienen sind, zu erfassen, fehlen mir die nötigen Sprachkenntnisse. Fundierte Überlegungen zu russischer Geschlechterforschung und ihrer geopolitischen Verortung aus skandinavischer Perspektive hat Marianne Liljeström verfasst.468 Alena Heitlinger beginnt einen Rezensionsartikel zu »Women in Eastern Europe« mit den Worten: »Had this article been written a decade ago, in the summer of 1973 instead of 1983, my task would have been rather easy. Between 1965 and 1973, only six books and four pamphlets appeared in English in the field of Soviet Women’s Studies.«469 Sie schreibt ihn aber in der ersten Hälfte der 1980er Jahren, und zu dieser Zeit ist ihre Aufgabe schon anspruchsvoller. Als wichtigste Ursache für die wachsende Literatur zu Frauen in der Sowjetunion (um die es vorwiegend geht, selbst wenn es im Titel Eastern Europe heißt) gibt Heitlinger das Wiederentstehen einer Frauenbewegung in Westeuropa und 465 In deutschsprachigen Gebieten sind die entsprechenden Fächer, wie weiter unten dargelegt wird, am ehesten Osteuropäische Geschichte und die sprach- und literaturwissenschaftlich dominierte Slawistik. 466 Vgl. etwa Anna Rotkirch/Anna Temkina, Sovetskie gendernye kontrakty i ich transformacija v sovremennoj Rossii [Sowjetische Geschlechterverträge und ihre Transformation im heutigen Russland], in: Sociologicˇeskie issledovanija [Soziologische Forschungen], 11 (2002), 4–14. 467 Vgl. Marianne Liljeström, Eila Mäntysaari u. Arja Rosenholm (Hg.), Gender Restructuring in Russian Studies. Conference Papers, Helsinki, August 1992, Tampere 1993; Aino Saarinen, Kirsti Ekonen u. Valentina Uspenskaia (Hg.), Women and Transformation in Russia, Abingdon/New York 2014. 468 Marianne Liljeström, Constructing the West/Nordic: The Rise of Gender Studies in Russia, in: Dahl/Liljeström/Manns, Geopolitics, 133–173. 469 Alena Heitlinger, Women in Eastern Europe: Survey of Literature, in: Women’s Studies International Forum, 8, 2 (1985), 147–152, 147.
Russian Women’s and Gender Studies: Englischsprachige Länder
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Nordamerika an:470 Diese Bewegung suchte nach gesellschaftlichen Alternativen, und die mutmaßlich egalitären sozialistischen Kontexte boten sich als solche an. Bis 1980 erschienen im untersuchten Kontext einige Bücher über die Erste Russische Frauenbewegung, revolutionäre und radikale Frauen.471 Richard Stites’ Geschichte der russischen Frauenbewegung galt als Meilenstein.472 Darüber hinaus interessierte man sich für wirtschaftliche und soziale Aspekte des Lebens von Frauen in der Sowjetunion, soweit man angesichts der raren empirischen Daten etwas dazu sagen konnte.473 Der erste einschlägige Konferenzband dokumentiert eine Tagung zu Frauen in Russland und der Sowjetunion, die 1975 in Stanford abgehalten wurde.474 Die frühesten Werke, die Russlandforschung und Geschlechterforschung kombinieren, stammen von amerikanischen Autor_innen. Eine britische Respondentin erzählte auch von einer informellen Gruppe, die zu dieser Zeit in Großbritannien existierte: R 11: »There used to be at [R 11’s workplace] – in the seventies, a Women in Eastern Europe Group and – that was entirely informal, it was not part of the curriculum or anything like that, but it just happened because there was a whole number of women who were doing their research on women’s issues, mainly the Soviet Union but often early Soviet period. Elizabeth Waters was one. And their collaboration led to the book […] Soviet Sisterhood.«
In dem 1985 erschienenen Band »Soviet Sisterhood« fanden sich etwa Beiträge zu sowjetischer Frauenpolitik,475 Geschlechtersozialisation,476 sowjetischen 470 »The revival of the women’s movement in the late 1960s sparked a resurgence of interest in Russian and Soviet women, prompting historians to try to find women omitted from previous historical accounts. […] Some members of this cohort of scholars, myself among them, were personally and politically as well as intellectually motivated. Feminism encouraged women historians to seek ›our‹ past, to tell ›herstory‹.« Barbara Engel, Russia and the Soviet Union, in: Bonnie G. Smith (Hg.), Women’s History in Global Perspective, Bd. 3, Urbana/Chicago 2005, 145–179, 145. 471 Barbara Alpern Engel u. Clifford N. Rosenthal, Five Sisters: Women Against the Tsar, New York 1975; Beatrice Farnsworth, Aleksandra Kollontai: Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution, Stanford 1980; Cathy Porter, Alexandra Kollontai: The Lonely Struggle of the Woman who Defied Lenin, New York 1980. 472 Richard Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism and Bolshevism, 1860–1930, Princeton 19902 (Orig. 1978). Das Buch wurde 1990 um ein Nachwort ergänzt und neu aufgelegt. 473 Hilda Scott, Women and Socialism – Experiences from Eastern Europe, London 1976; Michael Paul Sacks, Women’s Work in Soviet Russia: Continuity in the Midst of Change, New York 1976; Gail Warshofsky Lapidus, Women in Soviet Society : Equality, Development and Change, Berkeley 1978; Jenny Brine, Maureen Perrie u. Andrew Sutton, Home, School and Leisure in the Soviet Union, London 1980. 474 Dorothy Atkinson, Alexander Dallin u. Gail Warshovsky Lapidus (Hg.), Women in Russia, Stanford 1978. 475 Mary Buckley, Soviet Interpretations of the Woman Question, in: Barbara Holland (Hg.),
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
Frauenzeitschriften477 und feministischen Dissidentinnen.478 Als diese Dissidentinnen (Tat’jana Mamonova, Tat’jana Goriceva, Julija Voznesenskaja, Natal’ja Malachovskaja u. a.) einen Frauenalmanach verfassten und aufgrund dessen 1980 die Sowjetunion verlassen mussten, erschien der Almanach in mehreren Sprachen. Das Vorwort der englischen Ausgabe stammte von der im Interviewzitat erwähnten Women in Eastern Europe Group.479 Nach einer Phase der größeren Inaktivität agierte in den 1990er Jahren in Birmingham eine Study Group on Women and Gender in Russia and East-Central Europe, die auch Seminare mit russischen Gastvortragenden veranstaltete. In Großbritannien ist mir zurzeit keine Organisation von Forscher_innen bekannt, die russlandspezifische Geschlechterforschung betreiben. Die Website der British Association for Slavonic and East European Studies listet unter ihren gegenwärtigen study groups keine auf, die sich mit Frauen- und Geschlechterforschung beschäftigen würde.480 Im Lauf der 1980er Jahre bildete sich in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Organisation von Frauen, die osteuropabezogene Geschlechterforschung betreiben. Es begann mit Seminaren, die ab 1982 mit Unterstützung des Russian and East European Center of the University of Illinois Urbana-Champaign von Mary Zirin und Marceline Hutton veranstaltet wurden. Im fünften Jahr des Bestehens dieser Seminare wurde ein Newsletter gegründet. »The first issue (all of five far from crammed pages!) was sent to everyone who had contributed to the seminar in the past and to scholars in a broad range of disciplines
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Soviet Sisterhood – British Feminists on Women in the USSR, London 1985, 24–53; Genia Browning, Soviet Politics – Where are the Women?, in: ebd., 207–236. Lynne Attwood, The New Soviet Man and Woman – Soviet Views on Psychological Sex Differences, in: Holland, Sisterhood, 54–77. Vgl. dazu auch ihre Monografie, dies., The New Soviet Man and Woman. Sex Role Socialization in the USSR, Bloomington/Indianapolis 1990. Maggie MacAndrew, Soviet Women’s Magazines, in: Holland, Sisterhood, 78–115. Alix Holt, The First Soviet Feminists, in: Holland, Sisterhood, 237–265. Woman and Russia. First Feminist Samizdat. Introduced by the Women in Eastern Europe Group, London 1980. Hier ist bemerkenswert, dass die sowjetischen Herausgeberinnen der Originalausgabe in der englischsprachigen Variante nicht aufscheinen. Zum Almanach vgl. Elena Zdravomyslova u. Svetlana Yaroschenko, Die Bedeutung der spätsowjetischen feministischen Kritik oder : »Die Frau und Russland« nachgelesen. Ein Dialog, in: Svetlana Yaroschenko (Hg.), Frauenprojekt. Metamorphosen eines dissidentischen Feminismus. Ansichten einer jungen Generation aus Russland und Österreich, Sankt Petersburg 2011, 42–54. Vgl. die Website der Organisation, unter : http://basees.org/study-groups/, Zugriff: 31. 3. 2018. An folgenden britischen Universitäten arbeiten Forscher_innen, die sich mit russlandspezifischer Frauen- und Geschlechterforschung befassen: University College London (Faith Wigzell, Emerita), London School of Economics (Sarah Ashwin, vormals Warwick), Bath (Rosalind Marsh), Birmingham (Linda Edmondson, Maureen Perrie, Emerita), Glasgow (Rebecca Kay, Francesca Stella), Gloucestershire (Melanie Ilic), Manchester (Hilary Pilkington), Oxford (Dan Healey), Southampton (Jane McDermid).
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whom I knew to be working on gendered topics. It was oriented toward literature, since that is my field, and included an announcement of what eventually became the Dictionary of Russian Women Writers that Marina Ledkovsky, Charlotte Rosenthal, and I published in 1994. […] The first number was dedicated to ›the growing and enthusiastic network of scholars studying various aspects of women’s lives and history in countries now under the Soviet »sphere of influence«‹. How growing and how enthusiastic I couldn’t have imagined!«481
Der Newsletter erhielt ab der zweiten Ausgabe den Titel »Women East-West«. Nach einer Podiumsdiskussion über »Retrieving Russia’s Women: Methodological Problems, Perspectives, and Strategies«, bei der Konferenz der American Association for the Advancement of Slavic Studies (AAASS) in New Orleans im November 1986482 wurde die Gründung einer eigenen Vereinigung beschlossen. Die Association of Women in Slavic Studies (AWSS) wurde 1988 als affiliierte Institution der AAASS gegründet. Sie veranstaltet seither Konferenzen,483 lobt Preise für Forschungsarbeiten und Übersetzungen aus (Barbara-Heldt-Prize, Mary-Zirin-Prize) und versendet nach wie vor besagten Newsletter, inzwischen in elektronischer Form. Gegenwärtig (2017/18) fungiert Betsy Jones Hemenway als Präsidentin der AWSS.484 481 Mary Zirin, History, Website der Association of Women in Slavic Studies (AWSS), unter : http://www.awsshome.org/history.html, Zugriff: 31. 3. 2018. 482 Die Diskutantinnen waren Barbara Norton, Barbara Clements, Ruth Dudgeon, Barbara Engel und Rochelle Ruthchild. »Barbara Engel reported to Women East-West that the gathering ›drew thirty people, whose interest in the subject matter was exceeded only by their desire to continue to meet and exchange ideas‹.« Zirin, History, o. S. 483 Als erstes etwa die Konferenz »Women in the History of the Russian Empire« in Akron, Ohio im August 1988, welche die Basis für einen viel beachteten Sammelband darstellte. Vgl. Barbara Evans Clements, Barbara Alpern Engel u. Christine D. Worobec (Hg.), Russia’s Women: Accommodation, Resistance, Transformation, Berkeley 1991. Die deutsche Historikerin Beate Fieseler, die an dieser Tagung teilnahm, zeigte sich einerseits beeindruckt von der Etabliertheit des Themas in den USA, andererseits äußerte sie sich skeptisch hinsichtlich der Bedeutung der sowjetischen Frauengeschichte: »Diesmal war die Resonanz auf die Kongreßankündigung so stark, daß nicht einmal die Hälfte der eingesandten Vorschläge als Tagungsbeiträge berücksichtigt werden konnte. Dies beweist, wie rege die Geschichte russischer Frauen inzwischen studiert wird. Sie ist, vor allem in den USA, zum Modethema geworden, wie ein Blick auf die Liste der dreißig Referentinnen belegt. Mit Ausnahme kleiner Gruppen aus England, der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz beherrschten Amerikanerinnen das Feld und diktierten die einzige Konferenzsprache: Englisch. Die wohl unfreiwillige Abwesenheit der angekündigten sowjetischen Kollegen Pusˇkareva und Tisˇkin nährt Zweifel daran, daß sich die sowjetische Geschichtswissenschaft in absehbarer Zeit weit genug öffnen wird, um internationalen Austausch zuzulassen.« Beate Fieseler, In a female voice: Good morning, Russia! Eindrücke und Einsichten vom Kongress »Women in the History of the Russian Empire«, University of Akron und Kent State University, U. S. A., August 1988, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), 24, 4 (1988), 539–551, 539. 484 Es scheint in den USA keine eigentliche Konzentration des Themas an bestimmten Universitäten zu geben. Die bekannteren Protagonistinnen der Russian Women’s and Gender
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
In einer Sammelrezension aus dem Jahr 1994 konstatiert die amerikanische Historikerin Barbara Evans Clements: »The study of gender is thriving among those who study Russia.«485 Die frühen 1990er Jahre waren eine Zeit, in der die Sowjetunion beziehungsweise Russland aufgrund der politischen Ereignisse in der Forschung viel Aufmerksamkeit erhielten. Es wurde bekannt, dass eine russische Frauenbewegung und Frauenforschung im Entstehen begriffen waren. In den USA und Großbritannien fanden einige Tagungen statt, die auch russische Teilnehmer_innen hatten, so etwa »Women in Russia and the former USSR« an der University of Bath im Frühjahr 1993.486 Das Spektrum der erforschten Themenbereiche weitete sich aus. Während bis in die 1980er Jahre hinein (abgesehen von literaturwissenschaftlichen Arbeiten) vorwiegend über Frauenarbeit, Frauenbildung und Frauenbewegung in Russland und der Sowjetunion geforscht wurde, so erfuhr die russlandbezogene Frauen- und Geschlechterforschung eine kulturgeschichtliche Erweiterung. Nun entstanden Studien über Weiblichkeitsmythen,487 Sexualität,488 Homosexualität,489 Religion,490 Krieg491 sowie über Phänomene der populären Kultur.492 Wenngleich Frauen und frau-
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Studies wirken an unterschiedlichen Orten: Adele Marie Baker (University of Arizona), Maria Bucur (University of Indiana), Choi Chatterjee (California State University), Barbara Evans Clements (Akron University, Ohio), Barbara Alpern Engel (University of Colorado at Boulder), Laurie Essig (Middlebury College, Vermont), Sibelan Forrester (Swarthmore College, Pennsylvania), Helena Goscilo (Ohio State University), Julie Hemment (University of Massachusetts, Amherst), Beth Holmgren und Jehanne Geith (Duke University, North Carolina); Janet Elise Johnson (Brooklyn College, New York), Gail Lapidus (Stanford University und University of California, Berkeley), Barbara Risman (University of Illinois at Chicago), Rochelle Goldberg Ruthchild (Norwich University ; Davis Center for Russian and Eurasian Studies, Harvard), Valerie Sperling (Clarke University, Iowa), Christine Worobec (Northern Illinois University). Barbara Evans Clements, Russianists Consider Gender : A Look at the State of the Art, in: Journal of Women’s History, 6, 3 (1994), 132–139, 132. Rosalind Marsh (Hg.), Women in Russia and Ukraine, Cambridge 1996. Joanna Hubbs, Mother Russia, The Feminine Myth in Russian Culture, Bloomington/Indianapolis 1988. Vgl. etwa Jane T. Costlow/Stephanie Sandler/Judith Vowles (Hg.), Sexuality and the Body in Russian Culture, Stanford 1993; Laura Engelstein, The Keys to Happiness: Sex and the Search for Modernity in Fin-de-Siecle Russia, Ithaca 1992; Helena Goscilo, Dehexing Sex. Russian Womanhood during and after Glasnost, Ann Arbor 1996; Eric Naiman, Sex in Public: The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton 1997. Laurie Essig, Queer in Russia. A Story of Sex, Self and the Other, Durham/London 1999; Dan Healey, Homosexual Desire in Revolutionary Russia: The Regulation of Sexual and Gender Dissent, Chicago 2001. Marjorie Mandelstam Balzer, Russian Traditional Culture: Religion, Gender, and Customary Law, Armonk 1992; Christine D. Worobec, Possessed: Women, Witches and Demons in Imperial Russia, DeKalb 2001. Anne Noggle (Hg.), A Dance with Death: Soviet Airwomen in World War II, Austin 1994; Deborah Ellis, Women of the Afghan War, Westport, CT 2000; Laurie S. Stoff, Fought for the Motherland: Russia’s Women Soldiers in World War I and the Revolution, Lawrence 2006. Vgl. Lynne Attwood (Hg.), Red Women on the Silver Screen: Soviet Women and Cinema
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enspezifische Themen bis heute den Großteil dieser Forschungen bestimmen, wurde ›Women‹ sukzessive durch ›Gender‹ ersetzt und zusehends werden auch Männer und Männlichkeiten erforscht.493 Im Zusammenhang damit entstanden unter anderem Arbeiten, die sich mit der Figur des Präsidenten Vladimir Putin auseinandersetzen.494 In den letzten Jahren kann man auch eine Stärkung der Queer Russian Studies beobachten, die besonders mit einer transnationalen Komponente eine neue Qualität einbringt. Vor einigen Jahren wurde innerhalb der American Association for Slavic, East European and Eurasian Studies eine Society for the Promotion of LGBTQ Slavic, East European & Eurasian Studies, kurz Q*ASEEES gegründet. Die Verantwortlichen von Q*ASEEES arbeiten teilweise an amerikanischen Universitäten (einige dieser Forscher_innen stammen aus dem postsowjetischen Raum), teilweise an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und formulieren die Mission dieses Projekts folgendermaßen:495 »Q*ASEEES was created to promote all forms of Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, and Queer (LGBTQ) studies in Slavic, East European, and Eurasian societies, including but not limited to history, literary and cultural studies, social sciences, and interdisciplinary studies. We hope to support collaborative work between different disciplines with an interest in our regions. We want to serve as a voice for LGBTQ studies in Central & Eastern Europe and the Former Soviet Union.«496
Mitte der 1990er Jahre schrieben Helena Goscilo und Beth Holmgren, zwei amerikanische Kulturwissenschafterinnen, kritisch-reflexiv über ihr Forschungsfeld: »Russian Women’s studies, much like other late-Twentieth-century studies of obscured subjects is a field that has developed myopically, resembling a well-intentioned, but rather haphazard rescue mission to the alleged margins of Russian culture and society. To a large extent, the field itself formed in response to the myopia of others – of Russianists long blinded to the significance of gender in their material, of feminist scholars who had eyes only for the experience and models of first-world and thirdworld women. Those of us who signed on this expedition have tended to huddle
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from the Beginning to the End of the Communist Era, London 1993; Catherine A. Schuler, Women in Russian Theatre: the Actress in the Silver Age, London/New York 1996; Hilary Pilkington (Hg.), Gender, Generation and Identity in Contemporary Russia, London/New York 1996; Faith Wigzell, Reading Russian Fortunes. Print Culture, Gender and Divination in Russia from 1765, Cambridge 1998. Vgl. Eliot Borenstein, Men without Women: Masculinity and Revolution in Russian Fiction, 1917–1929, Durham 2000; John Haynes, New Soviet Man: Gender and Masculinity in Stalinist Soviet Cinema, Manchester 2003; Rebecca Kay, Men in Contemporary Russia: The Fallen Heroes of Post-Soviet Change?, Farnham 2006. Helena Goscilo (Hg.), Putin as Celebrity and Cultural Icon, London 2012; Kay, Putin. Es handelt sich um Alexander Kondakov, Anita Kumaray, Dan Healey, Feruza Aripova, Kevin Moss, Roman Utkin, Sam Roman Buelow und Veronika Lapina. Vgl. die Website von Q*ASEEES, unter : http://qaseees.org/, Zugriff: 31. 3. 2018.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
together in the familiar confines of our own disciplines and to see what we have been trained to see. We literary scholars, for instance, not only struggled along behind more intrepid parties of historians and political scientists, but also focussed first on women already present in the extant canon, highbrow artists or public figures spotlighted by a male-dominatet critical establishment we have been less discerning in establishing ›alternative sightlines‹ for analysis and evaluation.«497
Sie konstatieren einen »mini-boom« solcher Studien für die 1990er Jahre, an deren Ende Sibelan Forrester stolz verkündet: »For years, major works in Slavic women’s studies have typically begun with a reminder that we Slavists began to consider gender later than Americanists or Western Europeanists, whose work led many of us to feminist research. Perhaps we can stop rehearsing this now […]. Today the major Slavic and East European conferences include panels on women’s and gender issues as well as racism, ethnicities, and sexualities; there is a rich body of publications; and interdisciplinary work in women’s studies at all levels is nurtured by the Association for Women in Slavic Studies and other organizations, which often present some of the most exciting work in the field.«498
Es fällt auf, dass Forrester hier von »Slavic women’s studies« schreibt, also keinen Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und literatur-/kulturwissenschaftlichen Arbeiten macht. Die britische Professorin für Russian Studies Rosalind Marsh etwa unterscheidet im Vorwort zu »Gender and Russian Literature« sehr wohl zwischen Literaturwissenschaft (bzw. -kritik) und anderen Fächern: »Until the 1990s, feminist criticism of Russian literature had lagged some way behind the recuperation and reinterpretation of writing by American and European women, initiated in the late 1960s under the influence of the second wave of the feminist movement in the USA and Western Europe. Feminist criticism of Russian literature had also failed to keep pace with research into the history and contemporary situation of Russian women by historians, sociologists and economists, which began in the mid1970s.«499 497 Helena Goscilo u. Beth Holmgren, Introduction, in: dies. (Hg.), Russia – Women – Culture, Bloomington 1996, IX–XIV, IX; vgl. dazu die ähnlich formulierten Titel »Zˇensˇcˇina Gender Kul’tura« [Frau Gender Kultur], Chotkina u. a., Zˇensˇcˇina; Elisabeth Cheaur8 u. Carolyn Heyder (Hg.), Pol Gender Kul’tura. Nemeckie i russkie issledovanija [Geschlecht Gender Kultur. Deutsche und Russische Forschungen], Bd. 1–3, Moskva 1999, 2000, 2003. 498 Sibelan Forrester, Reviews of Dehexing Sex: Russian Womanhood during and after Glasnost by Helena Goscilo; The Explosive World of Tatyana N. Tolstaya’s Fiction by Helena Goscilo; Gender and Russian Literature: New Perspectives by Rosalind Marsh and Russian Women in Politics and Society by Wilma Rule and Norma C. Noonan, in: Signs, 25, 2 (2000), 556–561, 556. 499 Rosalind Marsh, Introduction: New Perspectives on Women and Gender in Russian Literature, in: dies. (Hg.), Gender and Russian Literature. New Perspectives, Cambridge 1996, 1–37, 2.
Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge
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Generell scheint die Kombination aus russlandspezifischer Forschung und Geschlechterforschung trotz zwischenzeitlicher Booms doch ein Nischenprogramm zu sein. Alexandra Novitskaya untersucht gegenwärtig für ihr Dissertationsprojekt an der Stony Brook University (New York), inwiefern Gender in den Russian Studies und postsowjetische Kontexte in den Gender und Queer Studies eine Rolle spielen. Ihre bisherigen Analysen von großen Konferenzen wie jene der National Women’s Studies Association und der Association of Slavic, Eastern European and Eurasian Studies haben gezeigt, dass die Themen jeweils nur marginal vertreten sind. Diese wenigen Panels oder runden Tische gehören dann, so Novitskayas Beobachtung, auch noch zu jenen mit sehr wenigen Teilnehmer_innen.500
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Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge: Deutschsprachige Länder
Für die deutschsprachigen Länder wäre es wohl übertrieben, von einer florierenden Entwicklung zu sprechen, nichtsdestotrotz lässt sich für die 1990er Jahre ein verstärktes Interesse für russlandspezifische Geschlechterforschung beobachten. Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern kann von Russian Women’s oder Gender Studies nicht die Rede sein. Vielmehr ist die Beschäftigung mit russland- oder osteuropaspezifischer Geschlechterforschung nach Disziplinen aufgeteilt.501 Am sichtbarsten wird solche Forschung in (Sub-)Disziplinen, etwa der Slawistik und der Osteuropageschichte. Darüber hinaus gibt es vereinzelte Soziolog_innen und Politolog_innen, die russlandbezogene Geschlechterforschung betreiben. Eine Organisation, die der AWSS ähnlich wäre, existiert bislang trotz einiger Vernetzungsbestrebungen nicht.
500 Alexandra Novitskaya, Academic Solidarity in Queer and Postsocialist Studies: Interrogating the Points of Non-Intersection, Vortrag bei der Tagung »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity – Queering Concepts on/from a Post-Soviet Perspective«, Wien, 20.– 23. 9. 2017. 501 Eine Ausnahme bildete am ehesten das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOST) in Köln, an dem aber meines Wissens keine Frauen- und Geschlechterforschung betrieben wurde. Es wurde 1961 gegründet und trug bis 1966 den Namen Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie). Im Jahr 2000 wurde es aufgelöst. An der Freien Universität Berlin gibt es ein interdisziplinäres – oder eher multidisziplinäres – Osteuropainstitut, an dem fallweise GenderAspekte in Forschung und Lehre aufgegriffen werden, vor allem in der Slawistik.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
4.3.1 Slawistik In ihrer Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1997 stellt Eva Hausbacher fest, dass Gender Studies in der Slawistik zu diesem Zeitpunkt noch eine Seltenheit waren.502 Anders sah es im Hinblick auf Frauenforschung aus. Hausbacher schlägt zur Periodisierung drei aufeinander folgende Phasen (mit Überschneidungen) vor. In der ersten Phase (1950er–’70er Jahre) kam es vereinzelt zu Publikationen des Typs »Frauen in der sowjetischen Literatur« mit einem allenfalls kontributorischen, aber dezidiert nicht feministischem Anspruch.503 Die zweite Phase begann in den 1970er Jahren und war durch einen feministischen Zugang charakterisiert, der den traditionellen Literaturkanon kritisch in Frage stellte: zum einen durch das Aufzeigen von misogynen Anteilen im Werk von Größen der russischen Literatur, zum anderen durch die Erforschung von bis dahin wenig bekannten Schriftstellerinnen. Die Autor_innen, die Hausbacher nennt, stammen ausschließlich aus den USA.504 Eine internationale Tagung mit dem Titel »Rußland aus der Feder seiner Frauen. Zum femininen Diskurs in der russischen Literatur«, die 1992 in Potsdam stattfand, kann als deutscher Beitrag zu dieser Phase betrachtet werden. Neben bekannten Dichterinnen wie etwa Zinaida Hippius wurden dabei auch in Vergessenheit geratene oder aber aktuelle Vertreterinnen der zˇenskaja proza (Frauenprosa) wie Tat’jana Tolstaja oder Ljudmila Petrusˇevskaja besprochen. Der Herausgeber des Bandes (ungewöhnlicherweise keine Herausgeberin!) formulierte im Vorwort zurückhaltende Kritik am literarischen Kanon: »Gingen die Auffassungen darüber, in welcher Weise der Platz von Dichterinnen in der russischen Poesiegeschichte zu kennzeichnen sei, wie sich weibliches Schreiben in Rußland realisieren konnte und welche eigenständigen, von der Literaturgeschichtsschreibung vernachlässigte Aspekte ins Blickfeld zu heben seien, auch weit auseinan502 Eva Hausbacher, Gender Studies in der Slawistik, in: Die Slawischen Sprachen, 55 (1997), 47–60. 503 Hausbacher nennt beispielhaft Xenia Gasiorowska, Women in Soviet Fiction 1917–1964, Madison u. a. 1968, und Elsbeth Wolffsheim, Die Frau in der sowjetischen Literatur, 1917– 77, Stuttgart 1979. Bezeichnenderweise stammt nur eines ihrer Beispiele von einer deutschen Autorin, vgl. Hausbacher, Slawistik, 50. Zur kontributorischen Frauenforschung vgl. Gerda Lerner, Welchen Platz nehmen Frauen in der Geschichte ein? Alte Definitionen und neue Aufgaben, in: Elisabeth List (Hg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt a. M. 1989, 334–352. 504 Die einzige deutsche Ausnahme stellt ein in Freiburg zusammengestelltes Verzeichnis russischer Schriftstellerinnen dar: Elisabeth Cheaur8, Russische Dichterinnen und Schriftstellerinnen: Bestandsverzeichnis der literaturwissenschaftlichen Spezialsammlung des Slavischen Seminars der Universität Freiburg, Teil I, Freiburg i. Br. 1995; dies. u. Simone Fischer, Russische Dichterinnen und Schriftstellerinnen: Bestandsverzeichnis der literaturwissenschaftlichen Spezialsammlung des Slavischen Seminars der Universität Freiburg, Teil II, Freiburg i. Br. 1996.
Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge
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der, so wurde doch eines deutlich: Bei allen ›weißen Flecken‹ in der Forschung zur russischen Frauenliteratur ist im einzelnen mehr Material gesammelt und aufbereitet worden, als dies Literaturgeschichten entnommen werden könnte.«505
Die dritte Phase, beginnend in den 1980er Jahren,506 kann bereits vorsichtig als Gender Studies in der Slawistik bezeichnet werden. Nunmehr wurden Arbeiten verfasst, »die ihre Fragestellungen ins Typologische, Kulturanthropologische ausweiten und literatur- und kulturtheoretische Ansätze einführen, die zu einer Um- oder Neuformulierung von Literaturwissenschaft führen. Man entfernte sich zunehmend von einer allein inhaltsbezogenen Analyse und dem einfachen Untersuchungsschema ›Literaturgegen-Realität‹.«507
Es wurde dabei vielfach auf poststrukturalistische Theorien zugegriffen, wobei Hausbacher vor allem auf die Rezeption französischer Autor_innen wie Barthes, Cixous, Derrida, Irigaray oder Kristeva hinweist. Für die dritte Phase ließen sich auch schon deutschsprachige Protagonistinnen anführen: Elisabeth Cheaur8 und Christina Parnell. Letztere veranstaltete im Jahr 1995 die internationale Konferenz »Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe in der russischen Frauenprosa« an der Pädagogischen Hochschule Erfurt.508 Wiewohl der Fokus noch eindeutig auf Schriftstellerinnen, ›weiblichem‹ Schreiben und Denken und anderen weiblich konnotierten Themen liegt, kann die Tagung als ein Schritt in Richtung dekonstruktivistischer Gender-Forschung verstanden werden. Da sich ab den späteren 1990er Jahren zunehmend gemeinsame Aktivitäten von Slawist_innen und Osteuropahistoriker_innen abzeichnen, werde ich nun kurz die Entwicklung von Geschlechterforschung in der Osteuropageschichte schildern, um dann mit einer mehr oder weniger gemeinsamen Geschichte, vor allem anhand von Konferenzen exemplifiziert, fortzufahren.
4.3.2 Osteuropageschichte Die institutionalisierte Osteuropäische Geschichte im deutschsprachigen Raum ist gerade etwas über hundert Jahre alt. Das älteste Extraordinariat wurde 1892 505 Frank Göpfert, Vorwort, in: ders. (Hg.), Rußland aus der Feder seiner Frauen. Zum femininen Diskurs in der russischen Literatur. Materialien des am 21./22. 5. 1992 im Fachbereich Slavistik der Universität Potsdam durchgeführten Kolloquiums, München 1992, 5f, 5. 506 Das gilt allerdings nicht für die deutschsprachige Forschung, in der diese Ansätze erst im Lauf der 1990er Jahre aufgegriffen wurden. 507 Hausbacher, Slawistik, 52. 508 Christina Parnell (Hg.), Frauenbilder und Weiblichkeitsentwürfe in der russischen Frauenprosa: Materialien des wissenschaftlichen Symposiums in Erfurt 1995, Frankfurt a. M. 1996.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin eingerichtet und zehn Jahre später zu einem eigenständigen Seminar ausgebaut. Das Wiener Seminar (heute: Institut) für osteuropäische Geschichte besteht seit 1907, in der Schweiz existieren erst seit 1971 eigene Lehrstühle für osteuropäische Geschichte.509 Eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Forschungsgebiet einen Spezialfall (im Gegensatz zu einer ›allgemeinen‹ Geschichte) darstellt, neigt wenig dazu, eine weitere Spezialisierung, auf Frauen- oder Geschlechtergeschichte vorzunehmen. Carmen Scheide steuerte zum Tagungsband anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Berliner Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte das (inzwischen obligatorische) Kapitel zur Frauen- und Geschlechterforschung bei.510 Sie zeigt darin, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allenfalls Arbeiten über Zarinnen vorgelegt wurden – nicht als »Frauengeschichte«, sondern als traditionelle politische Geschichte, in der die herrschende Person eben manchmal eine Frau ist.511 In dieser Zeit entstanden auch noch einige Arbeiten zu zeitgenössischen frauenbezogenen Themen (Erste Frauenbewegung, Zugang zu Bildung und Erwerbsarbeit für Frauen u. a.), die aber vereinzelt blieben und keine spezifische Frauengeschichte begründeten. Eine Veränderung konstatiert die Autorin ab den 1960er/’70er Jahren. Das Entstehen einer Zweiten Frauenbewegung in den USA und Westeuropa wie die steigende Bedeutung sozialgeschichtlicher Zugänge werden als Faktoren gewertet, welche die geschichtswissenschaftliche Arbeit zu Frauenthemen fördern.512 Eine weitere Zäsur stellten – nicht nur für die osteuropabezogene Geschlechtergeschichte – die politischen Veränderungen in Osteuropa, insbesondere das Ende der Sowjetunion dar. Steigende öffentliche Aufmerksamkeit für eine Region oder ein Thema führt in der Regel auch zu deren häufigerer Präsenz in sozial- und geisteswissenschaftlichen Publikationen. Die geöffneten Grenzen vereinfachten Forschungsaufenthalte, und auf zuvor nicht oder schwer zugängliche Archive konnte nun zugegriffen werden. Carmen Scheide kommt zu dem Schluss, dass seit den 1980er Jahren die Zahl der frauen- und geschlech509 Vgl. Andreas Kappeler, Osteuropa und osteuropäische Geschichte aus Züricher, Kölner und Wiener Sicht, in: Dittmar Dahlmann (Hg.), Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Stuttgart 2005, 149–157. 510 Carmen Scheide, Von Katharina der Grossen zu Svetlana Pavlovna. Zur Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Osteuropaforschung, in: Dahlmann, Osteuropäische Geschichte, 227–235. 511 Hier ist auch an Chandra Talpade Mohantys, hier in Kapitel 3.4.2 vorgestelltes, Modell der Auseinandersetzung mit nicht-›westlichen‹ Frauen zu erinnern, die durch den Fokus auf Frauen als Opfer oder auf berühmte Frauenfiguren charakterisiert ist. Vgl. Mohanty, Revisited, 518. 512 Vgl. Natalie Zemon Davis, Gesellschaft und Geschlechter : Vorschläge für eine neue Frauengeschichte, in: dies., Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1989, 117–132.
Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge
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terspezifischen Forschungsarbeiten in der osteuropäischen Geschichte gewachsen ist, die meisten davon aber nach wie vor aus englischsprachigen Kontexten stammen.513 Claudia Kraft charakterisierte in einem Diskussionsbeitrag zur Mailingliste »H-Soz-u-Kult« die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die ›allgemeine‹ Geschichte und veranstaltete mehrere Symposien zum Thema.514 In der österreichischen Geschichtswissenschaft wird osteuropabezogene Geschlechterforschung von der Zeitschrift »L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft« thematisiert.515 Im Juni 2004 veranstalteten deren Herausgeberinnen eine internationale Tagung unter dem Titel »Continuities and Discontinuities. Women’s Movement and Feminism(s) in Central, Eastern and Southeastern Europe (19th and 20th Centuries)« an der auch einige russische Kolleg_innen teilnahmen.516 Weiters zu erwähnen ist ein Band, den das Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien als Begleitpublikation zu einer Ringvorlesung herausgegeben hat.517
4.3.3 Interdisziplinäre Zugänge Seit der zweiten Hälfte der 1990er fanden in Deutschland, Österreich und der Schweiz einige interdisziplinär angelegte Tagungen statt, die zunächst der generellen Bestandsaufnahme der Arbeiten in der russlandbezogenen Geschlechterforschung dienten. Immer wieder wurde auch die Wichtigkeit von 513 Diese Feststellung erinnert stark an die Aussagen russischer Respondent_innen (insbes. aus der russischen Provinz) über die Dominanz englisch- und französischsprachiger Autor_innen in den Gender Studies. Vgl. Kapitel 3.2.2. 514 Vgl. Claudia Kraft, Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die »allgemeine« Geschichte, in: H-Soz-u-Kult, 6. 6. 2006, unter : http://hsozkult.ge schichte.hu-berlin.de/forum/2006-06-005, Zugriff: 31. 3. 2018. 515 L’Homme. Z. F. G., 15, 1 (2004), Post/Kommunismen, hg. v. Caroline Arni/Gunda BarthScalmani/Ingrid Bauer/Christa Hämmerle/Margareth Lanzinger u. Edith Saurer ; L’Homme. Z. F. G., 16, 1 (2005), Übergänge. Ost-West-Feminismen, hg. v. Ute Gerhard u. Krassimira Daskalova; sowie ein Forum zu Gender Studies in Russland im Themenheft »Leben texten« aus dem Jahr 2003, vgl. Zemskov-Züge, Gender Studies; Khmelevskaja/ Nikonova, Provinz. 516 Vgl. dazu Elisabeth Frysak, Margareth Lanzinger u. Edith Saurer, Frauenbewegung(en), Feminismen und Genderkonzepte in Zentral-, Ost- und Südosteuropa. Internationale Vernetzung und Kommunikation: Projekt, Publikation, Konferenz, in: L’Homme. Z. F. G., 15, 1 (2004), 117–121; sowie den Tagungsband Edith Saurer, Margareth Lanzinger u. Elisabeth Frysak (Hg.), Women’s Movements. Networks and Debates in Post-Communist Countries in the 19th and 20th Centuries (L’Homme Schriften 13), Köln/Weimar/Wien 2006. 517 Marija Wakounig (Hg.), Die gläserne Decke Frauen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert (Querschnitte 11), Innsbruck/Wien/München 2003.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
Netzwerkbildungen betont, wobei trotz internationaler Beteiligung an den Konferenzen eher Kontakte innerhalb des deutschsprachigen Raumes gesucht wurden als solche mit russischen Kolleg_innen. Diese Konferenzen waren dezidiert interdisziplinär und international konzipiert, wobei die beabsichtigte Überwindung von Disziplinen-, Sprach- und Kulturgrenzen nicht immer gelang. Im September 1997 wurde vom Institut für Slawistik der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit der österreichischen UNESCO-Kommission eine Tagung veranstaltet, die aus soziologischer, kulturhistorischer, literatur- und filmwissenschaftlicher Perspektive verschiedenste Aspekte der Institutionalisierung und Repräsentation von »Frauen in der Kultur« Mittel- und Osteuropas diskutierte. Der Schwerpunkt lag dabei auf Literaturwissenschaft, die sich mit von Frauen verfassten Werken befasst. Während diese Beiträge zum Teil sehr spezialisiert waren, blieben die soziologischen Beiträge eher auf allgemeinem Niveau (»Weibliche politische Partizipation in Belarus«, »Situation der Frauen in der Tschechischen Republik«, »Der Status der Frau – Internationale Konventionen und Resolutionen der Vereinten Nationen«), sodass hier eher der Eindruck eines Neben- statt eines Miteinanders entstand. Ursula Doleschal und Barbara Wurm rezensierten den aus dieser Tagung entstandenen Sammelband.518 »Die Vielfalt der interessanten Ansätze – thematisch und methodisch sowie auch Anspruch und Durchführung betreffend – ist gleichzeitig auch die Schwierigkeit dieses Sammelbandes. Die Heterogenität der Einzelstudien wird zwar im kurzen und strategisch klugen Vorwort angesprochen und durch die Zusammenstellung der vier Kapitel überbrückt, es findet jedoch weder eine Auseinandersetzung mit einer sich anbietenden interdisziplinären und interkulturellen Perspektive noch eine (meta-)theoretische Reflexion des Gegenstandsbereichs und der Forschungsparadigmen statt. Einzig der Beitrag ›Rußland. Konzept. Frau‹ (Brigitte Obermayr) bietet eine Perspektive an, aus der das Phänomen der Alterität (Rußland/der Osten als das Andere, die Frau als die/das Andere) als Imperialismusphänomen verstanden wird. Hier wird deutlich, daß der schwierige Einzug der gender studies in die Slawistik mit einem Übertragungsbzw. Übernahmeproblem einhergeht.«519
Diese Beurteilung erinnert etwas an die in den späten 1990er Jahren aufkommende innerrussische Kritik an den »Pseudo-Gender Studies« der es unter anderem an kritischen und analytischen Aspekten fehle.520 518 Christine Engel u. Renate Reck (Hg.), Frauen in der Kultur. Tendenzen in Mittel- und Osteuropa nach der Wende, Innsbruck 2000. 519 Ursula Doleschal u. Barbara Wurm, Frauen. Kultur. Mittel- und Osteuropa oder : Über den langsamen Einzug der gender studies in die slawistischen Kulturwissenschaften, Rezension in: Querelles-Net, 3 (2001), Osteuropa und Rußland, o. S., unter : http://www.querelles-net. de/index.php/qn/article/view/38, Zugriff: 31. 3. 2018. 520 Voronina, Ol’ga, Sociokul’turnye determinanty razvitija gendernoj teorii v Rossii i na Zapade [Soziokulturelle Determinanten der Entwicklung von Gender-Theorie in Russland
Slawistik, Osteuropageschichte und interdisziplinäre Zugänge
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Am Slavischen Seminar der Universität Freiburg sind seit Mitte der 1990er Jahre laufend Projekte angesiedelt, die Geschlechterforschung und russlandbezogene Forschung verbinden. Auf konkrete Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Forscher_innen zielte das Projekt »Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften am Beispiel Russlands« (1998–2002) ab.521 In diesem Rahmen galt es, Texte aus der Geschlechterforschung vom Deutschen ins Russische zu übertragen, mit besonderer Berücksichtigung genauer und kontextsensibler Übersetzung. Als Ergebnis dieser Kooperation, an der russische Forscher_innen aus Moskau (Zoja Chotkina, Natal’ja Pusˇkareva, Galina Zvereva u. a.), Sankt Petersburg (Irina Jukina), Ivanovo (Ol’ga Sˇnyrova), Tver’ (Evgenija Stroganova) und anderen russischen Städten beteiligt waren, liegen zum einen drei Bände in russischer Sprache vor, teils mit übersetzten, teils mit russischen Originalbeiträgen.522 Zum anderen wurden Aufsätze russischer Forscher_innen einem deutschsprachigen Publikum nahegebracht, nämlich in den Sammelbänden zu den Tagungen »Russische Kultur und Gender Studies« (Berlin 2000) und »Vater Rhein – Mutter Wolga« (Freiburg 2002).523 Seit 2014 gibt es ein deutsch-russisches Graduiertenkolleg, gemeinsam organisiert von der Universität Freiburg und der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau. Das Thema »Kulturtransfer und ›kulturelle Identität‹ – Deutsch-russische Kontakte im europäischen Kontext« fokussiert nicht explizit auf Geschlechterforschung, einzelne darin geförderte Projekte allerdings haben diesen Schwerpunkt.524 Eine wichtige Initiative fand 2001 in Basel statt – dem einzigen deutschsprachigen Institut für osteuropäische Geschichte, »an dem mehr als eine Frauen- und Geschlechterforscherin eine wissenschaftliche Stelle innehaben«.525 Zum Zweck der Vernetzung wurde von Heiko Haumann, Monika Rüthers, Carmen Scheide, Anke Stephan und Daniela Tschudi die Basler Initiative für
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und im Westen], in: Obsˇcˇestvennye nauki i sovremennost’ [Sozialwissenschaften und Gegenwart], 4 (2000), 9–20, 12; dies., Recept, 177. Vgl. dazu die Presseinformation der Volkswagenstiftung, die dieses Projekt finanziert hat: Neun Millionen Euro für Projekte zur Frauen- und Geschlechterforschung in den vergangenen fünf Jahren, 28. 8. 2002, unter : https://idw-online.de/de/news52069, Zugriff: 31. 3. 2018. Cheaur8/Heyder, Pol Gender Kul’tura. Elisabeth Cheaur8/Carolyn Heyder (Hg.), Russische Kultur und Gender Studies, Berlin 2002. So z. B. das Projekt »Geschlechterdiskurse in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion als Produkt und Medium von Kulturtransfers« von Anna Sator, unter: https:// www.igk-kulturtransfer.uni-freiburg.de/p/g3/anna-sator/#projekt, Zugriff: 31. 3.2018. Natali Stegmann, Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von osteuropäischer Geschichte und Geschlechterforschung, in: Osteuropa, 52, 7 (2002), 932–944, 938. Zumindest war das Anfang des Jahrtausends der Fall.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
Gender Studies in der Osteuropaforschung (BIG-O) gegründet.526 Eine Tagung sollte die Möglichkeit bieten, aktuell laufende Projekte vorzustellen und so eine Basis für interdisziplinäre und interuniversitäre Zusammenarbeit zu bereiten. Neben theoretischen und methodischen Fragen (z. B.: Inwiefern lässt sich die Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat«, die für die westeuropäische Frauen- und Geschlechterforschung so zentral ist, auf sowjetische und postsowjetische Kontexte übertragen?) wurde auch erwogen wie Kooperationen mit Kolleg_innen in Osteuropa in die Praxis umgesetzt werden können. Als problematisch wurde dabei bemerkt, »in Russland werde ein sehr essentialistischer Geschlechter-Diskurs geführt, während im Westen dekonstruktivistische Ansätze dominierten«. Weiters sei in »den osteuropäischen Ländern […] der theoretische Gender-Diskurs nicht aus einer politischen Frauenbewegung heraus entstanden, sondern dem Dialog mit westlichen WissenschafterInnen entsprungen«.527 Es ist mir nicht bekannt, was aus der Basler Initiative im Weiteren geworden ist, da – von zwei Tagungsberichten abgesehen528 – auch auf der Website der Initiative529 nichts Neues zu erfahren war. Osteuropahistoriker_innen der Universität Basel kooperierten ab 2005 mit ˇ eljabinsk, fallweise auch im Feld der der Staatlichen Universität des Südurals in C 530 Gender Studies. Neue Impulse erhielt die slawistische Geschlechterforschung durch die Arbeiten von Dennis Scheller-Boltz (Wirtschaftsuniversität Wien), zu dessen Arbeitsfeldern Genderlinguistik gehört. Er konstatiert in der Russistik mangelndes Interesse für »sprachliche Phänomene im Identitäts- und Geschlechterkontext«531 und fordert eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung damit. Ähnlich sieht er die russischsprachige postsowjetische Linguistik unter Zugzwang, poststrukturalistische Zugänge, die davon ausgehen,
526 Eva Hausbacher, Gender Studies in der Osteuropaforschung. Bericht von der gleichnamigen Tagung vom 12.–13. 7. 2001 in Basel, in: Österreichische Osthefte, 43, 4 (2002), 555–559. 527 Hausbacher, Gender Studies, 556f. 528 Vgl. auch Claudia Krafts Bericht über die Tagung: Claudia Kraft, Wo steht die Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Osteuropaforschung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 50, 1 (2002), 103–107. 529 Website der Basler Initiative für Gender Studies in der Osteuropaforschung, unter : https:// dg.philhist.unibas.ch/bereiche/osteuropaeische-geschichte/archiv/alte-projekte/big-o/, Zugriff: 31. 3. 2018. 530 Vgl. dazu die Website des Kooperationsprojektes, unter : http://isem.susu.ac.ru/, Zugriff: 31. 3. 2018. Ein Workshop über »Neue Wege der Biografik in der Europäischen Geschichte« wurde von den beiden Universitäten 2014 in Basel veranstaltet, vgl. die Ankündigung unter : https://dg.philhist.unibas.ch/en/aktuelles/agendaeintrag/browse/32/article/640/neue-we ge-der-biografik-in-der-europaeischen-geschichte/, Zugriff: 31. 3. 2018. 531 Dennis Scheller-Boltz, Identität als polydimensionales Selbst. Zu Verständnis und Konstruktion geschlechtlicher und sexueller Identität in Russland. Eine allgemeine Einführung für Slawist_inn_en, in: Academic Journal of Modern Philology, 4 (2015), 89–120, 116.
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dass Sprache und außersprachliche Realität einander wechselseitig beeinflussen, zu stärken und so mehr Aufmerksamkeit auf Geschlechteraspekte zu legen.532 Fallweise findet sich osteuropabezogene Geschlechterforschung auch in Fächern wie Soziologie oder Politikwissenschaft, die meistens nicht über Russland oder osteuropäische Kontexte forschen. Rita Stein-Redent hat an der Universität Bielefeld über den Wandel der Familie in Russland habilitiert und dabei die Periode von 1917 bis zum beginnenden dritten Jahrtausend untersucht.533 Martina Ritter hat zwischen 1996 und 2000 in Projekten zum Thema »Das Geschlechterverhältnis und die Entstehung von Öffentlichkeit und Privatheit im Russland der Transformation« geforscht und sich mit diesem Thema auch habilitiert.534 Im Jahr 2001 hat sie einen Band über Zivilgesellschaft und Geschlechterpolitik in Russland mit den Beiträgen einer russisch-deutschen Konferenz in Moskau 1999 herausgegeben.535 Ebenso wie Martina Ritter hat Ingrid Oswald bis zu ihrem Tod im Jahr 2013 viel mit dem Zentrum für Unabhängige Sozialforschung in Sankt Petersburg zusammengearbeitet und Arbeiten zu Migration, sozialem Wandel und Stadtentwicklung in Russland verfasst.536 In diesem Zusammenhang ist auch auf eine von der Europäischen Union geförderte Kooperation zwischen russischen, deutschen und österreichischen Sozialwissenschafter_innen hinzuweisen, die der Entwicklung eines Curriculums für soziologische Geschlechterforschung an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg diente.537 In die interdisziplinäre Geschlechterforschung gelangten osteuropabezogene Themen eher selten und wenn, dann zumeist mit jeweils aktuellen politischen Konjunkturen. In den Jahren 1992 und 1999 wurden in zwei Ausgaben der »Feministischen Studien« übersetzte Beiträge russischer Forscherinnen veröf532 Dennis Scheller-Boltz, Russian Gender Linguistics Forced to Respond – Can Women Be Made Visible in Communication?, in: Olena Petrivna Levcˇenko (Hg.), Ljudina. Komp’juter. Komunikacija. Zbirnik naukovich prac‹ [Mensch. Computer. Kommunikation. Wissenschaftlicher Sammelband], L’viv 2015, 95–102. 533 Rita Stein-Redent, Zum Wandel der Familie in Russland. Eine Bestandsaufnahme ihrer Veränderungen zwischen 1917 und heute, Hamburg 2008. 534 Martina Ritter, Alltag im Umbruch: Zur Dynamik von Öffentlichkeit und Privatheit im neuen Russland, Hamburg 2008. 535 Martina Ritter (Hg.), Zivilgesellschaft und Gender-Politik in Russland, Frankfurt a. M./New York 2001. 536 Ingrid Oswald/Eckhard Dittrich/Viktor Voronkov (Hg.), Wandel alltäglicher Lebensführung in Rußland: Besichtigungen des ersten Transformationsjahrzehnts in St. Petersburg, Münster 2002; Oswald, Gender-Display. 537 Involviert waren neben der Staatlichen Universität Sankt Petersburg die Universität Bielefeld und die Universität Wien. Das Projekt lief von 2002 bis 2005. Vgl. Frauen und Geschlechterforschung soll in St. Petersburg etabliert werden, in: Bielefelder Universitätszeitung, 212 (2002), 42f; Müller u. a., Gendernye issledovanija, siehe dazu auch Abschnitt 4.1.5.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
fentlicht.538 Im Dezember 1999 veranstaltete das Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Tagung mit dem Titel »Gender in Transition in Eastern and Central Europe«, auch mit Beteiligten aus Russland (Zoja Chotkina, Julija Gradskova539 und Ol’ga Lipovskaja).540 Zunächst tauchte das Thema im Gefolge des Falls des ›Eisernen Vorhangs‹ und des Zusammenbruchs der Sowjetunion auf und um das Jahr 2000 (»zehn Jahre danach«) entstand ein zweiter kleinerer Boom. In Österreich erschien im Rahmen einer vom Wissenschaftsministerium geförderten Publikationsreihe zur Frauen- und Geschlechterforschung ein Band zu Ost- und Südosteuropa.541 Ich erwähne auch eine Konferenz, die ich selbst im Rahmen meiner Tätigkeit am Referat für Genderforschung der Universität Wien im November 2005 mitorganisiert habe: »A Canon of Our Own?« In diesem Zusammenhang wurde besonderer Wert auf die Position postsowjetischer Forscherinnen gelegt, von denen einige als Teilnehmerinnen gewonnen werden konnten.542 Katharina Wiedlack, eine Amerikanistin und Kulturwissenschafterin, widmet sich in ihrem laufenden Habilitationsprojekt der US-amerikanischen Perspektive auf Russland unter besonderer Berücksichtigung von Minderheiten (z. B. Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politisch Verfolgte). Sie und andere Kolleginnen kooperieren im transnationalen Projekt »Bodypolitix«, das die Bereiche Queer Studies, Migrationsforschung und Disability Studies verbindet und akademisch forschend wie politisch aktiv ist.543 Seit der Jahrtausendwende scheint das Interesse an russlandbezogener Forschung zurückzugegangen zu sein. Das sprachen einige meiner Respondent_innen an, britische und russische ebenso wie deutsche. Im deutschsprachigen Raum wird über sinkende Studierendenzahlen in der Slawistik geklagt544 538 Vgl. Feministische Studien, 10, 2 (1992), Umbruch in Europa, Aufbruch der Frauen?, hg. v. Ute Gerhard u. Eva Senghaas-Knobloch; Feministische Studien, 17, 1 (1999), Geschlechterverhältnisse in Rußland, hg. v. Claudia Gather/Regine Othmer/Martina Ritter ; siehe dazu auch die Auswertung der Fachzeitschriften für Women’s/Gender/Feminist Studies in Kapitel 4.4. 539 Julija Gradskova arbeitet heute an der Södertorn Universität in Stockholm. 540 Vgl. Gabriele Jähnert u. a. (Hg.), Gender in Transition in Eastern and Central Europe. Proceedings, Berlin 2001. 541 Alice Pechriggl u. Marlen Bidwell-Steiner (Hg.), Brüche, Geschlecht, Gesellschaft, Gender Studies zwischen Ost und West (Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft 16), Wien 2003. 542 So etwa Anna Temkina und Elena Zdravomyslova, die über Gender Studies in Russland sprachen sowie Tat’jana Barcˇunova, die sich mit den Problemen der korrekten Übersetzung feministischer Texte ins Russische auseinandersetzte. Die Tagungsbeiträge wurden veröffentlicht, vgl. Marlen Bidwell-Steiner/Karin S. Wozonig (Hg.), A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies, Innsbruck/Wien/Bozen 2006. 543 Vgl. die Website des Projekts, unter : https://bodypolitix.me/, Zugriff: 31. 3. 2018. 544 Bereits 1997 stellt Klaus Steinke mit Besorgnis sinkende Studierendenzahlen in der Slawistik fest: Der sogenannte »Gorbi-Effekt«, also ein gestiegenes Interesse an Russland und
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und die – auch im Zusammenhang mit weltpolitischen Entwicklungen – zurückgehende Bedeutung von Forschung über Russland festgestellt.545 Was russlandspezifische Geschlechterforschung angeht, so scheint sie trotz einer inzwischen beeindruckenden Anzahl und Vielfalt an Forschungsarbeiten nicht so recht etabliert zu sein. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Die Osteuropahistorikerin Carmen Scheide nennt zunächst etwa die Tatsache, dass sich nicht ausschließlich, aber hauptsächlich Frauen mit dieser Materie befassen: »Da eine Vermännlichung typisch für aufsteigende Hierarchien ist, es also kaum Professorinnen gibt, fallen frauen- und geschlechtergeschichtliche Themen aus dem historischen Wissens- und Lehrkanon heraus.«546 In Deutschland sind als ordentliche Professorinnen, zu deren Forschungsschwerpunkten osteuropabezogene Geschlechterforschung gehört, Elisabeth Cheaur8 (Slawistik, seit 1990, zusätzliche Lehrbefugnis Gender Studies seit 2003) an der Universität Freiburg, Bianca Pietrow-Ennker (Osteuropäische Geschichte, seit 1995) an der Universität Konstanz und Claudia Kraft (Ostmitteleuropäische Geschichte) an der Universität Erfurt (2005–2011)547 zu erwähnen. In Österreich sind Ursula Doleschal in an der Universität Klagenfurt, mit dem Schwerpunkt Sprachwissenschaft, und Eva Hausbacher an der Universität Salzburg, mit den Schwerpunkten Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften, Universitätsprofessorinnen für Slawistik, zu deren Forschungsfeldern Gender Studies zählen. Ansonsten ist russlandbezogene Geschlechterforschung augenscheinlich eher Sache von Diplomand_innen, Dissertant_innen und Privatdozent_innen.548 Es lässt sich auch beobachten, dass zwar eine Reihe bemerkenswerter Dissertationen und teilweise auch Habilitationen in Buchform erschienen sind, die Autor_innen sich danach aber nicht mehr oder nicht schwerpunktmäßig mit diesem Thema befassten. In manchen Fällen ist der Grund dafür die »durchaus positive deutsche Wissenschaftssitte, sich nach der Dissertation einem neuen Forschungsgebiet zuzuwenden«.549 Abgesehen von einem Themenwechsel in der postdoktoralen Forschung verlassen Frauen in dieser Karrierephase auch des
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der Sowjetunion aufgrund der politischen Ereignisse der 1980er und frühen 1990er Jahre, zeige keine Wirkung mehr. Vgl. Klaus Steinke, Welche Perspektiven hat die Slawistik in Deutschland, in: Die Slawischen Sprachen, 55 (1997), 63–74, 67f. Siehe dazu auch Herta Schmid, Katrin Berwanger, Universität Potsdam: Memorandum über den Zustand der Slawistik in Deutschland, 2005, unter : http://www.uni-potsdam.de/u/slavistik/aktuell/me morandum.pdf, Zugriff: 30. 8. 2009. Stegmann, Osteuropäische Frau, 938. Scheide, Katharina die Große, 234. Von 2011 bis 2018 war Claudia Kraft Professorin für Europäische Zeitgeschichte nach 1945 an der Universität Siegen; seit 2018 ist sie Professorin für Zeitgeschichte/Geschlechtergeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Vgl. dazu Guilhots These, dass eher weniger prominente Forscher_innen in »Zwischenpositionen« sich mit transnationaler Forschung beschäftigen: Guilhot, Circulation, 79. Scheide, Katharina die Große, 234.
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Russlandbezogene Geschlechterforschung
Öfteren das wissenschaftliche Umfeld weil sie Kinder bekommen.550 In einigen Fällen wechseln Forscherinnen auch aus der akademischen in eine politische oder politiknahe Berufstätigkeit.551 Fakt ist, dass in deutschsprachigen Ländern die russlandspezifische Geschlechterforschung eher prekär situiert ist und die akademischen Reproduktionsmechanismen nicht dazu angetan sind, deren nachhaltige Verankerung zu gewährleisten. »Da die osteuropäische Geschichte in aller Regel an einer Hochschule nur durch einen Professor bzw. eine Professorin vertreten wird, kann die von den ›Allgemeinhistorikern‹ favorisierte Variante, separate Professuren für Frauen- und Geschlechtergeschichte einzurichten, auf die Osteuropäische Geschichte nicht übertragen werden. Die Gefahr der ›Selbstmarginalisierung‹ von Geschlechterhistorikerinnen in separaten ›Fraueninstituten‹ droht in der Osteuropäischen Geschichte kaum. Auch an den genannten Lehrstühlen für Frauen- und Geschlechtergeschichte gibt es selten Mittel für die Beschäftigung einer ›Osteuropaspezialistin‹.«552
Dass Geschlechterforschung aus der russlandspezifischen Forschung im deutschsprachigen Raum völlig verschwindet, ist dennoch sehr unwahrscheinlich. Ein Forschungsfeld, das, wie gezeigt wurde, auch sehr stark von politischen Ereignissen und Konjunkturen abhängt, wird durch Vorfälle wie die Protestaktionen der Künstlerinnengruppe Pussy Riot553 oder die Verabschiedung homophober Gesetze, stimuliert. Darüber hinaus haben sich einige transnationale Kooperationen entwickelt, die keine Zweifel an der hartnäckigen Überlebensfähigkeit der »doppelten Herausforderung«554 lassen. Konferenzen wie »Language as a Constitutive Element of a Gendered Society – Developments, Perspectives, and Possibilities in the Slavonic Languages« (Innsbruck 2014)555 oder »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity : Queering Concepts on/from a Post-Soviet Perspective« (Wien 2017)556 sind deutliche Lebenszeichen einer zeitgemäßen, interdisziplinären und transnationalen russlandbezogenen Geschlechterforschung.
550 Dieses Phänomen wird auch mit »leaky pipeline« umschrieben. Vgl. Jacob Clark Blickenstaff, Women and Science Careers: Leaky Pipeline or Gender Filter?, in: Gender and Education, 17, 4 (2005), 369–386. 551 So etwa Anna Köbberling die über sowjetische Frauenbilder oder Britta Schmitt die über Frauenpolitik und Frauenbewegung dissertiert hat; vgl. Anna Köbberling, Das Klischee der Sowjetfrau, Frankfurt a. M./New York 1997; Schmitt, Frauenbewegung. 552 Stegmann, Osteuropäische Frau, 938f. Auch bei der Tagung der BIG-O wurde unter anderem danach gefragt, inwieweit »die wissenschaftliche Arbeit mit der Perspektive Gender für ForscherInnen karrierehemmend« sei, Hausbacher, Gender Studies, 556. 553 Vgl. Yusupova, Pussy Riot; Johnson, Pussy Riot. 554 Vgl. Kraft, Herausforderung. 555 Vgl. Scheller-Boltz, New Approaches. 556 Vgl. die Website der Konferenz, unter : https://qp8.univie.ac.at/, Zugriff: 31. 3. 2018.
Russian Women’s/Gender Studies abzählen
4.4
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Russian Women’s/Gender Studies abzählen
Da es mich interessierte, wie die russlandbezogene Geschlechterforschung in spezifischen Fachjournalen außerhalb Russlands repräsentiert ist und wie sich diese Repräsentation mit den Jahren verändert hat, habe ich eine quantitative Analyse von 53 Fachzeitschriften557 für Frauen- und Geschlechterforschung durchgeführt und jene Beiträge erfasst, die hauptsächlich oder überwiegend auf Russland Bezug nehmen. Zu »Artikeln« zählte ich auch Tagungsberichte, »Rezensionen« bezieht sich auf alle Rezensionen, auch wenn dasselbe Buch in mehreren Zeitschriften besprochen wird. Mit »Interview« ist ein veröffentlichtes Gespräch mit einer russischen Forscherin/einem russischen Forscher gemeint. Die Interviews wurden eingetragen, um eine Veränderung der Rolle von ›Frauen in Russland‹ zu demonstrieren: Während sie von Anfang an das Objekt der Forschung par excellence sind (und, mit einigen Erweiterungen, bis heute bleiben) kommen sie mit der Zeit zunehmend selbst zu Wort: als Interviewpartnerinnen und ab 1992 auch als Autorinnen.558 Man kann gut erkennen, wie politische Ereignisse und Entwicklungen (Perestrojka, Mauerfall, Zusammenbruch der Sowjetunion) sich auf die intellektuelle Produktion auswirken. Der starke Anstieg um das Jahr 2000 steht wohl in Verbindung mit dem zehnten Jahrestag des Endes der Sowjetunion. Die hier gezählten Rezensionen inkludieren Mehrfachnennungen. Sieht man sich die Erscheinungsjahre der in den analysierten Zeitschriften rezensierten Bücher an, so ergibt sich folgendes Bild: Der Boom, den Beth Holmgren und Helena Goscilo Mitte der 1990er Jahre
557 Eine Liste der Zeitschriften ist im Anhang angeführt. Es handelt sich überwiegend um englischsprachige Periodika. Inkludiert sind auch sieben deutschsprachige und zwei französischsprachige Zeitschriften. Die Informationen aus diesen acht sind in der gezeigten Grafik enthalten, weil sie die Trends in den englischsprachigen Zeitschriften nicht wesentlich verändern. 558 Beispiele dafür sind: Elvira Novikova u. Zoya Khotkina, A Piece of History : The Soviet Woman Today and Yesterday, in: Journal of Gender Studies, 1, 3 (1992), 286–302; Olga Voronina, Soviet Patriarchy : Past and Present, in: Hypatia, 8 (1993), 97–112; Nina S. Yulina, Women and Patriarchy, in: Women’s Studies International Forum, 16, 1 (1993), 57–63; Natalya Kosmarskaya, Russian Women in Kyrgyzstan: Coping with New Realities, in: Women’s Studies International Forum, 19, 1/2 (1996), 125–132; Elena Iarskaja-Smirnova, »What the Future Will Bring I Do Not Know«: Mothering Children with Disabilities in Russia and the Politics of Exclusion, in: Frontiers, 20, 2 (1999), 68–86; Ludmila Popova, Russian and USA University Students’ Attitudes toward Female Social Roles, in: Feminism & Psychology, 9, 1 (1999), 75–88; Anna Rotkirch/Anna Temkina/Elena Zdravomyslova, Who Helps the Degraded Housewife? Comments on Vladimir Putin’s Demographic Speech, in: European Journal of Women’s Studies, 14, 4 (2007), 349–357; Nartova, Russian Love; Olga Voronina, Has Feminist Philosophy a Future in Russia?, in: Signs, 34, 2 (2009), 252– 257; Muravyeva, Bytovukha; Kondakov, Teaching Queer Theory.
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konstatieren, wird in dieser Darstellung durchaus sichtbar.559 In den letzten Jahren finden sich regelmäßig auch Besprechungen russischsprachiger Bücher. Das vierte Kapitel hat dargelegt, welche unterschiedlichen Schwerpunkte und Entwicklungen in Gender Studies mit Russlandfokus in unterschiedlichen Kontexten zu beobachten sind. Es zeigt sich ein vielfältiges, zumeist marginal positioniertes Forschungsfeld, das, unter Einfluss politischer Ereignisse und Konjunkturen, mitunter für einige Zeit mehr Aufmerksamkeit erhält. Gegenwärtig besteht augenscheinlich keine Phase der starken Aufmerksamkeit. Hingegen lässt sich eine Tendenz der Transnationalisierung beobachten, die vor allem von Vertreter_innen der »provinziellen Wissenschaft« (also jener, die sich eher an die internationale als auf die innerrussische Forschungscommunity richtet) aus Russland vorangetrieben wird: Sie sind in ihrer Ausbildung und Berufskarriere international mobil, publizieren auch auf Englisch und in anderen nichtrussischen Sprachen. Nach diesen Einblicken in die Geschichte russlandbezogener Geschlechterforschung in russisch-, englisch- und deutschsprachigen akademischen Gemeinschaften geht es in den folgenden drei Kapiteln an die Beschreibung und Analyse der empirischen Basis dieser Studie: Interviews mit unterschiedlichen Protagonist_innen der transnationalen russlandbezogenen Geschlechterforschung.
559 Ich habe Zeitschriften bis einschließlich 2016 analysiert, und dabei bis 2014 erschienen Bücher in die Grafik inkludiert.
5
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
5.1
Beschreibung der Interviews
Im Folgenden wird das empirische Material, auf dem diese Dissertation beruht, vorgestellt, nämlich 41 Interviews und ein autobiografischer Text.560 Zunächst werden die Art und die Kontexte der Entstehung dieser Texte geschildert: Zeit, Ort und Umstände der Interviewdurchführung, ebenso wie Informationen zu den interviewten Personen. Danach werden die Inhalte der Interviews thematisch gegliedert. Diese Strukturierung bildet die Basis für den darauffolgenden systematischen Vergleich der Texte. Das empirische Material besteht überwiegend aus von mir geführten, offenen Leitfadeninterviews. Ich hatte zwar eine gewisse Vorstellung von meinem Forschungsgegenstand – nicht zuletzt auf Basis meiner Erfahrungen aus Forschungen über Gender Studies in Moskau.561 Dennoch war es eine klare Priorität, die Relevanzsysteme der Interviewpartner_innen in den Vordergrund zu stellen.562 Diese Vorgangsweise war auf jeden Fall lohnend, sie verschaffte mir umfangreiches und vielfältiges Material. Nachdem die Respondent_innen für mich in vielen Fällen Informant_innen, Expert_innen und Kolleg_innen in einer Person waren, ist eine eindeutige Zuordnung der Interviews zu einem bestimmten Typus (Expert_inneninterview, lebensgeschichtliches Interview etc.) nicht möglich.563 Vielmehr weist jedes Interview in unterschiedlichem Ausmaß 560 Im Folgenden werde ich nur von Interviews schreiben, obgleich 41 Interviews und ein autobiografischer Text gemeint sind. 561 Vgl. Garstenauer, Gendernye issledovanija. 562 Wollte man zu früh im Forschungsprozess die Erhebung standardisieren »wird nur das erhoben, was der Forscher noch vor Kenntnis des Objektbereichs für sinnvoll und notwendig erachtet. Die Perspektiven und die Relevanzsysteme der betroffenen Untersuchungsobjekte können jedoch ganz andere sein. Der Forscher wird sie nie erfahren, weil er den zu untersuchenden Subjekten seine Vorstellungen mit dem standardisierten Instrument aufoktroyiert.« Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung Weinheim 20105, 15. 563 Vgl. das Kapitel »Befragung« in: Peter Atteslander, Methoden der empirischen Sozialforschung, Berlin 2010, 109–176.
136
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Elemente unterschiedlicher Interviewtypen auf. Auf einer Skala von »sehr strukturiert« bis »völlig offen« handelt es sich um sehr offene strukturierte Interviews respektive etwas strukturierte offene Interviews, wobei der Grad der Offenheit/Strukturiertheit je nach Gespräch variiert.564 Kurz vor der Durchführung der ersten Interviews (Mai 2002) schwankte ich noch zwischen sehr offenen Interviews und einer strukturierteren Befragung. Zum einen wollte ich betont explorativ vorgehen, zum anderen wollte ich dezidiert etwas über Praktiken der Kooperation erfahren. Dabei wollte ich den Befragten nicht von vornherein Begriffe in den Mund legen oder durch ein zu detailliertes Fragen die Antworten von vornherein eingrenzen.565 Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Offenheit und einem Leitfaden, der die folgenden Fragen enthielt: Tabelle 3: Fragenleitfaden auf Deutsch (Übersicht)566 Russische Respondent_innen
Andere Respondent_innen
Haben Sie im Ausland studiert? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!)
Haben Sie in Russland studiert? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!)
Haben Sie im Ausland unterrichtet? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!) Haben Sie Forschungsaufenthalte im Ausland verbracht? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!)
Haben Sie in Russland unterrichtet? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!) Haben Sie Forschungsaufenthalte in Russland verbracht? (Wenn ja: Erzählen Sie bitte davon!)
Haben Sie mit ausländischen Haben Sie mit russischen Kolleg_innen Kolleg_innen zusammengearbeitet? zusammengearbeitet? (Erzählen Sie bitte davon!) (Erzählen Sie bitte davon!) Präzisierung zu beiden Fragen: Damit meine ich: in Forschungsprojekten, bei gemeinsamen Publikationen, Konferenzen und ähnlichem.)
564 Die offene Interviewführung, insbesondere das Zulassen von Erzählungen, die zunächst scheinbar nichts mit dem Thema zu tun haben, musste ich im Lauf des Forschungsprozesses erst einüben. Die Interviewführung veränderte sich folglich mit der Zeit. Für manche Respondent_innen bedeutete die geringe Strukturiertheit der Befragung eine Herausforderung, siehe dazu auch Abschnitt 5.1.2. 565 Auszug aus dem Forschungstagebuch vom 12. 5. 2002: »Geplant war ja eigentlich: möglichst narrativ, also eine zündende Eingangsfrage und dann sollen die Befragten, bittesehr, reden. Und ich muss nur mehr mhm sagen. Vermutlich ist das aber keine sehr gute Idee. Besser wäre vermutlich ein Frageleitfaden. Am Besten wäre eine allgemein gehaltene Einstiegsfrage nach Erfahrungen bei Forschungskooperationen mit ausländischen ForscherInnen (»westlich« sage ich nicht als Erste!).« In diesem Eintrag hatte ich auch die Frage »Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie ›Westen‹ bzw. ›Osten‹ hören?« in Erwägung gezogen und dann wieder verworfen. 566 Im Anhang liste ich die Leitfadenfragen in den drei Interviewsprachen auf – immer eingedenk dessen, dass sie zur Orientierung dienten und nicht notwendig in genau dieser Formulierung oder Reihenfolge zum Einsatz kamen.
137
Beschreibung der Interviews
((Fortsetzung)) Russische Respondent_innen
Andere Respondent_innen
Können Sie mir von Ihren Erfahrungen bei internationalen Konferenzen (zu Gender Studies und anderem) erzählen?
Können Sie mir von Ihren Erfahrungen bei internationalen Konferenzen (zu Gender Studies und anderem) erzählen, an denen auch Russinnen und Russen beteiligt waren?
Wie kamen Sie dazu, sich mit Russland zu beschäftigen? Alle Respondent_innen Wie schätzen Sie die Rolle von Sprache/Sprachkenntnissen für die internationale Zusammenarbeit in den Gender Studies ein? Wie schätzen sie die Rolle internationaler Fonds für Gender Studies in Russland ein? Wie kamen Sie dazu, sich mit Gender Studies zu beschäftigen?
Ausgehend von diesem Leitfaden ließ ich die Respondent_innen so lange sie wollten und konnten über das reden, was ihnen relevant erschien. Je nachdem, wie sich das Interview entwickelte, praktizierte ich auch erzählinternes respektive erzählgenerierendes Nachfragen567 zu bestimmten Themen. In manchen Fällen wollte die befragte Person von sich aus zuerst über ein bestimmtes Projekt sprechen. Am Ende der meisten Interviews stellte ich in der Regel die Frage, ob mein Gesprächspartner oder meine Gesprächspartnerin noch etwas hinzufügen möchte, ob irgendetwas Wesentliches nicht angesprochen wurde. In einigen Interviews evozierte diese abschließende Frage besonders interessante Passagen. Die Interpretation der Interviews stellte eine Herausforderung dar. In der Regel werden derartige Daten nur mit sogenannten qualitativen Methoden beziehungsweise im Rahmen des interpretativen Paradigmas ausgewertet.568 Der von mir gewählte Zugang der Geometrischen Datenanalyse ermöglicht eine Verbindung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden.569 Das Interviewmaterial wurde zunächst inspiriert durch Grounded Theory nach Corbin und Strauss gesichtet und codiert.570 Das bedeutet zunächst, dass nach im Text 567 Vgl. Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung: Eine Einführung, Weinheim 2005, 148. 568 Vgl. Kai-Olaf Maiwald, Competence and Praxis: Sequential Analysis in German Sociology, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 6, 3 (2005), Artikel 31, unter : http://www.qualitati ve-research.net/index.php/fqs/article/view/21/46, Zugriff: 31. 3. 2018. 569 »Between quantity and quality there is geometry.« Brigitte Le Roux u. Henri Rouanet, Multiple Correspondence Analysis (Quantitative Applications in the Social Sciences 07/ 163), Los Angeles u. a. 2010, 26. 570 Anselm L. Strauss u. Juliet Corbin, Basics of Qualitative Research: Techniques and Procedures for Developing Grounded Theory, Thousand Oaks u. a. 19982. Grounded Theory
138
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
angesprochenen Themen gesucht wird. Diese Themen werden sortiert, zueinander in Beziehung gesetzt, nach Überbegriffen und untergeordneten Sujets. Ausgehend vom vorhandenen Material werden ergänzende Daten erhoben und weitere Interviews geführt.571 Pierre Bourdieu empfiehlt die Verwendung von Erhebungstabellen für die systematische Erfassung von Untersuchungseinheiten und deren Merkmalen: »Als Mittel zum Zweck schlage ich Ihnen ein ganz simples und bequemes Instrument der Objektkonstruktion vor, nämlich einfach eine zweidimensionale Tabelle der relevanten Merkmale eines Ensembles von Akteuren oder Institutionen. Wenn ich zum Beispiel darangehe, verschiedene Kampfsportarten (Ringkampf, Judo, Aikido usw.) oder verschiedene Hochschulen oder verschiedene Pariser Zeitungen zu analysieren, trage ich jede dieser Institutionen in eine Zeile ein und mache jedesmal eine neue Spalte auf, wenn ich auf ein Merkmal stoße, das zur Charakterisierung einer von ihnen notwendig ist, wodurch ich gezwungen bin, auch bei allen anderen nach dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieses Merkmals zu fragen […]. Dieses ganz einfache Instrument hat den Vorzug, daß es einen zwingt, die betreffenden sozialen Einheiten und ihre Merkmale, bestimmbar nach Vorhandensein und Nichtvorhandensein (Ja/Nein), relational zu denken.«572
Dieser Empfehlung folgend, trug ich die Interviews und deren Merkmale, die laufend um Zeilen und Spalten erweitert wurden in eine Tabelle ein. Mit zunehmendem Umfang der Interviewtexte überwog auch die Neigung zu einer statistisch basierten Analyse.573 Dabei geht es um die Analyse von Kookkurrenzen der Merkmale eines Interviews (welche Merkmale/Merkmalskombinationen kommen jeweils in einem Interview vor, welche nicht?). Es kann so herausgearbeitet werden, wie sich die Untersuchungseinheiten aufgrund ihrer Merkmale unterscheiden oder gleichen und welche Differenzierungskriterien am wesentlichsten sind. In die Analyse gehen auch die zeitlichen, räumlichen wurde von Anselm L. Strauss und Barney Glaser entwickelt, um den »grand theories«, die häufig weit entfernt von empirischer Forschung waren, eine neue Art der Theorieentwicklung entgegenzusetzen. Es gilt, auf empirischen Beobachtungen basierte (»grounded«) Theorien zu entwickeln, die zunächst Erklärungen für einen kleineren sozialen Kontext liefern, dabei aber durchaus für weitere Verallgemeinerungen offen sein sollen. Vgl. Barney Glaser u. Anselm L. Strauss, The Discovery of Grounded Theory : Strategies for Qualitative Research, London 1968. Ich führe in dieser Studie allerdings keine vollständige Analyse nach diesem Programm durch, sondern orientierte mich vielmehr an dessen Kodierungstechniken. 571 Das ist das sogenannte »Theoretical Sampling« der Grounded Theory. Zusätzliche Daten werden so lange erhoben, bis die Forscherin sich von der Sättigung des Datenmaterials überzeugt weiß, also das Material keine neuen Informationen mehr bringt. Vgl. Strauss/ Corbin, Basics, 201ff. 572 Pierre Bourdieu, Die Praxis der reflexiven Anthropologie, in: ders. u. Lo"c J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, 251–294, 264. 573 Es war nicht von Anfang an geplant, die Interviews statistisch auszuwerten. Zuerst hatte ich qualitative, inhaltsanalytische Verfahren vorgesehen.
Beschreibung der Interviews
139
und sonstigen Umstände des Interviews, das Verhältnis zwischen Respondent_in und Interviewerin und andere Merkmale ein, die untrennbar verbunden damit sind, wie und worüber im Interview gesprochen wird.574 Die Codierung von Merkmalskategorien, also die zusammenfassende Übersetzung von Interviewpassagen in solchen Kategorien, ist die Grundlage einer systematischen Analyse – allerdings um den Preis des Verlustes von Detailinformationen. Um die Vielfältigkeit und Einzigartigkeit der Interviews dennoch zur Geltung kommen zu lassen, wird in der Darstellung der Ergebnisse (Kapitel 6 und 7) immer wieder auf das Ursprungsmaterial zurückgegriffen. So ist es möglich, die in der empirischen Sozialwissenschaft so sehr durchgesetzten Abgrenzungen zwischen sogenannten qualitativen und quantitativen Methoden in Frage zu stellen.575
5.1.1 Sampling und die Entstehungsbedingungen der Interviews Zwischen 2002 und 2008 habe ich 32 Interviews durchgeführt, in einem Fall mit derselben Person im Abstand von zwei Jahren. Die Interviews entstanden im Zuge von Forschungsaufenthalten in Russland und Großbritannien, während internationaler Konferenzen oder bei anderen Gelegenheiten, etwa wenn ein_e Forscher_in sich in Wien aufhielt. Ein Interview wurde telefonisch geführt. Die von mir geführten Interviews habe ich teils selbst transkribiert, teils von russischen Muttersprachlern transkribieren lassen. Die Transkripte wurden an die Interviewpartner_innen gesandt, um etwaige Unklarheiten oder Missverständnisse zu klären. Die Interviews fanden an unterschiedlichen Orten statt: die meisten in den Büros der Respondent_innen, aber auch in Privatwohnungen, Caf8s und Parks. Die Gespräche dauerten zwischen 10 und 109 Minuten.576 Die durchschnittliche Interviewlänge beträgt etwa 50 Minuten, der Median liegt bei 45, es gibt also etwas mehr unterdurchschnittlich kurze Interviews. Alles in allem habe ich selbst Interviews im Umfang von 26,4 Stunden geführt. 21 der Interviews wur574 »Dieselbe Wachsamkeit ist nötig bei den Lebensgeschichten, die die ›oral history‹ wie die Ethnologie und Soziologie häufig als schlichte Tatsache festhält, obwohl es sich doch ganz offensichtlich um eine Konstruktion handelt, an der Interviewer und Interviewter beteiligt sind.« Pierre Bourdieu, Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael, in: Geschichte und Gesellschaft, 22, 1 (1996), 62–89, 80. 575 Den Versuch einer analytischen Unterscheidung der beiden Paradigmen mithilfe von Begriffspaaren wie Erklären/Verstehen, theorienprüfend/theorieentwickelnd, geschlossen/ offen oder ätiologisch/interpretativ findet man in: Lamnek, Sozialforschung, 215–244. 576 Das betrifft die von mir geführten Interviews sowie das Gespräch von Renate Retschnig mit Donna Haraway, also jene, deren Dauer mir bekannt ist.
140
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
den auf Russisch geführt, 16 auf Englisch und fünf auf Deutsch. 36 dieser Gespräche fanden mit Frauen statt, sechs mit Männern. Die Respondent_innen sind zwischen 1938 und 1980 geboren. Sie leben und arbeiten in Russland, Großbritannien, Lettland, den USA, in Deutschland oder Österreich. Tabelle 4: Geburtsjahre der Respondent_innen –1945
1946–50
1951–55
1956–60
1961–65
1966–70
1971–75
1976–
k. A.
5
3
8
11
1
5
4
3
2
Tabelle 5: Verortung der Respondent_innen Russland
Aus Russland emigriert
UK
USA
Deutschland
Österreich
23
3
6
5
3
2
Die Gesprächspartner_innen arbeiten im Kontext einer Disziplin oder außerhalb akademischer Strukturen. Sie haben Erfahrung mit internationalen Projekten oder auch nicht. Sie sprechen eine oder mehrere Fremdsprachen. Manche sind nur am Rande im Bereich von Frauen- und Geschlechterforschung tätig, haben dafür aber intensive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit ausländischen Kolleg_innen. Andere sind klar den Gender Studies zuzurechnen, haben aber keine internationale Kooperationserfahrungen – oder zumindest keine mit russischen Kolleg_innen. Die Auswahl der Respondent_innen war teils gezielt, teils vom Zufall bestimmt. In manchen Fällen ergab sich ein Interview, weil bei einer Tagung eben gerade jemand anwesend war, die oder der für meine Forschung interessant war. Mein Vorgehen kann als eine Mischung aus strukturalem Sampling, wie Pierre Bourdieu es für »Homo academicus« praktizierte,577 und serendipity, dem Glück, zufällig etwas zu finden, während man eigentlich etwas anderes gesucht hat, beschrieben werden.578 Wesentlich war dabei, möglichst unterschiedliche Respondent_innen für ein Interview zu gewinnen: Russ_innen und Nichtruss_innen, jüngere und ältere Personen, Frauen und Männer, Bewohner_innen von Haupt- und Provinzstädten, Vertreter_innen unterschiedlicher Fächer sowie Personen, für deren Arbeit Gender Studies beziehungsweise die Kombination aus Gender- und Russlandexpertise in unterschiedlichem Maße zentral 577 Pierre Bourdieu, Homo academicus, 136. 578 »A word coined by Horace Walpole, who says […] that he had formed it upon the title of the fairytale ›The Three Princes of Serendip‹, the heroes of which were always making discoveries by accidents and sagacity, of things they were not in quest of.« Robert King Merton u. Elinor Barber, The Travels and Adventures of Serendipity. A Study in Sociological Semantics and the Sociology of Science, Princeton, NJ u. a. 2004, 234.
Beschreibung der Interviews
141
sind. Die Unterschiede wurden explorativ maximiert, denn erst im Laufe der Forschungstätigkeit erschließt sich, welche Differenzen eine Rolle spielen. »Im Gegensatz zur zufälligen Stichprobe, bei der die Strukturen zerstört würden, vor allem deshalb, weil eine strukturell determinierende Position sehr wohl durch eine sehr geringe Zahl von Personen […] repräsentiert werden kann, erlaubt unser Auswahlverfahren die Kennzeichnung der Machtpositionen mittels der Eigenschaften und Machtformen der Positionsinhaber.«579
Mit der wachsenden Zahl an Interviews hat sich das ursprüngliche Dissertationsthema – Kooperationen zwischen russischen und ›westlichen‹ Forscher_innen – zumindest verschoben, wenn nicht verändert. Im Falle meiner Untersuchung lässt sich leicht feststellen, dass es in vielen der Interviews gerade nicht um konkrete Kooperation geht, sondern vielmehr um die Hindernisse, die einer Zusammenarbeit im Wege stehen, die Bedingungen, die erfüllt sein müssten, es aber manchmal eben nicht sind. Oder aber Respondent_innen erklärten, warum sie es bislang einfach nicht für notwendig befunden hatten, persönliche Kontakte zu Forscher_innen im Ausland herzustellen. Zu den von mir geführten Interviews habe ich ergänzend noch weitere hinzugefügt. Zwei Akteurinnen (Ol’ga Lipovskaja und Anastasia Posadskaja), die mir sehr relevant erschienen, konnte ich nicht persönlich sprechen, jedoch auf veröffentlichte Interviews zurückgreifen. So wählte ich eines mit Lipovskaja aus dem Jahr 1988, das in der Zeitschrift »Frontiers« publiziert wurde,580 eines mit Posadskaja aus der »New Left Review« von 1992581 sowie ein weiteres mit Posadskaja aus der amerikanisch-russischen feministischen Zeitschrift »We/=y« (Wir/Wir) aus dem Jahr 2005.582 Ich habe zwei Gespräche mit Posadskaja hinzugenommen, weil mich hier auch etwaige Veränderungen in diesen 13 Jahren interessierten. 1992 war Posadskaja eine feministisch engagierte und medial einigermaßen präsente Sozialwissenschafterin in Moskau und leitete das dortige Zentrum für Gender Studies. Zur Zeit des zweiten Interviews lebte sie in den Vereinigten Staaten und arbeitete als Direktorin (1997–2007) des »Network Women’s Program« des Open Society Institute. Das erste Interview wurde auf Englisch in einer politisch linken britischen Zeitschrift veröffentlicht, während das zweite auf Russisch in einer russischen feministischen Zeitschrift vorlag. Die Hinzunahme dieser Interviews brachte mich auf die Idee, auch andere publizierte Interviews in Betracht zu ziehen. So kamen noch Interviews mit Judith
579 Pierre Bourdieu, Homo academicus, 136. 580 Barbara Engel, Interview with Olga Lipovskaia, in: Frontiers, 10, 3 (1989), 6–10. 581 Anastasia Posadskaya, Self-Portrait of a Russian Feminist, in: New Left Review, 195 (1992), 3–19. 582 Petriasˇvili, Barrikady.
142
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Butler583 und bell hooks584 dazu, um auch Statements von sehr bekannten Protagonistinnen der Frauen- und Geschlechterforschung wie von feministischen Aktivistinnen im Sample zu haben, die allerdings keine Kontakte zu Russland haben. Aus dem Nachlass von Renate Retschnig habe ich ihr 1995 mit Donna Haraway geführtes Interview ausgewählt.585 Eine sehr bekannte russische Schriftstellerin und Feministin, die mit akademischer (und mit ausländischen Geldern finanzierter) Geschlechterforschung nichts zu tun hat und haben will, ist Maria Arbatova. Mit ihr hat Lajma Gejdar, eine ukrainische feministische Aktivistin gesprochen, das Interview wurde 1998 veröffentlicht.586 Schließlich wurde auch ein russischer Sozialwissenschafter ohne explizites Interesse an Gender Studies ins Sample inkludiert, nämlich ein 2002 von Natal’ja Mazlumanova geführtes Interview mit dem 2003 verstorbenen Soziologen Gennadij Batygin.587 Mit diesen Ergänzungen konnten die Variationen und Kontraste des Samples erweitert werden.588 Stephanie Fürtbauer, die bei mir eine Einführungslehrveranstaltung zu Gender Studies besucht hatte, interviewte mich für eine soziologische Lehrveranstaltung, die sie absolvierte.589 Ihre Fragen drehten sich um die Praxis empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung und ich erzählte ihr über meine Erfahrungen mit Interviews, Beobachtung und Datenauswertung in Russland und anderswo. Beim Finalisieren meines zu analysierenden Textkorpus kam mir der Gedanke, auch ein Interview mit mir als Untersuchungseinheit in die Analyse einzubauen. Dass ich nicht außerhalb des Forschungsgegenstandes stehe, 583 Regina Michalik, The Desire for Philosophy. An Interview with Judith Butler, in: LOLAPRESS, 2 (2001), unter : http://www.lolapress.org/elec2/artenglish/butl_e.htm, Zugriff: 31. 3. 2018. 584 bell hooks u. Tanya McKinnon, Sisterhood: Beyond Public and Private, in: Signs, 21, 4 (1996), 814–829. 585 Dieses unveröffentlichte Interview ist im Stichwort – Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung (Wien) einsehbar, vgl. die Website des Archivs unter : http://www.stichwort.or.at/, Zugriff: 31. 3. 2018. 586 Lejma Gejdar u. Marija Arbatova, Interv’ju na teme svobody [Interview zum Thema Freiheit], in: Krysˇa: dom, sem’ja, stil’ zˇizni [Dach: Haus, Familie, Lebensstil], 1998, o. S., unter: http:// www.feminist.org.ua/library/mass-media/intervju/arbatova.php, Zugriff: 30.8. 2009. 587 »Nikakogo drugogo puti ja dazˇe pomyslit’ ne mog …« [»Einen anderen Weg hätte ich mir gar nicht erst vorstellen können …«], in: Sociologicˇeskij Zˇurnal [Soziologische Zeitschrift], 2 (2003), 132–167. 588 Zum Sampling unter Berücksichtigung von Variationen und Kontrasten vgl. Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen, Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2005, 18. Mir ist klar, dass die Auswahl etwas willkürlich ist, und dass auch mehr und anders gelagerte Kontrastfälle ausgewählt werden hätten können. Es hat sich allerdings gezeigt, dass die konkret ausgewählten Fälle für die Analyse sehr aufschlussreich waren. 589 Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Stephanie Fürtbauer für die Überlassung des Transkriptes und die Erlaubnis, das Interview in dieser Arbeit zu verwenden.
Beschreibung der Interviews
143
war mir von vornherein klar. Meine Involviertheit in russlandbezogene Geschlechterforschung wurde für mich mit der Zeit auch deutlicher : durch die Teilnahme an Konferenzen, durch Publikationen und Reaktionen darauf590 und noch mehr durch Mitarbeit an der Organisation einer Konferenz. 2005 bereitete ich im Rahmen meiner Tätigkeit am Referat für Gender-Forschung der Universität mit meinen Kolleginnen wie erwähnt die Tagung »A Canon of Our Own« vor, die sich auch dezidiert an russische Forscher_innen richtete.591 Den Empfehlungen Pierre Bourdieus folgend, wird hier also das »objektivierende Subjekt objektiviert«.592 Auf diesem Weg wurde für mich ersichtlich, in welcher Relation ich zu den Interviewpartner_innen stehe. Einer der Texte im Sample ist kein Interview : Eine Moskauer Gender-Forscherin, die ich im Jahr 2002 traf, gab mir anstelle eines Interviews einen Text, in dem sie ihre Erfahrungen mit dem ›Westen‹ im Laufe der 1990er Jahre rekapitulierte und reflektierte.
5.1.2 Strukturierung der Inhalte Der Schweizer Künstler Urs Wehrli hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kunstwerke aufzuräumen. Wenn er sich über Werke von Joan Mirj, Kasimir Malewitsch oder Keith Haring hermacht, so besteht das Ergebnis aus ordentlich nach Farben, Formen und Größen sortierten Teilen, die mit dem ursprünglichen Kunstwerk augenscheinlich nicht mehr viel Ähnlichkeit haben.593 Immerhin sieht man aber sehr deutlich, aus welchen Einzelteilen das Werk besteht – was und wieviel davon darin vorkommt. Diesem Zweck dient auch der nun folgende Schritt dieser Studie. Die in den analysierten Texten repräsentierten Themen, Praktiken, Schlagworte, Unterscheidungen etc. werden sortiert und dargelegt. Die Re-
590 So schien mein Name einmal in sehr illustrer Gesellschaft auf: »Gender Research in Russia is being conducted by Russian scholars whose work is produced ›in tandem‹ with a whole cohort of Western scholars, such as Sarah Ashwin, Lynne Attwood, Christa Binswanger, Chatterjee Choi, Elisabeth Cheaur8, Therese Garstenauer, Rebecca Kay, Helena Goscilo, Gale Lapidus, Eve Levin, Petra Rethmann, Michele Rivkin-Fish, Anastasia Posadskaia (originally from Russia, now located in the USA), Anna Rotkirch, Rochelle Ruthchild, Irina Savkina (originally from Russia, now located in Finland), Valerie Sperling, Sergei Ushakine (originally from Siberia, now located in the USA), Tatjana Thelen, Elizabeth Wood, and others, whom I might have missed without being afraid to repeat the tale of Sleeping Beauty.«, Barchunova, Transnational Project, 99f. 591 Es war eine neue Erfahrung, in einer relativ mächtigen Position zu sein, in der ich etwa mitentscheiden konnte, wer an der Tagung teilnehmen sollte und wer nicht. 592 Pierre Bourdieu, Homo academicus, 10. 593 Urs Wehrli, Kunst aufräumen, Zürich 2002.
144
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
kombination der einzelnen Elemente erfolgt danach, in der Präsentation der Ergebnisse der Korrespondenzanalyse.594
Interaktionen zwischen Respondent_innen und Interviewerin Abgesehen von den Rahmenbedingungen der Interviews – wie Zeit, Ort, Dauer oder Sprache – war mir auch wichtig, Besonderheiten festzuhalten, die nichts mit den Themen und Fragen der Studie zu tun haben, wohl aber den Ablauf des Interviews beeinflussten. Zunächst wären hier etwa Konflikte und Missverständnisse zwischen Interviewpartner_innen und Interviewerin zu nennen. In einem Fall stand für einen Respondenten (R 20)595 ein Auslandsstudienaufenthalt in Verbindung mit unangenehmen Erlebnissen. Dies war mir nicht bekannt gewesen, wohl aber meiner russischen Gastgeberin, die mir den Kontakt zu dem Respondenten, einem ihrer ehemaligen Studenten, vermittelt hatte. Er war, wie sich später herausstellte, der Meinung, dass ich über diese ihm unangenehmen Dinge (vermittels der Gastgeberin) Bescheid wusste und reagiert auf die – aus meiner Sicht harmlose – Frage über seine Erfahrungen an der Gastuniversität sehr knapp und gereizt. »TG: [lacht] Und wie sind Sie überhaupt dorthin gekommen? R 20: [lacht] So wie alle … Es gibt ein Auswahlverfahren für Studenten, die an dieser Universität studieren wollen. Auf ihrer Website gibt es ein Bewerbungsformular (application form) und alle werden auf die übliche Art aufgenommen. So auch ich, das heißt – nichts Besonderes, abgesehen davon, dass ich eine Prüfung für die englische Sprache ablegen musste. Aber da gab es nichts Spezielles, nichts Besonderes TG: mm [lacht] Und wie war es so, überhaupt? R 20: Was? TG: nun, das Studium in [Stadt] R 20: Sehr interessant TG: [Pause 3 Sekunden] ja R 20: Ich bitte um Verzeihung, Therese, haben Sie eine Fragenliste? TG: äh R 20: Naja, einfach eine Fragenliste. Seien Sie so lieb und stellen Sie mir die Fragen nach der Liste, weil so ausführlich über mein Studium zu erzählen, fällt mir schwer.«
Eine unangenehme Situation ergab sich, als ich aus Zeitmangel nicht dazu gekommen war, einen Artikel der Respondentin (R 25) zu lesen, den sie mir im Vorhinein geschickt hatte. Sie war der Meinung gewesen, dass wir uns beim 594 Freilich kommen in dieser Präsentation nicht mehr sämtliche Einzelteile zur Geltung, sondern diejenigen, die für die Struktur des Forschungsgegenstandes am wichtigsten sind. 595 Die Zitate aus den Interviews werden mit »R« für »Respondent_in« und der Nummer des Interviews ausgewiesen. Die Untersuchungseinheiten sind dennoch die Interviews, nicht die befragten Personen.
Beschreibung der Interviews
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Interview über diesen Artikel unterhalten würden und konnte mit meinen Fragen zu ihren Erfahrungen mit Geschlechterforschung nicht viel anfangen. Am Ende des Gesprächs meinte sie: »R 25: Vielleicht, Therese, tauchen ja danach [nach der Lektüre ihres Artikels, TG] noch Fragen auf. Ansonsten ergibt sich ein sinnloses Gespräch. Wir können ein allgemeines Format dessen abstecken, womit wir uns beschäftigen, und dessen, was Sie interessiert.«
Die Respondentin wäre lieber Subjekt des Austauschs zwischen Forscher_innen gewesen, denn Objekt der Forschung. In einigen Interviews formulierten die Befragten Zweifel, ob sie die geeignete Ansprechperson für mein Anliegen seien – etwa, weil sie der Ansicht waren, zu wenig intensiv oder zu selten mit ausländischen Kolleg_innen kooperiert zu haben. Manche Respondent_innen gaben mir im Rahmen des Interviews forschungspraktische und methodische Tipps für mein Vorhaben, einige empfahlen mir weitere Interviewpartner_innen. Manche stellten ihrerseits Fragen, nach dem Stand der Dinge hinsichtlich Geschlechterforschung in Wien oder nach Details meiner Dissertation oder aber nach meiner Einschätzung von Dingen, nach denen ich zuvor gefragt hatte. Eine britische Respondentin, die ich nach einer Tagung befragt hatte, an der wir beide teilgenommen hatten, wissen, wie ich diese Tagung erlebt hatte. In manchen Fällen fiel der Input durch die Interviewerin einigermaßen ausführlich aus. Auch dieses Merkmal wurde in die Analyse einbezogen. Unter »Kulinarische Unterbrechungen« fasse ich solche Vorkommen zusammen, bei denen die Interviewführung mit Essensaufnahme vermischt wird. In einem Fall fand das Interview etwa in der Privatwohnung der Respondentin statt und ging in ein Mittagessen über, das nebenher zubereitet wurde. Interessant fand ich es auch, die Art der Anrede, also das Verhältnis von Duzen und Siezen zwischen den Respondent_innen und der Interviewerin, festzuhalten, da es – jedenfalls in deutsch- und russischsprachigen Interviews – Auskunft über die Vertrautheit zwischen den am Gespräch Beteiligten gibt. Weiters habe ich auch erfasst, ob die Interviewerin mit dem Vornamen angesprochen wurde. Das ist in zehn Interviews der Fall. Eine solche Anrede kann wiederum als Indiz für Vertrautheit zwischen den Gesprächspartner_innen gesehen werden, ebenso aber als rhetorisches Mittel, um etwas Gesagtes mit Nachdruck zu versehen; um an die Zuhörerin zu appellieren, besonders aufmerksam zu sein. Schließlich wurde auch noch codiert, wenn fremdsprachliche Einsprengsel (z. B. russische Wörter oder Sätze in einem in englischer Sprache geführten Interview) vorkamen. Nach der Durchsicht der ersten Interviews begann ich, eine grobe Struktur für die Codierung zu entwickeln. Eine erste Unterscheidung lief zunächst entlang zweier weitgefasster Kategorien: »Praxis« bezieht sich auf Dinge, die die
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Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
interviewte Person selbst tut, sagt, meint oder erleidet. »Thema« bezieht sich auf Dinge, die über jemand anderen erzählt werden (irgendjemand tut, sagt, meint etwas) oder die irgendwo geschehen, ohne dass die interviewte Person unmittelbar involviert ist. Im Detail ist diese Unterscheidung problematisch, in manchen Fällen auch unentscheidbar. Als grobes Raster war sie aber hilfreich, um Informationen aus den Interviews vorläufig zu strukturieren. Die weiteren Unterteilungen, die halfen, einen vorläufigen Überblick über die Vielfalt der zu codierenden Merkmale zu erlangen, werden im Folgenden dargelegt. Wenn nicht anders vermerkt, so ist jede in der Korrespondenzanalyse verrechnete Aussage als Variable mit den Ausprägungen »wird erwähnt«, »wird nicht erwähnt« oder gegebenenfalls »trifft nicht zu«596 codiert. Die Zahlen in Klammern geben an, in wie vielen Interviews eine entsprechend codierte Aussage vorkommt.597 »Praxis« – Was die Respondent_innen über sich selbst erzählen Akademisches Hier ging es einerseits um Ausbildung: Dissertation schreiben (24), als Dissertant_in betreut werden (12), ein »Rotes Diplom«, also einen Abschluss mit Bestnote in der Sowjetunion, erhalten (6). Nichtrussische Respondent_innen berichteten über die Notwendigkeit, sich als Dissertant_innen für ihre Forschungstätigkeit in der Sowjetunion eine_n Betreuer_in vor Ort zu suchen (2). Andererseits ging es um Dinge, die Respondent_innen im Zuge ihrer akademischen Berufstätigkeit tun: Sie lehren an Universitäten (24), sie laden ausländische Kolleg_innen als Gastprofessor_innen ein (9), sie veranstalten Podiumsdiskussionen (5) oder administrieren internationalen Wissenschaftstransfer (2). Karriere als ein Aspekt akademischen Tuns wurde häufig angesprochen (21), ebenso wie damit in Verbindung stehende Brüche in einer Karriere (15), Nachwuchsförderung (9) und der Wechsel zwischen Disziplinen (9). Einige Respondent_innen sprachen darüber, dass sie aufgrund hoher beruflicher Belastungen erschöpft und müde seien (9). Fünf Respondent_innen erwähnten im Zusammenhang mit Lehre, dass sie Elemente von Theater, Show oder Predigt in ihren Vortrag einfließen lassen. 596 Ein Beispiel: Ein »Rotes Diplom«, den Abschluss mit Bestnote in der Sowjetunion, können nur Personen als eigene Erfahrung/Praxis erwähnen, die auch eine Ausbildung in der Sowjetunion absolviert haben, also wird für alle anderen Personen dieses Merkmal mit »trifft nicht zu« codiert. 597 Merkmale, die nur in einem Interview vorkommen, wurden nur in Ausnahmefällen in die statistische Analyse einbezogen. Solche Merkmale erhalten allein durch ihre Seltenheit unverhältnismäßig viel Gewicht in der statistischen Konstruktion und können diese so instabil machen.
Beschreibung der Interviews
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Gender Studies Spezifisch auf Gender Studies bezogene Merkmale sind: ein Zentrum für Gender Studies etablieren (4), in einem solchen Zentrum zu arbeiten (9) oder es zu leiten (7) sowie Lehrveranstaltungen für Frauen- und Geschlechterforschung einzurichten und abzuhalten (5). Um das zu verwirklichen, müssen Diskussionen mit universitären Vorgesetzten über Sinn und Nutzen von Geschlechterforschung geführt werden (5). Hierher gehört auch die Feststellung, dass es in der eigenen (russischen) Stadt keine Community für Gender Studies gibt (2). Einige erzählten über ihr Engagement in Zusammenhang mit Sommerschulen – solche in Russland (10) und solche, die von der Central European University in Budapest veranstaltet wurden (3). Zehn Respondent_innen merkten an, dass GenderThemen für sie nicht unbedingte Priorität hätten – sie könnten, müssten sich aber nicht damit beschäftigen. Nicht wenige teilten mit, dass ihre Haltung gegenüber Gender Studies ambivalent sei (11). Forschung Zum einen erzählten Respondent_innen über das, was sie tun, wenn sie forschen: Sie arbeiten in Archiven in der Sowjetunion beziehungsweise in Russland (9), was manchmal mit schwierigen Zugangsbedingungen in Verbindung steht (1), und sie erstellen Bibliografien (5). Sie beschrieben, wie sich der Fokus der eigenen Forschung im Lauf der Zeit verändert hat (7) und stellten fest, dass die Erforschung eines fremden Kontextes sie für das Verständnis des eigenen sensibilisiert (3). Sie beschrieben die Erfahrung, dass das eigene Forschungsthema auf keinerlei Interesse stößt (3). Speziell britische Forscher_innen bestanden darauf, dass man nach Russland reisen muss, um über Russland zu forschen, wie sie selbst das auch tun (4). Sei man dort, dann seien einheimische Kontaktpersonen unbedingt notwendig, um einen Zugang zum Forschungsfeld zu erlangen (3). Einige erklärten auch, sich im Forschungsprozess nicht mit russischen Fachkolleg_innen zu besprechen (oder zumindest deren Publikationen zu lesen), sondern lieber einfach so ins Feld gingen (»to follow my own nose and my own path«, R 29) (4). Eine amerikanische Respondentin, die darauf hinwies, wie viel komplizierter und weiter die Reise von den USA nach Russland ist, verglichen mit Europa als Ausgangspunkt, meinte auch, dass weniger Forschungsreisen nach Russland notwendig geworden seien, weil man inzwischen so viel Literatur und sonstige russlandbezogene Informationen über das Internet erhalten kann.598 598 Dazu passt auch die Beobachtung, dass in der russlandspezifischen Politikwissenschaft intensive Feldforschungen in den vergangenen Jahren deutlich seltener geworden sind. Vgl. J. Paul Goode, Redefining Russia: Hybrid Regimes, Fieldwork, and Russian Politics, in: Perspectives on Politics, 8, 4 (2010), 1055–1075.
148
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Zum anderen wurde über Details von Kooperationen berichtet: zunächst in der allgemeinen Erwähnung der Praktik Projekt (24). Zwei Respondentinnen erwähnten explizit, dass sie niemals in Projekte involviert waren. Demgegenüber steht eine Reihe von Erzählungen, die von gemeinsamem Tun berichten: beginnend mit der Kontaktaufnahme beziehungsweise dem Gefundenwerden (6) über das gemeinsame Verfassen von Anträgen (9) bis zum Forschen in einer Gruppe (10). Dabei ergaben sich des Öfteren Diskrepanzen zwischen dem, was man selbst erforschen möchte und dem, was Fördereinrichtungen gerade auf ihrer Agenda haben (2).599 Erzählt wurde von Diskussionen über gemeinsame Begriffsapparate (7) sowie von gemeinsamem Denken (5) und Schreiben (5). Manche Respondent_innen betonten, dass die methodischen und theoretischen Zugänge sich nicht nach Ländern unterschieden, sondern alle über das gesamte Repertoire verfügten (4). Auch die Arbeitsteilung innerhalb von Projekten (8) erwies sich als erwähnenswert. Problematisch wurde es, wenn etwa die russischen Projektpartner_innen in erster Linie empirische Daten lieferten, während die amerikanische, britische oder deutsche Seite des Projektes die Analysen durchführte und publizierte (4).600 Es wurde von sehr positiven (10) ebenso wie von frustrierenden (4) Erfahrungen in der Projektzusammenarbeit berichtet. Wieder andere Respondent_innen unterstrichen, dass sie es als angenehm empfunden hatten, in einem internationalen Projektzusammenhang eigenständig zu arbeiten, ohne von Projektleiter_innen gestört zu werden (3). Zur Forschung gehört auch die Bezugnahme auf die Arbeiten von Kolleg_innen und so kommen in den Interviews kritische (8) wie lobende (15) Bemerkungen über die Forschung anderer vor. Ein Spezialfall sind lobende Bemerkungen über die Arbeiten von Kolleg_innen, die vormals Studierende der Respondent_innen waren (5). Im Zusammenhang mit Narrationen über das Forschen wurden auch konkrete Techniken der sozialwissenschaftlichen Datenerhebung und/oder -analyse erwähnt. Die meisten davon sind eher dem qualitativen Paradigma zuzurechnen, das jedenfalls in der in Russland betriebenen Geschlechterforschung dominierend ist.601
599 Ein amerikanische Respondentin bemerkte zu den wechselnden Schwerpunkten von Förderinstitutionen: »R 17: Today it may be Gender Studies, tomorrow it may be environment, the next day it might be tuberculosis.« Vgl. dazu auch die Sicht russischer Forscher_innen auf dieses Phänomen in Kapitel 4.1.6. 600 Darüber wurde von meinen ›westlichen‹ Respondent_innen allerdings eher als etwas berichtet, das man selbst vermeiden möchte. Vgl. auch die Beschreibung der Sicht der russischen Kolleg_innen in Sokolov, Sociologija, 48. 601 An diesem eingeschränkten Methodenspektrum wurde Kritik geäußert, vgl. Marina A. Kasˇina, Rezension von Elena Zdravomyslova u. a. (Hg.), Praktiki i identicˇnosti: gendernoe ustrojstvo [Praktiken und Identitäten: Geschlechterordnung], Sankt-Peterburg 2010, in: Laboratorium, 1 (2012), 139–144.
149
Beschreibung der Interviews
Tabelle 6: Forschungsmethoden (nach Häufigkeit gereiht) Forschungstechniken
Häufigkeiten
Interviews führen
14
Qualitative Methoden Fragebogen
10 7
Interviews aufzeichnen Quantitative Methoden
6 6
Oral History Diskursanalyse
4 2
Fokusgruppe Forschungstagebuch
2 2
Lochkarten herstellen Action Research
1 1
Publikationen Im Hinblick auf Publikationen wurde zunächst allgemein die Erwähnung von eigenen Publikationen in irgendeiner Form kodiert (37). Das Schreiben von Sammelbandbeiträgen,602 die Herausgeberschaft von solchen Bänden (19), auch als Übersetzungen603 (10) und die Publikation von annotierten Bibliografien (4) wurden jeweils in mehreren Interviews angesprochen. Nur in je einem Interview wurde von der Herausgabe zweisprachiger Sammelbände, dem Rezensieren, der Erfahrung, dass ein bei einer Fachzeitschrift zur Publikation eingereichter eigener Text abgelehnt wurde, der Redaktion einer Fachzeitschrift und der Redaktion einer feministischen Zeitschrift im Selbstverlag (samizdat) gesprochen. Auch die Aufgabe, aus Konferenzbeiträge auszuwählen, was in den nachfolgenden Sammelband aufgenommen werden sollen, wurde nur in einem Interview thematisiert. Abgesehen von akademischer Textproduktion verfassen zwei Respondentinnen (bell hooks und Marija Arbatova) auch Lyrik, Belletristik und Theaterstücke.
602 Hier wurde differenziert zwischen: Beiträge zu Bänden, die im eigenen Land erscheinen (5), russische Beiträge zu deutschen (3) und skandinavischen (1) Bänden, britische Beiträge zu amerikanischen (1) oder russischen Bänden (2), US-amerikanische Beiträge in russischen (1) sowie deutsche Beiträge in russischen Bänden (1). 603 Damit sind Bände gemeint, in denen bereits erschienene Artikel in Übersetzung veröffentlicht werden.
150
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Konferenzen In 33 der Interviews war allgemein von Konferenzen die Rede.604 Erzählt wurde über die Organisation von Konferenzen (12), die Etablierung von Konferenzreihen über mehrere Jahre hinweg (6) und über den ›Mechanismus‹ des Genres Konferenz mit Abstract, Vortrag und anschließendem Sammelbandbeitrag, dem man sich als Beteiligte_r unterwirft (6). Weitere Erzählungen betrafen spezifische Aktivitäten im Rahmen von Tagungen, insbesondere die Reaktionen auf Präsentationen: Nachfragen zu Vorträgen (4), wirklich zuhören und sich an Vorträge erinnern (2) und selbst Feedback für einen Vortrag erhalten (3). Eine Respondentin berichtete darüber, einmal aus Protest gemeinsam mit russischen Kolleg_innen eine Konferenz verlassen zu haben, nachdem ein Vortragender sich über »Russland als barbarisches Land« geäußert hatte. Schließlich gehört zu Konferenzen auch die Nervosität, bevor und während man seinen Vortrag hält (5). Finanzielles Im Zusammenhang mit der Finanzierung von Forschung ging es einerseits um Mittel für Auslandsaufenthalte zum Zweck von Studium oder Forschung (9), andererseits um die Abwicklung gemeinsamer Projekte. Zwei der Respondent_innen arbeiteten selbst in internationalen Fonds, die unter anderem Geschlechterforschung in Russland finanzieren. Es wurde wiederholt angesprochen, dass es kaum Förderfonds gibt, die Projekte mit russischen und ›westlichen‹ Beteiligten fördern (5), jedenfalls nicht in einer Weise, die alle Beteiligten als gleichberechtigt einbindet. Gemeinsame Projekte implizieren dann, dass die Mittel aus ›westlichen‹ Quellen stammen und die russischen Partner_innen irgendwie daraus bezahlt werden (4). Da der Geldtransfer nach Russland sich in den 1990er Jahren noch sehr kompliziert gestaltete, waren mitunter Einfallsreichtum und Improvisation gefragt (1): entweder mussten größere Mengen an Bargeld persönlich transportiert oder aber (seitens der russischen Partner_innen) Honorarnoten gestellt werden, die vorläufig vom ›westlichen‹ Projektpartner beglichen wurden, der an seiner Heimatuniversität später die Auslagen ersetzt bekam. Speziell britische Respondent_innen erzählten von zahlreichen Kooperationsanfragen von russischer Seite in den 1990er Jahren (3), darunter auch viele, bei denen es hauptsächlich darum ging, finanzielle Mittel zu lukrieren. Eine russische Respondentin berichtete dagegen von vielen Kooperationsanfragen aus dem Ausland, auf die sie aus Zeitmangel nicht eingehen konnte. Es gab auch Erzählungen von russischen Respondent_innen, die ihrerseits Projekte initiierten und Koopera604 Konferenzen scheinen in der Tat die am häufigsten praktizierte Form der Zusammenarbeit zwischen russischen und anderen Geschlechterforscher_innen zu sein.
151
Beschreibung der Interviews
tionspartner aus dem Ausland anfragten (4). In zwei der Interviews sprachen russische Befragte über die Empfindung von Scham und Ärger darüber, für arm gehalten zu werden, etwa wenn die Person im Rahmen der Einladung zu einer Konferenz in Großbritannien nicht einmal für einen Kaffee selbst zahlen durfte.605 Persönliche Beziehungen Unter diese Rubrik fallen Erwähnungen von den Respondent_innen nahestehenden Personen: Familienmitglieder, Partner_innen oder Freund_innen – darunter auch solche, zu denen man ursprünglich nur professionellen Kontakt pflegte. Mitunter wurde auch die Qualität der Beziehung zu einer Person erläutert. Weiters führe ich hier an, ob eine Person über ihre eigene Kindheit erzählt. Tabelle 7: Persönliche Beziehungen (nach Häufigkeit gereiht) Erwähnt wird/werden
Häufigkeiten
Langandauernde Arbeitsbeziehung (Zusammenarbeit, gegenseitiges Lesen etc. …) über Nationengrenzen hinweg
22
»Besondere Person« – Kooperationspartner_in mit außergewöhnlichen 18 persönlichen, fachlichen, sprachlichen u. a. Qualitäten Erzählung über eigene Kindheit 14 Eigene Eltern (bzw. ein Elternteil) (Ehe-)Partner_in
13 13
Eigenes Kind/eigene Kinder Fortschritte im gegenseitigen Verständnis (sprachlich, kulturell)
10 9
Sich aneinander gewöhnen (im Zuge langdauernder Zusammenarbeit) Die eigene glückliche Ehe bzw. Beziehung
7 4
Mit (Ehe-)Partner_in über Forschung sprechen Forscher_innenpaar, beide arbeiten über Russland
3 2
Fernbeziehung
2
Reisen In den Interviews erzählten die Befragten über unterschiedliche Arten von Reisen. Das beginnt mit Schülerfahrten in die Sowjetunion, etwa zum Zweck des Spracherwerbs (3). Bei solchen Reisen tauschten die amerikanischen Jugendlichen auf der Straße die in der Sowjetunion sehr begehrten ›westlichen‹ T-Shirts gegen Abzeichen oder Armeegürtel – die sie an der Grenze allerdings wieder 605 Eine der Respondentinnen (R 5) verwendet dafür das Wort Bettler bzw. bettelarm (nisˇcˇij).
152
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
abgeben mussten, wie ein Respondent berichtet. Drei russische Respondentinnen beschrieben ihre Bemühungen, zu einer Konferenz im Ausland zu reisen, weil es bei dieser um ›Frauenthemen‹ ging. Es wurden auch Reisen aus der Sowjetunion oder Russland ins Ausland erwähnt, die nicht der Forschung oder dem Lernen dienten, sondern einfach nur Urlaubsreisen waren (3). Unter Reisepraktiken fällt auch das eigene Studium im Ausland (16) und dafür zu sorgen, dass die eigenen Studierenden ins Ausland gehen (5). Die Berichte über Studienund Forschungsaufenthalte in der Sowjetunion enthalten manchmal Episoden über die Schwierigkeit, aus einer Provinzstadt nach Moskau zu gelangen (3). Visumsangelegenheiten wurden von Respondent_innen mit Reiseerfahrungen nach oder aus Russland erwähnt (14). Für russische Respondent_innen war auch ein zagranpasport (3), also ein Reisepass, der zur Ausreise aus Russland berechtigt, erwähnenswert. Zwei russische Gesprächspartnerinnen berichteten über die Voraussetzungen, die zu erfüllen waren, um aus der Sowjetunion ausreisen zu dürfen (im einen Fall Loyalität, mittels Interviews durch den Arbeitgeber überprüft, im anderen Fall höhere akademische Positionen). Von touristischen Reisen in die Sowjetunion oder nach Russland ist keine Rede – lediglich eine amerikanische Respondentin bemerkte, dass sie Russland eher nicht als Urlaubsziel wählen würde, und dass der Tourismus zu Zeiten der Sowjetunion ihrer Ansicht nach besser organisiert war, als in den 2000er Jahren. Rezeption/Transfer Unter der Rubrik Rezeption/Transfer habe ich jene Aussagen zusammengefasst, die mit der Auseinandersetzung mit den Arbeiten anderer zu tun haben – oder allgemeiner : mit Theorien, Methoden oder Modellen, die aus anderen (nationalen, sprachlichen, disziplinären …) Kontexten als dem eigenen stammen. Die Rezeption ausländischer Fachliteratur in Russland wurde in 14 Interviews erwähnt, die Rezeption russischer Fachliteratur im Ausland in drei.606 Zur Rezeption gehört auch, festzustellen, dass einem die Zeit für die Lektüre fehlt (2). Andere Lesepraktiken sind etwa (aus russischer Sicht), sich einen Überblick über ›westliche‹ Literatur zu einem Thema zu verschaffen (6). Dabei beschränkten sich einige darauf, alles zu lesen, was in russischer Übersetzung vorliegt (3). Zum adäquaten Verständnis fremdsprachiger Fachtexte sind nicht nur sprachliche Fähigkeiten erforderlich, sondern auch Wissen um den Kontext (6): etwa ideengeschichtliche Hintergründe oder intertextuelle Verweise. Ob Original oder Übersetzung: es wurde von einigen eine klare Präferenz für Primärtexte geäußert (3), die auf jeden Fall gewinnbringendere Lektüre darstellten als zweitklassige Kommentare und Synthesen. Personen, die reisen, berichteten 606 Diese Relation ist im Rahmen der globalen Arbeits- und Machtverteilung in den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht überraschend.
Beschreibung der Interviews
153
von der Gewohnheit, Koffer voller Bücher mitzubringen, weil dies oft den einzigen Weg darstellte, dieser Literatur habhaft zu werden.607 Dieser Transfer fand nach Russland ebenso statt (3), wie aus Russland (1). Auch wenn für die russische Geschlechterforschung der Input von außen eine größere Rolle spielt als umgekehrt, ist Rezeption/Transfer keine Einbahnstraße:608 Manchen Respondent_innen war es ein Anliegen, russische Forschungsarbeiten einem ›westlichen‹ Publikum zugänglich zu machen, also etwa dafür zu sorgen, dass gute Übersetzungen herausgebracht werden (2). Zwei britische Respondent_innen sprachen im Interview kritisch über ihre mangelhaften Kenntnisse der Arbeiten russischer Geschlechterforscher_innen. Die Übertragung von didaktischen Formaten, die russische Forscherinnen an amerikanischen Hochschulen erlebt haben, in die eigene Unterrichtspraxis an der russischen Heimatuniversität (2) stellt ebenfalls eine Form der Rezeption beziehungsweise des Transfers dar. Sprache und Übersetzung Russisch (17) oder Englisch (13) wurden als gemeinsame Sprachen in internationalen Kooperationen angegeben. Englisch diente auch als Sprache für Sammelbände, in denen Brit_innen, Amerikaner_innen und Russ_innen Aufsätze veröffentlichten (6). Englisch lernten viele Russ_innen erst in der Aspirantur (6), also in der postgradualen Phase, in der das Erlernen einer Fremdsprache verpflichtend vorgeschrieben ist. Einige Befragte berichteten von der unangenehmen Erfahrung sprachlichen Nichtverstehens (15) oder davon, korrigiert zu werden (3). Manche erwähnten, dass sie eine Fremdsprache unbekümmert ›schlecht‹ sprächen, weil Verständigung wichtiger sei als korrektes Englisch oder Russisch (3). Zudem, wenn das Gegenüber zum Beispiel überhaupt kein Russisch spräche, dann habe der Russe oder die Russin das Recht, schlechtes Englisch zu sprechen. War jemand in der Tagungssprache nicht firm, behalf er oder sie sich etwa damit, den Vortrag zu schreiben und das Manuskript vorab korrigieren zu lassen (3). Eine österreichische Respondentin berichtete davon, dass sie für ihr gutes Russisch gelobt wurde – allerdings in einem Kontext, in dem sie lieber Reaktionen auf den Inhalt ihres Vortrages bekommen hätte. Einige der Respondent_innen verfassten selbst professionelle Übersetzun607 Die Koffer voller Bücher waren erst in der postsowjetischen Periode möglich. Eine Respondentin aus der russischen Provinz (R 28) erzählte, dass sie in den 1980er Jahren Briefe an Autor_innen in den USA, Europa, Australien und Südafrika schrieb und um die Zusendung von Aufsatzkopien bat. Diese Bitten hatten oft Erfolg. 608 »For one thing, it was felt by many women working in Women’s Studies in Europe that the discursive flow in Women’s Studies, the migration of knowledge occurred along very distinctive and one-way lines, from West to East, from the Anglo-American alliance to (the rest of) Europe.« Griffin/Braidotti, Introduction, 2.
154
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
gen. Einige waren an gemeinsamen Übersetzungsprojekten beteiligt (6), bei denen die Übersetzer_innen Unterstützung von Gender-Forscher_innen erhielten, unter denen Muttersprachler_innen der Ursprungs- und der Zielsprache waren. Die Schwierigkeit der adäquaten Übersetzung von Fachtermini (in Gender Studies und anderen Kontexten) wurde in neun Interviews angesprochen. Nicht nur Bücher oder Artikel wurden übersetzt: auch Curricula für Gender Studies wurden von einer Sprache in die andere übertragen (2). Manche Respondent_innen berichteten über die Mühen, übersetzte Texte oder solche, die von Nichtmuttersprachler_innen verfasst wurden, zu redigieren (7). Einige äußerten die Meinung, es sei einfacher, den Text in der Muttersprache schreiben zu lassen und dann zu übersetzen (3). Mündliches Übersetzen bei Konferenzen wurde auf zweierlei Weise thematisiert: dass es jemand für eine_n tut (4) oder als etwas, das bei Konferenzen stattfindet (10) – in mehr oder weniger guter Qualität. »Wir« Um deutlicher zu machen, wie sich die Respondent_innen selbst positionieren, wurde bei der Analyse der Interviews darauf geachtet, in welcher Weise Pronomina wie »wir«, »uns« oder ähnliche verwendet wurden, die auf eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe von mindestens zwei Personen hinweisen. Diese Merkmale erwiesen sich als besonders nützliche Kriterien für die Interpretation, wie in den Kapiteln 6 und 7 dargelegt wird. Auffällig ist, dass zwar »Wir im Westen« vorkommt, nicht aber »Wir im Osten«. Tabelle 8: Verwendungen von »Wir« (nach Häufigkeit gereiht)609 »Wir«-Verwendungen
Häufigkeiten
Wir an unserem Institut bzw. unserer Universität Wir : ein_e Kolleg_in und ich
26 22
Wir : Projektmitarbeiter_innen Wir : meine Studierenden und ich
9 5
Wir : die an einer Publikation bzw. einer Konferenzorganisation Beteiligten Wir : mein_e Partner_in und ich
4
Wir : meine Familie Wir : meine Freund_innen und ich
6 3
8
609 Nur in je einem Interview kamen vor: Wir : russische Studierende im Ausland, Wir : USamerikanische und kanadische Forscher_innen, Wir : Frauen von der Association of Women in Slavic Studies, Wir : die Jüngeren und ein Wir im Sinne von: »Du bist eine von uns«, das eine Respondentin von einer Dorfgemeinschaft zugeschrieben wurde. Diese Merkmale wurden nicht in die Korrespondenzanalyse einbezogen.
155
Beschreibung der Interviews
((Fortsetzung)) »Wir«-Verwendungen
Häufigkeiten
Wir : Russ_innen/Sowjetbürger_innen
9
Wir : in Europa Wir : im Westen
4 2
Wir : russische (sowjetische) Forscher_innen Wir : russische Forscher_innen in der Provinz
8 4
Wir : westliche Forscher_innen Wir : britische Forscher_innen
4 2
Wir : Russische Frauen Wir : Feminist_innen
3 3
Wir : Studierende an unserem Institut/unserer Universität Wir : ausländische Studierende, die einen Studienaufenthalt in der Sowjetunion verbringen
6 4
Wir : ausländische Forscher_innen, die in sowjetischen Archiven arbeiten Wir : im Sinne von »die Gesellschaft«
2 2
»Themen« – Was die Respondent_innen über andere(s) erzählen Akademisches In sehr vielen der Interviews wurden Machtverhältnisse innerhalb akademischer Kontexte angesprochen. Es war die Rede von akademischen Hierarchien (29) auf Basis von Titeln und Positionen, von Alter im Zusammenhang mit akademischen Errungenschaften (33) und von wissenschaftlichen Autoritäten (5) – jenen, die man unbedingt zitieren muss. Auch das Geschlecht spielte hier eine Rolle: Wenn von Vorgesetzten gesprochen wurde, dann immer mit Erwähnung dessen, ob es sich um Männer (positive/neutrale Rolle: 5, negative Rolle: 4) oder Frauen handelt (positive/neutrale Rolle: 3). Manche Respondent_innen sprachen von sowjetischen akademischen Gewohnheiten (12). Charakteristisch für den sowjetischen akademischen Betrieb, speziell für die Sozialwissenschaften, war die Prävalenz marxistisch-leninistischer Theorien (12). Die Kritik bourgeoiser Theorien (3) bedeutete eine der wenigen Möglichkeiten, diverse nichtmarxistische Ansätze bekannt zu machen. Ein in den 1970er Jahren geborener russischer Respondent befand, dass es lohnend sei, sich mit den Forschungen sowjetischer Sozialwissenschafter_innen der 1960er und 1970er Jahre zu befassen, da die Qualität dieser Arbeiten jener ›westlichen‹ aus derselben Periode um nichts nachstehe. Hier soll auch noch die Erwähnung von Bibliotheken (22)
156
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
angeführt werden – zumeist Bibliotheken im nichtrussischen Ausland oder in den russischen Hauptstädten. Manche sprachen über die Spezialabteilungen (specchrany) sowjetischer Bibliotheken, in denen eingeschränkt zugängliche Literatur aufbewahrt wurde (5). Die akademische Praktik Konferenz wurde auf unterschiedliche Weisen thematisiert, etwa als akademisches Ritual (3) oder als soziale Veranstaltung (19). Manche Respondent_innen äußerten sich kritisch über Tagungen, deren Programm so vollgepackt ist, dass keine Diskussionen möglich sind (4). Es wurde die Frage aufgeworfen, was eine internationale Konferenz eigentlich ausmache (2) – etwa die Anzahl der ausländischen Teilnehmer_innen?610 Schließlich gehört hierher auch die Thematisierung von nationaler Forschungsförderung, konkret erwähnt für Russland (17) und Großbritannien (5). In diesem Zusammenhang wurde von manchen der Befragten angesprochen, dass russlandbezogene Forschung im deutsch- und englischsprachigen Raum an Prestige und somit auch an materieller Unterstützung verliere (3). Gender Studies Zum einen sind hier die speziellen russischen Begrifflichkeiten wie etwa feminologija (etwa: Feminologie) beziehungsweise genderologija (etwa: Genderologie) (4) zu nennen. Ein Respondent schlug vor, den Begriff rodovye issledovanija (Geschlechterforschung, basierend auf rod mit den Bedeutungen grammatisches Geschlecht, Gattung, Wurzel), statt gendernye issledovanija einzuführen.611 Einige der Respondent_innen sprachen auch über unterschiedliche Entwicklungsphasen von Geschlechterforschung in Russland (9). Es wurden in den Interviews Aussagen über die Reputation der Interdisziplin Gender Studies gemacht. Über russische Geschlechterforschung wurde in manchen Interviews gesagt, dass sie an Prestige zunähme (4), in anderen wiederum, dass dieses Prestige schwinde (2). Zur Geschlechterforschung in Westeuropa wurde von manchen Respondent_innen behauptet, dass sie stagniere und ihre Popularität eher zurückgehe (3). Über beide, russische (5) wie westeuropäische beziehungsweise US-amerikanische (2) Gender Studies wurde gesagt, sie seien marginalisiert. Der russischen Geschlechterforschung wurde (von russischen und deutschen Respondent_innen) attestiert, sie müsse in ihrer Textproduktion im Vergleich mit dem Westen auf610 Diese Gegenfrage auf die Leitfadenfrage »Haben Sie an internationalen Konferenzen teilgenommen? Was für Erfahrungen haben Sie damit gemacht?«, verwies mich auf meine eigene, wenig reflektierte Verwendung von Begriffen wie »international«. 611 Dieser Ansicht ist auch die Philosophin Irina Aristarchova, zumal das Wort rod sehr gut dem englischen gender entspricht, vgl. Irina Aristarkhova, Trans-lating Gender into the Russian (Con)Text, in: Rosi Braidotti, Esther Vonk u. Sonja Wichelen (Hg.), The Making of European Women’s Studies, Utrecht 2000, 67–82; vgl. ebenso Sergej Usˇakin in: Do i posle gendera, o. S.
157
Beschreibung der Interviews
holen (3). Russische Geschlechterforschung hat mit negativen Zuschreibungen von außen, in der Regel seitens des akademischen Umfeldes, zu kämpfen, wie einige der Respondent_innen erzählten: über die Geschlechterforschung werde gespottet (17) und ihre Protagonist_innen werden als Schwule und Lesben abgestempelt (3). Vielfach werde Geschlechterforschung in Russland als Modephänomen gesehen (4). Zum Teil wurde über Skepsis oder Ablehnung seitens der Studierenden berichtet (5), andere wiederum stellten fest, dass inzwischen die Studierenden nicht mehr vor Gender Studies erschrecken und manchmal sogar entsprechende Lehrveranstaltungen einfordern würden (2). Manche Respondent_innen fanden auch, dass Gender Studies oder ähnliche – potenziell politisch engagierte und quer zu traditionell etablierten Disziplinen stehende – Richtungen eine riskante Karriereoption darstellten (4). Gender Studies wurden im russischen akademischen Umfeld aber auch positiv bewertet, nämlich wenn es ihnen gelang, Drittmittel an die Universitäten zu bringen (4). Es wurde auch die Ansicht vertreten, dass Gender Studies Frauen, insbesondere jüngere Frauen, selbstbewusster machen kann (2). In mehreren Interviews wurde die Meinung geäußert, Gender Studies stammten in erster Linie (wenn nicht ausschließlich) aus englisch- und französischsprachigen Kontexten. Es wurde konkret die Forderung ausgesprochen, dass auch russische Wissenschafter_innen über russische Frauenbewegungen forschen sollen (1), oder es wurde darüber berichtet, dass die Forderung von jemand anderem ausgesprochen wurde (2). Gender Studies wurde zudem von einer Respondentin als Forschungsbereich geschildert, der persönlich herausfordernd sein kann, und dem sie sich deshalb, ungeachtet ihres aktiven Interesses an Geschlechteraspekten, nicht zuordne. Forschungsthemen Wenn Respondent_innen über die Themen ihrer eigenen Forschung – oder solcher, mit der sie sich auseinandersetzen – sprachen, wurde auch das erfasst. Hier werden nur jene aufgelistet, die mindestens in zwei Interviews erwähnt wurden.612 Tabelle 9: Forschungsthemen (nach Häufigkeit gereiht) Forschungsthemen
Erwähnungen
Russische Geschichte Feminismus
9 9
612 Forschungsthemen, die nur in einem Interview genannt wurden, wurden nicht für die Analyse codiert. Sie sind in meiner Dissertation aufgelistet, vgl. Garstenauer, Gender Studies, 160f.
158
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
((Fortsetzung)) Forschungsthemen
Erwähnungen
(Vorwiegend russische) Frauenbewegung
7
Politische Partizipation von Frauen Frauen in der Gesellschaft (ökonomische/sozialwissenschaftliche Aspekte)/Frauenerwerbstätigkeit in der Sowjetunion und Russland
7 6
Soziale Bewegungen Wissenschaftsgeschichte/-theorie
6 6
Frauenemanzipation in der Sowjetunion Feministische Philosophie
4 4
Homosexualitäten Männlichkeiten
4 4
Sexualität Jugendkultur
4 3
Politische Theorien Gewalt gegen Frauen
3 3
Sozialwissenschafter_innen Frauen in den USA
3 2
Heiratsverhalten, reproduktives Verhalten Sozialstrukturanalyse
2 2
Cyberfeminismus Geschlechtersozialisation
2 2
Geschlechterverhältnisse In einigen der Interviews kamen Geschlechterverhältnisse zur Sprache, nicht als Gegenstand der Forschung, sondern als ein Phänomen in der Erfahrung der Respondent_innen. Von zwei Respondentinnen kam die Bemerkung, dass viele Themen (sei es Elternkarenz oder Geschlechterforschung), erst dann ernst genommen wurden, wenn auch Männer sich damit beschäftigten. In einigen der Erzählungen ging es um die äußere Erscheinung von Frauen – einerseits von Wissenschafterinnen (11), andererseits von russischen Frauen allgemein (2). Vom Aussehen von Männern war dagegen in keinem der Interviews die Rede. In zwei Interviews wurde darüber gesprochen, dass man auch (oder gerade) als Gender-Forscherin adrett und damenhaft auftreten solle. Dabei wurde in einigen Interviews erwähnt, dass in Russland und der Sowjetunion ein breites Spektrum von Frauenbildern präsent ist und war : vom idealen Mädchen, wie es in Turgenevs Romanen vorkommt, über die im Zweiten Welt-
Beschreibung der Interviews
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krieg kämpfenden Sowjetfrau, bis zur arbeitenden Mutter, wie sie auch in der postsowjetischen Gesellschaft üblich ist (7).613 Speziell auf die Sowjetunion und teilweise auf das postsowjetische Russland bezogen sich Aussagen zur geschlechtsspezifischen Sozialisation von Kindern (5), zur Fähigkeit (post-)sowjetischer Frauen, Beruf und Familie zu vereinbaren (4), sowie zur schlechteren Situation von Männern im Vergleich zu Frauen in der (post-)sowjetischen Gesellschaft (3).614 Kommunikation/Medien Unter diesem Titel sind die Nennungen unterschiedlichster Medien der Kommunikation zwischen Forscher_innen aufgelistet: E-Mail (24), das Internet (15), Briefe (13) sowie das Telefon (12). In einem Interview wurde die Verwendung der elektronischen Post als Kriterium für die Fortschrittlichkeit und Aufgeschlossenheit potenzieller russischer Projektpartner_innen angesprochen. An Massenmedien werden im Zusammenhang mit Geschlechterforschung und/oder Feminismus lokale Fernsehsender (5) und überregionale Medien – russische nationale Zeitungen und TV-Sender sowie ausländische Fernsehanstalten (6) genannt. Im Hinblick auf diese russischen Medien werden sexistische Inhalte kritisiert (2). An dieser Stelle ist auch der Mangel an Kopiergeräten in der Sowjetunion in den 1980er Jahren zu nennen: Eine Respondentin erwähnte dies im Zusammenhang mit ihrer im Eigenverlag herausgegebenen feministischen Zeitschrift, die mit Durchschlägen abgetippt werden musste, eine andere in Erzählungen über die Lesepraxis in der sowjetischen Provinz: Wenn kurzfristig (z. B. per Fernleihe aus Moskau) ein rares Buch vorhanden war, so zirkulierte es unter den Interessent_innen. Jede_r durfte es nur eine kurze Zeit behalten, damit alle Gelegenheit hatten, es zu lesen. Soziale Medien spielen in meinem Interviewmaterial (noch) keine Rolle, was wohl auch mit der Entstehungszeit der Interviews (1988–2008) zu tun hat. Spezifika Russlands und der Sowjetunion Die hier gesammelten Besonderheiten nehmen größtenteils Bezug auf negativ konnotierte Charakteristika. Sowjetische Schulen wurden als nicht leistungs613 Zu in Russland verbreiteten weiblichen Identitätskonzepten (Mutter, Hausherrin, Heldin, Genossin, Prostituierte) vgl. Larissa Lissjutkina, Ein »Sorgenkind« im fernen Osten Europas: Die russische Frauenbewegung und Genderforschung zwischen Hoffnung und Verzweiflung, in: Ingrid Miethe (Hg.), Europas Töchter. Traditionen, Erwartungen und Strategien von Frauenbewegungen in Europa, Opladen 2003, 225–256. 614 James Richter zitiert folgendes Statement einer NGO-Aktivistin: »One activist in Nizhnii Novgorod, when asked if she shared the feminist ideology espoused by the Association of Crisis Centers based in Moscow, responded that she did so only ›half and half‹, because in Russia, she believed, men were the victims of domestic violence as much as women.« Richter, Civil Society, 35.
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Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
fördernd (1) und unzulänglich was den Sprachunterricht betrifft (2) geschildert; das Studium an sowjetischen Universitäten als restriktiv und verschult beschrieben (2). Soziale und wirtschaftliche Problem wie etwa Alkoholmissbrauch (4), Lebensmittelknappheit in den 1970er (1) und 1990er Jahren (4) und die demografische Krise (7) wurden thematisiert. Russische Forscher_innen wurden, verglichen mit ihren ›westlichen‹ Kolleg_innen, als rückständig dargestellt (7) – es fehle ihnen an analytischem Wissenschaftsverständnis, hieß es etwa (3). In vielen der Interviews kamen die großen Unterschiede zwischen den Hauptstädten (Moskau und Sankt Petersburg) und der Provinz in Russland zur Sprache. Im Detail ging es um die Benachteiligung der Wissenschaft in Provinzstädten durch schlechtere Infrastruktur, geringere finanzielle Mittel und in Zeiten, als das Internet noch nicht selbstverständlich zugänglich war, weniger Zugang zu Informationen (7). In den Hauptstädten kam man leichter an mehr Fachliteratur als in Universitätsbibliotheken der russischen Provinz (7). Die Fremdsprachenkenntnisse waren abseits der Hauptstädte wesentlich eingeschränkter (5). Besonders deutlich zeigte sich gerade dieses Phänomen in ehemals geschlossenen Städten, in die so gut wie keine ausländischen Besucher kamen (2).615 Zum Verhältnis Hauptstädte/Provinz sind auch noch jene Erzählungen hinzuzufügen, in denen Protagonist_innen der Frauenbewegung und/ oder der Geschlechterforschung in den Hauptstädten es bereits satt hatten, ständig von ›westlichen‹ Forscher_innen befragt zu werden, während in den Provinzstädten die Forscher_innen eine Seltenheit und sehr willkommen waren (2). Damit gingen mitunter überzogene Erwartungen einher, was die ›Westler_innen‹ alles bewirken könnten. (3). Seltener wurden positive Assoziationen zu Russland formuliert. Einige nichtrussische Respondent_innen erzählten von der großen Faszination, die Russland auf sie (teils schon seit Kindertagen) ausübt (5). Russ_innen wurden von einer britischen Respondentin als großzügiger als Menschen aus dem ›Westen‹ beschrieben. Für manche war die Sowjetunion tendenziell eine mögliche positive Alternative zu ›westlichen‹ Gesellschaftsmodellen (2). Eine deutsche Respondentin beobachtete ein steigendes Selbstbewusstsein in den russischen Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren. Die russischen Sozialwissenschafter_innen gehen immer weniger davon aus, dem ›Westen‹ gegenüber in 615 »Because of the sensitive nature of their work, the cities were ›closed‹ during the Soviet era. Each city – including housing, schools, parks, and other facilities – was surrounded by double fences and guarded by troops from the ministry of internal affairs. The nuclear facilities themselves were cordoned off with additional fences and guards. Access to and from the cities was tightly controlled by representatives of the KGB, the Soviet Union’s intelligence. Until the mid-1950s, residents were not allowed to leave except for official business.« Sharon Weiner, Preventing Nuclear Entrepreneurship in Russia’s Nuclear Cities, in: International Security, 27, 2 (2002), 126–158, 128.
161
Beschreibung der Interviews
irgendeiner Form aufholen zu müssen. Im Extremfall schlägt dieses Selbstbewusstsein in Nationalismus um (2).616 Sprache und Übersetzungen Aussagen zur Sprache, die nicht konkret den eigenen Sprachgebrauch oder die eigenen Sprachkompetenzen betreffen, haben im Kontext dieser Interviews oft mit Mangel und Verständigungsproblemen zu tun. Es wurden unzureichende Englischkenntnisse von Russ_innen erwähnt (10), die einen Grund dafür darstellen können, dass jemand nicht an einem Projekt teilnehmen kann (6) oder dafür, dass man selbst oder andere in einer konkreten Situation (etwa einer Konferenz) durch Nichtverstehen ausgeschlossen ist oder sind (10). Forschungen in Fremdsprachen, die man nicht beherrscht (z. B. Japanisch oder Ungarisch), mögen hochinteressant sein, aber man hat auf sie keinen Zugriff (3). Einige Respondent_innen sprachen über die Ablehnung von Fremdwörtern – von denen Gender nur eines ist – in der russischen Scientific Community (4). Nur eine russische Respondentin sprach das Thema geschlechtergerechte Sprache an und meinte, es werde sehr kompliziert, wenn man versuchen würde, in russischer Sprache geschlechtergerecht zu formulieren.617 Für zwei Respondent_innen, die nicht aus Russland stammen, war es ganz klar, dass Russischkenntnisse unbedingt notwendig sind, wenn man über Russland forschen will. In den Interviews kommen die folgenden Übersetzungsrichtungen vor, woraus hervorgeht, dass Übersetzungen ins Russisch deutlich öfter angesprochen wurden als solche aus dem Russischen. Tabelle 10: Übersetzungsrichtungen in den Interviews Richtung
Nennungen
Englisch > Russisch Russisch > Englisch
15 8
Deutsch > Russisch Französisch > Russisch
7 6
Russisch > Deutsch Spanisch > Russisch (nur mündlich)
2 1
616 Vgl. dazu die unterschiedlichen Perspektiven auf ›Osten‹ und ›Westen‹ nach Stölting, East, 23 (insbes. »Self-Contempt« und »Nostalgia«), die in Kapitel 3.3.2 dargelegt werden. 617 In den von mir aus dem Russischen übersetzten Interviewzitaten übernehme ich das generische Maskulinum, das auch in der Umgangssprache von Geschlechterforscher_innen die üblichere Variante ist (vgl. Krongauz, Gendernaja Paradigma), und verwende weibliche Formen nur, wenn sie auch im Original verwendet wurden.
162
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Weiters ging es um die Qualität von Übersetzungen: Es wurden schlechte, inadäquate Übersetzungen feministischer Texte oder solchen aus den Gender Studies ins Russische bemängelt (7). Es wurde moniert, dass es mehr Übersetzungen solcher Texte ins Russische geben sollte (4). Es wurde über gute (3) und schlechte (2) Übersetzungen eigener Arbeiten berichtet. Eine Respondentin stellte fest, dass die Qualität von Übersetzungen ins Russische bei sozialwissenschaftlichen Texten stark gesunken ist, seit russische Verlage hauptsächlich nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktionieren müssen.618 Feminismus Wiewohl in keiner Version meines Frageleitfadens Feminismus direkt angesprochen wurde, wurde er in fast allen Interviews zu einem Thema. Geschlechterforschung hat sich unter Einfluss des Feminismus entwickelt, und offensichtlich ist es nahezu unumgänglich, sich dazu zu positionieren, wenn man über Geschlechterforschung spricht – ob affirmativ oder ablehnend. Um die Bedeutungen dieses vielschichtigen Begriffs aufzuschlüsseln, habe ich nach den Manifestationen von Feminismus differenziert. In den Interviews wurde diese Vielfältigkeit als solche thematisiert (11), und als konkrete Formen wurden marxistischer Feminismus (5), radikaler Feminismus (1), Black Feminism (3), Second Wave Feminism (5) sowie Cyberfeminismus (2) angesprochen. Weiters wurden Personen erwähnt, die Feminismus verkörpern oder in die Tat umsetzen (19). Manche der Respondent_innen bezeichneten sich selbst (3) oder andere (13) als Feminist_innen oder erzählten, dass in ihrem Zentrum oder Projekt überwiegend, wenn nicht ausschließlich Feminist_innen arbeiten (2). Feminismus konnte aber genauso gut Theorie (10), Kritik (4), Ideologie (12), persönliche Haltung (10), Bewegung (15) oder Fachliteratur (11) bedeuten, im russischen Kontext häufig auch (aus dem Englischen, Französischen, Deutschen) übersetzte Texte (4). Feminismus kam als feministische Lehre (4) oder Forschung (6) vor, konnte aber auch selbst das Objekt der Forschung (12) sein – etwa, wenn die Geschichte einer Frauenbewegung oder feministische Theorien 618 »In Russia, translators in the humanities and social sciences are paid very little: while tariffs vary widely, $ 4–5 per page is not usually considered a low fee in Moscow, and rates are much lower everywhere else. Translators of fiction are typically paid even less. Only a few journals and publishing houses can afford to pay more, and as a result there are very few professional translators who can afford to take the time to perform their task with sufficient care. The bulk of translations is done by non-professionals, mostly students or mid–level academics who specialise in topics other than those which they are required to translate. [G]enerations of Russian readers will have to make do with the miserable translations that have been produced since Perestroika, for even in the event of a qualitative leap in the professional skills of Russian translators and a prolonged economic boom it is unlikely that many titles aside from the most popular works will be re-translated.« Gabowitsch, Translation, o. S.
Beschreibung der Interviews
163
untersucht werden. Feministische Seminare zu besuchen, war in den 1990er Jahren für russische Gender-Forscher_innen eine verbreitete Praxis (17). Manche Respondent_innen sprachen von der Produktion feministischen Wissens (2). In zwei Interviews wurde Herausgeber_innentätigkeit als feministisch verstanden. In vielen Interviews kamen Erzählungen über negative Reaktionen auf Feminismus und Feminist_innen vor, so etwa über die in Russland verbreitete Ansicht, Feminismus sei ein Schimpfwort619 (3) oder die in der Sowjetunion gängige Meinung, Feminismus sei ein Zeitvertreib für gelangweilte bourgeoise Frauen, die sonst keine Probleme hätten (2). Es wurde über negative Images von Feministinnen (etwa als hysterische, männerhassende Lesben etc.) berichtet (5) – wobei hier stets die Sicht von Dritten dargelegt wurde, nicht die der interviewten Person. ›Westen‹ Der Begriff ›Westen‹ wurde in den Interviews in recht unterschiedlicher Weise verwendet: Himmelsrichtungen, Personen, Universitäten, Werte, Theorien, Methoden und nicht zuletzt finanzielle Mittel wurden mit dem Attribut ›westlich‹ versehen. Am neutralsten sind noch die geografischen Verwendungen, wenn von Westeuropa (5), Westdeutschland (4) oder westlich von irgendetwas (8) die Rede ist. Der ›Westen‹ erscheint als aktives Subjekt (24), das imstande ist, vieles zu tun und zu bewirken – mit oder ohne ›Osten‹ als rhetorischem Gegenstück. ›Westliche‹ Personen sind entweder einfach ›Westler_innen‹ (respektive: Westerners oder ljudi na zapade) (7), die immer ein ›nichtwestliches‹ Gegenüber brauchen (im Fall meiner Untersuchung zumeist Russland oder Menschen in Russland). Spezifischere ›westliche‹ Personen sind Forscher_innen beziehungsweise Spezialist_innen (14) und Feminist_innen (5). Entsprechend war auch von ›westlichem‹ Feminismus (5) die Rede. Zu den Forscher_innen gehören die ›westlichen‹ Theorien, Methoden (»die von dort zu uns kamen«, wie es eine russische Respondentin ausdrückte) (8) und Universitäten (5). Ganz wesentlich ist auch die Verbindung zwischen finanziellen Mitteln und dem Attribut ›westlich‹. Gemeint waren damit vor allem amerikanische oder internationale Förderfonds, die entweder konkret genannt wurden oder in der Wendung »westliche Gelder« (zapadnye den’gi) (9). Wenn ›westlich‹ in Verbindung mit immateriellen Werten und Standards gebracht wurde, dann zumeist mit einer positiven Konnotation: ›Westliche‹ Werte (8) sind solche, die Demokratie, Meinungsfreiheit, Emanzipation und ähnliche implizieren. ›Westliche‹ akade619 So berichten auch Sperling u. a. von einem feministischen Seminar in den 1990er Jahren: »In Zhukovsky, one Russian sociologist brought in as an ›expert‹ argued against the use of the term feminism because of its negative connotations, saying: ›Other words need to be used … Feminist should be avoided.‹« Sperling u. a., Networks, 1169.
164
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
mische Standards (5)sind das Maß der Dinge (das von manchen ›nichtwestlichen‹ Partner_innen nicht erreicht wird). Eine Ausnahme bildet der ›westliche‹ Wert des exklusiven Privateigentums (3), das die Negativfolie für die freigiebigen Russ_innen (die etwa in der Eisenbahn mit Unbekannten ihren Proviant teilen) bildete. Die Phrase »Wir im Westen« wurde unter der Rubrik »Wir« erwähnt. ›Osten‹ Die Verwendung von ›Osten‹ erwies sich in den Interviews als weit weniger differenziert als die von ›Westen‹ – hauptsächlich schienen konkrete geografische Bezeichnungen und davon abgeleitete Begriffe auf. Die Rede war von Osteuropa (10), Ostdeutschland (4), dem Fernen (2)620 und dem Nahen Osten (bzw. Middle East) (1) und von der Himmelsrichtung (im Sinne von: im östlichen Teil einer Stadt) (6). Von Osteuropa abgeleitet sind die East European Studies (1), die ein angloamerikanisches Charakteristikum sind. Auch in der Bedeutung von Asien trat der ›Osten‹ auf (2), davon einmal im Zusammenhang mit Kampfsportarten. Der ›Osten‹ als Abstraktion (9) wurde ausschließlich im Zusammenhang mit dem ›Westen‹ genannt, während der ›Westen‹ durchaus auch ohne den ›Osten‹ auftreten konnte. Ein codiertes Statement, das beide Begriffe enthält, ist ›Ost‹-›West‹ als hierarchisches Verhältnis (3). Politische Schlagwörter Weitere politisch aufgeladene Schlagwörter, deren Vorkommen in den Interviews ich ohne weitere Differenzierungen erhoben habe, sind: Zivilgesellschaft (4), Demokratie (10), Globalisierung (4), Netzwerk (25), Homosexualität (11) und Sexismus (6). Europa wurde als Schlagwort (14) und in zwei weiteren Varianten codiert: Vorstellungen von Europa (2) und im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt ost- und südosteuropäischer Länder im Jahr 2004 (3). Eine Respondentin interpretierte Europa als öffentlichen Raum politischer Meinungsäußerung am Beispiel der Demonstrationen gegen den Krieg im Irak in den Jahren 2002–2003 in europäischen Städten. Unterscheidungen Besondere Aufmerksamkeit habe ich im Codierungsprozess auf Äußerungen gelegt, in denen die Respondent_innen Unterscheidungen oder Gegenüberstellungen formulierten – weil ich nicht auf der Suche nach einfachen Dichotomien (wie etwa ›Osten‹ – ›Westen‹) war, sondern vielmehr nach vielfältigen Unterschieden und Kontrasten, die für Protagonist_innen in unterschiedlichen Positionen relevant sind. An regionalen und nationalen Unterscheidungen 620 In den Interviews bezog sich das auf die östlichste, dal’nyj vostok genannte, Region der Russischen Föderation.
Beschreibung der Interviews
165
wurden jene zwischen Russ_innen und Deutschen (2), zwischen Russ_innen und Menschen im ›Westen‹ (2), zwischen Europa und den USA (6), aber auch zwischen Europa und der Europäischen Union (2) genannt. Hierher gehört auch die Unterscheidung zwischen nationalen und transnationalen Phänomenen (3). Im Hinblick auf Feminismus wurde die politische Bewegung der philosophischen Richtung gegenübergestellt (3), ähnlich zwischen feministischer Theorie und Praxis unterschieden (3). Russische Frauen wurden in den Interviews ›westlichen‹ Feministinnen gegenübergestellt (4), russischer und sowjetischer Feminismus dem ›westlichen‹ (2). Innerhalb Russlands wurden feministische und anders orientierte Frauenorganisationen unterschieden (2). Mittelbar zum Feminismus gehört meines Erachtens auch die Unterscheidung zwischen privat und politisch (3). Weiters wurde zwischen Männern und Frauen (11) und zwischen persönlichen und beruflichen Beziehungen (4) unterschieden. Eine Reihe von Differenzierungen und Gegenüberstellungen betreffen Gender Studies. Es wurde zwischen der Verwendung des Begriffs Gender in Russland und im ›westlichen‹ Ausland unterschieden (3) ebenso wie zwischen russischen und ›westlichen‹ Gender Studies (4). Auf Personen bezogen erhielt man die Gegenüberstellung von »westlichen Gender-Forscher_innen« und »unseren Spezialist_innen« (also den russischen) für Gender Studies (3). In zwei Interviews wurde unterstellt, die ›westlichen‹ Gender-Forscher_innen seien feministisch, die russischen dagegen traditionalistischer eingestellt. Manche russischen Respondent_innen grenzten sich selbst von politisch engagierteren Kolleg_innen in diesem Feld ab (3). Gender Studies und Feminismus wurden von einigen der Befragten dezidiert begrifflich getrennt (6). Es wurde zwischen Gender Studies als spezifischem Forschungsfokus und disziplinärem Rahmen einerseits und einer Gender-Perspektive differenziert, die in allen möglichen sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben vorkommen kann (die nicht ›Frauen‹ oder ›Gender‹ im Titel führen) (2). Die Motivation dafür, Gender Studies zu betreiben, schließlich wurde auf rein persönliches Interesse zurückgeführt oder auf Streben nach einer akademischen Karriere (2). Wissenschaftliche Praktiken ganz allgemein betreffen die nun folgenden Differenzierungen: Zunächst geht es um die Positionierung von Forscher_innen, sei es in geografischer Hinsicht oder bezogen auf akademische Hierarchien. Es wurde unterschieden zwischen Forschung in der russischen Provinz und in den Hauptstädten (4) – erstere bietet vergleichsweise unvorteilhaftere Bedingungen. Eine weitere Nuance davon ist die Gegenüberstellung von Personen, die sich vereinzelt an Provinzuniversitäten mit Gender Studies befassen und jenen, die in den Hauptstädten zusammen mit anderen arbeiten (2). Eine wichtige Unterscheidung (ausschließlich von Nichtruss_innen getroffen) ist die zwischen aufgeschlossenen, modernen russischen Forscher_innen und konservativen,
166
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
»sowjetisch« genannten (2), mit denen eine Kooperation schwierig bis unmöglich ist. Jüngere Forscher_innen unterschieden zwischen Diplomand_innen- und Dissertant_innenstatus (3). In einigen Interviews wurde in akademisch etablierte und freiberufliche Forscher_innen geschieden (2). Im Bereich der Projekte machte es einen Unterschied, ob es sich um eine länger andauernde Forschungszusammenarbeit (von manchen Respondent_innen als »echtes Projekt« bezeichnet) oder eine nur Projekt genannte Abfolge von Konferenzen und daraus resultierenden Publikationen (2). Was die Inhalte der Forschung betrifft, so ist die Unterscheidung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden (4) zu nennen sowie jene zwischen Forschung über einen vertrauten und einen fremden Kontext (2). Historiker_innen differenzierten zwischen Mittelalterund Frühneuzeitspezialist_innen einerseits und Historiker_innen, die auf das ausgehende 19. und 20. Jahrhundert spezialisiert sind, andererseits (2). Im Bereich von Publikationen wurde zwischen Originaltexten und Übersetzungen unterschieden (4). Einander gegenübergestellt wurden auch zum einen Texte, die neue Erkenntnisse bringen und zum anderen Lehrbücher oder solche, die nur Publikationen referieren (»wie ich Foucault verstehe« formulierte ein Respondent etwas sarkastisch). Unterschieden wurde weiters zwischen russischem und ›westlichem‹ Lesepublikum (2) wissenschaftlicher Publikationen: Einige Respondent_innen berichteten von zwei Versionen eines Werkes, abgestimmt auf Leser_innen mit unterschiedlichem Informationshintergrund. In einigen der Interviews wurde hervorgehoben, dass Forschung und Politik unterschiedliche Sphären sind und getrennt gehalten werden sollen (4). Zeitangaben Für jedes Interview wurde erfasst, über welche Zeitperioden darin gesprochen wurde. Das Spektrum reicht dabei von den 1960er Jahren bis zum Jahr 2008, in dem die letzten Interviews geführt wurden. Auch spezifische politisch-historische Begriffe, die Respondent_innen zur Periodisierung verwendeten, wurden dokumentiert, so etwa »im Kalten Krieg«, »in der sowjetischen Zeit«, »zu Anfang der Perestrojka« oder »nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion«. Orte Die in den Interviews angegebenen Städte konnten bedauerlicherweise nicht in die Analyse aufgenommen werden, da sie eine Identifizierung der Respondent_innen ermöglicht hätten. Erfasst wurden jedoch die Staaten, die in irgendeiner Form relevant waren – sei es in Form eines Studiums, eines Forschungsaufenthaltes oder einer Kooperation in Forschung oder Lehre. Die unterschiedlichen Kontexte von Gender Studies in Forschung und Lehre in Moskau
Beschreibung der Interviews
167
und Sankt Petersburg einerseits, in Provinzstädten andererseits kommen auch in anderen Merkmalen zum Ausdruck. Erwähnte Institutionen: Institute, Förderfonds Um die Anonymität der Interviewten zu gewährleisten, wurde darauf verzichtet, die genannten Universitäten zu verrechnen. Codiert wurden nur Forschungsinstitutionen, die für die russlandbezogene Geschlechterforschung so zentral sind, dass Sie keine Rückschlüsse auf die Personen ermöglichen, die sie erwähnen: das Moskauer Zentrum für Gender-Forschung (12) und das Institut für Unabhängige Sozialforschung in Sankt Petersburg (3). In die Codierung einbezogen wurden die amerikanischen Förderinstitutionen MacArthur Foundation (6), Open Society Foundation (Soros) (13), die russischen Förderfonds Russische Stiftung für die Geistes- und Sozialwissenschaften (Rossijskij gumanitarnyj naucˇnyj fond, RGNF) (6) und Russischer Fonds für Grundlagenforschung (Rossijskij fond fundamental’nych issledovanij, RFFI) (2) (bzw. die Erwähnung russischer Förderfonds allgemein, die in 9 Interviews vorkommt), die deutsche Volkswagenstiftung (4) und die europäischen Förderprogramme TEMPUS/TACIS (6). Nur in je einem Interview genannt (und daher nicht für die Verrechnung codiert) wurden die Ford Foundation, die Eurasia Foundation, die United States Agency for International Development (USAID), die Adenauer-, die Friedrich-Ebert- und die Heinrich-Böll-Stiftung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft sowie der britische Wellcome Trust. Erwähnte Personen Es wurde abgezählt, wie viele konkrete Personen (als solche, nicht etwa als Autor_innen) in einem Interview genannt wurden. Aus Gründen der Anonymisierung wurden allerdings nur drei prominente Personen namentlich codiert: Marija Arbatova, Ol’ga Lipovskaja und Anastasija Posadskaja, die auch als Respondentinnen der analysierten Interviews aufscheinen. Erwähnte Autor_innen Die von den Respondent_innen erwähnten Autor_innen wurden in die Analyse einbezogen, sofern sie in mindestens zwei Interviews vorkamen.621 An der folgenden Auflistung kann man sehen, wie vielfältig die Bezugnahmen in regionaler und disziplinärer Hinsicht sind, was wiederum die Vielschichtigkeit russlandbezogener Geschlechterforschung bezeugt. In alphabetischer Reihenfolge sind das:
621 Für eine Liste aller genannten Autor_innen vgl. Garstenauer, Gender Studies, 163.
168
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Tabelle 11: Mehrfach erwähnte Autor_innen (alphabetisch) Name
Land
Disziplin (sofern zuordenbar)
Ajvazova Svetlana
Russische Föderation
Politologie
Bridger Sue Butler Judith
Großbritannien USA
Russian Studies Gender Studies/Philosophie
Cockburn Cynthia
Großbritannien
Dostojevskij Fedor
Russland
Gender Studies/ Friedensforschung -
Foucault Michel Friedan Betty
Frankreich USA
Philosophie -
Irigaray Luce Kollontaj Alexandra
Frankreich/Belgien Sowjetunion
Philosophie -
Lacan Jacques Lapidus Gail Warshovsky
Frankreich
Psychoanalyse/Philosophie
USA
Politologie/Russian Studies
Lenin, Vladimir
Sowjetunion Deutschland/ Großbritannien
-
USA Sowjetunion
Politologie Demografie
Russische Föderation Russische Föderation
Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Demografie Geschichtswissenschaft
Marx Karl Nechemias Carol Perevedencev Viktor Pusˇkareva Natal’ja Repina Lorina Rimasˇevskaja Natal’ja
Ökonomie
Stites Richard
Russische Föderation USA
Temkina Anna Usˇakin Sergej
Russische Föderation Soziologie/Gender Studies USA/Russische Föderation Politologie/Sozialanthropologie
Voronina Ol’ga Woolf Virginia
Russische Föderation Großbritannien
Gender Studies/Philosophie -
Zdravomyslova Elena Zˇerebkina Irina
Russische Föderation Ukraine
Soziologie/Gender Studies Gender Studies/Philosophie
Erwähnte Bücher Es wurden relativ wenige konkrete Bücher erwähnt, wiederum wurden nur jene, die in mehr als einem Interview vorkamen, codiert und in die vergleichende Analyse aufgenommen (in der Tabelle fettgedruckt).
169
Beschreibung der Interviews
Tabelle 12: Erwähnte Bücher (nach Erscheinungsjahr gereiht) AutorIn, Titel
Jahr
Erwähnungen
Zoja Jankova, Sovetskaja zˇensˇcˇina [Die sowjetische Frau]
1978
1
Anna Coote u. Beatrix Campbell, Sweet Freedom Evelyn Fox-Keller, Reflexions on Gender and Science
1982 1985
1 1
Barbara Holland (Hg.), Soviet Sisterhood Judith Butler, Gender Trouble
1985 1990
2 1
Ann Philips, Engendering Democracy 1991 Valerie Bryson, Feminist Political Theory : An Introduction 1992
1 1
Magda Müller u. Nanette Funk, Gender Politics and Post1993 Communism Barbara Evans-Clements/Barbara Alpern-Engel/Christine D. Worobec, Russia’s Women: Accommodation, 1993 Resistance, Transformation Anastasija Posadskaya u. a. (Hg.), Women in Russia: A New 1994 Era in Russian Feminism ˇ astnaja zˇizn’ russkoj zˇensˇcˇiny : Natal’ja Pusˇkareva: C nevesta, zˇena, ljubovnica (X – nacˇalo XIX v) [Das private 1997 Leben der russischen Frau: Braut, Ehefrau, Geliebte (X. – Anfang des XIV. Jahrhunderts] Anna Temkina/Elena Zdravomyslova, Chrestomatija feministskich tekstov : perevody [Chrestomathie Feministischer Texte: Übersetzungen] Irina Tartarkovskaja, Gendernaja sociologija [GenderSoziologie] Die Bibel Elisabeth Cheaur8 u. Carolyn Heyder (Hg.), Pol Gender Kul’tura, 3 Bde.
1 2 1 1
2000
7
2005
1
1 1999 2000 4 2003
Erwähnte Konferenzen Die folgenden Konferenzen wurden in den Interviews angesprochen, einige davon wurden bereits in Kapitel 4 vorgestellt. Die fettgedruckten wurden öfter als in einem Interview erwähnt und in der Korrespondenzanalyse verrechnet. Besonders in der Flächengrafik (siehe Kapitel 7) ist die Verteilung der Konferenzen sehr aussagekräftig.
170
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Tabelle 13: Konferenzen (chronologisch) Titel
Ort
Jahr
Erwähnungen
2nd World Conference on Women
Kopenhagen
1980
1
Akron
1988
1
Madrid
1990
1
London Dubna
1991 1991
1 3
»Gender Restructuring in Russian Studies« Helsinki Zweites Unabhängiges Frauenforum Dubna
1992 1992
1 4
»Feminizm: Vostok, Zapad, Rossija« Conference »Women in Russia«
1993 1993
1 2
1994
1
1996
2
Moskau
1996
1
Rochester
1999
1
1999
3
1999
1
Berlin
2000
5
Jena
2001
1
»Vater Rhein und Mutter Wolga« »A Canon of One’s Own«
Freiburg Wien
2002 2005
6 1
BASEES conferences Konferenzen der Europäischen und internationalen Soziologischen Gesellschaften (ESA/ISA)
Großbritannien jährlich 2
»Women in the History of the Russian Empire« »International Congress on the Historical Sciences« »European Forum of Socialist Feminists« Erstes Unabhängiges Frauenforum
Moskau Bath
»United Nations International Conference Kairo on Population and Development« »Womens Worlds 1996« Adelaide »Gendernye issledovanija v Rossii: Problemy vzaimodjstvija i perspektivy razvitija« Berkshire Conference of Women Historians
»Womens Worlds 1999« Tromsö »Writing Women’s History and the History Minsk of Gender in Countries in Transition« »Russische Kultur und Gender Studies« »Gender – Sprache – Kommunikation – Kultur«
wechselnde Orte
jährlich 1
Erwähnte Disziplinen Neben den Disziplinen (und interdisziplinären Wissensgebieten), in denen die befragten Personen selbst arbeiten, interessierte mich – aufgrund der weitgehend interdisziplinären Verfasstheit von Gender Studies – auch, welche Fächer in den Interviews erwähnt wurden. Die häufige Nennung von Soziologie und Geschichte überrascht nicht, zumal gerade in Russland Geschlechterforschung
Geometrische Datenanalyse (GDA): Spezifische Multiple Korrespondenzanalyse
171
in diesen Fächern am stärksten vertreten ist. Es zeigt sich aber auch, dass ein relativ breites Spektrum an Disziplinen vorkommt. Tabelle 14: Erwähnte Disziplinen (nach Häufigkeit gereiht) Disziplin
Erwähnungen
Gender Studies/gendernye issledovanija
30
Geschichte Soziologie
26 21
Philosophie Politologie
15 10
Philologie Linguistik
9 8
Ökonomie Women’s Studies/zˇenskie issledovanija/feminologija Slawistik Demografie Kulturwissenschaften Russian Studies Kulturanthropologie/Ethnography Psychologie Queer Studies Science Studies Masculinities Studies Pädagogik Physik Biowissenschaften
8 8 7 6 6 6 6 3 3 3 2 1 1 1
Nach dieser detaillierten Sortierung und Beschreibung des Interviewmaterials wird im folgenden Unterkapitel erklärt, wie man sich mithilfe des statistischgeometrischen Instrumentariums der Geometrischen Datenanalyse in diesen Datenmengen zurechtfinden kann.
5.2
Geometrische Datenanalyse (GDA): Spezifische Multiple Korrespondenzanalyse
Die Wahl dieser geometrisch-statistischen Konstruktionstechnik ist sehr eng verbunden mit den Konzepten Feld, Raum des Möglichen, Praktiken und Kapital (vgl. Kapitel 3.1) sowie allgemein mit einer Konstruktion des Forschungsge-
172
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
genstandes als strukturierte Gesamtheit von Beziehungen. Es geht mir darum, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Positionen in einem Kontext herauszuarbeiten, der durch eben diese Positionen und deren Relationen zueinander definiert ist. Und genau das kann man mit dem gewählten Verfahren tun: Ausgewählte Untersuchungseinheiten (in meinem Fall verschriftlichte Interviews) werden systematisch danach verglichen, inwiefern sie sich ähnlich sind und in welchen Aspekten sie sich unterscheiden. Ich analysiere Interviews mit unterschiedlichen Personen, die russlandspezifische Geschlechterforschung, Geschlechterforschung oder Forschung über Russland betreiben. Es geht jeweils darum, relevante Eigenschaften dieser zu vergleichenden Einheiten zu erfassen und dann die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen Einheiten zu eruieren. Das statistische Verfahren ermöglicht es, diese Ähnlichkeiten und Unterschiede geometrisch darzustellen: Je stärker die Untersuchungseinheiten sich unterscheiden (je mehr unterschiedliche Merkmale sie aufweisen), desto weiter sind sie voneinander entfernt, je ähnlicher sie sich sind, desto näher sind sie sich. Man kann, in anderen Worten, die Struktur und Intensität der Abweichungen der einzelnen Fälle vom Durchschnitt der Ausgangstabelle darstellen. Die Geometrische Datenanalyse (GDA),622 zu deren Instrumentarium die in dieser Studie verwendete Korrespondenzanalyse zählt, erfreut sich in den letzten Jahren steigender Beliebtheit.623 Davon zeugen Publikationen, die zunehmend auch außerhalb Frankreichs, wo dieses Verfahren zuerst entwickelt wurde,624 erscheinen.625 In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wurde die Technik in Studien zu so unterschiedlichen Themen wie etwa Entlassungen und 622 Patrick Suppes hat die Bezeichnung »Geometric Data Analysis« vorgeschlagen, wie demVorwort zum gleichnamigen Buch von Le Roux und Rouanet zu entnehmen ist, Brigitte Le Roux u. Henri Rouanet, Geometric Data Analysis. From Correspondence Analysis to Structured Data Analysis, Dordrecht/Boston/London 2004, VII. 623 Vor etwa fünfzehn Jahren war die Verbreitung dieser Verfahren nach Ansicht von Expert_innen nur bedingt gelungen: »In 2003, the situation calls for a mixed assessment. On the positive side, the phrases ›Correspondence Analysis‹ and even ›Multiple Correspondence analysis‹ are well rooted in English. The basic procedure of CA can be found in international statistical software. CA is definitely renowned for the visual exploration of data […] On the other side, CA still remains isolated in the field of Multivariate Statistics. In spite of increasing demand from users, popular books and international software all too often offer imperfect versions of the method. Frankly speaking, for MCA the situation is really defective. This method, which is so powerful for analyzing large-scale questionnaires, is still hardly ever discussed and therefore remains underutilized, as does most GDA expert knowledge.«, Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis, 13. 624 Zur Geschichte dieser statistischen Verfahren, vgl. Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis, 11ff. 625 Vgl. Jean-Paul Benz8cri, Correspondence Analysis Handbook, New York/Basel/Hong Kong 1992; Michael Greenacre u. Jörg Blasius (Hg.), Correspondence Analysis in the Social Sciences: Recent Developments and Applications, London/San Diego 1994; Jörg Blasius, Korrespondenzanalyse, München 2001; Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis.
Geometrische Datenanalyse (GDA): Spezifische Multiple Korrespondenzanalyse
173
Berufsverboten im Nationalsozialismus, Mobilität und Lebensunterhalt, europäische Sozialwissenschafter_innen im 20. Jahrhundert oder der Geschichte der öffentlichen Arbeitsvermittlung angewandt.626 Die formalen Anforderungen, die eine Korrespondenzanalyse an das Datenmaterial stellt, sind relativ gering: Es muss eine rechteckige Tabelle mit positiven Zelleninhalten gegeben sein.627 Das sind im Fall dieser Untersuchung, Tabellen von Untersuchungseinheiten und deren Merkmalen. Es ist nicht erforderlich, dass die Daten metrisch strukturiert sind, alle Daten werden als nominal strukturiert behandelt. Mittels einer multiplen Korrespondenzanalyse können, ausgehend von einer Tabelle der Untersuchungseinheiten und Merkmale, die Relationen zwischen den Untersuchungseinheiten und jene zwischen all ihren Merkmalen analysiert werden. Im Fall meiner Studie kommt eine spezifische Form der multiplen Korrespondenzanalyse zum Einsatz, die es ermöglicht, auch Kategorien, die nur selten vorkommen, einzubeziehen.628 Brigitte Le Roux und Henri Rouanet beschreiben das Programm der GDA als geometrisch, mathematisch-formal und deskriptiv : »Description comes first, Statistics is not Probability!«629 Die Informationen der Ausgangstabelle werden als eine multidimensionale Punktwolke abgebildet.630 Dafür werden die Zeilenund Spaltenprofile bestimmt, deren Distanzen zu den durchschnittlichen Profilen die Punktwolke ausmachen.631 Es geht dabei um die quadrierten und gewichteten Distanzen. Die Summe dieser Abweichungen vom Schwerpunkt ergibt die Gesamtvarianz der Punktwolke. Diese Varianz wird nun einer orthogonalen Hauptzerlegung unterzogen: Es wird zunächst eine Gerade ermittelt, die durch den Schwerpunkt der Wolke geht und für die gilt, dass die Varianz entlang der Geraden maximal ist. Das heißt, dass sie ein Maximum der Varianz der 626 Vgl. Mejstrik u. a., Berufsschädigungen; Wadauer, Tour; Sigrid Wadauer, Der Arbeit nachgehen? Auseinandersetzungen um Lebensunterhalt und Mobilität (Österreich 1880– 1938), Wien u. a. (in Vorbereitung); Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a. M. 2007; Irina Vana, Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung: Österreich 1889–1938, Dissertation, Universität Wien 2013. 627 Benz8cri, Handbook, 1. 628 Diese Variante wird in beschrieben in Le Roux/Rouanet, Multiple Correspondence Analysis, 125–129. 629 Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis, 6. 630 »The geometric modeling of data, that is to say, the representation of data as clouds of points in a multidimensional Euclidean space, is the most distinctive characteristic of GDA with respect to Multivariate analysis.« Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis, 6. 631 Die Spaltenprofile (bzw. Zeilenprofile) einer Tabelle bestimmt man, indem die Rohdaten der Kontingenztabelle ins Verhältnis zu den Randsummen der Spalten (bzw. Zeilen) der Variable gesetzt werden. Das durchschnittliche Spaltenprofil (bzw. Zeilenprofil) erhält man, wenn man die Randsummen der Zeilen (bzw. Spalten) ins Verhältnis zur Gesamtsumme setzt.
174
Beschreibung des Datenmaterials und der Analyse
Punktwolke aufnimmt. Für die Restvarianz wird eine zweite Gerade ermittelt, die ebenfalls durch den Schwerpunkt führt und orthogonal zur ersten steht. Dieser Vorgang wird wiederholt, bis die gesamte Varianz der Wolke erfasst ist. Die maximale Anzahl der Geraden, die als Dimensionen der Punktwolke interpretiert werden, ist die Anzahl der Zeilen oder der Spalten der Ausgangstabelle – je nachdem welche davon die geringere ist – weniger 1.632 Detailliert werden allerdings in der Regel nur die ersten Dimensionen interpretiert, weil sie die meiste Information über die Gesamtvarianz der Tabelle enthalten. Diese Dimensionen werden im nächsten Schritt interpretiert: Man sieht sich im Detail an, welche Positionen einzelne Untersuchungseinheiten und Merkmale auf den Dimensionen haben: nahe am Mittelpunkt oder entfernt vom Mittelpunkt und wenn, in welche Richtung. Abgesehen davon spielt es auch eine Rolle, wie stark die einzelnen Untersuchungseinheiten und Merkmale zur Varianz der jeweiligen Dimension beitragen. So ermittelt man, worum es in den jeweiligen Dimensionen geht.633 Für eine Interpretation im Rahmen eines Variations- und Kontrastprogrammes, in der ich mich auf Forschungen von Sigrid Wadauer und Alexander Mejstrik beziehe, wird für jede Dimension eine legitime Referenz gesucht.634 Eine solche Interpretation wird den folgenden Kapiteln detailliert und nahe am Interviewmaterial ausgeführt. Die ersten zwei der so ermittelten Dimensionen werden wiederum in einem nächsten Schritt zu einer Fläche integriert, welche die Informationen der beiden ersten und wichtigsten Dimensionen vereinigt. Dieser zweidimensionale Unterraum der gesamten Punktwolke ist eine Annäherung an einen Raum des Möglichen oder je nach beobachtbarer Autonomie an ein Feld – hier explizit nicht als Theorie verstanden, sondern als Forschungswerkzeug.
632 Im Fall meiner Untersuchung sind das 41 Dimensionen, ausgehend von 42 Untersuchungseinheiten. 633 Vgl. Brigitte Le Roux u. Henri Rouanet, Interpreting Axes in Multiple Correspondence Analysis: Method of the Contributions of Points and Deviations, in: Jörg Blasius u. Michael Greenacre (Hg.), Visualization of Categorical Data, San Diego u. a. 1998, 197–220. 634 In Alexander Mejstriks Untersuchung von Wiener Galerien in den 1990er Jahren ist die legitime Referenz der ersten Dimension beispielsweise die Kunst im Sinne eines elitär verstandenen persönlichen Erlebens ästhetischer Eindrücke. In der zweiten Dimension ist das Geschäftliche, der Markt, die legitime Referenz, vgl. Mejstrik, Kunstmarkt. In einem ganz anderen Kontext setzte Sigrid Wadauer dieses Programm um: Sie erforschte Autobiografien von Handwerkern und fand als legitime Referenz der ersten Dimension das Wandern im Handwerk und als das der zweiten das Reisen, vgl. Wadauer, Tour.
6
Analyse der Dimensionen
Die geometrische Datenanalyse ermöglicht es, sich in umfangreichem Datenmaterial zu orientieren, indem die wichtigsten Differenzierungskriterien dieses Materials herausgearbeitet werden. Hunderte Seiten an Interviewtranskripten können so strukturiert zugänglich gemacht werden. Die Verteilung der Merkmale und Untersuchungseinheiten wird in zwei strukturell homologen Punktwolken dargestellt. Für die Punktwolke werden Geraden berechnet, die durch den Schwerpunkt der Wolke gehen und am meisten von der Varianz der Punktwolke repräsentieren. Diese Geraden werden im Fall dieser Studie als Dimensionen des Raumes des Möglichen von transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung interpretiert.635 Nun kann anhand dieser Dimensionen gezeigt werden, worum es im Datenmaterial hauptsächlich geht: Welche sind die stärksten Variationen und Kontraste? Jedes Merkmal und jede Untersuchungseinheit hat einen Koordinatenwert. Ein Koordinatenwert am Mittelpunkt der Dimension (Nullpunkt, Schwerpunkt der Punktwolke) bedeutet Neutralität im Hinblick auf das Variationsprinzip der Dimension. Je weiter ein Koordinatenwert vom Mittelpunkt entfernt ist, desto stärker ist seine Abweichung von der Neutralität, dabei sind zwei Variationsrichtungen zu beobachten. Wäre beispielsweise Temperatur das Variationsprinzip einer Dimension, so wären in der Mitte etwa die Null Grad verortet, die jeweiligen Abweichungen wären Plus- und Minusgrade, zunehmend wärmer oder kälter, je nach Richtung. Für die Interpretation der Dimensionen ist auch noch ein zweites Kriterium von Interesse: die Wichtigkeit der Merkmale und Untersuchungseinheiten, das heißt, der Anteil, den das Merkmal oder die Untersuchungseinheit zur Varianz in der jeweiligen Dimension beiträgt. Dadurch wird auch eine Reduktion des Datenmaterials erreicht, weil für die Analyse nur jene der hier sehr zahlreichen
635 Sie sind auch als synthetische, metrisch strukturierte Variablen zu verstehen, welche die Ausprägungen eines bestimmten Prinzips darstellen.
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Analyse der Dimensionen
Merkmale herangezogen werden, die überdurchschnittlich zur Varianz beitragen.636 Die Interpretation beginnt also mit zwei Fragen: Wo befindet sich ein Merkmal (eine Untersuchungseinheit)? Wie wichtig ist es (sie) für diese Dimension? Üblicherweise stehen die wichtigsten Merkmale am Beginn, um herauszufinden, welches Variationsprinzip die Dimension abbildet. So lässt sich die legitime Referenz der Dimension bestimmen. Das ist jenes Kriterium, auf das alle zur Dimension beitragenden Merkmale und Untersuchungseinheiten Bezug nehmen, sei es in eher zustimmender oder eher ablehnender, sei es in herrschender oder beherrschter Weise. Die Konstruktion historischer sozialer Räume impliziert, dass es um Machtunterschiede geht, sodass die eine Variationsrichtung einer Dimension als dominante, die andere als dominierte interpretiert werden kann.637 Im Folgenden werden für die ersten beiden Dimensionen die Variationsprinzipien und legitimen Referenzen expliziert. Mittels ausführlicher Zitate wird von der Abstraktion, die notwendige Bedingung der systematischen Analyse des empirischen Materials ist, wieder zu den konkreten Interviews zurückgekehrt. Diese Zitate sind nicht willkürlich ausgewählt, sondern entsprechend ihrer Positionierung im konstruierten Raum.
6.1
Erste Dimension: Über Russland forschen
Die Verteilung der ersten Dimension638 variiert entsprechend dem Prinzip: Aussagen über Russland treffen. Die legitime Referenz des ersten Faktors ist, wissenschaftlich fundierte Aussagen über Russland zu tätigen, nämlich solche mit internationaler Reichweite – oder anders gesagt: in den Metropolen beziehungsweise Zentren der Sozial- und Geisteswissenschaften wahrgenommene. Dabei stellen »Russland als Objekt der Forschung« und »Russland als Fremdes/ Fernes erforschen« (oder prägnanter : »Russian Studies«, zumal hier vor allem britische und amerikanische Respondent_innen positioniert sind) die extrem-
636 Die Listen aller codierten Merkmale sowie ihrer Koordinaten und Beiträge zu den Dimensionen werden aus Platzgründen in diesem Buch nicht wiedergegeben. Sie sind in meiner Dissertation erfasst, vgl. Garstenauer, Gender Studies, 358–379. 637 Vgl. Wadauer, Tour, 105ff. 638 Der Beitrag der Dimension zur Gesamtvarianz beträgt 6,1 %. Vergleichsweise niedrige Beiträge sind nichts Ungewöhnliches bei Multiplen Korrespondenzanalysen mit vielen Dimensionen. Alternativ wird eine aussagekräftigere modifizierte Berechnung empfohlen, bezogen auf den Durchschnitt der Beiträge aller Dimensionen, zit. in Le Roux/Rouanet, Multiple Correspondence Analysis, 89f. Wendet man diese Berechnung an, so macht der Beitrag meiner ersten Dimension 31,3 % aus.
177
Erste Dimension: Über Russland forschen
sten639 Fluchtpunkte der Dimension dar. Legt man dieses Verhältnis auf die hier figurierenden Personen um, so ist das eine Extrem die/der russische Informant_in, das andere die/der ›westliche‹ Russlandforscher_in. Die Übergänge dazwischen bilden Praktiken der Rezeption – vornehmlich der Rezeption ›westlicher‹ theoretischer Literatur seitens russischer Forscher_innen und solche des gemeinsamen (empirisch basierten) Forschens über Russland. Die geopolitische Positionierung Russlands und dementsprechend der Forscher_innen, die sich unter unterschiedlichen Bedingungen mit Russland befassen, erweist sich als wichtigstes Differenzierungskriterium. OBJEKT DER FORSCHUNG
REZEPTION
Dominiertheit
KOOPERATION
FREMDES ERFORSCHEN
Neutralität
Dominanz
0 Abb. 3: Grobschematische Darstellung der ersten Dimension
6.1.1 Russian Studies: Dominanz in der ersten Dimension Großbritannien
Russland als Fernes/Fremdes Forschungsobjekt Forschungsfinanzierung
(Wir im) Westen
Problematisierung der Hierarchie
Sprachkenntnisse (russ. u. a.) Studium in Russland
Rezeption russischer Literatur
Div. Forschungsmethoden Konferenzen
0 neutral
Kooperationen
Fach: Osteuropastudien
dominant 2,351
Abb. 4: Schematische Darstellung: dominante Variationsrichtung der ersten Dimension640
639 Mit »extrem« ist hier und im Folgenden »weit vom Zentrum, d. h. von der Neutralität, entfernt« gemeint. 640 Diese schematische Darstellung ist sehr vereinfachte, zusammenfassende Überblicksdarstellung der detaillierten Grafik der Koordinaten und Beiträge der Merkmale zur Varianz. Eine solche Hilfsgrafik wird unterstützend zur Interpretation der Dimension angefertigt. Je weiter oben im Bild sich eine Position befindet, desto stärker ihr Beitrag zur Dimension; je weiter vom Nullpunkt entfernt, desto stärker die Ausprägung des Variationsprinzips. Die angegebenen Begriffe sind entweder Merkmale oder Zusammenfassungen von Merkmalen.
178
Analyse der Dimensionen
Die dominante Variationsrichtung ist am stärksten vom Merkmal jNationalität Großbritannienj641 geprägt. Es wäre aber zu platt, zu behaupten, es ginge hier um eine Gegenüberstellung von jGroßbritannienj einerseits und der jRussischen Föderationj andererseits. Vielmehr muss gefragt werden: Was bedeutet hier jGroßbritannienj und jRussische Föderationj? Welche weiteren Merkmale weisen die Texte auf, die auf Interviews mit Brit_innen beruhen? Und da es nicht um ein einfach einander entgegengesetztes Einerseits/Andererseits, sondern um ein Spektrum mit Übergängen geht: Wie verläuft dieses Kontinuum? Alle mit Brit_innen geführten Interviews tragen überdurchschnittlich zu diesem Faktor bei. Die Respondent_innen habe ich ausgewählt, weil sie mir als Autor_innen im Themengebiet Russland und/oder Geschlechterforschung bekannt waren und auch aufgrund von Empfehlungen anderer Interviewpartner_innen. Zwei von ihnen beschäftigen sich nur am Rande mit Geschlechterforschung; sie wurden als Kontrastfälle einbezogen, die intensiv mit Russ_innen kooperiert haben. Abgesehen von der Nationalität trägt eine Reihe von extrem platzierten Merkmalen stark überdurchschnittlich zur ersten Dimension bei, die zum einen mit Forschungsförderung, zum anderen mit einer sehr spezifischen Perspektive auf Russland zu tun haben. Das Thema der jForschungsförderung in Großbritannienj scheint hier auf, namentlich wird jEconomic and Social Research Councilj erwähnt, die wichtigste britische Fördereinrichtung.642 Hier findet man auch die Feststellung, dass jrussische Mitarbeiter_innen in gemeinsamen Projekten in aller Regel nur aus westlichen Mitteln finanziertj werden können. Es geht also um britische Forschungsgelder für britische und russische Forscher_innen. Ein spezifisches Interesse für Russland als Objekt der Forschung ist der gemeinsame Nenner von Feststellungen wie: jMan muss nach Russland fahren, um über Russland forschen zu könnenj und jKontakte zu Russ_innen sind für Forscher_innen aus dem Ausland sehr wichtigj. Diese Kontaktpersonen sind aber vor allem als Informant_innen verstanden. Außerdem finden sich hier Berichte über eine Faszination durch Russland, oft schon von Kindheitstagen an: »R 10: Where the original inspiration came from, I don’t know, I think it’s – a mixture of reading too much Dostojevskij probably as a child [laughs] and also my school took us Die Zahl nach »dominant« beziffert die Koordinatenposition des am extremsten positionierten Merkmals. Eine detaillierte Version dieser Grafik findet sich in: Garstenauer, Gender Studies, 174f. 641 Im Fließtext werden die codierten Merkmale im Folgenden zwischen senkrechte Striche gestellt. 642 Vgl. Howard Newby, The ESRC: Prospects and Policies for Research, in: The Economic Journal, 100, 399 (1990), 215–219, sowie die Broschüre: ESRC, SSRC/ESRC: The First Forty Years, Wiltshire 2005.
Erste Dimension: Über Russland forschen
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on a trip, bizarrely, on a school trip to Moscow for three days when I was about 14. It was just before the 1980 Olympics, and Moscow is beautiful at that time. It was winter and I think it was just, you know, the sheer romanticism probably – of Russia always inspired me – and the literature and so on.«643 »R 13: A fascination for the history – and then of course once you got there you were hooked – I mean there is something very magical about Russia. I mean it drives you crazy, because the bureaucracy is just awful – and everything was just awful – you know the living conditions being dire but, I don’t know, it’s just rather – I don’t know, raw human. TG: Hmmm – I think I understand what you mean R 13: I like the people by and large, I like the way – you can sit down and have just a crazy conversation with someone about the meaning of life and all that stuff [laughs].«
Auch politische Ereignisse konnten förderlich für das Entstehen von Interesse für Russland sein: »R 16: I really had a childhood interest – in Russia – and I come from a very left-wing family going back both on my mother’s side and on my father’s side, so – I was growing up mainly in the seventies and eighties, when the Soviet Union still existed, but I never was told: ›Oh, big scary Soviet Union‹ but it’s just – another place and then – we lived in Iran when I was very small […] and we went travelling to Azerbaijan. We saw the border with the Soviet Union and there was all this barbed wire – I was about four, I think, or three, and asked why did we go there, why is there a barbed wire and – I do think that things like this kind of stuck with me. So, I was interested in it and I remember through the eighties, obviously, I was beginning to hear all this stuff first about the things in Warsaw and Solidarnosc and then Gorbachev coming to power and about the same time as Gorbachev came to power in the Soviet Union, there was the option to do Russian lessons at my school.«
Die Forschungspraktiken, um die es hier geht, werden nicht im Sinne von armchair Russian Studies verstanden, sondern als Studien- und Forschungsreisen, Feldstudien und Sammlung empirischer Daten. In einem Interview mit einem britischen Wissenschafter finden sich auch Vergleiche mit kolonialen Verhältnissen: 643 Die Sprache der Interviewzitate wurde etwas geglättet, d. h. Wiederholungen und »ähs« wurden entfernt. Metasprachliche Informationen sind kursiv in eckigen Klammern angegeben: [lacht] [leise]. Ergänzende von mir eingefügte Erklärungen findet man in eckiger Klammer mit dem Zusatz »TG«. Kurze bestätigende Inputs der Interviewerin werden zugunsten leichterer Lesbarkeit weggelassen, nur ganze Sätze der Interviewerin werden wiedergegeben. Pausen werden in Form von Gedankenstriche (–) wiedergegeben. Auslassungen sind durch drei Punkte in eckigen Klammern […] markiert. Wenn der Name der Person im Text vorkommt, so wird er zur Wahrung der Anonymität durch [R x] ersetzt, ebenso wie andere Informationen, die die Identifikation der Person ermöglichen würden: [R xs Universität], [R xs Wohnort], [Name Tochter]. Auszüge aus Interviewtranskripten in russischer Sprache werden in meiner Übersetzung wiedergegeben.
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Analyse der Dimensionen
»R 15: I actually keep well clear of people who work in and for Carnegie644 or are, as it were, particularly connected with the West, because I can get this information easily enough in the West. I think that they – probably de facto if not by intention – occupy a particular part of the political spectrum and I’d rather deal with the whole spectrum of Russians in Russia in Russian, that’s the best way. Otherwise you are like some sort of anthropologist who goes away to an African tribe and the chief has been to school in England, or something like that, and you spend all your time with him, you absorb his points of view and it becomes rather misleading and unrepresentative.«
Ähnliche Vergleiche zieht er im Zusammenhang mit Beschwerden über die jSchwierigkeiten von Geldtransfer nach Russlandj: »R 15: You’d think it is nineteenth century Africa or something, you bring the thing in a cleft stick, but no, this is Europe and it is the twenty-first century!« Russ_innen kommen hier nicht nur als (›westlich‹ finanzierte) Projektmitarbeiter_innen und Informant_innen vor, sondern auch als Personen, die jInteresse an Kooperationen mit britischen Forscher_innenj äußern. Solche Episoden tauchen im Rahmen von Erzählungen über Erfahrungen in den frühen 1990er Jahren auf: »R 11: I often had this feeling that when I met Russians that their chief preoccupation was to get into collaboration with Westerners in order to get – some funding – maybe some to travel to the West.« »R 15: I think one just has to be aware of that – a lot of people in Eastern Europe for quite understandable reasons simply want a relationship with a Western partner for all sorts of, you know, non-scientific reasons, for example we can probably obtain funding more easily than they can and you develop almost a sort of patron-client relationship with people in the region which isn’t helpful.«
Eine andere Respondentin zitierte eine ironische Bemerkung der russischen Feministin Ol’ga Lipovskaja, mit der sie befreundet ist, zu diesem Thema: »R 13: Olga said to me, ›We need each other, don’t we?‹, she’s very humorous, very naughty is Olga, she said, ›We just need each other, don’t we? I mean you need us because we are your subjects for your research, we are the story you tell and, you know, we need you – because we want the money.‹ [laughs] I mean I just laughed – but, you know, that’s how it is.«
Die erwähnten Kontaktaufnahmen wurden teilweise als lästig erlebt. Die jErwartungen der Russ_innen an ›den Westen‹j, respektive die Möglichkeiten, die ›westlichen‹ Kolleg_innen offenstehen, seien mitunter sehr überzogen gewesen. »R 16: When I was working with women’s organisations in 1995, especially in provincial ones – often by the time I was leaving the town I had a big list of things that they wanted me to do for them, when I went back. And I always tried to be really honest about what I could do, what was realistic and what wasn’t – and often when people were 644 Zur Carnegie Foundation vgl. auch den Bericht in: Kotkin, Innovation, 10ff.
Erste Dimension: Über Russland forschen
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asking me to do something that I thought wasn’t realistic, I would say, ›That’s not realistic‹, and they would still say, ›But you could try‹, you know, and usually in the end I would say that I would try. But I knew that this wasn’t going to happen. I couldn’t get them – money from the British Foreign Office, or I couldn’t get a book published in Britain that they couldn’t get published in Russia.«
Russ_innen kommen hier nicht als Kolleg_innen vor, deren fachliches Urteil zu einem Thema gefragt wäre. Eher sind sie und ihre Aktivitäten – wie auch im Fall meiner Studie – selbst das Objekt der Forschung. In einigen Interviews fragte ich Respondent_innen aus Großbritannien oder den USA, ob sie sich mit russischen Spezialist_innen in Verbindung gesetzt hätten, die zum selben Forschungsthema arbeiteten. Die Antwort darauf war häufig: Nein, man sei jeinfach so ins Feld gegangenj. Das wurde damit begründet, dass man unvoreingenommen an die Forschungsfrage herangehen wollte: »R 29: I wanted to follow my own nose and my own path.« Manchmal wurde in Verbindung damit auch Bedauern oder sogar in gewisser Weise Schuldbewusstsein geäußert. »R 29: Actually, when I reflect on this now I feel quite embarrassed about how dreadful my contacts in these days in Russia have been, but it is one of these things that I’ve been – gradually trying to improve – over time. I think it is a bad thing that I haven’t actually interacted more with – people who actually use the word gender – in their research in Russia, and I haven’t perhaps quoted these people as much as I could have.«
Interessanterweise scheinen hier (mit geringerem Beitrag zur Varianz der Dimension) auch die russischen Informant_innen auf, wenn eine britische Forscherin erzählt, wie jgenervt Moskauer Protagonistinnen der Frauenbewegung im Laufe der 1990er Jahre warenj, wenn immer wieder eine ›westliche‹ Forscherin und/oder Aktivistin auftauchte, die sie über Frauenbewegung in Russland interviewen wollte: »R 17: I think that – particularly – with some of the scholars in Moscow – who were used to costumary having visitors from all different countries – there was a kind of – d8ja vu – ›We’re tired. – We can’t do our own work, because all of you are coming here to interview us.‹« Anders sah es mit Frauenbewegungsaktivistinnen in der russischen Provinz aus, für die solches Interesse etwas Ungewöhnliches und Positives war : »R: 16: I think it was an advantage of working in the provinces – because, I think already by 1995/’96 in Moscow there was a bit of a sense of ›Oh, another Western researcher who wants to come and talk to us about, you know, our women’s organisation.‹ But in [provincial town] it was like – ›Oh, there’s a woman from England [laughs] who wants to talk about what we’re doing‹.«
Von Feminismus ist in dieser Variationsrichtung überhaupt nicht die Rede – allenfalls versteckt im Untertitel eines erwähnten Sammelbandes aus dem Jahr
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Analyse der Dimensionen
1985: »jSoviet Sisterhood.j British Feminists on Women in the USSR«.645 Dieser Untertitel enthält eine in den 1980ern bis frühen 1990ern häufig gebrauchte Gegenüberstellung von Feministinnen aus einem ›westlich‹ konnotierten Land einerseits und einfach nur Frauen in Osteuropa, auf die auch Veronika Wöhrer in ihrer Dissertation hinweist.646 Die ›westlichen‹ Feministinnen sind das Subjekt, die Frauen in der Sowjetunion das Objekt der Forschung.647 Impliziten Feminismus könnte man auch in dem Stoßseufzer zweier britischer Respondentinnen (R 9 und 10) orten, dass »jedwedes politische oder akademische Thema erst dann ernst genommen werde, wenn sich Männer damit befassten«. Auf meine Bemerkung hin, dass bei einer Gender-Konferenz die verstärkte Beteiligung männlicher Forscher von Teilnehmerinnen positiv erwähnt wurde, antwortete mir eine österreichische Respondentin: »R 9: Ja, das hat damit zu tun. dass die Gender- – Szene schon einen ziemlich schwierigen Stand hat und dass sich offensichtlich deren Autorität oder Akzeptanz schlagartig erhöht, wenn da irgendwelche gstandenen – [lauter und hochdeutsch] oder auch weniger gestandenen – aber Hauptsache: Männer [lacht] sich auch damit beschäftigen und das dadurch nicht so ein – Randphänomen ist, oder so ein Phänomen, wo alle sagen: ›Na, das sind eh nur die hysterischen Tanten.‹«
Feminismus hat in dieser Variationsrichtung (anders als in der dominierten – siehe Abschnitt 3.1.2) auch im Zusammenhang mit Gender Studies keine Wichtigkeit. Es wird allerdings eine jUnterscheidung getroffen zwischen Gender Studies als eigene akademische Interdisziplin und einer Gender-Perspektivej, die im Rahmen von Forschungen einbezogen wird, die nicht im engeren Sinn als Gender Studies bezeichnet werden können »R 10: I think the reason I gave up doing gender research – I mean, I never gave up gender perspectives, but I gave up studying women and I think it’s because it is so challenging personally. You have to totally deconstruct yourself before you can do it, and you have to accept all your political motives for doing things, and I actually found in some respects it was just – it was too demanding. I wanted to have a work-persona that I could manage easily, so much else is very challenging, and I wanted to do something that I could achieve, because I believed in doing it, because it hadn’t been done and it needed to be done in Russia, and the politics of the gender issue just got in the way of doing that.«
Mit »politics of the gender issue« meinte die Respondentin, wie sie im Weiteren ausführt, imperialistische Tendenzen, wie sie insbesondere in der feministisch 645 Holland, Soviet Sisterhood. 646 Wöhrer, GrenzgängerInnen, 119. 647 Eine solche Unterscheidung wird explizit auch von einigen meiner Respondent_innen getroffen – allerdings trägt sie erst zur zweiten Dimension überdurchschnittlich bei. Siehe dazu Kapitel 3.2.1.
Erste Dimension: Über Russland forschen
183
orientierten Geschlechterforschung vorkommen. Sie verwies auf den Sammelband »Gender Politics and Post-Communism« von Nanette Funk und Magda Mueller,648 in dem bereits 1993 Kritik daran geübt wird: »R 10: It’s a great book, it’s very challenging in terms of recognising the Western imperialism in gender networks but – there was that which I didn’t like, I mean when people [in Russia, TG] got grants they got grants to link feminist organisations back to the West rather than between themselves and also I didn’t like spending all the time feeling guilty – for trying to facilitate that as well, because, you know, you are a Westerner and so, you know, I wanted to be able to go on doing important gendered research but not in a way that made you challenge all of the things you are doing all of the time.«
Wenn Forschungskooperationen zwischen russischen und ›westlichen‹ Forscher_innen zustande kommen, die Gender Studies betreffen, so sind die nichtrussischen Beteiligten in der Regel in erster Linie Historiker_innen, Politolog_innen oder Philolog_innen mit einem Russlandschwerpunkt – und in zweiter Linie Spezialist_innen für Gender Studies. Auf Gender Studies bezieht sich außerdem noch die (2003 geäußerte) Ansicht, dieser jForschungsbereich sei im Westen marginalisiert und verliere zunehmend an Prestigej. »R 11: I don’t know how you feel – but in Britain, I think Gender Studies has really – I mean Gender Studies, and particularly on Eastern Europe – the issue has really started to fade away quite a lot. It’s probably exactly because people like us [bezieht sich auf britische Kolleginnen, TG] don’t have the energy to continue – it’s always a thing that has to be reinforced by interest from the outside.«
Zwei Disziplinen sind in dieser Variationsrichtung wichtig: jPolitologiej und jRussian/East European Studiesj. An extremer Position findet sich dazu das Merkmal jBASEES Konferenzenj, also die Tagungen der British Association for Slavonic and East European Studies.649 Von mehreren Respondent_innen wurde befürchtet oder sogar konstatiert, jRussian Studies würden an Prestige verlierenj. Die Autorinnen, die in dieser Variationsrichtung namentlich genannt vorkommen, sind zwei britische, eine russische und eine amerikanische Wis648 Nanette Funk u. Magda Mueller, Gender Politics and Post-Communism: Reflections from Eastern Europe and the Former Soviet Union, New York 1993. 649 BASEES wurde 1989 gegründet als die beiden schon seit den 1950er Jahren bestehenden Vereinigungen British University Association of Slavists und National Association for Soviet and East European Studies fusionierten. Zunächst war der Name British Association for Soviet and East European Studies, 1992 wurde »Soviet« durch »Slavic« ersetzt. Im Zusammenhang mit der Struktur der ersten Dimension ist es bezeichnend, dass der 1990 von BASEES in Harrogate veranstaltete »World Congress for Soviet and East European Studies« den Titel »Eastern Europe and the West« trug. Vgl. John Morison (Hg.), Eastern Europe and the West. Selected Papers from the Fourth World Congress for Soviet and East European Studies, Harrogate, 1990, Basingstoke 1992.
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Analyse der Dimensionen
senschafterin: jCynthia Cockburnj, die sich als feministische Forscherin zwischen Gender Studies und Friedens-/beziehungsweise Konfliktforschung positioniert, jSue Bridgerj, eine Spezialistin für Russian Studies, die Moskauer Politologin jSvetlana Ajvazovaj sowie die US-amerikanische Politologin jGail Warshofsky Lapidusj, die bereits in den 1970er Jahren zum Thema »Frauen in der Sowjetunion« geforscht hat.650 Die Tatsache, dass Respondent_innen der Interviewerin jTipps für die Forschungspraxisj mitgeben, steht im Zusammenhang mit der gemeinsamen Praktik in Russland über Russland zu forschen. Auf die Frage der Respondentin, ob ich eine bestimmte Person in Russland interviewt habe, ergab sich folgender Dialog: »TG: I’ve read something of hers and actually I – wanted to interview her but she said, you know, I’m not a researcher so – I don’t think I have anything to tell you – anything of interest. R 13: Oh – that’s a pity. What she probably was saying to you was: ›I’m too busy.‹ TG: She was busy, I know that she was. R 13: Yeah, that’s what she meant. I mean Russians are terrible because they say one thing, but that’s not always what they mean, and I am sure she was busy.«
Im Fall einer erneuten Russlandreise empfahl mir die Respondentin: »R 13: I mean I know her quite well – do go back and say [R 13] just said, you know, it would be good if I spoke to you, even though you’re not a researcher, you have an experience in the field of NGOs.« Dass die Konstellation, in der Russland als Gegenstand der Forschung oder als Empfänger ›westlicher‹ kultureller Produkte positioniert ist, nicht unhinterfragt bleibt, zeigt die Aussage einer Respondentin, die jvehement von sich weist, als westliche Expertinj an russischen Aktivitäten im Zusammenhang mit Gender Studies beteiligt gewesen zu sein. Vielmehr betont sie, als Vermittlerin fungiert zu haben. »TG: But you said you were – invited as an expert to – Dubna [Unabhängiges Frauenforum, 1991 TG].651 R 10: I was not an expert. I was invited – as a friend and colleague who is interested in gender, gender issues and – so I didn’t make any presentation, I mean, it was a very democratic forum, it was very much workshop and bottom up, oh no I facilitated a session on young women. I saw it as being a forum for discussion of particular issues that faced young women in Russia at that time. But I wouldn’t say I was there as an expert. I was a facilitator.« 650 Lapidus, Women in Soviet Society, siehe auch Kapitel 4.2 zu Russian Women’s and Gender Studies. 651 R 10 sagte etwas früher in diesem Interview : »I think I came as a Western expert to one of the Dubna fora.«
Erste Dimension: Über Russland forschen
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Diese Vermittlerinnenfunktion leitet über zu Praktiken der Rezeption russischer Forschungen. Das umfasst die Organisation von jÜbersetzungssammelbändenj ebenso wie die jRezeption russischer Fachbücher und Artikelj. Einige Respondent_innen berichteten auch von den jMühen der redaktionellen Bearbeitung von englischsprachigen Sammelbandbeiträgenj, die von Russ_innen und anderen Nichtmuttersprachler_innen verfasst wurden, und merkten an, es wäre wohl einfacher gewesen, den Artikel gleich aus dem Russischen zu übersetzen. Die hier rezipierte Literatur hat nicht den Status von Standardwerken oder theoretischem/methodischem Werkzeug, vielmehr geht es um empirische, konkrete Forschung: um Faktenwissen über Russland. Weiter in Richtung des neutralen (mittleren) Bereichs der Dimension finden sich mehrere Merkmale, die das Thema Sprache berühren. Es geht um Fremdsprachenkenntnisse der Respondent_innen (jRussisch, als einzigej oder als jeine von mehreren Fremdsprachenj; jKenntnis von drei oder mehr Fremdsprachenj) und um ein Bestehen darauf, jdass man Russisch beherrschen müsse, wenn man über Russland forschen willj. In keiner der anderen Dimensionen figurieren Merkmale, die mit Russischkenntnissen zu tun haben, so prominent. Der Begriff ›Westen‹ findet sich in mehrerlei Hinsicht: zum einen in WirAussagen. Die Respondent_innen sprechen von juns im Westenj oder von einem jWirj, das jbritischej oder allgemeiner jwestliche Forscher_innenj (im Gegensatz zu russischen) meint. »R 11: There was one PhD that was written [in the Soviet Union, 1970s, TG] on – women’s political organisations before the revolution. And she got her PhD, but after that I think she left the field completely and she never made a name except to the, you know, small number of us in the West who were interested in the subject and – the book has never been published.« »R 15: I’ve tried – so far as possible in my own case to make sure that – people are paid what they would be paid if they were in Britain and that they don’t simply gather data and we in the West write it up.«
Der ›Westen‹ wird von einer Respondentin auch als negative besitzorientierte Folie dem russischen selbstlosen Teilen gegenübergestellt (Merkmal jWesten: Privateigentumj). Russland beziehungsweise die Sowjetunion wird von manchen als jinteressante, positive Alternative zum Westenj gesehen. »R 15: I suppose through what used to be – the politics of the left and – and I suppose once you become interested in alternatives, I suppose my interests are more in – well, in alternative ideas and alternative political ideas particularly – so I think it’s really
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Analyse der Dimensionen
through – the study of Soviet-style systems and – the ideas of the left or something like that, that has led me to be interested in Russia.«652 »R 13: [laughs] And I think they’re very generous people, you know, in little ways, you know – in those days it was so hard to get things – you know someone has lemons – they will give you a lemon and to them it’s a great deal really, or if you’re on a train – they will share their sandwiches. It’s not like this Western ›these are my sandwiches‹, you know. If one person has got them and six people in the carriage haven’t, they’ll share it amongst all six and I quite like that.«
Vom ›Osten‹ ist dagegen in dieser Variationsrichtung nur in Verbindung mit der geographischen Bezeichnung jEastern Europej und der davon abgeleiteten Disziplinenbezeichnung jRussian and Eastern European Studiesj die Rede. Für die meisten meiner britischen Respondent_innen bedeutete ein jSprachkurs oder Studienaufenthaltj den ersten Kontakt zur Sowjetunion beziehungsweise zu Russland. Die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen, hatten russische Schüler_innen und Student_innen zur selben Zeit (von den späten 1960er bis zu den späten 1980er Jahren) nur in Ausnahmefällen. Einige der Befragten erzählten sehr detailreich und engagiert über solche jStudien- und Forschungsaufenthaltej; in diesen Erzählungen kommt das Subjekt jWir ausländischen Studierenden in der Sowjetunionj vor. Diese Studierenden mussten sich mit oftmals komplizierten Bedingungen des alltäglichen Lebens in der Sowjetunion herumschlagen. Wenn sie außerhalb Moskaus untergebracht waren, konnte es sehr kompliziert sein, in die Hauptstadt (mit den wichtigsten Archiven und größten Bibliotheken) zu gelangen – insbesondere, wenn die universitäre Bürokratie das nicht unterstützte: »R 13: I remember vividly going into inotdel [etwa: Büro für Internationale Beziehungen der Universität, TG] one day, you know, these lads that sat there, not doing very much and there was the dean in another room and I just went in and I said to them, ›You keep saying I can’t go to Moscow‹ (I was very polite), ›But, you know, I’m not going to get my PhD‹ – and then I just blew a fuse and I sat there banging on the table [amused], which isn’t me at all, and said something like ›WHY ARE YOU NOT GOING TO SEND ME TO MOSCOW? I’M NOT GOING TO GET MY PHD! THIS IS HOPELESS, YOU ALWAYS SAY NO, NO, NO, NO!‹ – and he looked at me and said, ›Oh, alright then.‹ I was just gobsmacked – and it is one of those lessons you learn – that in Russia – it’s slightly different now but it still holds true to a certain extent, I think – if you go along and you’re polite and modest, ›Please may I go to Moscow?‹, it’s easier for them to say no – because they have to process it and have to arrange it and it’s very bureaucratic, but once if you blow a fuse, show a bit of passion and be on the verge of tears they will say, ›Oh okay.‹ And so it happened – I went to Moscow.«
652 Dieses Statement erinnert an die Bemerkungen zu den Anfängen von Russian Women’s Studies in den 1960er Jahren, siehe Kapitel 4.2.
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Einen schwach überdurchschnittlichen Beitrag zur dominanten Variationsrichtung leisten die Merkmale jschlechte Übersetzungenj und jgute Übersetzungen eigener Arbeitenj. »R 29: The two people who – knew absolutely nothing about homosexuality or Gender Studies were to translate the book. One person took the first five chapters, the other took the last half of the book – and they produced a rough translation that was – a mess, in fact – gomofobia [Homophobie, TG] translated as – fear of humanity [laughs] and so on – and a lot of terminological imprecision. I mean, I think there was a lot of imprecision in the book in English in the first place, but I think they magnified it rather than reduced it.«
Während jene zentrumsfern platzierten Merkmale, die in dieser dominanten Variationsrichtung am stärksten zur Varianz des ersten Faktors beitragen, Russland und seine Bewohner_innen klar als Forschungsobjekt ansprechen, findet man näher dem neutralen Bereich Merkmale, die für Kooperation stehen. Hier geht es etwa um alle möglichen Detailprobleme der Abwicklung von gemeinsamen Forschungsprojekten: jFinanzierungj, jGeldtransferj, jArbeitsteilungj, jfrustrierende Erfahrungen in Projektenj. Hier finden sich jedoch auch die Erwähnungen von unterschiedlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungstechniken, projektinterne Diskussionen über die Vorzüge von jqualitativen und quantitativen Verfahrenj. jDiskursanalysej wird konkret als verwendetes Verfahren genannt. Dabei wird unter anderem auch hervorgehoben, dass es in grenzüberschreitenden Projekten keine Methoden gegeben habe, die exklusiv dem ›Westen‹ zuzuordnen wären. Vielmehr habe es Diskussionen über ein jgemeinsames Repertoire an Analysewerkzeugenj gegeben. Eine Respondentin schilderte die Praktik des jgemeinsamen Denkensj im Rahmen eines britisch-russischen Forschungsprojektes. »R 10: I would say, you know, despite the distance [laughs] – globalisation for you – despite the distance she’s the person I work most closely with academically, and I actually find it quite difficult to think about working without her now, because we tend to develop our ideas together. I mean, that’s not to say I don’t do things without her and she doesn’t do projects without me but we always, if we’ve got a great idea, we always discuss it with each other.«
Neben jForschungsprojektenj sind auch jKonferenzenj ein wichtiges Forum des internationalen Austauschs zwischen Forscher_innen. Im mittleren bis neutralen (zentrumsnahen) Bereich der hier beschriebenen Dimension finden sich Merkmale, die mit der Vorbereitung und Durchführung von Tagungen in Verbindung stehen. Es handelt sich um Details der jKonferenzorganisationj, wie etwa die jÜbersetzung von Vorträgenj oder jSammelbandbeiträgenj oder um die jVerspätungenj von einzelnen Teilnehmer_innen. jKritik an überfrachteten Tagungsprogrammenj wird geübt. Ebenso wird die scheinbar unausweichliche
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Abfolge von jKonferenz-Vortrag-Sammelbandj kritisch kommentiert. Merkmale wie jlangdauernde Arbeitsbeziehungj und jsich aneinander gewöhnenj machen einmal mehr deutlich, dass der Übergang zwischen Dominanz und Dominiertheit, zwischen Subjekt- und Objektstatus, in der ersten Dimension durch Kooperationen ausgemacht wird.
6.1.2 Russland als Objekt der Forschung: Dominiertheit in der ersten Dimension Disziplin Philosophie Spott über Gender Studies Soziale Probleme in Russland Russland Familie/Privates Feminismus = Haltung Projekte nicht erwähnt Zentrum für GS etablieren Konferenzen nicht erwähnt Wir: Russische Frauen |Auch russ. Forscher_innen sollen Gender Studies als Karriere |zu Russischer Frauenbewegung |forschen Feminismus = Theorie/Lektüre/Übersetzung Rezeption ausländischer Literatur Englisch = einzige Fremdsprache -2,229 dominiert
neutral 0
Abb. 5: Schematische Darstellung: dominierte Variationsrichtung der ersten Dimension653
Am stärksten trägt zur dominierten Variationsrichtung der ersten Dimension das Merkmal jDisziplin Philosophie erwähntj bei. Es zeigt sich, dass es wenn um Wissenschaft, dann um eine andere Art von Wissenschaft als in der dominanten Variationsrichtung mit den empirisch ausgerichteten, potenziell politisch engagierten Fächern jPolitologiej und jRussian Studiesj geht. Das nächste Merkmal, nach seiner Gewichtung ist das Thema jSpott über oder sonstige negative Haltungen gegenüber Geschlechterforschung in Russlandj. Über derlei Dinge wird berichtet – die Respondent_innen selbst spotten nicht: »R 1: Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass in unserem Land – noch vor 15 Jahren hat man mit Fingern auf mich gezeigt und gelacht: ›Da wird ringsum der entwickelte Sozialismus gebaut, aber manche erforschen eben den westlichen Feminismus.‹ [lacht] Und dann gab es noch diesen Artikel ›Eine fremde Welt in [Heimatstadt von R 1]‹: ›Es gibt eine gewisse [R 1], die die heiligen russischen, die reinen russischen Frauen in eine kalte dunkle Sackgasse führt‹.« 653 Eine detaillierte Version dieser Grafik findet sich in Garstenauer, Gender Studies, 186f.
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Besagter Artikel erschien nach Auskunft der Respondentin in einer russischorthodox orientierten Zeitschrift. Direkte Kritik an Gender Studies seitens religiöser Institutionen wurde sonst von keiner der von mir befragten Personen angesprochen.654 Dagegen finden sich zahlreiche Belege für Ablehnung durch das akademische Umfeld. Zum Teil gehören solche Berichte der Vergangenheit an, wie etwa Anastasia Posadskajas Erfahrungen in den 1980er Jahren: »What I wanted to do was to write a doctorate on women’s employment in the USSR. I immediately ran into this blatant contradiction. Everyone said to me that the problem of women’s equality with men had been solved long ago in the USSR, and no-one was interested in me as a woman researcher, still less as one working on women’s questions. I knew I was being discriminated against as a woman, only to hear that discrimination had ceased to be a problem. In desperation, I wrote to my departmental supervisor, who was then working for ILO in Geneva, to ask advice. This supervisor was a woman – I think that thirty years earlier it had actually been easier for a woman to follow a career in the University than it was now – and she told me to get in touch with an elderly professor, Mikhail Sonin, who had once done work in the field I was interested in. He read my dissertation, and told me: ›Anastasia, you want to pursue a very unpopular subject, but I believe it is still topical, and will agree to supervise you. But please bear in mind that you will also have to do something for me. I shall need you to translate some English books.‹ This was very characteristic of the time.«655
Eine russische Respondentin aus einer Provinzstadt, die in den späten 1980er Jahren einen Vortrag über feministische Wissenschaftskritik hielt, wurde dafür ausgelacht: »R 26: Die Konferenz fand 1988 in [R 26 s Wohnort] statt und hieß, glaube ich, ›Der menschliche Faktor im wissenschaftlich-technischen Fortschritt‹ (genau weiß ich es nicht mehr, aber irgendetwas Banales). Ich hielt einen Vortrag zum Thema ›Feminismus und der Stil der zeitgenössischen Kultur‹. […] Ich verglich Evelyn-Fox Kellers Zugang zur Wissenschaft mit dem phänomenologischen Zugang Mamardasˇvilis656 (es gab bei uns diesen Philosophen/Phänomenologen). Die Situation bei diesem meinem 654 Die Philosophin Olga Voronina, die bis 2013 Direktorin des Moskauer Zentrums für Gender Studies war, schrieb 2009: »Lately, it has become more and more difficult to challenge such [traditional, TG] values because of the strengthening of the Russian Orthodox Church and the growth of Orthodox fundamentalism in Russia.« Voronina, Feminist Philosophy, 254. Zur Erstarkung des Einflusses der russisch-orthodoxen Kirche vgl. auch Michail Ryklin, »Mit dem Recht des Stärkeren«. Russische Kultur in Zeiten der »gelenkten Demokratie«, Frankfurt a. M. 2006; Elder, Feminism. 655 Posadskaya, Self-Portrait, 7. 656 Merab Konstantinovicˇ Mamardasˇvili (1930–1990), aus Georgien stammender sowjetischer Philosoph, der sich mit Erkenntnistheorie und Phänomenologie beschäftigte. Die »Routledge Encyclopedia of Philosophy« bezeichnet ihn als »one of the Soviet Union’s most influential thinkers in the field of phenomenology and philosophy of consciousness«, vgl. Caryl Emerson, Merab Konstantinovicˇ Mamardasˇvili, in: Edward Craig (Hg.), Routledge Encyclopedia of Philosophy, Bd. 4, London 1998, 66–70, 66.
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Vortrag war ziemlich skandalös, alle kicherten. Feminismus ist bis heute ein Schimpfwort und damals umso mehr.«
Eine junge Philosophin berichtete von einer Konferenz, bei der sie über metaphysische und philosophische Grundlagen eines geschlechterspezifischen Ansatzes zur Forschung über den Menschen sprach: »R 22: Allein die Fragestellung rief Zweifel hervor: ›Gibt es denn ein Problem im Verhältnis zwischen den Geschlechtern?‹ Deshalb war die Diskussion ziemlich heftig, im Sinne der Existenz einer Notwendigkeit des Redens über Gender und die Diskussion von Gender-Problemen als solchen. – ›Sind solche Fragen real im gesellschaftlichen Leben und in sozialen Theorien?‹ TG: Es wurde also argumentiert, dass dieses Problem als solches nicht existiert? R 22: Ja. Ich hörte so etwas nicht zum ersten Mal.«
Gender Studies und Feminismus würden dabei gerne in einen Topf geworfen, wie dieselbe Respondentin ausführte: »R 22: Es gibt eine sehr negative Haltung zum Feminismus, ohne das Vorhandensein von profunden Kenntnissen feministischer Ideen, und infolgedessen eine Ablehnung von Gender-Theorien. Das heißt, die Logik ist diese: Wir wissen etwas über Feministinnen, sehr stereotyp, aus der Massenkultur, aus dem Fernsehen, die ein durchgedrehtes Bild der Feministin vermitteln, die bloß verschiedene Losungen brüllt und bereit ist, für die Frauenrechte alles in Stücke zu reißen. Im Allgemeinen wird dieses Bild sehr negativ aufgenommen und daher wird alles abgelehnt, was mit einer Diskussion von Fragen der Frauenrechte, Gleichberechtigung, Gender-Fragen, darunter auch die auf theoretischer Ebene, verbunden ist.«
Auf Ablehnung trafen auch Lehrveranstaltungen zum Thema Geschlechterforschung: »R 23: Nicht alle Kollegen waren für solche Kurse und diese Problematik an unserer Fakultät, sie sagten: ›Wozu ist das gut? Was ist das überhaupt, dieser Gender? Wozu dieser Feminismus?‹ Der Widerstand war massiv.«
Die nächstwichtigsten Merkmale sind jRussische Föderationj als Nationalität beziehungsweise Land, in dem die Respondent_innen leben, sowie die jMuttersprache Russischj. An sehr prominenter Position sind auch die Merkmale jInterviewort Gastwohnungj und jInterviewjahr 2007j. Hier spielen also vor allem jene Texte eine besonders wichtige Rolle, die bei einem Forschungsaufenthalt in mehreren russischen Provinzstädten generiert wurden. Was die Untersuchungseinheiten betrifft, so tragen in dieser Variationsrichtung die in britischen und amerikanischen feministischen Zeitschriften veröffentlichten Interviews mit Ol’ga Lipovskaja (1989) und Anastasia Posadskaja (1992) überdurchschnittlich zur Varianz der ersten Dimension bei. Solche Interviews mit Feministinnen aus der Sowjetunion, die die englische Sprache beherrschten und
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sich auch mit ›westlichen‹ Ideen auseinandersetzten, stießen auf großes Interesse und hatten zu dieser Zeit durchaus Seltenheitswert. Jedenfalls schienen sie offenbar adäquater für eine britische und amerikanische feministische Leser_innenschaft, als etwa Interviews mit den Leningrader Dissidentinnen, die sich ja auch als sowjetische Feministinnen bezeichneten.657 Eine Vielfalt von Themen, die augenscheinlich nichts mit den Forschungsfragen dieser Studie im engeren Sinn zu tun haben, kennzeichnet die nun zu beschreibende Variationsrichtung. Es geht um persönliche Erfahrungen, die Einstellung zur eigenen Arbeit, es kommen auch jausführliche Erzählungen über die eigene Familiej vor. Spezifische Fragen nach dem familiären Hintergrund und ausführliche Antworten darauf sind charakteristisch für ein Interview mit Anastasia Posadskaja, das von eher persönlichen, intimen Fragen und Antworten geprägt ist. Die veröffentlichten Interviews mit Ol’ga Lipovskaja und Marija Arbatova enthalten ebenfalls Passagen über den familiären Hintergrund der Befragten. Wiewohl ich nach dem familiären Hintergrund in meinen Interviews nicht gefragt hatte, kamen einige Respondent_innen von sich aus auf diese Themen zu sprechen. Eine Respondentin zog beispielsweise ihr akademisches Elternhaus zur Erklärung ihres Interesses für Geschlechterforschung heran: »R 28: Und ich suchte mir dieses Thema, das mich sehr interessierte, für mich aus, weil ich in einer akademischen Umgebung aufwuchs: Mein Stiefvater war Doktor der Wissenschaften und Professor. […] Und als ich an der Technischen Hochschule anfangen wollte, sagte er, dass ich in diesem Fall (der Wahl eines ›männlichen‹ Berufes) um eine Größenordnung besser als die übrigen Männer sein müsste, wenn ich irgendetwas erreichen wollte. Und darum riet er mir davon ab, an der Technischen Hochschule zu studieren. Er schätzte die Situation ausgehend von der Geschichte der Wissenschaft realistisch ein. Er selbst (mein Vater) war ein absolut genialer Physiker, der eine Entdeckung gemacht hatte. Er war sehr berühmt in seinem Forschungsgebiet. Sehr ironisch, sarkastisch … und auch noch ein Alkoholiker. Aber es gab in der Familie eine akademische Tradition. Mutter beschäftigte sich mit verschiedenen Fragen, die mit der Lage der Frauen verbunden sind, im Besonderen edierte sie einen Roman von Berezovskij (das war ein Pole, der in Sibirien gelebt hat): ›Bab’i tropy‹ [etwa: Weiberpfade, TG].658 Der Roman ist absolut feministisch, ein sibirischer Frauenroman, der zu sowjetischen Zeiten sehr populär war. Darin wird die Geschichte einer Bäuerin erzählt, die zur Zeit der Revolution zur politisch Handelnden wird. Das heißt: einer657 Vgl. Engel, Feminism; Zdravomyslova/Yaroschenko, Bedeutung. 658 Feoktist Alekseevicˇ Berezovskij (1877–1952). Über sein Werk »Bab’i tropy« vermerkt die »Große Sowjetenzyklopädie«, es beschreibe »den Lebensweg einer Frau, die sich von religiösen und sozialen Vorurteilen befreit und sich dem revolutionären Kampf anschließt«. Bol’sˇaja sovetskaja e˙nciklopedija [Große Sowjetenzyklopädie], Moskau 1969–19783, unter : http://bse.sci-lib.com/article111130.html, Zugriff: 31. 3. 2018, Übersetzung aus dem Russischen TG.
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seits die familiäre Tradition der Emanzipation, andererseits das akademische Umfeld und in dritter Linie die Suche nach einer Identität und eigenen Rolle in der akademischen Wissenschaft. All das hat die Entstehung meines Interesses ermöglicht.«
Die offene Fragestellung und die nicht-direktive Interviewführung evozierten und gestatteten Erzählungen, die auch Aspekte des nichtakademischen (Über-)Lebens involvieren. So etwa die Schilderung einer Respondentin wie sie die jLebensmittelknappheit in der Mitte der 1990er Jahre in der russischen Provinzj erlebt hat. Der Konnex zu (hier : poststrukturalistisch geprägten) Gender Studies in Russland ist dabei jedoch auch gegeben: »R 21: Wenn Leute für 4000 Rubel im Monat in die Fabrik gehen, dann steht ihnen nicht der Sinn nach unserem Poststrukturalismus oder Postmodernismus. ›Was erzählt ihr uns da? Wir müssen Kartoffeln klauben!‹ Was soll man da sagen, wenn wir Studenten uns damals im Herbst von Lehrveranstaltungen abmelden mussten, um Kartoffeln klauben zu fahren. Nicht auf die Kolchose, sondern im Sinne von bei sich zuhause. Und uns wurde gesagt: ›Fahren Sie doch, bitte, klauben Sie Kartoffeln, denn Sie werden sie bald brauchen.‹ Denn damals lebten wir in einer halbagrarischen Gesellschaft.«
Eine ganze Reihe von sozialen Problemen, die in Russland existieren, ist hier positioniert. Einige russische Respondentinnen betonten, dass jMänner in der russischen Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen viel schlechter gestellt seien als Frauenj. Dieses Thema tauchte zumeist dann auf, wenn die Verbindung von Geschlechterforschung und feministischen Anliegen thematisiert wurde. »R 19: Oder, wenn man die Frage der Dominanz in der Familie nimmt: Es sprechen sozusagen alle Anzeichen dafür, dass die Frau viel Zeit für die Hausarbeit verbraucht, na, wie eben in diesen feministischen Untersuchungen, ja? Dass sie sich überhaupt in Sklaverei befindet, aber es hat sich gezeigt, dass viele Männer nicht arbeiten. Die Frauen haben begonnen als Kleinhändler zu arbeiten, als Verkäuferinnen am Markt, die Männer aber haben sich nicht beteiligt. In Russland ist das so. Sie haben sich überhaupt nicht beteiligt, und dann – die Männersterblichkeit ist gestiegen, der Alkoholismus und die Zahl der Selbstmorde.«
Die Respondentin berichtete weiter aus ihren Forschungsergebnissen, etwa darüber, dass Männer nach der Scheidung oft jenen Ort verlassen würden, an dem die ehemalige Frau und die Kinder leben. »R 19: Und sie sind von dort weggefahren, damit es ihnen nicht das Herz zerreißt. Und noch ein Ergebnis: Nach einer Scheidung, wenn der Mann Alimente zahlt, dann wird der materielle Status von Frau und Kindern höher als der materielle Status des Mannes. Sie hat Beihilfen, Unterstützungen, Zusatzleistungen für Schüler und so weiter, was bedeutet, dass die materielle Lage der verlassenen Frau immer vorteilhafter ist, wenn man sie mit diesem – Burschen vergleicht, der zu trinken beginnt, sein Geld verliert, der aus seiner Arbeit rausgeschmissen wird oder mit dem sonst etwas passiert. Und, wenn man von der feministischen Bewegung als einer Menschenrechtsbewegung spricht, dann würde ich wahrscheinlich eher die Männer schützen wollen. Na – das ist – soll
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sein, das Geschlechterregime in Russland ist ein männliches Regime. Aber das hat nur einen Bezug zur Elite, zur Macht. Aber die Öffentlichkeit – also, das Leben der einfachen Leute, der einfachen Männer und Frauen – im Allgemeinen läuft das nicht so.«
Ähnlich sah das eine junge russische Respondentin: »R 21: Die Unterdrückung der Männer in Russland ist auch sehr stark, und der Feminismus, der kämpft – na, man kann sagen, dass er auch für die Rechte von Männern kämpfen muss. Das heißt, es sollte zumindest auch so eine Bewegung [wie für die Rechte der Frauen, TG] geben, weil das sehr traurig ist.«
Die Verwendung des Pronomens ›wir‹ stellt ein interessantes Pendant zur dominanten Variationsrichtung dar. Das am extremsten positionierte Merkmal ist: jWir : russische Frauenj, weitere Exemplare sind: jwir Studierende an unserer Universitätj, jmeine Studierenden und ichj, jwir Russ_innenj, jwir Feministinnenj und jwir russischen/sowjetischen Forscher_innenj. Geht man davon aus, dass die Variation in der vorliegenden Dimension vom Subjekt (Dominanz) zum Objekt (Dominiertheit) der Forschung über Russland verläuft (mit Projektkooperation und Rezeption als Übergangspraktiken), so ergibt es Sinn, dass die russischen Frauen zentrumsferner als die russischen Forscher_innen platziert sind – zumal »Frauen in Russland« jahrzehntelang das Objekt par excellence russlandbezogener Geschlechterforschung waren. Passend dazu ist das am extremsten positionierte Merkmal, die Feststellung, jauch russische Forscher_innen sollen sich mit der Geschichte der russischen Frauenbewegung befassenj – nicht nur Amerikaner_innen, Brit_innen oder auch Deutsche.659 Dieses Statement konstatiert einen offiziellen Mangel – entgegengesetzt der etablierten ›westlichen‹ Forschung über Russland im Allgemeinen (die auch die Erforschung russischer Frauenbewegung im Besonderen einschließt), wie ihn die dominierte Variationsrichtung dieser Dimension verkörpert. Die Wir-Varianten, die auf Studium und Lehre Bezug nehmen, stammen überwiegend von jüngeren russischen Respondent_innen, deren bisherige Kontakte mit Geschlechterforschung überwiegend oder ausschließlich im Rahmen des eigenen Studiums beziehungsweise ihrer Lehrtätigkeit stattgefunden haben. Feminismus figuriert hier in vielfältiger Weise. Neben der schon erwähnten Verwendung in Form von »wir Feministinnen«660 kommt auch die jSelbstbezeichnung als Feministinj vor. jFeminismus als Haltungj oder Überzeugung wird sich selbst oder andern zu- oder abgesprochen. Zudem wird eine klare jUnterscheidung zwischen Gender Studies einerseits und Feminismus andererseitsj getroffen.
659 Siehe Kapitel 4.2 und 4.3. 660 Ein Wir, das im Übrigen fallweise auch die Interviewerin einbezog.
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»R 19: Gender – das ist das eine, und feministische Theorien – das ist etwas anderes. Das habe ich damals so verstanden und das verstehe ich auch jetzt noch so. Feministische Theorien – das ist so wie gewerkschaftliche Angelegenheiten, ja? Das ist eine Ideologie, nicht wahr? Aber Gender, das ist schon ein wissenschaftlicher Terminus, eine Konstruktion, eine wissenschaftliche Kategorie zur Erforschung, zum Beispiel von Machtverhältnissen oder von Fragen der Dominanz und so weiter.«
Und an anderer Stelle, gefragt nach ihrer Einschätzung der Arbeiten einer Kollegin, die zu einem ähnlichen Thema wie sie selbst publiziert, grenzte sich die Respondentin davon ab: »R 19: Ja, ich kenne ihre Artikel, obwohl ich mich nicht erinnere, ob ich sie persönlich bei irgendeiner Tagung gesehen habe oder nicht. Aber ihre Artikel kenne ich. Nur, die Sache ist die, sie ist wirklich – sozusagen – na, wie soll ich sagen [lacht] – sie ist wirklich eine Feministin, ich dagegen bin Demograf. In dem, was ich schreibe gibt es am Ende keine Aufrufe, Losungen, etwa so: ›Lasst uns für die Alleinerzieherinnen alles einrichten und tun!‹ Naja, das ist das, was in ihren Artikeln steht.«
Während für diese Respondentin Forschung und Feminismus nicht zusammengehören, kritisierten andere genau diese Trennung: »R 12: In a situation of very low women’s activism – women’s agency for themselves, the social agenda, women’s political agenda, you know, when this kind of Gender Studies is introduced into academic spaces, you have a very paradoxical situation: when a student comes to you and says ›I would like to do Gender Research but I’m not a feminist‹ – and then you think that it is just an exception to the rule. And then every year you come across this kind of obvious divorce, you know, this is feminism and I do Gender Studies, you know, which is a serious thing because in the end – you know, they start teaching.« »R 30: Und natürlich, die Haltung zum Feminismus ist in der Tat ein Problem, meiner Meinung nach ist das der Stein des Anstoßes für eine enorme Anzahl russischer Forscherinnen. Denn die russischen Forscherinnen leben unter den Umständen eines NeoPatriarchates. Denn die ganzen letzten 15 Jahre zeichnen sich dadurch aus, dass nur in dieser well-educated society [Englisch im Original, TG], in einer sehr schmalen Schicht von Forschern die Ideen von Gender Studies, von Feminismus kursieren. Die absolute Mehrheit unserer Forscherinnen aber lebt in einer völlig traditionellen Gesellschaft. Unter diesen Umständen ist es ungewöhnlich schwierig, sie an die Ideen des Feminismus heranzuführen.«
Näher am Zentrum der Dimension sind die Merkmale Feminismus als jFachliteraturj, als jTheorie(n)j und als jÜbersetzungenj verortet. Das sind Praktiken, die Feminismus zu einer Sache der Gelehrsamkeit und der Rezeption machen. Darüber hinaus ist die Übersetzung feministischer Texte für manche der von mir Befragten ein Teil ihrer beruflichen Tätigkeit. Das Thema Rezeption ist durch mehrere Praktiken vertreten, von denen russische Respondent_innen erzählten: das jMitbringen von Koffern voll mit Büchern aus dem Auslandj, die
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jLektüre von Übersetzungenj und auch das Insistieren, dass jPrimärtexte, in der Originalsprache oder als gute Übersetzung in jedem Fall einer Zusammenfassung oder Nacherzählung vorzuziehen sindj.661 Die dominierte Variationsrichtung der ersten Dimension wird auch von Merkmalen bestimmt, die mit der akademischen Etablierung von Geschlechterforschung in Russland in Verbindung stehen. Hier ist etwa die jEtablierung eines Zentrums für Geschlechterforschungj verortet, ganz in der Nähe des Merkmals jDiskussionen mit Dekanen und anderen akademischen Autoritätenj – gemeint sind Diskussionen über Sinn und Unsinn, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Institutionalisierung von Geschlechterforschung an russischen Hochschulen. Es findet sich in dieser Umgebung auch die Einschätzung jGender Studies gewinnen in Russland an Prestigej. Gender Studies und ihre Protagonist_innen können an russischen Universitäten mitunter jAnerkennung dadurch erringen, dass sie Drittmittel einwerbenj. Etwas zentrumsferner und mit weniger Beitrag zur Varianz in dieser Dimension liegt das Merkmal jUnterscheidung zwischen Gender Studies als akademische Karriereoption einerseits und als persönliches Interesse andererseitsj. »R 21: Ich hatte keinerlei akademische Interessen im Sinne eines Titels und so weiter. Für mich war es einfach nur interessant, mich damit zu beschäftigen – in diesem Moment war es für mich interessant. Nicht, dass es jetzt nicht interessant wäre. Ich mache das weiter, lese in meiner Freizeit was so auftaucht. Weil ich nicht zurückfallen will. Aber das ist wohl mein persönliches – entspringt meinem persönlichen Interesse.«
Für einige Respondentinnen ist das, womit sie sich von Berufs wegen beschäftigen, genau das Richtige, sie sprechen in diesem Zusammenhang sogar von jGlückj: »R 1: Wenn ich das tun muss, was ich tun will, wenn das zusammenfällt – TG: Mhm – dann ist das gut. R 1: Das ist Glück [lacht] – mir ist klargeworden [lacht], ja, ich mache das, was mir gefällt: Frauen- und Geschlechterforschung.«
Nicht auf Geschlechterforschung im engeren Sinne bezogen, aber auf ihre eigene sozialanthropologische Forschungstätigkeit, die auch Geschlechteraspekte berücksichtigt, bemerkt eine andere Respondentin: »R 27: Und so gibt es auf dieser Welt vermutlich keine glücklichere Forscherin als [R 27]! Ich arbeite mit solchem Vergnügen – das ist ein einziger Kick!« 661 Im Detail wird auf diese Merkmale im Zuge der Beschreibung der zweiten Dimension (Dominiertheit) eingegangen, wo sie nicht in der zentralen/neutralen, sondern der in der dominierten Variationsrichtung verortet sind, siehe Kapitel 3.2.2.
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Analyse der Dimensionen
Überwiegend nahe am neutralen Bereich der Dimension ist eine Reihe von Merkmalen positioniert, die in den betreffenden Interviews nicht erwähnt werden. Das sind Praktiken, die mit Auslandsreisen in Verbindung stehen wie etwa jVisumj und jReise aus der Russischen Föderation ins Auslandj. Die akademischen Praktiken jKonferenzj, jHerausgeberschaftj und jRussian Studiesj scheinen als jnicht erwähntj auf, ebenso fehlt die Erwähnung einer jlangandauernden Arbeitsbeziehungj über Nationengrenzen hinweg. Hier geht es offenbar um in Russland betriebene Geschlechterforschung, die nicht auf Kooperationen, Auslandskontakte und -reisen (die ja in der dominanten Variationsrichtung verortet sind) abzielt. Geschlechterforschung in Russland ist in der Tat in den allermeisten Fällen Forschung über russlandbezogene Themen. Nur sehr vereinzelt finden sich auch Forschungen aus vergleichender Perspektive662 oder gänzlich auf ausländische Kontexte bezogene Studien.663 Geschlechterforschung in und über Russland ist gerade nicht Russian Studies (im Sinne einer Forschung über kulturell und sprachlich Fremdes), sondern gendernye issledovanija, allenfalls noch feminologija oder genderologija ohne geografische Spezifizierung, weil sich der Bezug auf den eigenen Kontext für eine periphere Wissenschaft von selbst versteht.664 Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Variationsrichtung all das nicht ist, was die entgegengesetzte, dominante ausmacht. Es geht nicht um Forschung über Russland als Fremdes, Fernes, sondern um Russland als Nahes, Eigenes. Eine der damit verbundenen Besonderheiten ist die russische Geschlechterforschung. Merkmale, die Hindernisse, ja Verhinderungsgründe für Geschlechterforschung in Russland darstellen tragen wesentlich zu dieser Richtung bei. Auch wenn in der dominanten Richtung Prestigeverlust und Marginalisierung von Russian Studies und Gender Studies konstatiert oder befürchtet werden, sind die in der dominierten Richtung angesprochenen Hindernisse viel fundamentaler. Merkmale, die auf konkrete empirische Forschungstätigkeit hinweisen, fehlen: Weder werden Methoden oder Forschungsthemen, noch pragmatische Details des Forschungsalltags erwähnt. Wohl aber findet man Merkmale, die auf Lektüre, Rezeption und universitäre
662 Die Untersuchung über russische Ehepaare, die von Dana Vannoy, Natal’ja Rimasˇevskaja u. a. durchgeführt wurde, ist geografisch fokussiert, wendet aber Fragebögen und Einstellungsskalen an, die zuvor an amerikanische Ehepaare herangetragen wurden, so wird eine gewisse vergleichende Perspektive eingebracht, vgl. Vannoy u. a., Marriages. 663 Vgl. Sˇnyrova/Sˇkolnykov, Suffrazˇism; Igor’ Sˇkolnikov, Lejboristskaja partiya Velikobritanii i sufrazˇistskoe dvizˇenie [Die britische Labour-Partei und die Frauenwahlrechtsbewegung], in: Adam i Eva: al’manach gendernoj istorii [Adam und Eva: Almanach für Geschlechtergeschichte], 4 (2002), 106–122. 664 Alatas, Dependency, 604.
Zweite Dimension: Internationale frauenpolitische Netzwerke
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Lehre hinweisen. Die stärker auf die Arbeit mit Texten fokussierten Disziplinen jPhilosophiej und jQueer Studiesj werden explizit erwähnt. Das Reden über Russland ist im Kontext dieser Variationsrichtung alternativlos: Man kann legitimerweise über Russland reden, aber nicht über den Rest der Welt, denn danach wird man gar nicht gefragt. Man wird über das eigene InRussland-Leben befragt, man ist Informant_in, Repräsentant_in der russischen Geschlechterforschung oder des russischen Feminismus aber nicht Russlandforscher_in. Selbst wenn man wissenschaftlich über Russland spricht, ist man aus Sicht des dominanten ›Westens‹ in erster Linie Informant_in. Dieser Konstellation hat sich auch meine Studie nicht entzogen. Ich versuche aber – durch Rezeption und Zitation russischer Forschungen inklusive konzeptueller sozialwissenschaftlicher Modelle sowie durch die Einnahme einer transnationalen Perspektive –, diese Hierarchie wenn nicht zu überwinden, so zumindest in Frage zu stellen. Im folgenden Kapitel kommt ein weiterer Aspekt transnationaler Geschlechterforschung zum Tragen: unterschiedliche Formen von Politik in Theorie und Praxis.
6.2
Zweite Dimension: Internationale665 frauenpolitische Netzwerke
In der zweiten Dimension (Beitrag der Dimension zur Gesamtvarianz: 5,258 %)666 geht es um russische Geschlechterforschung als Sache der Politik für Frauen. Mit Politik ist hier ausdrücklich nicht Parteipolitik oder der Tätigkeitsbereich gewählter Volksvertreter_innen gemeint. Es sind auch nicht politische Intellektuelle am Werk, die in erster Linie durch ihre Publikationen Wirkung erzielen wollen. Vielmehr geht es um Lobbying, Expertise und um die konkreten Aktivitäten von Organisationen, die zur neuen russischen Frauenbewegung gerechnet werden. Geschlechterforschung spielt hier insofern eine Rolle, als dass sie frauenpolitischen Zielen dient: durch das Bereitstellen von Informationen über Geschlechterverhältnisse in der russischen beziehungsweise sowjetischen Gesellschaft. Insofern sind insbesondere empirisch orientierte sozialwissenschaftliche Fächer wichtig sowie Forschungsthemen, die sehr nahe an sozialen Problemen sind, wie zum Beispiel die politische Partizipation von Frauen oder die russische Frauenbewegung. Am wichtigsten für die dominante Variationsrichtung sind sehr selbstbe665 Wiewohl der Fokus des Buches auf transnationaler Geschlechterforschung liegt, wähle ich für die Bezeichnung der Variationsrichtung den Begriff international, weil er in den hier positionierten Interviews verwendet wird. 666 Oder mit modifizierter Berechnung nach Benz8cri: 18,4 %.
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Analyse der Dimensionen
wusst präsentierte Praktiken russischer Forscher_innen, die in Form von Forschungszusammenarbeit, der Verfolgung politischer Anliegen, Übersetzungen und anderem mehr transnationale Geschlechterforschung in die Tat umsetzen. Sie können Auslandskontakte dazu nutzen, ihre lokale Position zu stärken. Das andere Extrem bilden Praktiken, die gerade keinen Kontakt über Nationengrenzen hinaus implizieren – mit Ausnahme der Rezeption ausländischer Literatur. Dabei vereint die dominierte Variationsrichtung, also jene der Abwesenheit von Kontakten, relativ junge russische Respondent_innen aus der Provinz und so prominente amerikanische Protagonistinnen wie bell hooks oder Judith Butler, deren Interviews als spezifische Kontrastfälle in das Sample aufgenommen wurden. Die Gemeinsamkeiten bestehen hier nicht nur darin, dass in den jeweiligen Interviewtexten von internationalen Kontakten keine Rede ist,667 sondern auch in den Disziplinen, die hier vorkommen: jPhilosophiej und jQueer Studiesj. Anders als die dominante Variationsrichtung, die ganz klar als postsowjetisch-russisch zu identifizieren ist, fehlen in der dominierten Richtung Hinweise auf eine geografische Lokalisierung fast völlig. Plakativ könnte man noch auf die in den Interviews zitierten Autor_innen der jeweiligen Variationsrichtungen hinweisen: hier jAlexandra Kollontajj und jVladimir I. Leninj,668 dort jJacques Lacanj. REZEPTION
KEINE KONTAKTE
KONTAKTE ALLER ART
POSTSOWJETISCHES SELBSTBEWUSSTSEIN
Dominiertheit
Neutralität
Dominanz
0 Abb. 6: Grobschematische Darstellung der zweiten Dimension
667 Natürlich behaupte ich damit nicht, Butler und hooks hätten keine internationalen Kontakte. Aber es geht hier um Interviews, nicht um die Personen als solche. In den Interviews wird nicht über Kooperationen gesprochen. Die Befragten sprechen über die USA oder aber über geographisch nicht näher festgelegte Phänomene wie etwa Theorien. 668 Der Vollständigkeit halber muss auch auf jBetty Friedanj verwiesen werden, die als erwähnte Autorin in der dominanten Variationsrichtung vorkommt, wenn auch mit weniger Beitrag zur Dimension als Kollontaj und Lenin.
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Zweite Dimension: Internationale frauenpolitische Netzwerke
6.2.1 Postsowjetisches Selbstbewusstsein: Dominanz in der zweiten Dimension Russ_innen sollen selbst über Russland forschen … Westl. Feministinnen haben keine Ahnung Post-/Sowjetische Gewohnheiten Internationale Kontakte Projektorganisation
Etablierung von Geschlechterforschung
Westl. Feministinnen ›Osten‹
Russische Frauen
›Westen‹ Forschungsthemen: Frauen/Politik/Russland
Westen: Geld(geb)er, Forscher_innen, der ›Westen‹ 0 neutral
dominant 4,278
Abb. 7: Schematische Darstellung: dominante Variationsrichtung der zweiten Dimension669
In der zweiten Dimension sind russische Forscher_innen nicht (wie in der ersten) Informant_innen und Objekte der Forschung, sondern treten vielmehr selbst aktiv auf. Hier wird auch eine ganze Reihe von Merkmalen besprochen, die bereits in der ersten Dimension eine Rolle spielen. Nun sind sie aber einem anderen Variationsprinzip unterworfen. Es finden sich Praktiken der Zusammenarbeit, der Organisation von Forschung und der selbstbewussten und reflektierten Thematisierung (post-)sowjetisch-russischer gesellschaftlicher Phänomene. Ganz markant ist die Orientierung nach außen, also auf das nichtrussische Ausland hin, ohne sich primär in ein Rezeptionsverhältnis zu begeben oder die russische Rückständigkeit zu beklagen. Überlegungen zu ›Ost‹-›West‹-Verhältnissen im europäischen Kontext haben hier ihre Position. Den Nationalitäten der Respondent_innen kommt in dieser Dimension nur wenig Gewicht zu.670 Feminismus und allgemeiner frauenspezifische Politik spielen dagegen eine wichtige Rolle. An extremster Position und mit dem stärksten Beitrag zu dieser Dimension befindet sich die Ansicht, dass jauch russische Forscher_innen über russische Frauenbewegung forschen sollenj. Was im Kontext der dominierten Variationsrichtung der ersten Dimension einen Mangel konstatierte, steht hier als selbstbewusstes Statement: Sie sollen darüber forschen, weil sie es können – und 669 Eine detaillierte Version dieser Grafik findet sich in Garstenauer, Gender Studies, 204f. 670 Von den Interviews, die am stärksten zu dieser Variationsrichtung der zweiten Dimension beitragen, wurden fünf mit Russ_innen (eine davon zum Zeitpunkt des Interviews im Baltikum lebend) und eines mit einer Britin geführt.
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Analyse der Dimensionen
weil eine aufgeschlossene, zeitgemäße Sozialwissenschaft um ein solches Thema nicht herumkommt. Relativ nahe daran ist die Meinung platziert, dass jwestliche Feministinnen von Russland und den Verhältnissen dort keine Ahnung hättenj. Das betrifft in den Interviews vor allem solche Feministinnen, die zu Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre mit besten Absichten nach Russland reisten und von ihren dortigen Ansprechpersonen mit großer Irritation wahrgenommen wurden. »R 23: Also – das war auch zu Ende der ’80er Jahre. Zu uns kam eine Delegation von Frauen aus den USA (ich erinnere mich nicht genau aus welcher Organisation). Sehr viele Delegationen kamen damals zu uns, und wir empfingen sie. Na und – schon allein aufgrund ihrer äußeren Erscheinung waren wir verwundert. Wir stellten fest, dass das – männerähnliche Frauen waren, mit irgendwelchen idiotischen Frisuren. Wieso ›idiotisch‹? Ja, weil sie völlig formlos, unverständlich waren. Alle waren sie mit Jeans oder anderen Hosen bekleidet, trugen formlose Pullover und Männerschuhe. Wir kamen in französischen Schuhen – das war damals bei uns modern. In der Sowjetzeit ›organisierten‹ wir uns französische oder italienische Schuhe, wir zahlten dafür zusätzliches Geld.671 Wir verwendeten auch französische Kosmetika und Schmuck, feminine Kleidung, Röcke, die auch unsere Formen unterstrichen.672 Und dabei waren wir Frauen in sehr mächtigen beruflichen Positionen: eine Fabriksdirektorin oder eine Institutsvorständin, eine Professorin, eine Frau mit akademischem Titel – oder eine Arbeiterin mit Auszeichnungen. Das heißt, Frauen, die nicht nur ihr eigenes Brot verdienen, ihr eigenes Geld haben, sondern, die sogar ohne Mann ihre Kinder erhalten können, die sogar den Mann erhalten können – echte Feministinnen. Nachdem ich begonnen hatte, über Feminismus zu forschen, darüber, welche Konzeptionen und Richtungen es gibt, kann ich sagen, dass gerade wir echte Feministinnen sind.«
Die Respondentin erzählte von unterschiedlichen Auffassungen von Feminismus zwischen den russischen Gastgeberinnen und den amerikanischen Besucherinnen: »R 23: Als wir uns mit den Amerikanerinnen trafen, begannen sie, uns den radikalen Feminismus zu predigen und auszulegen. Jetzt kann ich sagen, dass es genau diese Konzeption war. TG: Das heißt? 671 Zu Schwarzmarktpreisen für Schuhe schreibt Aron Katseneilbogen »A pair of fashionable shoes, for example, at 70 rubles is little less than a woman’s monthly wage of 90 rubles.« Aron Katsenelinboigen, Coloured Markets in the Soviet Union, in: Soviet Studies, 29, 1 (1977), 62–85, 85. 672 Im Kontrast zu dieser affirmative Sicht steht ein Statement von Olga Lipovskaja aus dem mit ihr in den späten 1980er Jahren geführten Interview : »I’m sorry for Soviet women because most of them still wear high heels when they always carry with them heavy bags – it’s their usual practice, and it doesn’t go well together. To this day, you very rarely will see a woman of my age or older who would wear trousers or jeans.« Interview Lipovskaia, 8. Dieses Interview ist zwar nicht sehr weit vom Zentrum entfernt, aber doch in der anderen Variationsrichtung der zweiten Dimension verortet.
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R 23: Das heißt, dass Männer an allem Unglück schuld sind, dass sie Frauen unterdrücken und diskriminieren und so weiter. Aber wir haben in Russland eine andere Geschichte: Das gesamte 20. Jahrhundert wurden unsere Männer geschlagen und gequält, wegen der Kriege, der Revolutionen, der Repressionen und so weiter. Nach dem Krieg gab es einen enormen Männermangel. Was soll da für eine Diskriminierung sein? Unsere Frauen waren gezwungen, die Männer überall zu ersetzen: im Dorf ebenso wie in der Fabrik. Und als uns die Amerikanerinnen sagten, dass die Männer so schlecht seien, saßen wir da, verstanden sie nicht und dachten: ›Wer unterdrückt mich und wo?‹ Ja? Wir dachten das, weil wir erfolgreiche Frauen waren.«673
Die Amerikanerinnen dagegen, wurden nicht nur als unattraktiv beschrieben, sondern auch als erfolglos – verglichen mit den sowjetischen Frauen: »R 23: Und was ist sie für eine? Ist sie vielleicht Professorin oder Fabriksdirektorin? Aber nein, sie bekleidet irgendwelche niedrigen Positionen!«674 Diese Auseinandersetzung verdeutlicht, worum es in dieser Variationsrichtung geht. Es finden internationale Kontakte zwischen Feministinnen statt. Diese können durchaus unterschiedlicher Auffassungen sein, die Russinnen sind dabei aber keineswegs in der Rolle der Nachzüglerinnen, die bereitwillig alles aufnehmen, was von Seiten des ›Westens‹ geboten wird. Das beschriebene Treffen ist nahezu karikaturenhaft überzeichnet, nicht immer wird das nichtrussische Gegenüber so lächerlich-inadäquat dargestellt. Das Statement einer britischen Respondentin zu diesem Thema stellt von den Feministinnen, deren Tun klar der »political action« (nicht etwa der Feministischen Theorie oder den Gender Studies) zugerechnet wird, auch eine Verbindung zu Sozialwissenschafter_innen mit mangelhafter Russlandexpertise her : »R 13: There were some Western feminists who wanted to, you know, go running into Russia and Eastern Europe – without knowing anything about those places, you know, the history, the issues, the priorities, and they didn’t have the language – and so that – was a problem I think for political action – cause it – generated lots of misunderstandings until they got there and saw the different realities – and also – I don’t know if you’re aware of this, there is a big problem – after the collapse and – and I don’t know how big the problem is really, but initially it was perceived to be a problem when you had more research grants about the Eastern bloc – coming from the ESRC – and a lot of people who up until then had no interest in Russia – and Eastern Europe suddenly developing it, you know, generally trained social scientists. Now I think that’s a good thing because they can bring their comparative aspects to use, but it’s also a bad thing if they haven’t a clue what it is they are doing.«
673 Hier ist man an die Kritik an der unpolitischen feminologija erinnert: »Its advocates avoid the concepts of patriarchy, the terms of gendered inequality […].« Temkina/Zdravomyslova, Gender Studies, 56. 674 Vgl. dazu die Beobachtung Guilhots, dass sich eher nichtprominente Forscher_innen des Zentrums transnationaler Forschung widmen: Guilhot, Circulation, 79.
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Analyse der Dimensionen
Die Erwähnung von jmännlichen Vorgesetzten in der Universität oder anderen akademischen Einrichtungen als positivj und unterstützend ist auch implizit gegen einen Feminismus gerichtet, der Männer unter Generalverdacht stellt, Frauen zu unterdrücken. Das Vorhandensein von Geschlechterforschung an russischen Universitäten hängt bis heute vom Enthusiasmus einzelner Personen sowie dem guten Willen der Vorgesetzten ab.675 »R 23: Als erste unterstützten mich der ehemalige Dekan unserer Fakultät [Name], der Rektor der Universität, der Leiter unseres Lehrstuhls [Name] – und der jetzige Dekan unserer Fakultät, der damals Mitarbeiter des Lehrstuhls war [Name]. Das waren Männer. Ihre Haltung zu diesen Dingen [lacht] auf individueller Ebene war milde ausgedrückt kritisch, aber als Verwalter, als Leiter und Manager verstanden sie, dass das für die Universität wichtig ist.« »R 1: Die Mitglieder unseres Rektorats, das zum Großteil aus Männern besteht – selbst, wenn ihnen das, was wir tun, nicht angenehm ist, so stören sie mich zumindest nicht. Und ich denke, dass das ein Resultat unserer Zusammenarbeit ist. Dieser Respekt ist auch darauf begründet, dass ausländische Professorinnen an die Universität kommen, was prestigeträchtig ist. Und viele, die das sehen, fragen zum Beispiel: ›Kann [ausländische Professorin] auch bei uns einen Vortrag halten?‹« »R 27: Ich habe keine sehr reibungslose Karriere: Stellenabbau, eine schwierige Position an der Universität (niemand versteht, warum ich über Gender-Vorlesungen halte) und so weiter. Aber sie haben sich mit mir abgefunden, sie mögen mich. Der Dekan zum Beispiel verhält sich mir gegenüber gut.«
Im Zusammenhang damit steht auch das etwas zentrumsnäher positionierte und weniger wichtige Merkmal jDiskussionen mit Rektorenj über die Einrichtung von entsprechenden Studiengängen oder Zentren. Auch das jInteresse von Politiker_innen auf überlokaler Ebenej (erwähnt wurden z. B. Irina Hakamada676 oder die ehemalige deutsche Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth) an Geschlechterforschung als Ressource sozialpolitischer Maßnahmen kann das Prestige dieses Forschungsbereiches stärken.677
675 In diesem Sinne schrieb mir eine Mitarbeiterin des MZGS auf meine Anfrage über Gender Studies in der universitären Lehre: »An vielen russischen Universitäten werden an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten Lehrveranstaltungen unterschiedlichen Ausmaßes abgehalten – alles hängt von den Lehrenden und den Institutsvorständen ab.« E-Mail vom 27. 1. 2006, Übersetzung aus dem Russischen TG. 676 Irina Mucuovna Chakamada (geb. 1955) war für einige Jahre als liberale Politikerin tätig. 1993–2003 war sie Abgeordnete in der Staatlichen Duma; 2004 kandidierte sie bei den Präsidentschaftswahlen der Russischen Föderation für die Liste Nasˇ Vybor (Unsere Wahl). Seit 2008 ist sie nicht mehr politisch aktiv, betätigt sich nunmehr als Journalistin und Autorin. Vgl. ihre persönliche Website unter : http://www.hakamada.ru/, Zugriff: 31. 3. 2018. 677 Das ist eine Spielart der Verknüpfung von Forschung und Politik, die über die Orientierung
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Die jUnterscheidung zwischen den beruflichen und persönlichen Aspekten von Beziehungenj ist noch eines der für die zweite Dimension wichtigsten Merkmale. Eine russische Respondentin erzählte über einen Vorfall mit einer amerikanischen Kollegin: »R 27: [Name Kollegin] und ich zerstritten uns schließlich. Sie sagte mir, dass ich linguistisches Material präsentieren hätte sollen und nicht Philosophie betreiben. Worauf ich antwortete, dass die Texte meines Vortrages im Vorhinein vereinbart worden waren. Kurz gesagt, es war ein offener Konflikt. Aber mich hat absolut überwältigt, und das war eine große Erfahrung, dass dieser Konflikt in keiner Weise auf unsere persönlichen Beziehungen Einfluss nahm: Wir waren Freundinnen und sind es immer noch.«
Eine britische Respondentin gab den Standpunkt einer russischen Freundin und Fachkollegin wieder, die bei der Trennung von persönlichen und geschäftlichen Aspekten große Vorsicht walten ließ: »R 13: [Name] and I, at times we talked about maybe doing research together – but [name] always said [laughs], ›No, no, no, we mustn’t, we’re friends it would be too awful, and it would involve money – and I don’t want money coming into it‹ – you know, it would be me applying for funds for her, and somehow from her point of view that would sell out our friendship which I could see, because that can happen – if you do research with someone, if you fall out over whatever – so, no.«
Es geht um vielfältige Formen des Kontaktes zwischen Russ_innen und ihren Kolleg_innen aus anderen Ländern. Ein Schlüsselwort, das vor allem in dem Interview, das am stärksten zur dominanten Richtung der zweiten Dimension beiträgt, sehr häufig auftaucht ist obsˇˇcenie – zu Deutsch Umgang, Verständigung oder Kommunikation. Diese Kommunikation kann nicht zuletzt bei Konferenzen zustande kommen – konkret erwähnt wurden etwa jWomen’s Worlds 1996 und 1999j.678 »R 23: Diese Konferenzen waren für mich als Wissenschafterin wichtig, weil sie die reale soziale Wirklichkeit abbildeten.« »R1: Nicht weniger Eindruck [als die zuvor im Interview erwähnte »Berkshire Conference of Women Historians«, TG] machte auf mich die Konferenz ›Women’s Worlds‹, die im Jahr 1999 in Norwegen stattfand. Über tausend Menschen aus verschiedenen Ländern, die die Geschlechter- und Frauenproblematik erforschen, versammelten sich in der Stadt Tromsö. Das war eine großartige Erfahrung im Hinblick auf Verständigung an den Interessen lediglich der lokalen Politik und Verwaltung, wie sie für die »einheimische Wissenschaft« (vgl. Kapitel 3.5) charakteristisch ist, hinausgeht. 678 Zu den »Women’s Worlds Conferences« vgl. Susan Magarey, Women’s Worlds: The Sixth International Interdisciplinary Congress on Women, Adelaide, 21–26 April 1996, in: Australian Feminist Studies, 11, 24 (1996), 321–325; Krist&n ]stgeirsdjttir, Women’s Worlds 99: Feminist Research and Feminist Movements, in: NORA, 7, 2/3 (1999), 169–173.
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[obsˇcˇenie], und von allen internationalen Konferenzen sind mir diese beiden am besten in Erinnerung geblieben.«
Eine andere Respondentin wies auf den nicht primär wissenschaftlichen Charakter dieser Tagungen hin – obwohl sie selbst dort über ihre wissenschaftliche Arbeit vortrug: »R 19: In Adelaide fand ein Forum statt – ein Frauenkongress, er nannte sich ›Congress of Women‹. TG: Women, einfach Frauen? R 19: Ja, einfach Frauen. Kein wissenschaftlicher, sondern einfach ein Frauenkongress. Dort waren auch Künstlerinnen, Ethnografinnen und auch Schriftstellerinnen.«
Aber auch jForschungsprojektej oder die jgemeinsame Arbeit an Curriculaj oder jStudierendenaustauschj können Anknüpfungspunkte bilden. Die Praktik des jKoffer-voll-Bücher-Mitbringensj, wenn man von Auslandsreisen zurückkommt, ist hier nicht primär im Zusammenhang mit Rezeption zu sehen, vielmehr ist es hier etwas, das Personen tun, die ins Ausland reisen (können).679 Auch dass jrussische und nichtrussische Curricula nicht unbedingt kompatibelj sind, wird nur von Personen festgestellt, die – etwa aufgrund eines Studiums oder Lehrauftrags im Ausland – überhaupt in der Lage sind, unterschiedliche Systeme von Studienorganisation miteinander zu vergleichen. Einige Respondent_innen thematisierten die oft jkomplizierten Rezeptions- und Übersetzungswege russischer oder russischstämmiger Autor_innenj, genannt werden etwa Werke von Alexandra Kollontaj und Pitirim Sorokin: »R 1: Ich habe gerade ein Büchlein mit einer Sammlung von Texten von Alexandra Kollontaj herausgegeben. Ich habe sie zu meiner Zeit überall gesucht und [Person von der Open Society Foundation] gab mir eine kleine Auszeichnung für diese Idee […]. Kollontajs Texte über die ›Frauenfrage‹ waren hierzulande völlig unbekannt, und ich habe sie an verschiedenen Orten zusammengesammelt. TG: Und in Übersetzung gibt es sie? R 1: Auf Englisch gibt es sehr viele Texte von Alexandra Kollontaj. Auf Russisch waren sie aber nicht publiziert. Es kam sogar vor, dass ich einmal, als ich in den Vereinigten Staaten saß, einen Aufsatz von Kollontaj aus dem Englischen ins Russische übersetzte, den ich dann ohnehin in Moskau im Original fand.«
679 Im Laufe des Interviews mit R 1, das in Russland geführt wurde, gab die Respondentin mir Literaturtipps und wollte mir Bücher mitgeben. Sie meinte dann aber, dass sie verstünde, wenn ich nicht so schwer schleppen wollte, sie kenne das Problem des Koffer-voll-BücherMitbringens. Sie riet mir dann, elektronische Versionen der Texte von der Website des von ihr geleiteten Zentrums herunterzuladen.
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Es wird damit auch betont, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlechterfragen nicht nur Import ist, sondern dass es auch russische Traditionen680 gibt: »R 23: Damit haben sich unsere großen Gelehrten beschäftigt, der Vater der russischen Soziologie, Maksim Maksimovicˇ Kovalevskij, hat sich damit beschäftigt. Er zeigte und charakterisierte das Gender-Modell der slawischen Familie, allerdings ohne die Verwendung des Begriffs Gender, natürlich. Sorokin – genau dasselbe und so weiter und so fort. Ich verstand, dass großartige Quellen und gewaltige intellektuelle Reichtümer existieren, die wir unbedingt noch erforschen und verarbeiten müssen. Viele Arbeiten unserer Philosophen sind noch nicht aus den europäischen Sprachen ins Russische übersetzt worden.«
Es ist bemerkenswert, wie hier Personen wie Pitirim Sorokin, der einen großen Teil seines beruflichen Lebens in den USA verbracht hat, ohne Weiteres zu einem der »Unseren« gemacht wird. Die eigentümlichen Reisen von Texten durch Sprachen und Disziplinen spricht auch eine aus Russland stammende Respondentin an, die inzwischen in den USA arbeitet:681 »R 14: There is a lot of material in German, French, Russian and other European languages which has been translated into English and then became part of Comparative Literary Studies, or Post Structural Studies, and was then translated back to us – in French, German, Russian, etc. I am thinking about Bachtin682 or French Feminism or Heidegger. And then we seem to benefit from that kind of scholarship also. So it is a complex question, I guess, but there is no going back on that.«683
Auffällig ist an diesem Statement das implizit europäische »Wir« (»back to us«), das als Gegenüber die englischsprachige, vornehmlich US-amerikanische community hat. An einigermaßen extremer Stelle findet sich das Merkmal Erzählungen über das jInteresse des Auslands am postsowjetischen Russlandj. Wir sehen hier die 680 »Another view […] is that of historians of Russian sociology who locate its growth in the late nineteenth and early twentieth centuries. […] They agree that there is a discontinuity in the institutionalization of the discipline since then but they also see continuity of the present in terms of early Russian sociology.« Zdravomyslova, Tradition, 144. 681 Das Interview mit R 14 wurde in englischer Sprache geführt, wiewohl sie aus Russland stammt. 682 2006 wurde eine Ausgabe der »Novoe Literaturnoe Obozrenie« der Bedeutung Michail Bachtins für die russischen Geisteswissenschaften gewidmet. Vgl. Novoe Literaturnoe Obozrenie [Neue Literarische Rundschau], 79 (2006), unter : http://magazines.russ.ru/nlo/ 2006/79, Zugriff: 31. 3. 2018; Caryl Emerson, The Russians Reclaim Bakhtin (as of Winter 1992), in: Comparative Literature, 44, 4 (1992), 415–424. 683 Ähnliche Fragen der Rezeption und Übersetzung diskutiert auch Joan W. Scott, Fictitious Unities: »Gender«, »East«, and »West«, Paper presented at the 4th European Feminist Research Conference, Bologna, Italy, September 29, 2000, unter : http://archeologia.women. it/user/cyberarchive/files/scott.htm, Zugriff: 20. 2. 2018.
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andere Perspektive, verglichen mit der Dominanz im ersten Faktor. Ging es dort um den ›westlichen‹, vor allem britischen Blick auf Russland, so haben wir nun Erzählungen von Russ_innen über dieses Interesse von außen, sei es nun wissenschaftlich oder journalistisch motiviert oder auch von allgemeiner Neugier : »R 32: Zu dieser Zeit [1992, TG] waren bei uns sehr viele ausländische Journalisten und überhaupt ließ sich eine große Aktivität beobachten. Ich musste einige Interviews pro Tag geben, in gebrochenem Englisch (das mit der Zeit besser wurde, aber das ging sehr langsam). […] Sie haben mich regelrecht erdrückt! Ich wollte das Treffen absagen, weil ich überhaupt keine Zeit hatte. Sie erklärten mir nicht, worum es ging. Es stellte sich heraus, dass sie tatsächlich einen Artikel von mir übersetzt und veröffentlicht hatten. Der Artikel erwies sich als sehr gut, auch wenn er empirisch war und nichts besonders Analytisches enthielt. Sie haben ihn einfach übersetzt und abgedruckt, wahrscheinlich, weil zu dieser Zeit ein Mangel an empirischem Material über Russland herrschte, und der Artikel enthielt Informationen über Streiks in Petersburg und in den Kohle fördernden Bezirken Russlands.«
Und bei einem Amerikaaufenthalt im darauffolgenden Jahr war die Wissenschafterin wieder als Informationsquelle aus erster Hand gefragt: »R 32: An der Universität stellte man mir ständig Fragen (vor allem Professorinnen, aber manchmal auch Männer), wie es denn mit der ›Frauenfrage‹ stehe. Bei uns sei ja Perestrojka, soziale Bewegungen und so weiter, aber was ist mit den Frauen?«
Die gelockerten Reisebedingungen ermöglichten mehr Mobilität. Einerseits reisten Sowjetbürger_innen ins Ausland – und wie der Schluss des folgenden Zitats zeigt, wirkten hier Aktivitäten, die wenig mit Wissenschaft zu tun haben, positiv auf die internationale Sichtbarkeit der jungen russischen Gender Studies: »Anastasija Posadskaja: Das erste Mal in meinem Leben reiste ich im Jahr 1989 ins Ausland - Und wohin? AP: In die USA. Dabei war diese Reise überhaupt nicht mit Gender-Fragen verbunden. Das war eines der vielen Treffen zwischen der amerikanischen und sowjetischen Öffentlichkeit, die damals stattfanden. Sie erinnern sich doch an diese Zeit? Wir hatten noch die Sowjetunion, es war noch alles neu für uns, Perestrojka und alle damit verbundenen Möglichkeiten. […] Die Gruppe, zu der ich gehörte, bestand sozusagen aus den neuen leaders des neuen Russland, und die amerikanische Seite bestand darauf, dass auch Frauen dabei sein mussten. So luden sie mich ein. Damals war ich in ›Vzgljad‹ zu sehen (ob sich wohl viele an diese Fernsehsendung erinnern?, Anm. d. Interviewerin), und ich veröffentlichte Artikel in den ›Moskovskie novosti‹ […]. So luden sie mich in diese Gruppe ein, in der verschiedene Kosmonauten und andere Berühmtheiten waren. […] Wichtig war auch, dafür zu arbeiten, dass man über uns etwas erfährt, über das Moskauer Zentrum für Gender Studies und seine Arbeit – es war notwendig, Kontakte
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herzustellen. Unsere Arbeit rief enormes Interesse hervor, denn das war neu und interessant für die Welt. Unsere Forschungen wurden vielfach übersetzt.«684
Genauso kamen umgekehrt Interessent_innen aus dem Ausland in die nunmehr offenere Sowjetunion, was eine russische Respondentin so beschrieb: »R 23: Sie kamen zu uns. Der Eiserne Vorhang war gefallen – eine Masse von Menschen strömte herein, weil das Interesse an der Sowjetunion, diesem geschlossenen System, sehr groß war, und es gab auch seitens des Westens und des Ostens eine Euphorie, ja, dass alle, alle Menschen Brüder sind, wie bei Beethoven, in der Ode an die Freude.«
Über diese Respondentin, die damals gerade eine Tochter zur Welt gebracht hatte, wurde sogar eine Sendung für das deutsche Fernsehen gedreht. Das Interesse des ›Westens‹ traf auf ein geeignetes Objekt: »R 23: Ich wusste damals nicht, dass das den Westen so stark interessiert, weil eine schwangere Frau in ihrem Verständnis ruhig zuhause sitzen soll. Und ich, als Schwangere, zeigte professionelle Aktivität [lacht], was für sie sehr interessant war. Sie fragten sogar um Erlaubnis, mir ein Fernsehteam vom NDR zu schicken, um mich zu filmen und davon zu erzählen, wie die russische Familie funktioniert und lebt. – Das interessierte sie sehr. Die Sendung war der ›Ostreport‹. Meine [Name Tochter] war gerade zehn Tage alt, als das deutsche Fernsehteam kam. Aber mein Mann war kategorisch gegen jegliche Kameras in der Umgebung eines kleinen Kindes. Er sagte, er wolle das nicht, aber ich, ganz die Liberale, sagte ihm: ›[Name Mann], das ist notwendig, für die internationale Zusammenarbeit. Die Leute möchten uns näher kennen lernen, umso mehr, als zwischen Russland und Westdeutschland als Folge des Kriegs eine Mauer war‹ und so weiter … und ich überredete ihn. Das Fernsehteam kam und ich gab ihnen ein Interview in der Küche. Sie wunderten sich: ›Wie kann das sein – in der Sowjetunion gibt es immer noch Familien und familiäre Grundsätze?‹ – Das heißt, sie entdeckten für sich unsere Familie. Sie zeigten die Aufnahmen in Deutschland. Insbesondere gab es Aufnahmen, auf denen mein Mann der kleinen Tochter die Windeln wechselte und sie anzog. Das war noch ein Wunderding für die Deutschen.«
Das Thema Sprache kommt in Form einiger weniger Merkmale vor, etwa in der Praktik des junbekümmerten Sprechens einer Fremdsprachej ohne den Anspruch auf Perfektion, ja, im Wissen darum, dass man die Sprache nicht gut beherrscht. Verständigung sei die Hauptsache, und wenn das Gegenüber gar nicht Russisch kann, dann dürfe wohl mit Fug und Recht auch »schlechtes« Englisch gesprochen werden. Eine russische Respondentin schildert zunächst ihre ersten Auslandsaufenthalte, bei denen ihre Englischkenntnisse noch rudimentär waren. Das führte zu einem Gefühl, inadäquat zu sein, des Ausgeschlossenseins, das änderte sich aber mit zunehmenden Auslandserfahrungen: »R 3: Zum Beispiel, schon als wir in Amerika waren, im Jahr 1997, bei der American Association of Political Sciences, empfand ich bereits kein größeres Unbehagen mehr. 684 Petriasˇvili, Barrikady, 40.
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Ich weiß nicht, ich fand, dass, wie schlecht auch immer ich Englisch spreche, ihr könnt überhaupt kein Russisch – das war immer meine Haltung – ich habe das Recht, schlechtes Englisch zu sprechen. Denn ihr sprecht nicht einmal schlechtes Russisch, ihr sprecht überhaupt kein Russisch. Aber ich entschuldige mich immer, wenn ich in meinem Englisch spreche: ›Entschuldigen Sie mein schlechtes Englisch!‹ Ich erwarte, dass die Person mir dann antwortet: ›Nicht doch, nicht doch, mein Russisch ist überhaupt nicht existent.‹«
Ergänzend zu dieser selbstbewussten Haltung dem Ausland gegenüber findet sich noch die Ansicht, jRussland sollte dem Ausland gegenüber sprachlich offener werdenj. »TG: What do you think generally about the issue of language, or languages connections with international collaborations? R 14: I think it’s important. I think Russia as a country itself has still to become friendlier to the idea of opening itself up. Because if you’re in Moscow and you don’t speak Russian – you’re lost. You still don’t see signs in English, or any other language, if you don’t like English. There is still this idea that we, Russians are very smart – compared to others, since we have what some of my friends called ›Tolstojevskij‹ (this is Tolstoy plus Dostojevskij) – we don’t need ›them‹, others. And very often I see it as a defensive attitude because you do need to respond somehow to the fact you were cut off for seventy years from the rest of the world.«
Eine Respondentin zitierte hierzu sogar (vermeintlich) Lenin: »TG: Ja – also, wenn noch eine letzte Frage gestattet ist – über die Sprachen. R 23: Was soll man da sagen? Ich zitiere Lenin, obwohl das jetzt nicht in Mode ist ›So viele Sprachen Du sprichst, so oft bist Du Mensch.‹ Besser kann man das nicht sagen. Die Kenntnis von Sprachen gibt Freiheit, vor allem Freiheit, sich mit Leuten zu unterhalten.«685
Es kommen diverse Merkmale vor, die sowjetische oder postsowjetische Besonderheiten und Probleme thematisieren. Es wird über jsowjetische Gewohnheitenj berichtet (etwa das Vertrauen darauf, dass der Staat für einen sorgen werde oder das Erwarten von Aufträgen ›von oben‹). Eine Respondentin zog Parallelen zwischen der Abhängigkeit von ausländischen Fördereinrichtungen und der Abhängigkeit von der Kommunistischen Partei:
685 Das Zitat, hier Lenin unterstellt, »wird im Internet den unterschiedlichsten Autoren zugeschrieben – von Aristoteles über Karl Marx, Lomonosov, Schopenhauer bis zum tschechoslowakischen Präsidenten Tom#sˇ Garrigue Masaryk reicht die Reihe der vermeintlichen Urheber. Am ehesten entspricht der Satz dem Karl V. zugeschriebenen Ausspruch ›Quot linguas calles, tot homines vales‹.« Heinz Pfandl u. Walerjij Susman, Bericht: »Soviele Sprachen du kannst, sooft bist du Mensch.« Infragestellung eines Mythos, in: Trans. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 15 (2004), o. S., unter : http://www.inst.at/ trans/15Nr/06_5/pfandl_report15.htm, Zugriff: 31. 3. 2018.
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»R 1: Fördermittel kamen zu uns später, was gut war. Aber sie erinnerten mich an die alte sowjetische Gewohnheit, als alles von der KPdSU abhing: Gibt dir die Partei eine Wohnung? Einen Kindergartenplatz? Und wir haben uns gerade erst einer ähnlichen Patronage (wenn der Staat dich erzieht, nährt, kleidet – alles tut) entledigt. Fonds sind gut, aber man darf sich nicht an sie gewöhnen, besonders wir nicht, die wir aus der sowjetischen Erfahrung gelernt haben. Das ist eine Falle!« »R 28: Von den sowjetischen Zeiten her hatte ich nicht gelernt (vielleicht ist das auch nur meine Eigenheit), mir selbstständig ein Ziel zu setzen und es zu realisieren. In der sowjetischen Zeit warteten wir immer auf Aufgaben, die zu erfüllen waren.«
Aber nicht nur Abhängigkeit oder Passivität wurden als sowjetische Gewohnheiten genannt oder bezeichnet. Auch die berufliche, gesellschaftliche und persönliche jStärke sowjetischer Frauenj sowie solidarische Verhältnisse zwischen Männern und Frauen wurden in diesem Zusammenhang angesprochen. »R 23: Darum sind bei uns irgendwie alle daran gewöhnt, dass die Frau arbeitet, und niemand wundert sich darüber, dass sie arbeitet, und ich bin auch in diesem Geist erzogen worden. Und im gesellschaftlichen Bewusstsein ist eine herablassende Haltung gegenüber der (Nur-)Hausfrau entstanden.«
Generell werden sowjetische Gewohnheiten zwar nicht immer mit Stolz präsentiert, es entsteht aber auch nicht der Eindruck, dass sie Anlass für Scham darstellen oder verborgen werden müssten. Im mittleren Bereich der dominanten Variationsrichtung befinden sich verschiedene Merkmale, die mit konkreter Etablierung und Institutionalisierung von Geschlechterforschung in Russland zu tun haben: jein Zentrum für Gender Studies zu etablierenj, ein solches jZentrum zu leitenj oder dort zu jarbeitenj, jLehrveranstaltungen aus Gender Studies einzurichtenj und jmit universitären Vorgesetzten über die Notwendigkeit von Gender Studies zu diskutierenj. Mit der Nähe zum Zentrum werden die Merkmale akademischer und weniger vordergründig politisch, allerdings bleibt stets eine Verbindung zwischen Forschung und politischem Aktivismus zu beobachten. Anastasia Posadskajas beschrieb im Interview aus dem Jahr 1992 die Gründung des späteren MZGS als Glücksfall: Regierungsgremien und die Akademie der Wissenschaften hatten Infrastruktur und Mittel zur Verfügung gestellt. »AP: Towards the end of 1989 we used this opportunity to request a special Centre for Gender Studies with five researchers. We were in luck: the president of the Academy, Marchuk, gave us the five positions, the Council of Ministers a telephone line, and Rimashevskaya [Leiterin des Instituts für Sozioökonomische Bevölkerungsprobleme der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion, TG] an office. So by the spring of 1990 I found myself in the new Centre, together with the others from the Lotus group – except for Natalya Zakharova, who was now working with the UN in Vienna. Since then
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we have gradually built up the Centre; today it has a staff of fifteen – ten full-time and five part-time researchers.«686
Ein anderer Typ von Zentrum ist innerhalb einer russischen Universität etabliert, hat dabei aber auch Ziele, die der internationalen Verständigung und der Kontaktaufnahme zu Frauenorganisationen weltweit dienen. Diese Ausrichtung und die damit einhergehenden Kontakte wirken wiederum auf die akademische Lehre: »R 23: Das heißt, internationale Kontakte – das ist das Erste. Das Zweite ist eine Informationsbasis und das Dritte: das Hinausgehen in die akademische Gemeinschaft, denn auch in Europa und in Amerika hat die akademische Gemeinschaft auf die Frauenbewegung reagiert. Dort sind entsprechende Zentren gegründet worden – Frauenforschungszentrum [Deutsch im Original, TG] – und Ringvorlesungen [Deutsch im Original, TG] und in Amerika wurden Zentren gegründet und wir bekamen diese Information, die uns ermöglichte, an der Universität zu verkünden: ›Da wir eine der ältesten Universitäten des Landes sind, und wenn wir uns also für die allerallerwichtigsten und hauptsächlichsten halten, und zudem wollen, dass unsere Universität auf Weltniveau sein soll, wie kann es dann sein, dass es an unserer Soziologie diese Thematik nicht gibt? Wir brauchen sie!‹ Und das hat mir dabei geholfen, meine Lehrveranstaltungen an der Universität durchzusetzen.«
Da Geschlechterforschung in Russland in den 1990er Jahren vielfach von Förderinstitutionen wie Ford, Soros oder der jMacArthur Foundationj sowie im Rahmen von europäischen Programmen wie etwa jTEMPUSj oder jTACISj unterstützt wurden, war die jLukrierung von Drittmitteln Anlass zu mehr Ansehenj dieses neuen Bereiches in Forschung und universitärer Lehre. »R 1: Und dank der Hilfe der Fonds sehe ich, wie sich meine Lage an der Universität verändert hat: von einer Wahrnehmung von mir als ›Fräulein-unbestimmten-Alters‹, das einmal scherzt und dann wieder ernsthaft redet und sich auch noch mit irgend so einem ›Gender‹ beschäftigt, zu einer respektvollen Beziehung. Man hat mir einige Räume an der Universität gegeben. Man hat mir eine halbe Stelle (um mehr habe ich nicht gebeten) einer Verwaltungskraft gegeben. Sehen Sie, nicht der Fonds, sondern die Universität.« »R 5: Bei uns an der Historischen Fakultät wird das [Geschlechterforschung, TG] als eine der prioritären Richtungen wissenschaftlicher Forschung betrachtet. Es ist anerkannt, dass eine solche wissenschaftliche Schule existiert. Es ist eine Art doppelte Situation: Einerseits gibt es ziemlich viele Fonds, die solche Projekte unterstützen, das verleiht den Gender Studies noch zusätzlichen Status, das heißt, es gibt ihnen mehr Autorität, denn ein Projekt, das eine Förderung erhält, bekommt in den Augen der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein besonderes Gewicht. TG: Ja, aber andererseits vielleicht auch nicht – oder es verliert an Status, weil das ja nur wegen des Geldes gemacht wird, ohne das Geld gebe es das nicht. 686 Posadskaya, Self-Portrait, 11. Zur aktuellen Situation des MZGS siehe Kapitel 4.1.1.
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R 5: Solche Einwände gibt es auch. Aber das ist ja nicht einfach Geld. Das sind Publikationsmöglichkeiten, Möglichkeiten zu Teilnahme an Konferenzen – darunter auch internationale –, Möglichkeiten, irgendwelche weitreichende Verbindungen zu schließen, Möglichkeiten, neue Literatur zu erwerben. Ganz egal, jeder universitäre Administrator, das betrifft auch den Dekan und den Lehrstuhlleiter, begreift: Wenn ein Projekt solche zusätzlichen Möglichkeiten bietet, dann muss diese Projekt folglich unterstützt werden. Das heißt, es ist gut, das heißt, es ist prestigeträchtig. Und es ist auch gut für die Leistungsbilanz.«687
Im Anlehnung an Bourdieu’sche Begrifflichkeiten könnte man sagen, die Respondentin beschreibt die Umwandlung finanziellen Kapitals in wissenschaftliches und universitäres.688 Feminismus und Feministinnen kommen in dieser Variationsrichtung fast immer mit präzisierenden Attributen vor. Da sind etwa die – mitunter als unbedarft dargestellten – ›westlichen‹ Feministinnen. Diese werden auch den russischen oder sowjetischen Frauen gegenübergestellt, etwa in der sehr plakativen Erzählung über die frühen 1990er Jahre, die weiter oben wiedergegeben wurde. Es wird zwischen jwestlichemj und jrussischem beziehungsweise sowjetischem Feminismus unterschiedenj, die unterschiedliche Anliegen verfolgen. Ol’ga Lipovskaja, im Jahr 1988 von Barbara Alpern Engel gefragt, wie ein russischer Feminismus aussehen könnte, meinte dazu: »I don’t think I can paint an image of Russian feminism, because it’s really hard: there’s not even [a question] of it existing yet. But most Soviet women feel just the opposite about family life from Western feminists. They feel that they like their children, they like time to spend with their children and with their families and with their husbands, and there is a very strong tendency among Soviet women to spend more time at home […]. Soviet feminism would be almost diametrically different from the way it used to be here [in the USA, TG], which was antifamily, put the children in day care, go out to work, find your career and all of that. It goes in a very different direction. So I think that the start, at least, should be in women’s homes, to change their men, to make them more caring and responsible for child care, for home chores and for other things. Soviet women should learn from the start to share domestic tasks equally.«689
Russischer oder sowjetischer Feminismus impliziert also zum anderen potenziell Praktiken, die Vorstellungen von Feminismus außerhalb Russlands wi687 Vgl. dazu die Ansicht von Valerie Sperling u. a. im Zusammenhang mit transnationalen Netzwerken in der Frauenbewegung: »An overly narrow view of resources as merely financial may also distort the picture of how transnational organizing works. Resources certainly include money but may also include access, reputation, influence, and other intangible benefits.« Sperling u. a., Networks, 1159. 688 Vgl. dazu die Konstruktion des französischen universitären Feldes in Bourdieu, Homo academicus, 97f. 689 Interview Lipovskaia, 8. Auffällig ist hier die passive Rolle der sowjetischen Männern, die Lipovskaja ihnen zuweist.
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dersprechen, die als konservativ betrachtet werden könnten.690 In diesem Zusammenhang ist auch das Merkmal jGender-Forscherin und trotzdem damenhaftj von Interesse. Die eingangs zitierte Respondentin, die ihrer Verwunderung über die amerikanischen Feministinnen Ausdruck verliehen hat, betont, dass auch eine Feministin und erfolgreiche Gender-Forscherin (oder Fabriksdirektorin) attraktiv und feminin aussehen darf. Sie muss eine solche Erscheinung sogar bieten, unter Berufung auf Kultiviertheit und europäische (wohl auch im Gegensatz zur US-amerikanischen) Kultur: »R 23: Das ist bei uns in der Kultur : Man muss gepflegt sein und gut aussehen – das ist die europäische Kultur.«
Eine junge österreichische Respondentin erzählte über eine russische Kollegin: »R 9: Von so Leuten wie der [russischen Kollegin] ist dann schon auch sehr deutlich geworden, dass zu ihrem wissenschaftlichen Auftreten sehr wohl gehört, dass man denen [akademisch höher gestellten, männlichen Kollegen, TG] gegenüber sehr adrett – auftritt und ja, damenhaft ist und dass es, obwohl man Gender macht, überhaupt nicht wichtig ist, dass man irgendwie sich auch quasi jetzt unseren [lacht] Emanzipierungsvorstellungen anpasst, sondern dass man sehr wohl Dame sein kann und trotzdem Gender-Forscherin.«
Für R 9 besteht offensichtlich ein Widerspruch zwischen »unseren Emanzipierungsvorstellungen« (wenn diese auch ironisch gemeint sein mögen) und der geschilderten »Damenhaftigkeit«. Letztere ist nicht nur eine Frage des Aussehens – auch Schimpfwörter oder Kraftausdrücke gehörten sich für Frauen nicht.691 »R 9: Und deswegen wird sie das auch nie sagen, solche Sachen, weil das ist einfach – nekul’turno [kulturlos, unkultiviert, TG] und dass es so was wie kul’turnost’ [etwa: Kultiviertheit, TG] gibt – das ist für sie sozusagen eine Kategorie, dazu gehört auch, dass man eben – dass der Lidschatten nicht links oben aus dem Aug rausschaut.«
Es wird in den Interviews erwähnt, dass jin der Sowjetunion Feminismus als ein bourgeoiser Zeitvertreibj für gelangweilte Mittelschichtfrauen verstanden wurde (»R 12: Feminism in the Soviet times was always associated with the kind of liberal middle-class prosperous women who have nothing else to do than to claim their rights«) und dass jFeminismus bis heute in Russland als ein Schimpfwort giltj. Diese Thematisierungen implizieren jeweils, dass jemand anderer so denkt, man selbst aber mit feministischen Ideen und Praktiken 690 Vgl. auch die weiter oben beschriebenen Meinungsverschiedenheiten zwischen den russischen liberalen und den amerikanischen radikalen Feministinnen. 691 Vgl. auch Vadim Michajlin, Russkij mat kak muzˇskoj obscennyj kod: problema proizchozˇdenija i statusa [Der russische Mutterfluch als männlicher obszöner Code: Probleme der Herkunft und des Status], Saratov 2003.
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sympathisiert. Schon relativ nahe am neutralen Bereich findet sich das Merkmal jTeilnahme an feministischen Seminarenj. Solche Seminare waren in den 1990er Jahren eines der zentralen Instrumente von Förderinstitutionen wie der Ford oder der Soros Foundation.692 Sie wurden vor allem von russischen Respondent_innen von außerhalb der Hauptstädte Moskau und Sankt Petersburg geschätzt, weil solche Treffen eine innerrussische Vernetzung ebenso wie Kontakte zu ausländischen Feministinnen ermöglichten. »R 1: Meine erste solche seriöse Erfahrung war, glaube ich, im Jahr 1995, im Moskauer Zentrum für Gender Studies, zu dem ich dann während der gesamten Ausbildung gute Beziehungen hatte. Es organisierte ein Seminar – zur Ausarbeitung einiger Forschungsprojekte darüber, was sich in Russland in der Gender-, in der weiblichen Dimension abspielt. Gemeinsam mit amerikanischen Wissenschafterinnen, es war Myra Ferree da und Valerie Sperling, von der das Buch herausgekommen ist.693 Und von uns waren da: Valja Konstantinova, Marina Malysˇeva und natürlich Rimasˇevskaja.694 Und ich war also von hier eingeladen. […] Wir bildeten Arbeitsgruppen ein und jede hatte ihr Forschungsfeld. Ich arbeitete mit Valja Konstantinova und einer unserer amerikanischen Kolleginnen über die politische Aktivität von Frauen, das heißt wie geht die Entstehung neuer Organisationen vor sich, welche Rolle spielen dabei Frauen und ähnliches mehr.«
Solche Seminare waren für Forscher_innen in der Provinz, die oft Einzelkämpfer_innen waren, eine wichtige Ressource: »R 1: Dort bei ihnen in Moskau oder in Petersburg, bei Anna Temkina oder Lena Kocˇkina,695 ist etwas los, aber wenn sie [die Forscherin, TG] nachhause fährt, ist sie allein.« Schon im neutralen Bereich finden sich auch jFeminismus als Forschungj und jFeminismus als Forschungsthemaj. Ein weiteres Merkmal ist noch mittelbar mit dem Feminismus in Verbindung zu bringen: Die Feststellung, dass jMännern in Russland schwierigere Lebensbedingungen hätten als Frauenj. Mehrere Respondentinnen waren der Ansicht, dass es Feministinnen in Russland ein Anliegen sein sollte, sich für Männer einzusetzen, dass eine Männerbewegung viel notwendiger wäre als eine Frauenbewegung.696 Die konkreten Inhalte, Protagonistinnen und Ziele von Feminismus sind in dieser Variationsrichtung der zweiten Dimension umstritten, nicht aber die Tatsache, dass Feminismus und Geschlechterforschung zusammengehören.697 Weitere Merkmale, die eine poli692 Vgl. dazu Henderson, Democracy, 76. 693 Sperling, Organizing Women, 1999. 694 Die genannten Personen waren Mitarbeiterinnen des MZGS; ihre namentliche Nennung gefährdet die Anonymität der Respondentin nicht. 695 Elena Kocˇkina leitete damals das Gender-Programm des Open Society Institute in Moskau. 696 Im Detail wurde darauf im ersten Faktor (Dominiertheit) eingegangen, da das Merkmal dort deutlich mehr Gewicht und eine extremere Positionierung hat. 697 Vgl. dazu die dominierte Richtung des ersten Faktors, in dem eine Unterscheidung zwischen Gender Studies und Feminismus getroffen wird.
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tisch engagierte Forschung nahelegen sind die Erwähnungen von Schlüsselbegriffen wie jZivilgesellschaftj, jDemokratiej und jGlobalisierungj und noch direkter das Ansprechen einer jVerbindung zwischen sozialen Problemen und (sozial-)wissenschaftlichen Themenj.698 Für eine solche Verbindung trat etwa Anastasija Posadskaja als Protagonistin der neuen russischen Frauenbewegung und der neuen russischen Geschlechterforschung ein: »AP: Die Philosophie unseres Zentrums war, dass wir uns selbst diese Aufgabe stellten: die Erarbeitung einer Ideologie und theoretischen Basis unserer Frauenbewegung in der Periode ihrer Entstehung […]. Die Einrichtung von Zentren für Gender Studies, die Einrichtung von Gender-Expertisen, der systematische Zugang zum Kampf gegen vergeschlechtlichte Gewalt, die Konzeption von Gesetzen für gleiche Rechte für Männer und Frauen – all diese Arbeit wurde dann in der ganzen ehemaligen Sowjetunion aufgegriffen, aber die ersten auf diesem Territorium waren wir. Wir wollten eine entwickelte Infrastruktur für die Frauenbewegung schaffen – damit nicht alles auf uns im Moskauer Zentrum für Gender Studies und noch zwei – drei starke Organisationen konzentriert sein sollte.«699
In dem Interview aus dem Jahr 1992 sagte Posadskaja: »AP: In August 1988, an emissary from the Council of Ministers of the USSR told us that a new section on women was being created inside the Council, and that we were invited to submit whatever ideas we had – ›as crazy as you like‹ – about how to change the current situation for women.«
Die Aufgabe der Forschung war also primär eine politische – aus Sicht der Auftraggeber_innen wie der Beauftragten. Ein aktuelleres Beispiel stellt das Statement einer Respondentin im Hinblick auf die damals (2002) in Aussicht stehende EU-Osterweiterung dar – Geschlechterforschung erhielt den klaren Auftrag, quasi Baupläne für Geschlechterdemokratie und wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen zu liefern. »R 12: Europe is a complexity in itself, you know, but it is a social and economic complexity – multicultural, you know, this complexity should be investigated so that you know how to build – gender democracy and welfare regimes.«
698 Pierre Bourdieu bemerkte dazu: »[O]hnehin wird ja meiner Meinung nach in Dreiviertel aller Untersuchungen nichts anderes gemacht, als soziale Probleme in soziologische Probleme zu verwandeln. Man kann dafür -zig Beispiele anführen: Das Altenproblem, das Frauenproblem, jedenfalls wenn es in einer bestimmten Form gestellt wird, das Jugendproblem … es gibt alle möglichen prä-konstruierten Objekte, die sich als wissenschaftliche Objekte durchsetzen und die, weil ihre Wurzeln im common sense liegen, von vornherein in der scientific community wie in der breiten Öffentlichkeit auf Beifall rechnen können.« Bourdieu, Krankheiten, 272. 699 Petriasˇvili, Barrikady, 39.
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Einige Respondent_innen äußerten sich besorgt über jNationalismusj in Russland und anderen postsowjetischen Ländern generell oder über den wachsenden Einfluss konservativer Politiker_innen. Eine deutsche Respondentin konstatierte (in einem Interview 2008) ein in den letzten Jahren jgestiegenes Selbstbewusstsein der russischen Sozialwissenschaftenj, das auch Nationalismus und Selbstgenügsamkeit mit sich bringe: »R 18: [U]nd der Nationalismus ist wirklich – der kriegt so Stilblüten, auch von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen, wo man denkt, die müssten das eigentlich viel rationaler sehen, also: ›Warum habt ihr so viele Türken nach Deutschland gelassen? Jetzt habt ihr ein großes Problem – ihr werdet ja alle islamisiert‹700 und natürlich von fast allen Russen – wo ich denke, die sind mindestens Professor, aber die erklären dir das, also die Ausländerfeindlichkeit, die da ist, oder Fremdenfeindlichkeit – die ist latent in Russland da – die dann übertragen wird auf andere, nicht? Dann passiert vielleicht die Reaktion, die ich eben beschrieben habe – my e˙to delaem po-svoemu [wir machen das auf unsere Art, TG].«701
Eine im Baltikum lebende russische Respondentin zweifelte im Zusammenhang mit konservativen politischen Tendenzen an, dass in den postsowjetischen Staaten so etwas wie eine Zivilgesellschaft überhaupt existiere. »R 12: We have not developed this public space that has been European, the European public space: participation, discussion, you know, political discourses, freedom of ideological entries, this kind of mobility, you know, within which you have a variety of positions, having the right to express – themselves, it’s Europe dealing with its problems directly, whether it is nationalism, whether it is xenophobia, whether it is trafficking, you know, this is what I don’t see in our countries. If there is an issue on the agenda, you know, nobody says that tomorrow a right-wing party in France will disappear, no, but there is always a response and a reaction against it in the public space. Can I give you just one very simple example? You know, when the whole thing against Iraq started, you know, it was Europe and at this time I was travelling very much WestEast-West-East through Europe and I saw demonstrations in Paris, I saw demonstrations in Helsinki, I participated, but during the same time I was in Macedonia – nothing of the kind. Just ten, twelve people standing next to the United States Embassy. Latvia: nothing of the kind. Russia: just some anti-Americans and anti-globalists used the whole agenda: nothing of the kind.«
Bemerkenswert ist, wie ›Ost‹ und ›West‹ in dieser Variationsrichtung vorkommen: Sehr extrem positioniert, respektive auch im mittleren Bereich der Dimension scheinen jwestliche Feministinnenj und jwestliche Feminismenj auf.
700 Das Interview wurde im Jahr 2008 geführt, also lange bevor Debatten über die Islamisierung Europas den öffentlichen Diskurs beherrschten. 701 Hier ist man wieder an die »einheimische Wissenschaft« erinnert, vgl. Sokolov/Titaev, Nauka.
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Analyse der Dimensionen
jWestdeutschlandj wird erwähnt. jOst und West werden als hierarchische Relationj bezeichnet und das auch außerhalb akademischer Kontexte. »R 12: It’s produced among our businessmen in particular – that’s very interesting, you know, they said when I talked with them about different things ›Well, we are still not Western, we are still not European, we still‹ – And I said ›Listen, you are a businessman, you are a successful businessman as far as I know, you have an honest business. You contribute money to charity and you are the one actually who really has made yourself, you know, and your wife as well, and this is also Europe, you know, what’s wrong with you? You know, it’s this kind of small scale good business, why do you think that you are not European enough, what makes you think that?‹ – And he could not answer this question, you know, but this kind of – this hierarchy of the East and the West exists in this kind of popular consciousness.«
Näher am Zentrum positioniert sind die Erwähnung des jOstensj in substantivierter Weise und die Verwendung von jOsten als Himmelsrichtungj ohne augenscheinliche geopolitische Implikationen. Noch näher am neutralen Bereich verortet sind jWesten als Gelder oder Geldgeberj, jwestliche Forscher_innenj sowie jder Westenj. Russland wird dabei durchaus als Teil Europas betrachtet, wie das Merkmal jWir in Europaj nahelegt.702 Im mittleren bis neutralen Bereich verteilen sich in den Interviews genannte Forschungsthemen, genauer gesagt, nur solche, die mit Frauen oder Feminismus in Verbindung stehen. Es sind dies (gereiht von zentrumsferner bis zentrumsnäher): jPolitische Partizipation von Frauenj, jFrauenemanzipation in der Sowjetunionj, jFrauen in der russischen Gesellschaftj, jRussische Frauenbewegungj sowie jFeminismus in historischer Perspektivej. Diese Themen eignen sich für Geschlechterforschung in Russland, entsprechen zugleich den Forschungsinteressen der ausländischen russlandaffinen (Geschlechter-)Forscher_innen. Auffällig ist das Fehlen von Forschungsthemen, die mit Männlichkeit(en) und Sexualität(en) zu tun haben. Möglicherweise steht diese Beschränkung auf klassische Frauenforschungsthemen in Verbindung mit der Zeit, von der die Interviewpartner_innen erzählen. In dieser Variationsrichtung scheinen konkret auf: die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (mit stärkerem Beitrag zur Variation) sowie der Beginn der Perestrojka, der Anfang der 1990er und die erste Hälfte der 1990er Jahre. Für diese Zeit kann man sagen, dass sich die russische Geschlechterforschung, die sich damals im Prozess ihrer Etablierung befand, hauptsächlich auf Frauen, Frauenbewegung und Feminismus konzentrierte, wenngleich die Wahl des Etiketts gendernye issledovanija
702 Tatsächlich kommen die Respondent_innen, deren Interviews am stärksten zu dieser Variationsrichtung beitragen, aus dem europäischen Teil der Rusischen Föderation oder anderen europäischen Ländern.
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auch damit begründet wurde, dass man nicht nur Frauenforschung betreiben und die Männer nicht vergessen wollte.703 Ebenfalls im mittleren bis neutralen Bereich sind diverse projektbezogene Merkmale positioniert. In deutlichem Kontrast zur ersten Dimension zeigt sich hier die Rolle russischer Forscher_innen im Zusammenhang mit der Anbahnung von Projekten. Nicht als (potenziell lästige) Bittsteller_innen, sondern als jInitiator_innen von gemeinsamen Projektenj, kommen sie hier vor. Es konnte die ›westlichen‹ Partner_innen unter Umständen verwundern, wenn ihr russisches Gegenüber kein Geld forderte.So erzählte eine russische Respondentin über ein Treffen mit der Kontaktperson einer deutschen Stiftung: »R 23: Wir bereiteten uns also gerade darauf vor, eine entsprechende Forschung an unserer Fakultät durchzuführen, und wir fragten nicht um Geld, was sie [die Kontaktperson, TG] wunderte. Als wir mit ihr sprachen, sagte sie: ›Nun, wie können wir zusammenarbeiten?‹ und erwartete, wie das alle tun, dass ich sagen würde: ›Geben Sie mir soundso viel Euro, und ich kann das und das tun.‹ – Aber bei uns war es so: Wir bereiteten die Durchführung der Forschung vor und ich sagte, dass wir das an der Fakultät machen würden. Und sage: ›Bitte, wir werden mit dem größten Vergnügen mit Ihnen zusammenarbeiten. – Bestimmen Sie selbst die Form Ihrer Teilnahme – wie Sie das sehen‹. Und ihr hat das sehr gefallen – dass wir ihr nichts verkaufen wollten, wie das oft so ist: ›Geben Sie mir Geld, und ich mache Ihnen dafür ein Projekt.‹ TG: Und wie hat sie sich eingebracht? R 23: Sie hat sich so eingebracht: [Name] hat uns Informationen über die Partizipation von Frauen im politischen Prozess in Deutschland – am Beispiel der Partei CDU/CSU zur Verfügung gestellt – das war ihr intellektueller Beitrag. Und weiters haben wir eine gemeinsame Broschüre verfasst.«
Russ_innen stellen sich auch als gefragte Kooperationspartner_innen dar, die so viele Anfragen erhalten, dass sie gar nicht alle annehmen können. »TG: Was meinen Sie, ist es kompliziert, Geld für gemeinsame Projekte zu bekommen – nicht bloß ›rein‹ russische oder deutsche oder amerikanische? Was haben Sie in diesem Bereich für Erfahrungen? R 32: Therese, ich weiß es nicht – bei uns hat sich die Frage nie gestellt: Es gab immer mehr Angebote, als wir umsetzen konnten, aber ich bin nicht sicher, ob das überall und 703 Vgl. Anastasia Posadskaya, Women’s Studies in Russia: Prospects for a Feminist Agenda, in: Women’s Studies Quarterly, 22, 3/4 (1994), 157–170, 165. Noch 2002 schreibt Tat’jana Barcˇunova: »Bis vor kurzem waren nur Frauen Gegenstand der [russischen, TG] Geschlechterforschung. Andere Gender-Gruppen wurden praktisch nicht erforscht, und der Gender-Ansatz wurde mit der Analyse der Situation von Frauen assoziiert.« Barcˇunova, E˙goisticˇeskij gender, 189, Übersetzung aus dem Russischen TG. Eine interessante Ausnahme stellt ein Sammelband von Sergej Usˇakin dar, den er aus russischen und internationalen Beiträgen zusammengestellt hat: Sergej Usˇakin (Hg.), O muzˇe(n)stvennosti [Über die Männlichkeit], Moskva 2002. Durch das eingeschobene n im Originaltitel entsteht ein schwer übersetzbares Wortspiel: zˇenstvennost’ bedeutet Weiblichkeit und ist somit in der Männlichkeit – muzˇestvennost’ – inkludiert).
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immer der Fall ist. Wahrscheinlich, wenn man eine bestimmte Reputation, Fähigkeiten und Beziehungen hat, dann ist es überhaupt nicht schwer, so etwas zu machen.«
Darüber hinaus findet man Merkmale, die von konkreter Projektorganisation und der Arbeitsteilung in Projekten zeugen: jgemeinsames Antragschreibenj, jgemeinsames Schreibenj, jeigenständiges Arbeiten im Projektzusammenhangj. Auch die problematische Rolle von jrussischen Projektpartner_innen als Datenlieferant_innenj ist hier zu finden. Nahe an der Neutralität und mit weniger starkem Beitrag zur Varianz sind diverse Merkmale platziert, welche die Verwendung von jKommunikationsmedienj wie etwa jE-Mailj implizieren. Die Disziplinen, die in dieser dominanten Richtung generell erwähnt werden, sind jSoziologiej, jWomen’s Studiesj, jÖkonomiej und jLinguistikj. Als Fach, in dem die/der Respondent_in selbst forscht, kommt nur jSoziologiej vor. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es in fast allen hier vertretenen Merkmalen um die Auseinandersetzung von Russ_innen mit ausländischen Personen, Sprachen und Kontexten geht. Akademische Geschlechterforschung ist dabei ein wiederkehrendes Umfeld, aber nur eines unter anderen, die mit Politik für Frauen, Feminismus und ähnlichem zu tun haben. Die legitime Referenz ist nationale Grenzen überschreitende, politisch motivierte Kommunikation und Kooperation.
6.2.2 Rezeption: Dominiertheit in der zweiten Dimension Kooperationen nicht erwähnt Queer Studies Lehre
Forschung nicht erwähnt Zentrum
Originaltexte
Peripherie Russland Übersetzungen
(Forschungs-)Thema: Homosexualität -1,182 dominiert
neutral 0
Abb. 8: Schematische Darstellung: dominierte Variationsrichtung der zweiten Dimension704
Am auffälligsten an der dominierten Variationsrichtung der zweiten Dimension ist zunächst die Häufung von nicht erwähnten Merkmalen, vorwiegend in der Nähe des neutralen Bereiches. Mit zwei Ausnahmen: das Nichtvorkommen des Begriffs jNetzwerkj,705 das den stärksten Beitrag zu dieser Variationsrichtung 704 Eine detaillierte Version der Grafik findet sich in Garstenauer, Gender Studies, 228. 705 In allen drei Sprachvarianten, also Netzwerk, set’ oder network.
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ausmacht und sich in größerer Entfernung vom Schwerpunkt befindet, und das Nichtvorkommen der akademischen Praktik jKonferenzj. Diese Merkmale machen den Kontrast zur dominanten Richtung deutlich: Es geht also gerade nicht um Vernetzung, Zusammenarbeit, Projekte, berufliche und private Beziehungen. Weder der ›Westen‹ noch der ›Osten‹ kommen in irgendeiner Form vor. Auch das Fach jSoziologiej wird nicht erwähnt. Es geht dezidiert nicht um Geschlechterforschung in und in Bezug auf Russland als politisch engagierte, auf Auslandskontakte orientierte Praktik (die in der Soziologie und anderen sozialwissenschaftlichen Fächern am stärksten repräsentiert ist). Vielmehr charakterisieren die Praktiken Rezeption und Lehre diese Variationsrichtung, zudem geht es um den persönlichen Bezug zu den Inhalten, mit denen man sich auseinandersetzt. Während sich in der dominanten Variationsrichtung sehr viele spezifisch auf das postsowjetische Russland bezogene Praktiken zeigen, gibt es hier kaum Hinweise auf geografische Verortung. Lediglich die Thematisierung der jungleichen Zugänglichkeit von Fachliteratur in der russischen Provinz verglichen mit den Hauptstädtenj stellt eine eindeutige Verbindung zu Russland her. Eine russische Respondentin etwa, die an einer hauptstädtischen Universität arbeitet, beschrieb die Distribution eines deutsch-russischen Sammelbandes, an dem sie mitgearbeitet hatte: »R 8: Wir haben diese Bücher in verschiedene Städte verschickt. Dann – es ist so, dass unser Lehrstuhl, zum Beispiel die Leitung – naja, er wird als Koordinator vieler Zentren für die Erforschung von Kultur, also das, was man Cultural Studies nennt, angesehen. Und unser Lehrstuhl schließt ungefähr achtzig Lehrstühle aus verschiedenen Regionen zusammen. Und wenn sie zu uns kommen, dann geben wir ihnen immer eine Liste grundlegender Texte. In erster Linie Chrestomathien, Anthologien, Wörterbücher, und in diese Liste grundlegender Texte schließen wir auch immer diese Bände ein. Deshalb gehen diese Bände immer weg und werden immer gekauft.«
Ein junger Respondent aus der russischen Provinz erzählte über die eingeschränkten Möglichkeiten der Reise in die Hauptstadt zum Zweck der Literaturrecherche: »R 24: Wenn man Aspirant706 war, konnte man einmal nach Moskau fahren, um in der Bibliothek zu arbeiten. Dafür erhielt man eine sehr kleine Geldsumme, die nur für eine ›Brotrinde‹ reichte.« Das wichtigste der positiv vorhandenen Merkmalen (im Gegensatz zu den zahlreichen nichterwähnten) ist in dieser Variationsrichtung die Feststellung, dass jdie meisten Publikationen der Gender Studies von englisch- und französischsprachigen Autor_innen stammenj: »R 20: Gender Studies, so hat es sich ergeben, stammen hauptsächlich von englischund französischsprachigen Autoren – vor allem englischen. Dementsprechend setzt die 706 Aspirant_innen entsprechen im russischen universitären System in etwa den Doktorand_innen mit institutioneller Anbindung im deutschsprachigen Raum.
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Kenntnis dieser Themen wünschenswerterweise die Kenntnis der englischen Sprache voraus – naja, wünschenswerterweise. Man könnte natürlich auch noch Deutsch oder Französisch können, aber – vor allem Englisch, um Texte lesen zu können, was die Zahl derer, die sich in Russland potenziell damit beschäftigen könnten, stark einschränkt.«
Dabei, so wird betont, sind Sprachkenntnisse alleine nicht ausreichend, um die betreffenden Publikationen auch zu begreifen: »R 20: Aber meiner Ansicht nach ist noch wichtiger als die Kenntnis von Nationalsprachen (sagen wir der englischen oder der russischen) die Beherrschung der Sprache der zeitgenössischen westlichen kontinentalen Philosophie. Ich habe zum Beispiel die philosophische Fakultät abgeschlossen. Von den Themen die – jetzt – sagen wir, im Westen diskutiert werden, hört man überhaupt nichts. In diesem Sinn, wenn ein durchschnittlicher Aspirant beginnt, ein Buch über Gender zu lesen, dann stolpert er über Begriffe wie Begehren, Konstruktion, Gender Subordination und Disziplin mit Literaturverweisen in Klammer auf Foucault, den standardmäßig alle kennen. Und bei Judith Butler, die ja gewissermaßen aus Lacan ›herausgewachsen‹ ist, versteht er nicht nur nicht, worum es geht, sondern er versteht auch nicht, was sie nicht verstanden hat.«
Eine Rezeption, die Entstehungskontexte der ›importierten‹ Begrifflichkeiten nicht ausreichend zur Kenntnis nimmt, kann problematisch, weil missverständlich sein: »R 8: Es geht nicht darum, dass wir unterschiedliche Zugänge oder Begriffe verwenden, das ist normal. Es hängt einfach nur damit zusammen, dass, als Ende der ’80er/Anfang der ’90er, als diese [kulturelle, TG] Produktion, naja, hauptsächlich englischsprachig, ja, auch französischsprachig, nach Russland kam, viele meiner Kollegen, die die Wichtigkeit der Bearbeitung solcher Probleme begriffen, sich sehr schnell bemühten, sie in ihre eigene Praxis einzubauen.707 Aber nun gibt es in der Psychologie so eine, wie soll man sagen, Regel oder solche Bedingungen, dass der Mensch nur dann in der Lage ist etwas zu verstehen, wenn ihm [höchstens, TG] zehn Prozent der Information unbekannt sind. Und neunzig Prozent müssen ihm sozusagen schon bekannt sein. Erst dann kann diese Rezeption anfangen.«
Ein solches Ausmaß an Kenntnis fehlte den Kolleg_innen allerdings, und so kam es zu Ungenauigkeiten und »Umsemantisierungen« (R 8: peresemantizacii) im Zuge der oft zu raschen und oberflächlichen Rezeption von Werken der englischund französischsprachigen Geschlechterforschung.708 Was tun nun russische Protagonist_innen der Geschlechterforschung, die nicht über internationale Kontakte und die Möglichkeiten gemeinsamer Forschung verfügen? In welcher Weise praktizieren sie Geschlechterforschung? Eine Möglichkeit, die hier aufscheint, ist die Auseinandersetzung mit nicht 707 Ein Phänomen, das Anna Temkina und Elena Zdravomyslova mit dem Begriff »diskursive Allesfresserei« umschrieben haben, Temkina/Zdravomyslova, Feministische Übersetzung, 26. 708 Vgl. Barchunova, Library.
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russischsprachiger Forschungsliteratur. Dabei werden Fragen im Zusammenhang mit der Übersetzung dieser Werke ins Russische aufgeworfen. jOriginal und Übersetzungj werden einander gegenübergestellt, genauso aber jOriginal und Übersetzung einerseits und pereskazj (etwa: Wiedergabe, Nacherzählung) andererseits. Mit pereskaz ist eine Praktik des Referierens von Literatur gemeint, die speziell unter den Umständen erschwerter Rezeption sehr verbreitet war und die – nach Ansicht mancher Kritiker_innen – eine Ursache unzureichender Rezeptions- und Zitierformen in der postsowjetischen akademischen Produktion ist.709 Eine Respondentin verwies auch auf derlei Traditionen des Umgangs mit schwer zugänglicher Literatur. Ihre Einschätzung dieser Variante der Rezeption und Verbreitung ausländischer Literatur in Zeiten der Sowjetunion fällt dabei hingegen vorsichtig positiv aus: »R 28: Leute, die Sprachen beherrschten, nahmen die Aufgabe des Nacherzählens, des Zitierens und Kommentierens im Zeichen der Kritik auf sich. Im Prinzip ist das Bestehen auf Kritik ja völlig normal für die Wissenschaft. Was machte denn Marx? Eine seiner Arbeiten heißt: ›Kritik der kritischen Kritik‹. Das ist genau derselbe Mechanismus. Und es gab eine entsprechende Kultur, die sich natürlich auf marxistische Prinzipien stützte. Vom Standpunkt des Marxismus, war es unumgänglich, zu kritisieren, und tatsächlich war das eine Übung, die zu einer bestimmten Kultur der Arbeit mit Texten erzog. Deshalb war nicht alles stumpfsinnig, wenngleich es eine Menge wissenschaftlichen Kommunismus, Politökonomie des Sozialismus, obwohl es solche ausgedachten Disziplinen wie Historischen und Dialektischen Materialismus gab. Aber das hatte viel von einer Übung der Arbeit mit Texten, von einer Kultur dieser Arbeit des Kommentierens, und eine Menge Leute nahm diese Aufgabe auf sich. […] Ich stehe dieser Tradition sehr ehrfürchtig gegenüber. Natürlich gab es viel Ideologie, aber für mich stellte das eine sehr seriöse Arbeit dar, die durch das Problem des Zugangs zu Ressourcen erschwert war.«
In der postsowjetischen Zeit war der Zugang zu ausländischer Literatur nicht mehr aus ideologischen Gründen eingeschränkt oder verschlossen. Übersetzungen entstanden im Lauf der 1990er Jahre. Aufgrund vernachlässigter Sprachausbildung im schulischen und universitären Bereich hatten junge Wissenschafter_innen, in der russischen Provinz oft noch stärker als in den Hauptstädten, Probleme mit der Rezeption fremdsprachiger Originaltexten: »R 22: Im Allgemeinen hat Gender bei uns mit übersetzter Literatur begonnen oder aber mit dem Aneignen von Literatur, hauptsächlich in englischer Sprache. Und auch deshalb ist es für einen Menschen, der in der Thematik nicht bewandert ist und keine 709 Vgl. dazu die sehr kritische Rezension eines (unzulänglich) ins Russische übersetzten Soziologiewörterbuchs: Tat’jana Barcˇunova, Neiskusˇennyj fal’sifikacionizm. Recenzija na knigu Bol’sˇoj sociologicˇeskij slovar’ [Unausgegorener Falsifikationismus. Rezension des Buches Großes Soziologisches Wörterbuch], in: Sociologicˇeskij Zˇurnal [Soziologische Zeitschrift], 1/2 (2000), 237–247.
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Originaltexte liest, ziemlich schwierig, sich in den Prozess der Aneignung von GenderTheorien einzuschreiben. Hier ist auch die Frage der Kommunikation wichtig. Bekannte Leute – Leute, die etwas Selbstständiges auf diesem Gebiet machen, sind Vertreter – anderer Länder, vor allem englischsprachiger. Aber ich – hier muss ich sagen, es gibt viele Forscher, die die Sprache nicht können, oder nur sehr wenig. Ich zum Beispiel habe in der Schule kein Englisch gelernt, ich habe es in der Aspirantur gelernt und Texte gelesen, aber da ich die Sprache für meine Arbeit nicht anwenden musste, sind meine Kenntnisse sehr gering. Deshalb kann ich keine Texte auf Englisch lesen, ich lese nur Übersetzungen und sehe, dass ich hier wirkliche Probleme habe. Die Übersetzungen sind nicht immer gut, nicht immer den Ideen angemessen, die [im Original, TG] da sind.«
Sie findet aber, dass sie dennoch einen adäquaten Zugang zu den Inhalten finden kann: »R 22: Aber andererseits kann ich mir manche Fragen auch selbst zu eigen machen, wenn ich übersetzte Texte anwende, oder in meiner eigenen Arbeit, die mit der Anwendung von Gender-Theorien verbunden ist […]. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass ich mich mit Leuten unterhalte, die Gender-Theorien kennen und die Fremdsprachen können (wie etwa [Name]) dann heißt das für mich, dass ich mir die Gender-Ideen in adäquater Weise zu eigen mache.«
Eine andere junge Respondentin schilderte eine Phase, in der sie sich sehr für Gender Studies interessierte, und brachte in diesem Zusammenhang auch die Themen Übersetzung, Sprachkenntnisse und Kontextwissen aufs Tapet: »R 21: Im Großen und Ganzen habe ich alles gelesen, was sich gefunden hat, so etwa, jeden Tag – im Internet, wenn irgendein übersetzter Artikel erschienen ist, hab ich ihn als erstes gelesen. Alles was sich auf Englisch auftreiben ließ, habe ich wenigstens aufgetrieben. Mein Englisch hat damals sehr stark gehinkt. Ich bin mit dem Wörterbuch in der Bibliothek gesessen und habe so irgendwie das alles durchgelesen. Alles, was ich in die Hände bekommen habe, habe ich gelesen. Also, weil, als dann der Moment kam, als ich bei Kristeva angelangt war – und in sie habe ich mich ziemlich vertieft, weil – ich habe überhaupt nicht verstanden, worüber die Person redet. Denn Lacan’sche Psychoanalyse hat uns, natürlich, auf der Psychologie niemand unterrichtet. Und so musste ich den ganzen Lacan durchackern. Und um das zu tun, musste ich alle andern Autoren durchackern. [lacht] Das war ein sehr interessanter Exkurs: Auf einen Autor gestoßen, begann ich, um ihn herumzustreifen, weil mir völlig unklar war, was er sagen wollte.«
Die in diesem Zusammenhang genannten Autor_innen – jLacanj, Foucault, Kristeva, Zˇizˇek – gelten generell als Produzent_innen von Theorie beziehungsweise Philosophie. Für die Geschichtswissenschaften monierte eine Respondentin das Fehlen von übersetzten Studien mit lokalem Bezug. »R 25: Das heißt, die Situation ist so, dass in den Gender Studies, wenn wir nicht von allgemein-theoretischen Dingen sprechen, die schon gut bekannt und wenn nicht
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übersetzt, so doch nacherzählt sind – meiner Ansicht nach, sehr wenig von dem Material, das sich auf lokale Studien bezieht, übersetzt ist.«
Solche ungünstigen Bedingungen für eine an internationalen Entwicklungen orientierte, theoretisch fundierte (Geschlechter-)Forschung führen zu nicht zufriedenstellenden Ergebnissen. Ein russischer Respondent bezweifelte sogar, dass es Gender Studies in Russland überhaupt gibt und beschrieb dabei etwas, was wiederum an die Praxis der »einheimischen Wissenschaft«710 erinnert: »R 20: Anstatt normale Forschungen durchzuführen (mit einem guten theoretischen Background und anderem mehr), begeben sich manche Leute in die Theorie und beginnen allgemein zu erklären: ›Wie ich Foucault verstehe‹. Und solche Artikel gibt es ziemlich viele – über Foucault. Es gibt auch viele davon im Westen, aber hier [in Russland, TG] sehen sie irgendwie ganz armselig aus. Oder sie begeben sich in die Empirie und beginnen, irgendwelche Texte zu analysieren, lösen kleine, lokale Probleme und zeigen nicht, worin ihre contribution [Englisch im Original, TG] zu – na, irgendwelchen großen theoretischen Debatten liegt. Oder sie versuchen, zu imitieren, was dort [im Westen, TG] gemacht wird. Deshalb gelten Gender Studies in Russland als nicht existent. Es gibt sie schon, aber meiner Ansicht nach, meiner Wahrnehmung nach, gibt es nur zwei Orte, an denen sich Leute mehr oder weniger seriös damit beschäftigen: Temkina und Zdravomyslova an der Europäischen Universität und, wahrscheinlich, im Zentrum von Voronkov.«711
Er sprach als Beispiel eines russischen Versuchs, Gender-Theorien zu (re-)produzieren, die Arbeiten der Char’kiver Wissenschafterin Irina Zˇerebkina an: »R 20: Wenn ich es aufschlage, dann sehe ich, dass sie eine gebildete Frau ist, aber trotzdem ist das vtorjak. Vtorjak, das ist, wenn Sie Tee aufgegossen haben, ihn austrinken und den Teesatz ein zweites Mal verwenden, vom Wort vtoroe [zweites, TG], was sehr stark an gebrauchte Kleidung erinnert, Secondhand. Das ist schon nicht mehr interessant, weil ich dieselbe Zeit für die Lektüre von Schülern eben von Lacan oder Zˇizˇek aufwenden kann, anstatt das Gleiche, aber schon durch irgendwelche Interpretationen Verzerrte, zu lesen.«
Eine weitere Metapher für einen Text, der hauptsächlich aus Teilen anderer Texte besteht, verwendete R 3, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang, sie beschrieb ihre eigene Diplomarbeit so: »R 3: Ich stellte irgendwelche Stückchen, die ich brauchte, aus anderen Büchern zusammen, aber trotzdem war es wie eine Flickendecke. Das war trotz allem eine summary [Englisch im Original, TG] aus anderen Texten.« 710 Sokolov/Titaev, Nauka, 18. 711 Gemeint sind Anna Temkina und Elena Zdravomyslova an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg; angesprochen ist weiters das von Viktor Voronkov geleitete Zentrum für Unabhängige Sozialforschung ebenda.
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Große Probleme erwachsen daraus, wenn Übersetzungen beziehungsweise Wiedergaben so schlecht sind, dass sie nicht verständlich sind.712 Die Problematik von jschlechten Übersetzungenj, ja einer fehlenden wissenschaftlichen Sprache der russischen Geschlechterforschung thematisierte auch eine arriviertere russische Geschlechterforscherin in einem 2004 geführten Interview : »R 30: Eine wissenschaftliche Sprache für Geschlechterforschung, um die ganze Information zu unseren Forschern zu transportieren, ist nicht erarbeitet. Was abläuft, ist die Bildung eines Ghettos – kleine Kreise dieser Forscher die sich mit der Geschichte von Geschlechterforschung befassen, die sich nicht stark ausbreiten können, weil sie keine normale wissenschaftliche Sprache sprechen und das weitergeben können, was sie aus der ausländischen Literatur bekommen haben, damit es von ihren Kollegen rezipiert werden kann. Die Forscher selbst verstehen es gut, aber sie selbst werden nicht verstanden.«713
Mehrere Respondent_innen erwähnten, jdass sich Gender Studies in Russland auch aufgrund von intellektuellen oder akademischen Moden zeitweise großer Beliebtheit erfreuenj – allerdings nicht unbedingt in qualitativ hochwertiger Weise: »R 21: Bei uns an der Fakultät hat sich in der Tat eine sehr – traurige Situation ergeben, weil alle sich das Wort Gender angeeignet haben, alle schreiben es jetzt auf ihre Fahnen. Aber was mich dabei wahnsinnig ärgert, ist, dass es den ›weiblichen Gender‹ und den ›männlichen Gender‹ gibt. Es ist unmöglich, den Leuten zu erklären, dass Gender nicht einfach Geschlecht ist, dass es keinen weiblichen oder männlichen Gender geben kann, dass es einfach nicht so ist. Und die Leute sagen: ›Na, wie kann das sein?‹ Das geht so bis zur Verteidigung von Diplomarbeiten, obwohl ich ja keine Diplomanden betreue, und natürlich, in jede Diplomarbeit muss man unbedingt einen modischen Absatz ›über Gender‹ einfügen. Und dann heißt es wirklich – ›Ich habe ein Gender-Diplom. Ich habe über Männer und Frauen geforscht.‹ TG: Interessant, dass das so modisch und verbreitet geworden ist. R 21: Ja, das ist eine Frage der Mode, wenn alle anfangen, mit einem Ding herumzulaufen. Das Wort ist schön und unverständlich, na – cool, und die Leute, die es verwenden, wollen damit zeigen, dass sie der weltweiten Community um nichts nachstehen.«
Man fühlt sich bei dieser Schilderung an Irina Zˇerebkinas Konzept der »performativen Gender Studies« im postsowjetischen Raum erinnert.714 Solche Modeerscheinungen betrafen laut dieser Respondentin nicht nur Gender, sondern auch andere Begriffe:
712 R 26 verwendet in diesem Zusammenhang das Wort necˇitabe’lno (unlesbar). 713 Vgl. Gabowitsch, Translation. 714 Zherebkina, Performativity.
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»R 21: Zum Beispiel, vor zwei Jahren wurde klar, dass es ›Identität‹ gibt. Dieses Wort wurde überall angewandt, auch dort, wo von Identität überhaupt keine Rede sein konnte. Aber es war in Mode. Dasselbe mit Gender. Aber, Gott sei Dank gibt es das Internet, gibt es Quellen, die okay sind, und ist Literatur aufgetaucht, die veröffentlicht wird, wenigstens das.«715
Ein anderer Respondent fand daran, dass sich der Erfolg von Gender Studies einer Konjunktur verdankt, auch positive Aspekte: »TG: Wie wird die Lehre von Gender Studies von Ihren Kollegen aufgenommen? R 24: Gut. Alle verhalten sich sehr positiv, das einzige ist, viele finden, das sei eine Konjunktur. Zum Teil haben sie Recht. Wenn es Geld gibt, dann stimuliert das die Forschung. Aber das ist eine Konjunktur im positiven Sinn des Wortes: Warum soll es das nicht geben, wenn die Forschung von Qualität ist? Das heißt, die Kollegen haben eine positive Einstellung dazu, und jetzt gibt es, zum Glück, keine solche Haltung mehr wie sie in der sowjetischen Zeit war, als es sozusagen schlecht war, sich mit einer solchen Thematik zu beschäftigen.«
Das Merkmal jFeminismus als Lehrej sowie die jUnterscheidung zwischen Feminismus als Theorie und als Bewegungj716 erweisen sich in den entsprechenden Interviews als eng miteinander verflochten. Hier kommt bell hooks zu Wort, für die Theorie und Bewegung auf keinen Fall zu trennen sind: »Tanya McKinnon: Within feminist politics, have traditional dichotomies between theory and practice broken down any in the last twenty years? bell hooks: When people were really concerned with the whole question of building a mass-based feminist movement there was a great deal of interest in producing a body of feminist theory that would serve as a blueprint for such a movement. Early on in feminist movement there was a strong focus on creating a theory and practice that would merge together. And in specific instances the making of feminist theory was seen as practice. The hope was that we would gather cultural momentum to transform society as a whole. It’s interesting to note that the institutionalization of feminist thinking and feminist theory inside the academy began to shift this direction.«717
Zunehmende Institutionalisierung von feministischer Forschung kann dazu führen, dass die Produktion von Theorie die einzige Form feministischer Aktivitäten wird. 715 Vgl. dazu die Beobachtung von Irina Savkina: »Wahrscheinlich spielt für die zunehmende Verwendung dieses Wortes [Gender, TG] der Faktor saisonaler wissenschaftlicher Moden eine große Rolle: irgendwann ›trug‹ man das bunte ›Chronotop‹, mit ›Ambivalenz‹ verziert, vorgestern das ›Konzept‹ mit allem Drum und Dran, und in der letzten Saison war eben ›Gender‹ in Mode.« Savkina, Faktory, o. S., Übersetzung aus dem Russischen TG. 716 Diese Unterscheidung ist eine andere als die zwischen Gender Studies einerseits und Feminismus andererseits, wie sie in der dominierten Variationsrichtung der ersten Dimension vorkommt. 717 hooks/MacKinnon, Sisterhood, 817.
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»bell hooks: As a young nineteen-year-old student at Stanford University, I continually strove to understand my place as a black female in this society and the concrete meaning of that identity. So to some extent, the way I really began theorizing was from my experience. Much of the work I’ve done subsequently, particularly in the last few years, about the practice of feminist theory emerges from precisely those contexts where we are concretely trying to understand something we are experiencing and moves from that space of concreteness into a space of theorizing. This, I think, is the most illuminating and liberatory theory within feminism. When initiating theory from the location of experience, one can be less concerned with whether or not you will fall into the trap of separating feminist theory from concrete reality and practice. Working this way, we engage in a process of theorizing that always returns us to concrete practice. This is an organic intellectual process.«718
Theorie hat hier eine spezifische Bedeutung, nämlich die einer Abstraktion, die aber jedenfalls von der eigenen Erfahrung ausgehen muss und im Idealfall ein befreiendes Potenzial hat. Definitiv nicht gemeint sind formal-logische Theorien oder sozialwissenschaftliche Grand Theories719 mit umfassendem Erklärungsvermögen. Das Moment der Verbindung von feministischer Theorie und persönlicher Erfahrung wird auch im Bericht einer russischen Respondentin aus einer Provinzstadt über einen Studien- und Forschungsaufenthalt in den USA Mitte der 1990er Jahre geschildert.720 Zunächst beschreibt sie ihre Verwunderung über die Menge an Literatur über etwas, das in ihrem bisherigen Erfahrungshorizont eigentlich nichts miteinander zu tun hat: Feminismus und Philosophie. »R 2: Für mich war das damals erschütternd zu erfahren, wie viel überhaupt schon über Feminismus geschrieben worden ist und sogar über feministische Philosophie, zu einer Zeit, als bei uns im Land allein die Verbindung dieser Wörter Verwunderung hervorrief. Wissen Sie, Feminismus, das ist irgend so eine soziale Bewegung für die Rechte der Frauen und so weiter, aber dass es schon 1000 Arbeiten nur zur feministischen Philosophie gab, das hat mich völlig verblüfft. Ich bin in diesem Meer untergegangen!«
Sie besuchte Lehrveranstaltungen in einem Women’s Studies College und fand Umstände vor, die im Russland jener Zeit undenkbar waren: »R 2: Nun, für mich war das im Jahr 1995 eine große Erschütterung. Nämlich, weil es bei uns damals so etwas überhaupt nicht gab – wenn im Hörsaal die Lehrperson mit den Studentinnen zusammenkam und sie von äußerst theoretischen Fragen – ganz 718 hooks/MacKinnon, Sisterhood, 817f. 719 Vgl. Mills, Imagination, 23. 720 Dass hier, in der Variationsrichtung ›Rezeption‹, die gerade nicht durch Auslandskontakte charakterisiert ist, eine Episode über den Aufenthalt einer russischen Wissenschafterin in den USA erwähnt wird, stellt keinen Widerspruch dar. Hier geht es um die Perspektive darauf, wie man so eine Erfahrung im vertrauten Umfeld einer Universität in einer russischen Provinzstadt umsetzt.
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fließend und natürlich – zu sehr persönlichen Fragen des Lebens übergingen, dann wieder zurück, diese enge Verbindung. Damals, in den Lehrveranstaltungen hat mich völlig verblüfft, dass die Studenten im Unterricht essen und trinken konnten und so weiter, [lacht] was bei uns völlig undenkbar gewesen wäre. Und als in eben der ersten Einheit zum Beispiel ein Mädchen vor versammeltem Auditorium aufstand und sagte: ›Und ja, meine Mama ist eine Lesbe‹ und sich dann anschickte, sozusagen [lacht] das Gespräch weiterzuführen, ich erinnere mich, dass ich beinahe vom Sessel gefallen wäre. [lacht] Weil das war, naja, so etwas völlig Undenkbares, damals, über so intime Sachen zu reden.«
Diese Art von Lehre bot ihr schließlich Anregungen für die eigene Lehrtätigkeit zurück in Russland. Sie erzählte, dass sie einfach nicht mehr auf die alte Art und Weise unterrichten konnte und ihre Lehrveranstaltungen umgestaltete. Sie änderte in all ihren Kursen die Sitzordnung und legte Wert auf interaktive, nicht frontale Didaktik. Sie konzipierte eine Lehrveranstaltung mit dem Titel »Geschlechteridentität – interkulturelle Analyse«. »R 2: Im Großen und Ganzen bekam der Kurs keinen bloß theoretischen Charakter, weil auch manche Assoziationen auftauchten und die Leute über sich, über irgendwelche persönlichen Lebensgeschichten erzählten, sehr viel aus ihrem Leben, sodass es gewisse Parallelen gibt. In mancher Hinsicht ist der Kurs gelungen, in anderer Hinsicht nicht ganz, meiner Meinung nach, aber egal, alles in allem finde ich, diese Orientierung auf die Verbindung zwischen Theoretischem und zugleich Politischem und drittens dem Persönlichen, die ist gelungen.«
Im Interview mit Judith Butler findet sich ein Konnex zwischen Theorie und Praxis, der auf die sexuelle Identität abzielt: »I always hated this saying that feminism is the theory and lesbianism must be the practice. It desexualizes lesbians. I became a lesbian at the age of fourteen. And I didn’t know anything about politics. I became a lesbian as I wanted somebody very deeply. And then I became political about it, but as a result.«
Der Themenbereich jHomosexualitätj und andere nichttraditionelle Formen des Begehrens sind in dieser Variationsrichtung präsent, als jForschungsthemaj, in der Lehre und auch als privates und politisches Anliegen. Im Kontrast zur dominanten Variationsrichtung ist hier zu sehen: Die Praktiken sind nicht etwa unpolitisch, aber es geht nicht um Frauenpolitik auf Basis der Expertise sozialwissenschaftlicher Forschung. Über die Spezifik (oder dezidierte Nichtspezifik) von »Queer« sagt Judith Butler in ihrem Interview : »When it [the Queer movement, TG] emerged it was really suspending the question of identity. Some people say it is modern play, playing of the sexes and this kind of stuff. I don’t think that’s true. I think politically it is the bankruptcy of the politics of identity and the showing that we have to think coalitionally to get things done. That it doesn’t matter with whom we sleep with. The queer movement was anti institutional with a critique to normalization: that you don’t have to get normal to become legitimate. My
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understanding of queer is a term that desires that you don’t have to present an identity card before entering a meeting. Heterosexuals can join the queer movement. Bisexuals can join the queer movement. Queer is not being lesbian. Queer is not being gay. It is an argument against lesbian specificity : that if I am a lesbian I have to desire in a certain way. Or if I am a gay I have to desire in a certain way. Queer is an argument against certain normativity, what a proper lesbian or gay identity is.«721
Eine junge russische Respondentin, die sich in ihrer Magisterarbeit und in der universitären Lehre mit Geschlechterforschung und Queer Theory beschäftigt hat, reflektiert ihre Erfahrungen mit dem eigenen Anderssein in dem russischen Dorf, in dem ihre Eltern leben. Sie meint, jes sei in der Stadt und unter Intellektuellen leichter als im Dorf, queer zu seinj. Ihr Verständnis von queer trifft sich mit Butlers Standpunkt, das Anderssein nicht unbedingt und ausschließlich an sexuellen Praktiken (»whom we sleep with«) festzumachen: »R 21: Zum Beispiel, ich habe kurzgeschorene Haare, und wenn ich im Sommer im ärmellosen T-Shirt gehe (weil es heiß ist), dann sieht man meine Tätowierungen (ich habe zwei davon). Für Stadtbewohner, insbesondere solche aus der gebildeten Schicht, bedeutet das nicht unbedingt etwas Besonderes. Das ist nur ein Spiel, und es lässt mehrere Interpretationen zu. Aber im Dorf gibt es nur eine und eine ganz bestimmte Interpretation. Sie sehen einen Menschen, dessen äußere Erscheinung einem ehemaligen Gefängnisinsassen gleicht und dann auch noch – Tätowierungen! Was heißt das? Das ist beinahe ein Anschlag auf die Demarkation zwischen männlich und weiblich. ›Du bist eine Frau und hast Tätowierungen? Das darfst Du nicht, auf keinen Fall! Und wenn Du sie schon haben musst, dann, schnell, zieh ein T-Shirt mit Ärmeln an! Wozu zeigst Du sie allen?‹ Aber mir ist doch heiß, warum soll ich jetzt im langärmeligen TShirt gehen? Aber sie regt das auf. Die Logik ist diese: Wenn wir Dich schon nicht umbringen können, dann belästige uns wenigstens nicht. Du lebst in unserem Dorf und bist eine Unsrige. Und die Seinigen umzubringen, ist nicht gut.«
Denn körperliche Gewalt gegenüber Andersartigen, die nicht zu den »Unsrigen« gehören, ist der lapidaren Beschreibung dieser Respondentin zufolge nicht ungewöhnlich. »R 21: Obwohl dort alle – Leute gebildet sind, manche sogar mit zwei höheren Abschlüssen, verhält sich der Mann der Frau gegenüber wie einem Menschen zweiter Klasse. Und das alles wird von Generation zu Generation weitergegeben. Das heißt, man muss ein sehr – ich weiß nicht, elastischer und widerstandsfähiger Mensch sein, um in einem so aggressiven Umfeld überleben zu können. Wenn man also queer ist, sei es auch nicht vollständig, sondern wenn man nur irgendwie anders ist, dann können sie dich wirklich einfach umbringen. Das geht sehr einfach. Schlagen, umbringen – das ist der Weg, den die Leute in den Familien im Dorf gehen. ›Wenn du nicht den anderen ähnlich bist, dann machen wir dich ähnlich!‹« 721 Michalik, Desire, o.S.
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In diesem Zitat ist wie bei Judith Butler die Rede von Irritationen, die das unkonventionelle Aussehen der Erzählerin hervorruft: »Maybe people care that I am so clearly a lesbian and not a feminine lesbian.«722 Das entspricht visuell jenem Gegenüber, über das R 23 in der extremen Dominanz der zweiten Dimension erzählte und über das sie reichlich verwundert war. Den »männerähnlichen Frauen«, die in ihrem Fall aus den USA kamen, wurden die attraktiven, höchst femininen erfolgreichen russischen Frauen als Kontrast entgegengesetzt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit nichttraditionellen Sexualitäten hat indes nicht zwingend für alle Befragten mit persönlichen oder politischen Anliegen zu tun. Über sein Forschungsprojekt zu russischen Schwulenund Lesbenorganisationen sagt ein Respondent: »R 20: Ich werde es vor allem als sozialanthropologische Forschung betrachten. Mich interessiert die Bildung von Gruppen, die Subjektivation und der Einsatz kulturellen Kapitals. In diesem Sinne, ob das nun Homosexuelle, Faschisten, Anarchisten, verstehen Sie, oder ob das Philatelisten sind, ist mir im Allgemeinen so gut wie egal.«
In der dominierten Variationsrichtung der zweiten Dimension geht es also offensichtlich um etwas anderes, als um etablierte, am Ausland orientierte, politisch engagierte Geschlechterforschung in Russland. Vor allem aus den Statements jüngerer Respondent_innen – extrem positioniert ist das Merkmal jgeboren 1976 oder späterj – aus der russischen Provinz liest man Skepsis und Illusionslosigkeit bezüglich der tatsächlich existierenden Gender Studies. Es wird sogar in Abrede gestellt, dass es Feminismus und Geschlechterforschung in Russland überhaupt gibt. Der gleichsam nichtexistente Status russischen Feminismus’ und russischer Geschlechterforschung ist implizit auch in den Interviews mit Judith Butler und bell hooks enthalten: Russische Geschlechterforschung (ebenso wie österreichische, rumänische oder portugiesische)723 kommt in diesen nicht vor, weil sie in diesem konkreten Kontext nicht der Rede wert ist. Bemerkenswert ist, dass die zweite Dimension, obwohl für sie der Kontrast zwischen Provinz und Hauptstädten sehr wichtig ist, nicht die Opposition zwischen »provinzieller« und »einheimischer« Sozialwissenschaft in Russland (wie von Michail Sokolov und Kiril Titaev beschrieben)724 abbildet. Die dominante, international frauenpolitisch orientierte Richtung zeichnet sich 722 Michalik, Desire, o. S. 723 An dieser Stelle sei an das Zitat erinnert, das ich an den Anfang dieser Arbeit gestellt habe: »Write down – without looking them up – the names of five American feminists; five British feminists; and five feminists who are German, Italian, Spanish, Slovenian, Greek, Hungarian, Portuguese, Finnish, and Belgian. How did you get on?« Griffin/Braidotti, Introduction, 1. 724 Siehe dazu Abschnitt 3.5.
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Analyse der Dimensionen
keinesfalls durch Ignorieren der russischen Forschung aus (wie die idealtypische »provinzielle« Wissenschaft). Ebenso wenig negiert die dominierte Richtung die Existenz internationaler wissenschaftlicher Diskurse (wie die idealtypische »einheimische« Wissenschaft), ganz im Gegenteil. Das wird auch an der Prominenz der Themenbereiche Homosexualität und Queer Studies in den Interviews mit Wissenschafter_innen aus der Provinz deutlich, an Themen, die im Mainstream der russischen (»provinziellen«) Geschlechterforschung erst später und eher marginal positioniert auftauchten. Nach der Diskussion der ersten beiden Dimensionen, aus denen die wichtigsten Differenzierungskriterien des Forschungsgegenstandes abzulesen sind, folgt nun der nächste Schritt: die Integration dieser Dimensionen zum zweidimensionalen Raum des Möglichen transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung.
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung
Die beiden wichtigsten Dimensionen, das heißt jene, die den größten Anteil der Varianz der Ausgangstabelle erklären, werden nun zu einer Fläche integriert. Es handelt sich also um eine zweidimensionale Annäherung an den Forschungsgegenstand: den Raum der Möglichkeiten transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung. In der so entstandenen Fläche ist jedes Merkmal und jeder Interviewtext nach zwei Kriterien definiert: sie sind im Hinblick auf die erste (über Russland forschen) und die zweite Dimension (internationale frauenpolitische Netzwerke) jeweils dominant, neutral oder dominiert. Um die Struktur der Fläche genauer zu bestimmen, werden zunächst noch einmal die Beiträge der Merkmale und Individuen zu den Dimensionen angesehen, diesmal aber mit Fokus auf jene, die jeweils zu beiden Dimensionen überdurchschnittlich beitragen. So können auch die Übergänge zwischen den integrierten Dimensionen bezeichnet werden. Diese Übergänge, die vier zweidimensionale Variationsrichtungen darstellen, werden anschließend im Detail anhand von Zitaten aus ausgewählten, jeweils in ihnen positionierten, Interviews präsentiert. Ein Diagramm der überdurchschnittlich zu beiden Faktoren beitragenden Merkmale versieht im Folgenden diese schematische Darstellung mit Substanz. Die Merkmale und die dazugehörigen Interviewpassagen wurden bereits in den Erläuterungen zu den ersten beiden Dimensionen detaillierter vorgestellt. Die doppelte (bzw. dominante) Dominanz, in der Grafik rechts oben repräsentiert, ist von Praktiken konkreter Forschungszusammenarbeit charakterisiert: Gemeinsame Projekte über Russland, die in Zusammenarbeit zwischen russischen und ›westlichen‹ Kolleg_innen durchgeführt werden. Das schließt inhaltliche und organisatorische ebenso wie persönliche Ebenen des gemeinsamen Tuns in Forschungsprojekten ein. Positive und negative Aspekte und Details der Kooperation zwischen Personen aus unterschiedlichen nationalen Kontexten kommen zur Sprache. Dabei ist die Projektzusammenarbeit im zentrumsnäheren Bereich beziehungsweise in der Diagonale verortet. Die zentrumsferneren Merkmale, die näher an der waagrechten Achse (der Neutralität im zweiten Faktor) liegen, entsprechen jenen der Dominanz in der ersten Di-
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
Abb. 9: Schematische Darstellung der Flächengrafik
mension (Russian Studies). ›Wir‹-Merkmale in der Variationsrichtung der gemeinsamen Projekte sind jwir in Europaj, jwir Projektmitarbeiter_innenj und jwir an unserer Universitätj. ›Wir‹-Merkmale im Russian-Studies-Bereich sind jwir im Westenj, jwir westlichen Forscher_innenj sowie jwir ausländischen Studierenden in Russland beziehungsweise der Sowjetunionj. Die charakteristischen Konferenzen sind das jUnabhängige Frauenforum in Dubna 1992j einerseits und die jährlich in Großbritannien stattfindenden jKonferenzen der BASEESj (British Association for Slavonic and East European Studies) andererseits. Die im Projektbereich verortete Förderinstitution ist das jTEMPUSTACISj Programm der Europäischen Union, jenes der Russian Studies ist das britische jESRCj (Economic and Social Research Council). Als Themen der Forschung finden sich im Projektbereich: jPolitische Theorienj, jpolitische Partizipation von Frauenj, jFrauenbewegungj und jFeminismusj. Die Variationsrichtung der dominanten Dominiertheit (in den Grafiken links oben, siehe Abb. 9 und 10) bezeichne ich als gendernye issledovanija – also die innerhalb Russlands dominante Variante von Frauen- und Geschlechterforschung. Sie impliziert eine feministisch-politische Engagiertheit, eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung und in gewissem Maße erfolgreiche Institutio-
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pereskaz
spec-chrany
Der zweidimensionale Raum des Möglichen
Abb. 10: Merkmale mit überdurchschnittlichen Beiträgen zur ersten und zweiten Dimension Abkürzungen in der Grafik, alphabetisch: akad: akademische, Aut: Autor_in(nen), d: der/des, Distrib Lit: Distribution von Literatur, e: erwähnt, f: für, Fach: Fachdisziplin Respondent_in, Fem: Feminismus, fremdspr: fremdsprachlich, F-Th, F-Thema: Forschungsthema, geb: geboren, gem: gemeinsam, Ges: Gesellschaft, GS: Gender Studies, I: Institution, I-Jahr : Jahr des Interviews, Konf: Konferenz(en), Mitarb: Mitarbeiter_innen, n e: nicht erwähnt, nichtakad: nichtakademisch, P: Praxis, Pos: berufliche Position, Ru, ru.: Russland, russisch, Selbstbez: Selbstbezeichnung, sowj: sowjetisch, Stud: Studierende, SU: Sowjetunion, U: Unterscheidung, Übers: Übersetzung, westl: westlich, T: Thema, wg: wegen, Z: Zeit
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
nalisierung.725 Diese Frauen- und Geschlechterforschung setzt sich mit dem Ausland vermittels Forschung, Literatur, Kolleg_innen und Förderinstitutionen auseinander, besteht aber mit Nachdruck darauf, etwas Eigenes, Russlandspezifisches zu realisieren. Das bedeutet eigentlich eine Infragestellung der Zweiteilung wie sie russische Sozialwissenschafter_innen konstatiert haben.726 ›Wir‹ ist hier dementsprechend: jwir russischen Frauenj, jwir Russ_innen/Sowjetbürger_innenj, jwir russischen/sowjetischen Forscher_innenj und jwir Feminist_innenj. Der ›Westen‹ kommt in Gestalt von jWestdeutschlandj, jwestlichen Feministinnenj und jwestlichen Fördermittelnj vor. Feminismus findet sich in den Hinweisen darauf, dass das Wort jFeminismus in der Sowjetunion als bourgeoisj verpönt war und dass es bis heute in Russland ein Schimpfwort ist, außerdem als jTheorie(n)j und als jpersönliche Haltungj. Die entsprechende Förderinstitution ist die jMacArthur Foundationj, die Forschung in Russland, aber keine transnationalen Projekte unterstützt. An Forschungsthemen sind jFrauenemanzipation in der Sowjetunionj sowie die jLage der Frauen in der russischen Gesellschaftj zu nennen. Die berufliche Position, die hier vorkommt, ist jLeitung eines Instituts oder Zentrumsj, darunter auch Zentren für GenderForschung. Die dominierte Dominanz (in der Grafik rechts unten) weist vergleichsweise sehr wenige Überschneidungen auf. Diese Variationsrichtung ist charakterisiert als Forschung über Russland außerhalb Russlands (Dominanz im ersten Faktor) ohne frauenpolitisch motivierte internationale Kontakte (Dominiertheit im zweiten Faktor). Charakteristisch dafür ist das Fach Slawistik, dessen disziplinäre Ausrichtung überwiegend philologisch ist, anders als die stärker sozialwissenschaftlich geprägten Russian Studies. Abseits klassischer Feldforschung, etwa, wenn Literatur beforscht wird, sind die Wissenschafter_innen weniger auf persönliche Kooperation oder Kontakte ins Forschungsfeld angewiesen. Es ist hier keines der ›Wir‹-Merkmale zu finden, auch von ›Ost‹, ›West‹ oder Feminismus ist nicht die Rede. Hingegen sind bestimmte berufliche Positionen für diese Richtung charakteristisch: jsenior facultyj und jProfessor_innenj, beide nichtrussisch konnotiert. Zwei in Deutschland veranstaltete internationale Konferenzen sind in dieser Variationsrichtung verortet: jRussische Kultur und Gender Studiesj (Berlin 2000) sowie jVater Rhein und Mutter Wolgaj (Freiburg im Breisgau 2002). Die doppelte Dominiertheit ist in ihrer extremen Variante Gender Studies als Nebenberuf in Russland. Fehlende Möglichkeiten der intensiveren beruflichen 725 Es muss daran erinnert werden, dass die erfolgreiche Institutionalisierung sich auf den hier empirisch untersuchten Zeitraum, also die Zeit bis 2008 bezieht. Wie in Kapitel 4.1.5 dargelegt, wurden inzwischen viele der Zentren für Gender Studies in Russland geschlossen. 726 Vgl. Gapova, Zerkalo; Sokolov, Sociologija; Sokolov/Titaev, Nauka.
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Betätigung, aber auch die fehlende Bereitschaft, Geschlechterforschung zum zentralen Interesse der eigenen Forschungstätigkeit zu machen, führen dazu, dass dieses Gebiet primär in Form von rezipierter Fachliteratur und fallweiser Aufbereitung für Studierende aufgegriffen wird. Von ›Ost‹ oder ›West‹ ist keine Rede. Feminismus taucht als jLektürej und als juniversitäre Lehrej auf. ›Wir‹ ist als jwir Studierende unserer Universitätj oder die jeweilige jPerson und ihre Studierendenj ganz ohne nationale oder geschlechtsbezogene Spezifizierung. Die charakteristischen Fördereinrichtungen sind russische Stiftungen (Russische Stiftung für die Geistes- und Sozialwissenschaften jRGNFj, Russischer Fonds für Grundlagenforschung, jRFFIj), die Forschung russischer Forscher_innen in Russland finanzieren. Als Forschungsthema findet sich jHomosexualitätj. Wie in Kapitel 4.1 beschrieben, erhielt dieser Themenbereich erst vor wenigen Jahren etwas Aufmerksamkeit innerhalb der Geschlechterforschung in Russland. In den von mir analysierten Interviews, die in der Zeit vor 2008 entstanden sind, figuriert diese Thematik in Erzählungen über Forschungsarbeiten von jüngeren, nichtetablierten Wissenschafter_innen mit und ohne Auslandserfahrung. Als berufliche Angaben sind hier jnichtakademische Selbstständigej, das heißt Personen die außerhalb akademischer Institutionen arbeiten, und jSchriftstellerinj positioniert – akademische Geschlechterforschung ist nicht der Hauptberuf. In Abbildung 11 verdeutlicht eine Auswahl der erwähnten Merkmale727 die oben knapp beschriebene Struktur der zweidimensionalen Annäherung an den Forschungsgegenstand in grafischer Form. Es sind dies die Verwendungen der Begriffe ›Osten‹, ›Westen‹ und Feminismus, die Verwendung des Wortes ›Wir‹, Disziplinen, Nationalitäten, Forschungsthemen, Konferenzen, berufliche Positionen und Institutionen. Es fällt auf, dass von Feminismus in unterschiedlichen Weisen nur in der linken Hälfte der Grafik, das heißt in der Dominiertheit der ersten Dimension die Rede ist. In der russischen Geschlechterforschung spielt Feminismus offenbar eine größere Rolle als in den Russian Studies beziehungsweise der Slawistik oder Osteuropageschichte. ›Osten‹ und ›Westen‹ sind dagegen nur in der oberen Hälfte des Diagramms zu finden, also im Bereich der Dominanz in der zweiten Dimension, in der intensivere Auseinandersetzung mit dem jeweils ›Anderen‹ stattfindet. Diese zweidimensionale Struktur wird nun anhand ausgewählter Interviews erläutert. Das Auswahlkriterium für die beschriebenen Praktiken ist nun nicht mehr der Beitrag zur Variation – die Frage ist nicht mehr, inwieweit ein Merkmal oder eine Untersuchungseinheit eine oder mehrere Dimensionen erklärt. Vielmehr ist nun die Frage: Wie gut ist das Merkmal oder die Untersuchungseinheit 727 Bei dieser Auswahl wurde nur auf die Positionierung, nicht auf den Beitrag zur Varianz der Dimension, geachtet.
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Abb. 11: Flächengrafik – Ausgewählte Merkmale Abkürzungen in der Grafik, alphabetisch: ausld: ausländische, F-Thema: Forschungsthema, Fach: Fachdisziplin Respondent_in, I: Institution, Konf: Konferenz, SU: Sowjetunion, Polit: Politische, Pos: berufliche Position, ru: russisch, sowj: sowjetisch, Stud: Studierende, univ : universitär, westl: westlich
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durch die Dimension erklärt.728 Die folgende Grafik zeigt die Positionierung der Interviews in der Fläche. Jene, die durch die erste Dimension besonders gut erklärt werden, sind fett gedruckt, jene, die von der zweiten besonders gut erklärt werden, sind unterstrichen.729
Abb. 12: Interviews in der Fläche
7.1
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Treffen britische oder amerikanische Russlandforscher_innen auf russische Geschlechterforscher_innen, die sich mit Themen beschäftigen, die eine Anknüpfung erlauben, so kann es zu Kooperationen kommen. Es handelt sich in der Regel um Vertreter_innen einer nach dem ›westlichen‹ Ausland orientierten russischen Geschlechterforschung und Vertreter_innen einer an Geschlechter728 Oder geometrisch formuliert: Wie adäquat ist die Projektion des Punktes der untersuchten Punktwolke auf die jeweilige Dimension. Die zu berücksichtigende Maßzahl ist dementsprechend der quadrierte Cosinuswert, denn: »Two points close in [two-dimensional, TG] projection may not be close in the whole space.« Le Roux/Rouanet, Geometric Data Analysis, 7. 729 Es empfiehlt sich, bei der Lektüre der folgenden Kapitel immer wieder zu Abbildung 12 zurückzukommen, um zu sehen, wo das eben vorgestellte Interview in der Fläche positioniert ist.
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forschung interessierten Russlandforschung. Das Ergebnis sind etwa gemeinsam besuchte Tagungen, gemeinsam verfasste Artikel oder Rezensionen730 oder sogar gemeinsame Forschungsprojekte.731 Die Perspektive auf die Kooperation ist hier in erster Linie die der britischen und amerikanischen Partner_innen. In den meisten Fällen ist eine solche Zusammenarbeit auch durch starke persönliche Beziehungen geprägt. Oft wird unterstrichen – von russischen Forscher_innen ebenso wie von ihren ausländischen Kolleg_innen –, dass die betreffende Person ganz besonders sei, ihre Art, ihr Denken, ihr Humor und oft auch ihre Sprachkompetenz. Davon zeugen nicht nur diverse Statements meiner Respondent_innen, sondern auch Bemerkungen dazu in Vorworten von Sammelbänden, wie etwa diese von Helena Goscilo: »My friendship with Nadia Azhgikhina over the last four years has become inseparable from my study of Russian womanhood in its contemporary constructions and articulations, which is why I dedicate this volume to her, with love and admiration.«732 Diese Beziehungen kommen in den folgenden Interviewausschnitten stark zum Ausdruck. Die Punktwolke ist hier so strukturiert, dass nahe einer Diagonale durch dieses Viertel der Fläche die Merkmale beziehungsweise Interviews versammelt sind, welche konkrete Projektkooperationen implizieren. Zentrumsferner und nahe an der waagrechten Achse (das heißt eher neutral im Hinblick auf die politische zweite Dimension) liegen die Russian-Studies-Merkmale, also jene, die in der Erläuterung der Dominanz der ersten Dimension733 vorgestellt wurden (siehe Abb. 10). Gleiches gilt für die Interviews, bei denen die Struktur der Punktwolke noch deutlicher sichtbar wird (siehe Abb. 12).
R 10: Gemeinsam Schreiben, gemeinsam Denken R 10, eine britische Forscherin, pflegt bereits seit den 1980er Jahren Kontakte zu russischen Forscher_innen, mit denen sie in unterschiedlichsten Weisen kooperiert. Sie hat an russischen Konferenzen teilgenommen und Russ_innen als Vortragende nach Großbritannien eingeladen. Sie hat die Publikation russischer Arbeiten aus der Geschlechterforschung in englischer Übersetzung in die Wege geleitet und selbst übersetzt. Mit ihrer Positionierung in diesen Konstellationen 730 Vgl. etwa Valentina Uspenskaya u. Julie Hemment, Book Reviews: The Changing Faces of Russian Women’s Studies, in: European Journal of Women’s Studies, 5, 3/4 (1998), 525–529. 731 Vgl. beispielsweise das Oral-History-Projekt über sowjetische Frauen: Barbara Alpern Engel u. Anastasia Posadskaya-Vanderbek, A Revolution of Their Own. Voices of Women in Soviet History, Boulder 1998. 732 Goscilo, Sex, VI. 733 Vgl. dazu Abschnitt 6.1.1 dieses Bandes.
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als »Westerner« oder gar »Western expert« setzte sie sich im Interview auseinander und distanzierte sich auch davon. »R 10: I wasn’t directly researching with them because I wasn’t researching gender issues but I was just trying to kind of facilitate their access to Western audiences TG: But you said you were invited as an expert to to – Dubna [2. Unabhängiges Frauenforum 1992, TG]. R 10: No, no, I was not an expert I was invited as a – as a friend and colleague who is interested in gender, gender issues […]. But I wouldn’t say I was there as an expert – I was a facilitator.«734
Was dagegen die genannten experts tun, beschrieb sie und grenzte diese Praktiken davon ab, was akademische Forschung ist oder sein soll: »R 10: I think people who do Russian studies are – not always, but usually – more sensitive to the environment, they should be [laughs] to start with, they can communicate properly and if there are problems, they can resolve them linguistically which is very important but there [loud], I think that – the chief culprits are that people who are going on the EU TACIS grants and so on – and all of these grants that have, you know, a conscious policy implementation. Know-how transfer was the phrase in the UK which was dreadful, you know, the idea was you sent in experts who transferred know-how through a range of training exercises – I mean it’s just not something – that academic research is about, I don’t think so, and it does cause an awful lot of resentment.«
R 10 machte selbst negative Erfahrungen in britisch-russischen Forschungsprojekten, insbesondere solchen, die aus Mitteln der Europäischen Union gefördert wurden, denen, wie schon im obigen Ausschnitt anklingt, eine ungerechte Rollenverteilung zwischen Russland und dem ›Westen‹ inhärent ist. Dabei setzen mitunter Ost-West-Hierarchien akademische Hierarchien außer Kraft. »R 10: It so clearly had a – a power relationship built into it which was, you know, there are three Western partners and then there are lots of Russian partners, they are the ones that are paid to do this kind of data gathering, and I still say I would like to think we did it differently – and certainly you know that the Russian researchers, they were very, you know, well, senior to me in terms of their own professional development, so they certainly had a strong impact on the on the project but – it was very unsatisfactory in the way that it worked.«
R 10 erklärte, dass es aus ihrer Sicht keine Förderstrukturen gab, die Russ_innen und ausländische Kolleg_innen als formal gleichberechtigte Projektpartner_innen zusammenarbeiten ließe: »R 10: I mean, what we really need for a good collaboration is some kind of – grantmaking body which actually treats people as equals. I mean you either get the American 734 Das vollständige Zitat ist unter 6.1.1 zur Variationsrichtung ›Russian Studies‹ wiedergegeben.
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ones which tend only to fund the Russians – because they think we should only be putting money directly at source, or you get the kind of UK type of institutions or EU institutions which won’t give money to Russians, which only give it through EU member countries or you have to be a principal applicant who’s got a full time job in this country in the UK, so you can’t, for example, build in a co-applicant from – Russia so that the resources are split in an equal way, so you feel, you know, that structurally as well as within the research team that they are equally represented in the project, and I don’t know if any funding agencies allow that to take place in resource terms and you can fudge it but you are always, you know, the principal applicant on the grant, and therefore the kudos that goes with the research is still put in the hands of the Western researcher.«
Die folgende Interviewpassage über ein Forschungsprojekt mit einer russischen Kollegin enthält einige der wiederkehrenden Motive, die in Erzählungen über Kooperationen zwischen russischen und ›westlichen‹ Forscher_innen auftauchen: Die involvierten Personen verstehen sich persönlich sehr gut, die Kommunikation war bis zum Ende der 1990er Jahre eine komplizierte Angelegenheit und vor allem war wesentlich, persönlich miteinander zu sprechen. »R 10: I’d met her at – some British council interview and realised that her interests were very close to mine. I mean at that time it was [laughs], there would be no normal communication with the provinces at all, so I literally sent [laughs] a handwritten letter to her and put it in the post to [city] and two months later she responded. You know, we just started communicating about our interests I then – I was about to start a project on – refugees and forced migration and I went out – just to visit her for a couple of weeks to discuss whether she’d be interested in collaborating on that and we just got on so well, we did that project together and then we just kind of developed those kinds of joint collaborative projects and so on.«
Es wurde stets auf ausreichend lange Phasen der direkten Zusammenarbeit während der Projektlaufzeiten geachtet. »R 10: We’ve been successful in getting a number of grants and so that’s facilitated – me spending periods of research time there and then them coming over and doing research, and we always built that in so that we actually spent, you know, probably – two or three months of every year working together in some way either there or here.«
Die Arbeit vor Ort mit einer ausländischen Mitarbeiterin (also mit R 10) erregte Verdacht und Unmut bei den lokalen Verwaltungsbehörden. Auch der Geheimdienst interessierte sich für die Aktivitäten des internationalen Forschungsteams. Interessant ist hier, dass gewissermaßen von Widerständen des Forschungsobjekts Russland – vertreten durch lokale Behörden – gegen seine Objektivierung berichtet wird und dass die beschriebenen Einwände implizie-
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ren, dass Forschung etwas mit der Lösung sozialer Probleme735 zu tun haben müsse. »R 10: I mean that’s one of the complications you always get with both Gender Studies and as a sociologist, if you go and study in Russia, then one of the first things people say is, you know, especially people in in local government, ›Why are you studying us?‹ They assume that you come to study them because they have got a problem that you haven’t got, and they would spend a long time telling me, ›Well, you know women aren’t necessarily equal in the West, you haven’t solved all your problems or there are unemployed youths in Britain, why don’t you go study them, why would you want to come and show us our problems?‹, and that is a real barrier.«
Die russische Kollegin, eine typische »besondere Person«, fand immer wieder Auswege: »R 10: Right at the start the problem was the environment in [city] which was very restricted. But [name colleague] has never confined herself to [laughs] to the external [laughs] environment so she is a very creative thinker and so – just because we thought very similarly, we kind of just ignored the barriers that were there, I mean we have had problems doing the kind of projects we wanted in that environment, but she’s always found a way of bypassing the authorities effectively.«
Die überwiegend positive Beschreibung bedeutet nicht, dass diese Zusammenarbeit konfliktfrei verlief. Man hatte Auseinandersetzungen über die Wahl der Forschungsmethoden (qualitativ oder quantitativ) oder über die Geschlechterratio im Projekt: Das Forschungsteam bestand ausschließlich aus Frauen, und R 10s russische Ansprechperson erwog, auch einen Mann mit ins Team zu nehmen, um mehr Akzeptanz seitens eines konservativen akademischen Umfeldes zu erzielen. R 10 sprach sich entschieden dagegen aus, jemanden wegen seines Geschlechts einzustellen. Wie diese konkrete Auseinandersetzung ausging, erzählte R 10 nicht, allerdings bemerkte sie, dass die Ansichten ihrer Kollegin den ihren mit der Zeit ähnlicher geworden waren. Mit Hierarchien, die solchen Forschungskooperationen inhärent sind, versuchen R 10 und ihre Kollegin möglichst reflektiert, produktiv und dennoch pragmatisch umzugehen. »R 10: I still try to see myself as a Westerner in Russia but because I have a very good working relationship with [name colleague] we can challenge each other and build that into the project and because it’s a long term collaboration there’s no sense in which – I mean I have seen inequalities in this relationship because – I mean she obviously she gets her own grants and does her own work but the grants that we do together have been funded by the West and even though we challenge a lot of Western agendas, we still to some extent have to conform to that.«
735 Siehe dazu 6.2.1 und die dort vertretene Sichtweise auf Geschlechterforschung.
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R 17: »It was a matter of a different understanding of scholarship for one thing, but also just fixing the grammar.« R 17, US-amerikanische Forscherin, erzählte in ihrem Interview über unterschiedlichste Spielarten von Kontakten mit Russland und russischen Forscher_innen. Sie hat nicht in gemeinsamen Projekten geforscht,736 jedoch Forschungsreisen nach Russland unternommen, eine Tagung in Russland mitorganisiert und an russischen Universitäten gelehrt. Ein Teil ihrer Erzählung betrifft das Zustandekommen eines von ihr koordinierten und herausgegebenen Sammelbandes aus dem Bereich der Russian Women’s Studies mit sehr vielen Mitautor_innen aus zahlreichen Ländern. »R 17: It generally worked out well, but there was a great deal of work to do – on the articles of people from all over whose native language was not English. It was a matter of – a different understanding of scholarship, for one thing, but also just fixing the grammar – and – phrases, you know, etcetera, some required relatively little – editing but some required an extraordinary amount of editing. TG: I see – getting the grammar right is tedious but I think it’s much more trickier if there are different understandings of scholarship, like you said – what was that for instance? R 17: Well, I think in terms of the different understanding of scholarship, I think that – some of the scholars, and this would apply to people in – all countries, not specific, you know, could be the United States – some would think they could just write something from the top of their heads without even doing scholarly research and some people just did not have a good grasp of how to put together – a compact article.«
Wie aus diesem Statement ersichtlich, müssen unterschiedliche Auffassungen von Wissenschaft nicht (nur) an nationalen Eigenschaften festgemacht werden. Die angesprochene Herausgeberinnentätigkeit fand um das Jahr 2000 herum statt. R 17 war allerdings schon früher in Russland, etwa als Mitorganisatorin einer amerikanisch-russischen Konferenz zum Thema Frauenforschung in den frühen 1990er Jahren. Auf meine Frage, wie sie die russische Geschlechterforschung damals wahrgenommen hat, antwortete sie: »R 17: It was – very much of a Russian orientation and I would not say it was sort of in keeping – with Western Gender Studies, more Russian, and I think one of the things I’ve learned in working with Russia is – don’t expect to find it – fitting in neatly into Western concepts. And, you know, although there is a methodology in Western Gender Studies, the orientation still differs greatly from country to country but in Russia the orientation differs and the concept differs and the approach differs. TG: In how far would you say – I mean that’s a big question of course, but – is there 736 Das ist kein Widerspruch zu der Platzierung des Interviews in einer Variationsrichtung, die ›Projektzusammenarbeit‹ benannt wurde, zumal es relativ nahe an der Neutralität hinsichtlich der ersten Dimension positioniert ist.
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anything you could put your finger on? R 17: – Well, the Russians, I think, in some sense are still uncomfortable – with foreigners and maybe we are all the same, with foreigners who profess to be specialists about their country, so that’s, I think, part of it, you know.«
Sie räumte ein, dass das wohl nicht nur in Russland so sei: »If I come to Austria – and I tell you I’m a specialist on Austria – you’re going to wonder how much of a specialist I am!« Augenscheinlich maß sie die (frühe) russische Geschlechterforschung an deren Übereinstimmung (»in keeping with«; »fitting in neatly«) mit ›westlicher‹ Geschlechterforschung, weil das in diesem Kontext und aus ihrer Sicht der legitime Maßstab war. Ihr Eindruck war dabei, dass russische Forscher_innen einerseits die Errungenschaften der ›westlichen‹ Kolleg_innen anerkennen, andererseits auch darauf bestehen, dass nunmehr sie an der Reihe wären, über Frauenbewegung in Russland und andere einschlägige Themen zu arbeiten. »R 17: When I first went – in the early nineties to give lectures, when Gender Studies began to open up, I gave a lecture at one of the big Gender Studies Institutes – and I overheard some of the women say – and one of them brought it up openly in the seminar that isn’t it amazing – that the foreigners – have been studying our history and tradition in areas where we ourselves have not studied yet, and it was that acknowledgement, you know, but that was also in the sense that we should now study it. It was kind of hidden there, but it was also – ›and now it’s our turn‹.«
»R 13: How can they possibly [understand] if they don’t immerse themselves in it?« R 13 ist eine britische Forscherin, die seit langer Zeit immer wieder zu Studienund Forschungsaufenthalten in die Sowjetunion beziehungsweise nach Russland reiste. Russland faszinierte sie seit Langem: »R 13: Once you get there, you are hooked. I mean, there’s something very magical about Russia.« Obwohl sie niemals mit russischen Kolleg_innen zusammen geforscht hat, verfügt sie über eine Menge an Kontakten und Erfahrungen in Russland. Im Interview vertrat sie den Standpunkt, dass für die Forschung über Russland Sprachkenntnisse ebenso unerlässlich seien, wie sich konkret der russischen Realität auszusetzen. »R 13: Well, I think it’s just the simple point really that you should never assume anything about another political system or the people in it, especially their attitudes – without speaking to them first. So it’s very easy to sit here – well the simple example is– various crises that have happened in Russia, you know, I was there during one of them – it must have been – spring ’93, I think, when here there was extreme worry and headline news that the political system was collapsing – Jelzin was going to fire the government, he was going to walk out of the Supreme Soviet as it was then, and there, you know, it wasn’t a big issue if you were actually there. The biggest issue on the mind of Mos-
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covites was the fact that rumors spread through the city that the price of the metro was going to go up, and – so what they did was they queued at the metro again and again and again to stockpile the little tokens, because they were going to be more expensive, you know, the next week, and it was just – such a good example what a huge disparity there was between what’s on people’s minds and what the West is saying is on people’s minds.«
Sie verwendete dafür das Bild des völligen Ein- beziehungsweise Untertauchens (immersion): »[I]t’s not necessarily what’s going on in your mind if you’re miles away – I mean it’s a bit like, you know, us expecting that Russians – or Russians expecting that they understand Britain without ever coming here – I mean how can they possibly know if they don’t immerse themselves in it, so the point is really about immersion – you’ve got to talk to people to know where they’re at – it’s that simple. And it’s when you start talking to them that you realize – how that perceptions vary, but also how there are subsets of perceptions on different issues, so how different Russians will have a different take on a given issue – and the variety of responses on an issue can also surprise you.«
Es geht also um das genaue Hinsehen und Hinhören, um das Dortsein, um mitzubekommen, was vor Ort wichtig ist, nicht das, was für den ›Westen‹ – in diesem Fall britische Journalist_innen – real und relevant ist. Vor dem Überstülpen eigener Wertvorstellungen über fremde Kontexte sind, betont sie weiters, gerade auch ›westliche‹ Feministinnen nicht gefeit: »R 13: And another just very obvious example from the women’s field is – this whole thing about many Western feminists saying to Russian women, you know, you’re trapped in the kitchen you know men should cook with you, should share fifty percent – cooking and, you know, many Russian women would be aghast about it and say, ›But you’re taking my power away, it’s in the kitchen where I have my power base, that’s where I decide!‹ – and again that’s a very different perception, so it’s just about being very careful – not to assume that what’s obvious to you, the researcher, is really so. Once you are there, there’s a whole different set of values so it’s never really taking your norms and values with you, although you take your moral judgements and you take your own – values with you but, you know, just don’t impose them.«737
Es ist gerade diese Sensibilität, die aus viel Erfahrung im Umgang mit Russland und Russ_innen erwächst, die R 13 von den übrigen britischen Russlandforscher_innen in der Fläche unterscheidet. 737 Dieses Statement zu Feminismus und Arbeitsteilung im reproduktiven Bereich steht in auffälligem Kontrast zu Ol’ga Lipovskajas Ansicht: »So I think that the start, at least, should be in women’s homes, to change their men, to make them more caring and responsible for child care, for home chores and for other things. Soviet women should learn from the start to share domestic tasks equally.« Interview Lipovskaia, 8. Dieses Interview ist in der entgegengesetzen Variationsrichtung (Gender Studies nebenberuflich) positioniert.
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»R 15: The idea of collaboration […] if possible on an equal basis.« R 15 ist ein britischer Sozialwissenschafter, der sich kaum mit Geschlechterforschung befasst, aber über Russland forscht und seit vielen Jahren speziell mit einer russischen Kollegin erfolgreich kooperiert. In seinen Erzählungen über diese Erfahrungen kam stark zum Ausdruck, wie kompliziert es sich gestalten kann, wenn man bemüht ist, die Kooperation fair und egalitär zu gestalten. »R 15: I think one just has to be aware of, that – a lot of people in Eastern Europe for quite understandable reasons simply want a relationship with a Western partner for all sorts of, you know, non-scientific reasons. For example, we can probably obtain funding more easily than they can and you develop almost a sort of patron-client relationship with people in the region, which isn’t helpful. It particularly isn’t helpful if the relationship within the project is not an equal one. I mean, I’ve tried, as far as possible in my own case to make sure that – people are paid what they would be paid if they’re in Britain and that they don’t simply gather data and we in the West write it up, and that we share the writing and thinking and conference performances and things of that sort.«
Das folgende Zitat unterstreicht einerseits die Überzeugung des Respondenten, dass es für Forschung über Russland unerlässlich ist, die Landessprache zu beherrschen und das Land auch zu besuchen. Andererseits grenzte er sich (ähnlich wie R 10) wiederholt von der unschönen Sitte ab, russische Forscher_innen zu Datenlieferant_innen zu degradieren. Nicht nur, weil das unfair, sondern auch, weil eine solcherart organisierte Arbeitsteilung der Qualität der Forschung abträglich ist. »R 15: [Q]uite a lot of people for example are quite happy to arrange for – survey work to be done and are simply sent SPSS files, and that’s the end of it, and they may not even know Russian, but if you want any element of qualitative work – I mean, I’m a student of Russian at least as much as a student of politics – and I actually like to go there, strangely enough, and I spend quite a lot of time there now and again, so I’m quite keen on that. I think as well, if you have in mind not to give people work to do for you, for which they’ll be paid, but have the idea of cooperation, of collaboration or something that’s shared, if possible on an equal basis, then it’s a different sort of matter and in that case you are likely to be involved in joint presentations at conferences, for example, which we’ve certainly done two or three times – two or three times here at Western conferences usually [name colleague] speaks Russian and I translate – that’s how it happens.«
Für R 15 ist also Fairness zentral. Im Gespräch äußerte er Unbehagen über die Struktur der Zusammenarbeit und skizzierte Strategien zu deren zumindest teilweiser Überwindung.
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7.2
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Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit)
Gendernye issledovanija bedeutet in direkter Übersetzung Gender-Forschungen. Der Begriff ist in Russland der am häufigsten gebrauchte, wenn die Rede von sozial- und geisteswissenschaftlicher Geschlechterforschung ist. »In Russia, it was not feminist nor women’s but gender studies that became the most widespread. Gender studies is seen by both political or academic authorities and researchers as more academic and less ideologized than feminist studies. Gender studies (unlike feminist projects) has received considerable support from Western and also, as of recently, Russian foundations.«738
Begrifflichkeiten wie feminologija (Feminologie) oder zˇenskie issledovanija (Frauenforschung) kommen vor, aber weniger häufig, wie eine russische Respondentin berichtete: »R 5: Es ist kein Zufall, dass bei uns eben diese Gender Studies [als Begriff, TG] verwendet werden, nicht aber der Begriff Feministische Forschungen und TG: dann gibt es ja noch feminologija R 5: Ja, aber feminologija wird jetzt [2002, TG] praktisch gar nicht mehr verwendet, dieser Begriff, jetzt wird er durch genderologija abgelöst, ja sogar schon im Ministeriumsstandard.«
R 5 führt diese Begriffsverwendungen an, um darauf hinzuweisen, wie unpopulär Feminismus im russischen akademischen Umfeld ist. Ihrer Beobachtung nach, verstecken viele russische Forscher_innen die feministischen Ursprünge und Hintergründe von Gender Studies hinter einer neutraler klingenden Begrifflichkeit. Für eine andere aus Russland stammende Respondentin steht der Begriff genderologija für die von ihr abgelehnte Trennung zwischen Geschlechterforschung und Feminismus: »R 12: They are already teachers, you know, that’s a serious problem because they at the same time try to divorce Gender Studies from feminism, from this activism. They try to find their own – categories, their own name for what they do, like genderology.«739
Im Russland des beginnenden dritten Jahrtausends findet man im Wesentlichen zwei Richtungen von Gender Studies,740 wobei eine solche Zweiteilung die Sozialwissenschaften in Russland generell charakterisiert.741 Eine der Richtungen ist methodisch und theoretisch an ›westlichen‹ Standards orientiert und poli738 Voronina, Feminist Philosophy, 255. 739 Diese Trennung von Gender Studies und Feminismus wird auch von einem der Teilnehmer an einer Diskussion über postsowjetische Geschlechterforschung im Jahr 2009 vertreten, ˇ to zˇe takoe. vgl. C 740 Näheres dazu in Kapitel 4.1. 741 Vgl. Gapova, Zerkalo und Kapitel 3.5 in diesem Buch. Für die Geschlechtergeschichte in Russland gilt Analoges, vgl. Pushkareva/Zolotuchina, Trends.
Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit)
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tisch engagiert, die andere eher traditionell und dezidiert nicht feministisch ausgerichtet. Teilweise, aber nicht konsequent wird die zweite Richtung als feminologija oder genderologija bezeichnet. Auf die hier vorgestellte Fläche, den zweidimensionalen Raum der Möglichen transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung, umgelegt, bilden diese beiden Trends den Bereich von gendernye issledovanija ab, wobei der erstgenannte eher im Übergang zur doppelten Dominanz (also nahe der senkrechten Achse), der zweite dagegen eher Richtung doppelter Dominiertheit (also nahe der waagrechten Achse) verortet ist. Im Folgenden werde ich anhand von Interviews, die für diesen Bereich besonders relevant sind, auf die entsprechenden Praktiken hinweisen. R 23: Frauenbewegung und Geschlechterforschung zur Lösung gesellschaftlicherProbleme Dieses Interview ist in der Variationsrichtung sehr extrem positioniert (also weit vom Zentrum entfernt, siehe Abb. 12). Die Respondentin beschrieb das Einsetzen ihres frauenpolitischen Engagements zu Beginn der Perestrojka, das sie dann zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschlechterthemen geführt hat. Die unter Michail Gorbacˇev wiedereingeführten Frauenräte waren zu dieser Zeit sehr aktiv und viele bestanden nach dem Ende der Sowjetunion weiter, wenngleich unter geänderten Namen. Die neue russische Frauenbewegung, zu der sich auch viele der feministischen Geschlechterforscher_innen (z. B. Anastasija Posadskaja) zählten, positionierte sich als unabhängig, in Abgrenzung von der offiziellen, top-down organisierten Frauenbewegung. Nicht so diese Respondentin: »R 23: Ich bin ein aktiver Mensch und nehme im Leben eine aktive Position ein. Und mit dem Beginn der Perestrojka lebt die Frauenbewegung in Russland wieder auf. Es sind da zu dieser Zeit wirklich viele zivilgesellschaftliche Initiativen der unterschiedlichsten Richtungen entstanden. Ich habe auch daran teilgenommen, obwohl ich kleine Kinder hatte. Na, das war für uns eine Zeit der Euphorie, der Freiheit, wir wollten unsere Gesellschaft zum Besseren verändern, und es schien, als hätten wir sehr viele Möglichkeiten. Das war eine Zeit für aktive Leute, und so leitete ich den Frauenrat, war Mitglied im Präsidium des Frauenrates von [Stadt von R 23]. Dann, im Jahr 1992 organisierte ich das wissenschaftliche Zentrum [Name des Zentrums]. Wozu? Es ist klar, dass der Prozess des Wiedererstehens der Frauenbewegung viele Fragen aufwarf: Was ist die Frauenbewegung? Wozu ist sie gut? Welche spezifischen Probleme gibt es? Bei uns in der Sowjetunion ist die Frauenfrage als gelöst deklariert worden. Uns war klar, dass nicht alles gelöst ist, dass wir unsere Probleme haben.«
Der Übergang vom Engagement, das die »Gesellschaft zum Besseren verändern« sollte, zur Forschung über Frauen wird als logisch, ja notwendig dargestellt. Die
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
Forschung auch einen klaren Zweck: Sie soll aufzeigen, inwieweit die Frauenfrage (noch) nicht gelöst ist »R 23: Da dieses wissenschaftliche Zentrum ja auch eine Organisation war – eine Manifestation einer zivilgesellschaftlichen Initiative –, suchten wir damals den Austausch mit analogen internationalen Organisationen, um nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu sehen: Was ist schon geschehen und was können wir vielleicht übernehmen und anwenden. Wir wollten nicht lange gehen, irgendjemandes Weg wiederholen, sondern wir wollten uns die gesammelte Erfahrung anschauen, damit wir schneller – die Menschen wollen immer alles schneller haben – unsere Situation wirklich zum Besseren ändern konnten.«
Für R 23 ist die Kommunikation (obsˇcˇenie) mit Leuten aus aller Welt enorm wichtig.742 Sie tritt der Welt gegenüber selbstbewusst auf, auch wenn kleinere oder größere Unzulänglichkeiten der (post-)sowjetischen Gesellschaft durchaus bei ihrem Namen genannt werden. Über frauenpolitische Ziele hinweg formulierte sie zudem ein generelles Ziel: nie wieder Krieg. »R 23: Nachdem unsere Familien (meine und die meines Mannes) sehr viel im Krieg verloren haben, und die Schwiegermutter 900 Tage in der Blockade war, ist mein Hauptziel: keine Kriege mehr. Ich bin gegen jeglichen Krieg. Insbesondere, weil ich als Historiker weiß, dass uns mehr mit Europa verbunden hat. Wir haben materielle und geistige Werte geschaffen, sie gemeinsam entwickelt. Und ich will weder die Wiederholung des Faschismus in Deutschland noch des Stalinismus in meinem Land. Ich will ruhig in die Zukunft schauen, umso mehr, als ich Kinder habe. Das Wichtigste sind Frieden und Zusammenarbeit.«
Es lässt sich feststellen, dass in den Statements von R 23 – mehr als bei allen anderen Respondent_innen – Politik und internationale Kontakte im Vordergrund stehen, zuungunsten von Wissenschaft.
R 1: Gender Studies in der Provinz etablieren R 1 hat in den 1990er Jahren an der Universität einer russischen Provinzstadt ein sehr aktives Zentrum für Geschlechterforschung etabliert. Mit ihrem Interesse für die russische Frauenbewegung und für russischen Feminismus war sie über lange Zeit eine singuläre Erscheinung. Ihre Interessen evozierten vielfach spöttische Bemerkungen. Sie beschrieb sich selbst in den 1970er Jahren so: 742 Es war in diesem Interview sehr stark zu merken, dass die Respondentin eine Spezialistin der obsˇcˇenie ist. Sie erzählte sehr plastische Episoden, in einer Art und Weise, die den Eindruck vermittelte, dass diese Erzählungen schon mehrfach erprobt waren. Ihre Art zu erzählen war sehr eindringlich. Sie setzte auch sprachliche Mittel ein, um die Aufmerksamkeit der Interviewerin zu fokussieren, etwa indem sie rhetorische Fragen stellte oder Fragen, auf die die Interviewerin dann antworten musste.
Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit)
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»R 1: Ich war ein sehr verschlossenes, typisches akademisches Fräulein, das in der Bibliothek saß und unbedingt wissen wollte, was denn Feminismus sei – bei uns gab es keinen. Im alten enzyklopädischen Wörterbuch der Stalin-Epoche fand ich, dass das eine reaktionäre bourgeoise Strömung sei, die dazu bestimmt sei, die arbeitende Frau abzulenken et cetera.«
Seit den frühen 1990er Jahren war sie wiederholt im Ausland, um zu forschen, zu lehren oder Gastvorträge zu halten. Eine Erkenntnis aus ihren internationalen Erfahrungen war, dass Studierende und generell das universitäre Milieu auf der ganzen Welt gleich seien. »R 1: Überall die gleichen, überall! [lacht] Ich hielt in Amerika voriges Jahr zwei Kurse, dort hatte ich – am Lehrstuhl für Soziologie einen und noch einen an einem anderen. Sie waren sehr unterschiedlich, es gab völlig gleichgültige Leute, die einfach ihre credits [Englisch im Original, TG] brauchten, die, die es bei ihnen gibt, und es gab solche Studenten, mit denen ich immer noch korrespondiere und denen ich irgendwas bei ihren Forschungsarbeiten helfe, genau dasselbe wie hier. [lacht] TG: Das heißt, es gibt überall unterschiedliche R 1: Ja [lacht]. Gerade was das universitäre Milieu betrifft, und ich kenne nur das, andere kenne ich nicht. Ich kenne nicht die Welt des Business, ich kenne nicht die Welt der Boheme, ja, ich kenne nicht die Welt des Verbrechens [lacht]. Ich kenne eben nur dieses Milieu und je länger ich lebe […], sehe ich, dass diese unsere Welt überall dieselbe ist.«
Mit dieser Haltung kann man ein Zentrum für Gender Studies etablieren, ohne unbedingt internationalen Vorbildern nacheifern zu müssen. Zumindest war R 1 aus eigener Erfahrung klar, dass es auch in den USA provinzielle Universitäten gibt und dass es darüber hinaus, unabhängig vom Standort, provinzielles (im Sinne von engstirnigem, wenig weitblickendem) Denken gibt. Für R 1 war besonders wichtig, dass die Gründung eines Forschungszentrums ein gemeinsames Unternehmen sein musste, und sie sprach mit viel Sympathie von ihren jungen Kolleginnen: »R 1: Das waren vor allem meine ehemaligen Studentinnen, aus denen tolle Forscherinnen geworden sind. Wenn Sie die Möglichkeit haben, sie zu treffen, wir werden ein Seminar haben, bei dem sie einige ihrer neuen Forschungen präsentieren werden. Hier bei uns hat es sich von Anfang an so ergeben, dass sich ein Team formiert hat. Das heißt, nicht einfach wie es manchmal der Fall ist: ›An unserer Universität gibt es eine Person‹, und das ist alles zu Gender Studies und Frauenforschung. […] hier hat sich ein fröhliches Team gebildet, und ich mag es so sehr, weil sie professionell arbeiten, weil sie Fachfrauen743 sind, und mir ist es immer eine Freude, sie zu sehen, weil sie so kluge Köpfe sind.« 743 Im Original professional’ki – ein seltener Fall der Verwendung der grammatisch weiblichen Form.
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Damit Frauen- und Geschlechterforschung an dieser Universität bestehen kann, wurde auf Vernetzung und Dezentralität gesetzt. »R 1: Praktisch an allen Fakultäten haben wir ›unsere Leute‹, und diese Netzwerkmethode funktioniert wirklich. Die Mitglieder unseres Rektorates, das zum Großteil aus Männern besteht – selbst wenn ihnen das, was wir tun, nicht angenehm ist, so stören sie mich zumindest nicht. Und ich denke, dass das ein Resultat unserer Zusammenarbeit ist. Dieser Respekt ist auch darauf begründet, dass ausländische Professorinnen an die Universität kommen, was prestigeträchtig ist.«
Die ›Unterwanderung‹ der Universität geschah auch mittels Kursen für Lehrende zur Sensibilisierung für Geschlechterfragen. »R 1: Zum Beispiel haben die Lehrenden nicht den Sexismus in einem Soziologielehrbuch erkannt: ›Ein Mensch kann eine Ehefrau, ein Haus und Kinder haben.‹ Sie sagen: ›Und was soll da sein?‹ Und ich antworte ihnen: ›Und kann ein Mensch auch einen Ehemann haben?‹ So haben sie es dann auch kapiert. Und so ist es überall! Und als sie das gesehen haben, begannen sie, nachzudenken. Einige haben beschlossen, in die Bibliografien ihrer Lehrveranstaltungen aus Soziologie Feministische Forschungen aufzunehmen.«
Das Zentrum, in dem R 1 arbeitet, diente ausländischen feministischen Forscherinnen vielfach als Anknüpfungspunkt. Eine dieser Frauen wurde dann vor Ort aktiv – nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht: »R 1: Sie hat bei uns unter anderem Krisenzentren erforscht, die damals gerade begannen, gegründet zu werden, aus der Perspektive des Gewaltproblems: Wie reagiert die Gesellschaft, verkörpert durch Frauen, darauf und wie versucht sie, sich zu schützen? Und zur selben Zeit entstand bei uns die Idee, feministische Methoden nicht nur zu erforschen, sondern auch zu versuchen, sie in der Gesellschaft anzuwenden. Und sie [die Gastforscherin, TG] war so stark in unser Milieu eingetaucht, dass in der wichtigsten Lokalzeitung ein Artikel mit dem Titel ›Unsere [Vorname Gastforscherin]‹ veröffentlicht wurde. Sie kam jedes Jahr zu uns und wir schafften es doch tatsächlich, den Bürgermeister für unsere Idee der Eröffnung von Krisenzentren ›breitzuschlagen‹, noch bevor Förderungen aus dem Ausland kamen.«744
So stellte auch R 1 eine Verbindung zwischen Frauen- und Geschlechterforschung und frauenpolitischem Engagement her, ohne das aber (wie R 23) im Interview explizit programmatisch herauszustreichen.
744 Die Erzählung von der Gastforscherin, die »in unser Milieu eingetaucht« ist, erinnert an die Statements von R 13, die aus der Position einer britischen Russlandexpertin (in der Fläche: Variationsrichtung Gemeinsame Projekte) fragt: »How can they possibly [understand Russia, TG] if they don’t immerse themselves in it?«
Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit)
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R 30: Wissenschaftlicher Aktivismus Eine Verbindung zwischen dem Sich-auf-Lenin-Berufen und einer an der internationalen Scientifc Community orientierten Geschlechterforschung findet man im folgenden Statement einer Respondentin, die in der ersten Dimension annähernd neutral (Kooperation) und in der zweiten mäßig dominant (am Ausland orientierte Frauenpolitik) positioniert ist: »R 30: Es wurde irgendwann einmal in der russischen Wissenschaft sehr oft die berühmte Phrase von Lenin verwendet, dass ›dieses Buch mich umgepflügt‹ hätte. Das ˇ ernysˇevskijs ›Was tun?‹. Und so hat mich die Bekanntschaft mit der sagte er über C Literatur aus Gender Studies umgepflügt. Ich habe meinen Blick auf das, was ich davor getan habe, völlig verändert und habe begonnen, über etwas ganz anderes zu schreiben. Und das hat natürlich nach Kontakten mit Leuten im Ausland verlangt, die ebenfalls von der traditionellen Historiografie abgehen und zur Auseinandersetzung mit Gender Studies übergehen wollten.«
Die Beschäftigung mit Gender Studies hatte also einen revolutionären Effekt auf R 30 als Forscherin. Sie interpretierte die Lektüre auch als Aufforderung zu – wie sie es nannte – »wissenschaftlichem Aktivismus«. Damit meinte sie nicht politischen Aktivismus (auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse), sondern vielmehr den Aufbau von tragfähigen Netzwerken, die Geschlechterforschung als Sache der nachhaltigen Zusammenarbeit ermöglichen. Ihre eigene akademische Etabliertheit beschrieb sie als Verpflichtung – auch und insbesondere im Hinblick auf die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. »R 30: Ich sehe jetzt, dass ich mich – in dieser Lage und mit diesem Status, den ich jetzt habe – diesem wissenschaftlichen Aktivismus widmen muss: Sich mit der Etablierung dieser Projekte beschäftigen und möglich machen, dass eine größere Zahl von Forschern, die jetzt schon meine Schüler, meine Studenten, meine Doktoranden und Habilitanden sind, dass sie sich in diese wissenschaftlichen gemeinsamen Projekte einklinken können. TG: Das heißt, die Situation hat sich verändert? R 30: Die Situation hat sich in diesen Jahren sehr verändert, vor allem dank dem Westen, weil es eine große Rolle gespielt hat, dass auf dem russischen wissenschaftlichen Markt westliche Stiftungen aufgetaucht sind, die Anträge begutachten und unter anderem auch dieses Thema als prioritär unterstützen konnten. Auf der Liste der Themen waren Menschenrechte, Demokratie, auf der Liste waren human rights, Frauenrechte als Menschenrechte. Das wurde unterstützt, und dank dessen entwickelt sich diese Richtung.«
R 30 bewertete die Rolle der Förderfonds und deren thematische Schwerpunkte eindeutig positiv.745 Sie ist die Einzige im Sample, die explizit von einem wis745 Das unterscheidet ihre Sichtweise von jener der Kritiker_innen der Agenden von Fördereinrichtungen; vgl. Kotkin, Innovation, 79.
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senschaftlichen Markt im postsowjetischen Russland sprach.746 Die Nähe der von den Stiftungen geförderten Themen zu politischen Agenden ist für sie kein Problem. Im Gegenteil: eine unpolitische Gender-Forschung könnte es für sie gar nicht geben. »TG: Es gibt diesen Standpunkt, dass Forschung eines ist und Politik etwas anderes. Und Feminismus, das ist Politik. R 30: Ja, Feminismus ist Politik. Ich gehöre zu der kleinen Zahl von Forschern, die fest davon überzeugt sind, dass es unmöglich ist, sich mit Gender Studies zu beschäftigen und nicht politisch engagiert zu sein. Ich gehöre zu jener Zahl von Forschern, wie zum Beispiel auch [R 32], [die denken, TG] dass jede Manifestation der eigenen Objektivität eigentlich Nichtobjektivität verbirgt. Deshalb, wenn ein Mensch sagt: ›Nun, ich schreibe die objektivsten Forschungsarbeiten, aber Ihr da seid feministisch engagiert.‹ – Nein, tut er nicht! Es wird einfach einer anderen Ideologie dienen, nicht dem Feminismus, sondern der üblichen traditionellen Ideologie. Meiner Ansicht nach ist nicht die Wissenschaft für sich und die Politik für sich. Wissenschaft hat immer bestimmten politischen Ansichten gedient, eine andere Frage ist, welche genau wir auswählen. Wenn wir über unsere Frauen forschen, dann können wir nicht völlig außerhalb der Politik stehen. Wir sind nicht irgendwo im luftleeren Raum. Deshalb wählen wir aus, welchem Idol wir dienen.«
Sie formulierte damit eine Sicht, die an die feministische Standpunkttheorie erinnert.747 R 30 sah auch Potenziale der Geschlechterforschung, die Gesellschaft zu verändern. Während R 23 nach internationalen frauenpolitischen Erfahrungen Umschau hielt, um die Wiederholung von Fehlern zu vermeiden, schlug R 30 einen Blick in die Geschichte vor. »R 30: Der Konstruktivismus sagt, dass, wenn etwas aus Blöcken zusammengesetzt ist, dann kann man diese Blöcke auch umstellen, man kann sie umbauen. Das heißt, wir können die Gesellschaft so sehen, dass wir in dieser Gesellschaft auch etwas ändern können. […] Dafür erforschen wir die Geschichte, um die Modelle zu kennen, die es in der Vergangenheit gab, um nicht ›auf dieselben Rechen zu treten‹, um nicht die Erfahrung der Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Ich denke, dass Gender Studies enormes Potenzial haben.«
R 32: »Die feministische Thematik kam mir näher« R 32 ist Sozialwissenschafterin. Sie war zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion mit ihrer Dissertation befasst. Auslandsaufenthalte in den frühen 1990er Jahren brachten sie in Kontakt mit amerikanischer und später auch 746 Diesen Marktbegriff finden wir in postsowjetischen wissenschaftssoziologischen Untersuchungen; vgl. Gapova, Zerkalo; Sokolov, Sociologija. 747 Vgl. Sandra Harding, Rethinking Standpoint Epistemology : What is Strong Objectivity?, in: Centennial Review, 36, 3 (1992), 437–470.
Gendernye issledovanija (Dominante Dominiertheit)
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skandinavischer Soziologie, was ihre Forschungstätigkeit veränderte: »Als ich in Amerika den Zustand der heutigen Sozialwissenschaften sah, verstand ich, dass alles, was ich bisher geschrieben hatte, so sehr nicht dem heutigen Niveau entspricht, dass ich beschloss, meine Dissertation nicht zu verteidigen.« Bei diesen Aufenthalten hörte sie auch von feministischer Forschung, die für sie damals etwas ganz Neues war. »R 32: Die feministische Thematik rückte mir näher. Wenn der problemlose Lauf der Dinge im privaten Leben sich zerschlägt,748 dann stimuliert das ein bestimmtes Interesse (obwohl das auch nicht prioritär war). Die theoretische Suche, ja einfach die Suche nach Neuem in den Zugängen, in den Sozialwissenschaften, in der sinnhaften Beschreibung der vorgehenden Änderungen (auf sozialer wie auch auf persönlicher Ebene) war sehr wichtig.«
Solcherart sensibilisiert stellte sie fest, dass sie mit ihrem Interesse an Feminismus nicht allein war : »R 32: Langsam treten Gleichgesinnte und Komplizen auf, sie finden einander. Ein Mädchen, das an unserem Fachbereich studierte […], erzählte mir vom GenderZentrum [unserer Stadt, TG]. Ich ging dorthin und sagte: ›Guten Tag! Ich habe da so ein paar Büchlein gelesen.‹ Sie sagten: ›Oh, wie fein! Erzählen Sie uns von diesen Büchlein!‹ Und ich erzählte von zwei Vorträgen der Autoren (Firestone und Friedan), die ich auf Englisch gelesen hatte, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon fließend Englisch las.«
Auf diesem Wege kam R 32 zur Forschung über frauen- und geschlechterspezifische Themen: »R 32: Die Resonanz [auf das Referat, TG] war sehr lebhaft. Zusammen mit [2 Namen] beschloss ich, eine Studie über die politische Partizipation von Frauen durchzuführen. Sie gaben etwas Geld dafür und das war meine erste Forschung, die ich zur GenderThematik unternahm.«
Die Verknüpfung von sozialwissenschaftlicher Forschung und einer feministischen Haltung blieb für R 32 wesentlich. Und die Suche nach Neuem wurde auch durch die Zusammenarbeit mit Akteur_innen aus anderen kulturellen Kontexten stimuliert: »R 32: Das Wichtigste, das ich von [Name Kollegin] gelernt habe, ist, dass es gut ist, wenn ein Mensch aus einer anderen Kultur, der den Kontext [des zu Erforschenden, TG] kennt, und ein Vertreter eben dieser Kultur zu zweit zusammenarbeiten. In der Regel kann ich die meisten Fragen, die sie interessieren, beantworten, und sie kann eine Frage so stellen, wie ich sie nicht stellen könnte, weil es Routinepraktiken gibt, die zu dieser Kultur gehören, und du kannst sie nicht problematisieren. Nicht, dass du nicht 748 Das bezieht sich auf davor im Interview erwähnte Erfahrungen aus dem privaten Leben der Respondentin.
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
könntest – du kannst natürlich – aber du verstehst nicht, von welcher Seite. Man kann sie von einer Million Seiten problematisieren, aber sie kann es präziser tun. Dieses Prinzip habe ich dann auch in Tadzˇikistan und Armenien angewandt, was mir sehr geholfen hat. Das machen alle so, aber ich tue es bewusst: Ich arbeite mit jenen armenischen Forschern, die auf meine Fragen antworten können und denen ich meine notwendigen Fragen stellen kann. Und ich finde, dass das eine eigene Methodologie ist, über die ich auch meinen Studenten erzähle: Es ist sehr gut, zu zweit mit ausländischen Forschern zu arbeiten.«
Im Interview mit R 32 finden sich Passagen, die eher der Richtung gendernye issledovanija entsprechen – besonders jene über die frühen 1990er Jahre – ebenso wie Passagen, die zur Richtung der Projektkooperationen gehören. Entsprechend ist das Interview in der Fläche sehr nahe an der senkrechten Achse, also zwischen den genannten Variationsrichtungen zu finden.
7.3
Slawistik (Dominierte Dominanz)
Die Bezeichnung ›Slawistik‹ für diese Variationsrichtung der Fläche rührt unter anderem daher, dass die meisten deutschsprachigen Interviews hier platziert sind. Slawistik ist nicht einfach eine Übersetzung von Slavic Studies (Amerikanisches Englisch) beziehungsweise Slavonic Studies (Britisches Englisch) ins Deutsche. Es handelt sich vielmehr um eine Disziplin, die für den deutschsprachigen Raum charakteristisch ist und primär literatur- und sprachwissenschaftliche Forschung einschließt. Diese Orientierung impliziert andere, eingeschränktere Formen der Zusammenarbeit: Wenn man hauptsächlich über literarische Texte arbeitet, dann ist das empirische Material ein anderes, als das der sozialwissenschaftlicheren Russian Studies. Bei Forschungsaufenthalten wird man allenfalls in Archiven und Bibliotheken arbeiten, aber nicht ins Feld gehen und seltener Informant_innen, Kontaktpersonen oder gar Datenlieferant_innen brauchen.749 Der Fokus liegt hier stärker auf der Sprache, in der Regel können entsprechend gute Sprachkenntnisse der Forscher_innen vorausgesetzt werden. Die Salzburger Slawistin Eva Hausbacher, die im Jahr 1997 die Bedeutung von Gender Studies in der deutsch- und englischsprachigen Slawistik diskutierte, sah durchaus ein Potenzial dieser Slawistik, als »Vermittler zwischen Ost und West«750 zu fungieren, schon allein aufgrund der hohen sprachlichen und kulturellen Kompetenz von Slawist_innen. »Jedoch nur dann, wenn sich die Slawistik öffnet für methodologische, analytische Ansätze, die komparatistisch 749 Für empirische linguistische Forschung sind solche Kontakte und Daten natürlich erforderlich. 750 Hausbacher, Slawistik, 58. Das passiert inzwischen in Ansätzen, vgl. Scheller-Boltz, Isolation; Scheller-Boltz, Identität.
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und interdisziplinär arbeiten und ihre geschlossenen ›scientific communities‹ auflösen.«751 Wie in Kapitel 4.3 deutlich geworden ist, nimmt Geschlechterforschung in der Slawistik und Osteuropageschichte deutschsprachiger Länder eine eher randständige Position ein. Auch das erschwert etwaige Kooperationen mit russischen Kolleg_innen, die Gender Studies betreiben. Politische Vernetzung spielt in dieser Variationsrichtung keine Rolle. Die akademische Konferenz ist in dieser slawistischen Variationsrichtung die charakteristische Praktik der Zusammenarbeit und des Zusammentreffens. Konferenzen sind mitunter Foren produktiven Austauschs, sie können den Anfangs- oder Endpunkt einer langdauernden Zusammenarbeit bilden. Hier geht es aber eher um Konferenzen (und deren publizierte Resultate) als hauptsächliche, wenn nicht sogar einzige gemeinsame Aktivität von russischen und nichtrussischen Forscher_innen. Dazu kommt die gemeinsame Arbeit an Übersetzungen, nicht aber gemeinsame empirische Forschung (wie in der doppelt dominanten Variationsrichtung der Projekte). An dieser Stelle zitiere ich aus einem Interview, das zwar in der entgegengesetzten Richtung (Annähernd neutral in der ersten, dominant in der zweiten) verortet ist, in dem die russische Respondentin aber ex negativo genau über diese Problematik sprach: »R 30: Ich denke, dass die Einrichtung solcher gemeinsamer Projekte, die nicht auf drei Treffen ausgerichtet sind, wie bei [Name Kooperationspartnerin], sondern auf beständig laufende und zusammenwirkende Arbeit, dass das auch ein Phänomen der letzten Zeit ist, seit dem Ende der ’90er Jahre. Weil bis zur Mitte der ’90er Jahre wurde es als hauptsächliches Ziel betrachtet, eine Konferenz abzuhalten und dann ein Buch herauszugeben. Ich sehe das einfach nicht als ein wissenschaftliches Projekt. Im Westen wird so etwas Projekt genannt [und als solches, TG] organisiert und durchgeführt. Aus meiner Sicht ist ein Projekt etwas, das dauert. Wenn die Kontakte nicht eingeschränkt sind. Nicht wenn man kommt, die Visa bezahlt wurden, der Pass ausgestellt, sondern gerade dann ist es ein wissenschaftlicher Kontakt, wenn sich eine Gemeinschaft bildet, dann ist das ein Projekt. TG: Das heißt, Ihrer Ansicht nach hat sich zwischen Deutschen und Russen keine Zusammenarbeit entwickelt. R 30: Mir scheint, dass das so ist. Auf jeden Fall im Bereich der Geschlechterforschung in der Geschichtswissenschaft.«
R 9: »Reaktionen aber, richtige, kriegst Du nie …« R 9, eine österreichische Respondentin, deren Interview in der slawistischen Variationsrichtung verortet ist, äußerte in ihrem Interview Unzufriedenheit mit der Praktik Konferenz. Sie verglich das isolierte Vortragen, das teils zum 751 Hausbacher, Slawistik, 58.
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
Selbstzweck wird, sehr drastisch mit sexueller Selbstbefriedigung und meinte weiter : »R 9: Das ist einfach so ein Exponieren und manchen liegt das mehr und manchen liegt das weniger, und für manche ist es Teil der wissenschaftlichen Rituale und Aufgaben, für andere ist es einfach so ein Sozialevent. – Ja, das bringt einen ja dann auf so Schienen, nicht, so eine Konferenzorganisation. Also zuerst – mittlerweile ist das ja auch wirklich so ein Paket, also du bewirbst dich mit dem Abstract, du hast den Vortrag, dann gibst du einen Artikel ab, dann kommt der Sammelband und dann wird der Sammelband an alle usual suspects verteilt und Reaktionen aber, richtige, kriegst Du nie, ja? Also ich hab nicht einmal jetzt nach dem Artikel irgendwie das Gefühl, damit setzt sich jetzt jemand auseinander und, um ganz ehrlich zu sein [lacht], selber hab ich auch das Gefühl, bei der Hälfte der Beiträge in dem Sammelband, dass ich die nicht lesen werde, weil – ich beschäftige mich halt auch mit was anderem und hab dafür auch keine Zeit oder so, was irgendwie schade ist.«752
Konferenzen alleine, so auch hier die Überzeugung, sind kein hinreichendes Medium der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
R 8: »So etwa wie beim Seilziehen« In der mit ›Slawistik‹ benannten Richtung sind sämtliche Interviews mit deutschsprachigen Respondent_innen, eines mit einer amerikanischen und nur zwei mit russischen positioniert. So stellt jenes mit R 8, einer russischen Wissenschafterin, gewissermaßen eine Besonderheit dar. Aufschluss über den Grund für die Position von R 8 gibt ein Statement, in dem sie sich von den etablierteren, erfahreneren russischen Protagonist_innen von gendernye issledovanija abgrenzte – also solchen, wie sie in der hier präsentierten Fläche in entgegengesetzter Richtung (gendernye issledovanija) verortet sind: »R 8: Die Mehrheit meiner – russischen Kollegen hat im Unterschied zu mir schon lange an unterschiedlichen Gender- oder Frauenprogrammen teilgenommen, an Programmen zur Untersuchung von Frauengeschichte und Frauenforschung.« 752 Vgl. dazu auch die Unzufriedenheit der britischen Respondentin R 16, positioniert in der Variationsrichtung ›Gemeinsame Projekte‹, die über russische und britische Konferenzen sagte: »R 16: I mean, it was very interesting to hear what people had to say, I think at that stage – I don’t know if it’s changed but certainly then – the conferences there [in Russia, mid-1990s, TG] always seemed very formal – with, like, people from the podium giving a speech and – very big so – and I think in the same way as here – I mean, I often find within British academia, the bigger conferences for me are often – less rewarding than the smaller conferences where you really talk with people and discuss things and discuss papers and have papers that interlink and – often the people presenting have actually talked with each other and worked out how to do something as a whole, and it’s more of a workshop than a conference. I quite often find the big conferences quite frustrating when – you just get these sort of panels and no real interaction between speakers and the audience.«
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Die Respondentin nannte dabei die Namen bekannter Forscherinnen, die auch 2002, als das Interview geführt wurde, schon seit vielen Jahren mit Geschlechterfragen zu tun hatten: »R 8: Ich habe in diesem Gebiet erst angefangen, aber es hat mich interessiert – und vielleicht ist es gerade deswegen, dass ich, wie soll man sagen, weniger engagiert bin.« R 8 grenzt sich aber nicht nur von den politisch engagierteren russischen Forscher_innen ab, sondern auch von jenen, deren Denken von sowjetischen Gepflogenheiten geprägt ist. Das zeigte sich bei einem Übersetzungsprojekt, in dem immer wieder in einer deutsch-russischen Gruppe über terminologische Feinheiten gesprochen wurde. »R 8: [Name], die die Gruppe der Übersetzer leitete, sie gab uns so ein Glossar – sie gab uns Wörter auf Deutsch und Übersetzungen ins Russische, und wir diskutierten diese Wörter, wie man sie am besten ins Russische übersetzen könnte. Sie schlug verschiedene Varianten vor und sagte: ›Diskutieren wir, wie wir das übersetzen werden.‹ Mich verblüffte damals, dass ein großer Teil meiner russischen Kollegen sagte: ›Das ist nicht wichtig.‹ – Dieses Wort, na, ich weiß nicht, irgend so ein grundlegendes Wort, ›Was für einen Unterschied macht es, wie man es übersetzt? Dieses Wort ist einfach ein Wort.‹ Verstehen Sie? Es zeigte sich, dass viele Wörter nur in einer Bedeutung verstanden werden, dass diese Polysemantizität nicht hinter jedem Wort erahnt wird, verstehen Sie, darin lag eine große Schwierigkeit. Aber das – das ist so eine, na, wie soll man sagen, eine Gewohnheit – eine traditionelle akademische, naja, sowjetische Gewohnheit: Wörter trotz allem in einer einzigen Bedeutung zu verstehen, das ist verbunden mit so einer Praxis, nun, mit so einer objektivistischen Praxis.«
Wie weit diese Diagnose einer »sowjetischen Gewohnheit« generalisierbar ist, ist in diesem Rahmen schwer einzuschätzen. Allerdings fand ich eine Bemerkung in einem Aufsatz über den Englischunterricht in Russland, die in eine ähnliche Richtung weist (hier wie dort geht es um Übersetzung): »Russians still put a premium on the ›correct/incorrect‹ dichotomy. This tendency stems partially from the emphasis on standardization in the Soviet system, which we have seen, and partially from Russian’s own deep philology.«753 R 8, die sich also von den versierten und feministischen russischen GenderForscher_innen ebenso abgrenzte wie von den traditionell-sowjetisch denkenden russischen Wissenschafter_innen, wurde in Interviews mit Personen, die mit ihr zusammengearbeitet haben, als ideale russische Kooperationspartnerin herausgehoben. Für sie war in der Kooperation eminent wichtig, dass auf Unterschiede Rücksicht genommen wurde, dass diese aber kein einseitig-hierarchisches Verhältnis begründeten. »R 8: Das heißt nicht, dass zum Beispiel die deutschen Spezialisten nur in der Rolle der Lehrer waren, verstehen Sie, und wir nur in der Rolle der Schüler. Das ist eine sehr 753 Vgl. Kevin MacCaughey, The Kasha Syndrome: English Language Teaching in Russia, in: World Englishes, 24, 4 (2005), 455–459.
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schwere Arbeit, zumal die Etablierung dieser sehr komplizierten gegenseitigen Kontakte gleichzeitig ablief. Wir arbeiteten schon nach dem Prinzip der gegenseitigen Ergänzung – wir sahen, wo wir stärker waren und wo unsere deutschen Kollegen. So etwa wie beim Seilziehen ging das. Und diese Prozesse weckten bereits andere, komplexere Vorstellungen [der verwendeten Begrifflichkeiten, TG]. Darum denke ich, dass die Realisierung dieses Programmes vor allem für – die russischen Kollegen nützlich war. – Aber auch unsere deutschen Kollegen, sie haben gewissermaßen verstanden, dass wir alle unterschiedlich sind. Das war sehr wichtig.«
Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet die Metapher des Seilziehens im Kontext gleichberechtigter Zusammenarbeit zwischen Russ_innen und Deutschen verwendet wird. Hervorgehoben wird, dass beide Teams im Wesentlichen gleich stark sind (einmal die einen, dann wieder die anderen). Dennoch impliziert die Metapher auch Konkurrenz, denn beim Seilziehen geht es schließlich darum, stärker als die Gegner zu sein und diese auf die eigene Seite zu ziehen. R 7: »Da ist ne Dynamik entstanden, und ich weiß jetzt nicht, ob das eben in der Luft lag oder ob man dann doch irgendwas angestoßen hat.« Das Interview mit R 7, einer deutschen Slawistin ist annähernd auf der Diagonale positioniert, die den dominiert dominanten Bereich halbiert. Sie berichtete über Erfahrungen in der Organisation und Koordination eines mehrjährigen russisch-deutschen Gemeinschaftsprojektes. Noch um die Jahrtausendwende war die Kommunikation auf technischer Ebene mit russischen Partner_innen nicht unbedingt einfach. Elektronische Kommunikationsmedien waren gerade in der russischen Provinz keine Selbstverständlichkeit. »R 7: Ich war ein bisschen streng letztes Jahr [2001, TG]: Ich mach nichts mehr mit Leuten, die keinen E-Mail-Anschluss haben, wirklich wahr. Ich mein, das ist natürlich schon auch ein bisschen gemein, weil tatsächlich nicht alle Zugang haben, aber mein Gedankengang war : Wir wollen eigentlich mit modernen, aufgeschlossenen Leuten zusammenarbeiten und dazu gehört einfach die Offenheit auch gegenüber diesem neuen Kommunikationsmedium. So war meine kleine Rechtfertigung, und es ist einfach unmöglich mit Leuten aus der russischen Provinz ohne – E-Mail, es ist so schon schwierig genug, weil die natürlich alle – bei irgendwelchen Freundinnen schreiben, man hat nie eine Adresse [pro Person, TG]. Aber immerhin irgendeine Art von Kommunikation ist wichtig, und es ist auch natürlich viel besser geworden, die Telefonnetze sind stabil, die Faxe kommen an, also das war in den letzten fünf Jahren, muss ich schon sagen, das – hat sich stark verbessert.«
Die Einbindung von Personen abseits von Moskau und Sankt Petersburg war ein wichtiges Anliegen, das allerdings den organisatorischen Aufwand erhöhte: »R 7: Das war auch schon schön mit diesen vielen verschiedenen, aus den verschiedenen Gegenden zusammenzuarbeiten, wobei ich jetzt wirklich – verstehe, warum
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Pauschalreisen billiger sind als – Individualreisen. Ja, weil – ich mein, es ist einfach ein Arbeitsaufwandsunterschied [lacht], exponentiell, der steigt, je mehr verschiedene Teilnehmerinnen […]. Ja, es ist einfach auch unheimlich aufwendig und ich versteh total, wenn man sagt, man macht hier zwanzig aus einer Uni, das ist natürlich wesentlich einfacher als – je eine von zwanzig Unis.«
R 7 nahm auch zur Kenntnis, dass in der russischen Geschlechterforschung besonders in den späten 1990er und den frühen 2000er Jahren sehr viele Publikationen neuer Forschungsergebnisse entstanden sind, die sie aber zu dieser Zeit nicht im Detail verfolgen konnte: »R 7: Da ist ne Dynamik entstanden, und ich weiß jetzt nicht, ob das eben in der Luft lag oder ob man dann doch irgendwas angestoßen hat. […] Und diese [russischen, TG] Sommerschulen, ich war da leider nie, das hätt ich gerne nochmals mitgemacht, also wie das abgeht, wie das funktioniert. Und – ich mein, es ist nicht alles Gold, was glänzt, und manches entspricht nun definitiv auch nicht unserem Verständnis von Gender Studies oder diese leicht sowjetische Konnotation ist noch dabei, aber – ich meine, eine Dynamik ist da und unübersehbar. Und ich find’s schon faszinierend, also – wie, ja, wie interessant die meisten – Frauen sind, die sich [mit Gender Studies, TG] beschäftigen. Ich mein, das klingt jetzt [lacht] ein bisschen komisch, aber wie intelligent und spitz und reflektiert und – diese ganzen Leute kennenzulernen, das war so, auch erhebend, oder dass man sich so Mühe gegeben hat, auch verstärkt, weil man wollte gerne denen was vermitteln oder mit ihnen das machen. – Also es ist schon auch eine relativ starke persönliche Komponente drin, und die ist, denk ich, bei – interkulturellen Projekten aber immer notwendig, weil es doch komplizierter ist und man braucht so einen Impuls noch mehr.«
Es ist deutlich eine gewisse Ambivalenz herauszuhören, einerseits die Faszination durch die interessanten Persönlichkeiten, mit denen die Respondentin zusammenarbeiten konnte, andererseits eine Skepsis zumindest gegenüber Teilen der neuen russischen Geschlechterforschung, die (wiederum am Maßstab »unseres Verständnisses von Gender Studies« gemessen)754 nicht unbedingt den Ansprüchen von deutschen Forscher_innen entspricht. Es scheint auch, dass die Respondentin bemerkt, dass ihr Statement etwas paternalistisch gerät, und versucht, das zu relativieren (»das klingt jetzt ein bisschen komisch«). Selbstreflexives: Das objektivierende Subjekt objektivieren Das Interview, das Stephanie Fürtbauer mit mir geführt hat, ist für die ersten beiden Dimensionen meines Gegenstandes hinsichtlich seines Beitrages zur Varianz nahezu bedeutungslos. So wie alle anderen Interviews hat es aber auch seine Position in der zweidimensionalen Annäherung des hier konstruierten 754 Vgl. auch das Statement von R 17, positioniert im Bereich ›Gemeinsame Projekte‹: »I would not say it was sort of in keeping – with Western Gender Studies.«
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Der zweidimensionale Raum des Möglichen
Raumes des Möglichen. In der ersten Dimension mäßig dominant und in der zweiten beinahe neutral (leicht dominiert), geht es hier um (unter anderem) in Russland durchgeführte Forschung über Russland, die nicht im fachlichen Kontext der angloamerikanischen Russian Studies steht, sondern in dem einer österreichischen Soziologie (Diplomarbeit, Dissertation in der Anfangsphase) beziehungsweise Geschichtswissenschaft (Dissertation). Das Interview drehte sich vor allem um forschungspraktische Fragen: Wie organisiert man die Feldforschung? Welche Methoden verwendet man? Wie stellt man Kontakt zu den Respondent_innen her? Welche Machtverhältnisse bestehen zwischen Interviewerin und Respondent_innen? Diese thematische Fokussierung auf sozialwissenschaftliche Forschungspraxis (inklusive Statements zu qualitativen und quantitativen Daten und Methoden) bringt das Interview in die Nähe von »Russian Studies«. Um Frauenpolitik geht es dagegen gar nicht (allenfalls kommt Feminismus und seine Protagonist_innen als Gegenstand der Forschung vor), insofern auch die annähernde Neutralität im Hinblick auf die zweite Dimension. Die Erwähnung der beiden Konferenzen, die in der slawistischen Richtung platziert sind, ›zieht‹ das Interview mit mir dabei leicht dorthin.
7.4
Gender Studies nebenberuflich (Doppelte Dominiertheit)
Die doppelte Dominiertheit ist dadurch bestimmt, dass hier weder Russian Studies noch international vernetztes frauenpolitisches Engagement vertreten sind. Es ist in Opposition (also in der Fläche gegenüber) zu internationaler Kooperation in Forschungsprojekten platziert. Es geht nicht um empirische Forschung, es geht nicht um internationale Kontakte (vielmehr um die Abwesenheit dieser), es geht auch nicht um feministischen Aktivismus – jedenfalls nicht um solchen, der mit akademischen Gender Studies in Verbindung steht. Die Auseinandersetzung mit geschlechterspezifischen Fragen wird hier eher zu einer individuellen Angelegenheit. Außer den Interviews mit jungen Geschlechterforscher_innen aus der russischen Provinz finden sich hier auch die Kontrastfälle der Interviews mit Judith Butler und bell hooks sowie Marija Arbatova. Marija Arbatova: »Außerdem hasse ich es, wenn man aus Feminismus einen Beruf macht« Marija Arbatova ist in Russland eine einigermaßen schillernde Figur : Schriftstellerin, Dramaturgin und Protagonistin einer in den 1990er Jahren sehr populären Fernsehshow. Sie hat sich immer wieder in künstlerischer oder publizistischer Form mit der Benachteiligung von Frauen auseinandergesetzt. Durch
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ihr Auftreten im Fernsehen förderte sie die Popularisierung des Begriffs Feminismus. Die Journalistin Nadezˇda Azˇgichina meint in einem Interview aus dem Jahr 2000: »An das Wort Feminismus hat man sich gewöhnt. Es klingt wie die vertrauten Wörter ›Marxismus‹, ›Sozialismus‹. Aber heute zeichnet sich ein gewisser Fortschritt ab. Jetzt, im Unterschied zu vor fünf Jahren, wird dieses Wort nicht mehr negativ aufgefasst. Dabei hat insbesondere unser Fernsehen eine positive Rolle gespielt: die Sendungen ›Ja sama‹ [Ich selbst, TG] und dann vielleicht die nicht so erfolgreichen ›Zwölf entscheidenden Frauen‹.«755
Diese Popularisierung wurde freilich nicht von allen russischen Feministinnen goutiert. Ol’ga Lipovskaja (deren Interview im Übrigen in der Fläche relativ nahe an Arbatovas liegt) wandte sich mit ziemlich scharfen Worten gegen diese Auftritte. Durch ihre Position – Arbatova gab in der Show »die Feministin«, die der »Traditionalistin Olja« gegenübergestellt wurde – sichere sich Arbatova das Monopol über massenmediale Aussagen darüber, was Feminismus sei. Dem russischen Publikum wurde vermittelt, es gäbe den (einen) Feminismus. Was Arbatova aber als Feminismus präsentiere, sei zum Teil einfach nur eine Karikatur. »Aber in der Talkshow ›Ja sama‹ [Ich selbst, TG] wird eine klare strategische Linie der radikalen Unabhängigkeit vom Mann verfolgt. Mir, einer völlig überzeugten Feministin, ist oft die Position der ›Traditionalistin Olja‹ näher, die von gesundem Menschenverstand, Lebenserfahrung und natürlichen humanistischen Überzeugungen geprägt ist.«756
Lipovskaja schließt ihren Artikel mit der Bemerkung, dass angesichts der so starken Orientierung auf Arbatovas Selbstmarketing hin, der Titel der Sendung »Ich selbst« mehr als passend sei.757 Die Interviewerin kennt diese Auseinandersetzungen und formuliert ihre Frage an Arbatova entsprechend vorsichtig: »I: Ich würde noch gerne eines wissen … und hier kann es zwei Varianten geben: Entweder Du antwortest oder nicht. Dein Zusammenwirken mit anderen Feministin755 Nadezˇda Azˇgichina, ›Interv’ju‹, in: Alcˇuk, Anna (Hg.), Zˇensˇcˇina i vizual’nye znaki [Frau und visuelle Zeichen], Moskau 2000, 160–167, 161, Übersetzung aus dem Russischen TG. »Zwölf entscheidende Frauen« (Dvenadcat’ Resˇitel’nych Zˇensˇcˇin, kann auch als »entschiedene« bzw. »resolute Frauen« übersetzt werden) war eine Talkshow, die von 1997 bis 1999 auf dem Sender TV Centr ausgestrahlt wurde. 756 Ol’ga Lipovskaja, O tocˇnosti definicij, ili ˇsipy i rozy teleperedacˇi »ja sama« [Über die Genauigkeit von Definitionen, oder Dornen und Rosen der Fernsehsendung »Ja sama«], in: Vy i My. [Ihr und Wir], 15, 3 (1997), 30–31, 30f. 757 Die Auseinandersetzung zwischen Lipovskaja und Arbatova fand außer in »Vy i My« auch in der Tageszeitung »Nezavisimaja Gazeta« [Unabhängige Zeitung] statt. Brigitta Godel gibt diese teilweise sehr heftig ausgetragenen Konflikte detailliert wieder, vgl. Godel, Zivilgesellschaft, 303ff.
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nen Russlands? Könntest Du erklären, warum zwischen Euch ein Konflikt entstand? MA: Ich habe eine grundsätzliche Grenze im Umgang mit einem Teil unserer Feministinnen. Ich unterteile sie in engagierte und nichtengagierte: Leute mit grants und Leute ohne grants. Mein Feminismus ist eine zivilgesellschaftliche Haltung und ich finde nicht, dass mir dafür irgendwelche Fonds etwas zahlen sollen. Ich finde das erniedrigend. Der Großteil der Feministinnen ist furchtbar marginal und hat sich in eine auf westlichen Geldern basierende Subkultur verwandelt.«758
Doch nicht nur die Finanzierung mit ›westlichen‹ Geldern findet Arbatova indiskutabel,759 sie bemerkt auch, dass viele Frauen, die sich gerade nicht als Feministinnen bezeichnen, bislang politisch viel mehr ausrichten konnten. »Die Soldatenmütter760 haben den Nobelpreis bekommen. Ein Haufen Frauen ist ins Parlament und auf Ministersessel gekommen, aber zu alldem haben die Feministinnen, von denen ich rede, keinerlei Bezug. Ich gerate immer wieder in eine blöde Situation, weil mich die Massenmedien mal als ›Oberfeministin‹, mal als sonst was bezeichnen. Ich halte mich für einen ehrlichen Popularisier in der Zeit, die frei von der schriftstellerischen Arbeit ist, und das ist alles.«761
Sie zieht – in Zusammenhang mit Karriereförderung – auch Parallelen zwischen der KP und ›westlichen‹ Geldgebern:762 »Außerdem hasse ich es, wenn man aus Feminismus einen Beruf macht. Feminismus ist die Summe von Überzeugungen. Bei uns gab es schon Parteiliteratur, Parteiüberzeugungen, den Parteiausweis, mit dessen Hilfe man eine Karriere machen konnte, und so gibt es die Partei-, die bezahlten Feministinnen. Das ist wohl die grundlegende Struktur des Konfliktes. Wir haben absolut unterschiedliche Lebensstrategien, obwohl wir, wie ich hoffe, dasselbe wollen. Aber ich finde, dass ein Mensch, ehe er sich daran macht, die Gesellschaft zu heilen, einmal bei sich selbst anfangen soll. Ein bestimmter Teil dieser Feministinnen ist die beste Antireklame für Feminismus.«763
Die Ablehnung, Feminismus zum Beruf zu machen, ist etwas verwunderlich aus dem Mund einer Person, die über mehrere Jahre im Fernsehen als Talkshow758 Gejdar, Interv’ju, o. S. 759 Ganz konträr ist diese Einstellung zu der, die es als eine Anerkennung versteht, wenn jemand es schafft, eine Projektfinanzierung zu bekommen, vgl. dazu Gennadij Batygin, Nevidimaja granica: Grantovaja podderzˇka i restrukturirovanie naucˇnogo soobsˇcˇestva v Rossii (zametki e˙ksperta) [Die unsichtbare Grenze: Unterstützung durch grants und die Rekonstruktion der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Russland (Anmerkungen eines Experten)], in: Naukovedenie, 4 (2000), unter : http://vivovoco.astronet.ru/VV/JOURNAL/ SCILOG/GRANTYOU.HTM, Zugriff: 31. 3. 2018. 760 Zur Bewegung der Soldatenmütter vgl. Eva Maria Hinterhuber, Die Soldatenmütter von Sankt Petersburg. Zwischen Neotraditionalismus und Widerständigkeit, Münster u. a. 1999. 761 Gejdar, Interv’ju, o. S. 762 Hier fühlt man sich an die kritischen Statements von russischen Soziolog_innen zur Förderpraxis, die in Kapitel 4.1.6 zitiert wurden, erinnert. Vgl. Kotkin, Innovation, 79. 763 Gejdar, Interv’ju, o. S.
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Feministin auftrat. Sie sieht diese Sendung freilich eher als Unterhaltung, als Show – mit den entsprechend überzeichneten Charakteren der Feministin und der Traditionalistin –, denn als politisches Statement. Klar wird jedenfalls, was Arbatova nicht betreibt: beruflich-akademischen Feminismus. Und darin gleicht sie Ol’ga Lipovskaja – jedenfalls jener Ol’ga Lipovskaja, die Ende der 1980er Jahre der Zeitschrift »Frontiers« ein Interview gab.764 R 22: »Man könnte sagen: ein Amateur und Nichtprofessioneller« R 22 ist bei weitem nicht so prominent wie Arbatova. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte an einer privaten Universität in der russischen Provinz. Geschlechterforschung war für sie zeitweise von Interesse, sodass sie sich einiges an Literatur angeeignet, eine Tagung zum Thema veranstaltet und gemeinsam mit einer Kollegin dazu ein Buch geschrieben hat. Als Philosophin hat sie bereits die Erfahrung gemacht, dass vor allem ältere männliche Kollegen Geschlecht als philosophische Kategorie grundlegend in Frage stellen (siehe dazu Abschnitt 6.2.2, Dominiertheit in der zweiten Dimension). Von einer Provinzstadt aus ist es für sie schwierig, Kontakte mit ausländischen Forscher_innen zu etablieren, sie meint aber, dass das nicht unbedingt nötig sei: »R 22: Deshalb positioniere ich mich zuallerletzt als Gender-Forscher – das heißt, ich bin vor allem Wissenschaftsphilosoph. Ich forsche über die Geschichtswissenschaft – aus der Position der Wissenschaftsphilosophie. Ich untersuche das nichtklassische wissenschaftliche Ideal, unter anderem in der Geschichtswissenschaft. Und – ich definiere mich selbst vor allem als Philosoph – und als Lehrer und Pädagoge und erst dann als Gender-Forscher – vielleicht als, man könnte sagen, Amateur und Nichtprofessioneller. Obwohl ich bereits jetzt sehe, dass ich mich damit ganz professionell beschäftigen kann, nachdem ich eine Konferenz durchgeführt habe, mich mit solchen Leuten getroffen habe und gemeinsam mit einer Kollegin eine Monografie geschrieben habe.«
764 Wiewohl Ol’ga Lipovskaja keinen akademischen Titel hat und auch keine wissenschaftliche Laufbahn im engeren Sinn absolviert hat, publizierte sie im Lauf der 1990er Jahre wiederholt Artikel in akademischen Sammelbänden. Sie tut das in der Logik meines Forschungsgegenstandes als besonders qualifizierte Informantin. Vgl. Olga Lipovskaya, The Mythology of Womenhood in Contemporary ›Soviet‹ Culture, in: Anastasia Posadskaya (Hg.), Women in Russia. A New Era in Russian Feminism, London/New York 1994, 123–134; dies., Women’s Groups in Russia, in: Mary E. A. Buckley (Hg.), Post-Soviet Women: from the Baltic to Central Asia, Cambridge 1997, 186–199. Ein Interview jüngeren Datums mit ihr wäre somit wohl eher in der Variationsrichtung von gendernye issledovanija positioniert.
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R 21: »Es war für mich einfach interessant, mich damit zu beschäftigen« R 21 ist eine junge Frau aus der russischen Provinz. Das Interview mit ihr stellt insofern einen Kontrastfall im Sample dar, als sie sich wohl intensiv, aber nur für einige Zeit mit Geschlechterforschung beschäftigt hat. Sie hat nichts zu Gender Studies publiziert, arbeitete nie als Wissenschafterin und inzwischen auch nicht mehr als Universitätslehrerin. Sie machte mit Gender Studies und feministischen Theorien auf eine ganz andere Art Bekanntschaft als russische Forscher_innen in den 1980er oder 1990er Jahren. In den 2000er Jahren war man nicht mehr auf Spezialabteilungen von Bibliotheken oder auf diverse Buchspenden aus den USA angewiesen, man musste auch nicht Koffer voll mit Büchern von Reisen mitbringen. Ausgehend von persönlichem Interesse konnte man das Internet konsultieren – immer vorausgesetzt, ein Zugang war gegeben. »R 21: Ich erinnere mich nicht, wo ich zum ersten Mal auf das Wort Gender getroffen bin, schwer zu sagen. Wahrscheinlich war das im Rahmen des dritten Studienjahrs. Als ich studierte, haben wir beschlossen, studentische ›Runde Tische‹ zur Diskussion unserer Probleme im Rahmen der unterrichteten Lehrveranstaltungen zu veranstalten. Und – vermutlich hatten wir ein solches Thema und wir griffen die entsprechende Frage über die Verhältnisse zwischen Mann und Frau auf. Und vermutlich, als ich mich auf diesen ›Runden Tisch‹ vorbereitete, traf ich auf dieses mir völlig unbekannte Wort Gender, das mir damals überhaupt nichts sagte. Und ich begann, zu suchen, aber einen stabilen Internetzugang gab es damals nicht. TG: Wann war das ungefähr? R 21: Das war – 2002. Und so nach und nach gelang es, etwas zusammenzutragen, aber nicht viel. Aber im Jahr darauf hatte ich im Zimmer meines Studentenheims einen Computer und entsprechend auch eine stabile Internetverbindung. Von da an begann ich, alle möglichen Texte ausfindig zu machen – sowohl englisch- als auch russischsprachige – im Bemühen, mich selbstständig zurechtzufinden, was natürlich wahnsinnig lang dauerte. Danach begann sich allmählich ein System aufzubauen. Und als ich im fünften Studienjahr war, brachte [Name Lehrbeauftragte] die Chrestomathie feministischer Texte765 mit.«
Die Trennung zwischen feministischer Forschung und Gender Studies war für sie (wie auch für einige andere russische Respondent_innen) wichtig. Es geht hier nicht darum, die Gesellschaft zu verändern, sondern darum, sich in der vorhandenen (bzw. zugänglichen) Literatur zurechtzufinden und Geschlechterverhältnisse besser zu verstehen. Diese Erkenntnisse wurden an Studierende weitergegeben, um zumindest eine grundlegende Sensibilisierung zukünftiger Psycholog_innen für Geschlechteraspekte zu ermöglichen. Nach Abschluss ihres Diploms mit einer Arbeit über die Verwendung der Zuschreibung »weibliche Logik« erhielt R 21 gemeinsam mit anderen Absolvent_innen einen 765 Temkina/Zdravomyslova, Chrestomatija.
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Lehrauftrag an ihrer Universität, mit dem sie die Studierenden durchaus herausforderten. »R 21: Und gerade dann wurden wir drei aus dem Abschlussjahrgang der psychologischen Fakultät eingeladen, zu unterrichten. Und – eigentlich war das zuerst ein Wahlfachkurs und dann bin ich weggegangen und ich weiß nicht, ob da irgendetwas geblieben ist. Ja und – ich weiß nicht – das Programm wurde ausschließlich aus Quellen zusammengestellt, die im Internet gefunden wurden. Damals gab es, glaube ich, auch schon die Website, oder hab ich sie gefunden, owl.ru,766 wo – naja, Gender Studies zu finden sind. Dort gab es eine Beschreibung von Studienprogrammen, und zum Teil habe ich die auch verwendet. Es war verständlich, dass in den Köpfen der Studenten dasselbe Durcheinander herrschen würde, wenn man ihnen vorschlagen würde, mit etwas Seriösen anzufangen. Okay – ich habe drei Jahre später begonnen, weil ich an die [Universität, Ort] gewechselt bin, und ich hatte schon eine gewisse Basis und eine Vorstellung. Aber wenn ein Student im ersten Jahr mit 17, 18 Jahren kommt und man ihm etwas völlig Unverständliches erklärt, dann schalten sie ab und denken: ›Worüber reden Sie? So etwas kann es nicht geben!‹ [beide lachen]«
Über die Inhalte ihrer Lehrveranstaltungen berichtete sie, dass es dabei um die Vermittlung von Grundkenntnissen ging: »R 21: Na, die ersten Lektionen waren – ich habe mich bemüht, sie [die Studierenden, TG] zu ›formatieren‹ – die Aufgabe bestand nicht darin, spezifisches Gender-Wissen zu vermitteln und sie entsprechend zu erziehen, sondern eher, darüber zu reden, dass die Welt nicht so einfach ist – was wichtig für Psychologen ist, besonders für die klinischen. Denn, die Welt in schwarz und weiß, eine gesunde und ein kranke Hälfte aufzuteilen, ist nicht, was gebraucht wird. Und in diesem Paradigma ließ sich beobachten, dass es noch einen Filter gibt, durch den man Menschen betrachten kann. Und dieser Filter lautet nicht einfach ›Mann/Frau‹, er ist bei weitem komplizierter. Und man kann auch nicht alle über einen Kamm scheren. Wir führten das Gespräch auf eine Weise, dass wir zu einem bestimmten Ziel kamen. Wir begannen mit biologischen Aspekten, also es gibt eine bestimmte Anzahl von Geschlechtern. Nicht zwei sondern elf. Das verursachte einen wahnsinnigen Schock bei der ganzen Versammlung. Und wir diskutierten, zum Beispiel, dass im Reisepass das Geschlecht eines sein kann, in der gelebten Wirklichkeit aber ein anderes.«
Wie schon bei Arbatova und R 22 wird deutlich, dass die Beschäftigung mit Gender Studies keine hauptberufliche Angelegenheit ist, ja, sein kann. Bei noch so großem Interesse wäre der eine oder andere schlecht bezahlte Lehrauftrag die einzige Möglichkeit für R 21, sich von Berufs wegen mit Geschlechterforschung zu befassen. Und auch das Persönliche macht sie lieber nicht zum Politischen. 766 Gemeint ist die Informationsplattform »Open Women Line«, die mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung, der holländischen Stiftung Mama Cash, der US-amerikanischen Botschaft sowie der Organisation Global Fund for Women eingerichtet wurde. Die Website ist noch aktiv, allerdings scheinen die letzten Neueinträge schon an die zehn Jahre alt zu sein, unter : www.owl.ru, Zugriff: 31. 3. 2018.
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»R 21: Ich hatte keinerlei akademische Interessen im Sinne eines Titels und so weiter. Für mich war es einfach nur interessant, mich damit zu beschäftigen – in diesem Moment war es für mich interessant. Nicht, dass es jetzt nicht interessant wäre. Ich mache das weiter, lese in meiner Freizeit was so auftaucht. Weil ich nicht zurückfallen will. Aber das ist wohl mein persönliches – entspringt meinem persönlichen Interesse. Ich mag es einfach nicht, aus meinen persönlichen Interessen politische Projekte zu machen.«
Ironisch erscheint dabei, dass diese passionierte und nebenberufliche Beschäftigung mit Gender-Theorien und Queer Studies im Vergleich mit anderen hauptberuflichen Entwicklungen der Gender Studies in Russland dieser Zeit (2007) sehr innovativ war.767 Judith Butler: »Philosophy […] gives people the chance to think the world as if it was otherwise« Das Interview mit Judith Butler ist näher an der Neutralität im Hinblick auf die erste Dimension. Insofern ist dieser Text weniger der Nebenberuflichkeit zuzuordnen (niemand würde behaupten, dass Gender Studies für Butler nur so ein persönliches Interesse oder ein Nebenberuf sei), sondern eher der Dominiertheit im zweiten Faktor. Die Positionierung dieses Textes wirft einige Fragen auf. Nicht etwa wegen der Neutralität im ersten Faktor : Butler, wiewohl eine weltberühmte Philosophin, hat im Kontext von Russian Studies praktisch keine Bedeutung, sehr wohl aber im Hinblick auf die zweite Dimension. Eine international vernetzte politische Intellektuelle par excellence ist im Bereich von gerade nichtpolitischem Engagement angesiedelt? Nun geht es ja zum einen nicht um die Person in ihrer Totalität, sondern um ein bestimmtes Interview mit ihr im Vergleich mit anderen Texten. Zum anderen bedeutet es wohl etwas völlig anderes, eine amerikanische politische Intellektuelle zu sein als eine politisch engagierte russische Gender-Forscherin. Hier soll gezeigt werden, wie dieser als Kontrastfall gewählte Text zu seiner Positionierung kommt. Wie schon in Abschnitt 6.2.2 ausgeführt, geht es unter anderem um Abweichungen von einer heteronormativen Ordnung. Wenn R 23 (an extremer Position in der Variationsrichtung ›gendernye issledovanija‹) von den amerikanischen Feministinnen als »männerähnlichen Frauen« spricht, so passt ein Statement aus Butlers Interview sehr gut als Gegenstück dazu. Auf die Feststellung der Interviewerin hin, Butler sei als Philosophin sehr populär, wendet diese ein, solche Popularität sei nicht immer nur positiv :
767 R 21 erwähnt im Interview auch Gastvorträge von Forscher_innen wie Nadja Nartova, die sie sehr beeindruckt haben.
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»Sometimes people use me as a kind of example for monstrosity. It has to do with a homophobic or explicitly anti-semitic or explicitly misogynist view. Maybe people care that I am so clearly a lesbian and not a feminine lesbian. My thesis on social construction seems to be very frightening to people: the idea that sex is culturally constructed. They seem to fear that I am evacuating any notion of the real, that I make people think that their bodies are not real or that sexual differences are not real. They believe that I am too charismatic and that I am seducing the young. […] And there is a kind of anti Americanism of people although I think it might be a mistake to fold me up as an example of American imperialism or American cultural imperialism. And the Jewish part is very important as well.«768
Dabei steht Butler selbst dem amerikanischen kulturellen Imperialismus durchaus kritisch gegenüber : »I: Isn’t it a problem of America as a whole which is very concentrated on itself, looking just at America – or even at their own single American state? JB: You are right. Sometimes it is looking at other countries, speaking about the whole human rights issue. But then it tends to impose its own cultural program on other countries. And as an American doing international rights activism you have to be extremely careful and have to learn how to do that. When something as an ideology of internationalism takes place it is almost always an ideology of Americanism. It is almost always the notion that America knows what human rights are despite its own racist culture – and they really export this. The others have to be grateful for this exportation.«769
Es ist müßig, hier festzustellen, dass das Verhältnis von Amerika zum Rest der Welt ein ganz anderes ist als das von Russland, das keine so starke Tendenz hat, wie selbstverständlich sein eigenes kulturelles Programm der Welt überzustülpen.770 Es bleibt weiter die Frage, um welche Art von Politik es sich bei Butlers Ausführungen handelt. Die Antwort darauf steht mit der disziplinären Ausrichtung in Verbindung: Philosophie ist charakteristisch für diese Variationsrichtung. »I: Feminism changed a lot: there are less women on the street, less concrete action, less manifestations, less militancy in this old sense. Do you think we need more thinking, more philosophy? Should the feminist movement invest much more time in philosophy? JB: I never expected my work to be read by very many people. I am dense, I am abstract, I am esoteric. Why should I become popular? But politically it is important that people ask the question ›what is possible‹ and believe in possibility. Because without the motion of possibility there is no motion forward. The idea that people might live their 768 Michalik, Desire, o. S. 769 Michalik, Desire, o. S. 770 Abgesehen von ultranationalen oder ausgeprägt slawophilen Stimmen, die aber im Kontext dieser Analyse kein Gewicht haben, vgl. auch Kapitel 2 zu Gesellschafts- und Geschlechterpolitik in Russland.
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gender in a different way, or they might live their sexuality in a different way, that there might be room for a livable sustainable pleasurable happy politically informed life out of the closet. Philosophy makes people think about possible roles, it gives people the chance to think the world as if it was otherwise. And people need that.«771
Philosophie ist also zumindest eine Grundlage dafür, dass es auch anders sein könnte, als es immer gewesen ist, als es die Natur oder Gott eingerichtet hat. Diese Haltung erinnert an die »Formatierung«, die R 21 ihren Studierenden angedeihen lässt, auch wenn es bei ihr nicht ausdrücklich um Philosophie (sondern um gendernye issledovanija) und nicht um Politik ging (sondern um eine adäquate Ausbildung für Psycholog_innen). »I: Do you think that the political impact of philosophy is underestimated? JB: Oh, Marx was a philosopher. And Engels. And Emma Goldmann. And Rosa Luxemburg. I: You are right. But speaking about Rosa Luxemburg, it was not her philosophy, but her concrete action on the street, which had the impact on politics. JB: Yes, that’s true. But it was an action performed by principle. Where do we get our principles from? There is a desire for philosophy, a very popular desire.«772
Wenn Butler dann auch noch bekräftigt: »I am against what we call social engineering of all kinds«,773 dann wird klar, dass es um eine ganz andere Art politischen Engagements geht, als bei den in der Variationsrichtung ›gendernye issledovanija‹ positionierten russischen Feministinnen: Eine, in der Denken und Philosophieren mehr Gewicht hat als eine Forschung, auf Basis deren empirischer Expertise die Gesellschaft zum Besseren verändert oder die Frauenfrage gelöst werden solle.
771 Michalik, Desire, o. S. 772 Michalik, Desire, o. S. 773 Michalik, Desire, o. S.
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Abschließende Bemerkungen
Dieses Buch behandelt transnationale Aspekte einer Forschung, die auf ein Land der Peripherie bezogen ist und von Vertreter_innen der Peripherie, der Semiperipherie und auch des Zentrums betrieben wird. Geschrieben wurde es von einer in der sozialwissenschaftlichen Semiperipherie verorteten Sozialwissenschafterin. Dabei wurden theoretische Konzepte des Zentrums (Raum des Möglichen, Feld, Kapital …), aber auch der untersuchten Peripherie (»provinzielle«/»einheimische« Wissenschaft, [post-]sowjetische Geschlechterverträge) angewandt.774 An seinem Ende sollen die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und ein kleiner Ausblick formuliert werden. In der Analyse der Interviews mittels geometrischer Datenanalyse habe ich einen Raum konstruiert, dessen wichtigste Differenzierungskriterien erstens die geopolitische Positionierung im Kontext globaler Sozial- und Geisteswissenschaft und zweitens der Zugang zu internationalen frauenpolitisch motivierten Kontakten sind. In der durch die Integration der ersten zwei Dimensionen entstandenen Fläche sind die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Modi zu erkennen, in denen russlandbezogene Geschlechterforschung betrieben wird. Es gibt etwa die von ›westlichen‹ Protagonistinnen durchgeführte Forschung über Russland, in der Russland und seine Bewohner_innen (Forscher_innen inkludiert) ausschließlich in der Objektposition vorkommen (›Russian Studies‹/ ›Russland als Objekt der Forschung‹ als entgegengesetzte Variationsrichtungen). Eine weitere Form ist die selbstbewusste Haltung russischer Forscher_innen, die Geschlechterverhältnisse in Russland untersuchen und dabei auf (theoretischen, methodischen, finanziellen, thematischen) Input von außerhalb Russlands zugreifen können, aber nicht müssen (›gendernye issledovanija‹/›Postsowjetisches 774 Ich bin nicht ganz sicher, wo das theoretische Modell der akademischen Dependenz von Syed Farid Alatas hier einzuordnen ist. Alatas lebt und arbeitet in Malaysia, das keine Metropole der Sozialwissenschaften ist. Die National University of Singapore, an der er arbeitet, nimmt in weltweiten Rankings jedoch hohe Positionen ein. Alatas und seine Forschungen haben es zu internationaler Sichtbarkeit in den Sozialwissenschaften gebracht.
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Abschließende Bemerkungen
Selbstbewusstsein‹). Manche Protagonist_innen der russlandbezogenen Gender Studies praktizieren intensive, langjährige Zusammenarbeit in gemeinsamen transnationalen Verbindungen mit all den Höhe- und Tiefpunkten, die so etwas mit sich bringt (›Projekte‹). Ebenso gibt es lose, punktuelle Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, etwa anlässlich von Konferenzen oder einmaliger Publikationsprojekte (›Slawistik‹). Man findet die Praxis der Rezeption ›westlicher‹ Theorien, Methoden und Forschungen seitens russischer Geschlechterforscher_innen als alleinige oder überwiegende Form des Austauschs (›Rezeption‹) und eine Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen, die abseits des Hauptberufes oder der Erwerbsarbeit stattfindet (›Gender Studies nebenberuflich‹). Es ist kein Zufall, dass die Forschung, die Russland und Russ_innen zum Objekt (aber nicht Subjekt) der Untersuchung macht, ebenso wie die intensive Projektzusammenarbeit stärker bei Forscher_innen aus angelsächsischen Kontexten vertreten ist, während die punktuelle Zusammenarbeit eher der ›Slawistik‹ in deutschsprachigen Kontexten nahe ist. Die akademische Einbettung russlandbezogener Geschlechterforschung in unterschiedlichen Staaten außerhalb Russlands bestimmt die Möglichkeiten transnationaler Aktivitäten: So bieten die angelsächsischen Russian Studies eine bessere Ausgangsposition als die deutschsprachige akademische Landschaft.775 In der philologisch dominierten Slawistik nehmen Gender Studies eher eine Randposition ein, und für die Geschichtswissenschaft bietet die Beschäftigung mit Russland und Geschlechteraspekten eine »doppelte Herausforderung«,776 die nicht so oft angenommen wird. Etwas überraschend ist, dass die von der russischen Wissenschaftssoziologie konstatierte Opposition zwischen »provinzieller« und »einheimischer« Wissenschaft in den ersten Dimensionen keine Rolle zu spielen scheint.777 Die erste Dimension bildet die globale Arbeitsteilung in den Sozial- und Geisteswissenschaften am Spezialfall russlandbezogener (Geschlechter-)Forschung ab, wenn sich auch Ansätze zeigen, diese Hierarchie zu untergraben. Das Gegenüber der ›westlichen‹ Forscher_innen sind am ehesten Vertreter_innen der an einer internationalen Community orientierten »provinziellen« russischen Wissen775 Das trifft zu, auch wenn Russian Studies und andere Area Studies von Kürzungen und abnehmender Beliebtheit betroffen sind, vgl. Kenneth Yalowitz u. Matthew Rojansky, The Slow Death of Russian and Eurasian Studies, in: The National Interest, 23. 5. 2014, unter : http://nationalinterest.org/feature/the-slow-death-russian-eurasian-studies-10516, Zugriff: 31. 3. 2018. 776 Kraft, Herausforderung. 777 Auch in der dritten Dimension, die ich in meiner Dissertation ansatzweise interpretiert habe, kommt diese Opposition nicht vor, darin geht es um internationale Berühmtheit und Öffentlichkeitswirksamkeit, vgl. Garstenauer, Gender Studies, 242–275.
Abschließende Bemerkungen
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schaft. In der zweiten Dimension haben wir es in der dominanten Variationsrichtung mit selbstsicher auftretenden, international vernetzten russischen Geschlechterforscher_innen zu tun. Die Orientierung nach außen teilen sie mit der »provinziellen« Wissenschaft. Was sie von diesen aber klar unterscheidet, ist ihr Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre eigenen Leistungen und ihren eigenen Wert – Sokolov und Titarenko schreiben »provinziellen« russischen Wissenschafter_innen dagegen notorische Minderwertigkeitsgefühle zu.778 Die Überzeugung, nicht von irgendeinem Außen abhängig zu sein, entspricht wieder eher der »einheimischen« Wissenschaft. In der entgegengesetzten Variationsrichtung sind zwar Interviews mit Wissenschafter_innen aus der russischen Provinz positioniert, deren Statements aber keinen Anlass dazu geben, sie der »einheimischen« Wissenschaft zuzurechnen. Sie beschreiben teilweise dementsprechende Praktiken dritter Personen, die in diese Richtung gehen, aber ihre eigenen Ansprüche haben jedenfalls einen Horizont, der weiter reicht als das eigene universitäre Umfeld. Auch die Opposition zwischen der stärker an internationalen Diskursen orientierten russischen Geschlechterforschung und der eher »einheimischen« feminologija, die in der Literatur so häufig betont wird, steht in meinem Datenmaterial nicht im Vordergrund.779 Im hier konstruierten Kontext nehmen diese beiden Richtungen eine ziemlich ähnliche Position ein (Variationsrichtung ›gendernye issledovanija‹, dominierte Dominanz). Es sieht so aus, als bestünden noch weitere Varianten abseits der idealtypischen Dichotomien: »provinzielle« Wissenschafter_innen, die auch in einem »einheimischen« Umfeld Fuß fassen können. Artem Kosmarskis Studie beschreibt Forscher_innen aus der russischen Provinz, für die ein »invisible college« von Kolleg_innen aus Moskau und Sankt Petersburg sowie aus dem ›westlichen‹ Ausland eine wesentliche fachliche Referenz darstellen. Gleichzeitig können sie aber vor Ort erfolgreich ihre Forschung und Lehre durchführen.780 Tat’ana Barcˇunova schreibt dazu: »Russian scholars are motivated to become integrated in transnational scholarly networks not only for cognitive reasons but also because participating in these networks improves their status in the new, competitive academic milieu.«781 Kosmarskis Studie beruht auf Einzelfällen und damit wird die beschriebene Zweiteilung der Sozial- und Geisteswissenschaften nicht widerlegt. Nichtsdestotrotz zeigen diese Fälle, wie auch einige in meiner Studie, welche Spielarten darüber hinaus möglich sind. Man könnte hier – im Sinne von Michael Werner und B8n8dicte Zimmermann – von einer eigenen 778 Sokolov/Titarenko, Nauka, 10. 779 Ich gehe davon aus, dass die Analyse eines Samples, das nur russische Geschlechterforscher_innen umfasst, diese Opposition sehr wohl in einer der ersten Dimensionen aufweisen würde. Die Perspektive der hier vorliegenden Studie ist jedoch eine transnationale. 780 Kosmarski, Space, 92. 781 Barchunova, Transnational Project, 100.
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Abschließende Bemerkungen
»Logik des Transnationalen«782 sprechen, die Forscher_innen mehr Möglichkeiten eröffnet. Politisches Engagement ist neben Forschung ein weiterer Faktor, der in meiner Analyse als wichtiges Kriterium in Verbindung mit russlandbezogenen Gender Studies identifiziert wurde. Verhandlungen darüber, ob Gender Studies politisch sind oder sein sollen, und wenn ja, welche Form ein politisches Engagement von Forschung und Forschenden annehmen soll, ziehen sich durch so gut wie alle Interviews – und charakterisieren wesentlich die zweite Dimension. Dieser Punkt kann eine Schwäche, aber genauso gut eine Stärke russlandbezogener Geschlechterforschung ausmachen. So beschreibt etwa Elena Gapova in ihrem Artikel über die Strukturen von postsowjetischer Geschlechterforschung drei typische Reaktionen auf den Call for Papers einer Konferenz zu Kapitalismus und Patriarchat. Sie unterscheidet zwischen wissenschaftlich und thematisch adäquaten Beiträgen (die der »provinziellen« Wissenschaft entsprechen), solche, die der Form nach wissenschaftlich sind, aber inhaltlich und methodisch unzureichend (die der »einheimischen« Wissenschaft entsprechen) und einer dritten Sorte: »Weiters stachen jene hervor, deren Autoren mit ›Gender-Aktivismus‹ dem dritten Sektor und nichtstaatlichen Organisationen verbunden waren. Nachdem sie absolvierte Projekte (habe eine Organisation gegründet, habe an Konferenzen zu Geschlechtergleichstellung teilgenommen, war auf einer zweiwöchigen Reise in die Staaten oder in Schweden im Rahmen eines Programms zu ›Frauenrechte als Menschenrechte‹) aufgezählt hatten, boten sie an, ›über die Situation von Frauen in …‹ zu erzählen, aber beschränkten sich oft auf das Ansuchen: ›Ich bitte, mich zur Konferenz einzuladen und die Teilnahme zu bezahlen.‹«783
Dabei betont Gapova, dass solche Protagonist_innen durchaus etwas Wesentliches zu sagen hätten, dass nichtakademisches Wissen traditionellerweise in der Geschlechterforschung eine Rolle spiele und dass das politische Ziel dieses Forschungsfeldes durchaus darin liege, die Gesellschaft zu verändern. Das Format der akademischen Konferenz ist aber nicht der geeignete Rahmen, solches Wissen zu präsentieren: »Jedoch wendet die Akademie, deren Teil Gender Studies seitdem geworden sind, als Institution für die Produktion von Wissen bestimmte Prozeduren zur Verifikation wissenschaftlicher Ergebnisse und einen bestimmten Standard für deren Präsentation an, und die aktivistischen Einreichungen legten Wissen nicht in jener Form vor, die bei wissenschaftlichen Konferenzen üblich ist.«784
782 Werner/Zimmermann, Vergleich, 633. 783 Gapova, Zerkalo, 66. 784 Gapova, Zerkalo, 66, Kursiv im Original.
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Elena Gapova weist hier auf Traditionen hin, die auch andere postsowjetische Autor_innen beschrieben haben: »In truth, gender research was public sociology in the 1990s, or more precisely, public interdisciplinary transnational studies.«785 Politischer Aktivismus im Zusammenhang mit Geschlechterforschung muss aber nicht nur ein Element sein, das in der Geschichte der (mehr oder minder) erfolgreichen Akademisierung und Professionalisierung der Gender Studies irgendwann verloren geht, weil es in diesem Rahmen keinen Platz mehr hat. Michail Sokolov und Kiril Titaev haben vorgeschlagen, dass »Public Sociology«, also eine politisch engagierte und auch an eine breitere Öffentlichkeit gerichtete Sozialwissenschaft, ein Weg sein könnte, die Gräben zwischen »provinzieller« und »einheimischer« Wissenschaft in Russland zu überwinden. Auch Anna Temkina und Elena Zdravomyslova sehen hier ein Potenzial, das allerdings auch seinen Preis hat: »We have to admit that public sociology is very costly in terms of time and energy. We appeal to diverse audiences and therefore have to reach beyond our academic style. Since there are very few gender researchers, we are stretched very thin. We have to pursue a multiplicity of roles, which under a shortage of resources, creates problems of balance and professional burnout.«786
Einige aktuelle Publikationen im Bereich Gender- und vor allem Queer Studies weisen in die Richtung einer aktuellen und politisch relevanten und engagierten Forschung, so etwa Alexander Kondakovs jüngste Studie über Hassverbrechen gegen LGBT-Personen in Russland.787 Wie schon in der Einleitung erwähnt und in weiteren Kapiteln ausgeführt wurde: Geschlechterforschung befindet sich gegenwärtig in Russland in einer prekären Situation. Im Vergleich etwa zu der Zeit um die Jahrtausendwende, die eine Hochphase von Gender Studies in Russland bedeutete, befassen sich sehr viel weniger Personen und Institutionen mit einschlägigen Themen. Manche Personen, die früher selbst Protagonist_innen russlandbezogener Geschlechterforschung waren, distanzieren sich heute davon und beurteilen die Entwicklung des Fachs in Russland sehr kritisch.788 Allen widrigen Rahmenbedingungen zum Trotz scheint dies dennoch nicht das Ende transnationaler russlandbezogener Geschlechterforschung zu sein. Wurden auch viele Zentren für Gender Studies geschlossen, so arbeiten einzelne Forscher_innen inzwischen in anderen Institutionen an einschlägigen Themen. Der Europäischen Universität Sankt Petersburg wurde von Dezember 2016 bis August 2018 die Lizenz für die Lehre 785 786 787 788
Temkina/Zdravomyslova, Path, 259. Temkina/Zdravomyslova, Path, 266. Vgl. Kondakov, Prestuplenija. Sergej Usˇakin befand etwa 2012, dass Geschlechterforschung in Russland langweilig geworden und nicht nachhaltig sei. Vgl. Do i posle gendera, o. S.
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entzogen, das hindert die dort tätigen Wissenschafter_innen aber nicht, weiterhin zu forschen. Nicht alle Organisationen, die auf die »Liste der ausländischen Agenten« des Innenministeriums gesetzt wurden, haben daraufhin ihre Arbeit eingestellt, wie das Beispiel des Zentrums für Unabhängige Sozialforschung in Sankt Petersburg zeigt. Und schließlich sind landesweite Vernetzungen, wie etwa die Russische Assoziation der Forscher für Frauengeschichte (Rossijskaja associacija issledovatelej zˇenskoj istorii), ein Faktor, der die Geschlechterforschung (im genannten Fall die Frauen- und Geschlechtergeschichte) stärken kann. Wie sieht die Zukunft transnationaler Vernetzungen in der russlandbezogenen Geschlechterforschung aus? Es gibt einige Hinweise darauf, dass seit dem Jahr 2000 weniger Dissertationen in Russian Studies entstanden sind und dass Feldforschung in Russland aufgrund der politischen Entwicklungen seit Putins Machtübernahme schwieriger und dementsprechend seltener geworden sind.789 Die Kombination aus Russlandexpertise und Gender Studies bleibt Nischenprogramm.790 Nicht alle, aber sicher die meisten Spielarten von Gender Studies betrachten sich als feministisch. Grenzüberschreitende feministische Initiativen fordern neue Formen reflektierter transnationaler Solidarität, auch im Sinne von Chandra Talpade Mohantys »Feminist Solidarity/Comparative Feminist Studies«,791 wie schwierig das auch unter den Bedingungen globaler Arbeitsteilung in den Geistes- und Sozialwissenschaften sein mag. Es ist nicht davon auszugehen, dass die russische Seite bereit ist, sich mit einer vielleicht gut gemeinten, aber falschen Solidarität zufriedenzugeben. Ein starkes und zorniges Statement dazu äußerte vor wenigen Jahren die Feministin Vera Akulova: »So don’t try to express solidarity by posting rainbow-coloured church towers or kissing matryoshkas on your Facebook. That’s not solidarity. That’s one more step in perpetuating the world where real Russia doesn’t exist, only stereotypes about Russia. Real Russia is much more complicated than the stereotypes. In the real Russia, people don’t split neatly into Orthodox believers and homosexuals. In fact, the real Russia is multi-religious, and there are lots of atheists, too. It’s also multi-national, the fact that is so easily forgettable when you speak English, not distinguishing between the ethnic identity and the national citizenship (try calling a Tatar Russian!). In the real Russia, 789 Vgl. Yalowitz/Rojansky, Death; Goode, Redefining Russia, 1063. Eine sinkende Zahl an Anträgen von Forscher_innen an Fördereinrichtungen für die Finanzierung von Feldforschungen in Russland konstatiert Goode nur für Großbritannien, während in den USA »a steady stream of applications for fieldwork in Russia since 2003« zu beobachten sei, ebd., 1064. 790 Vgl. auch Alexandra Novitskayas aktuelle Untersuchungen, welche die Marginalität von Gender Studies bei großen US-amerikanischen Konferenzen für Post-Socialist Studies ebenso wie von russlandspezifischen Themen bei großen US-amerikanischen Women’s/ Gender/Queer Studies Konferenzen; Novitskaya, Academic Solidarity. 791 Mohanty, Revisited, 521.
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there is actually a lot of resistance that isn’t noticed, and a lot of successful resistance that escapes state repressions, there is a lot of LGBT activism aside from those who protest in front of the Duma or in the Red Square, and a lot of (different, wow!) feminists aside from Pussy Riot.«792
Teilweise sind Ansätze zu beobachten, sich auf eine Form der Zusammenarbeit einzulassen, welche die Unterschiede, Hierarchien und Privilegien, die das Verhältnis zwischen den Involvierten charakterisieren, zur Kenntnis nehmen und zu ändern versuchen. Die unter 4.3.3 genannte Konferenz »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity : Queering Concepts on/from a Post-Soviet Perspective«, ist hier zu erwähnen. Zu deren Organisationsteam gehörten auch Migrant_innen, die von Russland nach Deutschland oder Österreich gekommen waren und entsprechende Sensibilität für kulturelle Unterschiede und Hierarchien mit- und einbrachten. In einem Mail, das die Teilnehmer_innen einige Wochen vor Beginn der Veranstaltung erhielten, hieß es etwa: »Also, dear Western people, whose first language is English: please keep in mind that you will be a (privileged) minority at the event and that you cannot expect from others to speak English at the same level you are used to. So please try to pay attention to the language you use and check this privilege.«793
Angesichts dieser Schritte in eine Richtung der reflektierten Solidarität fühlt man sich an Raewyn Connells in »Southern Theory« vorgeschlagene Wege zur Überwindung der Hegemonie des ›Nordens‹ beziehungsweise ›Westens‹ erinnert.794 Es geht darum, Unterschiede und Hierarchien zwischen Zentren und Peripherien zu erkennen und zu benennen und die materiellen und institutionellen Bedingungen in Betracht zu ziehen, unter denen in unterschiedlichen Kontexten Wissenschaft betrieben, Wissen produziert und zirkuliert wird. Die Verhältnisse zwischen unterschiedlichen Formen von Wissen – nicht-›westliches‹, nichtkanonisiertes sozialwissenschaftliches ebenso wie nichtakademisches Wissen inkludiert – sind zu berücksichtigen. Meine Studie sehe ich als einen Beitrag zu diesem Projekt.
792 Vera Akulova, Russia is Screwed Up, So Are You, Blogeintrag vom 11. 2. 2014, unter : https:// kvirpropaganda.wordpress.com/2014/02/11/russia-is-screwed-up-so-are-you/, Zugriff: 31. 3. 2018. 793 Aus dem Mail des Organisationsteams der Tagung »Queering Paradigms IIX: Fucking Solidarity : Queering Concepts on/from a Post-Soviet Perspective«, 1. 8. 2017. 794 Connell, Theory, 212f.
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Anhang
Liste der Abbildungen und Tabellen Abbildungen Abb. 1:
Artikel, Rezensionen und Interviews in Women’s/Gender/Feminist Studies Journals (1976–2016) Abb. 2: Rezensierte Bücher zu Gender und Russland in Women’s/Gender/Feminist Studies Journals (1975–2014) Abb. 3: Grobschematische Darstellung der erste Dimension Abb. 4: Schematische Darstellung: dominante Variationsrichtung der ersten Dimension Abb. 5: Schematische Darstellung: dominierte Variationsrichtung der ersten Dimension Abb. 6: Grobschematische Darstellung der zweiten Dimension Abb. 7: Schematische Darstellung: dominante Variationsrichtung der zweiten Dimension Abb. 8: Schematische Darstellung: dominierte Variationsrichtung der zweiten Dimension Abb. 9: Schematische Darstellung der Flächengrafik Abb. 10. Merkmale mit überdurchschnittlichen Beiträgen zur ersten und zweiten Dimension Abb. 11: Flächengrafik – Ausgewählte Merkmale Abb. 12: Interviews in der Fläche
Tabellen Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Osten/Westen (nach Erhart Stölting) Mittel der MacArthur-Foundation nach Städten (1993–2006) Fragenleitfaden auf Deutsch (Übersicht) Geburtsjahre der Respondent_innen Verortung der Respondent_innen
308 Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14:
Anhang
Forschungsmethoden (nach Häufigkeit gereiht) Persönliche Beziehungen (nach Häufigkeit gereiht) Verwendungen von »Wir« (nach Häufigkeit gereiht) Forschungsthemen (nach Häufigkeit gereiht) Übersetzungsrichtungen in den Interviews Mehrmals erwähnte Autor_innen (alphabetisch) Erwähnte Bücher (nach Erscheinungsjahr gereiht) Konferenzen (chronologisch) Erwähnte Disziplinen (nach Häufigkeit gereiht)
Interviews (in der Reihenfolge ihrer Entstehung; aus Gründen der Anonymisierung ist nur das Datum angegeben): Interview mit R 1: Interview mit R 2: Interview mit R 3: Interview mit R 4: Interview mit R 5: Interview mit R 6: Interview mit R 8: Interview mit R 7: Interview mit R 9: Interview mit R 10: Interview mit R 11: Interview mit R 13: Interview mit R 15: Interview mit R 16: Interview mit R 12: Interview mit R 14: Interview mit R 30: Interview mit R 27: Interview mit R 31: Interview mit R 22: Interview mit R 19: Interview mit R 20: Interview mit R 24: Interview mit R 26: Interview mit R 28: Interview mit R 25: Interview mit R 21: Interview mit R 23: Interview mit R 17:
2. 5. 2002 28. 5. 2002 1. 6. 2002 7. 6. 2002 16. 6. 2002 20. 6. 2002 31. 7. 2002 31. 7. 2002 19. 8. 2002 27. 11. 2002 28. 11. 2002 9. 5. 2003 20. 5. 2003 26. 5. 2003 23. 8. 2003 24. 8. 2003 2. 6. 2004 1. 12. 2005 22. 11. 2006 12. 9. 2007 13.9. 007 15. 9. 2007 18. 9. 2007 26. 9. 2007 1. 10. 2007 2. 10. 2007 3. 10. 2007 2. 12.2007 20. 12. 2007
309
Fragenleitfaden
Interview mit R 29: Interview mit R 18: Interview mit R 32:
29. 2. 2008 17. 8. 2008 17. 10. 2008
Weitere für die Analyse verwendete Texte Engel, Barbara, Interview with Olga Lipovskaia, in: Frontiers, 10, 3 (1989), 6–10. hooks, bell u. Tanya McKinnon, Sisterhood: Beyond Public and Private, in: Signs, 21, 4 (1996), 814–829. Lejma, Gejdar u. Marija Arbatova, Interv’ju na teme svobody [Interview zum Thema Freiheit], in: Krysˇa: dom, sem’ja, stil’ zˇizni, 1998, o. S., unter : http://www.feminist.org. ua/library/mass-media/intervju/arbatova.php, Zugriff: 30. 8. 2009. Michalik, Regina, The Desire for Philosophy. An Interview with Judith Butler, in: LOLAPRESS, 2 (2001), unter : http://www.lolapress.org/elec2/artenglish/butl_e.htm, Zugriff: 31. 3. 2018. »Nikakogo drugogo puti ja dazˇe pomyslit’ ne mog …« [»Einen anderen Weg hätte ich mir gar nicht erst vorstellen können …«]. Interview mit Gennadij Batygin, geführt von Natal’ja Maszlumanova, 23. 1. 2002, in: Sociologicˇeskij Zˇurnal [Soziologische Zeitschrift], 2 (2003), 132–167. »Passport«, unveröffentlichtes Manuskript, Moskau 2002. Petriasˇvili, Galina, Interv’ju. Asja Posadskaja: Na barrikadach i doma [Interview : Asja Posadskaja: Auf den Barrikaden und zu Hause], in: We/My. Dialog Zˇensˇcˇin [Wir/Wir. Dialog der Frauen], 1 (2005), 36–43. Posadskaya, Anastasia, Self-Portrait of a Russian Feminist, in: New Left Review, 195 (1992), 3–19. Retschnig, Renate, Interview mit Donna Haraway, 4. 5. 1995 (aus dem Nachlass Renate Retschnig, Stichwort, Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung). Interview mit Therese Garstenauer, geführt von Stephanie Fürtbauer, 2006.
Fragenleitfaden Russisch DhY\Ybm \Y Sl XQ adRVW_] ? (AQbb[QWYcV, `_WQ\dZbcQ, _R nc_] !) @aV`_UQSQ\Y \Y Sl XQ adRVW_] ? @a_S_UY\Y Y\ Sl Ybb\VU_SQ^Yp XQ adRVW_] ? ;Q[_Z _`lc/[Q[YV S`VhQc\V^Yp Vbcm d SQb _c b_cadU^YhVbcSQ b_ XQadRVW^l]Y [_\\VTQ]Y S _R\QbcY TV^UVa^lf Ybb\VU_SQ^YZ ?
310
Anhang
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Englisch Have you been studying abroad in Russia? (Please, tell me about it!) Have you been teaching in Russia? Have you been doing research in Russia? Have you collaborated with Russian researchers? Please tell me about some of your experience and impressions! (By collaboration, I mean joint research projects, joint publications, the organisation of joint conferences or similar things). Could you tell me about some of your experiences at (Gender Studies and other) conferences in which Russian colleagues took part? How do you assess the role of languages/knowledge of languages in international research co-operation in Gender Studies? How do you think about the role of international funding for Russian Gender Studies? Is there anything you would like to add? Is there anything important you have not mentioned yet?
Deutsch Haben Sie in Russland studiert? (Erzählen Sie bitte davon!)
311
Liste der in Abschnitt 4.4 analysierten Zeitschriften
Haben Sie in Russland unterrichtet? Haben Sie Forschungsaufenthalte in Russland verbracht? Haben Sie mit russischen Kolleg_innen zusammengearbeitet? Können Sie mir ihre Erfahrungen und Eindrücke erzählen? (Präzisierung zur Frage: Damit meine ich Forschungsprojekte, gemeinsame Publikationen, Konferenzen und ähnliches.) Können Sie mir von Ihren Erfahrungen bei internationalen Konferenzen (zu Gender Studies und anderem) erzählen, an denen auch Russinnen und Russen beteiligt waren? Wie schätzen Sie die Rolle von Sprache/Sprachkenntnissen für die internationale Zusammenarbeit in der Geschlechterforschung ein? Wie schätzen sie die Rolle internationaler Fonds für die Geschlechterforschung in Russland ein? Möchten Sie noch etwas hinzufügen? Haben wir etwas Wichtiges vergessen?
Liste der in Abschnitt 4.4 analysierten Zeitschriften: Feminist/Women’s/Gender Studies
Zeitschrift
erscheint seit/ erschien von–bis
Land
Affilia: Journal of Women and Social Work
1986
USA
Aspasia: The International Yearbook of Central, Eastern, and Southeastern European Women’s and Gender History 2007 Australian Feminist Studies 1986
USA Australien
Beiträge zur Feministischen Theorie und Praxis Clio: Women, Gender, History
1978–2008 Deutschland 1980 Frankreich
Die Philosophin: Forum für feministische Theorie und Philosophie Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies
1990–2005 Deutschland 1989 USA
European Journal of Women’s Studies Femina Politica: Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft
1994
UK
1992
Deutschland
312
Anhang
(Fortsetzung)
Zeitschrift Feminism & Psychology
erscheint seit/ erschien von–bis 1991
Land Neuseeland
Feminist Criminology Feminist Economics
2006 1995
USA USA
Feminist Issues (ab 1998: Gender Issues) Feminist Review
1981 1979
USA UK
Feminist Studies Feminist Theology
1972 1992
USA UK
Feminist Theory Feministische Studien
2000 1982
UK Deutschland
Frontiers; A Journal of Women’s Studies Gay and Lesbian Review
1975 1994
USA USA
Gender : Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 2009 Gender & History 1989
Deutschland UK/USA
Gender & Society Gender and Education
1987 1989
USA UK
Gender and Language
2007
Gender, Technology and Development
1997
Kanada/ Neuseeland Thailand/ Japan u. a.
GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies Hypatia: A Journal of Feminist Philosophy
1993 1983
USA USA
Indian Journal of Gender Studies Journal of Feminist Studies in Religion
1994 1985
Indien USA
Journal of Gender Studies Journal of Lesbian Studies
1991 1997
UK USA
Journal of Men’s Studies Journal of Women and Politics (ab 2005: Women and Politics)
1992
USA
1980
USA
Journal of Women’s History L’Homme: Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft
1989
USA
1994
Österreich Deutschland/ Südafrika/ Uruguay USA USA
Lola Press: Revista Feminista Internacional, International 1994 Feminist Magazine Men & Masculinities
1998
Meridians: Feminism, Race, Transnationalism
2000
313
Liste der in Abschnitt 4.4 analysierten Zeitschriften
(Fortsetzung)
Zeitschrift Nora: Nordic Journal of Feminist and Gender Research
erscheint seit/ erschien von–bis 1993
Land Finnland
The National Women’s Studies Association Journal Psychology of Women Quarterly
1988 1976
USA USA
Recherches F8ministes Sexualities
1988 1998
Frankreich UK
Signs: Journal of Women in Culture and Society Studies in Gender and Sexuality
1975 2000
USA USA
Violence Against Women Women & Therapy
1995 1982
USA USA
Women’s History Review Women’s Review of Books
1992 1983
UK USA
Women’s Studies International Quarterly/ (ab 1982: Women’s Studies International Forum) Women’s Writing
1981 1994
UK UK
Zeitschrift für Frauenforschung (ab 1999: und Geschlechterstudien)
1993
Deutschland
L’Homme Schriften Band 24: Laura Fahnenbruck
Band 23: Cornelia Baddack
Ein(ver)nehmen
Katharina von Kardorff-Oheimb (1879–1962) in der Weimarer Republik
Sexualität und Alltag von Wehrmachtsoldaten in den besetzten Niederlanden 2018. 474 Seiten, gebunden € 60,– D / € 62,– A ISBN 978-3-8471-0742-2 eBook: € 49,99 ISBN 978-3-8470-0742-5
Unternehmenserbin, Reichstagsabgeordnete, Vereinsgründerin, politische Salonnière und Publizistin 2016. 703 Seiten, gebunden € 100,– D / € 103,– A ISBN 978-3-8471-0614-2 eBook: € 79,99 ISBN 978-3-8470-0614-5
Die Bände von „L’Homme Schriften“ 1 bis 22 und „L’Homme Archiv“ 1 bis 5 sind beim Böhlau Verlag erhältlich: www.boehlau-verlag.com
L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 29. Jg., Heft 1 (2018)
29. Jg., Heft 2 (2018)
Wissen schaffen
1914/18 – revisited
hg. von Claudia Opitz-Belakhal und Sophie Ruppel
hg. von Christa Hämmerle, Ingrid Sharp und Heidrun Zettelbauer
178 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 25,80 A ISBN 978-3-8471-0824-5 eBook: € 19,99 ISBN 978-3-8470-0824-8
Erscheint im November 2018
30. Jg., Heft 1 (2019)
Fall – Porträt – Diagnose hg. von Regina Schulte und Xenia von Tippelskirch Erscheint im April 2019