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German Pages 298 Year 2020
Christian Reichel Mensch – Umwelt – Klimawandel
Sozial- und Kulturgeographie | Band 32
Für Lou, dass Du hoffentlich Eis und Schnee erfahren kannst, wie Deine Eltern
Christian Reichel (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) und Dozent am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. Seine umweltanthropologische und humangeographische Arbeit konzentriert sich auf Mensch-Natur-Beziehungen, soziale Innovation und Digitalisierungen, nachhaltige Ressourcennutzungsstrategien sowie adaptive Co-Management-Ansätze im Kontext unberechenbarer Umweltveränderungen. Er forschte zudem mit ethnographischen und kartographischen Methoden über soziale Resilienz und Anpassungsfähigkeit in verschiedenen sozial-ökologischen Kontexten in Afrika, Asien und Europa.
Christian Reichel
Mensch – Umwelt – Klimawandel Globale Herausforderungen und lokale Resilienz im Schweizer Hochgebirge
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 11 Hintergrund der Forschung | 11 Relevanz und Bezug zur Forschungslandschaft | 15 Ablauf der Forschung | 18 Die teilnehmende Beobachtung | 21 Partizipative Kartierungen | 31 Aufbau der Arbeit | 36 Theoretischer Bezugsrahmen | 41 1.1 Globaler Umweltwandel | 41 1.2 Das Anthropozän: Eine kritische Reflexion am Beispiel des Klimawandels | 46 1.3 Auswirkungen und Erleben des Klimawandels in den Alpen | 53 1.4 Vulnerabilität, Resilienz und Adaption | 71 1.5 Lokales Wissen | 87 1
Das Safiental in den Schweizer Alpen | 101 Projektionsfläche Alpen | 101 Siedlungsstruktur und Geschichte | 115 Lokales Umweltwissen | 125 Naturwahrnehmungen und Naturkonzeptionen | 149 Exkurs: Naturgefahrenwahrnehmung der Toraja Masupu, Süd-Sulawesi/Indonesien | 174 2.6 Sozial-ökologische Herausforderungen im Safiental | 184 2
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
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Nachhaltige Klimaanpassungsstrategien: Eine soziokulturelle Perspektive | 213
3.1 Lokales Wissen im Naturgefahrenmanagement | 213 3.2 Sozial-ökologischer Systemansatz: zwischen Interdisziplinarität und Reduktion | 223 3.3 Multimediakartierung als Chance und Perspektive im Naturgefahrenmanagement | 232
Fazit | 243
Ausblick | 252 Anhang | 255
Glossar | 255 Informant_innenverzeichnis | 256 Abkürzungsverzeichnis | 259 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis | 261 Literatur | 267
Vorwort
In dieser für den Druck überarbeiteten Dissertationsschrift beschäftige ich mich mit der Beziehung von Mensch und Umwelt in Gebirgsregionen. Ich konzentriere mich dabei auf Bergbauern und -bäuerinnen, da diese aufgrund ihrer Lebensund Wirtschaftsweise in enger Wechselwirkung zu vulnerablen Ökosystemen stehen und daher sozial-ökologische Veränderungsprozesse schneller und intensiver erfahren als dies in anderen Regionen der Fall ist. Ausgangspunkt bildete das internationale Forschungsprojekt „Alpine Naturgefahren im Klimawandel – Deutungsmuster und Handlungspraktiken vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“ (ANiK), für das ich von 2011 bis 2014 tätig war. Ziel des Projektes war es, in unterschiedlichen Regionen im deutschsprachigen Alpenraum historisch gewachsene Deutungsmuster und Handlungspraktiken im Umgang mit Natur und Naturgefahren zu untersuchen, um alternative Entwicklungspfade für ein professionelles Naturgefahrenmanagement vorzuschlagen. In der vorliegenden Arbeit beschränke ich mich auf eine der im ANiK-Projekt untersuchten Regionen: das landwirtschaftlich geprägte Safiental, eine Hochgebirgsregion in der Schweiz im Kanton Graubünden. Zu Vergleichszwecken werden zudem Ergebnisse aus dem touristisch geprägten Engadin sowie dem landwirtschaftlich geprägten Masuputal in Süd-Sulawesi (Indonesien) berücksichtigt, wo ich zeitnah zu den gleichen Themenfeldern forschte. Bei meinen Forschungen erfuhr ich viel Unterstützung: Ich möchte mich zu allererst bei den Menschen bedanken, die mir Einblicke in ihre Lebenswelt gewährten, mich herzlich aufgenommen und tatkräftig unterstützt haben. Dies ist vor allem Christian Messmer aus dem Safiental (Schweiz), ohne dessen Hilfe und außergewöhnliches Umweltwissen die Multimediakartierung dieser Arbeit nicht realisierbar gewesen wäre. Danken möchte ich auch Thomas, Michel und Daniel Buchli, Angelika und Erwin Bandli, Ricarda und Christian Zinsli, Ursulina und Christian Joos, Matli Hunger, Werner Stucki, Hans-Peter und Julia Gander, Fridolin Blummer, Tamara Bühler, Hans-Jürg Gredig, Felicia Montalta, Rolf Weinrich sowie dem leider mittlerweile verstorbenen Paul Gartmann-Dettli
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für ihre große Offenheit und Unterstützung mir und meiner Forschung gegenüber. Im Oberengadin (Schweiz) sind es vor allem, Dr. Ruedi Haller, Dr. Felix Keller, Paul Nigg, Peter Nickli, Gulf Denoth, Ueli Bärfus sowie Dr. Katharina von Salis, die mir während langer Gespräche sehr geholfen haben. Im Paznaun (Österreich) bin ich Karoline Hussein für ihre tagelange Kartierung und viele Gespräche dankbar. In der Region Obere Iller (Deutschland) war es vor allem das enorme Wissen von Berthold Richard über die Wetterveränderungen der letzten 50 Jahre. In Bezug auf meine Forschung in Sulawesi (Indonesien) konnte ich von Linda Enbon, Andi Maddusila und Bak Lagi sehr viel lernen. Dann möchte ich mich bei meinen beiden Gutachtern, Prof. Dr. Urte Undine Frömming und Prof. Dr. Ranty Islam für ihr Vertrauen und die vielen konstruktiven Gespräche bedanken, nicht nur während der Feldforschung, sondern auch später in der Entwicklung dieser Arbeit. Sehr dankbar bin ich auch für die Möglichkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projektes ANiK („Alpine Naturgefahren im Klimawandel – Deutungsmuster und Handlungspraktiken vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“), das Teil des Forschungsbereiches für Nachhaltige Entwicklung war, aufgrund großzügiger Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zu forschen. Die intensive Zusammenarbeit mit dem gesamten Team des Forschungsprojektes ANiK war großartig. Die vielen Impulse anlässlich unserer tagelangen Projektreffen mit vielen Tassen Kaffee haben mir geholfen, meine Arbeit zu reflektieren, interdisziplinäre Schnittstellen zu suchen und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Prof. Frömming habe ich schon erwähnt, dies gilt aber auch für die hoch interessante und innovative Arbeit von Prof. Dr. Martin Voss, Prof. Dr. Manfred Jakubowski-Tiessen, Dr. Klaus Pukall, Prof Dr. Sylvia Kruse, Prof. Dr. Irmi Seidl, Karsten Balgar, Sascha Schildhauer, Peter Reinkemeier, Dr. Josef Bordat, Dipl. Soz. Karsten Balgar, Julia Wesely und Daniela Singer. Darüber hinaus war mein Status als Gastwissenschaftler an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) wichtig, um mich vernetzen zu können und Literaturrecherchen zu betreiben. Das Gleiche gilt für das Institut für Sozialanthropologie der Universitas Indonesia in Jakarta, insbesondere für den Arbeitsbereich von Prof. Yunita Winarto, dessen logistische und fachliche Unterstützung einfach großartig war. Besonders hervorheben möchte ich auch den sehr inspirierenden Austausch mit meinen Kolleg_innen vom Leibniz Institut für Raumbezogene Sozialwissenschaften (IRS). Vor allem der Wissenssoziologische Forschungsansatz von Frau Prof. Dr. Gabriela Christmann hat dazu beigetragen, wichtige Teile dieses Buchs zu überdenken und deutlich zu verbessern.
Vorwort
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Erwähnt werden muss auch Prof. Dr. Hermann Kreutzmann, der mir umfassende Denkanstöße gegeben hat, sowie die hervorragende Lektoratsarbeit von Monika Kopyczinski und Angelika Wulff. Zum Schluss, aber eigentlich könnten sie ganz vorn stehen, möchte ich meiner Familie danken. Allen voran Karin, meiner Frau, für ihre wissenschaftliche Weitsichtigkeit, die Themen Umweltdegradation und soziale Ungleichheit ganzheitlich zu denken. Dann meiner Tochter Lou, die mir gezeigt hast, worauf es wirklich ankommt im Leben. Meinem Schwiegervater Robert, für die langen Gespräche, die mir Klarheit verschafft haben. Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Eltern: Dass ich als Kind an Eurer Passion für Bergsteigen teilhalben durfte, war vielleicht ein nicht zu unterschätzender Grund, warum die Doktorarbeit entstanden ist.
Einleitung
H INTERGRUND DER F ORSCHUNG Noch nie zuvor war der Einfluss des Menschen auf seine natürliche Umwelt so umfassend wie heute. Das „kohlenstoffbasierte“ Wirtschaftswachstum der reichsten Länder der Erde hat vor allem in den letzten Jahrzehnten Umweltveränderungen mit unberechenbaren Folgen angestoßen.1 Dies betrifft nicht nur globale Phänomene, wie den Klimawandel oder einen massiven Biodiversitätsverlust, sondern auch Umweltdegradation auf regionaler Ebene, wie die Ausbreitung von Monokulturen oder die bedenkenlose Übernutzung natürlicher Ressourcen. In unserer globalisierten Gesellschaft gibt es mittlerweile kaum noch Ökosysteme, die nicht vom Menschen destruktiv beeinflusst werden. Von dieser Entwicklung sind alle Menschen betroffen, die einen mehr, die anderen weniger. Besonders hart trifft es zum Beispiel die Bergbauern und -bäuerinnen, weil diese aufgrund ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise unmittelbar von vulnerablen Ökosystemen abhängen. Viele von ihnen sind kulturell eng mit ihrer natürlichen Umwelt verbunden, was sich nicht zuletzt auch in Mythen oder religiösen Vorstellungen äußert, die wiederum die Wahrnehmung der Umweltveränderungen und die Nutzung natürlicher Ressourcen beeinflussen. Problembeschreibungen destruktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen verbleiben zumeist auf einer Metaebene und erfassen insofern nicht, wie Menschen Umweltdegradation und globale Phänomene wie den Klimawandel auf der Basis ihrer soziokulturell geprägten Deutungsmuster innerhalb ihres Lebensalltags erfahren, welche sozialen Folgen daraus resultieren und welche kulturellen Bewältigungsformen existieren. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist der naturwis-
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Siehe hierzu die Arbeiten von Schellnhuber 2015; Millennium Ecosystem Assessment 2005; IPCC 2014a; WGBU 2011; Rockström und Klum 2012; Biggs et al. 2015a; Steffen et al. 2015a; b; Lucht 2018.
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senschaftlich determinierte Diskurs um den globalen, anthropogen verursachten Klimawandel: Innerhalb der politischen Aushandlungsprozesse über Anpassungs- und Mitigationsmaßnahmen wird dieser vorrangig als ein quantifizierbares Problem identifiziert, das sich mit entsprechenden, zumeist technischen Lösungen bewältigen lässt (vgl. Leggewie und Welzer 2010; von Storch und Kraus 2013; Gosh 2016; Böschen et al. 2014; Voss 2010). Die daraus resultierende Zielsetzung der internationalen Klimapolitik, die globale Erwärmung unterhalb von zwei Grad Celsius im Vergleich zum Level vor der Industrialisierung zu halten, ist eine sehr wichtige Leitlinie, um politische Maßnahmen zur Klimamitigation und -adaption abzustimmen und politische Entscheidungsträger medienwirksam zu mobilisieren. Allerdings wird dabei zu wenig reflektiert, was ein Temperaturanstieg von einem halben, einem, zwei oder drei Grad Celsius überhaupt für Menschen aus unterschiedlichen soziokulturellen und -ökologischen Kontexten bedeutet. Hier setzen umweltanthropologische Forschungen2 wie diese an. Sie zeigen, dass es eben nicht ein oder zwei Grad Celsius mehr sind, die die gesellschaftlichen Auswirkungen des globalen Problems „Klimawandel“ ausmachen, sondern untersuchen, wie Menschen diese Veränderungen wahrnehmen, deuten und auf sie reagieren und über welche Anpassungskapazitäten sie verfügen. Globale Phänomene wie der Klimawandel enthalten und bewirken immer auch lokale Brechungen und werden daher je nach soziokulturellem Kontext Teil einer lokalen Lebenswirklichkeit – dies zu veranschaulichen ist ein Ziel dieser Studie. Solche „Deutungsmuster“ und „Handlungspraktiken“ sind maßgebende Faktoren, wie vulnerabel oder resilient Individuen, soziale Gruppen oder auch Gesellschaften gegenüber destruktiven Umweltveränderungen sind und welche Bereitschaft sie aufweisen, sich an sie anzupassen oder sie zu bewältigen.3 Ich
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Siehe hierzu beispielsweise Gosh 2016; Callison 2014; Crate 2016; Frömming 2006; Frömming und Reichel 2011; Harms 2013; Hornidge und Antweiler 2012; Islam 2012; Hastrup und Hastrup 2015; Ingold 2000; Luig 2012; Stensrud 2016; Reichel/ Martens/Harms 2012; Roncoli, Crane und Orlove 2009; Townsend 2000; Vaughn 2017; Whyte 2017 etc.
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Die beiden wissenssoziologischen Begriffe „Deutungsmuster“ und „Handlungspraktiken“ dienten dem interdisziplinären Verbundprojekt „Alpine Naturgefahren im Klimawandel – Deutungsmuster und Handlungspraktiken vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“ (ANiK), innerhalb dessen auch meine Forschung angesiedelt war, als interdisziplinäres Brückenkonzept. Ich werde unten meinen Bezug zum dem Projekt genauer erläutern und in Kapitel 1.4.1 „Deutungsmuster und Handlungspraktiken“ klären, warum ich sie auch in Bezug auf meine Forschung im Safiental verwende.
Einleitung
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konzentriere mich dabei auf Menschen, die in einem Raum leben, der gegenwärtig tiefgreifende sozial-ökologische4 Veränderungen erfährt: die Bergbauern und -bäuerinnen im Safiental in den Schweizer Alpen (Kanton Graubünden). Dem Schweizer Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie zufolge hat sich allein im Zeitraum von 1864-2019 die Jahresdurchschnittstemperatur in der Schweiz um fast 2 Grad Celsius erhöht. Das ist fast doppelt so hoch wie der globale Durchschnitt (BAFU 2019; MeteoSchweiz 2019). Die Schweizer Alpen gelten als äußerst klimasensible Region, in der sich aufgrund steigender Temperaturen die Magnitude und Frequenz dynamischer Naturprozesse (Steinschlag, Lawinen etc.) und schleichender Umweltveränderungen (Auftauen des Permafrosts, Ansteigen der Waldgrenze etc.) bereits drastisch verändert haben.5 Allerdings existiert bislang nur ein geringes Wissen darüber, wie die Menschen, zum Beispiel im Safiental, die lokale Brechung gestalten, wie sie diese Veränderungen wahrnehmen und inwiefern sie diesen Veränderungen in ihrem kulturellen Kontext „Realität verleihen“. Denn selbst „wenn der Klimawandel den gesamten Globus betrifft, kann er im Alltag nur über lokale kulturelle Kodierungen und Deutungsmuster erfahren werden“ (Greschke und Gesing 2012: 7). Trotz präziser Langzeit-Wetterdaten seit 1850 herrscht aufgrund der komplexen Reliefstruktur des Gebirges nach wie vor große Unsicherheit darüber, wo neue Risiken auftauchen und andere abnehmen können. Daher ist das auf Erfahrung basierte, oftmals sehr differenzierte Umweltwissen derjenigen Menschen von besonderer Bedeutung, die sich seit Generationen in ihrer Lebensweise an dynamische und schleichende Umweltveränderungen anpassen müssen – sei es durch land- und forstwirtschaftliche Praktiken, die potentiellen Naturgefahren vorbeugen, oder durch die Entwicklung einer Risikokultur.6 Um diesen Prob-
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Der Begriff „sozial-ökologisch“ wird verwendet, um holistisch reziproke MenschNatur-Beziehungen zu beschreiben. Anstelle „Mensch“ und „Natur“ als zwei getrennte Analyseeinheiten zu betrachten, liegt der Fokus auf der dynamischen Interaktion und auf den Wechselwirkungen der vermeintlich dichotomen Einheiten.
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Siehe hierzu beispielsweise IPCC 2014c: 11-28; Marty et al. 2009: 202-206; Keiler et
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Um den Begriff „Risikokultur“ einzugrenzen, orientiere ich mich an einer Definition
al. 2010: 2466; Rebetez 2006: 59-93; ANiK 2015: 6. des Historikers Christian Rohr. Dieser zufolge führe der „dosierte Umgang“ mit Naturgefahren zu routinierten Reaktionsmustern und zu einer gewissen Erwartungshaltung von Extremereignissen, sodass es in Gesellschaften, in denen sie häufig auftreten, weniger zu katastrophalen Ereignissen kommt (vgl. Pfister 2009: 240; Rohr
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lemkomplex nachzugehen, untersuchte ich im Rahmen dieser Forschungsarbeit folgende Leitfragen: • •
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Welches lokale Umweltwissen existiert zur Anpassung an sozial-ökologische Veränderungen und zum Schutz vor damit verbundenen multiplen Risiken? Wie tragen historisch gewachsene und kulturell spezifische Deutungsmuster von Natur (inklusive religiöse Vorstellungen) dazu bei, katastrophale Ereignisse mental zu verarbeiten, zu überwinden sowie potentielle Risiken zu vermeiden? Wie werden der globale Klimawandeldiskurs und die ihm zugeschriebenen Umweltveränderungen lokal wahrgenommen und gedeutet? Wie beeinflussen diese kulturell spezifischen Wahrnehmungsformen die Bereitschaft, sich an diese anzupassen? Wie prägen lokale Ressourcennutzungsstrategien eine Kulturlandschaft7 mit vielfältigen Ökosystemleistungen?8
2007). Ich werde dies anhand eines konkreten Beispiels in den Kapiteln 2.4.3 „Wahrnehmung von Naturgefahren“ und 2.5 „Exkurs: Naturgefahrenwahrnehmung der Toraja Masupu, Süd-Sulawesi/Indonesien“ genauer erläutern. 7
Im Rahmen dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die häufig zu findende Differenzierung zwischen Natur- und Kulturlandschaft irreführend ist. Vielmehr bildet die Kulturlandschaft ein Bindeglied zwischen den nur scheinbar dichotomen Einheiten „Natur“ und „Kultur“. Gerade in Zeiten des Klimawandels wird nahezu jede vermeintliche „Naturlandschaft“ durch menschliche Einwirkung beeinflusst. Um den Begriff „Kulturlandschaft“ fassen zu können, orientiere ich mich an der Definition der Europäischen Landschaftskonvention. Dieser zufolge entstehen „Landschaften [...] im Zusammenspiel von Natur und menschlicher Kultur. Sie erfüllen wichtige Funktionen für jeden Einzelnen und die gesamte Gesellschaft: wirtschaftlich als Standortfaktor, ökologisch als natürliche Ressource, sozial und gefühlsmäßig als Lebens- und Erholungsraum. In Landschaften sind natur- und kulturgeschichtliche Entwicklungen niedergeschrieben.“ In Bezug auf unsere Naturwahrnehmung und Naturkonzeption beinhaltet „Landschaft [...] den gesamten Raum – so wie wir ihn wahrnehmen und erleben. [Demnach ist sie] zweifach menschlich geprägt: einerseits als Produkt unserer räumlichen Handlungen und andererseits als innere Repräsentation unserer raumbezogenen Wahrnehmung.“ Councel of Europe (COE) 2000 nach Stotten 2015: 12.
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Ökosystemleistungen sind die Vorzüge, die Menschen aus der Interaktion mit ihrer Umwelt beziehen. Hierzu gehören Rohstoffe wie sauberes Trinkwasser, Holz, Nahrung etc. Hierauf werde ich in Kapitel 3.2 „Sozial-ökologischer Systemansatz: zwischen Interdisziplinarität und Reduktion“ genauer eingehen.
Einleitung
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Welche sozial-ökologischen, -kulturellen und -ökonomischen Auswirkungen hat ein Strukturwandel in der Landwirtschaft und wie verändert sich aufgrund dessen die Kulturlandschaft im Tal?9 Wie lassen sich die subjektive Raumwahrnehmung der Bergbauernschaft und ihr Erfahrungswissen im Umgang mit multiplen Risiken eines dynamischen Naturraums in ein professionelles Gefahrenmanagement integrieren?
R ELEVANZ UND B EZUG ZUR F ORSCHUNGSLANDSCHAFT Die Relevanz meiner Untersuchung ergibt sich aus der Tatsache, dass – obwohl der Alpenraum aus den oben genannten Gründen ein stark erhöhtes Katastrophenrisiko aufweist – die Erforschung lokalen Wissens über die Handhabung, Bewältigung und kulturelle Konzipierung von Risiken gegenwärtig immer noch ein Desiderat darstellt. Sie erhebt dabei nicht den Anspruch, Neuland zu betreten, vielmehr knüpft sie an einige wegweisende geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche sowie ökologische Forschungen zum Thema „Klimawandel/Sozial-ökologischer Wandel“ im Alpenraum an. Nachfolgend sollen einige wichtige innovative Forschungsprojekte der letzten Jahre genannt werden, die die Grundlage für die vorliegende Arbeit bilden. Zunächst sei hier das interdisziplinäre deutsch-schweizerische Verbundprojekt „Alpine Naturgefahren im Klimawandel – Deutungsmuster und Handlungspraktiken vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“ (ANiK) erwähnt, ohne das die nachstehende Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Von März 2011 bis April 2014 war ich als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der FU Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Voss (Leitung Gesamtprojekt) und Prof. Dr. Urte Undine Frömming (Leitung Ethnologisches Teilprojekt) für dieses Projekt tätig, das Teil des Forschungsbereiches „Forschung für Nachhaltige Entwicklung“ war. Ziel des Verbundprojektes war es, in drei unterschiedlichen Regionen im deutschsprachigen Alpenraum – Oberengadin (Schweiz), Paznaun (Österreich) und Obere Iller (Deutschland) dem – historisch gewachsene Deutungsmuster und Handlungspraktiken im Umgang mit Natur und Naturgefahren offenzulegen, um alternative Entwicklungs-
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Als Strukturwandel ist eine tiefgreife Veränderung der Wirtschaftsstruktur einer Region zu verstehen, durch die der primäre Sektor an Bedeutung verliert. Im Safiental ist dieser Prozess mit der Industrialisierung der Landwirtschaft verbunden und die Ursache für zahlreiche soziokulturellen Veränderungen.
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pfade für ein professionelles Naturgefahrenmanagement vorzuschlagen.10 Dies umfasste beispielsweise die Fragen, ob der Klimawandeldiskurs zu einer Remoralisierung und Repolitisierung der Natur führe und welche Denk- und Handlungsblockaden innerhalb der Klimaanpassungsstrategien existieren. Die Erkenntnisse, die ich durch die intensive Forschungskooperation gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen gewinnen konnte, fließen in die vorliegende Studie mit ein. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle den engen Austausch mit dem Projekt „Klima regional“ unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Kropp, PD Dr. Stefan Böschen und Prof. Dr. Bernhard Gill. Hierbei handelte es sich um ein Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hatte, unter anderem mit sozial- und kulturanthropologischen Forschungsmethoden in Bayern und Südtirol Transformationsprozesse für Klimaschutz und Klimaanpassung zu untersuchen. Des Weiteren möchte ich in diesem Zusammenhang auf die lange schweizerische Forschungstradition zu sozial-ökologischen Themenkomplexen im Alpenraum hinweisen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), insbesondere der „Sozialwissenschaftliche Forschungsbereich“ von Prof. Dr. Irmi Seidl. Die WSL war auch die Schweizer Partnerinstitution des Projektes ANiK. Darüber hinaus sind zu erwähnen die interdisziplinären Nationalen Forschungsprogramme11 „NFP 31: Klimaänderungen und Naturkatastrophen“ und „NFP 48: Landschaften und Lebensräume der Alpen“ sowie das Verbundprojekt „Alpfutur – Zukunft der Sömmerungsweiden in der Schweiz“. Ferner haben auch einzelne Studien wichtige Impulse für die vorliegende Untersuchung geliefert. Dazu gehören die sozialanthropologische Forschung von Dr. Christie Jurt über die Wahrnehmung von Naturgefahren in einem Dorf in Südtirol, die am Institut für Sozialanthropologie in Bern angesiedelt war, sowie die Arbeiten von
10 Projektpartner waren die „Katastrophenforschungsstelle“ des Institutes für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin (Prof. Dr. Martin Voss, Sascha Schildhauer, Dipl.-Soz. Karsten Balgar und Daniela Singer), der Arbeitsbereich „Umweltanthropologie“ des Institutes für Sozial- und Kulturanthropologie der FU Berlin (Prof. Dr. Undine Frömming, Dr. Josef Bordat und ich selbst), die WSL (Prof. Dr. Irmi Seidl, Prof Dr. Sylvia Kruse, Julia Wesely), der Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik der TU München (Dr. Klaus Pukall) und das Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen (Prof. Dr. Manfred Jakubowski-Tiessen und Peter Reinkemeier). 11 „Nationale Forschungsprogramme“ des Schweizer Nationalfonds zur Förderung Wissenschaftlicher Forschung.
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Prof. Dr. Jon Mathieu, der am Historischen Seminar der Universität Luzern zur Agrargeschichte der Berge bzw. zu deren Geschichte insgesamt forscht. Diese Liste an äußerst interessanten Forschungen über die Alpen oder – weiter gefasst – über Gebirgsregionen generell, ließe sich noch lange fortführen. Genannt werden sollen hier nur noch die langjährige landschaftsökologische Arbeit des Kulturgeographen Prof. Dr. Werner Bätzing (ehemals Institut für Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg), die beachtlichen Hochgebirgsforschungen der Geographen Prof. Dr. Hermann Kreutzmann vom Zentrum für Entwicklungsforschung der FU Berlin und Prof. Dr. Martin Price, dem Direktor des Zentrums für Bergforschung an der University of Highlands and Islands – Pearth College. Ich erhoffe mir, mit dieser Arbeit einen innovativen Beitrag aus sozial- und kulturanthropologischer Sicht zu dieser bereits existierenden Gebirgsforschung leisten zu können. Dabei verfolge ich einen holistischen Ansatz mit den Zielen, (1.) Kausalbeziehungen zwischen kulturellen, ökonomischen, ökologischen und staatlich-institutionellen Dynamiken aufzudecken und (2.) am Beispiel des Safientals den Fragen nachzugehen, wie ein fortschreitender Entsiedelungsprozess die negativen Auswirkungen des Klimawandels verstärkt oder wie religiöse Vorstellungen zu gesellschaftlicher Resilienz beitragen. Die vorliegende Arbeit beansprucht, praxisrelevant und transdisziplinär anschlussfähig zu sein. Das bedeutet auch, dass sie versucht, Wege zu finden, wie komplexe sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsergebnisse für eine trans- und interdisziplinäre Arbeit verständlich kommuniziert werden können, ohne dass sie und die aus ihnen folgenden Rückschlüsse an Tiefe verlieren. Zu diesem Zweck habe ich im Abschnitt: 3.3 „Multimediakartierung als Chance und Perspektive im Naturgefahrenmanagement“ eine Multimediakarte erstellt12, die an die bisherige Forschung anknüpft und sich zugleich von dieser abhebt. Mithilfe der Karte zeige ich Möglichkeiten auf, wie die bisherige Praxis des Naturgefahrenmanagements stärker durch lokales Wissen ergänzt werden kann, um Präventions- und Schutzmaßnahmen im Rahmen von Klimaanpassungsstrategien effektiver zu gestalten. Sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen zum Klimawandel und deren Adaption zur Entwicklung von Maßnahmen, die einer unnatürlichen globalen Erwärmung entgegenwirken und mögliche Folgen abmildern oder verhindern, sind noch sehr begrenzt. Hingegen dominieren derzeit naturwissenschaftliche Ansätze, die der lokalen Brechung kaum oder gar keine Beachtung schenken. Dies ist umso erstaunlicher, da lokales Wissen eine Viel-
12 Zu finden unter http://medien.cedis.fu-berlin.de/cedis_medien/projekte/safiental oder https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4696-2/mensch-umwelt-klimawandel/.
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zahl von Strategien für die Prävention und Bewältigung von klimarelevanten Naturgefahren und -katastrophen sowie für ein nachhaltiges Ressourcenmanagement beinhaltet. Ferner ist lokales Wissen wichtig, weil es die Wahrnehmung von Umweltveränderungen maßgeblich mitbestimmt und insofern einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob und wie sich lokale Handlungsweisen von Mensch-Natur-Interaktionen verändern.
A BLAUF DER F ORSCHUNG Um Wahrnehmungsmuster und Handlungspraktiken in Bezug auf klimabedingte Umweltveränderungen und Naturgefahren sowie deren sozial-ökologische Konsequenzen analysieren zu können, orientierte ich mich an der Methode der „Multi-Sited Ethnography“ (Marcus 1995: 95-99). Die insgesamt 8-monatige Forschung im Safiental fand von Juni 2011 bis April 2013 in jeweils 2 bis 8 Wochen andauernden Aufenthalten statt. Ziel meiner Forschung war es, Erkenntnisse zu gewinnen, die über eine deskriptive Beschreibung der lokalen Ebene13 hinausgehen, um nicht in Gefahr zu laufen, scheinbar in sich geschlossene Räume zu analysieren, sondern um den Fokus auf die translokalen Vernetzungen von lokalem und globalem Wissen zu richten (vgl. dazu genauer Appadurai 1996). Dies erfolgte sowohl auf theoretischer Basis, wie auch durch empirische Datenerhebungen in verschiedenen Forschungsregionen. So forschte ich nicht nur im Safiental, sondern auch in drei weiteren Talschaften im deutschsprachigen Alpenraum: zwei Monate im Oberengadin (Schweiz), zwei Wochen an der Oberen Iller (Bayern) und einen Monat in Galtür (Österreich). Außerdem erhob ich wenige Monate vor meiner Forschung in den Alpen im landwirtschaftlich geprägten Masuputal in der zentralen Gebirgsregion Mamasa der Insel Sulawesi in Indonesien qualitative Daten zu den gleichen Themenfeldern. Aus Gründen des Umfangs liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Studie auf das Safiental im Kanton Graubünden in der Schweiz. Zu Vergleichszwecken werde ich allerdings in einigen Kapiteln einen Bezug zum Oberengadin und zum Masuputal herstellen. Das touristisch geprägte Oberengadin, das ebenfalls im Kanton Graubünden, nur wenige Kilometer südöstlich vom Safiental entfernt liegt, bietet sich an, weil es sowohl sozioökonomisch als auch in Bezug auf die Risikowahrnehmung der lokalen Bevölkerung einen Gegenpol zum Safiental
13 Der Begriff „lokale Ebene“ umfasst in dieser Untersuchung Haushalte und lokale Gemeinschaften.
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darstellt14. Anhand des landwirtschaftlich geprägten Masuputals lassen sich interessante Formen von Naturaneignung bzw. der mentalen Verarbeitung katastrophaler Ereignisse aufzeigen (siehe Kapitel 2.5). Die Forschungsaufenthalte in diesen beiden Regionen erfolgten 2011-2012, also zeitnah zu den Aufenthalten im Safiental.15 Abb. 1: Forschungsregionen Safiental und Oberengadin in der Schweiz
Quelle bearbeitet: BFS 2002
Im Rahmen der Erforschung der historisch gewachsenen, kulturell spezifischen und sich ständig verändernden Mensch-Umwelt-Interaktion im Safiental wandte ich verschiedene qualitative Methoden an. Im Folgenden möchte ich diese im Einzelnen darstellen und ihre jeweiligen Möglichkeiten bzw. Grenzen aufzeigen. Um unterschiedliche qualitative Daten zu gleichen Phänomenen erheben zu können und eine möglichst große Validität der Forschungsergebnisse zu erzeugen, wandte ich flexibel, nach dem Prinzip der Datentriangulation, fünf qualitative Methoden an und setzte die erhobenen Daten zueinander in Beziehung. Dies waren: 1. die teilnehmende Beobachtung, 2. halbstrukturierte Leitfadenin-
14 Siehe insb. Kapitel 1.4.1, 2.3.4, 2.4.3, 2.4.4, 3.1. 15 Je nach Situation konzentrierte ich mich dabei auf Interviews, partizipative Kartierungen und teilnehmende Beobachtungen.
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terviews und Gruppeninterviews, 3. strukturierte Begehungen, 4. partizipative Kartierungen und 5. multimediale Kartierungen in Kombination mit Film und Fotografie. Im Nachhinein lassen sich die Forschungsaufenthalte in je drei Phasen unterteilen. 1. Die Eingrenzung der Forschungsregion und die Identifizierung der Schlüsselinformanten: Nach einer Literaturrecherche an der Schweizer Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, führte ich zunächst mit Personen aus der Land- und Forstwirtschaft, dem Umwelt- und Landschaftsschutz, Heimatverbänden, Hilfs- und Rettungsdiensten sowie mit Bergführern und Bergführerinnen und Gemeindemitarbeitenden semistrukturierte Interviews und strukturierte Begehungen durch, um einen Überblick über das Forschungsfeld zu gewinnen. Des Weiteren half mir die Schneeballmethode16 einzelne Schlüsselinformanten und Schlüsselinformantinnen aus der Berglandwirtschaft zu identifizieren, bei denen ich leben und arbeiten konnte. 2. Die teilnehmende Beobachtung: Während meiner Feldforschung lebte, wohnte und arbeitete ich mehr als 6 Monate bei Bergbauern und -bäuerinnen mit dem Ziel, ihre Lebenswelt aus einer Innenperspektive zu verstehen und ihr Handeln interpretieren zu können (vgl. u. a. Spradley 1979; Silverman 2010; O’Reilly 2008, Girtler 2001: 11). Da der Rhythmus der Jahreszeiten ihre Arbeitsweise strukturiert, versuchte ich, meine Forschungsaufenthalte entsprechend anzupassen und zu verschiedenen Jahreszeiten vor Ort zu sein. Ich dokumentierte meine Eindrücke in einem Feldtagebuch, schrieb Protokolle, führte Interviews, machte strukturierte Begehungen, erstellte partizipative Karten und arbeitete mit einer Foto- und Filmkamera unter Anwendung der den klassischen Methoden der visuellen Anthropologie. 3. Die Überprüfung der Ergebnisse: Nach der Sichtung meiner Daten traf ich mich erneut mit meinen Schlüsselinformanten und -informantinnen, um offenen Fragen nachzugehen und die bisher erstellten partizipativen Karten zu überprüfen.
16 Aus vereinzelten Kontakten auf lokaler Ebene können durch Empfehlungen schnell weitere entstehen, sodass ein Netz aus sozialen Beziehungen zu unterschiedlichsten Personen, die als potentielle Informanten und Informantinnen infrage kommen, aufgebaut werden kann.
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In der Tradition ethnologischer Feldforschung war die empirische Herangehensweise sehr offen und zunächst relativ unabhängig von Theoriekonzepten. Das bedeutet, dass ich vor den Forschungsaufenthalten zwar meine Fragestellungen grob umrissen hatte, allerdings noch keine Hypothesen aufstellen wollte, die meinen Feldzugang positiv ausgedrückt „strukturiert“, negativ gesehen „eingeengt“ hätten. Diese Offenheit erlaubte es mir, auch Prozesse gesellschaftlicher Interaktion wahrnehmen und analysieren zu können, die zunächst keinen offensichtlichen Bezug zu den Fragestellungen hatten, aber wie sich später herausstellte, die sozialen Gegebenheiten lokaler Lebenswelten maßgebend prägen. Dementsprechend verdichtete sich nach und nach mit der fortschreitenden Erhebung qualitativer Daten und dem damit verbundenen Erkenntnisprozess die theoretische Fundierung und Strukturierung meiner Arbeit (vgl. Hoffmann-Riem 1980: 343; Flick 2005: 69-71). Da das Thema „Klimawandel“ emotional sehr aufgeladen ist und schnell Stereotypen bedient, fragte ich nie direkt nach dem Klimawandel, sondern nach Wetter- oder Umweltveränderungen. Alle Menschen berichteten von sehr ähnlichen, direkt wahrnehmbaren Phänomenen: Die Veränderungen von Großwetterlagen, die Zunahme der Magnitude und Frequenz von dynamischen Naturprozessen und die Abnahme von Biodiversität. Die Geschwindigkeit, in der diese Veränderungen stattfinden, habe in den letzten bis 10-15 Jahren massiv zugenommen. Allerdings gab es in der Art und Weise, wie diese Veränderungen gedeutet wurden, bzw. wie die Menschen auf der Basis dieser Deutung darauf reagierten, große Unterschiede.
D IE TEILNEHMENDE B EOBACHTUNG Um relevantes lokales Wissen zu erforschen, war eine längerfristige Integration in den sozialen Rahmen wichtig, in dem dieses Wissen entsteht, sich weiterentwickelt und gegebenenfalls angewendet wird. Die teilnehmende Beobachtung ermöglichte mir einen informellen Zugang zu sozialen Netzwerken, was generell die Grundlage für die Erhebung ethnologischer Daten bildet. Das Besondere an dieser Methode ist ihr prozessualer Charakter: Je mehr Zeit ich in den Forschungsregionen verbrachte, umso mehr konnte ich – statt nur zu beobachten –, aktiv am Alltagsgeschehen der Menschen teilnehmen und so meine Forschungsfragen immer weiter eingrenzen. Nach James Spradley (1979) lässt sich dieser Prozess in drei verschiedene Phasen unterteilen: Die erste Phase der sogenannten „deskriptiven Beobachtung“ dient dazu, einen möglichst holistischen Überblick über unterschiedliche Aspekte des Forschungsfeldes zu erlangen. In der zweiten Phase der „fokussierten Beobachtung“ findet eine zunehmende Eingrenzung der
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Aspekte statt, auf die sich die Forschung konzentrieren könnte. In der dritten Phase der „selektiven Beobachtung“ werden die in der zweiten Phase gewonnenen Erkenntnisse noch einmal mit dem Datenmaterial abgeglichen und dementsprechend untermauert oder revidiert (Spradley 1979: 34; Flick 2005: 207). Da während der teilnehmenden Beobachtung der Aspekt „Kommunikation“ im Vordergrund steht, war sowohl der Prozess der Datenerhebung als auch die darauf folgende Datenanalyse durch große Subjektivität geprägt. Dies muss jedoch nicht unbedingt ein Nachteil sein, wenn die eigenen Gefühle, Wahrnehmungen und Handlungen genügend reflektiert und dokumentiert werden und selbst Teil empirischer Daten werden (vgl. Flick 2005: 19; Reichel und Frömming 2014: 43-44). Demgemäß werde ich im Folgenden meine Rolle vor Ort genauer erläutern. Reflexion der Rollenzuschreibung Es stellte sich als enorm wichtig heraus, dass meine Forschung und meine Rolle als Wissenschaftler, aber auch alle anderen Rollen, die mir später – freiwillig oder unfreiwillig – zugewiesen wurden, an die jeweilige lokale Lebenswelt der Menschen ,anknüpfbar‘ war; das heißt, dass die Beteiligten meine Forschung entsprechend verorten konnten. Von meinen teilweise sehr unterschiedlichen Rollen hing es ab, zu welchen Informationen ich jeweils Zugang bekam. Dabei spielten persönliche Beziehungen, soziale Netzwerke und die Möglichkeit, innerhalb dieser Netzwerke zu kommunizieren, eine wesentlich größere Rolle als mein offizieller Status als Wissenschaftler. Wie in einem Schneeballsystem entstanden aus einzelnen Kontakten weitere, sodass ich mit der Zeit Menschen aus unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Lebenswelten kennenlernte. Leider war es aufgrund konservativer Gendervorstellungen sehr schwierig, Frauen zu interviewen, weshalb sie in dieser Forschung unterrepräsentiert sind. Trotz Nachfrage wurde ich oftmals, mit dem Argument, dass sich ihre Männer besser auskennen würden, an diese verwiesen. Um möglichst unvoreingenommen meinen Informanten gegenüberzutreten und einen unabhängigen Status zu wahren, versuchte ich bei Bauernfamilien zu wohnen, die in ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise verschiedensten sozialen Milieus angehörten. So arbeitete und wohnte ich einerseits auf einem Demeter Biobauernhof, wo streng nach anthroposophischen Prinzipien extensiv gewirtschaftet wird und direkt danach auf einem intensiv bewirtschafteten Bauernhof, wo mit dem Ziel möglichst hoher Erträge häufig chemische Düngemitteln und Pestizide zum Einsatz kommen. Zwischen diesen sehr unterschiedlich wirtschaftenden Betrieben kam es immer wieder zu indirekt oder direkt ausgetragenen Konflikten über Konzepte der Land-
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nutzung. Durch meine Mitarbeit auf beiden Höfen erlangte ich zwar einen Einblick in Machtstrukturen und Kommunikationsformen, musste aber gleichzeitig sehr aufpassen, nicht zwischen diesen Konfliktlinien „zu verbrennen“, wie es eine Bäuerin im Safiental ausdrückte, um mich zu warnen. Die erste Zeit in den Forschungsgebieten ist immer die schwierigste. Einerseits waren mir viele gesellschaftliche Verhaltensregeln, wie beispielsweise bestimmte Höflichkeitsformen, noch nicht bekannt und andererseits hatte ich noch keine engen Sozialkontakte zu Personen, die mich hätten korrigieren können. So galt es beispielsweise bei vielen Bauernfamilien im Safiental als sehr unhöflich, während des Essens viel zu sprechen. Die Anforderung mich „richtig“, den lokalen Normen entsprechend, zu verhalten, veränderten sich im Laufe der Zeit. Je mehr ich in die Dorfgemeinschaften integriert und eingebunden wurde, umso mehr wurde es auch von mir verlangt, mein Verhalten an gesellschaftliche Normen und Regeln anzupassen. Dieser Lernprozess dauerte während der gesamten Feldforschung an. Insofern gab es nicht einen „Eintritt in das Feld“, nachdem ich, wenn ich ihn erst einmal absolviert hätte, leichten Zugang zu allen sozialen Netzwerken in den Dorfgemeinschaften hatte; vielmehr fand dieser „Eintritt“ während der gesamten Zeit der Feldforschung statt, da ich ständig neue Menschen aus verschiedenen Lebenswelten kennenlernte und meine Rolle vor Ort immer neu verhandeln musste. Ein anstrengender Prozess, der aber auch soziale Strukturen wie Kommunikationsformen, informelle und formelle gesellschaftliche Regeln, Genderrollen etc. offenbarte, die den Alltag meiner Schlüsselinformanten und -informantinnen prägen. Weil meine Arbeitsposition auf den Bergbauernhöfen der eines Landarbeiters entsprach, wurde es beispielsweise als selbstverständlich angesehen, dass ich beim Essen auf einem Schemel saß, während der Vater der Familie und der älteste Sohn auf einer wesentlich bequemeren Bank saßen. Diese Sitzverteilung wurde auch beibehalten als sowohl Vater und Sohn nicht zu Hause waren und niemand auf ihren Plätzen saß. Interessanterweise wurde mir diese Rolle nur während der teilnehmenden Beobachtung zugewiesen, als ich direkt auf dem Hof mitarbeitete. In der Zeit vorher und nachher, in der ich mich voll und ganz auf die partizipative Kartierung und halbstrukturierte Leitfadeninterviews konzentrierte, war mein Status als Wissenschaftler wieder ein vollkommen anderer, und ich wurde im gleichen Hof ermutigt, auf der Bank, dem Sitzplatz des Vaters, zu sitzen. Eine unscheinbare alltägliche Situation, die aber viel über soziale Hierarchien auf den Berghöfen preisgibt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die teilnehmende Beobachtung ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher qualitativer Methoden, Verhaltensweisen und Theoriebildungen war, die flexibel und opportunistisch je nach Situation während einer
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längeren Sozialisationsphase angewandt wurden. Dabei war die ständige Reflexion meiner eigenen Rolle im Feld, meiner subjektiven Wahrnehmung, wesentlicher Bestandteil der Datenerhebung und Auswertung. Halbstrukturierte Leitfadeninterviews und Gruppeninterviews Während der gesamten Feldforschung führte ich interaktive, halbstrukturierte Leitfadeninterviews, die gekennzeichnet waren durch: 1. eine lockere, vertrauensvolle Gesprächssituation, die das Gespräch in Gang brachte, 2. Zurückhaltung des Interviewers, um nicht durch eigene Voreingenommenheit zu bestimmten Themenbereichen und durch zu viele Fragen das Gespräch in eine vorbestimmte Bahn zu lenken, 3. die Möglichkeit der Interviewpartner und -partnerinnen, eigene Aspekte in Bezug auf das Interviewthema anzusprechen, was sich als sehr hilfreich erwies, das jeweilige Thema möglichst vollständig zu erfassen. Dieses sensible Moderieren ist natürlich schwierig, die „Abarbeitung“ aller vorgesehenen Fragen lässt sich nicht immer erreichen, aber die vertrauensvolle Gesprächssituation ist methodisch gesehen von größerem Wert (vgl. Flick 2005: 127-134; Silverman 2010: 189-199; O’Reilly 2008: 1-18, 150-168). Interviews mit einzelnen Personen Im Regelfall stellte ich am Anfang der Interviews allgemeine und wenig zielgerichtete Fragen, auf die meine Interviewpartner und -partnerinnen frei und assoziativ antworten konnten. Mit dem fortschreitenden Gespräch wurden die Fragen strukturierter, außerdem brachte ich zusätzlich theoriegeleitete Fragen in das Gespräch mit ein, die an der wissenschaftlichen Literatur orientiert waren und dazu dienten, Hypothesen mit konkreten Fallbeispielen zu bestätigen oder zu widerlegen. Zum Ende der Interviews stellte ich Konfrontationsfragen, die sehr nützlich waren, um gemeinsam mit der Interviewperson alle im Interview angesprochenen Aspekte in Bezug auf andere Perspektiven und Erklärungsmuster noch einmal kritisch zu hinterfragen (Flick 2005: 128). Des Weiteren kam es durch den häufigen Alltagskontakt mit bestimmten Interviewpersonen oft zu unvermittelten Gesprächssituationen, die ich auch als Möglichkeit nutzte, unaufdringlich meine Forschungsfragen zu stellen, die nach Spradley (1979) als ethnografische Interviews bezeichnet werden können.
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Abb. 2: (oben): Gruppeninterview mit älteren Safientalern über Veränderungen der Umwelt in den letzten 20 Jahren 2012; (unten): Gruppeninterview mit Bauern und Bäuerinnen aus Masupu 2011
Quelle: © Reichel, 2011 und 2012
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Weil sie nicht für eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort vereinbart wurden, waren sie wesentlich unvermittelter und spontaner, als die halbstrukturierten Leitfadeninterviews. Gerade diese Spontanität machte diese Gesprächssituationen zu einer enorm wichtigen Informationsquelle, da unverfänglich Meinungen ausgetauscht wurden (Spradley 1979: 55-69). Während ich in alltäglichen Gesprächssituationen darauf achtete, eine möglichst lockere Atmosphäre zu schaffen, um leicht mit ganz verschiedenen Personen ins Gespräch zu kommen, waren die Interviews mit Vertretern und Vertreterinnen staatlicher Organe strukturierter und orientierten sich stärker an einem vorab ausgearbeiteten Fragenkatalog. Grund dafür war, dass diese Interviews mit professionellen Akteuren im Naturgefahrenmanagement oder mit politischen Akteuren auf Gemeinde- oder Kantonsebene in den meisten Fällen schon lange vorher in Bezug auf spezifische Fragestellungen vereinbart wurden, wenig Gesprächszeit zu Verfügung stand und eine persönlichere Konversation, in dem teilweise sehr steifen administrativen Rahmen, unpassend gewesen wäre. Gruppeninterviews Unabhängig von den Interviews mit Einzelpersonen versuchte ich, in regelmäßigen Abständen Gruppeninterviews zu organisieren, die bewusst teils homogen, teils heterogen zusammengesetzt waren, um die Interviewdynamik zu beeinflussen. Da die Teilnehmerschaft heterogener Gruppen sehr unterschiedliche Interessen vertrat, waren die Diskussionen mitunter sehr emotional und durch intensive Aushandlungsprozesse zwischen einzelnen Beteiligten geprägt. Die Art und Weise, wie bestimmte Gruppenteilnehmer ihre Meinung gegenüber anderen durchsetzen konnten oder wie ihre Meinung durch andere korrigiert wurde, war erkenntnisreich in Bezug auf soziale Beziehungen, Machtstrukturen und Kommunikationsformen (Reichel 2008: 9). Hierdurch wurde ich auf Interessenkonflikte aufmerksam, die mir durch Interviews mit Einzelpersonen nicht bewusst gewesen wären. Handelte es sich bei den Interviewten um eine homogene Gruppe, die eine ähnliche Meinung zum gleichen Thema hatte, vertraten sie im Regelfall sehr selbstbewusst ihren Standpunkt. Im Vergleich zu Gruppeninterviews mit heterogenen Gruppen oder Einzelpersonen wurden Themen angesprochen, die ansonsten aus Angst vor negativen Konsequenzen durch das Korrektiv der Gemeinschaft gegenüber einem Fremden wie mir nicht erwähnt worden wären (Patton 1990: 335-336; Flick 2005: 170-186). Der Erfahrungsraum wurde durch diese Zweigleisigkeit vergrößert. Von fast allen Interviews erstellte ich Audio- und weniger häufig Videoaufzeichnungen, solange die unbefangene und offene Gesprächssituation dadurch
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nicht beeinträchtigt wurde. Gab es Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Interviewsituation oder Störung, beschränkte ich mich auf die schriftliche Protokollierung oder sogar auf ein nachträglich angefertigtes Gedächtnisprotokoll. Die Analyse textbasierten Interviewmaterials Die Analyse erfolgte, indem 1. bereits am Anfang der Feldforschung einige aussagekräftige Interviewpassagen transkribiert und mit einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse ausgewertet wurden, weil mir dies vor dem Hintergrund der Theoriekenntnisse ermöglichte, erste grobe Analysekriterien für weitere empirische Daten zu erstellen, 4. diese Analysekriterien im Laufe der Forschung, aufgrund der ständig neu hinzukommenden empirischen Daten und der daraus gewonnen Erkenntnisse, immer weiter verfeinert wurden. 5. Eine diskursanalytische Auswertung nach Uwe Flick (Flick 2005: 293-294) ermöglichte mir, unterschiedliche lokale Wahrnehmungsformen, Bewältigungs- und Anpassungsstrategien in Bezug auf Themen wie den Klimawandel, Entsiedelung des Tals oder Naturgefahren offenzulegen. In der Ausarbeitung dieser Arbeit war es mir sehr wichtig, meine Interviewpersonen für sich selbst sprechen zu lassen, indem ich besonders aussagekräftige Interviewzitate in den Text einarbeitete. Hierbei richtete ich den Fokus nicht auf die Sprachanalyse, sondern vielmehr auf die Analyse von „Wissens- und Konstruktionsprozessen“ (Flick 2005: 294). 6. Sowohl während der Datenerhebung als auch bei der Datenauswertung wurden im Schnitt alle drei, vier Monate Zwischenergebnisse mit anderen Teilnehmenden des Forschungsprojektes ANiK diskutiert und reflektiert. Dies gewährleistete eine trans- und interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der Forschungsergebnisse und ermöglichte es mir, die Fragestellungen und Analysekriterien entsprechend anzupassen. Strukturierte Begehung Strukturierte Begehungen halfen mir vor allem in der Anfangsphase der Forschung, um einen Überblick über Aspekte wie Siedlungsformen, Flächennutzung und Biodiversität zu erlangen. Diese für die Ethnologie eher ungewöhnliche Methode übernahm ich von Sylvia Kruse, einer Mitarbeiterin des Forschungsprojektes ANiK, die als interdisziplinäres Brückenkonzept vorschlug, Raum unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu analysieren (Kruse 2012: 15; 2010: 89-92; Sturm 2000: 185-189). Idealerweise lässt man sich bei einer
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strukturierten Begehung von einer ortskundigen Person führen und dabei Aspekte im Raum erklären. Abb. 3: (links): Strukturierte Begehung in der Umgebung von Tenna; (rechts): Spontanes vertiefendes Interview während einer strukturierten Begehung
Quelle: © Reichel, 2012
Nach einer vorher definierten Richtung (beispielsweise vom Dorfzentrum in eine bestimmte Himmelsrichtung) wanderte ich mit der jeweiligen Interviewperson circa 5-12 Kilometer. Ich stellte Fragen und dokumentierte alle meine Sinneseindrücke nach einem vorher festgelegten Raster. Dabei versuchte ich, die abgelaufene Strecke mehrdimensional, sowohl in Bezug auf ihre materielle als auch symbolische Dimensionen zu erfassen und schrieb auf Notizzettel Stichworte über alle kulturellen, sozialen, normativen und materiellen raumprägenden Merkmale, die mir auf dem Weg auffielen (vgl. Kruse 2012: 1-5; 2010: 89-92; Sturm 2000: 185-189). Folgende Fragen standen dabei im Vordergrund: Kulturelle Dimension: Welche kulturellen Zeichen und Symbole sind im Raum vorhanden und werden sie bestimmten Orten im Raum zugeschrieben (z.B. Kirche, Gipfelkreuz)? • Wie ist diese kulturelle Bedeutung der Orte im Raum entstanden (z.B. Alpfest, Naturmythen)? • Wer identifiziert sich mit ihnen? •
Soziale Dimension: • Welche Individuen und sozialen Gruppen prägen den Raum und wie organisieren sie sich (z.B. Milieus, Verbände und differenziert nach Alter, Gender, Beruf etc.)?
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• •
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Welchen Einfluss hat ihre gesellschaftliche Interaktion auf den Raum (z.B. Konsumverhalten, Produktionsprozesse)? Welche Raum konstituierenden Merkmale mit einer kulturellen und/oder symbolischen Bedeutung werden durch sie geschaffen (z.B. Bannwälder)?
Materielle Dimension: Welche Ökosysteme sind im Raum vorhanden (z.B. Alpweiden, Wälder)? Durch welche geomorphologischen Prozesse wird der Raum geprägt (z.B. Steinschlag, Erosionsprozesse)? • Welche Artefakte sind durch menschliches Handeln entstanden (z.B. Lawinenschutzzäune)? • Welche Menschen oder Tiere prägen den Raum (Menschen, Kühe, Bergdohlen etc.)? • Was ist durch Sehen, Hören, Riechen, Tasten wahrnehmbar (z.B. Kuhglocken, Motorsägen, Schweizer Postbus, Vogelgezwitscher)? • •
Normative Dimension: • Auf welche Art und Weise wird der Raum durch Gesetze oder normative Regulationen geprägt (z.B. Lawinengefahrenzonen, in denen nur eingeschränkt gebaut und gewirtschaftet werden darf)? (Vgl. Kruse 2010: 82-92; 2012: 1-5) Zur Analyse der Notizen ordnete und befestigte ich sie mit einer Stecknadel auf einem großen Papierbogen. Jede der vier Ecken entsprach der Gewichtung einer Dimension. Um aufzuzeigen, wie sich die dokumentierten, raumprägenden Merkmale den vier unterschiedlichen Dimensionen zuordnen ließen, positionierte ich sie jeweils in relativer Entfernung zu den Eckpunkten. Je mehr die auf Notizzettel geschriebenen Aspekte einer Dimension zuzuordnen waren, umso näher wurden sie zur entsprechenden Ecke auf dem Papierbogen platziert. Beispielsweise ließ sich die Notiz „Lawinenzaun“, sowohl der normativen Dimension zuordnen, da aufgrund der Lawinengefahr unterhalb des Lawinenzauns nicht gebaut werden darf, andererseits aber auch der materiellen Dimension, da es sich um ein vom Menschen gemachtes Artefakt handelt, das den Raum prägt. Um beiden Dimensionen gerecht zu werden, positionierte ich die Notiz genau in der Mitte zwischen ihnen. Gabriele Sturm hat dieses Konzept in einem Modell vorgestellt, das zeitliche Veränderungsprozesse des Raumes berücksichtigt und gleichzeitig darstellt, wie alle raumprägenden Dimensionen sich gegenseitig dynamisch beeinflussen (siehe Abb. 4).
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Abb. 4: Dynamisches Raummodell
Quelle: Breckner/Sturm 2007, zit. n. Kruse 2010: 90
Nach diesem Modell ist eine Lawinenverbauung nicht nur ein durch den Menschen platziertes materielles Artefakt im Raum, sondern sie kann im Laufe der Zeit auch Handlungspraktiken beeinflussen: Indem sich beispielsweise aufgrund der Lawinenverbauung die Risikowahrnehmung verändert, weil die betroffenen Menschen sich sicherer fühlen und sich dadurch ihr Siedlungsverhalten verändert. Die Methode half mir zudem, Raum bewusst mit unterschiedlichen Sinnen wahrzunehmen und z.B. auf Gerüche oder Geräusche zu achten, die mir sonst nie aufgefallen wären. Die Raumanalysemöglichkeiten der strukturierten Begehung, also der Analyse, wie Raum genutzt wird, wie er sich verändert und welche symbolische Bedeutung bestimmte Orte oder Gegenstände haben, ist eine ideale Ergänzung zu der nächsten hier vorgestellten Methode, der partizipativen Kartografie (Kruse 2012: 1-5).
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P ARTIZIPATIVE K ARTIERUNGEN Einen methodischen Schwerpunkt meiner Forschungen bildete die Exploration von raumbezogenen Daten zu lokalem Wissen über klimabedingte Naturgefahren und Umweltveränderungen durch partizipative Kartierungen und der anschließenden multimedialen Visualisierung durch ein Kartografieprogramm. Um die subjektive Raumwahrnehmung von Einzelpersonen oder Gruppen visualisieren zu können, wurden Methoden der Kartenskizzierung, der georeferenzierten Kartierung und der Multimediakartierung angewandt. Ziel der Methode ist nicht, eine möglichst detailgenaue topografische Abbildung räumlicher Gegebenheiten, sondern eine Darstellungsform, wie Raum, bedingt durch kulturelle Konzepte, Normen und Ideen, wahrgenommen und konstruiert wird. Partizipativ ist die Methode insofern, als die befragten Personen im gesamten Prozess, von der anfänglichen Entwicklung erster Ideen bis zur Implementierung und Anwendung der Karte selbst, mitwirken und ihr Wissen fortlaufend einbringen können. So entscheiden sie beispielsweise selbst, welche Aspekte auf der Karte für sie wichtig sind und welche Symbole oder Farben sie beim Erstellen der Karte verwenden. Um den Prozess der Kartenerstellung möglichst frei und intuitiv zu gestalten, moderierte ich ihn nur und gab so wenige Vorgaben wie möglich. Je nach Präferenzen konnten die von mir befragten Personen selbst zwischen den sehr unterschiedlichen Techniken und Visualisierungsformen der Kartenskizzierung und Multimediakartierung wählen. Insbesondere diese Vielfalt der Kartierungstechniken ermöglicht, implizites lokales Umweltwissen, das den Wissensträgern als natürlich gegeben erscheint, auch für Personen sichtbar zu machen, die nicht in den lokalen kulturellen und sozialen Kontext eingebunden sind (vgl. u. a. Wood 2012; Brady 2009; Reichel und Frömming 2014: 44). Folgende partizipative Kartierungstechniken wurden während der Forschung angewandt: Kartenskizzen Kartenskizzen sind die einfachste Form der partizipativen Kartierung. Alles, was benötigt wird, ist ein großer Papierbogen und ein paar Buntstifte. Die Vorteile dieser Technik sind, dass Karten unbefangen, spontan und intuitiv erstellt werden können. Außerdem ist man nicht auf technisches Equipment und dementsprechend auch nicht auf Strom angewiesen. Um eine Kartenskizze zu erstellen, bat ich meine Informanten und Informantinnen, ihre unmittelbare Umgebung aus dem Gedächtnis auf ein weißes Blatt Papier zu zeichnen, wobei das Thema der Karte je nach Aspekten, über die wir zuvor gesprochen hatten, sehr variierte (siehe Abb. 5).
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lung der Kirche ließ die Vermutung zu, dass für ihn die Dorfkirche, neben einer moralischen Instanz, auch als zentraler Knotenpunkt sozialer Interaktion eine wichtige Rolle spielt, was sich im späteren Gespräch auch bestätigte. Kartenskizzen haben jedoch eine wesentliche Schwachstelle. Die per Hand gezeichneten Karten sind nicht georeferenziert und nicht topografisch genau. Eine Alternative hierzu bietet die folgende Methode (Reichel und Frömming 2014: 44): Georeferenzierte Karten Der große Vorteil georeferenzierter Kartierungen ist, dass alles, was per Hand in die Karte eingezeichnet wird, sich leicht in ein „Geografisches Informationssystem Programm“ oder eine Multimediakarte übertragen lässt. Der Kartierungsprozess ist zwar nicht so frei assoziativ wie bei Kartenskizzierungen, ermöglicht aber, qualitativ erfasste Daten (wie z.B. Formen der Raumwahrnehmung) mit quantitativen Daten (wie z.B. topografische Eigenschaften eines Raumes) miteinander in Beziehung zu setzen. Georeferenzierte Karten sind relativ einfach zu erstellen. Die Grundlage für den Kartierungsprozess bildet eine topografische Karte oder ein hochaufgelöstes Luftbild. Darauf wird eine durchsichtige Folie befestigt, auf der bestimmte Bereiche, wie z.B. Gefahrenzonen, mit verschieden farbigen Textmarkern eingezeichnet werden können. Für die anschließende Auswertung der Karten werden einfach alle beschrifteten Folien übereinandergelegt. Je nachdem, wo und ob sich auf der Karte die eingezeichneten Gebiete oder Punkte überschneiden oder voneinander abweichen, lassen sich im Regelfall zwischen verschiedenen Personengruppen (z.B. unterteilt nach Alter, Beruf) Tendenzen von Raumwahrnehmungsmustern erkennen (Reichel und Frömming 2014: 44; siehe Abb. 8-10). Multimediakarten Multimediakarten sind die technisch schwierigste Kartierungsmethode, gleichzeitig aber auch die vielseitigste. Sie ermöglichen, die Ergebnisse von georeferenzierten Karten, Kartenskizzen, Texten, Filmen, Fotografien und Audioaufnahmen miteinander in Beziehung zu setzen und im Internet interaktiv und georeferenziert darzustellen. Weil sie sich leicht über das Internet abrufen lassen, sind sie sehr anwendungsfreundlich und können von einer großen Nutzerschaft abgerufen werden.
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Für mich war diese Kartierungstechnik besonders interessant, weil sie mir ermöglichte, Methoden der Visuellen Anthropologie anzuwenden und meine Fotografien und Filme mit konkreten Punkten auf der Karte einzubinden. Dabei muss jedoch, während der oftmals sehr intimen Situationen in einer Feldforschung, fortlaufend abgewogen werden, wann es angebracht ist zu filmen oder zu fotografieren und wann nicht (vgl. Banks 2001: 112-114). Zu unpassenden Situationen kam es jedoch selten, da ich erst nach einigen Wochen mit den Filmarbeiten anfing, vorher aber die Kamera immer dabeihatte, damit sich meine Informanten und Informantinnen an sie gewöhnen konnten. Dabei bin ich mir bewusst, dass Film selbstverständlich kein authentisches Abbild der Realität darstellt, sondern einerseits der Prozess des Filmemachens durch meine eigenen Interessen bestimmt wird, andererseits die Personen, die den Film anschauen, ihn auf der Basis eigener Erfahrung und Wahrnehmungsmuster interpretieren.17 Diese offensichtliche Subjektivität ist jedoch, wenn man sie als solche kenntlich macht, nicht von Nachteil, da man gar nicht erst in Versuchung gerät, eine „Scheinobjektivität“ zu erzeugen, die prinzipiell bei qualitativen Daten nicht existiert (Banks 2001: 121). Die Analyse der Audioaufzeichnungen, des Foto- und Filmmaterials sowie der partizipativ erstellten Karten erfolgte durch verschiedene Arbeitsschritte, die sich teilweise überlappten. Bereits während der Feldforschung wurden Interviews transkribiert, Filmmaterial gesichtet und die von den Informanten und Informantinnen erstellten Karten ausgewertet. Dies half mir dabei, möglichst schnell Schlüsselinformanten und Akteursgruppen zu identifizieren und meine Fragestellungen an lokale Gegebenheiten anpassen zu können (Reichel und Frömming 2014: 43-45). Weil mit dem Medium „Film“ Feinheiten wie Körpersprache (Gestik, Mimik oder Körperhaltung) erfasst werden können, war es mir möglich, die Aussagen meiner Interviewpersonen im Nachhinein viel umfassender in Bezug auf Präferenzen, Abneigungen oder Stimmungen auszuwerten, als im Gegensatz zu reinen Audioaufnahmen. Die Anwendungsbereiche der multimedialen Kartierung sind demnach sehr vielseitig.
17 Wie ich in Kapitel 2.1 „Projektionsfläche Alpen“ genauer erläutern werde, sind die Alpen ein sehr emotional aufgeladener Raum, der zum Teil mit sehr starken Wunschprojektionen behaftet ist. Die enorme Vieldeutigkeit des filmischen Materials resultiert daher auch schlicht aus der Menge an unterschiedlichen Personen, die einen Film anschauen (Ballhaus 1995: 25-28).
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Abb. 6: (oben): Eingezeichnete gefährliche Lawinen von 2011; (mittig): Eingezeichnete Tobel, Lawinengassen, Murgänge, etc.; (unten links): Erstellung einer georeferenzierten Karte; (unten rechts): Erstellung einer Multimediakarte
Quelle: © Reichel, 2012
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Wie ich in Kapitel 3.3 „Multimediakartierung als Chance und Perspektive im Naturgefahrenmanagement“ genauer erläutern werde, eignet sich die Methode nicht nur für die Erhebung qualitativer Daten, die in Bezug auf Aspekte im Raum wissenschaftlich ausgewertet werden können, sondern sie hat auch einen sehr praktischen Anwendungsbezug: Gerade in Zeiten des Klimawandels, in denen lokale Gesellschaften wie die Safientaler Bergbauern und -bäuerinnen sich relativ schnell an neue, unberechenbare Umweltveränderungen anpassen müssen, und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen professionellen Akteuren, z.B. im Naturgefahrenmanagement und der lokalen Bevölkerung als Notwendigkeit erscheint, kann dieser kartografische Ansatz dazu beitragen, politische Handlungsempfehlungen leichter kommunizierbar zu machen, eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu etablieren und die lokale Bevölkerung aktiv an Raumplanungsprojekten, wie z.B. der Erstellung von Gefahrenzonenplänen im Naturgefahrenmanagement, teilhaben zu lassen (Reichel und Frömming 2014: 44-45; IFAD 2009: 439; IFAD 2010: 24-40).
A UFBAU DER A RBEIT Wie bereits erwähnt und aus der im Folgenden dargestellten Kapitelstruktur deutlich wird, nähere ich mich dem Thema „Klimawandel“ und den Veränderungen, die durch ihn ausgelöst werden, in einem holistischen Ansatz, der sowohl ökologische als auch soziokulturelle, sozioökonomische und staatlichinstitutionelle Aspekte berücksichtigt. Diese multidimensionale Herangehensweise ermöglicht mir, bislang verborgene bzw. ignorierte sozial-ökologische Zusammenhänge aufzudecken, die die multiplen Risiken der Klimafolgewirkungen maßgeblich verstärken oder abmildern. Im ersten Kapitel stelle ich den „Theoretischen Bezugsrahmen“ vor, in den die umweltanthropologische Forschung zum Thema „Klimawandel“ eingebettet ist. Dies erfolgt anhand von fünf Themenkomplexen, die eng miteinander verzahnt sind. Im Unterkapitel 1.1 „Globaler Umweltwandel“ arbeite ich die langfristigen Folgen destruktiver Mensch-Umwelt-Beziehungen heraus, die sich seit den 1950er-Jahren – mit Etablierung der Massenproduktion westlicher Industrieländer und des Massenkonsums – exponentiell beschleunigt haben. Dieser destruktive Einfluss des Menschen auf seine natürliche Umwelt ist so umfassend, weshalb seit einigen Jahren eine intensive Debatte geführt wird, ob wir uns in einer neuen geologischen Epoche befinden, dem Anthropozän, und welche Konsequenzen daraus folgen. Das Anthropozän-Konzept soll daher im Abschnitt 1.2
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„Das Anthropozän eine kritische Reflektion am Beispiel des Klimawandels“ vorgestellt und aus sozial- und kulturanthropologischer Sicht kritisch hinterfragt werden. Dem Unterkapitel 1.3 „Auswirkungen und Erleben des Klimawandels in den Alpen“ liegt die These zugrunde, dass ein Phänomen wie der Klimawandel vorrangig durch die Wahrnehmung potentieller multipler Risiken sichtbar wird und in der Folge einen handlungsleitenden Anpassungsdruck auslöst. Das Kapitel gibt einen Überblick über die im Safiental wahrgenommenen Extremwetterereignisse und schleichenden Umweltveränderungen in den letzten 10-15 Jahren. Um die gesellschaftliche und individuelle Betroffenheit durch diese schleichenden und dynamischen Umweltveränderungsprozesse darstellen zu können, stelle ich in 1.4 „Vulnerabilität, Resilienz und Adaption“ die drei grundlegenden Konzepte der sozial- und kulturwissenschaftlichen Klimafolgenforschung vor. Dieses Kapitel bildet die Grundlage für meine Darstellung und Deutung lokaler Strategien der Prävention, Mitigation und Adaption in Hinblick auf destruktive sozial-ökologische Veränderungsprozesse. Den Abschluss des Theorieteils bildet eine Annäherung an den Begriff „Lokales Wissen“, den ich in Kapitel 1.5 mithilfe zeitlicher, räumlicher und sozialer Dimensionen zu fassen versuche. Das zweite Kapitel „Das Safiental in den Schweizer Alpen“ umfasst den Praxisteil der vorliegenden Forschungsarbeit. Bevor ich in den empirischen Kapiteln die „Innensicht“ der Bergbauern und -bäuerinnen auf ihr Tal und die Veränderungsprozesse, die in ihm stattfinden, detailliert bespreche, ist es zunächst notwendig, die historisch gewachsene und weitverbreitete „Außensicht“ auf die Alpen zu reflektieren, da sie andernfalls den wissenschaftlichen Zugang dieser Untersuchung beeinflussen könnte und damit auch die Wahrnehmung der Umweltveränderung in dieser Gebirgslandschaft. 2.1 „Projektionsfläche Alpen“ widmet sich daher in einer ersten Annäherung an die Forschungsregion „Safiental“ dem geografischen, aber auch „imaginären“ Raum, in den es eingebettet ist. In 2.2 „Siedlungsstruktur und Geschichte“ folgt ein kurzer Überblick über die Geschichte des Tals und dessen Bevölkerung. Er reicht von der anfänglichen Besiedelung durch die Walser bis zum heutigen Strukturwandel mit seinen sozioökonomischen, politischen und kulturellen Dynamiken. Dies ist hilfreich, um die folgenden empirischen Unterkapitel besser in den Gesamtkontext einordnen zu können. In dem ersten empirischen Kapitel 2.3 „Lokales Umweltwissen“ beschreibe ich, warum das auf Erfahrung basierte lokale Umweltwissen der Bergbauern und -bäuerinnen insbesondere in Bezug auf globale Umweltprobleme von großer Relevanz und Aktualität ist. Sie leben einerseits in einem Raum, der ständig von Naturgefahren bedroht ist, weshalb sie multiple Risiken sehr gut abschätzen können und viele land- und forstwirtschaftliche Praktiken beherrschen, mit de-
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nen sie Naturgefahren vorbeugen können. Andererseits sind sie, aufgrund der Topographie des Tals, von den natürlichen Ressourcen in einem räumlich relativ begrenzten Gebiet abhängig und müssen diese nachhaltig nutzen. Wie sich zeigen wird, hat sich das Wissen der Bergbauern und -bäuerinnen über land- und forstwirtschaftliche Praktiken über die Jahrhunderte permanent weiterentwickelt und wurde stets an neue Gegebenheiten angepasst, wodurch eine kleinräumige Kulturlandschaft mit vielfältigen Ökosystemleistungen entstand. Die Wahrnehmung dieser Kulturlandschaft ist ein Aspekt, den ich in 2.4 „Naturwahrnehmungen und Naturkonzeptionen“ zu fassen versuche. Das Unterkapitel behandelt drei unterschiedliche und in Hinblick auf meine Fragstellungen wichtige Aspekte. Im ersten Teil (2.4.1-2.4.3) zeige ich, wie die Naturwahrnehmung der Bauern und Bäuerinnen angepasste Ressourcennutzungsstrategien und damit eine spezifische Kulturlandschaft prägt. Im zweiten Teil (2.4.4) folgt ein Überblick über die ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren, die darüber entscheiden, welchen Stellenwert der globale Klimawandel innerhalb der lokalen Lebenswelt einnimmt. Hierbei handelt es sich um Faktoren, die letztlich darüber entscheiden, welche Bereitschaft bei der Talbevölkerung existiert, sich an unberechenbare Umweltveränderungen anzupassen. Im dritten Teil (2.4.5-2.4.7) zeige ich, dass sich im Safiental eine spezifische Risikokultur entwickelt hat, die auch heute noch in religiösen und mythologischen Vorstellungen reflektiert wird. Am Beispiel Indonesiens veranschauliche ich in dem Exkurs „Naturgefahrenwahrnehmung der Toraja Masupu, Süd-Sulawesi“ (2.5.), wie religiös geprägte Naturwahrnehmungen und Naturkonzeptionen dazu beitragen können, katastrophale Ereignisse mental zu überwinden, sie mit Sinn auszustatten und sich vor potentialen Risiken zu schützen. Das Unterkapitel 2.6 „Sozial-ökologische Herausforderungen“ verdeutlicht, wie ein in den 1950er- und 1960er-Jahren einsetzender Strukturwandel in der Landwirtschaft bis heute tiefgreifende sozial-ökologische Veränderungen vorantreibt. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, der mehr oder minder im gesamten Alpenraum stattfindet und dabei auch die Folgewirkungen des Klimawandels verschärft; er beschleunigt die fortdauernde Entsiedelung des Tals und führt zum Verlust der jahrhundertealten Kulturlandschaft. Ich beleuchte am Beispiel des Safientals die konkreten Auswirkungen auf die Bevölkerung und mit welchen Strategien sie auf diese Veränderungen reagiert. Im dritten Kapitel „Nachhaltige Klimaanpassungsstrategien: eine soziokulturelle Perspektive“ weise ich einen Weg auf, wie die aus dem Theorie- und dem Praxisteil gewonnen Erkenntnisse meiner Forschung ganz konkret für ein professionelles Naturgefahrenmanagement nutzbar gemacht werden können. Ich werde hierbei der Frage nachgehen, wie in einem transdisziplinären Ansatz interaktive
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Mensch-Umwelt-Beziehungen analysiert werden können und welche Chancen und Perspektiven sich durch die Integration des lokalen Umweltwissens in ein professionelles Naturgefahrenmanagement ergeben. Um diese Fragen zu beantworten, analysiere ich zunächst in 3.1 „Lokales Wissen im Naturgefahrenmanagement“ die gängige Praxis des professionellen Naturgefahrenmanagements. Danach diskutiere ich in Bezug auf seine Stärken und Schwächen den Sozialökologischen Systemansatz, der den Anspruch hat, ganzheitlich interaktive Mensch-Umwelt-Beziehungen zu analysieren und eine konzeptionelle Schnittstelle zwischen Natur-, Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften schaffen zu können (3.2 „Sozial-ökologischer Systemansatz: zwischen Interdisziplinarität und Reduktion“). Schließlich werde ich als weiteren Lösungsansatz in 3.3 „Multimediakartierung als Chance und Perspektive im Naturgefahrenmanagement“ das wesentliche Resultat meiner Forschung vorstellen: Eine multimediale Karte über das lokale Umweltwissen im Safiental, durch die lokales Umweltwissen dokumentierbar und erinnerbar wird, die die Bergbauern und -bäuerinnen aktiv an dem Prozess des Naturgefahrenmanagements teilhaben lässt sowie die Kommunikation zwischen der lokalen Bevölkerung und professionellen Akteuren im Naturgefahrenmanagement erleichtert bzw. institutionalisiert. Im Fazit meiner Arbeit fasse ich die Ergebnisse meiner Forschung abschließend zusammen, zeige ihre Grenzen, aber auch ihre weiteren Einsatzmöglichkeiten auf.
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Theoretischer Bezugsrahmen
1.1
G LOBALER U MWELTWANDEL
Viele Umweltveränderungen, mit denen die Bergbauern und -bäuerinnen im Safiental konfrontiert werden, sind „glokal“ (vgl. Robertson 1995: 28-41). Das bedeutet einerseits, dass globale Umweltveränderungen lokal wirken, und dass andererseits lokale Umweltveränderungen durch kaskadierende Effekte globale Auswirkungen haben können. Dementsprechend lassen sich die Dynamiken lokaler sozial-ökologischer Veränderungen nur nachvollziehen, wenn man sowohl ihre lokalen Merkmale und Auswirkungen als auch ihre globalen Rahmenbedingungen betrachtet. Diese Rahmenbedingungen unterliegen einem rasanten und komplexen Wandlungsprozess. Innerhalb weniger Dekaden, seit dem Beginn der industriellen Massenproduktion, hat der Einfluss des Menschen auf seine natürliche Umwelt, insbesondere in westlichen Industrienationen, exponentiell zugenommen. Während sich die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert vervierfacht hat,1 stieg die industrielle Massenproduktion und der Konsum von Industriegütern um das 40-Fache. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde nahezu die Hälfte des auf der Erde vorhandenen Süßwassers vom Menschen genutzt und Pflanzen und Tiere sterben momentan hundert bis tausendmal schneller aus als ohne menschlichen Einfluss.2 Die Aussterberate hat eine Geschwindigkeit erreicht, wie vermutlich zuletzt während des großen Massensterbens der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren. (vgl. Barnosky et al. 2011: 52-56; Rockström und Klum
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Bei gleichzeitig zunehmender Wachstumsrate und nach Prognosen der UN werden im Jahre 2050 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben (UN 2015; https://population. un.org/wpp/ [letzter Zugriff: 22.06.19]).
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28 000 Arten, dass sind 27 % des weltweiten Bestands sind momentan vom Aussterben bedroht. Diese Art von Massensterben gab es bisher nur fünf Mal in der gesamten Erdgeschichte (IUCN 2019).
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2012: 171; Millennium Ecosystem Assessment 2005: 4-5; IUCN 2019; IPBES 2019: 1-4; IPCC 2019: 1-3). Es wird mittlerweile davon ausgegangen, dass auf der Erde keine Ökosysteme mehr existieren, die nicht vom Menschen beeinflusst werden; gleichzeitig sind die Menschen jedoch weiterhin von den vielfältigen Ökosystemleistungen der Natur abhängig (vgl. Moberg et al. 2011; Simonsen et al. 2014; Biggs et al. 2015a; Folke et al. 2011). Umweltdegradationen sind oft eng mit sozialen Ungleichheiten verzahnt und produzieren im schlimmsten Fall ökologische Armutsfallen (vgl. Bollig und Bubenzer 2009: 17; Barrett et al. 2011; Reichel et al. 2009; Boonstra und de Boer 2014).3 Die wohl herausragendste Umweltveränderung, die alle anderen Wandlungsprozesse von der lokalen bis zur globalen Ebene beeinflusst, ist der anthropogen verursachte Klimawandel. Das Verbrennen fossiler Rohstoffe, großflächige Entwaldung und intensive Landwirtschaft (insb. Viehhaltung) haben die Konzentration der Treibhausgase Kohlendioxid, Methan und Lachgas in der Atmosphäre seit den 1950er-Jahren verdreißigfacht und einen Wert erreicht, wie er innerhalb der letzten 800 000 Jahre nicht vorlag. Die reichsten Länder der Erde produzierten 80 % aller kumulativen Emissionen seit 1751, die ärmsten Länder der Erde zusammen weniger als 1 %, obwohl dort 800 Millionen Menschen leben (vgl. Steffen et al. 2011: 746).4 Eine hauptsächliche Auswirkung dieser Treibhausgaskonzentration ist, dass kurzwellige Sonnenstrahlung, die von der Erde als infrarote Wärmestrahlung ins Weltall zurückreflektiert wird, auf ein deutlich gesteigertes Rückhaltevermögen der Troposphäre trifft und teilweise wieder zur Erde reflektiert wird. Die Folge ist eine rapide globale Erwärmung, deren Auswirkungen umgangssprachlich als „Klimawandel“ bezeichnet werden (vgl. IPCC 2014a; Leggewie und Welzer 2010: 22-26).
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Ökologisch bedingte Armutsfallen entstehen durch eine sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung, indem Umweltzerstörung Armut produziert und Menschen aufgrund ihrer Armut gezwungen sind, ihre Umwelt zu zerstören. Ein konkretes Beispiel werde ich im Kapitel 2.5 „Exkurs: Naturwahrnehmung bei den Toraja Masupu, Süd-Sulawesi“ geben.
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Kumulativ produzierten im 20. Jahrhundert die USA die meisten CO2-Emissionen. Schwellenländer, wie China, Indien, Indonesien folgen jedoch dem gleichen destruktiven Entwicklungspfad auf der Basis fossiler Energieträger, was dazu geführt hat, dass ihr Emissionsanteil bereits 2004 auf 40 % gestiegen ist.
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Abb. 7: Konzentration des Treibhausgases CO2 in der Atmosphäre innerhalb der letzten 800 000 Jahre
Quelle bearbeitet nach NASA 2019
Die Geschwindigkeit der durchschnittlichen Temperaturzunahme bricht jedes Jahr neue Rekorde. Gemessen an der Erdoberflächentemperatur war jedes der letzten drei Jahrzehnte sukzessive wärmer als alle anderen zuvor seit 1850 – dem Zeitraum, seitdem relativ genaue Messreihen zur Verfügung stehen. Laut dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) waren in der Nordhemisphäre die 30 Jahre von 1983 bis 2012 mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die wärmsten seit 1 400 Jahren (vgl. IPCC 2014b: 2; Neu 2012: 6; Leggewie 2009: 14). Auch wenn es aufgrund komplexer Interaktions- und Rückkopplungseffekte zwischen den verschiedenen Komponenten des globalen Klimasystems zu natürlichen Schwankungen in der Temperaturerhöhung kommt, so ist der Trend doch eindeutig: Der Planet wird wärmer. Gleichzeitig variiert die Dynamik der Prozesse, die durch die globale Erwärmung angestoßen werden, enorm und reicht von schleichenden Umweltveränderungen, wie dem Abtauen der Gletscher und dem Rückgang des Permafrosts, zu plötzlichen Naturereignissen, wie z.B. dem vermehrten Auftreten von Murgängen (vgl. Moser et al. 2012).5 Selbstverständlich verändert sich unsere natürliche Umwelt ständig und befindet sich alles andere als in einem stabilen Gleichgewicht; neu an der momentanen Entwicklung ist jedoch die Geschwindigkeit und der globale Maßstab, in der Umweltveränderungen stattfinden, was wiederum die Ausarbeitung von Anpassungs- und Bewältigungsstrategien komplex und schwierig macht. Dementsprechend sind Kli-
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Unter „Murgang“ (auch Muren, Rüfen, schweiz. „Rufala“) wird ein schnell fließendes Gemisch aus Wasser und Feststoffen (meist Steine, Blöcke, Geröll oder Holz) verstanden.
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maanpassungsstrategien, die anstelle von „Natur“6 und die Prozesse, die in ihr stattfinden, kontrollieren zu wollen, Unsicherheiten miteinkalkuliert, gefragt. Eine solche Strategie bietet der von Carl Folke als „Adaptive Co-Management“ bezeichnete Ansatz. Dieses „Adaptive Co-Management“ ist ein Prozess „by which institutional arrangements and ecological knowledge are tested and revised in a dynamic, ongoing, self-organized process of learning-by-doing“ (Folke et al. 2002 nach Armitage et al. 2007: 23). Der Ansatz stammt zwar aus der Ökologie und wurde für ein – je nach regionalen Kontextbedingungen – flexibles, angepasstes und partizipatives Ressourcenmanagement entwickelt. Weil bei diesem Managementansatz die Integration von lokalem Umweltwissen sowie ein gegenseitiger Lernprozess zwischen der lokalen Bevölkerung und politischadministrativen Akteuren im Vordergrund steht, lässt sich, im Sinne der vorliegenden Studie, der adaptive Co-Management-Ansatz auch für Klimaanpassungsstrategien anwenden. Wie die folgenden Kapitel zeigen, kann gerade in dieser Hinsicht viel von den Safientaler Bergbauern und -bäuerinnen gelernt werden, da sie bereits seit Jahrhunderten Gebiete besiedeln, die aufgrund häufig auftretender Naturgefahren, Wetterextremen, einer kurzen Vegetationszeit etc. eine große Flexibilität und Anpassungsleistung verlangen. Die folgende Grafik zeigt die sogenannte ikonische Hockeyschlägerkurve, eine grafische Abbildung, die üblicherweise mit der Korrelation von globaler Erwärmung und CO2-Ausstoß in Verbindung gebracht wird, die jedoch auch eine ganze Reihe gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen sowie die Verödung ganzer Ökosysteme darstellt. Die exponentiell zunehmende Rate sozioökonomischer Tätigkeiten findet weitgehend zeitgleich mit massiven Veränderungen der biophysikalischen Umwelt statt. Die Grafiken machen deutlich, dass insbesondere seit den 1950er-Jahren, dem Anfang der Massenproduktion, ein dramatischer und nie zuvor dagewesener sozial-ökologischer Wandel stattfindet. Alle Kurven haben folgende Gemeinsamkeiten: 1. Sie zeigen den Einfluss des Menschen. 2. Sie zeigen Entwicklungen, die nicht isoliert zu betrachten sind, sondern sich durch kaskadierende Effekte gegenseitig beeinflussen. 3. Sie zeigen eine Entwicklung der Umweltzerstörung, die sich beim Übersteigen bestimmter Kipppunkte nicht mehr rückgängig machen lässt.
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Mir ist die Vieldeutigkeit und Ambivalenz des Begriffs „Natur“ bewusst. Ich werde hierauf ausführlich in Kapitel 1.5.2 „Die räumliche Dimension von lokalem Wissen“ und Kapitel 2.4 „Naturwahrnehmungen und Naturkonzeptionen“ eingehen.
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Die empirischen Daten, die ich in den nächsten Kapiteln vorstelle, zeigen deutlich, dass Bergbauern und -bäuerinnen zu denjenigen Bevölkerungsgruppen gehören, die überdurchschnittlich von dieser Entwicklung betroffen sind. Insbesondere in Bergregionen kann der globale Umweltwandel dazu führen, dass viele Ökosystemleistungen verloren gehen. In einem oftmals räumlich begrenzten Gebiet wirtschaftend sind sie selbst in einem so reichen Land wie der Schweiz in ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise direkt von ihrer biophysikalischen Umwelt und deren Ökosystemleistungen abhängig und dementsprechend sensibel in Bezug auf einen destruktiven Umweltwandel.
1.2 D AS A NTHROPOZÄN : E INE KRITISCHE R EFLEXION AM B EISPIEL DES K LIMAWANDELS „Due to the dynamics of globalization social and natural forces are so closely entangled with one and another that the old divide between culture and nature, originating in western philosophy of the 18th century, has lost its foundation. The relentless technological progress as a powerful sign of modernity reveals its very ambivalence, which is characteristic in the increase in wealth, mobility and potentialities, but at the same time also responsible for environmental destruction, famine, wars and an ever-growing difference between access and entitlement to resources.“ (Ute Luig 2012: 5)
Im Jahr 2000 stellten der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen7 und der Biologe Eugene F. Störmer die vollkommen neue These auf, dass Umweltveränderungen heute so allumfassend und global auftreten, dass dies als Anzeichen für ein neues geochronologisches Zeitalter zu werten sei: das Anthropozän (vgl. Crutzen und Störmer 2000: 17-18; Crutzen 2006: 13-18). Das Anthropozän, so wird es angenommen, löst das Erdzeitalter oder Holozän ab, das vor rund 10 000 Jahren
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Crutzen und Störmer waren die Ersten, die das Anthropozän als erdzeitliche Epoche abgrenzten. Die These, dass der Mensch die natürliche Umwelt umfassend beeinflusst, wurde jedoch in der westlichen Welt zum ersten Mal von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1749-1789) geäußert. Er unterschied, dem anthropozentrischen Zeitgeist entsprechend, in seiner Histoire Naturelle die von den Menschen unbeeinflusste „schreckliche Natur“ und die sogenannte „zivilisierte Natur“, die nach den Ideen und Wünschen des Menschen gestaltet sei. Antonio Stoppani, ein Geologe aus Italien sprach 1873 von der sogenannten „anthropozoischen Ära“ und hielt die menschlichen Aktivitäten für so weitreichend, dass man sie mit geologischen Kräften vergleichen könne (vgl. Leinfelder 2013; Valsangiacomo 1998).
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begann und in dem sich Menschen zum ersten Mal niederließen, Landwirtschaft betrieben und komplexe Kulturen mit einem hohen Grad von Arbeitsteilung entwickelten (vgl. Rockström et al. 2009: 3; Steffen et al. 2011: 739-747; Folke et al. 2011: 738). Befürwortende des Anthropozän-Konzepts argumentieren, dass der Mensch mit Beginn der Industrialisierung und der damit verbundenen großräumigen Umweltzerstörung zum einflussreichsten Faktor für biologische, geologische und atmosphärische Prozesse auf der Erde geworden ist und dementsprechend begonnen hat, eine eigene geochronologische Epoche zu prägen (Crutzen und Störmer 2000: 17-18; Crutzen 2006: 13-18). Abb. 9: Satellitenaufnahme von Kornfeldern in Kansas/USA8
Quelle: © Nasa 2001
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Die abgebildete Fläche beträgt mehr als 1440 km2. Laut IPCC werden mittlerweile mehr als 70% der Eisenfreien Landoberfläche durch den Menschen genutzt. (Vgl. https://www.ipcc.ch/srccl-report-download-page/ [letzter Zugriff 03-10-19]).
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Obwohl das Konzept des Anthropozäns in den Naturwissenschaften mittlerweile weitverbreitet ist, herrscht über den Beginn dieser neuen Epoche weiterhin Uneinigkeit. Crutzen und Störmer lassen anhand der Auswertung des CO2-Gehalts von Eisbohrkernen das Anthropozän mit der industriellen Revolution beginnen, wogegen diese zeitliche Abgrenzung bei der Kommission für Stratigrafie heftig diskutiert wird. Vereinzelte Stimmen, wie die Whitney Autins von der geologischen Gesellschaft Amerikas, sind der Ansicht, dass sich eine solche Epoche noch gar nicht festlegen lässt, zu kurz sei möglicherweise ihre Zeitdauer und eine genaue Definition sei erst in etwa 1 000 Jahren im Rückblick möglich (Autin et al. 2012: 60-61). Auch in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften sowie in der Kunst ist das Konzept des Anthropozäns relativ weitverbreitet, weil es an die langjährige Diskussion9 über die Überwindung der Kultur-Natur-Dichotomie anknüpft und je nach fachspezifischer Präferenz unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Erklärungsrahmen für Mensch-Natur-Interaktionen zulässt (vgl. u. a. Altvater 2013; Moore 2017; Malm und Hornborg 2014; Reinkemeier 2015; Klingan et al. 2015; Edwards 2017; Latour 2012). Allerdings wird auch heftig diskutiert, ob es sich beim Anthropozän tatsächlich um eine neue zeitgeschichtliche Epoche handelt – und wenn ja, was ihre charakteristischen Bestimmungen seien –, oder ob es lediglich einen Containerbegriff darstellt, in den jegliche Assoziationen zu Mensch-Umwelt-Beziehungen hineininterpretiert werden können. Ein Teil dieser Kritik stellt zudem die Ausmaße, wenn nicht gar die Existenz der dem Anthropozän zugrundeliegenden Veränderungsprozesse infrage – eine Position, die jedoch aufgrund der klaren Beweislage zum anthropogen verursachten Klimawandel kaum überzeugt. Auch wenn kein Konsens darin besteht, ob die Erde sich aufgrund von Umweltveränderungen wie dem Klimawandel im Anthropozän befindet oder nicht, und falls ja, durch welche Merkmale das Anthropozän hauptsächlich geprägt ist, hat die bislang geführte Debatte zumindest das Potential, in Bezug auf dramatische Umweltprobleme weitreichende interdisziplinäre Denkanstöße zu geben, die Beziehungen des Menschen zu Natur, Kultur und Technik neu zu reflektieren und zu überdenken (Hastrup 2015: 1-20). Des Weiteren könnte die Anthropozän-Theorie den Natur- und Sozialwissenschaften als Rahmenkonzept dienen, um in Umweltfragen fachübergreifend und interdisziplinär zusammenzuarbeiten und eine gemeinsame Sprache über die Grenzen der Disziplinen hinaus zu entwickeln. Allerdings gibt es hierfür noch viele Hindernisse. Eines dieser Hindernisse sei kurz erwähnt: Im Falle eines
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Vgl. Abschnitt 2.4 „Naturwahrnehmung und Naturkonzeptionen“.
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„breitgesteckten“ Anthropozän-Ansatzes, der sowohl den Natur- als auch den Sozialwissenschaften als Rahmenkonzept dienen könnte, bleibt der Erklärungsrahmen für Mensch-Natur-Beziehungen auf einer Art „Metaebene“. Ein solches Konzept bietet beispielsweise wenig Spielraum für die Integration lokaler, historisch und kulturell spezifischer Begebenheiten und Handlungsmuster. Globale Umweltprobleme werden jedoch häufig lokal angegangen. Analysen dazu, wie in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten globale Phänomene wie der Klimawandel wahrgenommen, gedeutet und mit Sinn ausgestattet werden, sind also bedeutend für ein umfassendes Verständnis von Vulnerabilität, Resilienz und Adaption im Kontext des globalen Umweltwandels. Ein breitgesteckter Anthropozän-Ansatz kann keine überzeugenden Lösungen dazu anbieten, wie der momentane, destruktive menschliche Entwicklungspfad durchbrochen werden kann. Christoph Rosol, Donald Nelsen und Jürgen Renn weisen auf diesen wichtigen Punkt hin, indem sie schreiben: „It pointedly captures the fact that industrial society has made it into the ranks of deep time, bringing about a geological epoch that has no analogue in Earth’s history. Naming a system-wide and largely irreversible transition of the entire planet, the concept of the Anthropocene dispenses once and for all with romantic ideas of a quasi-stable state of nature to which we should or might eventually return. Humanity does not act on the backdrop of an unchangeable nature but is deeply woven into its very fabric, shaping both its imminent and distant future. […] But it does not tell us how we got on board this wildly moving vehicle, nor what powers and propels it. As a geological terminus technicus, the Anthropocene lacks explanatory power; it does not tell us what the driving forces behind the current, ,real-time‘ exodus from the Holocene are nor how these forces operate and function.“ (Rosol et al. 2017: 1)
Während die Thematik des Anthropozäns für die Sozial- und Kulturwissenschaften verhältnismäßig neu ist, besitzen die Naturwissenschaften im aktuellen Diskurs eine relative Deutungshoheit und haben einen vorherrschenden Einfluss auf relevante politische Aushandlungsprozesse. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf den anthropogen verursachten Klimawandel, die treibenden Kräfte und zugleich auf die Auswirkungen des Anthropozäns. Problembeschreibungen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) und des IPCC – also jenen internationalen Institutionen, die die neuesten wissenschaftliche Erkenntnisse zusammentragen, auswerten und politisch verhandeln – orientieren sich hauptsächlich an quantifizierbaren biophysikalischen Veränderungsprozessen, die in Modellen erfasst werden können (vgl. O’Brien et al. 2006 nach
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Dietz 2006: 10).10 Ohne den gesellschaftlichen, durch politische und ökonomische Machtstrukturen und Aushandlungsprozesse geprägten Klimawandeldiskurs zu hinterfragen, liefern bisher hauptsächlich die Naturwissenschaften die wissenschaftliche Interpretation des Klimawandels für die politische Debatte (vgl. von Storch und Kraus 2013; Voss 2010: 24-26; Voss 2008: 2866-2870). Naturwissenschaftliche Modelle können hochabstrakte dynamische Entwicklungspfade von Umweltveränderungen aufzeigen und erreichen mithilfe einer medialen Berichterstattung eine breite Öffentlichkeit. Gleichzeitig werden jedoch soziale und kulturelle Aspekte (wie z.B. individuelle Wahrnehmungsmuster, die ausschlaggebend dafür sind, wie der globale Klimawandel innerhalb von lokalen Lebenswelten überhaupt erst an Bedeutung gewinnt), die sich nicht einfach als Indikatoren in Modelle einfügen lassen, höchstens als Beiwerk integriert. Insbesondere in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften mit konstruktivistischer Ausrichtung wird diese naturwissenschaftliche Deutungshoheit kritisiert. Beispielsweise argumentiert Martin Voss, im Rahmen der Debatte um den Klimawandel werde verkannt, es sich beim Klimawandel und der Bezugsgröße „Klimagas/CO2“ eben nicht nur um einen objektiv messbaren „Fakt“ handele, sondern dass dieser „Fakt“ auch mit emotionalen „Werten“ verknüpft sei und nur in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext seine Wertigkeit erhielte. (Voss 2008: 2864-2870): „Der globale Umweltdiskurs führt in seiner gegenwärtigen Form zur Globalisierung einer spezifischen, lokalen, nämlich primär im Okzident generierten Weltsicht. Es ist primär dieser Diskursraum, der das reale Problem Klimawandel wie die Form seiner Thematisierung hervorgebracht hat“ (Voss 2008: 2874). Voss erkennt selbstverständlich den Klimawandel als Problem an, macht jedoch deutlich, dass der Klimawandel, zumindest wie er wissenschaftlich erforscht, politisch ausgehandelt und medial aufgearbeitet wird, in erster Linie ein westliches Produkt darstellt und in „nicht-abendländischen Kulturräumen“ eine ganz andere Bedeutung erhält (Voss 2008: 2864). Dieser westlich-naturwissenschaftlich dominierte Diskursraum führt dazu, dass Strategien der Prävention,
10 Beispielsweise definiert die UN Klimarahmenkonvention „Klimawandel“ als: „[...] a change of climate which is attributed directly or indirectly to human activity that alters the composition of the global atmosphere and which is in addition to natural climate variability observed over comparable time periods“ (Art. 1.2, UN 1992 nach Dietz 2006: 10). Diese Definition, die der UNFCCC und dem IPCC als Grundlage dient, unterteilt Natur und Gesellschaft in zwei separate Analyseeinheiten, mit einem Fokus darauf, wie menschliche Handlungen biophysikalische Systemzusammenhänge negativ beeinflussen (vgl. Füssel und Klein 2006; O’Brien et al. 2006 nach Dietz 2006: 1).
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Adaption und Mitigation ebenfalls von Gesellschaften des Globalen Nordens dominiert werden und deren Denkmuster folgen. Klimaverhandlungen, bei denen politische und wissenschaftliche Interessen im Diskurs stehen, entsprechen weitgehend einem Top-Down-Ansatz, der oftmals daran scheitert, lokales Wissen und Interessen derjenigen zu berücksichtigen, die direkt in ihrem Alltag vom Klimawandel bedroht sind. Es gibt jedoch auch positive Ansätze, so haben sich beispielsweise auf der internationalen Klimakonferenz United Nations Framework Convention on Climate Change, 21st Conference of the Parties (kurz: COP24) 2018 in Katowice unterschiedliche „indigene“ Gruppen zusammengefunden, um sich gemeinsam Gehör zu verschaffen. Sie gehören zu den Bevölkerungsgruppen, deren traditionelles Umweltwissen in Bezug auf globale Umweltprobleme eine neue Brisanz erhält, welche aber auch am meisten von den sozial-ökologischen Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, da sie im Regelfall sehr direkt von den natürlichen Ressourcen ihrer Umwelt abhängig sind. Hinzu kommt, dass sie oftmals ohne abgesicherte Landrechte marginalisiert werden und keine Möglichkeit haben, sich gegenüber den Ressourceninteressen anderer mächtiger Akteure durchzusetzen. Umso erstaunlicher war, dass bei dem Treffen in Katowic „indigene“ Gruppen zum ersten mal in der Geschichte der UN-Verhandlungen nicht nur die Rolle von „Beobachtern“ zugeschrieben wurden, sondern sie Repräsentanten wählen durften, die auf einer extra eingerichteten Plattform für Lokale Gemeinschaften ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen vertreten und Gesetzgebungen aushandeln konnten (vgl. UNFCCC 2018). Diese Bestrebungen des Klimaschutzes und der -anpassung, sind zwar ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung, greifen aber noch zu kurz, da sie trotz aller Bemühungen immer noch auf einem „top down“ Prinzip basieren, nur oberflächlich Machtbeziehungen zwischen verschieden Akteuren berücksichtigen und nur marginal einen Wissenstransfer ermöglichen, um historisch gewachsene, soziokulturell verankerte Vorstellungen über Bedrohungen und Chancen des Klimawandels integrieren. Denn wenn auf internationaler Ebene beschlossen wird, einen nachhaltigen Entwicklungspfad einzuschlagen, um die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern, resultiert daraus nicht unbedingt, dass die geforderten Maßnahmen auf nationaler, geschweige denn lokaler Ebene umgesetzt werden. Ökonomische Interesse und Machtkonstellationen, die Implementierungsstrategien von Gesetzesinitiativen verhindern, existieren auf allen gesellschaftlichen Ebenen. So kommt es, dass der Klimawandel hauptsächlich als „globales Problem“ diskutiert wird, den man vor allem mit universell gültigen Stellschrauben lösen müsse.
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Bei politischen Aushandlungsprozessen, die darüber entscheiden, wie auf globale Umweltprobleme reagiert werden sollte (oder auch nicht), werden häufig kurzfristige, technische Lösungen (z.B. „Global Engineering“) favorisiert, die business as usual in Wirtschaft und Politik ermöglichen, anstelle bestehende Mensch-Natur-Beziehungen grundlegend umzudenken (vgl. Leggewie und Welzer 2010; von Storch und Kraus 2013; Reinkemeier 2015: 95). Dies hat zur Folge, dass selbst bei der so dringenden Frage, wie dem Klimawandel durch Mitigations-, Präventions- und Adaptionsstrategien zu begegnen sei, alternative Strategien im Umgang mit Umweltveränderungen, die aus anderen soziokulturellen Kontexten stammen und zum Teil auf einem anderen Naturverständnis basieren, keine oder nur wenig Beachtung finden. So zeigten beispielsweise meine ethnologischen Forschungen in Indonesien – bei den Bajau aus dem Taka Bonerate, den Yali aus Westpapua und den Toraja Masupu aus Sulawesi –, dass Vorstellungen einer beseelten Natur in diesen Gesellschaften noch durchaus weitverbreitet oder sogar dominierend sind (vgl. Reichel et al. 2009; Frömming und Reichel 2011; Reichel et al. 2012). In allen drei Gesellschaften erscheint die Vorstellung, dass man „Natur“ durch technische Errungenschaften vollständig kontrollieren könne (z.B. Flussverbauungen), als vollkommen abwegig. Moralische Naturvorstellungen von einer durch spirituelle Wesen belebten Natur und die damit verbundene nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise sind hier, wie auch bei sonstigen indigenen Gesellschaften in Asien und anderen Weltregionen, vorherrschend. So sind die in der Debatte um das Anthropozän aufkommenden Ideen von einem „Paradigmenwechsel“ oder einem „neuen Weltbild“ in Bezug auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen zwar erfrischend, aber auch durch einen Eurozentrismus geprägt. Die Möglichkeit, von den Naturkonzeptionen sogenannter indigener und gegebenenfalls anderer, nicht-westlicher Gesellschaften zu lernen, wird damit weiterhin nicht realisiert, obwohl Aspekte der Anthropozän-Debatte dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für solche Lernprozesse zu schaffen. Des Weiteren wird deutlich, dass die Annahmen der zweifelsfreien, objektiven Messbarkeit und Kategorisierung von Mensch-Natur-Beziehungen hinterfragt werden müssen. Dieses Hinterfragen ist aufgrund der weltweiten Dominanz technischer Lösungen für die durch den Umweltwandel entstehenden Probleme von zentraler Bedeutung. Mit dem einseitigen, unreflektierten Festhalten an scheinbar objektiven und messbaren Fakten wird nicht nur die dichotome Trennung von Natur und Kultur reproduziert, sondern auch die in vielen Kulturen damit verbundene Annahme der vollständigen und gesicherten Dominanz des Menschen über seine natürliche Umwelt. Das Konzept des Anthropozäns ermöglicht (auch) ein solches Festhalten an einer scheinbar objektiv messbaren Realität
1 Theoretischer Bezugsrahmen
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und trägt dementsprechend – trotz einer potentiell alarmierenden Botschaft – nicht zwingend zu einem grundlegenden Umdenken bestehender Mensch-NaturBeziehungen bei.
1.3 A USWIRKUNGEN UND E RLEBEN DES K LIMAWANDELS IN DEN A LPEN „Die Veränderungsprozesse lassen sich durch unsere Messstationen klar nachweisen. Wir stellen fest, dass Extremereignisse zunehmen und dadurch sind auch die Kosten zum Erhalt der öffentlichen Infrastruktur deutlich höher als früher. Vor allem Starkniederschläge haben in den letzten Jahren extrem zugenommen. Auch die Situation dieses Jahr: extrem viel Schnee, extrem spät, extrem tiefe Temperaturen. Und jetzt wird es ganz schnell wieder extrem warm. Das hat es als solches vor 10-15 Jahren nicht gegeben. Durch die Temperaturerwärmung sind die Extremereignisse und Großwetterlagen unberechenbarer geworden, was wiederum Einfluss auf die Elemente ,Wind‘, ,Temperatur‘ und den Niederschlag hat.“ (Dr. Ruedi Haller, Leiter Forschung und Geoinformation, Schweizerischer Nationalpark, Zernez/Unterengadin 2012)
Die Alpen sind eine besonders klimasensible Region, in der sich nach Prognosen des IPCC die Folgen der globalen Erwärmung, wie beispielsweise eine Erhöhung der Magnitude und Frequenz von Naturgefahren, deutlich früher bemerkbar machen als im globalen Durchschnitt (vgl. IPCC 2014c: 11-28; Marty et al. 2009: 202-206; Keiler et al. 2010: 2466). Nach Aufzeichnungen des Schweizer Wetterdienstes hat sich die Durchschnittstemperatur in der Schweiz im Zeitraum 1864-2019 um 2 Grad Celsius erhöht – gut doppelt so hoch wie der globale Durchschnitt, wobei im globalen Durchschnitt das Jahr 2018 die höchsten Temperaturen seit Aufzeichnung der Messdaten anzeigte. (vgl. BAFU 2019; MeteoSchweiz 2019; NASA 2017). Weltweit waren die fünf Jahre zwischen 2014, und 2018, die fünf wärmsten, die jemals gemessen wurden (MeteoSchweiz 2019: 4). Ein Ende des Erwärmungstrends ist momentan nicht abzusehen; im Gegenteil, er wird sich voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten weiter beschleunigen. Prognosen zufolge könnte sich die Durchschnittstemperatur bis zum Jahr 2100 um 3,2 bis 5,4 Grad Celsius erhöhen, wenn die Treibhausgasemissionen weiterhin ungebremst ansteigen (BAFU 2019).
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Tourismus Der Tourismus ist nach der Landwirtschaft der nächstgrößere Wirtschaftssektor. Allerdings ist die Tourismusinfrastruktur nur marginal entwickelt und mit den nah gelegenen Skiorten Flims oder Laax nicht vergleichbar. Noch krassere Gegensätze bestehen zu Orten wie St. Moritz im Oberengadin, nur 45 km Luftlinie vom Safiental entfernt. Im Winter ist das Tal vor allem attraktiv für Skitourengeher, Eiskletterer und Schulklassen, die im Dorf Tenna, wo es einen kleinen, solar betriebenen Schlepplift gibt, Skiferien machen. Im Sommer kommen Bergsteiger, Wanderer und Mountainbiker. Außerdem hat sich in Versam eine Wildwasser-Kajak- und Kanuschule angesiedelt, die geführte Touren durch die Rheinschlucht anbietet. Und es gibt häufig Volksfeste und Kulturveranstaltungen (z.B. der jährliche Viehmarkt), die zwar nicht primär für Touristen veranstaltet, aber auch von ihnen besucht werden. Im Vergleich zu anderen Schweizer Gebirgstälern gibt es nur relativ wenige Pensionen. Allerdings verdienen sich einige Familien etwas Geld dazu, indem sie Ferienwohnungen, Maiensäße14 und ausgebaute Ställe unter dem Motto: „Natur und Kultur Ferien Pur“ vermieten. Die Talbewohnerschaft ist gegenüber einer weiteren touristischen Erschließung eher skeptisch eingestellt, wie der Revierförster des Safientals, der ebenfalls als Großrat für die Bürgerlich demokratische Partei (BDP)15 die Region vertritt. „Viele Bauern wollen keinen Tourismus, und die, die Tourismus wollen, wollen nur einen ganz sanften Tourismus, keinen Massentourismus. [...] der Bau des Wasserkraftwerks hat der Gemeinde recht viel Geld gebracht [...], um das zu finanzieren, was die Bauern brauchten, da ist man nicht so abhängig.“ (Daniel Buchli, Förster, Neukirch/Safiental, Januar 2012)
14 Eine Alp-Sonderform, die unterhalb der Baumgrenze auf circa 1 200-1 600 m liegt. Maiensäße, die üblicherweise aus mehreren Ställen und Häusern bestehen, wurden als Zwischenstation zwischen dem Haupt-Hof im Tal und der Hoch-Alp genutzt. Sie ermöglichten eine an die Jahres- und Vegetationszeiten angepasste Dreistufenwirtschaft und damit optimale Nutzung der hochalpinen Landschaft. 15 Die BDP ist eine Schweizer politische Partei auf Nationalebene, die sich selbst als eine Bürgerliche Zentrumspartei definiert.
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2.2.3 Strukturwandel Die Industrialisierung im 19. und 20. Jh. und die etwas später einsetzende Mechanisierung der Landwirtschaft löste auch in entlegenen Gebirgstälern der Alpen einen Strukturwandel aus,16 der alle Aspekte des landwirtschaftlichen, gewerblichen und gesellschaftlichen Lebens beeinflusste und die bisherige Kulturlandschaft tiefgreifend veränderte (Mathieu 2011: 135-138). In urbanen Zentren im Voralpenraum erhöhte sich mit Einführung der Dampfmaschinen die Arbeitsproduktivität erheblich, gleichzeitig vollzog sich eine zunehmende Arbeitsteilung. Werner Bätzing zufolge setzten jedoch diese Modernisierungsprozesse in den Alpen im Vergleich zu anderen Regionen Europas deutlich verzögert ein. Sie hätte sich lange gegen die Industrialisierung „gesperrt“. Er macht dies an vier Punkten fest: 1) Bodenschätze können aufgrund der Geomorphologie nur schwer abgebaut werden, 2) die verkehrstechnische Erschließung, insbesondere von Bahntrassen, ist eine sehr große Herausforderung, 3) im Gegensatz zu großen Teilen West- und Mitteleuropas, wo sich die Industrialisierung in einem allgemeinen Aufschwung befand, war der Alpenraum noch 1760 durch eine Vielzahl von kleinräumigen, konkurrierenden Herrschaftszentren geprägt, was den Ausbau einer teuren industriellen Infrastruktur erschwerte, 4) die „Calvinistische Ethik“, die nach Bätzing als „kapitalistische Arbeitsethik“ wirksam wird und unter anderem die Betriebsorganisation rationalisiert, setzt sich im Alpenraum nur schleppend durch und wurde von der Alpenbewohnerschaft als Neuerung zunächst sehr kritische betrachtet (Bätzing 2015: 133-134). Diese Faktoren mögen dazu beigetragen haben, dass das peripher gelegene Safiental eine ökonomisch strukturschwache Region blieb. Daran änderte auch der Ausbau der Talstraße im Jahre 1887 nichts.17 Die sogenannte flächenhafte de-
16 Ich werde über die gesellschaftlichen Prozesse, Chancen und Probleme, die dieser Strukturwandel ausgelöst hat, ausführlich im Unterkapitel 2.6 „Sozial-ökologische Herausforderungen“ berichten. 17 1897 wurde ein 152 m langer Tunnel in den Felsen gehauen, um den berüchtigten Aclatobel zu umgehen, ein schroffes Seitental am nördlichen Talanfang, wo heute noch häufig Lawinen und Murgänge abgehen. Um die Kosten des Tunnelbaus zu de-
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zentrale Viehhaltung der Berglandwirtschaft, die auch im Safiental praktiziert wurde, war nicht mehr konkurrenzfähig (Bätzing 2015: 131). Die Berglandwirtschaft im Safiental, wie im gesamten Alpenraum, hatte plötzlich Standortnachteile, da die neu entwickelten Maschinen nicht eingesetzt werden konnten und die Erträge vergleichsweise niedrig blieben (Mathieu 2011: 137). Immer mehr Familien mussten ihre Höfe aufgeben und auswandern; die Bevölkerung verringerte sich innerhalb weniger Jahrzehnte um fast 50 %. Während 1850 auf dem heutigen Gemeindegebiet noch 1 789 Menschen lebten, sind es Dezember 2017 nur noch 905 Menschen (BFS: 2019a). Wasserwirtschaft: Der Bau des Wasserkraftwerks Erst 1952 verbesserte sich mit dem Bau des Wasserkraftwerks der Zervreila AG und dem damit verbundenen Ausbau der Talstraße die finanzielle Lage der Gemeinde. Obwohl ein gigantisches Ausgleichsbecken mitten in das Dorf Safien Platz gebaut wurde, umgeben von 500 Jahre alten Bauernhäusern, war und ist das Wasserkraftwerk für die Einwohnerschaft ein Symbol des gesellschaftlichen Aufbruchs, der „Innovation durch Technik“. Es entstanden neue Arbeitsplätze und zum ersten Mal gab es Strom, der sogar gewinnbringend von der Gemeinde verkauft werden konnte. Abb. 27: Safien Platz mit dem riesigen Becken des Wasserkraftwerks mitten im Dorfkern
Quelle: © Reichel, 2011
cken, rodete die Gemeinde Wald und verkaufte das Holz, wodurch Lawinen leichter bis zum Talboden durchbrechen konnten (Flückinger Strebel 2011: 38).
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Das Kraftwerk wurde in einer Zeit gebaut, in der die junge Dorfbewohnerschaft anfing, die starren formellen und informellen gesellschaftlichen Regeln, die das gemeinschaftliche Leben prägten, zu hinterfragen. Dies ist auch auf einen ganz praktischen Grund zurückzuführen: Um das Kraftwerk zu bauen, musste die Talstraße bis Safien Platz für Lastwagen ausgebaut werden. Zum ersten Mal konnte man also mit einem PKW relativ18 schnell das Tal verlassen und zurückkommen, was einen völlig neuen Austausch an Ideen und Meinungen ermöglichte und den Lebensstil stark beeinflusste. „Der Kraftwerkbau in den 1950er Jahren war eine Art Kulturschock für das Tal. Fast von einem Tag auf den andern standen viele hundert fremde Arbeiter – meist Italiener – im Einsatz. Das Landschaftsbild veränderte sich – überall Stromleitungen, Ausgleichsbecken in der Wanna und in Safien Platz. Während die Architektur des Zentralengebäudes neben der Kirche Diskussionen auslöste, wurde beim Bau des Ausgleichsbeckens keine Rücksicht auf die Landschaft und das Ortsbild genommen. Landschaftsästhetische Fragen standen in der damaligen Zeit ohnehin nicht im Vordergrund und offenbar war die Gemeinde nicht in der Lage, sich für eine bessere Lösung stark zu machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Glaube an den Fortschritt und die Technik überall kaum zu bremsen. Der Kraftwerkbau und die Elektrifizierung symbolisierten diesen neuen Glauben an die Zukunft. Nach und nach verwendete man auch im Safiental Elektromotoren und Radio, Telefon und elektrische Haushaltgeräte fanden immer stärkere Verbreitung“ (Hansjürg Gredig, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung, Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Wergenstein, Oktober 2012)
Auch die Mechanisierung der Landwirtschaft setzte im Safiental in den Sechziger- und Siebzigerjahren im Vergleich zu vielen anderen Regionen der Schweiz verzögert ein. Neu entwickelte berggängige Landwirtschaftsmaschinen und Heugebläse zum Trocknen brachten eine enorme Arbeitserleichterung. Zudem wurde eine umfangreiche Flächenmelioration durchgeführt, anlässlich derer viele kleine Nutzflächen getauscht wurden, damit jeder Bauer möglichst große zusammenhängende Flächen zur Verfügung hatte. Darüber hinaus wurden Straßen und Drainagegräben ausgebaut und Hänge begradigt, um Nutzfahrzeuge einsetzen und die Flächen intensiver nutzen zu können. Mit weniger Arbeitskraft wurden höhere Erträge erwirtschaftetet, gleichzeitig beschleunigte sich jedoch auch der Polarisierungsprozess: Während landwirtschaftliche Nutzflächen in einigen flachen, gut erreichbaren Tallagen intensiver bewirtschaftet werden konnten, wurden schlecht erreichbare Flächen
18 Eine Fahrt nach Chur dauerte damals einen halben Tag, heute eineinhalb Stunden.
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aufgegeben und zu Sozialbrachen („Bracha“).19 Allerdings brauchten die Bauernbetriebe auch immer mehr Land, um konkurrenzfähig zu bleiben, mit der Folge, dass Höfe, die weniger als 10 ha Land zu Verfügung hatten, aufgeben mussten und ihr Land versteigert wurde. Dies löste eine zweite, große Abwanderungswelle aus, die erst mit einer Aufstockung der landwirtschaftlichen Subventionen und Ausgleichszahlungen verringert werden konnte, allerdings bis heute andauert. Soweit dieser erste kurze Überblick. Die Chancen, Perspektiven und Probleme dieser Entwicklung werde ich in Kapitel 2.6 „Sozial-ökologische Herausforderungen“ detailliert erläutern.
2.3
L OKALES U MWELTWISSEN „Landscape is constituted as an enduring record of – and testimony to – the lives and works of past generations who have dwelt within it, and in so doing, have left there something of themselves.“ Ingold 1993: 152
2.3.1 Anpassung der Landnutzung an die natürliche Umwelt Die natürlichen Voraussetzungen für die Landwirtschaft im Safiental sind im Vergleich zum Flachland deutlich ungünstiger. Topografische und edaphische20 Gegebenheiten, wie z.B. die vielen Tobel am Taleingang und die oftmals sehr steile Hangneigung lassen nur wenig Raum und Möglichkeiten für die Bewirtschaftung und Besiedelung. Die großen Temperaturunterschiede im jahreszeitli-
19 Sozialbrachen sind landwirtschaftliche Nutzflächen, die aus sozialen oder ökonomischen Gegebenheiten nicht mehr bewirtschaftet werden. Im Safiental handelt es sich insbesondere um ehemalige Wiesen und Weiden, die zu steil und unwegsam sind, als dass man sie leicht mit Maschinen bewirtschaften kann und die anfangen zu verbuschen und zu verwalden. Für viele Bauern und Bäuerinnen ist die Sozialbrache ein sehr emotionaler Prozess, denn er zeigt den massiven Rückgang der Berglandwirtschaft in den Alpen. Siehe dazu das sogenannte Bauernsterben im Abschnitt 2.6 „Sozial-ökologische Herausforderungen“. 20 Eigenschaften des Bodens: Edaphische Gegebenheiten beinhalten alle chemischen und physikalischen Eigenschaften des Bodens, die durch ihre Wirkung auf die Vegetation einen wichtigen Bestandteil ihrer Standortfaktoren bilden.
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chen Wechsel beeinflussen alle ökonomischen Tätigkeiten und führen zu einer relativ kurzen, sich mit zunehmender Höhe weiter verringernden Vegetationszeit. Im Vergleich zum Flachland müssen die Bauern und Bäuerinnen tendenziell größere Flächen bewirtschaften, um den Mangel an Biomasse auszugleichen, was wiederum aufgrund der steilen Hänge und dynamischen Naturprozesse eine Herausforderung darstellt und mehr Arbeitsaufwand bedeutet. Hinzu kommt, dass die Landschaft der Alpen generell einem fortwährenden Wandel unterworfen ist. Nicht nur aufgrund einer sich ständig verändernden anthropogenen Raumnutzung, sondern auch durch geophysikalische Ursachen. Häufig auftretende dynamische Naturprozesse, wie regelmäßige Murgänge, Steinschläge und Lawinen, sind ein Charakteristikum von Gebirgen und ein Grund für ihre sehr diverse Topografie. Einmalig in Bezug auf das Naturgefahrenpotenzial in Gebirgen ist, dass geophysikalische und hydrologische Prozesse, selbst wenn sie in der alpinen21 oder nivalen22 Höhenstufe ihren Ausgangspunkt haben, aufgrund der Schwerkraft extrem schnell in Tallagen vordringen können. Gesteinsmaterial, das in höheren Lagen durch Wind und Wasser abgetragen wird, lagert sich in tieferen Lagen wieder ab (Bätzing 2005: 31-32, 45). All dies sind naturräumliche Gegebenheiten, an die sich die Bewohnerschaft des Safientals in ihren Lebensweisen angepasst hat. Durch die über 700-jährige Mensch-Natur-Interaktion hat sich im Safiental eine kleinräumige Kulturlandschaft mit extrem hoher Biodiversität entwickelt, die aus einer Mosaikstruktur aus Wiesen, Weiden, Hecken, Wäldern, Auen etc. in verschiedenen Höhenstockwerken und vielen Nutzungsgrenzen23 besteht, und durch land- und forstwirtschaftliche Eingriffe in die Vegetationsentwicklung an sich ständig verändernde Umweltbedingungen angepasst wird (Stöcklin et al. 2007a: 2-10). Diese
21 Große Teile des Safientals liegen oberhalb der Baumgrenze in der alpinen Stufe. Es ist eine Hochgebirgsregion, die in den zentralen Alpen von bis ca. 3 000 m Höhe reicht. Die Vegetation in dieser Höhenstufe besteht aus Matten und Rasen und bildet die Futtergrundlage für das auf die Alp getriebene Vieh. 22 Die nivale Stufe ist die höchste Gebirgsstufe. Sie schließt sich im Safiental ab ca. 3 000 m an die alpine Höhenstufe an. Aufgrund der oft ganzjährigen Schnee- und Eisbedeckung wachsen dort keine Pflanzen mehr. Die höchsten Berge des Safientals (Alperschällihorn: 3 039 m, Bruschghorn: 3 056, Bärenhorn: 2 992) reichen knapp an die nivalen Stufe heran, wobei oberhalb von 2 600-2 700 m nur noch Flechten und Moose wachsen. 23 Nutzungsgrenzen weisen eine besonders hohe Biodiversität auf und sind die Übergänge von einem kulturlandschaftlichen Element zum anderen, beispielsweise der Übergang zwischen Wald und Wiesen.
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anthropogene Kulturlandschaft weist eine wesentlich höhere Biodiversität auf als dies eine reine „Natur“-Landschaft, die nicht vom Menschen genutzt wird, tun würde. Sehr viele Pflanzen- und Tierarten wurden durch den Menschen verbreitet: Schätzungsweise 40 % aller Pflanzenarten in den Alpen sind durch die Landwirtschaft in den Alpen dort angesiedelt und kultiviert worden (Hofer et al. 2014: 123-135; Bätzing 2015: 108-110 und 276-278).24 Daher haben Bergwiesen und -weiden eine wesentlich höhere Artenvielfalt als z.B. Wald, der ohne anthropogene Nutzung den Raum dominieren würde. Mensch-Umwelt-Interaktionen finden in der sensiblen Kulturlandschaft sehr direkt statt. Das bedeutet, Ökosysteme können durch eine, den naturräumlichen Gegebenheiten nicht angepasste Art des Wirtschaftens, schnell übernutzt und degradiert werden. Die Bauern und Bäuerinnen müssen ständig überprüfen und dazu lernen, welche Auswirkungen die zum Teil intensive Viehwirtschaft auf die natürliche Umwelt hat und möglichen Umweltzerstörungen durch reproduktive Pflegearbeiten25 der Kulturlandschaft vorbeugen. Hinzu kommt, dass sie, aufgrund der sehr großen Höhenunterschiede und dementsprechend sehr hohen Reliefenergie26 im Tal, fortlaufend mithilfe von Stabilisierungsarbeiten27 dafür sorgen müssen, die Magnitude und Frequenz dynamischer Naturprozesse, wie Steinschläge, Murgänge, Lawinen etc. zu reduzieren. Werner Bätzing hat diese Wirtschaftsweise als eine „an der Reproduktion orientierte Produktion“ bezeichnet. Sie entspricht also dem Grundgedanken von Nachhaltigkeit und basiert auf der Erkenntnis, dass ohne ein differenziertes Na-
24 Bei diesen Schätzungen orientiert sich Werner Bätzing (2015: 277) an einer Aussage der Professoren für Vegetationsgeografie, Michael Richter und Hans Jürgen Böhmer, sowie einer schriftlichen Stellungnahme von Thomas Wohlgemuth (WSL Birmensdorf), allerdings ist es sehr schwierig, eine genaue Zahl zu quantifizieren. 25 Pflegearbeiten sind notwendig, um trotz intensiver landwirtschaftlicher Nutzung eine artenreiche Kulturlandschaft zu erhalten. Dazu gehören beispielsweise Waldverjüngungen, Büsche und Steine auf Weidewiesen zu entfernen, Unkrautbekämpfung, Hofdünger auf Fettwiesen auszutragen. 26 Die Reliefenergie entsteht durch die Höhendifferenz zwischen zwei Orten in einem geografischen Raum und bildet den maßgeblichen Faktor seines Erosionspotentials und der Gravitationsprozessen, die in ihm stattfinden. Im Safiental ist die Reliefenergie sehr hoch. Der höchste Ort, das Bruschghorn, liegt auf 3 056 m und der tiefste, der Bahnhof Versam-Safien, auf nur 635 m. 27 Stabilisierende Maßnahmen dienen zur Prävention von dynamischen Naturprozessen, die durch die hohe Reliefenergie im Gebirge ausgelöst werden, z. B. die Schutzwaldpflege, das Mähen der Wiesen.
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turverständnis und das Bewusstsein, dass das eigene Handeln direkte Auswirkung auf die Umwelt hat, die Gebirgslandschaft dem Menschen schnell wieder bedrohlich werden könnte (Bätzing 2015: 110). Abb. 28: (links): An die Topografie angepasste, weit auseinanderliegende Stallscheunen; (rechts): Stallscheunen, die in solcher Form über die ganze westliche Hangseite verteilt liegen28
Quelle: Ó Reichel, 2012 „Man lebt mit der Natur, man hört auf die Natur, man achtet auf die Natur [dr Natur achtzig gää]. Du merkst einfach, es wird hier keine große Chemie benutzt und keiner findet es nötig. Das könnte man alles auch machen. Im Safiental versucht man, die Natur wirklich zu pflegen. Beispielsweise werden Blumenwiesen stehen gelassen bis sie sich aussamen können. Wenn in den Wäldern Bäume gefällt werden, lässt man bewusst einige am Boden liegen, damit Tiere Unterschlupf finden. Es wird aufgeforstet. Der Wildschutz ist gut. Man pflegt das hier, man weiß schon, was man hat. Die Menschen versuchen, eine Balance zu
28 Diese Bauweise hatte bis zum Bau großer zentraler Ställe vor wenigen Jahrzehnten den Vorteil, dass das Heu im Winter praktisch kaum transportiert werden musste, sondern das Vieh von Stall zu Stall getrieben wurde, eine enorme Arbeitserleichterung.
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finden, denn man muss Geld verdienen, ist sich aber auch über biologische Vernetzungen im Tal bewusst. Es ist eine Gratwanderung, auf der anderen Seite will man bewahren, auf der anderen Seite wollen die Betriebe auch wirtschaften. Man greift einerseits auf alte Techniken zurück und nimmt neue an. Wir wissen aber genau, wenn wir die Natur nicht mehr haben, wie sie jetzt ist, dann hat weder der Bauer noch der Touristiker hier eine Chance.“ (Tamara Bühler, Gastronomin, Safien Platz, Juni 2013)
Durch die fortlaufenden Mensch-Natur-Interaktionen sind im Safiental in den letzten sieben Jahrhunderten insbesondere folgende Landschaftsformen entstanden: Wiesen Der Erhalt von artenreichen Bergwiesen ist mit viel Aufwand verbunden und erfordert eine Reihe komplexer, aufeinander abgestimmte Aktivitäten. Um Wiesen zu kultivieren, die nicht zu feucht oder zu trocken sind, und weil die Kapazität des Bodens, Wasser zu speichern geringer ist als in anderen Ökosystemen, wie z.B. im Wald, ist ein ausgeklügeltes Wassermanagement mit Drainagegräben notwendig. Außerdem müssen die Bauern und Bäuerinnen genau zum richtigen Zeitpunkt der Vegetationsentwicklung der Gräser und Wildkräuter mähen. Einerseits ist es sinnvoll, die Pflanzen lange wachsen zu lassen, damit sich diese aussamen können und sich eine hohe Biodiversität entwickelt (was eine hohe Futterqualität bedeutet), andererseits sollen die Futterpflanzen auf den Wiesen nicht verholzen,29 weil zu spät gemäht wurde. Wie und wann gemäht wird, hat auch einen wesentlichen Einfluss auf die Lawinengefahr („Laubala Gfoor“). Ist das Gras beim ersten Schneefall zu hoch und wird durch die Schneelast umgeknickt, wirkt es wie eine Art Rutschbahn („Gleitschi“), auf der der gefallene Schnee leicht abgleiten kann. Auch, ob Fettoder Magerwiesen bevorzugt werden, ist von Hof zu Hof unterschiedlich. Fettwiesen sind nährstoffreich, werden selten bewässert und intensiv mit Gülle oder Mist gedüngt. Zwar kann auf ihnen ein hoher Futterertrag erwirtschaftet werden, aber aufgrund des Stickstoffgehalts in den Böden sind sie artenarm. Magerwiesen hingehen werden bewusst selten gemäht und kaum gedüngt. Zwar ist der Ertrag, der von einer Magerwiese erwirtschaftet werden kann, wesentlich geringer, aber ihre Biodiversität an Wildkräutern, Gräsern, Insekten, Vögeln und Kleintieren etc. ist wesentlich höher.
29 Die Stängel vieler Pflanzen werden vor dem Winter trockener und härter. Sie erhalten dadurch Stabilität und können besser überwintern. Allerdings nimmt die Futterqualität durch diesen Prozess rapide ab.
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Abb. 29: Eine Bergbauernfamilie bei der Heuernte. Ohne die Hilfe der gesamten Familie wäre der Arbeitsumfang nicht zu bewältigen
Quelle: © Reichel, 2012
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Auch wenn viele Bauern und Bäuerinnen sich über die bedeutende Rolle der Magerwiesen für den Erhalt der Biodiversität bewusst sind, wandeln sie mehr und mehr Magerwiesen in Fettwiesen um. Ihr Hauptargument ist, dass sie zu wenig Land besitzen und nur durch Fettwiesen genügend Heu als Winterfutter gewinnen können. Allerdings gibt es seit einigen Jahren auch zahlreiche Stimmen, die dieser Vorgehensweise widersprechen und ganz bewusst zumindest einige Magerwiesen kultivieren. Dies tun sie nicht nur zum Erhalt der Biodiversität, sondern auch aus landwirtschaftlich begründeten Anreizen. So enthält das Winterfutter, das von Wiesen mit einer höheren Biodiversität gewonnen wird, eine sehr hohe Anzahl an unterschiedlichen Nähstoffen, was die Futterqualität enorm erhöht. Die hohe Biodiversität auf einer Wiese wirkt sich zudem positiv auf andere lokale Ökosysteme aus (beispielsweise, weil dort mehr Vögel leben können, die wiederum dem Befall von Schädlingen entgegenwirken). Des Weiteren wachsen auf Magerwiesen Wildkräuter, die man vielfältig einsetzen kann, zum Beispiel für medizinische Zwecke, und nicht zuletzt ist die mit hoher Biodiversität ausgestattete Landschaft unter ästhetischen Aspekten attraktiver für den Tourismus. Wald Auch der forstwirtschaftlich genutzte und gepflegte Wald ist ein Kulturprodukt und wichtig zum Schutz vor Naturgefahren. Insbesondere Waldränder, die den Übergang zu Wiesen und Weiden darstellen, sind der Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen. Das bedeutet, Wald ist grundsätzlich wichtig für eine hohe Biodiversität – vorausgesetzt er nimmt nicht überhand und verdrängt großflächig andere Ökosysteme und weist außerdem eine gesunde Altersstruktur und Durchmischung unterschiedlicher Baumarten auf. So ist eine der Grundvoraussetzungen für die hohe Biodiversität im Tal, dass mit der Besiedelung großflächig Wald abgeholzt wurde, um Platz für Wiesen und Weiden zu schaffen. Nur so konnte die kleinräumige mosaikartige Kulturlandschaft entstehen, die viele unterschiedliche Nutzungsgrenzen aufweist. Diese Vielfalt der Landschaft geht jedoch seit einigen Jahrzehnten immer weiter zurück. Momentan sind 30 % oder 4 500 ha des Safientals bewaldet (Gemeinde Safiental 2019b), und die Waldfläche hat in den letzten Jahrzehnten immer weiter zugenommen.30 Um diesem Prozess der fortschreitenden Verwaldung ökologisch verträglich entgegenzuwirken, wird selten großflächig gerodet. Vielmehr werden nur einzelne Bäume ge-
30 Ich werde die soziokulturellen und ökologischen Auswirkungen der Verwaldung intensiv in Kapitel 2.6.3 im Abschnitt „Wiederbewaldung – empfundener Verlust der Kulturlandschaft“ besprechen.
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fällt und abtransportiert, um die Holzentnahme möglichst sensibel zu gestalten. Dabei steht nicht die Gewinnung des Rohstoffes „Holz“ im Vordergrund, sondern das „Offenhalten der Landschaft“ sowie eine Waldpflege, die zum Ziel hat, die wichtigsten Funktionen des Waldes zu erhalten: a) Schutz vor Lawinen und Murgängen, b) Stabilisierung des Bodens, c) Wasserspeicherung und d) lokaler Ausgleich von Temperaturschwankungen. Abb. 30: Bäume werden im Sägewerk von Tenna für den Bau eines Schulhauses zu Brettern gesägt
Quelle: Ó Reichel, 2012
Diese Funktionen können am besten durch einen Wald mit vielen Baumarten und einer gemischten Altersstruktur und verschiedenen Stockwerken gewährleistet werden. So ist garantiert, dass fortwährend junge, starke Bäume vorhanden sind, die externen Schockereignissen, wie beispielsweise dem Schneedruck einer Lawine, standhalten können. Außerdem haben unterschiedliche Baumarten unterschiedliche Wurzelsysteme und können so den Untergrund effektiver schützen als in einem Wald mit nur einer einzigen Baumart. Laut Auskunft des Safientaler Försters Daniel Buchli wäre das Safiental ohne eine fortlaufende Schutzwaldpflege („Bannwoold pflega“) nicht besiedelbar. „Im Wald braucht es eine gute Altersstruktur. Sind die Bäume zu jung und es kommt die Lawine, knicken die Bäume einfach weg. Durch den Schneedruck wird ihr Wurzelwerk
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herausgerissen. Das reißt tiefe Krater in die Hänge. Was wiederum eine ideale Angriffsfläche für andere Erosionen bietet. Ruckzuck ist dann die Humusschicht [Herd] von einem Berghang [Wang] abgetragen. Das kommt aber auch natürlich auf den Schnee an. In den letzten Jahren war der Schnee immer nasser, weil die Winter viel milder waren als sonst. Letzten Winter war sogar der Boden nicht gefroren, und das gesamte Schneeprofil ist abgerutscht und hat dann alles mitgenommen. Eine riesige Zerstörung. Umso wichtiger ist es, jetzt im Klimawandel einen gesunden Wald zu haben, der das Tal schützt.“ (Fridolin Blummer, Bauer und Beobachter für das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Glaspass/Heinzenberg, Juni 2012)
Weiden Um sicherzustellen, dass eine dichte, artenreiche Pflanzendecke erhalten bleibt, die sich nach dem Beweiden mit schweren Milchkühen schnell regenerieren kann, müssen die Bauern und Bäuerinnen den Viehbesatz31 auf ihren Weiden genau kalkulieren. Eine zu intensive Bewirtschaftung hat zur Folge, dass Trittschäden die Grasnarbe schädigen und Plaiken32 auftreten. Die Humusschicht im Boden ist nicht mehr gegen Erosionen geschützt und die Hangstabilität nimmt ab. Eine zu geringe Beweidung hätte die Folge, dass die Kühe nicht mehr auf der gesamten Wiese fressen, sondern in Bezug auf ihr Futter wählerisch werden. Sind die Pflanzen haarig, stachlig oder bitter, werden sie gemieden. Langfristig nimmt dadurch die Biodiversität ab und minderwertigere Futterpflanzen können sich schnell ausbreiten. Die große Mehrheit der Bauern und Bäuerinnen ist davon überzeugt, dass es wichtig ist, dieses Gleichgewicht einzuhalten und nur so viel Vieh zu halten, wie auch wirklich durch das eigene Land versorgt werden kann, ohne große Mengen an Futter dazuzukaufen. „In der Berglandwirtschaft kann man eigentlich gar nicht intensiv wirtschaften, das extrem Intensive ist gar nicht möglich. Der Sommer ist so kurz. Acker haben wir auch nicht. Unsere Vorfahren haben die Tiere [Hab] so gezüchtet, mit dem Ziel, immer ein bisschen mehr aus ihnen herauszuholen. Ich bin der Meinung, dass es da schon Grenzen gibt, wenn Futter dazu gekauft werden muss. Meine Meinung ist, dass das Hauptfutter, was für die Tiere gebraucht wird, auch selbst produziert werden muss. Außerdem gibt es genug Dünger auf den eigenen Höfen, und man muss sicherlich nicht Kunstdünger dazukaufen, der dann zusätzlich in den Kreislauf kommt, denn falls zu viel reinkommt, dann stimmt’s
31 Die Anzahl der Nutztiere im Vergleich zu ihrer Futterfläche. 32 Plaiken treten auf, wenn ein Stück Wiese mitsamt ihrem Wurzelwerg wegrutscht. Die freigelegte Erde bietet eine Angriffsfläche für Erosionen und wird schnell größer.
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nicht mehr. Es braucht einfach ein ausgeglichenes Verhältnis von Tieren, die das Land versorgen kann, und die uns dann versorgen, nicht zu viel und nicht zu wenig.“ (Christian Joos, Bauer, Tenna/Safiental, August 2012)
2.3.2 Alpwirtschaft Die Alpwirtschaft prägt die Kulturlandschaft im Safiental mehr als alle anderen Wirtschaftsformen. Im Kontext der Mensch-Natur-Interaktion bedeutet die Alpwirtschaft, dass die Viehhaltung durch ein Staffelsystem der Wanderweidewirtschaft im Rhythmus der Jahreszeiten geprägt ist. Nicht nur für die Safientaler Bauern und Bäuerinnen, sondern für die gesamte Schweizer Landwirtschaft ist diese Wirtschaftsform nach wie vor von großer Bedeutung. Abb. 31: Schematische Darstellung der Alpwirtschaft mit Ackerbau, wie sie in ähnlicher Form auch im Safiental praktiziert wird, allerdings entfällt hier zum Teil die Höhenstufe des Maiensäßes, weil sich viele der Safientaler Höfe bereits in höheren Hanglagen befinden
Quelle: © Bätzing 2015: 63
Ein Drittel aller landwirtschaftlichen Flächen der Schweiz oder 12,4 % der Landesflache (ca. 5 139 km2; (BFS 2019c) sind Sömmerungsweiden33 und Alpen.
33 Sommerweide auf einer Alp.
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Jedes Jahr werden 100 000 Milchkühe, 35 000 Mutterkühe, 180 000 Rinder, 90 000 Kälber, 210 000 Schafe sowie Pferde, Ziegen, Lamas und Yaks „gealpt“ (Herzog et al. 2014: 19-20). Das bedeutet, um große Temperaturschwankungen auszugleichen und eine breite Futterbasis zu garantieren, wird das Vieh im jahreszeitlichen Wechsel auf verschiedene Höhenlagen (im Safiental das Talgut, Maiensäß, und Alp) mit entsprechendem Mikroklima getrieben oder gefahren. Den Winter verbringt das Vieh im Stall, meistens in der Nähe des Bauernhauses und wird mit Heu und teilweise auch mit zugekauftem Kraftfutter gefüttert. Im Frühjahr wird es dann zunächst auf die den Hof umgebenden Heimweiden und Waldweiden und schließlich im Juni zur Sömmerung getrieben34 (im Safiental auf eine von 18 Alpen). Auf den Alpen wird das Vieh durch Hirten und/oder einen Senner versorgt. Während der Sömmerung haben die Bauern und Bäuerinnen ein Zeitfenster für die arbeitsintensive Heuernte, das sie dringend brauchen. Zwar können beim Heuen der Wiesen im Safiental, wenn das Gelände einen gewissen Steilheitsgrad nicht überschreitet, auch spezielle berggängige Maschinen, wie z.B. Balkenmäher eingesetzt werden, aber der körperliche Arbeitsaufwand ist weiterhin enorm und ohne Familienangehörige, die zum Teil aus der ganzen Schweiz anreisen, nicht zu bewältigen – insbesondere, weil viele Arbeiten, wie das Abrechen des gemähten Heus, noch per Hand durchgeführt werden müssen. Mit fallenden Temperaturen, meistens Mitte September, beginnt der Almabtrieb und der gleiche Prozess findet umgekehrt statt. Im Regelfall wird das Vieh dabei über längere Strecken (zum Beispiel von einem Tal ins Nachbartal) mit einem Anhänger transportiert. Allerdings berichten viele Bauern und Bäuerinnen, dass sich das Zeitfenster, in denen die Tiere ,gealpt‘ werden, seit einigen Jahren kontinuierlich verschiebt und sich schlechter vorhersagen lässt, was sie dem Klimawandel zuschreiben. Ihrer Meinung nach treten sommerliche Temperaturen früher auf als bisher, die Sommer seien heißer und die Großwetterlagen extremer. Dies wird einerseits als positiv gesehen, weil aufgrund der wärmeren Temperaturen [Waare], das Vieh länger gealpt werden kann, andererseits erzeugt diese Erkenntnis aber auch Besorgnis, da befürchtet wird, dass es aufgrund anhaltender Trockenzeiten zu einem Wassermangel auf den Alpen kommen könnte. Außerdem wird befürchtet, dass Stürme und Unwetter zunehmen könnten, was für die Alpwirtschaft fatal wäre, da sich das Vieh oberhalb der Baumgrenze befindet und daher weitgehend ungeschützt ist.
34 D.h. auf eine Sommerweide getrieben.
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Abb. 32:Viehauftrieb auf einer Weide
Quelle: Ó Reichel, 2012
Einer Genossenschaft beizutreten hat für Bauern und Bäuerinnen den Vorteil, sich laufende Kosten, wie z.B. den Lohn der Hirten und Senner, teilen zu können und den Arbeitsaufwand, wie z.B. Alphütten und Wege instand zu halten, gemeinschaftlich zu bewältigen. Wie viel sie in die Gemeinschaftskasse zahlen müssen, folgt der einfachen Regel, mit wie viel Vieh sie die Alp bestoßen35. Zusätzlich kommt etwas Geld in die Gemeinschaftskasse, weil auch einige Bauern und Bäuerinnen aus Nachbartälern ihr Vieh zum Sömmern auf die Safientaler Alpen bringen und dafür eine Pacht an die Genossenschaft zahlen müssen (Göttner 2008: 24-46).
35 Bezeichnet den Viehbesatz auf einer landwirtschaftlichen Nutzfläche. Um nachhaltig wirtschaften zu können, muss das Verhältnis zwischen Nutztieren und Nutzfläche ausgeglichen sein. Eine zu hohe Besatzdichte kann eine Eutrophierung des Bodens und eine Überweidung zur Folge haben. Ist die Besatzdichtung zu niedrig, steigt das Risiko, dass Weiden brachfallen.
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Gründe für das Festhalten an traditionellen Praktiken in der Alpwirtschaft In den Interviews im Tal wurden von den Bauern und Bäuerinnen folgende Gründe genannt, warum sie an der Alpwirtschaft festhalten: • •
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Die landwirtschaftliche Nutzfläche und damit auch die Futterbasis kann auf diese Weise vergrößert werden. Während das Vieh den Sommer über auf der Alp verbringt und von einem Hirten betreut wird, können sich die Bauern und Bäuerinnen um das Heuen und die Vorbereitung des Winterfutters kümmern. Die Futterpflanzen in großer Höhe enthalten aufgrund der intensiven Sonneneinstrahlung und kurzen Vegetationszeit mehr Proteine und einen höheren Fettgehalt, was sich positiv auf die Qualität von Milch und Fleisch auswirkt. Vieh, das gealpt wurde, ist gesünder und resistenter gegen Krankheiten, weswegen man beim Verkauf einen besseren Marktpreis erzielen kann. Weiden, die beweidet werden, verbuschen und verwalden nicht. Die kleinräumige, landwirtschaftliche Kulturlandschaft bleibt erhalten, die aus ästhetischen Gründen für den Tourismus wertvoll ist und eine hohe Biodiversität besitzt. Auf Hängen, die ausgewogen beweidet werden, treten weniger Rutschungen auf, weil Kühe dazu neigen, parallel zum Hang zu weiden und Trittgänge36 auszutrampeln, was den Boden stabilisiert und Erosionen vorbeugt. Man kann flexibel entscheiden, auf welchen Höhenstufen – mit einem jeweils anderen Mikroklima – das Vieh weiden sollte. Das vermindert Risiken durch Temperaturveränderungen und Wetterumstürze, die entstehen könnten. Die Alpwirtschaft ist Teil der lokalen Identität. Sie prägt die Kulturlandschaft und strukturiert den zeitlichen Arbeitsablauf im jahreszeitlichen Wechsel.
2.3.3 Wetterwissen Die Bauern und Bäuerinnen nutzen eine Vielzahl unterschiedlicher Informationsquellen, um die Wetterentwicklung einschätzen und ihre landwirtschaftlichen Praktiken anpassen zu können. Dazu gehört die Wettervorhersage des Schweizer
36 Trittgänge sind Trampelpfade von Kühen, parallel zum Hang.
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Wetterdienstes37, die in Fernsehen und Radio übertragen wird und über das Internet38 abrufbar ist. Darüber hinaus verfügt fast jeder Hof über eine kleine Wetterstation auf dem Hof, mindestens mit Barometer und Thermometer, oftmals auch mit einem Niederschlags- und Windmesser, sodass die Vorausschau noch präziser wird. Unabhängig von diesen technischen Möglichkeiten vertrauen vor allem ältere Personen auf ihr erfahrungsbasiertes Wetterwissen und interpretieren Wetterzeichen in Bezug auf kurz- oder langfristige Entwicklungen. Ihr überliefertes lokales Wetterwissen hilft ihnen, die Informationen des Wetterdienstes weiter zu spezifizieren, Informationen abzugleichen und zu verifizieren und so leichter Entscheidungen über alltägliche Handlungen, die vom Wetter oder Lawinen abhängen, fällen zu können. Dazu gehört beispielsweise, ob das Vieh in den Stall getrieben werden muss, um es vor einem Wetterumbruch zu schützen, oder ob bestimmte Gebiete wegen eines Lawinenrisikos evakuiert werden müssen. Zwar sind die Vorhersagen des Schweizer Wetterdienstes über große Räume relativ genau und können gut langfristige Trends vorhersagen, aber Variationen der Temperaturentwicklung, des Niederschlags im kleinen Maßstab für kleine Täler, wie das Safiental, werden nicht erfasst. Je nachdem, welche Information man benötigt, ob es sich um die Entwicklung einer Großwetterlage handelt oder wie sich Wetterphänomene im Tal verhalten, wird der einen oder anderen Wissensquelle vertraut. Dies bestätigt die Aussage von Fridolin Blummer, der seit 20 Jahren jeden Tag die Messdaten seiner kleinen Wetterstation an das WSL-Institut für Schneeund Lawinenforschung weitergibt. Seine Wetterkenntnisse sind so präzise, das über ihn öfters in verschiedenen Nachrichtenmedien berichtet wird. „Ich habe das Wissen über das Wetter von meinen Eltern mitgenommen. Früher hatte man kein Meteo, kein Barometer, keinen guten Wetterbericht. Da hat man die Natur differenzierter beobachtet. Nur ein Beispiel, wenn die Wolken nach hinten gehen, ist es immer gut. Ein Zeichen, dass das Wetter extrem schlecht wird, ist, dass die Wolken von Westen herkommen. Wenn sie aber aus Nordosten kommen, gibt es sehr wenig Wetterveränderungen. Wenn es zu schnell aufklart und die Nebel unten im Tal sitzen, dann weiß man, es
37 Dieser Wetterdienst hat in der Schweiz eine lange Tradition und existiert seit 1864. Schon damals existierten 88 Bodenmessstationen. Heutzutage sind Messdaten, auch aufgrund von Satellitenbildern, nicht nur präziser, sondern es existieren auch lange Messreihen. 38 Viele Bauern und Bäuerinnen nutzen seit einigen Jahren eine Wetter-Radar-App, um die Entwicklung von Wolkenformationen mit ihrem Smartphone vorherzusagen.
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wird nicht gut. [...] Meistens wird das lokale Wissen durch den Wetterbericht nicht nur bestätigt, sondern man kann genauer die Situation für das Tal vorhersagen. Allerdings nur für das Tal, nicht für die Region. Die Kombination von beidem ist einfach am besten.“ (Fridolin Blummer, Bauer und Beobachter für das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Glaspass/Heinzenberg, Juni 2012)
Wie genau dieses Wissen Umweltphänomene spezifiziert, wird durch die Vielzahl von Begriffen für scheinbar ein und dasselbe Phänomen deutlich. So wird nur selten das Wort „Schnee“ benutzt, sondern ein präziserer Begriff, wie „Firn“, „Harsch“, „Bruchharsch“, „Pulver“, „Sulz“ etc. Besonders ältere Menschen kennen noch viele Wetteranzeichen, die sie aus der Beobachtung von Wolkenformationen, Sonne, Sicht auf die Sterne, Nebel, Winde, Schneeeigenschaften, auch Tierverhalten etc. ableiten. Natürlich zum Zweck der Vorhersage, beispielsweise einer stabilen Hochdrucklage mit schönem Wetter zum Heumachen. Bauernregeln und Wetterzeichen, die auf Hoch- bzw. Tiefdruckgebiete hindeuten Es gibt Tiefdruckgebiete mit Regen („Waxwetter“), wenn • • • • • • •
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bei Regenwetter am Abend noch kurz die Sonne scheint, dann sagt man, sie scheint für morgen, das heißt, sie scheint morgen gar nicht, Morgenrot ist, dann kommt es wahrscheinlich zu einem Wetterumbruch, morgens ein Regenbogen an der Westseite im Täli bei Tenna ist, ein Regenbogen sehr tief unten im Tal sichtbar ist, man das Gefühl hat, dass die Sonne „Wasser zieht“ und die Sonnenstrahlen fast blau werden, unten im Tal kleine Nebel sind, die dann verschwinden, wenn die Sonne herauskommt, dann regnet es am Abend, der Sternenhimmel zwar schön ist, aber morgens Nebel aufkommt, dann wird es bis zum Abend regnen (außer wenn im Laufe des Tages Föhn oder starker Westwind („dr ältest Soofier“) ins Tal hereinkommt und die Wolken wegbläst), man den Gegenhang anschaut und er einem unglaublich nah vorkommt.
Es gibt Sonnenschein und steigende Temperaturen („Heuwetter“), wenn •
ein Regenbogen am Nachmittag oder Abend an der östlichen Talseite sehr hoch aufsteigt,
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| Mensch – Umwelt – Klimawandel der „Unterlupf“ kommt, das ist ein angenehmer Ostwind, der bei Sonnenaufgang sanft den Berg hinaufweht, dann bleibt es meistens mehrere Tage lang stabil und schön, im Winter der Schnee schwer von den Bäumen fällt, sich Abendrot zeigt, dann wird der nächste Tag schön, es am Talende regnet und am Talanfang schneit, Schneefinken oder Alpendohlen abends gegen 17 Uhr Richtung Talende fliegen, dort übernachten und morgens um ca. halb zehn zurückkommen und im Tal bleiben.
Abb. 33: (links): Alpendohlen am Talende, ein gutes Wetterzeichen; (rechts): Ein Regenbogen an der östlichen Talseite gegenüber von Tenna, ein gutes Wetterzeichen, das auf Heuwetter hindeutet
Quelle: Ó Reichel, 2012
Es wird schneien oder hageln, wenn • • • • •
bei anhaltendem Regenwetter der Wind von Norden („Bisi“) kommt, dann kühlt es ab und es gibt Schnee, die Kühe mehrmals kräftig husten, der Schnee auf den Bäumen klebt, dann wartet er auf neuen, dann gibt es wieder Schnee, es bei einem Gewitter plötzlich sehr hell wird, fast gelb, dann gibt es Hagel, die Steinböcke und Gämsen sich 300 m tiefer aufhalten als gewöhnlich.
In den Interviews wurde beschrieben, dass viele dieser Wetteranzeichen mit ganz unterschiedlichen Sinnen wahrgenommen werden. Außerdem wurde immer wieder betont, dass einige dieser Anzeichen darauf hindeuten können, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Naturgefahr erhöht. Dieses „Erfahrungsgefühl“ kann mitunter starke Emotionen oder sogar Furcht auslösen.
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„Wenn man bei den Lawinen Entscheidungen machen muss, dann kommt es auch noch auf das Erfahrungsgefühl an. Das Erfahrungsgefühl ist ein Gefühl, das man bekommt, wenn die Spannung da ist. Es ist eine Spannung in der Luft, es herrscht absolute Stille, es schnürt einem die Kehle zu und die Luft vibriert förmlich. Wenn man dieses Gefühl bekommt, dann weiß man, jetzt könnte die Lawine kommen. Und wenn dann die Lawine kommt [Jez chund d Lawina acha], dann kommt es zu einer Entladung, dann ist die Spannung weg und alles ist wieder in Ordnung. Dieses Gefühl ist stärker, wenn man Verantwortung übernehmen muss, wenn man entscheiden muss, Straßen sperren oder evakuieren und so, dann ist dieses Gefühl viel stärker. Dazu habe ich ein persönliches Erlebnis aus dem Jahr 1999. Da war die Lawinengefahr sehr hoch, und ich bin am Morgen aufgestanden, ging ans Küchenfenster und schaute hinaus, und da bekam ich das Gefühl, jetzt, jetzt kommt die Lawine. Es war so still, es vibrierte die Luft. Ich hatte fast eine zugeschnürte Kehle, ich hatte fast Angst, da bin ich auf den Balkon gegangen, und eine Zeitlang später kam ein Dach über die Wiese hinuntergeflogen, es war wie ein Schmetterling, es schwankte und fiel auf den Boden, und da wusste ich, jetzt ist die Lawine gekommen, jetzt ist es vorbei [d Laui isch cho, äs isch verbi].“ (Christian Messmer, eh. Schreiner, Tenna/Safiental, August 2012)
Unabhängig von den oben beschriebenen Wetteranzeichen richten sich insbesondere ältere Menschen nach sogenannten Bauernregeln („Puuraregla“), die meist in gereimter Form überliefert werden, sodass sie sich leicht ins Gedächtnis einprägen und über Generationen hinweg bewahrt werden können. Sie beschreiben kurz- und langfristige Wetterprognosen und sind in Graubünden so beliebt, dass sie seit 175 Jahren im Bündner Bauern-Kalender abgedruckt werden. Dort findet man auch Mondphasen, besondere Wetterphänomene Graubündens, Termine der Viehmärkte etc. Abb. 34: (links und rechts): Interview und Filmaufnahmen zu lokalen Bauernregeln. Erklärung, wie Bauernregeln beim Gemüsepflanzen helfen
Quelle: Ó Reichel, Tenna/Safiental, Juli 2012
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Eine Safientaler Bäuerin gibt diese zwei Beispiele: „Es gibt viele Sprichwörter für Bauernregeln hier, wie z.B. ‚hat der Calanda einen Hut, wird das Wetter wieder gut‘. Das hängt zum Beispiel mit dem Luftdruck zusammen. Eine andere Regel wäre, ‚haben die Berge einen Degen, dann gibt es Regen, und wenn einen Hut, wird das Wetter gut‘.“ (Ursulina Joos, Bäuerin, Tenna/Safiental August 2012)
Wetter als Teil der Kommunikationskultur Wie auch in vielen anderen Gesellschaften und Kulturen ist das Wetter im Safiental bei vielen Menschen ein Aufhänger für Gespräche, oft Teil einer Begrüßung, woraus sich aber auch ernstere Themen entwickeln können, natürlich auch über Umwelthemen oder Ereignisse, wie die Lawine von Neukirch im Lawinenwinter von 1951. Das Wetter bestimmt mit, welche Arbeiten verrichtet werden können, ob man zu Fuß, mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. gar nicht von A nach B kommt, und wie das Vieh versorgt werden muss. Insbesondere, wenn wichtige Entscheidungen anstehen, die vom Wetter abhängig sind, wie z.B. die Heuernte, wird intensiv diskutiert. Kurzum, das Thema „Wetter“ bringt die Menschen in den Dorfgemeinschaften zusammen (BurgerScheidlin 2014: 116). Dies scheint weltweit verbreitet zu sein, wie ich bei Bauern und Bäuerinnen in West-Papua, Nomaden in der Mongolei, Fischern in Sulawesi oder Ranchern in Colorado feststellte; überall dort, wo der Alltag der Menschen eben direkt vom Wetter abhängig ist. 2.3.4 Vier Gründe, warum auf Erfahrung basiertes Umweltwissen weiter angewandt wird Die Gründe, warum das Erfahrungswissen bei den Safientaler Bauern und Bäuerinnen weiterhin große Aktualität besitzt und angewendet wird, sind vielfältig und individuell unterschiedlich gelagert. Aufgrund der Tatsache, dass lokale Ressourcennutzungsstrategien und Praktiken zur Naturgefahrenprävention in Bezug zu einem bestimmten Ökosystem und der Abhängigkeit zu dauerhaften Erträgen oftmals über einen sehr langen Zeitraum angepasst wurden, konnte ein reicher Wissensschatz über die natürlichen Gegebenheiten, wie Wetterverhältnisse, Lebensweise der vorkommenden Arten etc., angeeignet werden. 1) Wissen von der Ursache-Wirkung-Beziehung menschlicher Eingriffe in die Kulturlandschaft Eingriffe in die Kulturlandschaft machen sich immer durch eine Ursache-Wirkung Kausalkette bemerkbar. Um negative Umweltveränderungen zu verhin-
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dern, richten sich die Bauern und Bäuerinnen nach formellen und informellen landwirtschaftlichen Regeln, die auf eine „ökologische Stabilisierung“ abzielen (Bätzing 2015: 121). Durch stabilisierende Maßnahmen und Pflegearbeiten in der Kulturlandschaft können potentielle Risiken, die durch Ökosystemveränderungen und Naturgefahren auftreten, minimiert werden, außerdem wird die Widerstandsfähigkeit und dynamische Anpassungsfähigkeit von Ökosystemen gegenüber externen Störungen und Schockereignissen gestärkt. Das lokale Wissen hierüber bildet die Grundlage für Nutzungsrechte, die an kulturelle und soziale Normen gebunden sind und die den Umgang mit den natürlichen Ressourcen oftmals auf eine nachhaltige Art reglementieren. Ein simples Beispiel ist, dass, weil es nur wenige Lawinenverbauungen im Tal gibt, die Gefahr eines verheerenden Lawinenabgangs drastisch ansteigt, wenn Wälder an der falschen Stelle abgeholzt werden. Um dies zu verhindern, halten sich viele an die informelle Regel, keine Rodungen in bestimmten Gebieten durchzuführen, außerdem ist in der Schweiz für viele Wälder im Berggebiet durch ein föderales Waldgesetz39 von 1876 mithilfe von verankerten Gefahrenzonenplänen und Schutzwaldbestimmungen präzise festgelegt, wo keine Bäume geschlagen werden dürfen, um einen intakten Schutzwald zu garantieren. „Die Schutzwaldpflege ist wichtig, um laufend den Wald zu verjüngen. Wir legen Wert darauf, dass unsere Wälder nicht überaltern und einen gesunden Aufbau haben. Damit die Nachhaltigkeit gewährleistet ist und der Wald gut bestockt ist. Bei einem überalterten Wald entstehen Lücken, durch die Lawinen durchbrechen können. Wenn der Wald keinen gesunden Aufbau hat, nicht stark genug ist, man aber einen Schutzwald schaffen will, braucht man zunächst temporäre Verbauungen aus Holz, innerhalb vom Waldgürtel. Diese temporären Verbauungen verrotten zwar mit der Zeit, aber gleichzeitig wachsen ja die jungen Bäume hoch und werden dann nach einigen Jahren stark genug, um dem Schneedruck von Lawinen standzuhalten.“ (Daniel Buchli, Förster, Neukirch/Safiental, August 2012)
2) Risikobewusstsein durch individuellen Anpassungsdruck Den Bauern und Bäuerinnen ermöglicht ein differenziertes lokales Wissen über Naturgefahren, Risiken besser einzuschätzen. Es verschafft ihnen mehr Hand-
39 Das damalige sogenannte „Forstpolizeigesetz von 1876“ zur gesetzlichen Festlegung von Schutzwäldern wurde erlassen, weil in der gesamten Schweiz so großflächig Wald gerodet wurde, dass in vielen Tälern kein ausreichender Schutz mehr vor Lawinen und Murgängen gegeben war und es zu einer Reihe von katastrophalen Ereignissen kam (vgl. Schmidhauser und Schmithüsen 2002: 1-3).
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lungsoptionen, um auf Umweltveränderungen, wie den Klimawandel, reagieren zu können. Sehr genaue Kenntnisse über Naturgefahren hat fast die gesamte Safientaler Bewohnerschaft, denn im Gegensatz zu reichen, touristischen Gebirgstälern, wie im Oberengadin, wo aufgrund eines externalisierten, professionellen Naturgefahrenmanagements sich die Einwohner nicht mit der Bedrohung durch Naturgefahren auseinandersetzen müssen, werden Maßnahmen zum Schutz vor und im Umgang mit Naturgefahren im Safiental größtenteils von der Bevölkerung selbst durchgeführt. Beispielsweise besteht die Bergrettungsgruppe ausschließlich aus einheimischen, ehrenamtlich arbeitenden Personen. Es müssen sich also „Laien“ aus der Dorfgemeinschaft tagtäglich mit Naturgefahren auseinandersetzen. Hinzu kommt, dass der individuelle Anpassungsdruck gegenüber potentiellen Naturgefahren sehr hoch ist und als Ausgleich für landwirtschaftliche Arbeiten ständig stabilisierende Maßnahmen durchgeführt werden müssen. „Wir können im Safiental in Bezug auf Naturgefahren schalten und walten. In vielen anderen Regionen, wie im Oberengadin, ist eine solche Laienausbildung unmöglich. Deshalb können wir selber auf Naturgefahren reagieren und uns anpassen. Man kann Eigeninitiative ergreifen. Das geht über die Freiwillige Feuerwehr bis zur Bergrettungsgruppe. Wenn es klar ist, es braucht alle, dann hilft man sich gegenseitig. Man ist sich selbst nicht zu schade. Wir haben einfach nicht die Ressourcen zu Verfügung, wie im Oberengadin, teure Baufirmen zu beauftragen.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Abb. 35: Lawinenbergungsübung des Schweizer Alpenvereins
Quelle: Ó Reichel, 2012
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3) Die Vorstellung, die als Heimat angesehene Kulturlandschaft erhalten zu müssen „Es ist die Landschaft, die die Leute prägt, und die Leute prägen die Landschaft. Wir Bauern sehen uns als Hüter der Landschaft.“ (Erwin Bandli, Bauer, Safien Platz/Safiental, Juni 2012)
Die Vorstellung von Heimat bezieht sich nicht nur auf das eigene Land und den eigenen Hof, sondern auf die gesamte Kulturlandschaft im Tal, inklusive symbolisch aufgeladener Orte in der Natur, z.B. der eigene Hausberg. Heimat ist ein identitätsstiftendes Konstrukt, um das „Wir im Tal“ gegen andere soziale Gruppen, wie z.B. „Die aus der Stadt“ abzugrenzen. „Natur“ wird für alle Interviewten erst zur Heimat, wenn sie durch den Menschen gezähmt und kultiviert wird. Dementsprechend emotional aufgeladen ist der Prozess, wenn Wiesen und Weiden aufgegeben werden, sich Wald ausbreitet und somit ein „Stück Heimat“ verloren geht. Viele Bauern und Bäuerinnen sind davon überzeugt, dass Interessen der Profitmaximierung immer zurückstellt werden sollten, falls die als Heimat angesehene Kulturlandschaft gefährdet ist. In diesem Zusammenhang wird es auch als Selbstverständlichkeit angesehen, dass Kinder, die einen Hof erben, diesen unter den gleichen Vorsätzen zum Erhalt der Kulturlandschaft weiterführen, wie ihre Eltern das getan haben. 4) Ökonomisches Interesse, unterschiedlichste natürliche Ressourcen im Tal langfristig nutzen zu können „Wir wissen schon, wir haben eigenes Land, und das bewirtschaften wir. Wir wollen das gut machen, denn, wenn wir Raubbau betreiben auf unseren Böden, dann machen wir uns unsere eigene Lebensgrundlage kaputt, das wollen wir nicht. Da brauchen wir keine Vorschriften von Bern, denke ich.“ (Christian Joos, Bauer, Tenna/Safiental, August 2012)
Trotz eines guten Zugangs zu nationalen Absatzmärkten40 sind die Bauern und Bäuerinnen nicht besonders mobil und in ihrer Wirtschaftsweise davon abhängig, natürliche Ressourcen in einem geografisch sehr begrenzten Raum langfristig zu nutzen. Außerdem sind die meisten Bauernhöfe sowohl flächenmäßig als auch in Bezug auf die Anzahl von Nutztieren relativ klein, sodass der Zukauf von Winterfutter eine sehr große Investition bedeuten würde. Dementsprechend
40 Insbesondere die Supermarktketten Coop und Migros sind wichtige Abnehmer von Erzeugnissen der Berglandwirtschaft.
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ist ihre Wirtschaftsweise auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Im Unterschied zu einer destruktiven Ressourcennutzung, die nur das Ziel verfolgt, einen größtmöglichen Ertrag mit möglichst wenig Aufwand zu erwirtschaften – selbst wenn es dabei zu einem totalen Rückgang einer bestimmten Ressource kommen sollte – orientieren sich Ressourcennutzungsstrategien von Personen, die in der Berglandwirtschaft tätig sind, oftmals an den Veränderungen der Ressource selbst. Je nach Umweltveränderung wird eine intensivere Nutzung oder weniger intensivere Nutzung der Ressource bevorzugt. Anstelle sich nur auf die Nutzung weniger Ressourcen konzentrieren, werden unterschiedliche genutzt. So können Schwankungen der Quantität und Qualität der genutzten Ressource besser ausgeglichen werden und es entstehen mehr Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu sichern. Gleichzeitig sind viele Bauern und Bäuerinnen sehr innovativ darin,41 alternative Einkommensquellen zu generieren und zu nutzen, sei es beispielsweise im Tourismusbereich oder durch Fördermittel und die Bewerbung auf Subventionszahlungen. Dabei ist ihr lokales Erfahrungswissen hilfreich, denn es beinhaltet die Kompetenz, vielfältige Ökosystemleistungen durch flexibel angewandte, landwirtschaftliche Praktiken nutzen zu können und auf diese Weise eine Diversifizierung der Wirtschaftsweise zu schaffen. Wissensweitergabe und Wissensverteilung von Umweltwissen Wie ich bereits verdeutlicht habe,42 befindet sich jegliches lokale Wissen in ständiger Veränderung, ist ungleich auf verschiedene Gemeinschaftsmitglieder verteilt und in einem natürlichen, sozialen und kulturellen Kontext eingebunden. Neues nützliches Wissen wird hinzugewonnen und obsoletes Wissen gerät in Vergessenheit. Für Problemlösungsstrategien greifen die Bauern und Bäuerinnen einerseits auf tradiertes Erfahrungswissen zurück, andererseits auch auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse und landwirtschaftliche Techniken. In diesem Zusammenhang bedeutet die Anwendung „traditionellen“ Wissens nicht gesellschaftlicher „Konservatismus“ und Widerstand gegen Neuerungen. Vielmehr ist der Übergang fließend, weil ständig alte Wissenselemente durch neue Erkenntnisse ersetzt werden. Das oben angesprochene Erfahrungswissen über Wetter, Naturgefahren, natürliche Umwelt wird mündlich von einer Generation zur nächsten weitergegeben, indem die Kinder ihre Eltern im Alltag begleiten, ihre Handlungen beobachten und wiederholen, bis sie sie anwenden können. Dieses Wissen ist gesellschaftlich verankert und wird als natürlich gegeben angesehen (Reichel 2008: 105-107, 112-113).
41 Siehe Kapitel 2.6.4, Abschnitt „Eigeninitiativen“. 42 Siehe Kapitel 1.5 „Lokales Wissen“.
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„Dieses Wissen wird über Generationen hinweg weitergegeben. Die Eltern machen es vor und die Kinder machen es nach. Es ist einfach normales Alltagswissen, man spricht nicht unbedingt darüber. So wie andere Kinder Fahrrad fahren, lernen die Kinder hier das einfach mit.“ (Angelika Bandli, Bäuerin, Safien Platz/Safiental, Januar 2013)
Wer über welches Wissen verfügt, ist individuell sehr unterschiedlich und hängt vor allem vom Arbeitsumfeld der betreffenden Person ab. Allerdings lassen sich einige Tendenzen feststellen. Viele Informanten und Informantinnen berichteten, das Erfahrungswissen von einer Generation zur nächsten schleichend verloren geht. So verfügen ältere Bauern und Bäuerinnen (> 40 Jahre) über ein differenzierteres lokales Umweltwissen als jüngere und wenden es im Alltag mehr an. Jüngere (< 40 Jahre) hingegen haben zwar weniger Erfahrung, sind aber neuen technischen Möglichkeiten gegenüber aufgeschlossener und z.B. in der Lage, schnell und gezielt Informationen über das Internet abzurufen. „Das überlieferte lokale Umweltwissen der Menschen hier geht nicht auf einen Schlag verloren. Die Jüngeren, die hören es noch vom Vater oder vom Großvater und sie nehmen es schon mit, aber sie sind eben nicht mehr so sensibilisiert, also schauen eher schnell, zack zack, im Internet nach. Aber gerade im Safiental ist das nicht zu unterschätzen, was die Älteren wissen, es gibt Bauern mit einer super Beobachtungsgabe. Meiner Ansicht nach spielt Erfahrungswissen heutzutage noch eine wichtige Rolle, aber es gibt ganz klar einen schleichenden Verlust von Umweltwissen von der jüngeren zur älteren Generation. Schleichend ist der Prozess, weil die Generationen noch zusammenleben.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Nach Auskunft älterer Personen sind wesentliche Grundvoraussetzungen dafür, ob tradiertes Umweltwissen von einer Generation zu nächsten weitergegeben werden kann: a) die Bereitschaft existiert, älteren Familienmitgliedern zuzuhören und von ihnen zu lernen, b) landwirtschaftliche Praktiken nicht (nur) im KostenNutzen-Verhältnis zu sehen, sondern c) auch tradierte Praktiken in Betracht zu ziehen, selbst wenn sie länger dauern und einen höheren körperliche Arbeitsaufwand erfordern, d) sich Zeit zu nehmen und die Geduld zu haben, die Umwelt genau zu beobachten und bei allen Wind- und Wetterverhältnissen draußen unterwegs zu sein.43
43 Interessanterweise sind das Aussagen, die in ganz ähnlicher Form auch die Sozialund Kulturanthropologin Christine Jurt erfahren hat, als sie über die Umwelt- und Risikowahrnehmungen der Bewohnerschaft von Stilfs, Trafoi und Sulden in Südtirol
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Es stellt sich jedoch die Frage, wieso diese Aspekte von älteren Personen so explizit betont werden. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich nicht um einen Generationen übergreifenden, selbstverständlichen Prozess der harmonischen Wissensweitergabe handelt, sondern vielmehr um einen Prozess, der durch Konflikte und Aushandlungsprozesse zwischen Eltern und Kindern geprägt ist. Während Jüngere oftmals das Wissen der Eltern als obsolet erklären, scheint es bei vielen Bauern und Bäuerinnen mittleren Alters oft eine Art Rückbesinnung auf das Erfahrungswissen der Eltern zu geben. Diesbezüglich meinte ein Bauer aus Tenna, der eng mit seinem Vater zusammenarbeitet: „Es gibt schon so Sachen, die man von den Eltern gelernt hat, und die man zuerst nicht glauben mag. Wie das Wetter wird, wo die Lawine kommen kann, oder Bauernregeln [Puuraregle], dass man beim Sternzeichen Skorpion das Heu nicht mähen sollte, denn das wird dann nicht gefressen. Auch wenn man die Älteren zuerst auslacht, über die Jahre merkt man, dass das schon stimmt. Wenn man jung ist, will man vieles nicht glauben. Aber es ist genauso auch anderes herum. Auch die Älteren sagen bei vielem, das kommt nicht gut, das geht doch nicht. Aber wenn sie’s dann mitmachen, sind sie dann oftmals selbst von der Veränderung begeistert. Ja, eben, oder, das Leben ist ein Geben und ein Nehmen.“ (Christian Joos, Bauer, Tenna/Safiental, August 2012)
Lokales Umweltwissen ist auch in Bezug auf die Geschlechter sehr unterschiedlich verteilt. Auffällig ist die Altersgrenze: Je nachdem, ob die Bauern und Bäuerinnen über oder unter 50-60 Jahre alt sind, ist die Präsenz genderspezifischer Rollenmuster stark oder weniger ausgeprägt vorhanden. Ältere Personen leben noch eine sehr deutlich ausgeprägte genderspezifische Rollenaufteilung im Arbeitsalltag. Zu dieser Aufteilung gehört, dass Männer jegliche schweren körperlichen Arbeiten außerhalb des Hauses und des Gartens erledigen (wie z.B. das Ausmisten des Stalls, das Auf- und Abtreiben des Viehs etc.), während sich die Frauen um das Haus, den Gemüsegarten, das Zubereiten von Mahlzeiten und um die Kinderziehung kümmern. Bei Personen mittleren Alters und jünger ist diese Rollenaufteilung einseitig aufgebrochen. Das bedeutet, viele Frauen arbeiten auch in jenen Bereichen, die traditionell als Männerdomänen angesehen werden, aber nur wenige der befragten Männer arbeiten umgekehrt in jenen Bereichen, die traditionell als Frauendomänen angesehen werden. Jüngere Frauen haben also im Gegensatz zu jüngeren Männern eine weitreichende zusätzliche Arbeitsbe-
forschte (Jurt 2009: 126). Dies lässt die Vermutung zu, dass vielen älteren Menschen, die in den ländlichen Alpen leben, diese Aspekte besonders wichtig sind.
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lastung, gleichzeitig ist ihre Arbeit jedoch auch vielseitiger als die der Männer, was sich wiederum auf ihr Umweltwissen auswirkt. Auffällig ist, dass es zwei Wissensbereiche gibt, die sich unabhängig vom Alter und der genderspezifischen Arbeitsaufteilung nicht zu verändern scheinen. Dies ist erstens das Wetterwissen, denn sowohl jüngere als auch ältere Bäuerinnen haben sehr differenzierte Wetterkenntnisse, die sie zumeist mit der Pflege ihres Gemüsegartens begründen. Zweitens scheinen sowohl jüngere als auch ältere Frauen über ein sehr geringes Wissen zu Naturgefahren zu verfügen: Beide Gruppen haben geringere Kenntnisse über das zeitliche und räumliche Auftreten von Naturgefahren. Erklärt wird dies – allerdings nur von Männern – damit, dass in den letzten Generationen viele Frauen von außerhalb ins Tal gekommen seien und deshalb lokales Umweltwissen zu Naturgefahren nur über die männliche Linie weitergegeben würde (obwohl einige dieser zugezogenen Frauen seit über 40 Jahren im Tal leben). Eine andere häufige Erklärung von Männern war, dass Frauen nicht über die gleichen körperlichen Voraussetzungen verfügen würden wie Männer, und daher in der Bergrettungsgruppe oder der Freiwilligen Feuerwehr nicht die gleiche Leistung erbringen könnten. Außerdem wurde von Männern angeführt, dass nur sehr wenige Frauen zur Jagd gehen würden und sie vielmehr für das „Metzgern“ des von den Männern geschossenen Wilds verantwortlich seien. Frauen seien dadurch von einer weiteren Möglichkeit, Wissen zu Naturgefahren zu erlangen, ausgeschlossen. Frauen äußerten sich mir gegenüber bezüglich dieser, über die Generationen hinweg verbleibenden, genderbasierten Ungleichheiten kaum. Deutlich für mich zu beobachten war jedoch, dass auch wenn viele jüngere Frauen Haus und Hof führen, so existieren doch immer noch Männerdomänen, wie die Lawinenrettungsgruppe oder Jagdvereine, zu denen Frauen nach wie vor keinen oder kaum Zugang haben, was unweigerlich auch weiterhin zu genderspezifischen Wissensunterschieden führt.
2.4 N ATURWAHRNEHMUNGEN UND N ATURKONZEPTIONEN „Nature is no great mother who has borne us. She is our creation. It is our brain that she quickens to live. Things are because we see them, and what we see, and how we see it, depends on the Arts that have influenced us.“ (Wilde 1902)
Dieses Zitat von Wilde bringt es auf den Punkt: Was sich Menschen unter Natur vorstellen, ist soziokulturell und im historischen Verlauf sehr unterschiedlich und beeinflusst, wie sie Natur erfahren und wie sie mit Natur umgehen. In der
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wissenschaftlichen Annährung an das Thema wird seit Längerem in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften hinterfragt, ob man die vom Menschen beeinflussten zwei Bereiche Natur-Kultur strikt voneinander trennen kann, oder ob man sie vielmehr als eine Einheit betrachten sollte. Die Vorstellungen einer klaren Trennung der Bereiche konnte sich – grob zusammengefasst – in der westlichen Welt im Zuge der Aufklärung und der modernen Wissenschaftsgeschichte etablieren. Ganzheitliche Sicht und soziale Verantwortung sind im cartesischen Weltbild von untergeordneter Bedeutung. So führte die europäische Aufklärung nicht nur zur Befreiung von antiwissenschaftlichen Dogmen, sondern auch zu einem rigorosen technischen Machbarkeitsglauben und einer alle Schranken missachtenden politischen und ökonomischen Einstellung zur Natur und zu kulturellen Traditionen. Diese Sichtweise, die Bereiche „Natur“ und „Kultur“ voneinander zu trennen, gilt mittlerweile als überholt,44 seitdem deutlich wurde, welche untrennbaren anthropogenen und natürlichen Dynamiken durch die Globalisierung ausgelöst wurden (vgl. Luig 2012: 4; Leinfelder 2013). 2.4.1 Die Wahrnehmung des Eigenwertes und des Gebrauchswertes von Natur Die Safientaler Bauern und Bäuerinnen sehen ihr Tal vor allem als Wirtschaftsraum an; der Gebrauchswert der Natur ist von zentraler Bedeutung in ihrer Naturwahrnehmung. Die effektive und langfristige Nutzung natürlicher Ressourcen durch Land-, Forst- und Wasserwirtschaft sowie Tourismus prägen ihren Umgang mit der Natur. Ein, wie es scheint, einfaches Erklärungsmuster. Wie sich jedoch im Laufe der partizipativen Beobachtung und aufeinander aufbauenden semistrukturierten Interviews herausstellte, ist die Naturwahrnehmung der Safientaler und Safientalerinnen weitaus komplexer und nicht ausschließlich mit einer funktionalistischen Sichtweise erklärbar. Nach einem ursprünglichen Fokus auf den wirtschaftlichen Gebrauchswert der Natur betonen dieselben Personen, dass ihr Eigenwert die gleiche Priorität einnehme. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass sie nur eine ökologisch nachhaltige Ressourcennutzung als sinnvoll und richtig erachten. Sie sind also ökonomisch von landwirtschaftlicher Produktion abhängig, was einem funktionalen Umgang mit der Natur entspricht, gleich-
44 Dass Kultur die Natur des Menschen über mehrere Generationen hinweg zu beeinflussen vermag, zeigen z.B. die Forschungen im Bereich der Epigenetik, weshalb das deutsche Umweltbundesamt entsprechende Forschungen fördert. https://www.umwelt bundesamt.de/themen/gesundheit/belastung-des-menschen-ermitteln/epigenetik [Abfragedatum: 22.06.19]. Vgl. auch Kapitel 1.2 Das Anthropozän.
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zeitig fühlen sie sich aber auch moralisch verpflichtet, die als Heimat angesehene und erlebte Kulturlandschaft im Tal zu erhalten und schützen. Dementsprechend werden jene landwirtschaftlichen Ressourcennutzungsstrategien bevorzugt, die die ästhetische Qualität der traditionellen, kleinräumigen Kulturlandschaft erhalten und somit zur kollektiven Identität beitragen. Diese Vorstellungen sind historisch gewachsen und haben sich durch die Art der (Nicht-)Resourcennutzung in die Kulturlandschaft eingeschrieben. Die Landwirte im Safiental wirtschaften durchaus unterschiedlich, manche arbeiten nach anthroposophischen Prinzipien, andere, relativ intensiv wirtschaftende Bauern und Bäuerinnen, züchten Jungrinder im Stall zur Fleischgewinnung. Ungeachtet dieser erheblichen Unterschiede in landwirtschaftlichen Praktiken existiert der gesellschaftliche Konsens, dass nicht-nachhaltige Ressourcennutzung einem schonungslosen Raubbau an der natürlichen Umwelt gleichkommt, und dass dieser egoistisch gegenüber der Gemeinschaft sei, da er Vorstellung von kultureller Identität verletze. Diese moralischen Vorstellungen wurden auch durch religiöse Deutungsmuster geprägt. Wenn aus wirtschaftlichem Druck im 18. Jahrhundert große Waldareale gerodet wurden, so waren noch bis zum 19. Jahrhundert viele Safientaler davon überzeugt, dass der Teufel, Dämonen und wilde Männlis Leid über Haus und Stall bringen, wenn sich einer auf Kosten der Natur und damit der Gemeinschaft bereichere. Der Glaube an diese spirituellen Wesen hatte den Nebeneffekt, dass manche natürlichen Ressourcen, wie zum Beispiel der Bannwald von Thalkirch, gar nicht oder nur sehr eingeschränkt genutzt wurden. Zwar wurden im Zuge der Aufklärung religiöse Deutungsmuster abgelöst (der ehemalige Bannwald, in dem der Teufel vermutet wurde, ist jetzt ein Jagdschutzgebiet), aber bestimmte Vorstellungen und daran anknüpfende Handlungsrichtlinien aus dieser Zeit werden in Form von Brauchtum noch eingehalten. So sind viele ältere Safientaler davon überzeugt, dass bestimmte Tätigkeiten nur während dem sogenannten Nidsigänd (steigender Mond) und Obsigänd (fallender Mond) verrichtet werden sollten.45
45 „Nidsigänd“ und „Obsigänd“ ist die Bezeichnung eines in zyklischen Abständen abfallenden und aufsteigenden Mondes. Beim Nidsigänd verläuft der Tagbogen des Mondes ca. 14 Tage unterhalb des Horizontes. Danach kommt es zum Obsigänd, bei dem der Tagbogen des Mondes ca. 14 Tage oberhalb des Horizontes verläuft. Ein Prozess, der nicht mit zu- oder abnehmenden Mond zu verwechseln ist. Viele landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie Düngen, Bäume fällen, Quellen fassen, werden auch heute noch nach diesen Mondphasen ausgerichtet.
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„Es gibt sehr viele Dinge, bei denen man mit der Natur zusammenarbeiten [mit dr Natur schaffa] muss. Zum Beispiel habe ich lange nicht geglaubt, dass der aufgehende und abgehende Mond, also ob der Mond nidsigänd und obsigänd ist, einen Einfluss hat. Aber das hat einen Einfluss, besonders auf das Pflanzenwachstum. Deshalb pflanzt man alles, was nach unten wachsen soll, nur beim abgehenden Mond und alles, was nach oben wachsen soll, beim aufsteigenden Mond. Es ist zum Beispiel ratsam, den Mist nur bei abgehendem Mond auszubringen, weil er dann leichter in den Boden aufgenommen wird. Ich habe das dann auch beim Wasser gespürt, als ich die Schafe ausgetränkt habe, beim Dorfbrunnen. Dann ist mir aufgefallen, beim abgehenden Mond gab es immer viel weniger Eis als beim aufgehenden Mond. Das ist einfach eine Feststellung, warum kann ich auch nicht sagen. Das kam so mit der Erfahrung. Landwirtschaft ist ein Beruf, bei dem man sehr mit der Natur zusammenarbeitet, man ist ja abhängig von ihr.“ (Ursulina Joos, Bäuerin, Tenna/Safiental, August 2012)
Diese Aussagen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich auch in Zeiten, in denen die natürliche Umwelt von der Dorfbevölkerung als ein von Berg- und Waldgeistern belebter Raum wahrgenommen wurde und das sogenannte Orientierungswissen (vgl. Mittelstrass 1981) eine große Deutungsmacht besaß, ein schonungsloser Raubbau an natürlichen Ressourcen stattfand. Geschützt wurden nur die als heilig definierten Orte, nicht aber die profanen. Der nachhaltige Umgang mit Natur entwickelte sich erst mit der Zeit auf der Basis von Erfahrungswissen, das sich in Form von Mythen als Orientierungswissen manifestierte und überliefert wurde. Allerdings findet heutzutage eine Art Remoralisierung von Natur statt (vgl. Frömming 2008: 69-81; Reinkemeier 2015 85; ANiK 2015: 10-11). Die Vermischung von Kultur und Natur äußert sich im Safiental besonders offensichtlich in der durch den Menschen übermäßig geprägten Natur, der Kulturlandschaft. Die Vorstellung, dass Natur einen funktionalen Wert hat, und die Vorstellung, dass sie einen schützenswerten Selbstwert hat, existieren im Safiental parallel und sind in den einzelnen sozialen Gruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. Vor dem Hintergrund der moralischen Naturkonzeption, die von einem schützenswerten Selbstwert der Natur ausgeht, wird der aktuelle Prozess der fortschreitenden Verbrachung und Verwaldung landwirtschaftlicher Nutzflächen als ein schockierendes Versagen im Erhalt der heimatlichen Kulturlandschaft betrachtet.
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2.4.2 Konfliktfeld „Natur- und Heimatschutz“ Auch im Safiental haben einige Naturschutzorganisationen den Anspruch, Natur als „Selbstzweck“ zu schützen und dem drastischen Artensterben und Verlust von Ökosystemen entgegenzuwirken. Allerdings interpretieren sie teilweise die Rolle des Menschen vollkommen anders als die Bevölkerung der jeweiligen Region. Einige Bauern und Bäuerinnen im Safiental bezeichnen sich selbst als die „Hüter“ der Kulturlandschaft und begründen ihre Position damit, dass sie einen Ort, in dem menschliche Siedlungen durch vielfältige Naturgefahren bedroht sind, über die Jahrhunderte mithilfe angepasster landwirtschaftlicher Praktiken in einen siedlungsfreundlichen Ort transformiert haben, den sie heutzutage intensiv und gleichzeitig nachhaltig bewirtschaften. Einige Naturschutzorganisationen hingegen betrachten eine von Menschen allenfalls extensiv genutzte oder besser noch unberührte Natur als erstrebenswert. Diese Idee des Naturschutzes, dass Natur vor dem Menschen geschützt werden muss, ist für viele Safientaler Bauern und Bäuerinnen vollkommen unverständlich. So, wie die Idee von Naturschutz als Folge der Romantik entwickelt wurde, ist diese Vorstellung von Naturschutz sozusagen ein „Außenbild“, das auf das Safiental übertragen wurde. Für Werner Bätzing hat dies eine historische Ursache: Weil infolge der Industrialisierung die natürliche Umwelt, insbesondere in urbanen Zentren, massiv umgestaltet und teilweise zerstört wurde, wurden Regionen wie das Safiental als ein natürlicher, intakter „Ausgleichsraum“ empfunden, indem es Natur zu schützen und zu erhalten gilt (Bätzing 2015: 237-238). So wichtig es ist, fortschreitenden Umweltzerstörungen in den Alpen (Zersiedelung, Verlust von Habitaten etc.) im Kontext des Klimawandels durch Naturschutzmaßnahmen, wie z.B. die Schaffung von ökologischen Korridoren, zu begegnen, so wichtig ist es auch zu realisieren, dass das Safiental für die dort lebenden Menschen vor allem ein Wirtschafts- und Lebensraum ist. Nach dem Verständnis vieler Personen ist es zentral, dass sie fortwährend eine aktive Rolle im Umgang mit Natur übernehmen und auch intensiv auf sie einwirken müssen. Bätzing weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Idee des „Schutzes der Natur vor dem Menschen“ ein grundlegender Widerspruch einiger Naturschutzorganisationen in den Alpen sei, denn die durch den Menschen geschaffene Kulturlandschaft mit vielfältigen ökologischen Nischen und den artenreichen Wiesen und Weiden hat eine wesentlich höhere Biodiversität als dies auf unberührten, sich selbst überlassenen Flächen der Fall wäre (Bätzing 2015: 238). Auch die von manchen Naturschutzorganisationen verfolgte Idee, dass in der Berglandwirtschaft möglichst extensiv per Hand gewirtschaftet werden sollte, ist heutzutage absurd. Ohne berggängige Spezialmaschinen können sie aufgrund der
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geringen Besiedelung und der hohen Arbeitskosten diese landwirtschaftlichen Flächen nicht mehr offenhalten. Da die Berglandwirtschaft einen hohen Arbeitsaufwand für relativ geringe Erträge erfordert, wird sie von großen Teilen der Schweizer Bevölkerung als wirtschaftlich perspektivlos betrachtet. Der Idealismus, mit dem viele Bergbauern („Bärgpuura“) ihre Tätigkeit als Berufung empfinden, ließe sich, so wird es angenommen, auf eine Tätigkeit als Landschaftsgärtner übertragen. Dieser Vorschlag, dass sie idealerweise Landschaftsgärtner werden sollten, da sie rein quantitativ nicht wesentlich zur landwirtschaftlichen Produktion beitragen würden, aber eben zu Gestaltung von Landschaft, wird jedoch von vielen Bergbauern als Demütigung empfunden. Das Fundament ihrer Identität als Bergbauern und -bäuerinnen wird damit angezweifelt. Unabhängig von der Frage, ob die Schweiz subventionierte Berglandwirtschaft aus ökonomischen und sozialen Gründen benötigt, bleibt festzustellen, dass die Reduzierung der Identität der Bergbauern als Produzenten kulturell wichtiger Lebensmittel nicht gerecht wird. Die Landwirte der Hochgebirgstäler verfügen über wichtiges traditionelles Umweltwissen und leisten durch ihren Einsatz in der Landschaftspflege einen großen Beitrag zum Schutz gegen Naturgefahren und gegen die negativen Auswirkungen des Klimawandels. Es ist fraglich, ob sie diese herausfordernden Aufgaben im Falle eines Verlustes ihrer bäuerlichen Identität weiterhin erfüllen würden. Naturpark Beverin Dass diese unterschiedlichen Naturkonzepte zu Spannungen und Ressentiments führen, wurde exemplarisch bei der Angliederung des Safientals an den Naturpark Beverin deutlich. Im Januar 2016 wurde nach einer langen Planungsphase das Safiental vom Bund als Teil des regionalen Naturparks Beverin anerkannt. Er umfasst neben dem Safiental zwei weiter östlich liegende Talschaften mit kleineren Nebentälern, insgesamt die elf Gemeinden Safien, Tschappina, Mathon, Casti-Wergenstein, Sufers, Ferrera, Andeer, Donat, Lohn, Rongellen und Zilis-Reischen. Das Naturparkmanagement verfolgt das sinnvolle Ziel, einen sanften, naturnahen Tourismus zu etablieren, alternative Energieformen und Biolandwirtschaft zu fördern, Umweltbildung sowie die Integration des Umweltschutzes in wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen. Ein eigentlich sehr progressiver Ansatz, bei dem es weniger um Naturschutz und mehr darum geht, die Region wirtschaftlich zu stärken und gleichzeitig die Kulturlandschaft zu erhalten. Also eben nicht, die Bevölkerung auszugrenzen. Allerdings hatte die Safientaler Bevölkerung das Vorhaben teilweise zunächst sehr kritisch betrachtet und teilweise sogar
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abgelehnt. Sie befürchtete, dass ihre land- und forstwirtschaftliche Ressourcennutzung durch ein Regelwerk von Umweltauflagen deutlich eingeschränkt werden könnte. Auf welche Wiederstände das Projekt stieß, macht folgendes Zitat deutlich: „Die aus der Stadt können nicht verlangen, dass wir leben wie vor 100 Jahren, also einen gewissen Komfort brauchen wir schon, sonst würde ich hier nicht leben. Das Tal darf nicht zu einem Museum werden. Das ist vielleicht schön anzuschauen, aber man kann ja nicht von den Leuten hier verlangen, dass sie auf die Infrastruktur, die man in der Stadt hat, verzichtet. Zum Beispiel die Straße, es ist schön, wenn sie nicht ausgebaut ist, wenn man in den Ferien mal hier lang fährt, aber, wenn man eine Familie hat und viel Material ins Tal transportieren muss, dann ist es wichtig, dass sie ausgebaut wird. [...] wir müssen hier arbeiten und leben.“ (Anonym, Safiental, Januar 2012)
Erst nach einiger Überzeugungsarbeit durch den Gemeindepräsidenten und das Naturparkmanagement, insbesondere durch das Argument, dass sich das Tal mit dem Label „Naturpark“ besser vermarkten könne, stimmte die Talbevölkerung dem Vorhaben bei einer Gemeindeversammlung zu. Unterschiedliche Deutungsmuster von Natur konkurrieren mitunter, wie die beiden folgenden, sehr gegensätzlichen Aussagen verdeutlichen:
2.4.3 Wahrnehmung von Naturgefahren „Angelika: Ja, hast du ihm erzählt, dass du mit den Lawinen gespielt hast? Erwin: Hmmm ... nein. Angelika: Christian, das musst du wissen, Erwin hat mit den Lawinen gespielt. Also, ich habe das unseren Kindern verboten, aber der war ja dreist. Die Oma hat zum Glück nicht immer alles mitbekommen. Erwin: Ja, ja ... Angelika: Erzähl mal, was du gemacht hast! Erwin: Also, beim Hof haben wir einen schönen Steilhang, der so fast 40 Grad hat. Als Kinder haben wir die Lawine heruntergelassen. Zuerst haben sich zwei oder drei von uns unten hingestellt und aufgepasst. Der oben hatte den Spaß, auf die Lawine drauf hüpfen zu dürfen. Ist was schiefgegangen, hat’s einen verdeckt und die andern mussten einen dann ausgraben. Aber, das ist ein Beispiel, was man mit den Fähigkeiten, die man als Kind lernt, später etwas anfangen kann. Wenn es zum Ernstfall [gilts ärischt] kommt, ist das Verhalten anders. Dann hat man nicht so viel Panik und eher eine Möglichkeit, lebend
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herauszukommen.“ (Erwin und Angelika Bandli, Bauern, Safien Platz/Safiental, Januar 2013)
Die Bewohner und Bewohnerinnen des Safientals fühlen sich vor Naturgefahren weitgehend sicher. Es könne aber immer zu Ereignissen kommen, die niemand vorhergesehen hat. Naturgefahren werden oft nicht einmal als außergewöhnliche Gefahr angesehen. Sie sind in den Alpen „normal“, eine Gefahr, mit der jeder umgehen muss, sie sind Teil des Alltags und Teil der lokalen und regionalen Identität. Abb. 36: Eine fast 90-jährige Bäuerin, die im Dorf Thalkirch unterhalb der zerklüfteten Steilhänge des Bruschghorns lebt
Quelle: Ó Reichel, 2012
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Naturgefahren treten auf, wenn der Mensch verantwortungslos mit der Natur umgeht, so die Auffassung. Kulturlandschaftlich genutzten, d. h. bewirtschafteten Flächen, wird eine schützende Wirkung zugesprochen und Gefahren entstünden nur dann, wenn Nutzung und Pflege der Landschaft ausbliebe oder nicht fachgerecht durchgeführt würde. Dies steht in einem fundamentalen Kontrast zu Aussagen über Naturgefahren im Oberengadin, wo im Rahmen des Projektes ANiK ebenfalls ethnologische Forschung durchgeführt wurde. Obwohl die Oberengadiner Orte, wie St. Moritz, Pontresina, Samedan, wie auch das Safiental, im Hochgebirge liegen und durch die unterschiedlichsten Naturgefahren bedroht werden, existiert in diesen Orten aufgrund eines externalisierten und gut greifenden Katastrophenmanagements und einer gut ausgebauten Infrastruktur praktisch kein individueller Anpassungsdruck, sich mit potentiellen Gefahren auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, dass die meisten Bewohner und Bewohnerinnen direkt oder indirekt im Tourismus tätig sind und in ihrer alltäglichen Arbeit nicht unmittelbar auf kurzfristige Umweltveränderung reagieren müssen wie Bergbauern und -bäuerinnen, sodass katastrophale Ereignisse schnell aus der lebensweltlichen Erfahrung ausgegrenzt werden können. Eine Kultur der Umsicht und der Vorsicht und des vorausschauenden Verhaltens in Bezug auf Naturgefahren geht zunehmend verloren und die individuelle Handlungsbereitschaft, solchen Ereignissen vorzubeugen bzw. auf sie zu reagieren, nimmt ab (vgl. Schildhauer und Reichel 2013: 4; ANiK 2015: 72). Allerdings wurde von vielen Gesprächspartnern und -partnerinnen im Oberengadin ein bestimmtes, als Risiko wahrgenommenes Ereignis immer wieder besonders hervorgehoben: die Sperrung der Straße nach Italien über den Malojapass, aufgrund einer akuten Lawinengefahr. „Wenn die Straße gesperrt ist, ist das eine totale Katastrophe für unsere Touristik im Tal. Jeder Tag der Sperrung kostet Millionen Franken. Für die Gäste ist das eine Zumutung. Sie kommen wegen des Champagnerschnees und wollen nicht wegen solcher Dinge ihre Reisepläne ändern, und außerdem kann das Personal nicht an- und abreisen.“ (Plinio Testa, Gastronom, Rossegtal/Oberengadin, September 2012)
Auch wenn es für die Touristen alternative Reisemöglichkeiten aus und in das Oberengadin gibt und sie zum Teil in die Oberengadiner Luxusorte einfliegen, werden Lawinensperrungen als massiver Freiheitseinschnitt erlebt. Wirklich problematisch ist die Situation allerdings für die vielen Hotelfachkräfte. Die meisten können sich die teuren Mieten im Oberengadin nicht leisten, sie pendeln deshalb aus Norditalien oder dem Schweizer Kanton Bergell über den Malojapass ins
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Oberengadin. Die Straßensperrung bedeutet für sie, von ihrer Familie abgeschnitten zu sein oder nicht zur Arbeit zu können. Dementsprechend groß ist der Druck auf die Lawinenkommission, durch Lawinensprengungen die Straße frei zu halten. 2.4.4 Wahrnehmung von Umweltveränderungen am Beispiel des Klimawandels „Die Bauern und Bäuerinnen diskutieren schon über den Klimawandel, einfach, weil sie draußen sind in der Natur. Die Wahrnehmung von Klima, von der Wärme, von der Kälte, vom Schnee, was weiß ich, ist natürlich voll da. Sie sind schon sehr involviert in dieses Thema. Aber die einzelne Meinung darüber, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, die gehen nicht nur in der Stadt, sondern auch hier weit auseinander. Was passiert, wohin das führt.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Welche sozial-ökologischen Veränderungen auf lokaler Ebene mit dem globalen Klimawandeldiskurs assoziiert werden, ob damit Handlungsanforderungen an die lokale Bevölkerung einhergehen und Notwendigkeit besteht, individuelle Handlungsweisen daran anzupassen, wird individuell sehr unterschiedlich aufgefasst und korreliert oftmals nicht mit den Prognosen der Naturwissenschaften. Zum einem ist es nicht immer möglich, diese Ergebnisse in selbsterklärender Weise auf lokale Begebenheiten ,herunterzubrechen‘ und teilweise sind die lokalen Auswirkungen globaler Veränderungsprozesse tatsächlich unzureichend erforscht. Zum anderen sieht sich die Bewohnerschaft der Hochgebirgsregionen nicht immer ausreichend vertreten in den politischen Aushandlungsprozessen, in denen die naturwissenschaftlichen Ergebnisse aufgegriffen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen verhandelt werden. Eine solche empfundene oder tatsächlich stattfindende Marginalisierung kann zur Ablehnung naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster führen. Die Aufbereitung naturwissenschaftlicher Interpretationen in den Medien kann zudem falsch oder missverstanden werden, was ebenfalls eine Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Folge haben kann. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die Aussage eines schweizer Hüttenwirts, der die meiste Zeit des Jahres in unmittelbarer Nähe eines Gletschers wohnt und die Hütte viele Jahre führt. Da er Mitglied der lokalen Bergrettungsgruppe ist, muss er den Gletscher jeden Tag beobachten, um notfalls Bergsteiger aus Gletscherspalten bergen zu können.
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Er hat ein sehr differenziertes Wissen, wie sich der Gletscher verändert, wo er an Masse verloren hat, wo gefährliche Gletscherspalten entstehen oder wo die Gefahr durch Murgänge und Steinschlag am größten ist. Obwohl er weiß, dass das Gletschereis von Jahr zu Jahr schneller abschmilzt und auch seine Hütte bedroht ist, hält er eine anthropogene Ursache des Klimawandels für unwahrscheinlich bzw. ausgeschlossen. „Die Eisschmelze ist enorm. Der Gletscher geht im Jahr fünf Meter zurück und verliert vor allem an Masse. Die Muränen krachen zusammen, die Zustiege werden immer schwieriger. Zwar schmilzt der Gletscher schon seit 150 Jahren ab, aber es geht einfach in den letzten Jahren immer schneller. Ich denke, dass es zu extremen Auswirkungen kommen wird. Die Wasserversorgung ist zwar momentan davon noch nicht betroffen, im Gegenteil, jetzt haben wir gerade noch mehr Wasser. Was auch sehr trügerisch ist, das wird sich aber bald ändern. Es ist einfach viel zu warm. [...] Aber ich denke, das ist ein normaler Prozess, das gab es früher auch schon. Auch die meisten Leute im Oberengadin interessiert das weniger, die haben ganz andere Probleme. Teilweise sehen die Leute sogar die Maßnahmen zum Klimaschutz eher als grüne Spinnerei an. Die Wirtschaft und die Zweitwohnungsinitiative, das interessiert sie mehr als der Gletscher. Sie sind sich gar nicht darüber bewusst. Erst, wenn man nach hinten läuft und die Markierungen sieht, wo die Gletscher war, dann sind die alle geschockt. Ich bin aber der Meinung, der kommt zurück, der Gletscher und die globale Erwärmung hat nichts mit dem Menschen zu tun.“ (Anonym, August 2011)
In Samedan wohnt der Glaziologe Dr. Felix Keller, mit dem ebenfalls im Rahmen dieser Forschungsarbeit mehrere Interviewtreffen stattfanden. Er kennt sehr viele Gletscher in der Schweiz, aus unmittelbarer Nähe. Umweltdidaktische Fragestellungen, insbesondere wie sich aus Umweltwissen Umwelthandeln entwickelt, sind Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit. Seiner Meinung nach fängt: „[…] menschliches Lernen [...] dann an, wenn die eigene Konstruktion der Realität mit der Wahrnehmung nicht mehr übereinstimmt. Dann gibt es zwei Arten von Lernen. Entweder man passt sein Erfahrungswissen an, sodass es mit der Wahrnehmung wieder übereinstimmt, oder man sagt das, was man wahrnimmt, das stimmt nicht. Wenn aber das Erfahrungswissen sehr gefestigt ist und man eine Wahrnehmung hat, die das Ganze existenziell zum Wackeln bringt, dann muss man fast auf die zweite Art kommen. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, dass die eigene Realität widerspruchsfrei sei, sonst kann man nicht leben.“ (Dr. Felix Keller, Glaziologe und Co-Institutsleiter des ETI der Academia Engiadina, Samedan/Oberengadin, August 2011)
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Abb. 37: (oben): Gletscherbruch des Rosseggletschers; (unten): Gletscherspalte des Morteratschgletschers
Quelle: Ó Reichel, 2011; 2012
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Vor dem Hintergrund der Bedeutung der lokalen Ebene im Rahmen der Klimawandeldiskurse und den Vermeidungs- und Anpassungsstrategien und -maßnahmen ist daher zunächst zu fragen, wie ein hochgradig komplexes, abstraktes und von den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen nahezu vollständig entkoppeltes Konstrukt wie der globale Klimawandel46 überhaupt Einzug in die lokale Lebenswelten halten und dort handlungsanleitend werden kann. Ein wesentliches Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist, dass dies nur über die lokalen Deutungsmuster und die damit verbundenen Kodierungen erfolgt. Daher wurde – in Anlehnung an Carla Roncoli, Todd Crane und Ben Orlove – in der vorliegenden Untersuchung drei übergeordneten Fragestellungen nachgegangen: 1) Wie wird das Phänomen „Klimawandel“ im Kontext spezifischer soziokultureller Strukturen gedeutet? 2) Aus welchen Wissensbeständen wählen die Menschen, um ihre Wahrnehmungen des Phänomens „Klimawandel“ einzuordnen? 3) Welchen Wert geben sie ihrem Wissen und welche Handlungen folgen daraus? (Roncoli et al. 2009: 88 nach Reichel und Frömming 2014) Im Safiental wurde das Thema „Klimawandel“ überwiegend als ein von außen bestimmter Expertendiskurs wahrgenommen. Dies hatte zur Folge, dass viele Bauern und Bäuerinnen trotz ihres eigenen, umfangreichen Umweltwissens davon ausgingen, dass ihr Wissen nicht gefragt oder für das Naturgefahrenmanagement zu trivial sei. Diese Einschätzung sollte jedoch nicht über das Interesse der Safientaler Bevölkerung an diesem Thema hinwegtäuschen. Auf die Frage, ob sie an einer Kartierung von Naturgefahren im Rahmen dieser Forschung mitwirken möchten, reagierten die Safientaler Landwirte fast ausschließlich positiv. Viele Informanten und Informantinnen dieses Forschungsprojektes sind davon überzeugt, dass sich das Klima in den letzten Jahren verändert hat und im Zusammenhang damit Wetterveränderungen eingetreten sind, aber die Meinungen über und Deutungen des Klimawandels reichen von „findet nicht statt“ über „findet statt, ist aber natürlichen Ursprungs“ bis zur Diagnose der Verantwortlichkeit des Menschen. Entsprechendes gilt für den (Nicht-)Zusammenhang von Klimawandel und „Naturgefahren“ (vgl. Schildhauer und Reichel 2013: 3). Während die Mehrheit der Bauern und Bäuerinnen vor allem negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft befürchten, ausgelöst durch eine höhere Magni-
46 Wie die modernen industriellen Risiken ist daher auch der Klimawandel „prinzipiell argumentativ vermittelt“ und „im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse“ (Beck 1986: 35, 30 nach Schildhauer und Reichel 2013: 1).
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tude und Frequenz von Naturgefahren und Extremwetterlagen sowie die Ausbreitung von Schädlingen, gibt es andere, die der Zukunft sehr positiv entgegenschauen, weil sie sich z.B. erhoffen, dass höhere Temperaturen auch das Graswachstum erhöht und sie mehr Futter auf ihren Wiesen erwirtschaften können. „Viele Leute werfen einem vor, dass man an den Klimawandel glaubt, aber ich denke, dass man nicht viel glauben muss, sondern dass man sehr viel sieht [...]. Die Leute machen dicht beim Thema ,Klimawandel‘; dicht, weil zu viel darüber berichtet wird, es findet eine Übersättigung statt. Viele denken deswegen, es gibt ja noch Heu und Gras und die Tiere können weiden, das gibt es ja alles noch [Informant lacht]. Sicherlich, wenn man kurzfristig schaut, vielleicht. Aber, wenn man hinaufgeht und dann sieht, dass der Wald eindeutig steigt, die Waldgrenze, dann muss man doch sagen, irgendetwas ist doch dran am Klimawandel, also da passiert etwas [...]. Es ist nicht mehr das, was es sein sollte, es ist etwas anderes. Vielleicht ignorieren sie den Klimawandel, weil sie die Angst und die Bedrohung nicht wollen.“ (Christian Messmer, eh. Schreiner, Tenna/Safiental, August 2012) „Ach, solche Veränderungen, die hat es ja schon immer gegeben, dass es fünf Winter wenig Schnee gegeben hat und dann wieder zehn Winter viel. Heutzutage ist der Mensch einfach zu ungeduldig und schreit gleich, die Klimaerwärmung ist schuld. Vor 20 Jahren wurde auch gesagt, bald gibt es kein Erdöl mehr, und jetzt gibt es immer noch Erdöl, oder? Und Waldsterben, das ist ja auch nie eingetroffen. Jetzt ist es halt der Klimawandel. Man kann jedes Thema durch eine Studie darstellen und dann eine Gegenstudie machen, und dann heißt es wieder genau das Gegenteil. Die Studierenden brauchen einfach Arbeit und die Zeitungen müssen was schreiben.“ (Christian Joos, Bauer, Tenna/Safiental, Februar 2012)
Wie diese beiden Äußerungen exemplarisch belegen, wird das Thema „Klimawandel“ sehr unterschiedlich wahrgenommen. Während vor allem Bauern und Bäuerinnen vom menschlichen Einfluss auf das Klima überzeugt sind, erklären andere die Temperaturerhöhung mit natürlichen Veränderungsprozessen, wie Variationen der Sonnenintensität. Junge Personen stellen das Thema in einen größeren translokalen Zusammenhang und beziehen sich dabei auf mediale Berichterstattungen. Ältere stellen diese Verbindung weniger her, sehen Klimawandel als Teil eines umfassenden sozial-ökologischen Wandels, der in den letzten Jahren stattgefunden habe. Generell wird Klimawandel als Aspekt eines umfassenderen sozial-ökologischen Wandels wahrgenommen, der sich mit anderen Veränderungsprozessen und damit verbundenen Herausforderungen vermengt. Diese Entwicklung wird einerseits damit erklärt, dass infolge der globalen Temperaturerhöhung die
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Waldgrenze immer weiter ansteigt, andererseits damit, dass es für viele Bergbauern und -bäuerinnen unrentabel geworden sei, entlegene, mit Maschinen nur schwer zugängliche, steile Hanglagen zu bewirtschaften. Weil die von Bauern geschaffene Kulturlandschaft nicht nur einen geografischen Raum darstellt, sondern auch als Projektionsfläche für Heimatgefühle und regionale Identität dient, ist der Prozess der Verwaldung emotional stark aufgeladen und wurde regelmäßig in den Interviews erwähnt. Gesellschaftliche Faktoren, die Deutungsmuster und Handlungspraktiken in Bezug auf den Klimawandel prägen Wo sich der Klimawandel als Universaldiskurs (nicht) durchsetzt und welche lokalen Deutungsmuster und Handlungspraktiken daraus (nicht) resultieren, hängt von ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren ab, die den Klimawandeldiskurs überlagern. Diese Faktoren beeinflussen Aspekte der gesellschaftlichen Vulnerabilität, Anpassungsfähigkeit und auch der Resilienz gegenüber schwer kalkulierbaren Umweltveränderungen (Reichel und Frömming 2014: 50-51; ANiK 2015: 71-72 ff.). •
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Milieu, Lebensweltzugehörigkeit, Medienrezeption: Von entscheidendem Einflussfaktor auf die Art und Weise der Deutung des Klimawandels und nachfolgender Handlungspraktiken ist das spezifische Milieu bzw. die Lebenswelt der jeweiligen Person: Verfügt sie über ein Wertesystem, das gegenüber „neuen“ Umweltdiskursen und Nachhaltigkeitsfragen aufgeschlossen ist und ein Umdenken der bisherigen Wirtschaftsform zulässt oder werden relevante Themen („Klimawandel“, „Umweltschutz“, „Die Grünen“) prinzipiell abgeblockt und undifferenziert miteinander vermengt? Im Milieukontext steht auch die Medienrezeption. Die Art der rezipierten Medien (Boulevardpresse, regionale oder überregionale Wochenzeitungen, Internet, Radio etc.) entscheidet maßgeblich über die Haltung gegenüber dem Klimawandel und seinen Impaktfaktoren. Bei Personen, die vorwiegend die sogenannte Boulevardpresse rezipieren, ist eine Art Sättigung festzustellen; bei Personen, die reflektiertere Informationsmedien nutzen, konnte eine Sensibilisierung gegenüber dem Themenkomplex „Klimawandel/Naturgefahren“ ausgemacht werden. Die Medien tragen insofern eine große Verantwortung, da sie den Prozess des Wandels gesellschaftlicher Praktiken im Umgang mit Natur und Klima stark beeinflussen (vgl. auch Schneider und Nocke 2014: 12-18). Informelle gesellschaftliche Regeln: Informelle Regeln der Gemeinschaft (in Bezug auf Wirtschaftsweise, Traditionen/Brauchtum, religiöse Vorstellun-
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| Mensch – Umwelt – Klimawandel gen, soziale/familiäre Verpflichtungen) haben ebenfalls einen starken Einfluss auf die Art und Weise der Deutung des Klimawandels und den zugehörigen Handlungspraktiken. Diese Regeln üben einen sozialen Druck hinsichtlich der Handlungspraktiken aus, Umdenken und Anpassungsfähigkeit verhindernd oder ermöglichend. Ob Personen sich kritisch zu Umweltfragen äußern oder nicht, hängt in kleinen Gemeinschaften vom Grad der Integration in die Gemeinschaft, vom Ausmaß der sozialen Kontrolle und den Machtverhältnissen, einschließlich der Geschlechterrollen, ab. Äußerungen, die die bisherige Wirtschaftsform oder sonstige „allgemeingültige“ Ansichten und Wertvorstellungen infrage stellen, werden aus Angst vor Konflikten oder aufgrund der Machtungleichgewichte und Abhängigkeitsverhältnisse nur selten artikuliert. Soziale Aushandlungsprozesse, beeinflusst durch Aspekte von Macht, Autorität und Legitimität bestimmen die strukturierenden Referenzrahmen, wie Umweltwandel wahrgenommen wird, welche Bedeutung Menschen dieser Wahrnehmung geben und welche Verhaltensweisen schließlich daraus resultieren. Kenntnisstand des tradierten lokalen Umweltwissens: Ob Personen über ein tradiertes lokales Umweltwissen verfügen, und wie dieses Wissen tradiert und dokumentiert wird, ist ein wichtiger Einflussfaktor auf die Art und Weise der Deutung des Klimawandels und der nachfolgenden Handlungspraktiken. In der Regel besitzen ältere Personen, deren Familien schon seit mehreren Generationen einen Raum bewirtschaften, eine sehr differenzierte Naturwahrnehmung und nehmen Umweltveränderungen sensibler war. So wurde von ihnen in allen Forschungsregionen eine Zunahme der Magnitude und Frequenz von Extremwetterlagen, Naturgefahren und Veränderungen der regionalen Flora und Fauna beobachtet und ein kausaler Zusammenhang zwischen Extremereignissen und globaler Erwärmung hergestellt. Anpassungsdruck: Der Grad der Vulnerabilität der Bevölkerung gegenüber Naturgefahren im Alpenraum, das heißt, welcher Druck auf lokaler Ebene existiert, sich an Umweltveränderungen anzupassen, ist ein weiterer Einflussfaktor auf die Art und Weise der Deutung des Klimawandels und seiner nachfolgenden Handlungspraktiken. Dieser Aspekt ist auch bedeutsam in Bezug auf Fragestellungen der Resilienz und Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften (vgl. Leggewie und Welzer 2010). Die ethnologische Forschung hat, wie bereits in Kapitel 1.4.1 „Deutungsmuster und Handlungspraktiken“ dargestellt, ergeben, dass durch die Lawinenverbauung in Pontresina, die die Eintrittswahrscheinlichkeit katastrophaler Ereignisse wesentlich verringert hat, gleichzeitig die bisher regelmäßig stattfindenden Lawinenabgänge sowie die Einflüsse des Klimawandels in der Region aus der die Lebenswirklich-
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keit prägenden Wahrnehmung verdrängt werden – man wiegt sich in Sicherheit –, wodurch jedoch langfristig die Vulnerabilität der Bevölkerung ansteigt. Das heißt nicht, dass Lawinenverbauungen ihre Notwendigkeit abgesprochen werden soll, sondern die Forschung weist an dieser Stelle auf ein, das Klimabewusstsein der Bevölkerung verringerndes, prägendes Moment technischer Schutzmaßnahmen hin. Deutungsmuster und Handlungspraktiken des Klimawandels folgen zumeist den unterschiedlichen Interessen der lokalen Akteure und werden insbesondere als beeinflussender Faktor der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen. Welche Priorität die Interviewten dem Klimawandel einräumten, hing davon ab, welche anderen Prozesse als dringliches Problem gesehen werden. Die lokale Komplexität des Klimawandels wird auf die für das eigene Handlungsfeld als relevant erachteten Aspekte reduziert. Ein Umdenken der eigenen Lebens- und Wirtschaftsweise findet statt, wenn Umweltveränderungen sich nicht in die bestehenden Referenzrahmen integrieren lassen und dessen Veränderung oder Neu-Konstituierung verlangen (Reichel und Frömming 2014: 50-51; ANiK 2015: 71 ff.). 2.4.5 Religiös geprägte Deutungsmuster „Religion is a highly promising analytic lens and an exemplary cultural microcosm for studying the manifold human modes of perception, action and thought (worldviews, moral systems, practices, aesthetics, ethics, lifestyles, hopes and fears) in relation to global change.“ (Gerten und Bergmann 2012: 4-5)
Das Zitat von Dieter Gerten und Sigurd Bergmann macht deutlich, welchen Stellenwert religiöse Konzepte47 bei der Erforschung von Deutungsmustern und Handlungspraktiken einnehmen. Religiöse und spirituelle Deutungsmuster beeinflussen in Bezug auf Klimaveränderungen und Naturgefahren beides, Strukturen der Vulnerabilität und der Resilienz. So hilft der Glaube an eine höhere Macht, katastrophale Ereignisse zu verarbeiten, das Unfassbare fassbar zu machen. Darüber hinaus können religiöse Erklärungsmuster dazu beitragen, nicht nur lokale, sondern auch Sinnzusammenhänge des eigenen Handelns mit globalen Umweltveränderungen zu ergründen, beispielsweise durch die Idee der individuellen, moralischen Verantwortung gegenüber Gottes Schöpfung. Ein promi-
47 „Religion wird gemäß Clifford Geertz in diesem Zusammenhang als ,kulturelles System‘ verstanden, das heißt, als eine der verschiedenen symbolischen Formen der Verarbeitung von Erfahrung.“ (Reichel 2008: 2). Zur genaueren Unterscheidung von Kultur und Religion vgl. Geertz 1983a; b.
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nentes christliches Beispiel ist die Enzyklika Laudato Si’ von Papst Franziskus (2015) über die Sorge für das ,Gemeinsame Haus‘, die mahnend globale Probleme, wie Umweltzerstörung, Klimawandel und soziale Ungleichheit, behandeln. Letzterer Text bezieht sich unter anderem auf einen Hymnus des Heiligen Franziskus von Assisi aus dem Jahre 1226, der vor der Zeit der Aufklärung die Konzeption einer beseelten Natur vertrat, wobei den unterschiedlichen Elementen familiäre Eigenschaften zugeschrieben wurden: „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: von dir, Höchster, ein Sinnbild. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne; am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser, gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer, durch das du die Nacht erleuchtest; und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.“ [Meine Hervorhebung] Franz von Assisi, 1226 (nach Papst Franziscus 2015: 79-80)
Im Safiental sind die Kirchen protestantisch-reformiert, bereits 1523 folgte die erste Talbewohnerschaft den Ideen Luthers. Ein Beispiel, wie sie auch heute mit dieser „lebendigen“ Natur und ihren Gefahren umgeht, ist die regelmäßige kirchliche Gedenkveranstaltung für das katastrophale Lawinenunglück im Lawinenwinter 1951, bei dem ein Weiler in Neukirch verschüttet wurde und fünf Menschen ums Leben kamen. Um sich daran zu erinnern, hängt in der Kirche eine Gedenktafel. Religiöse Vorstellungen und Praktiken tragen zur Bewältigung einer Katastrophe bei und schaffen so Resilienz. Ein Angehöriger, der damals viele Mitglieder seiner Familie verloren hatte, berichtet: „Das Ereignis von Neukirch, das ist im Bewusstsein vieler Menschen hier. Also, das ist natürlich ein Schlüsselereignis für dieses Tal und speziell für diese Geländekammer. In Neukirch waren früher fünf Bauernbetriebe, und heute ist niemand mehr hier. Also ganzjährig, der hier wohnt und Landwirtschaft betreibt. Und 1951, dieses Ereignis, jeder, der die Gelegenheit hatte zum Weggehen, ging weg. [...] Die, die Gelegenheit hatten, um an einem anderen Ort einen neuen Hof aufzubauen, die gingen weg. Es war auch so, dass die älteren Bauern den jüngeren nahelegten, hier nicht weiter Landwirtschaft zu betreiben,
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sondern in einem anderen Ort in einem anderen Beruf ein Auskommen zu finden. [...] Und heute ist das alles Pachtland, das von Landwirten aus Tenna bewirtschaftet wird. Das war die damalige Optik, und ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch war, aber es war nicht nur richtig, aber es war auch nicht falsch.“ (Daniel Buchli, Förster, Neukirch/Safiental, Juni 2012)
Der religiöse Kontext, der Toten zu gedenken, schafft nicht nur einen sozialen Rahmen, um öffentlich zu trauern und das Ereignis in Erinnerung zu rufen, es stattet diese Katastrophe auch mit einem höheren Sinn aus und bietet eine lebensweltliche Orientierung in Krisenzeiten. Zwar besiedelten die ersten Menschen das Safiental aus ökonomischem Druck und mit der Aussicht, relativ frei wirtschaften zu können, aber es ist anzunehmen, dass auch religiöse Deutungsmuster von Naturgefahren ein Grund waren, warum die ersten Siedler und Siedlerinnen im Safiental die Motivation und Energie hatten, trotz extrem großer Lawinengefahr („Laubala Gfoor“), regelmäßiger Murgänge, Steinschlägen und einem rauen Klima sich in diesem Tal anzusiedeln und zu beginnen, es in eine Kulturlandschaft und einen landwirtschaftlichen Gunstraum48 umzuwandeln. Auch im nur wenige Kilometer Luftlinie entfernten Tiroler Touristenort Galtür, wo ebenfalls im Rahmen dieser Studie mehrwöchige Feldforschung durchgeführt wurde, ist ein ähnliches sozialkonstruktivistisches Muster zu erkennen. Im Winter 1999 ereignete sich dort aufgrund einer extremen Schnee- und Wetterlage ein schweres Lawinenunglück, bei dem 38 Personen ums Leben kamen. Das Ereignis war wie im Safiental 1951 ein Schock für die Galtürer Dorfgemeinschaft. Anschließend wurde im Ort ein modernes Museum gebaut, mit einem Gedenkraum, der allerdings von der Dorfbevölkerung als Ort der Trauer nicht angenommen wurde. Auch hier gibt es eine alljährliche Gedenkveranstaltung der Katholischen Kirche, um das Ereignis zu verarbeiten. Dies deckt sich mit den Ergebnissen des Wiener Katastrophenforschers Bernhard Rieken, der in Galtür über individuelle und gemeinschaftliche sozialpsychologische Bewältigungskapazitäten forschte (vgl. Rieken 1999).
48 Gunsträume sind Räume mit guten Bedingungen, um Landwirtschaft zu betreiben, z. B. mit einem guten Klima oder einem fruchtbaren Boden.
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Allerdings können religiöse Vorstellungen auch das Gegenteil bewirken und in Kombination mit starren Denkstrukturen, Machtinteressen und sozialem Druck eine gesellschaftliche Barriere für Umweltschutz und Anpassungskapazitäten an Umweltveränderungen sein. Dies ist der Fall, wenn nicht mehr vielfältige Erklärungsmuster gesucht und abgewogen werden, um Kausalzusammenhänge zu ergründen, oder wenn der kritische Bezug von eigenem Handeln und Verantwortung verloren geht, weil eine religiös-fatalistische Sichtweise den Menschen keinen Einfluss auf von Gott gegebene Umweltveränderungen und Katastrophen zugesteht. In allen meinen Forschungsregionen im deutschsprachigen Alpenraum wurde vereinzelt geäußert, dass der öffentliche Diskurs über den Klimawandel eine „Ersatzreligion“ in einer zunehmend atheistischen Welt darstelle, die dem wahren Schöpfungsauftrag: „Macht Euch die Erde untertan“ (Genesis 1, 28) – das „Dominium Terrae“ („Herrschaft über das Land“) entgegensteht. Diese Position ist insbesondere bei evangelikalen Kirchen zu finden und hat großen Einfluss auf politische Aushandlungsprozesse. Natur wird als ein Objekt, ein Vorratsspeicher natürlicher Ressourcen angesehen; ihre Ausbeutung und Kontrolle durch den Menschen ist nicht nur ein legitimes Mittel der Entwicklung, sondern sogar göttlicher Auftrag. Verbunden mit dogmatischen sozialen Regeln verhindert diese eindimensionale Interpretation, die Naturbeherrschung ohne Verantwortung beinhaltet, ein Umdenken gegenüber den Problemen der natürlichen Umwelt (vgl. Kearns 2013). 2.4.6 Mythen: spirituelle Ermächtigung der Natur Anhand von Mythen lassen sich christliche und vorchristliche Deutungsmuster von Natur und Naturgefahren sowie Handlungsrichtlinien im Umgang mit Risiken nachvollziehen (vgl. Frömming und Reichel 2011; Frömming 2006). Ein Beispiel im Safiental ist der Mythos der sogenannten Teufelssteine, der davon handelt, wie der Teufel die Kirche von Thalkirch mit großen Felsblöcken zerstören wollte. An der Stelle, wo sich ein Bergsturz ereignet hatte, befindet sich seit Jahrhunderten ein Bannwald. „Auf der Alb Tscheurig muss vor vielen Jahren ein Bergsturz stattgefunden haben. Da erzählt die Sage, dass die Thalkircher vor mehr als 600 Jahren eine Kirche gebaut haben und das hat den Teufel derart erbost, dass er beschlossen hat, diese Kirche zu zerstören. Er ging hinaus zum Günner Horn und hat dort einen ganzen Berg voller Steine gesammelt, die er dann auf seinem Buckel hinein trug über die Camana Alp, und wo er auf den Tscheurig kam, da ist ihm die Bürde [Burdi] auseinandergefallen und die Steine sind hin-
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untergekollert bis auf die Bächer Wiesen.“ (Christian Messmer, eh. Schreiner, Tenna/Safiental, August 2012)
Der Sozial- und Kulturanthropologin Urte Undine Frömming zufolge haben derartige Mythen eine moralische, soziale und kathartische Funktion. Naturgefahren mit katastrophalen Auswirkungen werden als Warnung oder Strafe Gottes und übernatürlicher Wesen für falsches Verhalten angesehen. Diese Vorstellungen basieren auf einem Naturverständnis, das kulturalistisch anstatt naturalistisch und als „objektiv gegeben“ aufgefasst wurde. Natur wird als Parallelwelt zur menschlichen konstruiert und manifestiert sich in der Projektion von Wirkmächten, „[...] die von ihr ausgehen und mit denen die Menschen in responsiver Beziehung stehen“ (Frömming 2006: 27 ff. nach Reichel 2008: 99). Am Beispiel der Teufelssteine von Thalkirch wird deutlich, dass Mythen auch dazu beitragen können, Umweltwissen über Naturgefahren oder Extremereignisse zu überliefern. Viele der Mythen im Safiental haben einen christlichreligiösen Hintergrund und das in ihnen verankerte Wissen galt ursprünglich als heilig. Um uns dieser Frage zu nähern, definieren wir zunächst den Begriff der Heiligkeit für unsere Zwecke genauer. Ich orientiere mich an einer Erklärung des Schweizer Historikers Jon Mathieu, der das Spirituelle in Bergregionen und die dynamische Veränderungsmöglichkeit dessen, was als heilig gilt, beschreibt: „Der Begriff der Heiligkeit setzt erstens eine Abgrenzung vom Profanen voraus und entsprechende Verbote und Tabus gegen die Grenzüberschreitung. Der heilige Bereich ist zweitens hierarchisch übergeordnet: Er verkörpert die gesellschaftliche Macht und zieht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. In welcher Beziehung das Heilige zu einer Religion und Kirche steht, ist dagegen ziemlich offen. Offen ist auch die Form seiner Äußerung in Repräsentation und Ritualen, Bedeutung und Gefühlen. Diese variablen kontextspezifischen Aspekte machen deutlich, dass das Heilige in jeder Phase neu konfiguriert wird, auch wenn die Akteure von einer Zeitlosigkeit überzeugt sind.“ (Mathieu 2011: 180181)
Wie jedoch meine früheren Forschungen in Indonesien und der Mongolei gezeigt haben, verändern sich „heilige“ Bereiche in den gesellschaftlichen Vorstellungen langsamer als profane. Auch der Sozial- und Kulturanthropologe KarlHeinz Kohl weist darauf hin, dass religiöse Sanktionierung eine effektive Form der Wissensspeicherung und -weitergabe darstellt (Kohl 2000: 73) und sich das Wort „heilig“ von der vorchristlichen Bedeutung von „heilig“ bzw. „holy“ (engl. „ganz“ oder „unversehrt“) ableitet („that must be preserved whole or intact, that cannot be transgressed or violated“), also einem ganzheitlichen Ansatz ent-
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spricht, der gute Voraussetzungen bietet, Wissen im Umgang mit Natur von Generation zu Generation weiterzugeben. Wo der Bergsturz stattfand und dem Mythos zufolge der Teufel seine Steine verloren hat, befinden sich heute immer noch ein Bannwald und ein Jagdschutzgebiet, das nur eingeschränkt betreten werden darf. Auch wenn dieses Waldgebiet heute natürlich nicht mehr aufgrund der Vorstellung von übernatürlichen Kräften geschützt ist, so wurde zumindest mit dem Mythos der Teufelssteine a) Wissen über eine potentielle Naturgefahr überliefert und b) das Waldareal aus Ehrfurcht vor übernatürlichen Kräften nur sehr eingeschränkt anthropogen genutzt, sodass sich ein sehr artenreicher Wald mit heterogener Baumartenstruktur entwickeln konnte, der den Weiler Thalkirch wirksam vor Lawinen und Murgängen schützt (Reichel und Frömming 2014: 48-49). Abb. 40: (oben links): Kapelle von Thalkirch; (oben rechts): Bannwald von Thalkirch im Winter; (unten links): Stein, den der Teufel verloren hat, als er die Kirche von Thalkirch zerstören wollte; (unten rechts): Im Bannwald bei Thalkirch
Quelle: Ó Reichel, 2012
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2.4.7 Orientierungswissen und Verfügungswissen „Natur erscheint in der kulturwissenschaftlichen Betrachtung nicht als objektiv gegebene Größe, sondern als soziokulturelles Konstrukt. Die in Bildern und Vorstellungswelten konstruierte Natur, die v. a. anhand jeweils kulturspezifischer Mensch-Natur-Beziehungen figuriert wird, ist Bestandteil der in Diskursen und Machtbeziehungen organisierten Kultur, die als Gewebe von Symbol- und Bedeutungsstrukturen gefasst werden kann.“ (Jakubowski-Thiessen/Reinkemeier, Josef Bordat 2013: 1)
Mit dieser Äußerung weisen Jakubowski-Thiessen, Reinkemeier und Bordat auf einen sehr wichtigen Aspekt meiner Untersuchungen hin, nämlich, dass das Verständnis von „Natur“ in einem jeweils anderen soziokulturellen und/oder historischen Kontext mit gänzlich anderen Bedeutungen belegt werden kann. Um es mit den Worten der Sozial- und Kulturanthropologin Ute Luig auszudrücken, wäre es in diesem Sinne vielleicht besser, von „Naturen“ anstelle von der Natur zu sprechen (vgl. Luig und Schultz 2002: 1-2). Zwar wurde in dieser Studie auch mit Methoden und Theoriekonzepten der sozial-ökologischen Systemanalyse gearbeitet, weil mit dieser komplexe Mensch-Natur-Zusammenhänge holistisch analysiert werden können und sich Anknüpfungspunkte an andere Wissenschaftsfelder anbieten, gleichzeitig werden jedoch in einer umweltanthropologisch orientierten Forschung, wie der vorliegenden, Begriffe wie „Natur“ und „Ökosysteme“ nicht als global und universell gültige Konstanten aufgefasst, sondern kritisch hinterfragt, welche historische Entwicklung und soziokulturelle Einbettung dazu geführt haben, dass sich ein bestimmtes Deutungsmuster von „Natur“ durchsetzen konnte. In dieser Hinsicht sind, Frömming zufolge, Mythen, wie die der Teufelssteine von Thalkirch, ein Zeichen dafür, dass bis zur Zeit der Aufklärung „Natur“ nicht entsprechend moderner Begriffssysteme als Objekt wahrgenommen wurde und keine dichotome Trennung zwischen Natur und Kultur im heutigen Sinne existierte, sondern vielmehr eine „eigentümliche Konfusion“ existierte (vgl. Habermas 1981: 79). Die Interaktion mit Natur war zentraler gesellschaftlicher Orientierungspunkt, der Werte, Normen und Identitäten prägte (vgl. Frömming 2006: 208-213, siehe auch Frömming und Reichel 2011: 220228). Dementsprechend wurden Naturgefahren nicht nur als potentielles Risiko betrachtet, sondern hatten eine tiefe kulturelle Bedeutung. Dies traf auch auf Gefahrengebiete zu, die für Menschen bedrohlich wirkten und sich nicht in eine agrarwirtschaftlich nutzbare Kulturlandschaft transformieren ließen. Frömming weist mit Bezug auf Jürgen Mittelstrass darauf hin, dass mit der Aufklärung ein Wandlungsprozess einsetzte, bei dem naturwissenschaftliches „Verfügungswissen über Natur“ gegenüber spirituell-mythologischem „Orientie-
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rungswissen in der Natur“ an Deutungshoheit gewann und sich schließlich durchsetzte (vgl. dies. 2008: 71-73). Auch wenn mythologische Erklärungsmuster von wissenschaftlichen Erklärungsmustern abgelöst wurden (ANiK 2015: 69), ist der Mythos der Teufelssteine im Bewusstsein der Talbevölkerung präsent und wird weiterhin von einer Generation zur nächsten überliefert. Diese Überlieferung findet sowohl durch Erzählungen, als auch durch diverse Medien statt. Dazu gehören beispielsweise die Safientaler Sagen-App, mit der man an diversen „sagenhaften“ Orten Multimediainformationen über das Smartphone abrufen kann, sowie Schultheateraufführungen, bei denen Kinder der Safientaler Grundschule den Mythos nachspielen. Heute noch wird im Safiental Natur nicht nur als funktionales Wirtschaftsgut angesehen, sondern es wird ihr auch ein ästhetischeudämonistischer Charakter zugeschrieben, der identitätsstiftende Assoziationen, wie z.B. Heimat auslöst. Allerdings basiert diese Naturkonzeption trotzdem auf einem weitgehend naturalistischen Naturverständnis, das mit einem kulturhistorischen Naturverständnis nicht vergleichbar ist, da es auf ganz anderen Kosmologien basiert, die wiederum individuelle Wahrnehmungsmuster und Referenzrahmen prägen. Mittelstrass weist darauf hin, dass im Zuge der Aufklärung Natur auf der Basis von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen „technokratisch“ in Besitz genommen wurde und gleichzeitig Natur als moralische „Orientierungsinstanz“ für menschliches Verhalten keine Rolle mehr spielte (Mittelstrass 1981). Natur und Kultur in zwei getrennte Sphären zu unterteilen, sei ein wesentlicher Bestandteil der soziokulturellen Veränderungsprozesse innerhalb der europäischen Moderne (vgl. u. a. Luig und Schultz 2002; Gerten und Bergmann 2012; Groh und Groh 1996; Frömming 2008). Diese fortschreitende Divergenz zwischen Kultur und Natur und damit der Verlust von Orientierungswissen ist nach Mittelstrass einer der Gründe, warum Natur zunehmend als amoralische Verfügungsmasse angesehen werden konnte, deren natürliche Ressourcen schonungslos und unkritisch ausgebeutet werden dürfen (Mittelstrass 1981; Habermas 1981). Jürgen Habermas bezeichnet in Anlehnung an Max Weber diesen Prozess der Entmythologisierung und Rationalisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses, als „Entzauberung der Welt“, bei der eine „Desozialisierung“ der Natur“ stattfindet (vgl. ANiK 2015: 92; Habermas 1981: 80; Wehling 2009: 2-3). Ein Prozess, der, Jon Mathieu zufolge, nicht nur durch ein aufgeklärtes Technokratiedenken, sondern auch durch das dem Heidnischen feindlich gestimmte Christentum vorangetrieben wurde. Er weist darauf hin, dass die Romantik vermutlich ein Auslöser für eine weit verbreitete sakrale Aufwertung von Berggipfeln im Namen des Christentums war und macht dies daran fest, dass vorher kein Gipfel in den Alpen einen Heiligennamen trug; erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wur-
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den in den Alpen Gipfelkreuze errichtet. Es bleibt jedoch fraglich, ob es sich hierbei um eine spirituelle „Er-“ oder „Be-“mächtigung von Bergen handelt, denn der Prozess der sakralen Aufwertung fand im Namen einer monotheistischen Religion statt, dem Christentum. Der vorher weit verbreitete Glaube an wilde Männlis, weiße Gletscherfrauen etc., die an außergewöhnlichen Orten in der Natur leben oder besser gesagt diese Orte „beleben“, wurde zum größten Teil verdrängt und teilweise assimiliert. Um es sehr bildhaft auszudrücken, in eine christliche Kirche gesperrt, einem von Menschen erbauten sakralen Gebäude, also dem Gegenteil eines sakralen Ortes in der Natur (vgl. Frömming 2008: 68).
2.5 E XKURS : N ATURGEFAHRENWAHRNEHMUNG DER T ORAJA M ASUPU , S ÜD -S ULAWESI /I NDONESIEN Als Gegenbeispiel zum Safiental möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Exkurs über Naturwahrnehmungen und Naturkonzeptionen der Toraja Masupu vorstellen. Die Toraja Masupu sind ein Bergvolk, das im zentralen Hochland der indonesischen Insel Sulawesi im Kapupaten (Provinz) Mamasa lebt. Ich konzentriere mich hierbei auf die Dorfgemeinde („Desa“) Masupu und dem dazugehörigen Weiler („Dukuh“) Kalawa am Oberlauf des Flusses Masupu. Die Toraja Masupu sind Bauern und Bäuerinnen, die auf ca. 700 m ü. M. Reis, Süßkartoffeln, Nelken, Kaffee, Gemüse und Kakao anbauen. Außerdem züchten sie für Bestattungs-49 und Heiratszeremonien Schweine und Wasserbüffel, um sie zu verschenken und als Opfergabe zu schlachten. Während einer einmonatigen Feldforschung interviewte ich 32 Personen zu Wetterveränderungen, Naturgefahren, Chancen und Problemen in der Landwirtschaft. Außerdem erstellte ich gemeinsam mit den interviewten Personen partizipative Karten zu spirituellen Orten.
49 Bei den Toraja können zwischen Tod und Beerdigung Jahre liegen. Die einzigartigen und sehr aufwendigen, sehr teuren mehrtägigen Bestattungsrituale sind ein Grund, warum in den letzten Jahrzehnten immer mehr Touristen in das Hochland der Toraja kommen, wobei in der Region um Masupu keinerlei touristische Infrastruktur existiert und der Reis- und Kaffeeanbau praktisch die einzige Einnahmequelle der Bauern und Bäuerinnen darstellt.
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Abb. 42: (oben): Das Dorf Masupu; (unten): Reisterassen
Quelle: Ó Reichel, 2011
Eine ausführliche Darstellung der komplexen Mensch-Natur-Beziehung der Toraja Masupu würde den Umfang der vorliegenden Studien sprengen und wird daher an dieser Stelle nicht angestrebt. Die folgende kurze Abhandlung reicht jedoch aus, um beispielhaft zu verdeutlichen, wie die Vorstellung einer belebten
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Natur den Toraja Masupu hilft, Naturgefahren präventiv zu begegnen und mental zu verarbeiten. Die Dorfbewohnerschaft beobachtet seit ca. 10-15 Jahren große Umweltveränderungen. Die Trockenzeit („Pealloan“) von Juni bis Oktober wird von Jahr zu Jahr heißer und es kommt häufiger zu Dürren („Apo’i“) und massiven Ernteverlusten. In der Monsunzeit („Palauran“) von November bis August treten seit etwa zehn Jahren vermehrt Schlammlawinen, Steinschläge und extreme Niederschläge auf. Außerdem setzte in den letzten Jahren die Monsunzeit immer später ein, sodass die Bauernregeln, die seit Jahrhunderten die Zeit der Aussaat und Ernte bestimmt haben, immer unpräziser werden. Ein weit verbreitetes Erklärungsmuster der Entwicklung ist, dass die Erde Fieber hat und krank ist, weil der Mensch durch seine zerstörerische Lebensweise die „Elemente“ Wasser, Luft und Erde vergiftet. Im Gegensatz zu den Walsern im Safiental erklären sich die Toraja aus dem Sadang-Tal diese Veränderungen vor allem mit spirituellen und religiösen Ursachen, die in eine komplexe Kosmologie, dem sogenannten Aluk (Weg) eingebettet sind. Zwar sind die meisten Christen,50 aber gleichzeitig, und ohne dass dies ein Widerspruch darstellen sollte, glauben sie in einer synkretisch51 geprägten Kosmologie an Götter und Geister, die in einer Ober- und einer Unterwelt sowie in einem Totenland leben. Dabei spielt der Glaube an Ahnengeister im Alltag die wichtigste Rolle. So müssen Verstorbene, abhängig von ihrem sozialen Status, in einem mehr oder weniger aufwendigen und kostspieligen Ritual bestattet werden, da sie ansonsten die Oberwelt nicht erreichen könnten und als vergessene Geister („Terlupakan hantu“) im Dorf herumspuken würden. Gemäß tradierter Konzepte ziehen die Toraja Masupu in den meisten Lebensbereichen keine Grenzen zwischen ihrem sozialen und natürlichen biophysikalischen Umfeld, sondern vermengen beide miteinander. Insbesondere ältere Toraja Masupu sind davon überzeugt, dass der Berggeist Rampu Naturgefahren und Extremereignisse auslöst, um menschliches Fehlverhalten zu bestrafen.
50 Bereits 1913 begann in der Region die Missionierungsarbeit der niederländischen Protestantischen Kirche. 51 Griechisch-lateinisch: Die Verschmelzung philosophischer Lehren, Kulte und Religionen verschiedenen Ursprungs zu einem neuen, in sich stimmigen Ganzen, wobei die Herkunft der verschiedenen Elemente, die im Zuge dieser Synthese eine Re-Interpretation erfahren, noch zu erkennen sein muss (Reichel 2008: 30).
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Abb. 43: (oben): Letzter Bestattungsort der Toten; (links unten): Schnitzerei des Berggeistes Rampu; (rechts unten): Priester beim Reisritual zum Gedenken der Ahnen
Quelle: Ó Reichel, 2011
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Die religiösen und spirituellen Vorstellungen von Bergen und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, existieren in vergleichbarer Form auch in vielen anderen Regionen der Erde (vgl. Devokata 2016: 158-198). Wie die Mythen um wilde Männlis und Teufelssteine aus der Zeit vor der Aufklärung belegen, trifft man sie auch im Safiental an. Heutzutage haben weltweit für schätzungsweise eine Milliarde Menschen Berge noch eine besondere religiöse und spirituelle Bedeutung (Bernbaum 1998 nach Millennium Ecosystem Assessment 2005: 705). Dementsprechend muss man sich in Erinnerung rufen, dass der Klimawandel, der vor allem in Bergregionen zu großen Umweltveränderungen führt, nicht nur regional sehr unterschiedliche Naturgefahren und Extremereignisse auslöst, sondern auch je nach soziokulturellen Kontexten verschieden wahrgenommen wird, bzw. es mit jeweils anderen Strategien der Prävention, Mitigation und Adaption darauf reagiert wird (vgl. Kreutzmann 2016: 116-36) Auch die Frage, wie vulnerabel und resilient Gesellschaften wie die Toraja Masupu gegenüber klimabedingten Umweltveränderungen sind, ist sehr komplex. Neben offensichtlichen Faktoren, wie der langfristige Zugang zu Bildung, die Möglichkeit politischer Teilhabe, medizinische Versorgung, eine intakte natürliche Umwelt, die ihnen sauberes Trinkwasser, Rohstoffe, Lebensmittel, Medizin etc. zur Verfügung stellt, sind auch soziokulturelle Strukturen maßgebend: Beispielsweise wie die Umweltveränderungen wahrgenommen werden, und ob ihnen diese Wahrnehmung hilft, auf sie zu reagieren, präventiv zu agieren oder die Veränderungen mental zu verarbeiten und zu bewältigen. Dabei spielen auch Mythen und religiöse Vorstellungen eine zentrale Rolle. Um es mit den Worten des Sozial und Kulturanthropologen Ranty Islam auszudrücken: „When a catastrophe has severed all connections between people and the world they used to inhabit, they rely even more on the connection tying them to a world beyond, where they seek and obtain meaning for their existence. This connection is what religion or myths provides, it is the last string of a shaky rope bridge reaching across the abyss that has suddenly opened up.“ (Islam 2012: 215)
Gerade in Zeiten des Klimawandels ist dies von herausragender Bedeutung, da lokale Deutungsmuster von Natur und daraus resultierende Handlungspraktiken (zunehmend) darüber entscheiden, wie resilient Personen, Akteursgruppen oder Gesellschaften gegenüber Naturgefahren und Umweltveränderungen sind und über welche Anpassungs- und Bewältigungskapazitäten sie verfügen. Wenngleich die durch den Klimawandel ausgelösten Umweltveränderungen in vielen Fällen das bisherige Erfahrungswissen über Wechselwirkungen von Gesellschaft und Natur übersteigen, bietet ihnen der Glaube an eine belebte Natur moralische
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Deutungsmuster, mit denen das Unfassbare gefasst werden kann, und konkrete überlieferte Handlungspraktiken, um sich vor destruktiven Umweltveränderung und Naturgefahren zu schützen und sie zu vermeiden. So erzeugt etwa die religiöse Vorstellung des Berggeistes Rampu, der über den Wald der Ahnengeister wacht, zwei Resilienz fördernde „Nebeneffekte“: 1. Naturgefahren erhalten religiöse Sinnhaftigkeit, also einen ,rationalen‘ Grund. Sie werden nicht nur wie in der naturwissenschaftlichen Sicht als Gefahrenquelle betrachtet, sondern in ihrer kulturellen Konstruktion als Gesten der Natur- und Ahnengeister und besitzen so eine gesellschaftlichkathartische Funktion. Weil sie sich durch moralisches Fehlverhalten erklären lassen, stellen Naturkatastrophen eine geringere mentale Herausforderung dar, als würden sie als sinnlos angesehen. Einerseits werden Naturgefahren nicht so schnell als Katastrophen gedeutet, andererseits können auch katastrophale Ereignisse schneller mental überwunden werden (vgl. Frömming 2006: 50; Islam 2012: 210-211). 2. Das religiöse Betretungstabu von Waldarealen zum Schutz der Ahnengeister hat zwei praktische Nebeneffekte für die Gefahrenprävention: 1) eine Region, in der Murgänge auftreten können, wird vom Menschen nicht betreten, 2) der Wald bleibt intakt, sodass er für das Dorf einen wirksamen Schutz gegen Murgänge darstellt. Dies sind Aspekte, die, insbesondere im Vergleich zu der Forschung in der Schweiz, Fragen aufwerfen. Selbstverständlich sind die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels in einem Land wie der Schweiz, mit einer perfekt ausgebauten öffentlichen Infrastruktur, einem sehr professionellen Katastrophenmanagement und ausgeprägten partizipativen politischen Strukturen wesentlich geringer, als in einer sehr armen Region von Indonesien, wo viele Menschen nur einen extrem schlechten Zugang zu formeller Schulbildung, medizinischer Versorgung und überregionalen Märkten etc. haben. Wie ich bereits im Theoriekapitel52 verdeutlicht habe, sind gesellschaftliche Strukturen, die dafür maßgebend sind, wie vulnerabel oder resilient eine Gesellschaft ist, mehrdimensional. Dementsprechend gibt es auch bei den Toraja Masupu soziokulturelle Aspekte des Zusammenlebens, wie beispielsweise ausgeprägte Reziprozitätznetzwerke oder mentale Verarbeitungsstrategien katastrophaler Ereignisse, die zur Resilienz beitragen. Auch wenn aufgepasst werden muss, nicht in die Falle
52 Siehe Kapitel 1.4 „Vulnerabilität, Resilienz und Adaption“.
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des othering53 zu tappen, ist es gerade in Zeiten eines globalen destruktiven Umweltwandels, der vor allem von der Konsumgesellschaft westlicher Industrieländer vorangetrieben wurde, wichtig, nach alternativen Naturvorstellungen und Naturkonzeptionen Ausschau zu halten, um den „eigenen“ Umgang mit „Natur“ neu zu reflektieren und zu überdenken. Auch für die Toraja Masupu ist das Fatale am Klimawandel die Unberechenbarkeit seiner sozial-ökologischen Wechselwirkungen. Es werden also nicht nur Extremereignisse und Naturgefahren verstärkt oder abgeschwächt, sondern soziale und kulturelle Strukturen, die zur gesellschaftlichen Resilienz beitragen, werden kurz- oder langfristig erodieren. Beispielsweise sind die in den letzten Jahren immer häufiger auftretenden Dürren und die damit verbundenen Ernte- und Einkommensverluste einer der Hauptgründe, dass junge Toraja Masupu die landwirtschaftliche Lebensweise ihrer Eltern nicht mehr fortführen wollen und anderweitig, meist in den nächstgelegenen Städten Mamasa oder Makassar eine Beschäftigung suchen. Zwar verdienen sie etwas Geld, mit dem sie ihre zurückgebliebenen Familien unterstützen können, gleichzeitig geht jedoch soziales und kulturelles Kapital verloren. Ältere Toraja Masupu berichten, dass viele Traditionen, Werte und landwirtschaftliches Erfahrungswissen nicht mehr von einer Generation zu nächsten weitergegeben werden. Außerdem gehen durch diesen Entsiedelungsprozess soziale und familiäre Netzwerke verloren, Reziprozitätsnetzwerke gegenseitiger Hilfe, die in Krisensituationen besonders wichtig sind, funktionieren folglich nicht mehr, alte Menschen werden schlechter durch die Familie betreut. In vielen Haushalten fehlen durch die Abwanderung die erforderlichen Arbeitskräfte für den sehr arbeitsintensiven Reisanbau. Die ökonomische Not hat auf diese Weise einen negativen Kreislauf ausgelöst. Aufgrund rückgehender Ernten und mangels alternativer Einkommensquelle fangen in den letzten Jahren immer mehr jüngere Bauern und Bäuerinnen an, Bäume zu fällen und das Holz an eine javanische Holzfirma zu verkaufen. „Um ihr Überleben zu sichern, [roden sie Wälder] und zerstören […] ihre Umwelt, womit sie aber gleichzeitig eine Zerstörung der zukünftigen Lebensgrundlage in Kauf nehmen, sodass Armut Umweltzerstörung erzeugt und Umweltzerstörung Armut“ (Reichel 2008: 106; Bohle 1992: 80; vgl. ebenso Voss und Hidajat 2002: 171). Es ist eine enorm konfliktgeladene Situation, die zum Glück noch nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führte, zwischen denjenigen, die sich an religiöse Tabuzonen halten, und denjenigen, die Wälder mit spiritueller Bedeutung für die Gemeinschaft roden. Die Menschen leben in einer „ökologischen Ar-
53 Die betonte und bewusste Unterscheidung und Distanzierung der eigenen Wir-Gruppe zu den als fremdartig angesehenen Gruppen (Elwert 1989).
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mutsfalle“ aus Zerstörung der natürlichen Umwelt und zunehmender sozialer Armut, die sich gegenseitig verstärken (Bohnet 1997: 246). Armut bedeutet hier, dass der Mensch nicht mehr in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse selbst zu befriedigen, aber auch fehlender Zugang zu produktiven Ressourcen, schlechtes Bildungs- und Gesundheitswesen, Schutzlosigkeit und Mangel an gesellschaftlichem und politischem Mitbestimmungsrecht. Obwohl Armut und Vulnerabilität nicht synonym sind, ist ein starker Zusammenhang nicht zu leugnen, denn Armut ist eine Hauptursache für Vulnerabilität gegenüber Katastrophen (u. a. WilchesChaux 1992: 33-35; Watts und Bohle 1993: 44; Bohle 1992: 79; Voss und Hidajat 2001: 171). Diese Entwicklung wirft neue moralische Fragen auf, da diejenigen, die den Klimawandel verursacht haben, am wenigsten mit dessen Konsequenzen zu kämpfen haben. Abb. 45: (links): Bäuerin, die davon berichtet, dass die Monsunzeit sich immer weiter nach hinten verschiebt und dementsprechend die Zeiten zur Aussaat und Ernte unberechenbarer werden; (rechts): Bretter, die von Bäumen aus dem Bannwald („Pangngala hutan“) oberhalb des Dorfes stammen
Quelle: Ó Reichel, 2011
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Der Klimawandel verfestigt gesellschaftliche Ungleichheiten aufgrund von Umweltproblemen über Generationen hinweg, da die Auswirkungen der jetzigen Treibhausgasemission erst in 20-30 Jahren spürbar sein werden. Insbesondere die Toraja Masupu gehören zu den Verlierergruppen, obwohl sie seit Jahrtausenden erstaunlich nachhaltig wirtschaften und ihr ökologischer Fußabdruck vermutlich einer der niedrigsten der Erde ist. Sie reihen sich ein in die Statistiken des UNEP, die besagen, dass indigene54 Gruppen zwar nur 5 % der Weltbevölkerung ausmachen, aber 22 % der Landoberfläche durch Gewohnheitsrecht besitzen oder nutzen, den Teil der Erde, in dem 80 % der weltweiten Biodiversität vorkommt (Klugman 2011: 54; Sobrevila 2008).
2.6 S OZIAL - ÖKOLOGISCHE H ERAUSFORDERUNGEN IM S AFIENTAL „Das Tal ist nicht mehr lebensfähig, wenn eine minimale Einwohnerzahl unterschritten wird. Dann lebt nix mehr. Dann gibt es keine Schule mehr, kein gar nichts mehr. Ich habe das Gefühl, die meisten Leute realisieren das gar nicht. Ich sehe das als Riesenproblem, ich habe einfach Angst.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Juli 2012)
Die Mechanisierung der Landwirtschaft und eine umfassende Flächenmelioration in den 1950er- und 1960er-Jahren hat im Safiental einen tiefgreifenden sozioökonomischen Wandel ausgelöst, der alle gesellschaftlichen Bereiche nachhaltig
54 Ich bin mir über die Problematik dieses Begriffs bewusst, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten mit einem Pauschalbegriff gefasst werden und beziehe mich hier auf die völkerrechtliche Definition der „United Nations Working Group on Indigenous Populations“ von 1982. Demnach sind „Indigene Gruppen“ die „Nachfahren der Völker, die das gegenwärtige Territorium eines Landes ganz oder teilweise bewohnten zur Zeit, als Menschen einer anderen Kultur oder ethnischen Herkunft aus anderen Teilen der Welt dort ankamen, und die ansässigen Völker unterwarfen und durch Eroberung, Besiedlung oder anderen Mitteln in eine untergeordnete oder koloniale Situation versetzten; die heute mehr in Übereinstimmung mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bräuchen und Traditionen leben als mit den Institutionen des Landes, von dem sie nun Teil sind, unter einer staatlichen Struktur, die hauptsächlich die nationalen, sozialen und kulturellen Merkmale anderer Bevölkerungssegmente verkörpert, die vorherrschend sind.“ (UN 1982; humanrights.ch 2016; übers. von CR).
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beeinflusst, von der Art zu wirtschaften, der Intensität der Konkurrenz mit Großbetrieben im Unterland, bis zu den soziokulturellen Strukturen, in denen die Bauernschaft lebt. Die Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion führte zu signifikanten Ertragssteigerungen, verschärfte auch die Konkurrenz zwischen den Bergbauernhöfen und beschleunigte damit den andauernden Entsiedelungsprozess. Seit dieser Umstrukturierung der Landwirtschaft geben immer mehr Bauern und Bäuerinnen aufgrund der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit ihre Höfe auf und es ist unklar, ob in den nächsten Jahrzehnten die Dienstleistungsinfrastruktur im Tal weiterhin in dem Maße wie heute aufrechterhalten werden kann und das Tal, insbesondere für Familien mit Kindern und ältere Menschen, bewohnbar bleibt. Eine Entwicklung, die in den Alpen generell stattfindet. Während gut erreichbare Haupttäler, wie z.B. das obere Rheintal immer dichter besiedelt werden, entvölkern sich entlegene Seitentäler, wie das Safiental, aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit zunehmend. Die vielschichtigen Gründe und Auswirkungen dieser Entwicklung werden im folgenden Kapitel genauer erläutert. Ein tiefergehendes Verständnis dieses gesellschaftlichen Strukturwandels ist wichtig, da der Klimawandel dessen negative Auswirkungen teilweise verstärkt und die gesellschaftliche Vulnerabilität und Resilienz gegenüber klimabedingten Umweltveränderungen maßgeblich beeinflusst. 2.6.1 Beschleunigter Strukturwandel und Melioration in der Landwirtschaft Die Entwicklung von berggängigen landwirtschaftlichen Maschinen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren brachte für die Berglandwirtschaft im Safiental eine enorme Arbeitserleichterung. Es konnte mit weniger körperlichem Arbeitsaufwand einfacher und mehr produziert werden. Auch eine groß angelegte Melioration,55 die etwa zum gleichen Zeitraum stattfand, war eine logische Maßnahme, um die Arbeitsproduktivität zu steigern. Die Landwirte tauschten ihre bis dahin meist kleinen, nicht zusammenhängenden und schachbrettartig56 über das Tal verteilten landwirtschaftlichen Parzellen untereinander, mit dem Ziel, dass jeder eine möglichst große zusammenhängende landwirtschaftliche Nutzfläche zu Verfügung hatte. Darüber hinaus wurden infolge der Meliorationen Straßen
55 Die Melioration ist eine „kulturtechnische Maßnahme zur Bodenverbesserung in Hinblick auf Ertragssteigerung und Flächengewinnung für die Agrarwirtschaft“ (Lexikon der Geowissenschaften 2000). 56 Eine Entwicklung, die durch das Erbrecht entstanden ist, da das Land von einer Generation zur nächsten unter den Erben immer weiter aufgeteilt wurde.
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und Drainagegräben ausgebaut, unebene Wiesenflächen begradigt und Wiesen intensiver mit Gülle gedüngt, um einen höheren Futterertrag zu erwirtschaften. Rückblickend werden diese Maßnahmen der Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktionsmethoden von vielen Bauern und Bäuerinnen als Fluch und Segen zugleich gesehen. Sie sind sich bewusst, dass die Berglandwirtschaft ohne sie im Tal keine Zukunft gehabt hätte, betonten aber auch in Interviews immer wieder die negativen ökologischen- und ökonomische Auswirkungen der neuen Produktionsmethoden. Dabei geht es ihnen nicht um eine Verklärung der Vergangenheit, sondern um den sorgevollen Blick in die Zukunft. Ob das Tal auch weiterhin in dem jetzigen Maße besiedelt werden kann, ist eine Frage, die alle Einwohner und Einwohnerinnen beschäftigt. Abb. 46: Wiese bei Tenna, die aufgrund ihrer hohen Biodiversität bewusst erst sehr spät im Sommer gemäht wird und nicht gedüngt wird. Eine Wirtschaftsweise, die seit dem Strukturwandel der Landwirtschaft immer weniger praktiziert wird
Quelle: Ó Reichel, 2012
Ältere Personen berichteten, dass in den letzten Jahrzehnten der ökonomische Druck, sich teure Maschinen anschaffen zu müssen, um konkurrenzfähig produzieren zu können, enorm angestiegen sei. Ihre Kinder müssten im Gegensatz zu
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ihnen dafür große Kredite aufnehmen und sich hoch verschulden. Außerdem habe die Vielfältigkeit der Landschaft und die Biodiversität von Pflanzen und Tieren besorgniserregend abgenommen. Infolge der Flächenmelioration in den Fünfziger- und Sechzigerjahren seien viele landwirtschaftliche Strukturelemente, wie beispielsweise Mauern oder Hecken entfernt worden. Die Kleinräumigkeit der Kulturlandschaft und die Variation57 ihrer Nutzungsintensität und Nutzungsvielfalt hätte sich dadurch rapide verringert, sodass ökologische Nischen, die der Grund für eine hohe Biodiversität waren, verloren gingen. Landwirtschaftliche Flächen würden nicht nur intensiver, sondern auch homogener genutzt. Viele berichteten, dass sich auf Wiesen und Weiden, die intensiv mit Gülle gedüngt werden, der Stickstoffgehalt der Böden so stark erhöht habe, dass viele Blumen und Wildkräuter nicht mehr wachsen würden und die Lebensgrundlage von Insekten und Vögeln verloren ging. Dies ist eine Entwicklung, die vermutlich nicht nur im Safiental, sondern in vielen anderen landwirtschaftlich genutzten Gebieten (nicht nur) im Alpenraum stattfindet. Des Weiteren beklagten viele Bauern und Bäuerinnen, dass seit einem beschleunigten Intensivierungsprozess landwirtschaftlicher Produktionsmethoden auch landwirtschaftliches Erfahrungswissen nicht mehr gefragt sei und mehr und mehr obsolet würde. „Früher musste man, bevor man sich zum Mähen traf, einen Punkt abmachen. Das war aber kein Problem, denn jeder Ort am Hang hatte einen ganz genauen Namen, eben diese Flurnamen. Heute spielt das insofern keine Rolle mehr, weil man mit den großen Maschinen auf die meisten Wiesen kommt bzw. nur die Flächen bewirtschaftet werden, die man mit ihnen befahren kann. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, wenn die Bauern auf diesen Maschinen fahren, dann verlieren sie irgendwie die Bodenhaftung, im wörtlichen Sinne. Sie sind nicht mehr zu Fuß unterwegs und dadurch wird ihnen der Boden und die einzelnen Punkte nicht mehr bewusst, das wird irgendwie unwichtig. Also, ich denke, man hat eine völlig andere Beziehung zur Natur, vielleicht auch weniger Liebe.“ (Anonym, Thalkirschen/Safiental, Oktober 2013)
Wie umfassend und tiefgreifend diese Entwicklungen im gesamten Schweizer Alpenraum sind, wird durch den Endbericht des Nationalen Schweizer Forschungsprogramms (NFP 48) „Landschaften und Lebensräume in den Alpen“ deutlich. Eine zentrale Aussage des Forschungsprojektes war, dass sich die landwirtschaftlichen Ressourcennutzungsstrategien und die Kulturlandschaft der Alpen in den letzten Jahrzehnten drastisch und umfassend verändert haben und
57 Diese Variationen entstehen beispielsweise durch Brachflächen verschiedenen Alters.
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die Dynamik dieser Veränderung seit 100 Jahren kontinuierlich zunimmt. Eine extreme Aussage, wenn man bedenkt, dass bereits in den letzten Jahrhunderten, land- und forstwirtschaftliche Ressourcennutzungsstrategien die Landschaft der Alpen maßgeblich prägten. Insbesondere Mitte/Anfang des 19. Jahrhunderts wurden wesentlich größere Gebiete in den Alpen anthropogen genutzt, als dies heute der Fall ist (vgl. Lehman und Steiger 2007; Stöcklin 2007: 2-5). Selbst sehr schwer zugängliche und für die Landwirtschaft aus heutiger Sicht extrem ungeeignete Flächen, die praktisch nicht gewinnbringend bewirtschaftet werden konnten, sogenannte Grenzertragsböden, wurden unter großer körperlicher Anstrengung gemäht, um genügend Heu als Winterfutter für das Vieh zu bekommen. Beim sogenannten Wildheuen mussten sich die Safientaler Bauern zum Teil abseilen, um selbst kleinste Wiesenflächen zu erreichen. Interessanterweise erreichte genau diese Zeit zwischen 1850-1880, als die Berglandwirtschaft flächenmäßig ihre größte Ausdehnung hatte, die Biodiversität in den Alpen einen Höchstwert.58 Dieser Blick in die Vergangenheit lohnt sich, weil er zeigt, dass es keine einfache Kausalität zwischen einer agrarwirtschaftlichen Nutzungsintensivierung und der Abnahme der Biodiversität und wichtiger Ökosystemleistungen gibt. Im Gegenteil, es wird deutlich, dass zumindest mit den damaligen landwirtschaftlichen Ressourcennutzungsstrategien, eine durch den Menschen geschaffene Kulturlandschaft im Gebirge eine wesentlich höhere Artenvielfalt59 besitzen kann als landwirtschaftlich ungenutzte Bereiche. Die entscheidenden Fragen einer intensiven Ressourcennutzung – damals wie heute – sind jedoch, ob erstens eine homogene oder an die natürlichen Gegebenheiten vielfältige und angepasste Nutzung stattfindet, und ob zweitens als Ausgleich für landwirtschaftliche Tätigkeiten auch Pflege und Stabilisierungsarbeiten der Kulturlandschaft vorgenommen werden (vgl. u. a. Stöcklin et al. 2007; Tasser et al. 2005; Bätzing 2015: 278; 108-111; Plieninger und Bieling 2017) Auch wenn ältere Personen in Interviews immer wieder stolz erwähnten, nach diesen beiden Prinzipien zu wirtschaften, so ist es unter den heutigen ökonomischen Verhältnissen immer schwieriger, diese anzuwenden. Vor allem die jüngere Generation richtet ihre Wirtschaftsweise immer weniger danach aus. Viele, die zum Zeitpunkt der Forschung erst kürzlich den elterlichen Hof übernommen hatten, argumentierten, dass ihre landwirtschaftlichen Nutzflächen zu klein seien
58 Dies ist eines der Ergebnisse folgender internationaler und interdisziplinärer Forschungsprojekte: dem UNESCO-Projekt „Man and Biosphere“, in dessen Rahmen unter anderem Forschungen in der Schweiz und Österreich durchgeführt wurden, sowie dem schweizerischen NFP-Projekt 48 (UNESCO 2017; NFP 48 2007). 59 Siehe auch oben 2.3 „Anpassung der Landnutzung an die natürliche Umwelt“.
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und sie nicht genügend produzieren könnten, wenn sie ihre Flächen heterogen bewirtschafteten. Außerdem fehle ihnen für Pflege und Stabilisierungsarbeiten schlichtweg die Arbeitskraft und die Zeit. Insbesondere ältere Personen bedauern, dass durch diese Entwicklung die vielfältige Kulturlandschaft, die sie selbst geschaffen haben, verloren geht. Diese Erkenntnis zur Bedeutung einer historischen Form der Berglandwirtschaft sollte jedoch nicht mit einer romantischen Verklärung derselben gleichgesetzt werden. Es ist ein normaler Prozess, dass sich Ressourcennutzungsstrategien ständig weiterentwickeln und effektiver werden, und dass sich dabei auch die bäuerliche Kulturlandschaft fortwährend verändert. Ein unbedingtes Festhalten an der Vorstellung eines Idealzustandes der bäuerlichen Kulturlandschaft, wie sie eventuell in Ansätzen vor 150 Jahren existiert hat, reflektiert in keiner Weise die Dynamik, mit der sich ein anthropogen genutzter Raum wie die Alpen aufgrund von wandelnden Ressourcennutzungsstrategien, Markteinflüssen und politischen Rahmenbedingungen ständig verändert. Problematisch an einem durch die Romantik beeinflussten und verklärten Blick auf die Vergangenheit ist, dass dadurch die Bedürfnisse der Menschen, die in den Alpen leben und wirtschaften, sowie ihre Zukunftsvorstellungen ignoriert werden. Die ständige Umgestaltung dieser Kulturlandschaft ist auch ein Resultat einer positiven Entwicklung, zumal noch bis in die 1930er-Jahre große Teile des ländlichen Raums in der Schweiz durch extreme Armut und Hunger geprägt waren. So gab es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein noch sogenannte Verdingkinder,60 die aus Waisenhäusern oder armen Familien stammten und von den Behörden abgeholt wurden, um auf den Höfen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet zu werden. Vor allem aus ökonomischen Druck und Hunger musste die Talbevölkerung mit enormen körperlichen Arbeitsaufwand Grenzertragsböden für die damaligen Verhältnisse so intensiv wie möglich nutzen. Heuen bedeutete wochenlange extrem schwere körperlicher Arbeit, die nur in Familienverbünden bewältigt werden konnte. Heutzutage sind jedoch die Bewohner und Bewohnerinnen des Safientals Teil einer Wohlstandsgesellschaft und ökonomisch wesentlich besser abgesichert als jemals zuvor. Die ist einer der Hauptgründe dafür, dass viele entlegene Flächen nicht genutzt werden und sich in den Grenzertragsböden zunehmend Wald
60 Bis weit ins 20. Jahrhundert gab es in der Schweiz schätzungsweise jedes Jahr 10 000 Kinder, die als Verdingbub oder Dienstmagd Zwangsarbeit auf Bauernhöfen leisten mussten. Viele Kinder erlitten große Gewalt. Sie wurden auf sogenannten „Verdingmärkten“ versteigert, oftmals misshandelt, sexuell missbraucht oder starben aufgrund der schweren körperlichen Arbeit und der Gewalt, die sie erfuhren (Guido Fluri Stiftung 2014).
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ausbreitet. Das bedeutet, dass in den letzten Jahren aufgrund eines veränderten Kosten-Nutzen-Verhältnisses die Landwirtschaft in diesen entlegenen Gebieten nicht mehr rentabel ist und eingestellt wird (Lehmann und Steiger 2007: 19-24). Dementsprechend sind viele Bauern und Bäuerinnen in ihrer Sichtweise gespalten. Sie sehen viele technische Errungenschaften als sehr positiv an und denken, dass eine Verklärung der Vergangenheit unangemessen ist. Auf der anderen Seite empfinden sie die gesellschaftlichen und ökologischen Veränderungsprozesse jedoch als zu schnell. Angeführt wird in diesem Zusammenhang, dass altbewährtes Umweltwissen plötzlich obsolet wird, wichtige Ökosystemleistungen verloren gehen, der wirtschaftliche Konkurrenzdruck mit Großbetrieben zunimmt und viele Betriebe aufgeben müssen und das Tal mehr und mehr entsiedelt wird. 2.6.2 Wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in der Berglandwirtschaft und Entsiedelung Warum Bauern und Bäuerinnen aus wirtschaftlichen Gründen ihre Höfe aufgeben müssen oder sich keine Nachfolge mehr für den Hof findet, hat viele Gründe, vor allem aber die Verschlechterung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit der Berglandwirtschaft gegenüber Großbetrieben im Flachland – insbesondere seit der Mechanisierung der Landwirtschaft. Eine Entwicklung, die am härtesten kleine Familienbetriebe mit wenig Land trifft. Diese wirtschaftliche Benachteiligung der Berglandwirtschaft im Safiental in Bezug auf ihre Produktionszahlen gegenüber landwirtschaftlichen Betrieben im Flachland hat drei wesentliche Ursachen. 1.) Ökonomische Ursachen Der Arbeitseinsatz ist in der Berglandschaft wesentlich höher als im Flachland, wobei gleichzeitig 30 bis 60 % geringere Erträge erwirtschaftet werden können. Das Relief des Tals ist aufgrund vieler Tobel sehr zerklüftet, hinzu kommen große Höhenunterschiede auf engsten Raum, sodass selbst kurze Wege lange dauern können und einen hohen Energieaufwand erfordern (Stöcklin et al. 2007a: 8). Dementsprechend können viele Gebiete im Tal gar nicht, oder wenn doch, nur mit Spezialmaschinen befahren werden. Außerdem müssen viele Arbeiten, wie z.B. das Abrechen von trockenem Gras an Steilhängen noch per Hand gemacht werden. Weiterhin müssen Bergbauernhöfe, um konkurrenzfähig zu bleiben, teure berggängige landwirtschaftliche Maschinen kaufen, obwohl diese nur wenige Monate im Jahr für im Regelfall sehr spezialisierte Einsätze genutzt werden können. Sie verfügen oftmals nicht über das notwenige Kapital, um teure land-
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wirtschaftliche Nutzfahrzeuge zu erwerben oder den Hof nach neuesten Standards auszubauen. „In Bezug auf den Strukturwandel in der Landwirtschaft, kann man nicht sagen, früher war alles besser, aber wie soll ich sagen, der Druck ist einfach größer, um im Berggebiet überleben zu können und es gibt einfach enorm viele Auflagen vom Bund. Mit unserem kleinen Stall [Gada] können wir praktisch nicht mehr existieren. Man muss aber groß sein, viel Land haben und neue Maschinen, sonst kann man nicht wirtschaften. 20 ha Land, das zu haben, ist fast zu wenig. Unsere Kinder können noch in der Landwirtschaft arbeiten, haben aber viel größere Schulden als wir. Die Maschinen sind extrem teuer geworden in den letzten Jahren. Da hat sich der Preis in den letzten 20 Jahren versechsfacht. Die Wagen sind stärker geworden, aber kosten jetzt 150 000 bis 200 000 CHF. Alleine ein einfacher motorisierter Handmäher kostet schon 30 000 CHF. Wenn ich denke, wie viele Stunden die im Jahr laufen, ist es schon teuer und man kann sich die Maschinen eigentlich nicht richtig teilen, weil die Tage zum Mähen so kurz sind, und alle die Maschinen gleichzeitig brauchen. Dann stehen sie wieder 200 Tage nur rum. Das ist extrem. Unser Nachbar hat sich wegen der ganzen Schulden das Leben genommen, das gibt es auch. Einfach überfordert, mit dem Boden, dem Stall und einem Haufen Schulden.“ (Fridolin Blummer, Bauer und Beobachter für das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Glaspass/Heinzenberg, Juni 2012)
2.) Ökologische Ursachen Die Vegetationszeit von Gräsern ist in hoch liegenden Gebieten wesentlich kürzer als im Flachland. Damit braucht ein Bergbauer theoretisch größere Flächen, um die gleiche Futtermenge erwirtschaften zu können. Da jedoch kleinen Familienbetrieben oftmals nur wenig Land zu Verfügung steht, müssen sie, um ausreichend Winterfutter zu erwirtschaften, alle die ihnen zu Verfügung stehenden Flächen intensiv bewirtschaften, was langfristig zu einer Bodendegredation und damit zur Zerstörung ihrer Lebensgrundlage führen kann. Außerdem müssen die Bauern und Bäuerinnen aufgrund einer sehr hohen Reliefenergie61 der Berghänge, an denen sich ihre Wiesen und Weiden befinden, zusätzlich zu ihrer landwirtschaftlichen Arbeit auch zeitaufwendige Reproduktions- und Pflegearbeiten durchführen (Sironi/Peter 1993: 138; Bätzing 2015: 153).
61 Als Reliefenergie bezeichnet man den Höhenunterschied zwischen höchstem und tiefstem Punkt eines Gebietes.
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3.) Soziokulturelle Ursachen Bergbauernhöfe können heutzutage nur noch mithilfe staatlicher Subventionen, wie z.B. Flächenbeiträgen oder Hangzulagen, wirtschaftlich überleben. Obwohl diese Subventionen vor allem Großbetrieben im Unterland zugutekommen und nicht kleinen Familienbetrieben wie im Safiental, wird in der Schweiz heftig darüber diskutiert, ob man die Berglandwirtschaft finanziell unterstützen sollte und wenn ja, mit welchen Beiträgen. In dieser Diskussion wird einerseits die Lebenswelt der Berglandwirtschaft romantisierend verklärt, andererseits aber auch ihre landwirtschaftliche Produktivität und wirtschaftliche Daseinsberechtigung fortwährend infrage gestellt. Viele Bauern und Bäuerinnen leiden unter dieser Rollenzuschreibung und fühlen sich fremdbestimmt, weshalb sie den Sinn ihrer eigenen Tätigkeit zunehmend hinterfragen. Generell ist die Feststellung, dass Bergbauern und -bäuerinnen im Vergleich zu den Betrieben im Flachland wirtschaftlich benachteiligt sind und das Tal mehr und mehr entsiedelt wird, nichts Neues. Im Safiental erfolgten die ersten Abwanderungswellen bereits im 17. und 18. Jahrhundert, als viele junge Männer aus wirtschaftlicher Not weggingen, um z.B. als Söldner im Französischen, Neapolitanischen oder Holländischen Militär zu dienen. Im 18. und 19. Jahrhundert zog es manche Safientaler in die Städte von Österreich-Ungarn, um als Bäcker zu arbeiten. Ab 1830 setzte dann eine große Abwanderungswelle in Richtung USA und Neuseeland ein, wo die Safientaler weiterhin Berglandwirtschaft betreiben konnten. Das Tal wurde also kontinuierlich durch eine in Schüben verlaufende Abwanderung entvölkert, neu ist jedoch die Geschwindigkeit des Entsiedelungsprozesses seit der Mechanisierung der Landwirtschaft. So wohnten im Jahr 1850 noch 1 798 Personen im Tal, im Jahr 2010 noch 948 und 2015 nur noch 905 (Stand: Dezember 2017) (BFS 2019a). Die Folge der Entsiedelung des Safientals ist, dass der Arbeitsmarkt und die Wirtschaftsstruktur immer einseitiger durch die Landwirtschaft bestimmt werden, es kaum noch Gewerbetreibende, Handwerker und Dienstleister gibt, die Talbevölkerung veraltet, soziale Mischung findet weniger statt und gerade junge Menschen, die durch Ausbildung und Studium innovative Ideen ins Tal bringen könnten, fehlen (Merker 2010). Zukunftsentwürfe von Jugendlichen Insbesondere junge Safientaler, studiert und gut ausgebildet, zieht es aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Perspektive zu besseren Berufsangeboten aus dem Tal in die größeren Städte. Selbst wenn sie im Tal bleiben wollen, kann im Regelfall nur ein Kind den elterlichen Betrieb übernehmen, da eine Aufteilung der Höfe unwirtschaftliche Kleinstbetriebe schaffen würde. Folgende Antworten
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wurden von jungen Safientalern am häufigsten gegeben, warum sie in der Landwirtschaft keine Perspektive sehen: 1) Die zu erwartende Erträge in der Berglandwirtschaft sind gering, verglichen mit dem hohen Arbeitsaufwand. 2) Die Abhängigkeit von Subventionszahlungen ist hoch, mit der Folge, dass viel Büroarbeit erledigt werden muss und strenge bürokratische Auflagen erfüllt werden müssen. 3) Der Beruf des Bergbauern/der Bergbäuerin ist durch eine enorme Unsicherheit geprägt. Die Förderpläne der Agrarpolitik, die auch die Höhe von Subventionszahlungen festlegen, können sich je nach politischer Legislaturperiode schnell verändern, aber trotz dieser Unberechenbarkeit können Bauernhöfe nur mit langfristiger Planung geführt werden, insbesondere weil junge Bauern und Bäuerinnen meist hohe Kredite für landwirtschaftliche Maschinen abzahlen müssen. 4) Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation ist es fraglich, wie lange die momentan noch existierende Infrastruktur aufrechterhalten werden kann. Schon jetzt stellen viele alltägliche Dinge, die im Familienleben anfallen, eine logistische Herausforderung dar, vor allem, wenn Kinder oder ältere Menschen versorgt werden müssen. Dazu gehören beispielsweise lange Fahrwege zum Einkaufen und zu Ärzten. Besonders kritisch ist die wirtschaftliche Situation im Safiental, da neben der Landwirtschaft nur sehr wenige alternative Einkommensquellen existieren, was auch dazu beiträgt, dass immer weniger Versorgungsdienstleistungen garantiert werden können. So ist beispielsweise der Tourismussektor im Vergleich zu anderen Regionen in den Schweizer Alpen nur schwach ausgeprägt. Hinzu kommt, dass die Entfernung zu größeren Städten außerhalb des Tals zu weit zum Pendeln ist. „Die Arbeitsplätze sind einfach sehr beschränkt, es gibt die Landwirtschaftsbetriebe, den Forstbetrieb, Lehrpersonen, einzelne, die im Lebensmittelladen arbeiten und in den Gasthäusern. Ein Postler und das Kraftwerk und so. Es funktioniert einfach wirtschaftlich nicht, Arbeitsplätze im grossen Stil in diesen Gebirgstälern anzusiedeln. Beispielsweise eine Autogarage, es hat dann einfach zu wenig Leute, die eine Wertschöpfung für diesen Betrieb generieren können. Vieles, was man ansiedeln wollte, ist gescheitert, und deswegen ist man zu der Entscheidung gekommen: Landwirtschaft und Tourismus, und viel mehr hat nicht Platz in solchen Tälern. Das ist fast überall in der Schweiz so.“ (Felicia
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Montalta, leitet touristische Projekte und ist Inhaberin der PROJEKT.BOX GmbH in Malans, Chur, August 2012)
Die individuelle Motivation von Jugendlichen, im Tal zu bleiben oder abzuwandern, ist jedoch mit ökonomischen Pull- und Push-Faktoren allein nicht ausreichend erklärbar; sie beruht auch auf emotionalen Entscheidungsprozessen, die sich auf die sich ändernden Zukunftsentwürfe sowie auf eine Emanzipierung von einer als überholt empfundenen Lebensweise zurückführen lassen. Dabei gibt es zwei gegensätzliche Positionen. Einige Safientaler Jugendliche beschreiben das Leben in Städten wie Chur, Basel, Bern als freier, weniger geprägt von sozialer Kontrolle durch ein gesellschaftliches Korrektiv und mit einer breiter gefassten Sichtweise von dem, was als „normal“ oder gesellschaftlich akzeptabel gilt, und wollen deswegen aus dem Tal wegziehen. Eine konfliktreiche Situation, da fast alle Familien generationsübergreifend zusammenleben, die Kinder in einem sozialen Gefüge eingebunden sind und von ihnen erwartet wird, dass sie den elterlichen Hof weiterführen und sich um ältere Familienmitglieder kümmern. Allerdings gibt es auch unter Jugendlichen eine ganz klare Gegenbewegung zur Abwanderung. Viele wollen nach ihrer Ausbildung, die sie im Regelfall in Betrieben oder einer Landwirtschaftsschule außerhalb des Tals absolvieren müssen, um jeden Preis den elterlichen Betrieb weiterführen. Für sie bedeutet das Safiental ihre Heimat. Die Vorstellung von sozialer Kontrolle, dass jeder in einer kleinen Gemeinschaft weiß, was der andere macht, wird als Geborgenheit, und nicht als Beklemmung angesehen. Oftmals sind mehrere Generationen im gleichen Bauernhaus aufgewachsen: Familien, die denselben Hof seit 500 Jahren bewirtschaften, sind keine Seltenheit. Ein Wegzug wird in diesem Fall zumeist mit der Aufgabe der eigenen kulturellen Identität gleichgesetzt, weshalb diese jungen Menschen selbst unter hohem Arbeitsaufwand und starken Entbehrungen versuchen, den eigenen Hof zu halten. Fehlende alternative Einkommensquellen und Versorgungsdienstleistungen Diese schwierige Arbeitsmarktsituation hat sich in den letzten Jahren immer mehr verstärkt. Vor allem ältere Bauern und Bäuerinnen, die noch eine andere Zeit kennengelernt haben, bedauern sehr, dass eine soziale und kulturelle Vielfalt bei der momentanen Entwicklung immer mehr verloren geht. Eine ältere Bäuerin aus Tenna, die seit ihrer Jugend in dem Dorf lebt, meinte diesbezüglich:
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„Je mehr von der Jugend weggehen und je größer die Betriebe werden, umso monotoner wird es. Wenn nur drei, vier Betriebe im Dorf sind, dann kann man für die Landschaft nicht mehr sorgen und auf sie aufpassen. Auch das soziale Leben geht verloren, Schulen usw. Ich denke, es ist bei den Wiesen wie bei den Menschen, die große Vielfalt ist das Schöne. Das Monotone ist ja nicht gerade das, was man sucht. Das ist schon traurig, ja schon sehr sogar.“ (Ursulina Joos, Bäuerin, Tenna/Safiental August 2012)
Diese Perspektivlosigkeit führt dazu, dass es immer schwieriger wird, Versorgungsdienstleistungen, wie öffentliche Verkehrsmittel, medizinische Versorgung, Schulen, Kinderbetreuung aufrechtzuerhalten. Problematisch ist, dass viele dieser Einrichtungen in den letzten Jahren von privaten Dienstleistern übernommen wurden. Was auch bedeutet, dass sie bei einer geringen Auslastung eingestellt werden. So fehlen heute im Safiental Landmaschinenmechaniker/innen, eine Tankstelle und ein Tierarzt bzw. eine Tierärztin. Diese Entwicklung löst einen Teufelskreislauf aus. Je mehr Menschen wegziehen, umso weniger kann eine Dienstleistungsinfrastruktur erhalten werden, die eine Versorgung der Talbevölkerung garantiert, was wiederum dazu führt, dass weitere Menschen wegziehen. Es ist ein Trend, der in fast allen landwirtschaftlich geprägten Alpentälern stattfindet, der aber in Frankreich und Italien besonders weit fortgeschritten ist – also in zentralistisch regierten Ländern. In der Schweiz ist die dezentrale Besiedelung ein Verfassungsauftrag auf Bundesebene, was den Entsiedelungsprozess in Bergregionen zumindest verlangsamt. Trotz dieser politischen Zielsetzung befinden sich, nach einer Studie vom Graubündner Amt für Wirtschaft und Tourismus über sogenannte potenzialarme Räume in Graubünden, zu dem auch das Safiental gehört, die meisten Regionen des Bergkantons kurz vor einem sozioökonomischen Kipppunkt, der, wenn er überschritten ist, zu einem rapiden Zusammenbruch von sozialen Gemeindestrukturen führt (Merker 2010: 21). Probleme mit den Subventionszahlungen „Tiere sind Lebewesen, die funktionieren nicht wie ein Auto. Wir sind Bauern, wir müssen uns an die Natur anpassen, nicht an das Büro. Aber vom Büro, da kommen die Vorschriften. Heute muss man nach dem Büro schaffen, nicht mehr nach der Natur. Das ist so, seit es nur ums Geld geht.“ (Anonym, SafientaL, Oktober 2013)
Die Bauern und Bäuerinnen sind finanziell von einem komplexen System von Subventionsbeiträgen des Schweizer Staates abhängig. Kernstück sind soge-
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nannte Direktzahlungen,62 die sich theoretisch je nach Vorgehensweise in der Agrarpolitik schnell verändern können (vgl. Lauber et al. 2014: 153-164). Das Thema „Subventionen“ ist notwendigerweise Teil dieser Arbeit, da sich die Weichenstellungen der Agrarpolitik unmittelbar auf die bäuerlichen Ressourcennutzungsstrategien und dementsprechend auch auf die alpine Landschaft auswirken. Landwirtschaftliche Subventionen sind also ein, wenn nicht „der“ maßgebende ökonomische Faktor, der dazu beiträgt, ob in der Berglandwirtschaft nachhaltig gewirtschaftet wird, und ob und wie auf Umweltveränderungen reagiert wird. In der Schweizer Politik wird heftig diskutiert, in welchem Umfang und ob überhaupt die Berglandwirtschaft gefördert werden sollte, da sie einerseits wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig sei und andererseits hohe Kosten durch den Ausbau und Erhalt einer Verkehrsinfrastruktur auch in entlegenen Seitentälern verursache. Ein Argument gegen Subventionen oder eine Agrarpolitik, die mit Subventionen nur Großbetriebe bevorzugt, ist, dass die Berglandwirtschaft in den Alpen, die als eine Art „Nebenprodukt“ über Jahrhunderte eine kleinräumige Kulturlandschaft geschaffen hat, ein Relikt einer ökonomisch unprofitablen Wirtschaftsweise darstelle und als landschaftsprägender Faktor eine immer kleinere Rolle spielen würde (vgl. Stöcklin et al. 2007b). Die Schweizer Landwirtschaft habe sowieso mit einem Beschäftigungsanteil von 4 % und einem Bruttoinlandsproduktanteil von 1 % nur eine marginale wirtschaftliche Bedeutung für das Land (OECD 2015: 1). Ausgeblendet wird bei dieser Sichtweise, dass durch die Bauern und Bäuerinnen eine Kulturlandschaft sowie vielfältige Ökosystemleistungen mit lokaler und regionaler, wenn nicht sogar globaler Bedeutung geschaffen werden, wie zum Beispiel sauberes Wasser oder eine hohe Biodiversität. Darüber hinaus geht ein Kulturraum verloren, der über Jahrhunderte gewachsen ist und durch Formen von Naturwahrnehmung und Naturkonzeptionen geprägt wurde bzw. diese selbst prägt. Die Safientaler Bauern und Bäuerinnen befinden sich in diesem Zusammenhang in einem enormen Zwiespalt. Einerseits sind sie auf die umfangreichen Direktzahlungen angewiesen, da sie ausschließlich mit dem Verkauf ihrer Produkte bei Weitem nicht genug erwirtschaften können, andererseits bemängeln sie, dass sie sich wie Marionetten fühlen, da sie umfassende Auflagen erfüllen müssten, um die Gelder zu erhalten und nicht mehr selbstständig Entscheidungen treffen
62 Die Höhe von Direktzahlungen, die ein landwirtschaftlicher Betrieb erhält, wird durch das komplexe und für viele Landwirte undurchsichtige Zusammenspiel folgender Beiträge bestimmt: Kulturlandschaftsbeiträge, Versorgungssicherheitsbeiträge, Biodiversitätsbeiträge, Landschaftsqualitätsbeiträge, Produktionssystembeiträge (BLW 2019a).
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könnten. Sie sehen sich einem großen Druck ausgesetzt, um gegensätzlichen Ansprüchen gerecht zu werden, um gemeinwirtschaftliche Leistungen63 zu erbringen. Im Sinne der agrarpolitischen Förderrichtlinien sollen sie möglichst mit extensiven Ressourcennutzungsstrategien für die Schweizer Bevölkerung das „Kollektivgut“ Kulturlandschaft erhalten, aber gleichzeitig wird von ihnen verlangt, dass sie auch auf der Basis ihrer Produktion konkurrenzfähig bleiben. Neben dieser „Undurchsichtigkeit“ und „Unsicherheit“, wann welche Subventionen, für welche Leistung gezahlt würden, sei ein weiterer Faktor, dass sie als Kleinbetriebe durch das momentane Direktzahlungsmodell gegenüber Großbetrieben deutlich benachteiligt würden. Zwar hat der große politische Einfluss der Schweizer Bauernverbände im Bundesrat dazu beigetragen, dass allein 2018 in der Schweiz circa 2,8 Milliarden Franken an Staatsbeiträgen für die Landwirtschaft ausgezahlt wurden (BLW 2019b); es profitieren davon jedoch hauptsächlich Großbetriebe, nicht kleine Familienbetriebe wie im Safiental. Die Berglandwirtschaft wird je nach Berggebietszone zwar gefördert, aber ein großer Teil der Subventionen wird für sogenannte Flächenbeiträge,64 Versorgungssicherungsbeiträge65 und Biodiversitätsbeiträge66 ausgezahlt – eine Regelung, die Großbetriebe deutlich bevorteilt (BLW 2019b). Während ein durchschnittlicher Familienbetrieb im Schweizer Flachland 100 000 Franken pro Jahr an Subventionen erhält, sind es bei einem Familienbetrieb in den Schweizer Alpen 30 000 Franken. Und dies, obwohl die Wirtschaftsbedingungen deutlich schwerer sind, sie eine Kulturlandschaft mit einer sehr hohen Biodiversität
63 Diese sind: sichere Versorgung, Pflege der Kulturlandschaft, Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, dezentrale Besiedelung des Landes, Förderung naturnaher, umwelt- und tierfreundlicher Produktionsformen (BLW 2019a). 64 Flächenbeiträge sind Beiträge, die entsprechend der Nutzfläche ausgezahlt werden. Die Familienbetriebe im Safiental sind jedoch sehr klein und haben nur eine durchschnittliche Betriebsgröße von 22,5 ha. 65 Versorgungssicherungsbeiträge sind Beiträge, die nach Anzahl und Art des Viehs ausgezahlt werden. Bergbauern und -bäuerinnen haben aufgrund des wenigen Landes, das sie bewirtschaften, und traditioneller Haltungsmethoden oftmals nur wenige Tiere. 66 Biodiversitätsbeiträge sind Beiträge, die für eine hohe Artenvielfalt und eine heterogene Nutzung gezahlt werden. Weil jeder Bauernbetrieb im Safiental nur wenige ha Land zu Verfügung hat, die bewirtschaftet werden können, muss dieses so intensiv wie möglich genutzt werden Auch hier sind Großbetriebe im Vorteil, weil sie ohne Versorgungsengpässe Teile ihres Lands brachfallen lassen können und somit leichter Ökobeiträge erhalten.
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schaffen und enorme Investitionskosten für geländetaugliche landwirtschaftliche Maschinen anfallen (Vision Landwirtschaft 2012). „Ich verstehe nicht, warum man Betriebe zwischen 20-30 ha nicht erhalten will, das sind Familienbetriebe. Landwirte, die größer sein wollen, sollen ruhig größer sein, wenn sie sich irgendwie Fläche aneignen können, sollen dann aber auch weniger Direktzahlungen kriegen. Die Förderung sollte abnehmen, je mehr man durch den Produktverkauf auf dem Markt einnehmen kann. Aber im Moment, läuft es vollkommen in die andere Richtung. Früher gab es gewisse Obergrenzen, das bedeutet, man hat keine Förderung mehr ab einer gewissen Größe bekommen. Aber das haben sie alles weggenommen, nach dem Motto, je größer, umso mehr kriegst du. Irgendwo hört der Familienbetrieb auf und es ist zu teuer, Angestellte einzustellen. Und das bedeutet, dass gewisse Flächen nicht mehr bewirtschaftet werden können, brachfallen, und der Wald nimmt zu.“ (Anonym, Safiental, Oktober 2013)
Die Vereinigung zum Schutz der kleinen und mittleren Bauern (VKMB) kritisiert diese Agrarpolitik heftig und hat eine Initiative gegründet mit dem Ziel, die Subventionszahlungen auf maximal 15 000 Franken pro Betrieb zu limitieren, um den Monopolismus und die Entsiedelung ganzer Bergtäler nicht weiter zu beschleunigen (VKMB 2016). Auch in Bezug auf die ökologischen Auswirkungen ist die momentane Agrarförderung umstritten. Den Schweizer Grünen zufolge werden beim aktuellen Landwirtschaftsplan (2018-2021) die Beiträge für Flächen mit einer hohen Biodiversität um 10 % im Vergleich zum vorherigen Jahresplan gekürzt. Dies habe zur Folge, dass, obwohl in der Schweiz bei Weitem zu viel Milch produziert wird, viele Landwirte weiterhin am Ziel der ständigen Produktionssteigerung festhalten (Gruene.ch 2016). Des Weiteren sehen sie beim folgenden Landwirtschaftsplan (2022+) erhebliche Defizite im Bereich Klima und Umweltschutz (Gruene.ch 2019). „Einen Ruf besonders ,tüchtige‘ Bauern und Bäuerinnen zu sein, haben oftmals in der Schweiz vor allem solche, die mit Hochleistungskühen viel produzieren. Viele im Tal versuchen sich darauf einzulassen, aber sind dann schnell hoch verschuldet und müssen aufgeben oder werden von anderen aufgekauft, es findet gerade ein regelrechtes ,Bauernsterben‘ statt. [...] Ja, das hängt meiner Meinung nach mit der wirtschaftsliberalen Agrarpolitik zusammen. Profiteure der momentanen Politik sind vor allem große Bauernbetriebe und Zulieferbetriebe, welche den Bauern erzählen, dass sie umfangreiche Produkte, wie Kraftfutter und neueste Traktoren und Maschinen brauchen. Gerade die Jüngeren nehmen Kredite auf, um immer schneller immer mehr zu produzieren, aber das braucht es doch gar
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nicht, oder? Es braucht Qualität nicht Quantität.“ (Christian Messmer, eh. Schreiner, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Im Jahr 2018 gab es in der gesamten Schweiz noch 53 852 Landwirtschaftsbetriebe, allerdings werden jeden Tag um die 2-3 Betriebe aufgegeben, in den letzten 10 Jahren waren es um die 10 000 Betriebe (BFS 2019b; BLW 2016: 37). Dies ist eine Entwicklung, von der auch das Safiental betroffen ist. Es können auch hier nur noch Bauernbetriebe mit einer Mindestgröße von mindestens 22 ha konkurrenzfähig wirtschaften, sodass immer weniger Menschen von der Landwirtschaft leben können. Viele Familienbetriebe sind in Bezug auf das Land, das eine bestimmte Viehmenge versorgen kann, einfach zu klein. Größere Betriebe kaufen kleinere auf, wobei die landwirtschaftliche Gesamtfläche des Safientals leicht zugenommen hat. Es gibt also weniger Betriebe mit einer größeren Fläche. Während 1990 noch 109 Bauernbetriebe im Tal existierten, sind es heute nur noch 71 (Gemeinde Safiental 2019a). Die Betriebe, die aufgegeben haben, waren tendenziell konventionelle landwirtschaftliche Betriebe, wodurch sich der Anteil der Bio-Betriebe leicht erhöht hat. Eine Entwicklung, die in anderen landwirtschaftlich geprägten Gebieten der Schweizer Alpen noch wesentlich stärker ausgeprägt ist. Es ist ein wesentlicher Grund für soziale Spannungen und Konflikte zwischen Safientalern und Safientalerinnen untereinander (Reichel und Frömming 2014: 48). Soziale Spannungen und Konflikte „Dass die Betriebe immer größer werden und die großen die kleinen schlucken, erzeugt auf jeden Fall Spannungen und Konflikte. Aber das ist ja gewollt. Die Agrarpolitik will ja, dass es einen Strukturwandel gibt. Und dass die Betriebe immer größer werden. Das bedeutet natürlich auch, einer muss aufhören, dass der andere wachsen kann, und die meisten geben ja nicht freiwillig auf. Außerdem, wenn Land irgendwo frei ist, gibt es ja nicht nur einen, der das will, und dann konkurrieren verschiedene Betriebe miteinander mit ganz unterschiedlichen Motiven. Es gibt ja keinen Kommunismus, es wird einfach nicht gleichmäßig verteilt. Einer profitiert mehr als der andere, was sicherlich über die Jahre immer weiter zunimmt, und dann entsteht Resignation. Ich überlege mir halt, was ist denn die Zukunft von diesen Tälern. Wir brauchen einen gewissen Bevölkerungsanteil, dass es überhaupt funktioniert. Sonst geht es einfach nicht mehr mit der Infrastruktur, und wenn wir uns gegenseitig immer weiter auffressen, dann haben wir das Problem, dass wir irgendwann zu wenige sind. Ich habe als Gemeindepräsident wirklich große Probleme, die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Irgendwie kommt es mir vor, als wären wir die Marionetten in dem Spiel. Die Landwirte können nur dann überleben, wenn das Geld kommt,
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und das Geld kommt nur bei Betriebsvergrößerungen. So schaffen wir uns einfach mit der Zeit selber ab. Ich glaube einfach, mit dem Generationenwechsel kommen große Probleme, weil sich dann unsere Kinder fragen, will ich überhaupt noch in einem Gebiet leben, wo es nur noch ein paar Höfe gibt und keine Infrastruktur.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Das Thema „Landbesitz“ erzeugt immer wieder Konflikte, da hierbei soziale Ungleichheiten offensichtlich werden. Landwirtschaftliche Gunstlagen, die man gut mit Maschinen erreichen und bearbeiten kann, sind aufgrund der Topografie des Tals begrenzt. Wenn ein Hof aufgegeben wird, kommt es bei der Versteigerung des frei gewordenen Landes zu einem erbitterten Konkurrenzkampf, bei dem kleinere Betriebe meist das Nachsehen haben. Betriebe mit größeren Flächen erhalten auch höhere Direktzahlungen, dadurch haben sie bessere finanzielle Möglichkeiten, um weitere Flächen zu erwerben. Dies produziert einen fortschreitenden wirtschaftlichen Monopolismus, denn je mehr Land einem einzelnen Hof gehört, umso höher werden die Ausgleichzahlungen, die durch den Bund gezahlt werden – Geld, das wiederum dafür eingesetzt werden kann, bei Versteigerungen von Land die Konkurrenten zu überbieten. Die Konzentration auf immer weniger landwirtschaftliche Betriebe und die Entsiedelung sind somit zwei sich gegenseitig verstärkende Prozesse, die außerdem die Ungleichheit zwischen den Betrieben verschärfen. Ein weiteres Konfliktfeld innerhalb der Berglandwirtschaft ist die von einem Hof bevorzugte Wirtschaftsweise. So gibt es Bauern und Bäuerinnen, die möglichst intensiv wirtschaften, um trotz der landwirtschaftlichen Standortnachteile des Tals möglichst viel Milch und Fleisch zu verkaufen. Andere betreiben Biolandwirtschaft und stellen oftmals Nischenprodukte her mit dem Ziel, eine möglichst hohe Biodiversität zu erhalten, selbst wenn es sie wirtschaftlich benachteiligt. Individuelle Entscheidungen, z.B. wie intensiv man die Wiesen mit Gülle düngt, ob man mit dem Mähen abwartet, bis sich Kräuter und Gräser aussamen können, haben Auswirkungen auf das ganze Tal. Dies ist der Fall, wenn Düngemittel das Grundwasser verunreinigen oder ökologische Korridore zerstört werden etc. Welche Wirtschaftsweise bevorzugt wird, hängt auch mit den sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Heimat zusammen. Die einen halten extensive landwirtschaftliche Methoden für erstrebenswert, weil sie eine kleinräumige Kulturlandschaft und Biodiversität gewährleisten, andere messen ihre „Tüchtigkeit“ daran, ob sie große Mengen produzieren können, um ihren Teil zur Versorgungssicherheit der Schweiz beizusteuern. Letzteren geht es mehr um das Produkt, das sie erzeugen und weniger um die Kulturlandschaft, die sie prägen. Konflikte dieser Art werden selten offen in Gemeindeversammlungen ausgetra-
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gen und äußern sich eher indirekt, beispielsweise durch Reziprozitätshandlungen, wenn sich Familien bei intensiven Arbeitsprozessen wie dem Heuen gegenseitig helfen, mit anderen aber nicht kooperieren. 2.6.3 Polarisierung der Landschaftsentwicklung und Verlust der Kulturlandschaft Die wirtschaftliche Dynamik der letzten Jahrzehnte und die fortschreitende Abwanderung hat auch direkte Auswirkungen auf die Kulturlandschaft. Die verbleibende Berglandwirtschaft im Safiental unterliegt einem Polarisierungsprozess. Auch wenn sich die Bauern und Bäuerinnen über die ökologischen Probleme der Intensivierung und Sozialbrache sehr bewusst sind, so haben sie oftmals keine andere Wahl, als die wenigen gut erreichbaren Flächen, die sie besitzen, so intensiv wie möglich zu bewirtschaften, ansonsten müssten sie viel teures Winterfutter dazukaufen. Die landwirtschaftliche Bewirtschaftung konzentriert sich mehr und mehr auf Gebiete im Tal, die intensiv und maschinell bewirtschaftet werden können, speziell die gut erreichbaren Talböden und unteren Hanglagen. Grenzertragsböden hingegen, die sich meist an schwer erreichbaren oberen Hanglagen befinden, werden tendenziell eher aufgegeben und fallen brach. Es fehlen schlichtweg die Arbeitskräfte und es ist ökonomisch nicht rentabel, Hänge zu bewirtschaften, die zu steil oder unwegsam sind, als dass man Maschinen einsetzen könnte. Beide Entwicklungen, die Intensivierung der Ressourcennutzung und das Brachfallen von Nutzflächen, führen zu einer Abnahme von Biodiversität und zur Zunahme von Naturgefahren hinsichtlich der Häufigkeit entsprechender Ereignisse und der Ausmaße der Schäden. Bei einer sehr intensiven Nutzung sind vor allem der großflächige Einsatz von Dünger und Pestiziden, schweren landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen und eine hohe Besatzungsdichte an Vieh bedenklich und können die Kulturlandschaft sehr schnell degradieren, wenn Renaturierungsarbeiten ausbleiben. Der extrem gegenteilige Prozess, die Sozialbrache, führt langfristig zu einer Abnahme der Biodiversität, weil die Kleinräumigkeit der Kulturlandschaft, geprägt durch ein Mosaik aus Wald, Wiesen, Hecken etc. zuwächst und damit viele ökologische Nischen verloren gehen. Außerdem wird durch das Nichtbewirtschaften der Hänge das Gefahrenpotential von Naturgefahren verstärkt, weil die Pflege und Stabilisierungsarbeiten der Bergbauern und -bäuerinnen fehlen (vgl. Bätzing 2015: 261-270). Werden beispielsweise entwurzelte Bäume, Äste, Geröll nicht mehr aus Bächen entfernt, besteht die Gefahr, dass sich ein Damm bildet, Wassermassen aufstauen, die dann,
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wenn der Damm brechen sollte, in einem großen Murgang, mit einem enormen Schadenspotential das Bachbett hinabstürzen können. „Wenn die Hänge nicht mehr bewirtschaftet werden, gibt es automatisch mehr Lawinen, Murgänge [Rufala] und Steinschläge. Am wenigsten Naturgefahren treten auf, wenn die Hänge per Hand bearbeitet werden, anstatt von Maschinen. Aber mit Maschinen ist immer noch besser als sie gar nicht zu bearbeiten. Durch das Brachfallen entstehen enorme Risiken. Wo das Gras nicht gemäht ist, da rutscht der Schnee ab, wie auf einem Schlitten. Bäume bieten zwar ab einer bestimmten Größe einen Schutz, aber Stauden und Büsche verursachen genau das Gegenteil, die knicken ab und bilden wie eine Gleitschicht. Wenn die Bäume nur klein sind, dann reißt der Schnee sie samt Wurzelwerk raus.“ (Fridolin Blummer, Bauer und Beobachter für das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung, Glaspass/Heinzenberg, Juni 2011)
Professionelle Naturgefahrenprävention im Kontext der Entsiedelung Weil als Folge des Entsiedelungsprozesses auch in Gebieten hoher Gefährdung keine Hangstabilisierungs- und Pflegearbeiten mehr durchgeführt werden, weiten professionelle Akteure im Naturgefahrenmanagement in der Schweiz ihre Maßnahmen zur Naturgefahrenprävention aus. Dazu gehört die Waldpflege oder das Errichten von temporären und permanenten Verbauungen. Obwohl diese Maßnahmen das Katastrophenpotential von Naturgefahren effektiv entschärfen oder diese rechtzeitig verhindern, sind sie oftmals aus Kostengründen nur sehr punktuell und werden fast ausschließlich als Reaktion67 auf ein Naturereignis errichtet, nicht aber präventiv. Naturgefahren beinhalten ein Katastrophenpotenzial, wenn sie die Magnitude und Frequenz bisheriger Erfahrungswerte bei Weitem übersteigen und/oder an Orten auftreten, die bisher als sicher galten. Leider bringt auch die existierende gegenteilige Entwicklung, dass ebenfalls aufgrund des Klimawandels in bestimmten Gebieten weniger Naturgefahren auftreten, kaum Vorteile für eine anthropogene Nutzung, da diese „ehemaligen“ Risikogebiete im dicht besiedelten Alpenraum, meistens sowieso durch Schutzbauten, wie zum Beispiel Lawinenzäune, abgesichert sind (OcCC 2003: 37). Mittlerweile existieren auch von offizieller Seite, wie dem Beratergremium des OcCC der Schweizer Regierung, Zweifel, ob technische Schutzbauten die gleiche Sicher-
67 Eine prominente Ausnahme bilden die in Kapitel 1.4 „Vulnerabilität, Resilienz und Adaption“ beschriebenen Schutzwälle oberhalb des Touristenortes Pontresina, die aufgrund des abtauenden Permafrostes präventiv vor Steinschlag, Murgängen und Lawinen schützen sollen.
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heit vor Naturgefahren garantieren können, wie die Arbeiten der Landwirte (OcCC 2007: 37-39; Bätzing 2015: 287-289). Dies ist in Zeiten des Klimawandels fatal68, denn einerseits ist in den letzten Jahrzehnten eine Häufung von Naturgefahren deutlich beobachtbar, andererseits wird auch das Schadensausmaß69 und Katastrophenpotenzial dieser Naturgefahren durch den polarisierenden Prozess der Intensivierung und die Sozialbrache vorangetrieben. Dass die Berglandwirtschaft und damit auch Pflege- und Stabilisierungsarbeiten an Hängen mit einer hohen Reliefenergie mehr und mehr aufgegeben wird, stellt also ein Sicherheitsproblem dar, dessen Folgen momentan schwer vorherzusehen sind. Landwirtschaftliches Erfahrungswissen dazu, wie Eingriffe in die Kulturlandschaft sensibel vorgenommen werden sollten, ohne dass ein Habitat Verluste erleidet, oder wie das Auftreten von Naturgefahren begünstigt werden, wird immer obsoleter. Wie im Fall von Pontresina gesehen, geht eine Risikokultur verloren. Vor allem die jüngere Generation kann potentielle Naturrisiken immer schlechter einschätzen, sodass im Fall einer akuten Bedrohung das Wissen über mögliche Handlungsoptionen abnimmt und generelle Unsicherheit entsteht, wo und wie reagiert werden muss. Dies ist eine Entwicklung, die in Zeiten des Klimawandels verhängnisvoll ist, da zusätzlich zu dessen unberechenbaren sozialen und ökologischen Auswirkungen ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzukommt und das Wissen über Handlungsoptionen abnimmt. „Man könnte vielleicht von der Entwicklung einer doppelten Unsicherheit sprechen. Ich sehe das schon als extrem problematisch an. Einerseits herrschen enorme Unklarheiten darüber, wie sich Naturgefahren in Zukunft verändern werden und welche potentiellen Risiken zu- oder abnehmen, andererseits geht ja mit dem Bauernsterben, das momentan überall stattfindet, auch das ganze lokale Wissen im Umgang mit Naturgefahren verloren [...]. Gerade jetzt, in diesen unsicheren Zeiten des Klimawandels, ist das Wissen ja wichtiger denn je. Einfach, weil man dann die Lage besser einschätzen, reagieren und sich an-
68 Wie oben in 1.3.1 „Wahrnehmungen des Klimawandels durch Extremwetterereignisse, Naturgefahren und Veränderung lokaler Ökosysteme“ behandelt. 69 In den letzten Jahrzehnten haben in den Alpen generell Sachschäden aufgrund von Extremereignissen deutlich zugenommen. Allein 1999 verursachten die Stürme „Lothar“ und „Martin“ einen ökonomischen Schaden in der Schweiz von 31 Milliarden CHF (OcCC 2003: 7). Allerdings spiegelt diese Zunahme vermutlich nicht nur eine erhöhte Frequenz und Intensität von extremen Wetterereignissen wider, sondern auch veränderte Raumnutzungen, da sich insbesondere in der reichen Schweiz immer größere Sachwerte in Risikogebieten befinden.
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passen kann.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Wiederbewaldung – empfundener Verlust der Kulturlandschaft Der Wald breitet sich im gesamten Alpenraum immer mehr aus. Dies hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Einerseits breitet sich Wald dort aus, wo die landwirtschaftliche Nutzung aufgegeben wurde und der Prozess der Sozialbrache einsetzt – insbesondere an Steilhängen, und andererseits ist die Waldgrenze als Folge steigender Durchschnittstemperaturen in den letzten Jahrzehnten um mehrere 100-200 m angestiegen. Dies betrifft vor allem steil und hoch liegende Berghänge, die aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit nicht mehr bewirtschaftet werden. Alleine von 2006 bis 2011 hat die Waldfläche in der Schweiz um 320 km² zugenommen (vgl. Seidl et al. 2014 143). Dies ist ein Prozess, der sich extrem negativ auf die Biodiversität auswirkt, denn im Sömmerungsgebiet verwaldet hauptsächlich Grasland, das eine zwei- bis dreimal größere Biodiversität besitzt als der später nachwachsende Wald (vgl. Hofer et al. 2014: 122-136). Auch auf Naturgefahren wirkt sich Verwaldung zunächst negativ aus. Es dauert Jahrzehnte, bis ein nachwachsender Wald einen soliden Schutz vor Lawinen bietet. Zwar verhindern kleine Bäume, dass im Abrissbereich von Lawinen Schneerutschungen auftreten, aber das Zerstörungspotential in unteren Hanglagen wird durch einen noch jungen Wald sogar noch begünstigt. Erst nachdem sich ein dichter und starker Wald mit einem starken Wurzelwerk ausgebildet hat, was in hoch gelegenen Regionen wie dem Safiental Jahrzehnte dauern kann, entsteht ein effektiver Lawinenschutz. Bis dahin knicken junge Bäume und Büsche unter dem Schneedruck von Lawinen einfach weg; sie werden samt Wurzelwerk herausgerissen, was wiederum eine Angriffsfläche für Erosion schafft. Neben den ökologischen Folgen hat der Prozess der Verwaldung auch soziokulturelle Auswirkungen und wirft bei den Safientalern fundamentale Fragen in Bezug auf die eigene kulturelle Identität auf. Die Bauern und Bäuerinnen nehmen die fortschreitende Verwaldung der Weiden, auf die ihre Vorfahren über Jahrhunderte ihr Vieh getrieben haben, wie oben beschrieben, als dramatischen Heimatverlust war. Natur wird zur Wildnis. In ihren Augen ist das eine Kapitulation, denn das Brachfallen und Verwalden macht die Krise der Berglandwirtschaft besonders sichtbar. Dieser Prozess wird auch deshalb als so extrem wahrgenommen, weil die Schweiz Mitte des 18. Jahrhunderts praktisch waldfrei war. Durch Rodungen für Alpflächen und Siedlungsstrukturen, um Bau- und Brennholz zu gewinnen und das Holz zu verkaufen, wurde die Waldgrenze während der letzten Jahrhunderte fast 300 m unter ih-
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re natürliche Position „gedrückt“, weswegen der schnell nachwachsende Wald als drastische Umweltveränderung wahrgenommen wird (Bätzing 2015: 89). Mit der Zeit blieb so wenig Wald stehen, dass es zu einer Vielzahl von katastrophalen Murgängen und Überflutungen kam. Zum Schutz der Bevölkerung wurde schließlich 1876, wie bereits erwähnt, ein föderales Waldgesetz für bestimmte Waldinventare erlassen und um zumindest einige Bannwälder zu erhalten (vgl. Veith und Hofer 2011: 53; OcCC 2007: 26). Ein Prozess, der sich jedoch mittlerweile ins genaue Gegenteil verkehrt hat und vielleicht der sichtbarste und direkt wahrnehmbarste Indikator dafür ist, wie schnell die Berglandwirtschaft in den Alpen verschwindet. 2.6.4 Adaption und Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz gegenüber den negativen Auswirkungen des sozial-ökologischen Wandels Trotz dieser zum Teil signifikanten sozial-ökologischen Veränderungsprozesse, ausgelöst durch den Strukturwandel der Landwirtschaft und verstärkt durch den Klimawandel, ist die Einwohnerschaft des Safientals alles andere als passiv. Ein Grund, warum viele Bauernfamilien über die Jahrhunderte von der Berglandwirtschaft leben konnten, ist ihre enorme Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde exogene und endogene Einflüsse. Sei es, dass das Gebiet der heutigen Gemeinde Safien unter ganz verschiedene administrative Herrschaftsbereiche fiel, dass sich im Laufe der Zeit Absatzmärkte für landwirtschaftliche Produkte veränderten, oder dass aufgrund der Mechanisierung der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck, auf einmal bisher bewährte landwirtschaftliche Techniken überholt und unwirtschaftlich waren. Entgegen einer romantisierenden und verklärenden Vorstellung, dass die Safientaler Bergbauern und -bäuerinnen noch genauso „traditionell“ wirtschaften würden wie vor 150 Jahren, besitzen sie eine enorme Flexibilität, sich an neue Herausforderungen anzupassen. Es werden ständig neue technologische und ökonomische Möglichkeiten, in Bezug Effektivität und Anknüpfbarkeit an die eigene Lebenswelt, überprüft sowie Arbeitsabläufe optimiert. Das hohe Maß an Anpassung bedeutet keinen drastischen Bruch mit Altbewährtem. Um neue Herausforderungen in der Berglandwirtschaft bewältigen zu können, wird im Safiental oftmals eine Kombination aus auf Erfahrung basierten und bisher erfolgreichen Verhaltensstrategien sowie neuen innovativen, Erfolg versprechenden Ideen angewendet. Wäre dies nicht der Fall, würde die Berglandwirtschaft heutzutage allenfalls in einer musealen und relikthaften Form existieren. Beispielsweise mähen die Safientaler Bergbauern und -bäuerinnen ih-
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re Wiesen mit Hightech-Balkenmähern, nehmen aber auch, ohne dass dies in einem Widerspruch dazu steht, je nach Gelände die Sense in die Hand. Einer der wesentlichen Gründe für diese Kombination unterschiedlicher landwirtschaftlicher Praktiken ist, dass auf den meisten Bauernhöfen zwei bis drei Generationen zusammenleben und zwischen ihnen ein reger Wissensaustausch stattfindet. Während ältere Bauern und Bäuerinnen tendenziell an überliefertem lokalen Wissen und damit verbundenen gesellschaftliche Regeln festhalten, sind es meistens die jüngeren, die aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung in Regionen außerhalb des Tals mit neuen innovativen landwirtschaftlichen Praktiken in Kontakt kommen und sich davon inspirieren lassen. Dabei wird sowohl in Bezug auf kurzfristige Problemlösungsstrategien als auch auf Entscheidungen, die langfristige Auswirkung haben, zwischen unterschiedlichen Wissenselementen ständig abgewogen. Ein Aushandlungsprozess, der insbesondere zwischen verschiedenen Generationen nicht immer reibungslos abläuft, wenn bisher gültige Deutungshoheiten und Handlungspraktiken kritisch hinterfragt werden. Eine Erstarrung der Wissensentwicklung würde beinhalten, dass, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft und der Zersetzung soziokultureller Regeln, sich bisher gültige Deutungshoheiten zu Dogmen entwickeln und alternative Sichtweisen blockiert werden. Also, wenn nur Veränderungen in der Wirtschafts- und Lebensweise zugelassen werden, die sich ohne Konflikte und reibungslos an bestehende gesellschaftliche Wertesysteme anknüpfen lassen. Eine Situation, die Vulnerabilität erzeugt, da, trotz neuer Herausforderungen wie dem Klimawandel, der fortschreitenden Entsiedelung, verbunden mit dem Verlust der Kulturlandschaft, nichts entgegengesetzt wird, weil kein Umdenken der bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise stattfindet. Dies ist jedoch im Safiental nicht der Fall. Auch wenn einige ältere Personen neue Einflüsse abblocken, weil sie vermeintlich ihre bisherige Lebensweise bedrohen, sind die allermeisten offen für Veränderungsimpulse. Eigeninitiativen Um gesellschaftlichen Problemen, wie dem fortschreitenden Entsiedelungsprozess, etwas entgegenzusetzen, haben in den letzten Jahren viele Safientaler und Safientalerinnen Initiativen ins Leben gerufen und Vereine70 gegründet. Ihr Ziel
70 Insgesamt gibt es im Safiental über 30 Vereine. Eine hohe Zahl, wenn man bedenkt, dass in der Gemeinde nur 905 Menschen leben. Zu den Vereinen, die sich direkt mit gesellschaftlichen und ökologischen Problemen des Tals auseinandersetzen gehören: Valendas Impuls, Tenna plus, Spensa Safiental, Safientaler Ställe, Alt werden im Safiental, Pro Safiental, Heimatverein Safiental, Landfrauenverein Tenna, Landfrauen-
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ist es, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wirtschaftliche Wertschöpfungsketten aufzuwerten, Qualitätsprodukte zu vermarkten und das Tal medienwirksam als Kulturstandort bekannt zu machen. Dazu gehört beispielsweise der Selbstbedienungsdorfladen „Spensa“ in Safien Platz, in dem Touristen auf Vertrauensbasis Lebensmittel wie Bündner Fleisch und Kunsthandwerk erwerben können; ein sogenanntes „Null-Sterne Hotel“, was mehr oder weniger aus einem Bett unter freiem Himmel besteht; die Gründung der Genossenschaft Skilift Tenna, die den ersten ausschließlich solarbetriebenen Skilift der Welt betreibt (s. u.); das internationale Kunstfestival „Art Safiental“, wo über 30 Künstler und Künstlerinnen aus 22 Ländern, dreieinhalb Monate lang frei zugänglich moderne Kunstinstallationen und Performances in Kuhställen und markanten Orten in der Landschaft präsentierten. Abb. 47: Lita Albuquerque, Installation Transparent Earth.
Quelle: Ó Art Safiental, Januar 2018
Beispielsweise wurde das Kunstwerk Transparent Earth von der US-amerikanischen Künstlerin Lita Albuquerque im Rahmen des Kunstfestivals „Art Safiental“ auf dem Berg Schlüechteli installiert. Es zeigt eine Frau, die auf dem Boden liegt und lauscht. Die Figur ist nur der eine sichtbare Teil des Kunstwerks, genau auf der anderen Seite der Erde liegt auf dem Meeresboden vor Neuseelands Küs-
verein Safien, Landfrauenverein Versam-Arezen. Darüber hinaus gibt es zwei Theatergruppen, Sportvereine, Tanzgruppen, ein Samariterverein, Jagdvereine, ein OpenAir-Festivalverein etc.
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te das identische Gegenstück. Beide Figuren sind Antipoden und Dialogpartner zwischen sehr verschiedenen sensiblen Naturräumen, die eine im Meer, die andere in den Bergen, zwischen ihnen liegt die gesamte Erde. Neben diesen zahlreichen innovativen Ansätzen versucht die Gemeinde, durch eine Verbesserung der öffentliche Infrastruktur, die Versorgung dünnbesiedelter Regionen im Tal aufrecht zu erhalten. Einige Beispiele sind, dass weiterhin mehrmals am Tag ein Postbus alle Dörfer anfährt, jedes Dorf einen eigenen Lebensmittelladen und eine eigene Primarschule hat, es in Tenna eine Bankund in Safien Platz eine Bibliothek gibt. Dieser Einsatz für das Gemeindeleben ist ein Grund, warum das Dorf Tenna, in dem nur knapp über 100 Personen leben, 2015 eines der nationalen Label ‚Jugendfreundliche Bergdörfer‘ erhalten hat. Ausschlaggebend war, dass sich das Dorf intensiv für eine Jugend- und Kinderbetreuung (Mehrklassenschule, Spielgruppe) einsetzt und so dem Trend der Abwanderung aktiv begegnet. All diese Initiativen und Maßnahmen haben einen sehr bedeutsamen Nebeneffekt. Sie tragen dazu bei, die negativen Auswirkungen des Klimawandels abzufedern. Zwar wurden sie nicht bewusst als Klimaadaptionsstrategie ins Leben gerufen, stärken jedoch die gesellschaftliche Resilienz gegenüber negativen Klimafolgen. Dies deckt sich auch mit den Forschungsergebnissen der beiden Ethnologinnen Irene Brickmann und Jana Türk, die zum Thema „Klimawandel“ im Kontext lokaler und regionaler Entwicklungsprozesse in Bayern und Südtirol geforscht haben. Sie stellen fest: „Klimahandeln wird so gesehen zur Nebenfolge eines Handelns, das viel umfassender auf die Bewahrung und Entwicklung örtlich gegebener Lebens- und Wirtschaftschancen zielt. Gesucht werden gemeinsame Wege zum Erhalt von Nahversorgung bzw. örtlicher Daseinsvorsorge, lokaler Wertschöpfung der natürlichen Umwelt und der entstandenen Kulturlandschaft. Sie gelten den BewohnerInnen als schützenswerte Güter“ (Brickmann und Türk 2014: 134).
Dies ist ein Forschungsergebnis, das sich auch in Bezug auf das Safiental eindeutig bestätigen lässt. So meinte der Gemeindepräsident von der Gemeinde Safiental, Thomas Buchli, im Gespräch über die Probleme des Tals: „Meiner Ansicht nach ist es wichtig, das Themenfeld ,Klimawandel und Entvölkerung‘ wirklich ganzheitlich zu betrachten. Beide Themen hängen eng miteinander zusammen. D. h. es geht um Ökologie, die Wirtschaftlichkeit, aber auch eine soziale Komponente. Faktoren, welche zusammen eine Wertschöpfung generieren, also wirklich im Tal, wo’s
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dem Tal nutzt. (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
Im Folgenden möchte ich ein Projekt vorstellen, das die Probleme „Klimawandel und Entvölkerung“ ganzheitlich adressiert. Der Solarskilift von Tenna Oberhalb des Ortes Tenna wurde 2011 der erste solarbetriebene Skilift der Welt gebaut, eine Neuheit, die das kleine Gebirgsdorf international bekannt machte. Die Idee war so einfach wie genial. Weil sich das Safiental mitten in der sogenannten inneralpinen Trockenzone befindet, und der Tenna auf 1 645 m liegt, ist die Sonnenintensität extrem hoch. Auf einem 450 m langen Schlepplift wurden insgesamt 82 Solarpaneele installiert, die sich automatisch dem Sonnenstand nach ausrichten. Der Lift schafft vielfältigen Nutzen. So kann mit den Solarpaneelen über das ganze Jahr hinweg etwa 19-mal so viel Strom71 produziert werden, wie der Lift für seinen Betrieb braucht. Alle überschüssige Solarenergie wird ins öffentliche Netz eingespeist und verkauft. Unabhängig von den Stromeinnahmen generiert der Lift in der Skisaison Arbeitsplätze. Außerdem profitieren das Gastronomie- und Hotelgewerbe, Dorfläden und Transportunternehmen, weil mehr Touristen in das Tal kommen. Abb. 48: Der Solarskilift von Tenna
Quelle: Ó Reichel, 2012
Weil das Liftprojekt sehr innovativ zu einer Diversifizierung der Wirtschaft beiträgt und neue Beschäftigungsfelder schafft, wurde Tenna 2012 mit dem
71 Mit dem Solarsystem des Liftes können pro Jahr circa 100 000 kWh produziert werden, während der Lift nur 6 500 kWh verbraucht (Solarskilift.ch 2015).
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Schweizer Solarpreis, dem Umweltschutzpreis der Schweizer Umweltschutzstiftung und dem Skiareatest ausgezeichnet. Hinzu kam 2015 der begehrte Grand Prix de la Montagne. Die ohnehin schon große Medienaufmerksamkeit wurde noch größer, was die Gemeinde nutzte, um sich unter dem Motto eines sanften, naturnahen Ökotourismus zu vermarkten. Außerdem wurde die mediale Berichterstattung genutzt, um die Öffentlichkeit auf aktuelle Probleme des Tals aufmerksam zu machen. Der Skilift trägt zwar zur Klimawandel-Mitigation bei, wurde jedoch anfänglich nicht aus diesem Grund von der Dorfbevölkerung unterstützt. Vielmehr war es für die meisten vor allem der finanzielle Anreiz der „Genossenschaft Skilift Tenna“ beizutreten, während das Thema „Klimawandel“ eher skeptisch betrachtet wurde. Dies änderte sich jedoch recht schnell, denn das Projekt war so erfolgreich, dass viele Bauern und Bäuerinnen den Ehrgeiz entwickelten auch in anderen Bereichen ihren CO2-Ausstoß weiter zu reduzieren und in Solartechnik zu investieren. Dies änderte sich auch dann nicht, als die Fördermittel für den Aufbau von Solarpaneelen stark verringert wurden. Es entstand stattdessen eine Art talinterner Wettbewerb darüber, wer die größten Flächen auf den Wohnhäusern und Ställen mit Solarpaneelen bedecken kann oder das Geld hat, in landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge zu investieren, die mit Partikelfiltern ausgestattet sind, um den CO2-Ausstoß zu minimieren. Der Begriff „Klima-Mitigation“, der vor dem Solarskilift-Projekt noch negativ besetzt war, weil er mit Umweltauflagen, Reglementierungen und Fremdbestimmung assoziiert wurde, wurde innerhalb kurzer Zeit mit Innovation, Erfolg und Verantwortung assoziiert: Etwas, mit der man Geld verdienen kann und fortschrittlich Umweltverantwortung für das eigene Tal übernimmt. Einen Gesinnungswandel, den die Tourismusexpertin und Projektberaterin Felicia Montalta direkt mitbekam, als sie ihre Idee des Skiliftes der Dorfbevölkerung zum ersten Mal vorstellte und das Projekt später betreute. „Als ich zum ersten Mal das Projekt vorgeschlagen habe, da wurde mir gesagt, schön, dass wir mit dem Lift Geld verdienen können, aber erwarte nicht von uns, dass wir plötzlich Grüne werden. Also weniger Diesel verbrauchen und so weiter. Aber das hat sich jetzt verändert. Nach dem Solarskilift wollten dann viele Solarpaneele auf den Dächern. Sie haben den Ehrgeiz, das Dorf zu sein, das die meisten erneuerbaren Energien pro Einwohner hat. Beispielsweise durch LED-Beleuchtung. Tenna hat 2012 den Schweizer Solarpreis verliehen bekommen.“ (Felicia Montalta, leitet touristische Projekte und ist Inhaberin der PROJEKT.BOX GmbH in Malans, Chur, August 2012)
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Realisiert werden konnte das Projekt jedoch nur mithilfe einiger Personen, wie dem Gemeindepräsidenten von Tenna, der eine hohe soziale Stellung und viele soziale Beziehungen im Dorf hat und dem Thema „Klimawandel“ Priorität einräumt. Nach vielen endlosen Diskussionen konnten schließlich auch sehr skeptisch eingestellte Bauern und Bäuerinnen von der Idee des Solarskiliftes überzeugt werden. Dass die Bevölkerung von Tenna mehr oder minder geschlossen hinter dem Vorhaben stand, war keine Selbstverständlichkeit. Viele Bauern sind aufgrund konservativer Wertvorstellungen gegenüber Maßnahmen, die sie mit Umweltschutzorganisationen oder der Politik der grünen Partei assoziieren, sehr kritisch eingestellt, weil sie befürchten, dass aufgrund von Umweltauflagen ihre Wirtschaftsweise reguliert und einschränkt werden könnte. Hinzu kam, dass es bisher noch keinerlei Erfahrungswerte über ein solches Projekt gab, was auch Unsicherheiten auslöste, ob sich die Investitionen der Genossenschaft auch rechnen würden. Anpassungsmaßnahmen bedeuten Veränderungen. Veränderungen können Konflikte hervorrufen, wenn unterschiedliche, an Interessen gekoppelte Zukunftsvorstellungen aufeinandertreffen, ohne dass ein Kompromiss gefunden werden kann. Genau dies war bei dem Solarskilift-Projekt der Fall. Es gab einen massiven Widerstand gegen das Projekt, allerdings nicht von der Dorfbevölkerung, sondern einer Umweltschutzorganisation außerhalb des Tals. Das Hauptargument war, dass der ästhetische Wert der bäuerlichen Kulturlandschaft durch die Solarpaneele massiv beeinträchtigt würde. Um nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren, musste jedoch die Organisation wenige Monate vor Baubeginn des Liftes nachgeben, denn das Thema „Klimawandel-Mitigation“ ist eines ihrer wesentlichen Ziele. Auch das Argument, dass die Solarpaneele den ästhetischen Wert der Kulturlandschaft beinträchtigen, wurde obsolet, als klar wurde, dass die Paneele auf einem bereits bestehenden alten Lift installiert werden sollten und keine neuen Flächen bebaut werden mussten. Ein Beispiel, wie unterschiedliche Formen der Naturwahrnehmungen Konflikte auslösen können, wie Landschaft emotional aufgeladen wird und mit welcher Selbstverständlichkeit Landschaft von Personen oder Gruppen beansprucht wird, die überhaupt nicht in dieser Landschaft leben. Während die Umweltschutzorganisation es als ihre Aufgabe ansieht, sich für ihre Interpretation einer ästhetischen, traditionellen bäuerlichen Kulturlandschaft einzusetzen, nehmen die Safientaler und Safientalerinnen diese Einmischung in ihre Lokalpolitik als eine Art „patriarchale Fremdbestimmung“ wahr, die ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und ihr Recht auf Selbstbestimmung ignoriert.
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Nachhaltige Klimaanpassungsstrategien Eine soziokulturelle Perspektive
3.1 L OKALES W ISSEN IM N ATURGEFAHRENMANAGEMENT Wie in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, verfügen viele Safientaler Bergbauern und -bäuerinnen über ein differenziertes Umweltwissen zu land- und forstwirtschaftlichen Praktiken, zur Hangpflege gegen Bodenerosion, zur nachhaltigen Wassernutzung, zu Wetterveränderungen und Naturgefahren (z.B. das zeitliche Auftreten bestimmter Lawinen und Murgänge) sowie zur Flora und Fauna und der Geomorphologie im Tal. Der hohe Anpassungsdruck an die naturräumlichen Gegebenheiten und die Abhängigkeit von dauerhaften Erträgen aus einem räumlich sehr begrenzten Ökosystem machen dieses Wissen unerlässlich. Es beinhaltet Kompetenzen, die dazu beitragen können, sich an zukünftige Umweltveränderungen flexibel anzupassen, mögliche daraus entstehende Probleme zu bewältigen oder in konstruktiver Form aufzunehmen, was wiederum eine Vermeidung von Vulnerabilität sowie eine Stärkung der Resilienz gegenüber potentiellen katastrophalen Ereignissen ermöglicht. Eine Übersicht, um welche Aspekte es sich hierbei im Einzelnen handelt, geben die Abb. 49.1 und 49.2. Dieses erfahrungsbasierte Umweltwissen zur Prävention sowie Mitigation von und zur Adaption an klimabedingte Umweltveränderungen hilfreich kann sein. Dennoch wird es von professionellen Akteuren im Naturgefahrenmanagement, Umweltschutz oder in der Regionalentwicklung bei der Entwicklung von Strategien zur Klimaanpassung bislang nicht berücksichtigt. Warum dies so ist, und welche Chancen und Möglichkeiten sich durch die Überwindung dieser Disconnection zwischen professionellen Akteuren und der lokalen Bevölkerung ergeben könnte, werde ich im Folgenden exemplarisch an der aktuellen Praxis des Naturgefahrenmanagements erläutern.
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Präferierte Ökosystemleistungen Pflegearbeiten und Regulation der Ressourcennutzung Die Bauern und Bäuerinnen haben unterschiedliche Präferenzen, welche Ökosystemleistungen ihnen wichtig sind. So gibt es jene, denen eine hohe Biodiversität im Tal wichtiger ist als einen hohen Ertrag zu erwirtschaften, und jene, bei denen es genau umgekehrt ist. Weichen diese Interessen grundlegend voneinander ab oder werden durch die Präferenz einer Ökosystemleistung andere benachteiligt, können Konflikte entstehen. Beispielsweise wenn ein Bauer entscheidet, auf seinen Wiesen großflächig chemischen Dünger einzusetzen, um einen hohen Ertrag zu erwirtschaften, was jedoch das Grundwasser verschmutzt, das auch von anderen Bauern und Bäuerinnen im Tal genutzt wird. Hinzu kommt, dass das Tal einen ökologisch hoch sensiblen Raum darstellt. Eingriffe in die Kulturlandschaft machen sich direkt bemerkbar. Das bedeutet, viele Ökosystemleistungen können nur langfristig genutzt werden, wenn gleichzeitig Pflege- und Hangstabilisierungsarbeiten stattfinden. Dementsprechend gibt es formelle und informelle Gesetze, die die Art der Ressourcennutzung reglementieren (z. B. wann gemäht werden darf; in welchen Wäldern keine Rodungen stattfinden dürfen, weil sie als Schutz vor Lawinen dienen). 3.2.3 Reduktionistische Tendenzen im Sozial-ökologischen Systemansatz Auch wenn die Sozial-ökologische Systemanalyse Kausalketten von MenschNatur-Beziehungen aufzeigen kann und eine bessere Kommunikation zwischen Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften ermöglicht, ist es wichtig zu beachten, dass diese Herangehensweise nicht simplifizierend soziokulturell geprägte Deutungsmuster von Natur und damit verbundene Visionen und Werte ausblendet. In dieser Hinsicht kritisieren Christmann et al., dass dabei teilweise „systemtheoretische Annahmen aus der Ökologie auf gesellschaftliche Phänomene“ undifferenziert in ein Modell übertragen werden. Sie verweisen dabei auf die Kritik Thomas Kirchhoffs et al., die deutlich macht, dass der Ansatz auf einem Modell beruht, das seinen Ursprung in der Erkenntnistheorie westlicher Industrienationen hat und dementsprechend nur eine sehr spezifisch kulturell geprägte Sicht von Realität konstruiert (Kirchhoff et al. 2010: 30 nach Christmann et al. 2011: 18-19). Auch die Erkenntnis, dass alles Menschliche und alles Natürliche eng miteinander verflochten ist, stellt keine bahnbrechende Neuigkeit dar. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie viele indigene Gesellschaften (wie z.B. die Toraja Masupu) die Beziehung zu ihrem natürlichen Umfeld wahrnehmen und gestalten.
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Dieser berechtigten Kritik lässt sich begegnen, wenn man die Sozialökologische Systemanalyse nicht als ein „universelles Analyse-Tool“ von Mensch-Natur-Beziehungen betrachtet, sondern als ein zur eigenen Arbeitsweise komplementäres Brückenkonzept, mithilfe dessen eine interdisziplinäre Kommunikationsmöglichkeit geschaffen werden kann, die aufzeigt, wo Forschungsbedarf besteht, wenn unterschiedliche Disziplinen zusammenarbeiten. Ein Beitrag, den die Umweltanthropologie leisten kann, liegt darin, MenschNatur-Beziehungen soziokulturell differenziert erfassen zu können. Nicht, wie in einem weit verbreiteten, rein reduktionistischen Sinne, sondern indem regionalspezifische, soziokulturelle Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster von Natur stärker in den Vordergrund rücken und berücksichtig werden. Eine Möglichkeit hierfür bietet die im folgenden Kapitel dargestellte Methode der Multimediakartierung.
3.3 M ULTIMEDIAKARTIERUNG ALS C HANCE UND P ERSPEKTIVE IM N ATURGEFAHRENMANAGEMENT Wie schon im Methodenkapitel der Einleitung ausführlich dargestellt, ist es mithilfe partizipativer Kartierungen6 möglich, die subjektive Raumwahrnehmung von Einzelpersonen oder Gruppen zu erfassen und zu visualisieren. Erhoben wird damit, wie diese einen Raum wahrnehmen und welche Attribute sie ihm zuschreiben. Der Vorteil der Methode liegt in ihrem partizipativen Ansatz, indem die befragten Personen selbst entscheiden können, welche Aspekte ihnen auf der Karte wichtig sind, welche zu vernachlässigen sind und wie dies zu kennzeichnen ist. Insofern ist nicht nur die fertige Karte empirisch aufschlussreich, sondern bereits der Prozess der Kartenerstellung. Die Methode hat jedoch eine wesentliche Schwachstelle: Partizipative Karten lassen sich nicht mit anderen qualitativen Forschungsdaten verknüpfen. Genau hier setzt die Methode der Multimediakartierung an, die ich in diesem Kapitel erläutern werde. Das Besondere an Multimediakarten ist, dass unterschiedliche qualitative Daten strukturiert dargestellt und zusammengeführt werden können. Sie bieten eine ideale Präsentationsplattform für Filme, Audioaufzeichnungen, Notizen und die Ergebnisse partizipativer Kartierungen – für qualitative Daten also, die wichtig sein können für die Verbesserung von Mitigations-, Adaptions- und Präventionsstrategien in Bezug auf den Klimawandel, die aber aufgrund ihrer schlechten
6
Siehe den Abschnitt „Partizipative Kartierung“ in der Einleitung.
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„Anknüpfbarkeit“ in der aktuellen Praxis des Naturgefahrenmanagements so gut wie nicht berücksichtigt werden. Mit dem Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie dieses Problem gelöst werden könnte, erstellte ich in Zusammenarbeit mit einigen Schlüsselinformanten aus dem Safiental eine solche multimediale Karte. Sie vereint eine Vielzahl unterschiedlicher Wissensquellen, sowohl translokales Umweltwissen der Bergbauern und -bäuerinnen als auch Kenntnisse des Naturgefahrenmanagements. Die Multimediakarte soll dazu beitragen 1) translokales Wissen erinnerbar und leichter kommunizierbar zu machen, 2) eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Natur-, Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu etablieren und 3) die Landwirte aktiv an dem Prozess des Naturgefahrenmanagements teilhaben zu lassen (Reichel und Frömming 2014: 44). Abb. 52: Multimediakarte Safiental: Raum im Wandel
Quelle © Reichel, 2019
Angesehen werden kann die Karte über zwei Möglichkeiten: Via folgenden Link: http://medien.cedis.fu-berlin.de/cedis_medien/projekte/sa fiental oder https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4696-2/mensch-umwe lt-klimawandel/
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Die praktische Anwendbarkeit der Karte zeigte sich bereits wenige Wochen, nachdem sie erstellt wurde. Innerhalb des Forschungsprojektes ANiK war ich für das Teilprojekt „Visualisierung und Kartierung von lokalem Wissen über alpine Naturgefahren“ zuständig. Das Projekt ANiK hatte sich als Ziel gesetzt, seine sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung inter- und transdisziplinär anschlussfähig zu halten und keine Elfenbeinturmforschung zu betreiben. Dementsprechend fanden regelmäßig Treffen mit einem Projektbeirat7 statt, dessen Mitglieder in natur-, ingenieurswissenschaftlichen und administrativen Arbeitsbereichen des Naturgefahrenmanagements im deutschsprachigen Alpenraum tätig sind. Dazu gehörten beispielsweise Mitarbeitende des WSL-Instituts für Schneeund Lawinenforschung des Landesforstdienstes Tirol (ANiK 2015: 7-8). Sehr positiv wurde von dem Projektbeirat befunden, dass die Multimediakarte eine Möglichkeit bietet, offizielle Gefahrenkarten des Naturgefahrenmanagements, mit der subjektiven Risikowahrnehmung von Naturgefahren abzugleichen und damit Präventions- und Schutzmaßnahmen im Naturgefahrenmanagement partizipativer und effektiver gestalten zu können. Je nach Datenmaterial kann beispielsweise der Frage nachgegangen werden, ob durch bestimmte technische Lösungen der Gefahrenprävention (z.B. Lawinenverbauungen) ein falsches Sicherheitsverständnis bei der lokalen Bevölkerung entsteht.8 Ein anderer wichtiger Einsatzbereich der Karte wäre, wenn Bergsteigern und Skitouristen, die sich in potentiellen Risikogebieten aufhalten, mithilfe der Karte Zusatzinformationen über die potentielle Gefahrensituation vor Ort zur Verfügung gestellt würden, die auf Erfahrungswissen der ortsansässigen Bevölkerung basiert. Ein Einsatzbereich, den auch der Gemeindepräsident von Tenna, das der Ausgangsort für viele Skitouren ist, für sehr sinnvoll hält. „Vor zwei Generationen ist niemand auf die Idee gekommen aufgrund der Lawinengefahr [Laubala Gfoor] im tiefsten Winter Skitouren auf den Piz Fess zu machen und das bei allen Bedingungen und allen Wetterverhältnissen. In den letzten zwei, drei Jahren wurde das
7
Folgende Personen gehörten dem Projektbeirat an: Dr. Michael Bründl WSL, WSLInstitut für Schnee- und Lawinenforschung), Dr. Tobias Heckmann (Lehrstuhl für Physische Geographie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), Dr. Margreth Keiler (Geographisches Institut, Universität Bern), Manfred Kreiner (Fachbereich Schutzwaldverbesserung, Landesforstdienst Tirol), Dr. Andreas Rimböck bzw. Karl Mayer (Bayerisches Landesamt für Umwelt), Dr. Franziska Schmid (Geschäftsstelle, Bundesamt für Umwelt, Schweiz), Dr. Christian Wilhelm (Amt für Wald und Naturgefahren Graubünden).
8
Ein Beispiel hierfür biete ich in Kapitel 1.4 „Vulnerabilität, Resilienz und Adaption“.
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immer extremer, da kommen Leute von irgendwoher, laden ihre Tourenskier aus und auf gehen sie. Sie berufen sich auf irgendwelches Wissen aus irgendeinem Kurs. Nach dem Motto, ich stelle einfach mein Lawinensuchgerät an und wehe, und wehe du verbietest es mir, darauf zu gehen, das ist meine persönliche Freiheit, ich kann überall hingehen. Das ist ein Beispiel, warum das Wissen der Einheimischen immer mehr gefragt wird. Sie haben einfach ein ganz anderes Erfahrungswissen. Die Frage stellt sich nur, wie kann man das auf eine schlaue Art weitergeben und wie kann man es quasi dem Konsumenten zur Verfügung stellen. Da sehe ich in der Multimediakarte, die du erstellst, ein Riesen-Potential.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Juli 2012)
Die Vorteile einer Multimediakartierung lassen sich auf vier Kernpunkte zusammenfassen, die ich im Folgenden genauer erläutern werde (vgl. Reichel und Frömming 2014: 44): 1) 2) 3) 4)
Dokumentation lokalen Wissens Partizipation der lokalen Bevölkerung Inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit Leichtere Kommunikation zwischen der lokalen Bevölkerung und professionellen Akteuren im Naturgefahrenmanagement
3.3.1 Dokumentation lokalen Wissens In Bezug auf das Safiental ist insbesondere der Strukturwandel in der Landwirtschaft einer der Gründe, warum das Erfahrungswissen der Bergbauern und bäuerinnen nur noch in Fragmenten von einer Generation zur nächsten weitergegeben und zunehmend obsolet wird und in Vergessenheit gerät. Aufgrund eines erhöhten Konkurrenzdruckes können immer weniger Betriebe wirtschaftlich überleben. Dementsprechend gibt es immer weniger aktive Landwirte und damit immer weniger „translokales Wissen“ (Schildhauer und Reichel 2013). Einerseits erleichtern neue Kommunikationsformen, wachsende Speichermedien, Big Data, künstliche Intelligenz und Wissensaustausch einen rasanten Wissensgewinn (vgl. Frömming et al. 2017: 13, 16), andererseits gerät Erfahrungswissen, z.B. über Nutzpflanzen, Heilkräuter, Wetterkenntnisse immer mehr in Vergessenheit und geht verloren. Es stellt sich die Frage, ob und wie dieses Wissen für die nächste Generation erhalten und weiterhin anwendbar gemacht werden kann. Auch hier beinhalten Multimediakarten ein großes Potential. In Ausschnitten der lokalen Realität des globalen Phänomens „Klimawandel“ können Fotos, Film-, Text- und Audioaufzeichnungen innovativ Wissen und persönliche Geschichten aufzeichnen. Translokales Wissen kann also dokumentiert werden, ohne es als
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eine vom kulturellen und sozialen Kontext losgelöste isolierte Information zu behandeln (Islam 2015: 19-49). Aufgrund der a) partizipativen Erhebungsmethoden, b) audiovisuellen Darstellungsformen und c) interaktiven Nutzungsmöglichkeiten durch die lokale Bevölkerung selbst, bleibt das in partizipativen Karten dokumentierte lokale Wissen weiterhin in einem lokalen kulturellen Bedeutungssystem eingebettet und dokumentiert und verliert nicht seine Sinnhaftigkeit (Islam 2015: 19, 45-49, 79-82). Da ständig neue Informationen interaktiv integriert werden können, gehen dynamische Veränderungen von lokalem Wissen nicht verloren und es wird nicht in Datenbanken „eingefroren“. Vielmehr bleibt das Wissen anwendungsbezogen und ist weiterhin durch eine interaktive mediale Verbreitung durch einen global verflochtenen Wissensstrom charakterisiert. Des Weiteren bietet der Einsatz einer Filmkamera bei der Erstellung von Multimediakarten die Möglichkeit, lokale Wissenselemente holistisch zu erfassen und subtotale Handlungspraktiken differenziert audiovisuell darzustellen und räumlich zu verorten. (Chambers 2006: 1-11; Reichel und Frömming 2014: 46) Außerdem ist eine derartige Multimediakarte eine Möglichkeit, katastrophale Ereignisse in Erinnerung zu behalten, um sie leichter mental zu bewältigen und um aus ihnen zu lernen.9 „Bei dem Wissensverlust, also dem Prozess, dass das Erfahrungswissen immer diffuser wird, ist eine zusätzliche Anomalie drin. Das bedeutet, einerseits wird das Erfahrungswissen der Alten nicht mehr so sehr von den Jungen angewendet und gerät immer mehr in Vergessenheit, und andererseits kommt es aufgrund des Klimawandels zur Umweltveränderung, dass das alte Wissen nicht mehr so gut greift. Damit wird es immer schwieriger zum Einschätzen und Naturprozesse werden unberechenbarer. Man weiß es einfach nicht mehr so genau, was wiederum neue Gefahren erzeugt. Das finde ich an der Karte genial. Sie ermöglicht, neues Wissen zu ergänzen.“ (Thomas Buchli, Gemeindepräsident und Bauer, Tenna/Safiental, Januar 2012)
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Wie Erinnerungen über katastrophale Ereignisse dokumentiert werden können, zeigen die gefilmten Interviews über den Lawinenwinter 1951, die über die Multimediakarte abrufbar sind: eines mit dem Förster des Safientals, Daniel Buchli, und ein zweites mit dem ehemaligen Wildhüter Paul Gartmann-Dettli, der 2015 im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Er war der letzte Zeitzeuge, der direkt an der Suche nach den Verschütteten beteiligt war.
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