Räume serieller Dystopien: Expandierende Albträume im Post-TV 9783839465554

Dystopien sind in Fernseh- und Streaming-Serien allgegenwärtig. Charakteristisch ist dabei besonders die Räumlichkeit et

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German Pages 434 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
I. Einleitung
Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum
II. Theoretische Grundlagen
1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive
2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse
3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV
4. Dystopie und Raum
III. Begründung der Serienauswahl
1. Überblick zum Forschungsgegenstand
2. Dystopische TV-Serien ab 2010 – Überlegungen zu einer Typologie
3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse
4. Potentiale für die Raumanalyse
IV. Analyse der Serienräume
1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume
2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien
3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume
4. Auflösung und Wiederkehr – exemplarische Anwendung des Analysemodells anhand von Maralto in 3 %
V. Zusammenfassung und Ausblick
Einleitung
1. Räume serieller Dystopien im Post-TV – Rezeption, Semantik, Narration
2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien
3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte
4. Raum in Serie und Werk
5. Serienräume lesen – Potentiale und Probleme eines philologischen Zugriffs
VI. Quellenverzeichnisse
Primärquellen
Sekundärquellen
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Räume serieller Dystopien: Expandierende Albträume im Post-TV
 9783839465554

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Franz Kröber Räume serieller Dystopien

Serien- und Fernsehforschung Band 3

Franz Kröber, geb. 1988, lehrt Literatur- und Mediendidaktik an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Film- und Seriendidaktik, trans- und intermediale Rezeptions- und Produktionsprozesse sowie Interpretationen im Deutschunterricht.

Franz Kröber

Räume serieller Dystopien Expandierende Albträume im Post-TV

Die vorliegende Arbeit wurde unter dem Titel »Entgrenzte Albträume. Räume serieller Dystopien des Post-TV« als Dissertation beim Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin eingereicht. Datum der Disputation: 21. Mai 2021 Gutachter: Univ.-Prof. a.D. Dr. Elisabeth K. Paefgen Jun.-Prof. Dr. Matthias Grotkopp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Foto von Raphael Koh auf Unsplash Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465554 Print-ISBN 978-3-8376-6555-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6555-4 Buchreihen-ISSN: 2703-1578 Buchreihen-eISSN: 2703-1586 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

I. Einleitung Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum ......................................... 13

II. Theoretische Grundlagen 1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive...........................27 1.1 Serielles Erzählen im Post-TV ..............................................................27 1.1.1 Merkmale und Formen seriellen Erzählens........................................... 28 1.1.2 Serialitätsforschung und populäre Serialität ........................................ 34 1.1.3 Distribution, Rezeption und Ästhetik fiktionaler Serien des Post-TV .................. 37 1.2 Ansätze für die Serienanalyse............................................................. 42 1.2.1 Narratologische Zugriffe auf fiktionale TV-Serien ................................... 42 1.2.2 Reading versus Unreading .......................................................... 43 1.2.3 Philologische Ansätze für die Serienforschung ...................................... 48 1.3 Fazit ...................................................................................... 51 Theorien und Modelle für die Raumanalyse ............................................. 55 Raum im Film – Forschungsstand und ausgewählte Konzepte .............................. 56 Erzählen und Erfahren des filmischen Raums .............................................. 58 Raum in der literaturwissenschaftlichen Narratologie...................................... 64 2.3.1 Chronotopos ....................................................................... 66 2.3.2 Raumsemantik ..................................................................... 67 2.3.3 Drei-Ebenen-Modell des erzählten Raums ........................................... 70 2.4 Raumkonzepte weiterer Disziplinen ........................................................ 71 2.4.1 Heterotopie ......................................................................... 71 2.4.2 Leiblicher Raum, Architektur und Atmosphäre........................................72 2.4.3 Raumkonzepte der Game Studies ....................................................75 2.5 Karten und andere Repräsentationsmodelle des Raums .................................... 76

2. 2.1 2.2 2.3

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV ...............................................79 3.1 Der Raum der Fernsehserie in der Serialitätsforschung .....................................79 3.2 Serienräume im Kontext von Produktion und Distribution .................................. 85 3.2.1 Produktionstechnische und ökonomische Einflüsse ................................. 86 3.2.2 Distribution des Serienraums ....................................................... 88 3.3 Serienräume in der Textanalyse – Rezeption, Semantik und serielles Erzählen .............. 89 3.3.1 Rezeption von Serienräumen ........................................................ 91 3.3.2 Semantiken von Serienräumen ..................................................... 93 3.3.3 Räume und serielle Erzählprinzipien ................................................ 96 3.3.4 Strategien seriellen Raumerzählens.................................................100 3.3.5 Muster seriellen Raumerzählens ....................................................108 3.4 Der Raum der Fernsehserie – eine Definition............................................... 110 4. Dystopie und Raum ...................................................................... 113 4.1 Die Dystopie – Entwicklung und Eingrenzung .............................................. 113 4.1.1 Definitionen: Utopismus, Dystopie, Anti-Utopie und kritische Dystopie ............... 113 4.1.2 Historische Entwicklung ............................................................ 121 4.1.3 Abgrenzung von Fiktionen der (Post-)Apokalypse und Science-Fiction................122 4.1.4 Medien der Dystopie ................................................................126 4.1.5 Ein Arbeitsbegriff der Dystopie ..................................................... 127 4.2 Dystopische Räume in Literatur und Film – ein Überblick...................................128

III. Begründung der Serienauswahl 1.

Überblick zum Forschungsgegenstand ..................................................139

2. Dystopische TV-Serien ab 2010 – Überlegungen zu einer Typologie.....................143 3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse ..............................145 4. Potentiale für die Raumanalyse .........................................................153

IV. Analyse der Serienräume 1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume.................................... 157 1.1 Orientierung ..............................................................................160 1.1.1 Raumexpositionen I ................................................................ 161 1.1.2 Exkurs: Karten serieller Dystopien des Post-TV – eine Typologie ..................... 172 1.1.3 Establishing shots als Knotenpunkte im Serienraum ................................. 181 1.1.4 Fazit und Diskussion ............................................................... 191 1.2 Ästhetische Illusion.......................................................................194 1.2.1 Raumexpositionen II............................................................... 200 1.2.2 Szenenanfänge .................................................................... 210

1.2.3 Intraserielle landmarks ............................................................. 214 1.2.4 Fazit und Diskussion ............................................................... 216 1.3 Atmosphäre .............................................................................. 219 1.3.1 Sterile Erhabenheit................................................................. 221 1.3.2 Belebte Räume .................................................................... 223 1.3.3 Fazit und Diskussion .............................................................. 224 2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien ....................... 227 2.1 Asoziale Räume – Raum und Figuren ..................................................... 227 2.1.1 Anordnung von Figuren im Raum .................................................. 228 2.1.2 Überwachung und Disziplinierung.................................................. 230 2.1.3 Menschenfeindliche Architekturen ................................................. 234 2.1.4 Spielräume und Laboratorien ...................................................... 239 2.1.5 Abseits der Scheinwerfer ........................................................... 241 2.1.6 Reflexion sozialer Funktionen von Raumentwürfen ................................. 244 2.1.7 Emanzipationsbewegungen im dystopischen Raum ................................. 249 2.1.8 Fazit und Diskussion ...............................................................251 2.2 Grenzwertige Bewegungen – Raum und Handlung ......................................... 254 2.2.1 Raum als Nährboden serieller Handlung ............................................ 255 2.2.2 Handlungsräume und -orte als Branding der Serie .................................. 263 2.2.3 Räumliche Bewegung als Motor serieller Handlung.................................. 265 2.2.4 Fazit und Diskussion .............................................................. 274 2.3 Today, we tear down the old – Raum und Zeit ............................................. 277 2.3.1 Do Not Discuss Your Life before – zeitliche Isolation und soziale Statik.............. 282 2.3.2 Nebeneinander von Zeiten im Raum................................................ 289 2.3.3 Archivarische Räume...............................................................301 2.3.4 Destabilisierung physischer Räume ................................................ 307 2.3.5 Fazit und Diskussion .............................................................. 308 3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume.............................313 3.1 Fluide Topographien ......................................................................314 3.1.1 Mobilität von Figuren und Erzählinstanzen ..........................................314 3.1.2 Entgrenzungen dystopischer Serienräume ..........................................316 3.2 Der unzuverlässige Raum .................................................................331 3.2.1 Suggestion der Statik ..............................................................331 3.2.2 Vorboten des Chaos ............................................................... 334 3.3 Fundament und Fassade serieller Dynamik ............................................... 339 3.4 Intra- und transserielle Überbietungen dystopischen Raumerzählens ...................... 343 3.5 Fazit und Diskussion ..................................................................... 347 4. Auflösung und Wiederkehr – exemplarische Anwendung des Analysemodells anhand von Maralto in 3 %............................................................. 353

V. Zusammenfassung und Ausblick 1.

Räume serieller Dystopien im Post-TV – Rezeption, Semantik, Narration .............. 367

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien .............................371 3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte .................................. 383 4. Raum in Serie und Werk .................................................................391 5. Serienräume lesen – Potentiale und Probleme eines philologischen Zugriffs.......... 397

VI. Quellenverzeichnisse Primärquellen ............................................................................... 405 Fernseh-, Streaming- und Webserien.......................................................... 405 Filme ........................................................................................ 407 Literarische Serien und Werke ................................................................ 408 Comic-Serien, Comics und Graphic Novels .................................................... 409 Hörspiel-Serien und Hörspiele ................................................................ 409 Sekundärquellen ............................................................................. 411 Bibliographie.................................................................................. 411 Vorträge ..................................................................................... 427 Weitere Quellen .............................................................................. 427

Danksagung

Mein Dank gilt zunächst Prof. Dr. Elisabeth K. Paefgen, die mir eine sehr empathische Betreuerin mit kritischem Blick war. Ihr schier grenzenloses Vertrauen in den positiven Ausgang des Forschungsprojektes war immer wieder ein Ansporn für mich. Ich danke auch Prof. Dr. Matthias Grotkopp für die Begutachtung der Arbeit und zahlreiche wertvolle Hinweise sowie Prof. Dr. Thomas Morsch für ein sehr lehrreiches Seminar zum Post-TV. Von großer Relevanz für die Entwicklung dieser Arbeit waren auch die vielen Kommentare und Fragen, die im Rahmen von Kolloquien und Tagungen geäußert wurden. Stellvertretend dafür stehen das Master- und Doktoranden-Kolloquium von Thomas Morsch an der Freien Universität Berlin, Denkanstöße, die im Rahmen des Filmund Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums 2019 formuliert wurden und vor allem die Diskussionen mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Doktoranden-Kolloquiums von Elisabeth K. Paefgen. Ebenso inspirierend waren die Gespräche mit den Studierenden der Freien Universität Berlin in mehreren Veranstaltungen, die ich zu den Themen Dystopie, Serie und Raum angeboten habe. Besonders eng in den Arbeitsprozess eingebunden waren durch unermüdliches Korrekturlesen einzelner Kapitel Bea Matz und Robin Mantei, denen ich zahlreiche Hinweise auf Potentiale der Untersuchung verdanke. Gwendolin Kaesdorf gebührt Dank für ihre Einschätzung der filmphänomenologischen Ausführungen. Darüber hinaus haben viele Freunde und meine Familie mich bei diesem Projekt unterstützt, darunter insbesondere Maria Ertel. Mein größter Dank gilt Constantin Gläser, der mich in allen Phasen des Schreibprozesses bestärkt und sich dabei durch besondere Geduld ausgezeichnet hat. Die Fertigstellung dieser Arbeit verdankt sich seinen kritischen Diskussionsbeiträgen, seinem Ansporn und vor allem seiner unendlichen Zuversicht.

I. Einleitung

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

Eine Kleinstadt-Kolonie inmitten des nordamerikanischen Urwaldes. Vor der Kulisse pastellfarbener Bauten im Stil US-amerikanischer Suburbs werden Bürger vom Militär hingerichtet, während aus der Wildnis die Schreie von Mutanten zu hören sind. Ein nächtlicher Blick auf den Times Square: Gelbe Taxen drängen sich durch Menschengruppen vor Werbeschildern für »Gertrude’s Soup« und Plakaten mit Slogans wie »Strong bodies, strong nation«, »For the common good« und »Work will set you free«. Bilder von Hakenkreuzen und blonden Mädchen mit Zöpfen zieren die Leuchtreklame. In den Verkehrslärm mischt sich das Geräusch eines Hubschraubers, der mit einem Scheinwerfer die Gassen absucht. Eine Bildunterschrift wird eingeblendet: »Greater Nazi Reich/New York City – 1962«. Ein Slum im Amazonas-Gebiet. Verfallene Bauten sind mit zerrissenen Pappen, bunten Folien, verknoteten Stoffen und Graffitis dekoriert. Ein Tross 20-jähriger Bewohner macht sich auf den Weg durch labyrinthische Gassen, empor zu einem postmodernen Bau, der hoch über dem Ghetto thront. Dort werden sie in mehreren Wettkämpfen gegeneinander antreten, um Zugang zu einer paradiesischen Insel zu erhalten, abseits von Armut und Kriminalität. Diese Szenen stammen aus drei gegenwärtigen seriellen Dystopien des Post-TV. Sie zeigen Gesellschaften, die in der diegetischen Vergangenheit demokratisch waren, sich jedoch aufgrund von Kriegen oder immenser sozialer, ökologischer und ökonomischer Probleme unter autoritären Regimen wiederfinden. Die Gemeinschaften, die in diesen Serien dargestellt werden, zeichnen sich nicht mehr durch die Würde des Individuums, sondern durch die Unterwerfung unter eine exponierte Persönlichkeit, den Markt oder einen gesellschaftlichen Mythos aus. Widerständler und Kritiker1 werden ausgestoßen, inhaftiert oder ermordet. Obgleich die Ausschnitte subjektiv formuliert sind, machen sie deutlich, dass die fiktiven Albträume ihre Wirkung in der Rezeption nicht ohne ihre 1

Innerhalb dieser Arbeit wird für Personen und Personengruppen das generische Maskulinum verwendet. Grammatisch maskuline Bezeichnungen gelten gleichermaßen für Individuen mit weiblichem, männlichem und diversem Geschlecht.

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I. Einleitung

jeweiligen Umgebungen sowie deren audiovisuelle und narrative Darstellung entfalten würden.2 Welche Konsequenz hätte es gehabt, die Szene im ersten Beispiel, die der Serie Wayward Pines entstammt, inmitten der Wildnis oder eines militärischen Camps spielen zu lassen, statt vor der oft zitierten Kleinstadt-Kulisse US-amerikanischer Prägung, die spätestens seit The Truman Show und Desperate Housewives fast ausschließlich als panoptischer Ort interpretiert wird?3 Auch unter Beibehaltung des Schreckens des post-apokalyptischen Umlands wäre der totalitäre Charakter der Gemeinschaft letzter Menschen kaum greifbar. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie dessen Ikonographie aus dem zweiten Beispiel (The Man in the High Castle) sind aus historischen Dokumentationen bekannt, wirken durch die Verlegung in den Zeit-Raum des New Yorks der Nachkriegszeit, der mit demokratischen Werten und Liberalität assoziiert wird, jedoch umso erschreckender.4 Im dritten Beispiel, das auf die Serie 3 % rekurriert, wird die symbolische Funktion der Räume besonders deutlich, weil Slum, Übergangsraum und Insel auf ungleich verteilten Reichtum und die öffentliche Inszenierung von Leistungsbereitschaft verweisen.5 Mit ihren Raumkonzepten interpretieren gegenwärtige Dystopie-Serien die Topographien ihrer intertextuellen Vorgänger vor allem mit Blick auf die Lage der Handlungsräume und -orte neu. Zu nennen sind hier u.a. die Parallelweltstruktur von The Man in the High Castle, die Erweiterung semantisch-oppositioneller Räume von Arm und Reich um einen Transitraum und eine eutopische Enklave in 3 %, die mobile Stadt des Zuges in Snowpiercer oder die Platzierung zweier unterschiedlicher Metropolen auf identischem Terrain in The City & The City.6 Sie zeichnen sich ferner durch einen kreativen Umgang mit Karten und plastischen Repräsentationsmodellen von Raum aus. Mit Blick auf Architektur und Baumaterialien bzw. die gesamte Mise en Scène zeigen sich wiederum deutliche Kontinuitäten früherer Dystopien in Schrift und Bild zu den gegenwärtigen Serien: So zeichnet sich die Stadt der Zukunft in aktuellen seriellen Dystopien ebenso wie in Jewgenij Samjatins Roman Wir und den Filmen Metropolis und Blade Runner häufig durch Glas, Stahl und Beton, urbane Verdichtung und vertikales Bauten

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In Anlehnung an Martínez/Scheffel bezeichnet das Attribut ›fiktiv‹ in dieser Arbeit »den ontologischen Status des in [der] Rede [sowie dem Film, der Fernsehserie, dem Hörspiel, der Graphic Novel etc.] Ausgesagten«, ›fiktional‹ hingegen »den pragmatischen Status einer Rede«, eines Films, einer Fernsehserie, eines Hörspiels, einer Graphic Novel etc.; vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2009): Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München: C.H. Beck, S. 13. Vgl. Wayward Pines (2015–2016), USA: Fox, Creator: Chad Hodge, S2E1, »Enemy Lines«; The Truman Show (1998), USA, Regisseur: Peter Weir; sowie Desperate Housewives (2004–2012), USA: ABC, Creator: Marc Cherry. Die These, die US-amerikanische Vor- und Kleinstadt werde in Literatur und Film seit den 1970er Jahren vor allem als Ort der Angst bzw. Dystopie inszeniert, wird vor allem vertreten in Beuka, Robert (2003): »Cue the Sun«: Soundings from Millennial Suburbia. In: Journal of Cultural Studies 3.1, S. 154–171, hier S. 154f. Vgl. The Man in the High Castle (2015–2019), USA: Amazon Prime Video, Creator: Frank Spotnitz, S1E1, »The New World«. Vgl. 3 % (2016–2020), BR: Netflix. Creator: Pedro Aguilera. Vgl. Snowpiercer (2020-), USA: Netflix, Creator: Josh Friedman/Graeme Manson; sowie The City & The City (2018), UK: BBC2, Creator: Toni Grisoni.

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

aus,7 womit auf Vorstellungen aus dem frühen 20. Jahrhundert zurückgegriffen wird.8 Angesichts dessen überrascht es, dass, abgesehen von Einzelstudien, weder zu gegenwärtigen fernseh-seriellen Dystopien und ihren Räumen noch zum diegetischen Raum serieller Erzählungen Untersuchungen vorliegen.

Dystopie Die Dystopie ist gegenwärtig ein hoch erfolgreiches Genre: Im Bereich der Fiktion erscheinen immer wieder neue Bücher, Filme, Fernsehserien und Computerspiele, die als dystopisch gekennzeichnet werden.9 Mitunter lässt sich jedoch nicht eindeutig feststellen, ob die Dystopie als literaturwissenschaftliche Kategorie oder ein Konglomerat verschiedener Genres und damit verbundener individuell höchst unterschiedlicher Vorstellungen bei Leser- und Zuschauerschaft so beliebt ist: Nicht selten werden z.B. im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur Erzählungen als ›dystopisch‹ bezeichnet, obgleich sie lediglich düstere Science-Fiction präsentieren oder die Handlung in ein post-apokalyptisches Setting verlegen.10 Zudem versuchen auch nicht-fiktionale Texte wie Zeitungsartikel und Dokumentationen im Fernsehen, düstere Zukunftsszenarien oder gegenwärtige soziale Ängste mit der Kategorie der Dystopie zu erfassen und weiten dadurch beständig die Grenzen des Genres aus.11 Weit gefasste Definitionen wie die von Lyman Tower Sargent beziehen sich auf »a non-existing society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporane-

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Vgl. Samjatin, Jewgenij (2006 [1924]): Wir [russ. Мы]. Köln: Kiepenheuer & Witsch; Metropolis (1927), D, Regie: Fritz Lang; sowie Blade Runner (1982), USA, Regisseur: Ridley Scott. Vgl. für Wir Glišović, Dušan (1992): Die politisierte Architektur. Zur Funktion von Architektur und Interieur in den Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts. In: Neohelicon 19.1, S. 207–217, hier S. 2011–214, für Blade Runner und Metropolis Abbott, Carl (2016): Imagining Urban Futures: Cities in Science Fiction and What We Might Learn from Them. Middletown, Connecticut: Wesleyan University Press, S. 25–34. Vgl. Voigts, Eckart (2015): Introduction. The Dystopian Imagination – An Overview. In: Ders./Boller, Alessandra (Hg.): Dystopia, Science Fiction, Post-Apocalypse: Classics – New Tendencies – Model Interpretations. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 1–11, hier S. 1; sowie Lieske, Tanya (23.03.2020): Was ist eine Dystopie? In: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/endlich-mal-erklaert-wa s-ist-eine-dystopie.691.de.html? dram:article_id=473115, aufgerufen am 14.10.2020. Mit Blick auf den Buchhandel bemerkt Schweikart, dass »Verlage neue Titel oftmals aus Marketinggründen mit dem Etikett Dystopie versehen, obwohl sie inhaltlich eher anderen Gattungen zuzuordnen wären oder nur wenige dystopische Elemente enthalten«; Schweikart, Ralf (2014): Wenn die Welt in Schutt und Asche fällt. In: JuLit 1, S. 14–21. Diese Feststellung kann in Verbindung gebracht werden mit Innerhofers Beobachtung, nach der »es dem Etikett der S[cience]F[iction] auf dem Buchmarkt an Popularität gebricht« und folglich gegenwärtig »viele Erfolgsromane, die unverkennbar Züge der SF tragen, diese Bezeichnung« vermeiden; Innerhofer, Roland (2013): Science Fiction. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 318–328, hier S. 320. Vgl. u.a. Tholl, Max (16.10.2019): Es lebe das Untergangsszenario! In: Der Tagesspiegel. https://ww w.tagesspiegel.de/gesellschaft/von-atwood-bis-netflix-es-lebe-das-untergangsszenario/2512151 8.html, aufgerufen am 14.10.2020.

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I. Einleitung

ous reader to view as considerably worse than the society in which that reader lived«.12 Dass dieses Konzept post-apokalyptische Vorstellungen und düstere Science-Fiction im gleichem Maße unter dem Attribut ›dystopisch‹ vereint wie den Entwurf eines kommunistischen Superstaates, zeigt die Notwendigkeit für weitere Differenzierungen auf. Ungefähr seit den 1950er Jahren ist eine zunehmende Verschränkung der Dystopie mit der Science-Fiction und (post-)apokalyptischen Fiktionen zu beobachten, die sich auch in aktuellen fernseh-seriellen Dystopien niederschlägt.13 Aufgrund der Fülle serieller Dystopien orientiert sich diese Arbeit aber vorrangig an Dystopien im engeren Sinne in Anlehnung an Gregory Claeys. Dieser unterscheidet »the political dystopia; the environmental dystopia; and finally, the technological dystopia, where science and technology ultimately threaten to dominate or destroy humanity«.14 Ungeachtet der unterschiedlichen Ausprägungen innerhalb des Genres definiert Claeys eine ›echte‹ Dystopie aufgrund von Texten, in denen eine substantielle Mehrheit Unterdrückung als Konsequenz menschlicher Handlungen erleidet.15 Dystopien beschreiben demnach Gesellschaften, where human volition has been superseded or eroded by an authoritative imposition of control from outside – from the leader, party, alien race and so on. In this sense dystopia is antithetical to the idea of popular control, or democracy, in particular. The mass have lost control over even the most rudimentary aspects of their own destinies; they are putty in the hands of fate.16 Auch wenn sich die vorliegende Arbeit auf fiktionale Dystopien und insbesondere serielle Dystopien des Post-TV konzentriert, so ist das Konzept auch auf die extratextuelle Welt anwendbar. Ebenso, wie intentional communities als reale Umsetzungen eutopischer Vorstellungen existieren,17 gibt es in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Gesellschaftsformen und sozial-politische Phänomene, die sich als dystopisch bezeichnen ließen.18 Im 12 13 14

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Sargent, Lyman Tower (1994): The Three Faces of Utopianism Revisited. In: Utopian Studies 5.1, S. 1–37, hier S. 9. Vgl. Claeys, Gregory (2016): Dystopia: A Natural History. A Study of Modern Despotism, Its Antecedents, and Its Literary Diffractions. Oxford: Oxford University Press, S. 285, ferner Voigts 2015. Claeys 2016, S. 5. Die Textauswahl in seiner Monographie impliziert ferner auch Szenarien, in der die Menschheit von Überbevölkerung oder Atomwaffen bedroht ist, oder in der die Handlung von einem post-apokalyptischen Szenario bestimmt ist; vgl. ebd., S. 291–494. Vgl. Claeys 2016, S. 290. Claeys, Gregory (2013): Three Variants on the Concept of Dystopia. In: Vieira, Fátima (Hg.): Dystopia(n) Matters: On the Page, on Screen, on Stage. Newcastle: Cambridge Scholars, S. 14–18, hier S. 17. Auch Brian M. Stableford setzt den thematischen Schwerunkt der Dystopie bei der »oppression of the majority by a ruling elite […], and the regimentation of society as a whole«; Stableford, Brian M. (17.03.2020): Dystopia. In: Clute, John et al. (Hg.): The Encyclopedia of Science Fiction. http:/ /sf-encyclopedia.com/entry/dystopias, aufgerufen am 9.10.2020. Vgl. Sargent 1994, S. 13–19 sowie Sargent, Lyman Tower (2010): Utopianism: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, S. 33–49. Als solche intentional communities, die von ihren Gründern und Repräsentanten eher positiv oder gar als Entwurf einer besseren Gesellschaft gesehen wurden, können laut Claeys 2016 z.B. Bolschewismus, Maoismus, Faschismus und insbesondere Nationalismus gesehen werden; vgl. hierzu ebd., S. 113–236. Gegenwärtig despotische bzw. totalitäre Züge liegen in einigen Staaten oder Gebieten der Welt vor, in denen die autoritäre Herrschaft einer Minderheit durch Religion (Iran

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

Verdacht der umfassenden Disziplinierung stehen auch die Möglichkeiten, die sich aus neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und der Digitalisierung ergeben.19

Dystopie und Serie Die Ursachen für die Popularität serieller Dystopien sind bislang nicht eindeutig ausgemacht worden. Auffallend ist, dass serielle Dystopien im engeren Sinne sowie weitere Serien, deren Handlung in post-apokalyptischen wastelands spielt oder die sich mit zukünftigen Bedrohungen durch Technik, Umweltkatastrophen auseinandersetzen, vor dem Hintergrund pessimistischer Zukunftserwartungen und wechselnder Krisen in der westlichen Welt reüssieren.20 Eine von mehreren Schnittstellen zwischen der Dystopie und realen negativen Entwicklungen liegt in der gegenwärtigen Wahrnehmung der Zukunft vor, die Eva Horn als Future as Catastrophe bezeichnet: In Gesellschaft, Politik, Wirtschaft sowie im Umgang mit der Umwelt wird die Zukunft Horn zufolge nicht mehr als Projektionsfläche für Hoffnungen, sondern für Katastrophen verstanden.21 Der Untergang stehe kontinuierlich kurz bevor, werde aber durch unterschiedliche tagesaktuelle Ereignisse in die Zukunft verlängert. Er alarmiere die Bevölkerung, bleibe aber zugleich ohne Konsequenzen, weil an wesentlichen Verhaltensweisen in Gesellschaft und Politik nichts geändert werde. Horns Thesen können vor dem Hintergrund der Serialität und des kommerziellen Erfolgs von Serien des linearen und nicht-linearen Fernsehens weiter differenziert werden: Ähnlich wie fiktionale Serien finden die Katastrophen des letzten Jahrzehnts zumindest aus europäischer Perspektive in Fortsetzungen statt und werden durch ›Krisen‹ (bspw. die sog. Finanz-, Schulden- und Eurokrise, Migrations- und Flüchtlingskrise, Klima- und Corona-Krise) als unheilvolle Vorboten eines je nach Standpunkt dystopischen Szenarios für den Einzelnen konkret greifbar.22 Die allgegenwärtige, aber nie vollends realisierte Katastrophe wird durch jede weitere Krise neu aktiviert und gewinnt an Schwungkraft. Zugleich erhält die Future as Catastrophe durch ihre Serialisierung eine Struktur, die das kontingente und beängstigende ›Morgen‹ einhegt und somit psychologisch entlastend wirken kann: Die wiederholte Abfolge aus Warnung vor der Krise, Eintritt der Krise und ge-

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und Afghanistan) oder eine sozial-ökonomische Ideologie wie den Sozialismus (Nordkorea, Venezuela, Kuba, China) begründet oder eine solche schlichtweg gar nicht oder nur punktuell mit Blick auf den Schutz vor äußeren Feinden legitimiert wird (Russland). Die allgegenwärtige Überwachung von räumlichen Bewegungen bis hin zur Speicherung biometrischer Daten und Online-Zahlungen geht häufig mit Versprechen von Gesundheitsvorsorge und Komfort einher, kann aber in extremen Fällen zur willkürlichen Kontrolle durch Dritte führen, wie anhand des Sanktionierungsprogramms in China mittels Sozialpunkten deutlich wird. Beispiele für solche Serien sind The Walking Dead (2010-2022), USA: AMC, Creator: Frank Darabont/Angela Kang; sowie The Rain (2018–2020), DK: Netflix, Creator: Jannik Tai Mosholt/ Christian Potalivo/Esben Toft Jacobsen. Vgl. für diese Darstellung Horn, Eva (2018 [2014]): The Future as Catastrophe. Imagining Desaster in the Modern Age. New York: Columbia University Press, S. 5–9. Vgl. eine ähnliche Argumentation in Tholl 2019.

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I. Einleitung

sellschaftlicher, politischer und medialer Bearbeitung selbiger werden zunehmend vertrauter. Variiert werden lediglich Themen, gesellschaftliche Akteure und Schauplätze. Mit dieser Portionierung und Ritualisierung teilt die immer wieder hinausgezögerte Katastrophe eine Gemeinsamkeit mit der Fernseh-Serie, die auf ähnliche Weise den Alltag der Rezipienten gliedert und sie ob der Auflösung der Handlung in Atem hält. Viele gegenwärtige serielle Dystopien im Post-TV, aber auch abgeschlossene Dystopien anderer Medien werden zu Chronotopoi dieser realen und medienvermittelten Fortsetzungen. So konstatiert Carlen Lavigne: »It’s the twenty-first century, and the world is ending. It isn’t ending only once, or for any specific reason; it’s ending over and over again, in popular culture from television to film to video games, to novels, board games, comic books, and zombie walks.«23 Die jeweiligen Basiserzählungen in The Man in the High Castle, The Handmaid’s Tale und Snowpiercer setzen nach Krieg, Geburtenrückgang und einem Staatsstreich oder der globalen Eiszeit ein.24 Der Erfolg serieller Dystopien im engeren und weiteren Sinne mag darin begründet sein, dass sie Labore anbieten, in denen negative Entwicklungen einerseits inszeniert, andererseits die individuellen Ängste der Zuschauer bewältigt werden können.25 Dem bedrohlichen und unkontrollierbaren Realen, das sowohl vor der eigenen Haustür als auch in weit entfernten Regionen der Welt stattfindet, wird die mittlerweile über Streaming-Dienste und DVDs gut steuerbare Lektüre von Schreckenserfahrungen entgegengestellt, die neben einem kathartischen Moment auch den Abschluss des seriellen Albtraums mit der finalen Episode erlaubt – trotz ständiger Betonung des offenen Charakters von Serien innerhalb der Serialitätsforschung. Die Attraktivität dystopischer Fiktionen in Werk und Serie mag auch darin bestehen, dass die dystopische Gesellschaft, die sich nach Umweltzerstörung, Bürgerkriegen oder Atomangriffen zusammenfindet, auf einer leeren Fläche aufgebaut werden kann. Die post-apokalyptische Dystopie erlaubt ein doppeltes Experiment: Nicht nur kann eine Welt in der Zukunft ohne den Ballast der Gegenwart entworfen werden, der ohnehin permanent Mängel in unterschiedlichsten Bereichen attestiert werden.26 Wenn in den dystopischen Szenarien alle anderen Einflussfaktoren bis auf eine überschaubare Gruppe von Individuen in einem begrenzten Raum eliminiert werden, dann lassen sich die unappetitlichen Konsequenzen gesellschaftlicher, in die Zukunft gerichteter Entwürfe wie rigide Organisation, Überwachung und die brutale Bestrafung Andersdenkender nicht mehr auf Technik oder Umwelt zurückführen. Die fiktionalen Versuchsanordnungen serieller Dystopien lassen keinen Zweifel daran, dass das mögliche Scheitern von Zivilisation und Demokratie ausschließlich aus menschlichen Handlungen resultieren.

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Lavigne, Carlen (2018): Post-Apocalyptic Patriarchy: American Television and Gendered Visions of Survival. Jefferson: McFarland, S. 5. Vgl. The Handmaid’s Tale (2017-), USA: Hulu, Creator: Bruce Miller. Hierauf weisen vor allem Überlegungen anhand von Dystopien der Kinder- und Jugendliteratur hin, u.a. in Rank, Bernhard (2014): Literatur als Laboratorium. In: JuLit 1, S. 22–29, hier S. 23; sowie Kruse, Iris (2014): Die (Un-)Wirksamkeit der Warnung. In: JuLit 1, S. 30–35, hier S. 33f. Vgl. ferner Horn 2018 [2014], S. 233–238. Vgl. Adkins, M. King (2018): Television Storyworlds as Virtual Space. Lanham et al.: Lexington Books, S. 103.

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

Schließlich zeigen sich vor allem seit den jugendliterarischen Dystopie-Serien The Hunger Games (Suzanne Collins) und The Maze Runner (James Dashner) deutliche Überschneidungen von Serie und Dystopie in der narrativen Struktur.27 Anders als die ›traditionellen‹ Dystopien Nineteen Eighty-Four (George Orwell) oder Wir dynamisieren die genannten Serien die dargestellten Gesellschaften in hohem Maße durch sozial-politische Revolutionen und enden häufig kurz nach einem solchen erfolgreichen Umbruch, ohne die weitere Entwicklung der fiktiven Staaten oder Gemeinschaftsformen zu beleuchten.28 Damit sind die seriellen Dystopien zugleich dem Konzept der kritischen Dystopie zuzuordnen: Dieses zeichnet sich Susanna Layh zufolge durch eutopische Elemente aus, also textuelle Signale, die auf eine positive Veränderung der dystopischen Gesellschaft hinweisen.29 Diese Signale können auf Ebene der histoire anhand von Enklaven für Widerständler oder einer Dynamisierung der statischen Gesellschaft vorliegen, auf Ebene des discours hingegen mit einem ambivalenten Ende einhergehen, das Hoffnung auf die positive Veränderung der fiktiven Gesellschaft auf Seiten der Rezipienten weckt. Anhand dieser Gegenüberstellung werden Schnittstellen zwischen kritischer Dystopie und der seriellen Erzählform deutlich. Serielles Erzählen unterscheidet sich vom Erzählen abgeschlossener Texte durch die variierte Repetition von Themen, Handlungen oder Figuren, durch Segmentierung und prinzipielle Unendlichkeit aus.30 Serie und kritische Dystopie haben folglich die Dynamisierung statischer Entitäten wie des diegetischen Raums und die Offenheit und Kontingenz der Narration gemeinsam.

Dystopie, Serie und Raum Im Spannungsfeld zwischen den Begriffen ›Dystopie‹ und ›Raum‹ sind vor allem zwei konträre Tendenzen interessant, die sich gegenwärtig in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und medialer Berichterstattung abzeichnen. Einerseits scheint Michel Foucaults Diktum bestätigt, dass wir im »Zeitalter des Raumes, […] der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens« leben.31 Belege dafür lassen sich in der weltweit zunehmenden Migration und Flucht, im Zusammenwachsen von Staaten innerhalb der EU, internationalen Abkommen zu Handel und Klima, dem freien Verkehr von Personen und Waren sowie der 27

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Vgl. Collins, Suzanne (2008): The Hunger Games; (2009): Catching Fire; (2010): Mockingjay. New York et al.: Scholastic [The Hunger Games-Serie]; sowie Dashner, James (2009): The Maze Runner; (2010): The Scorch Trials; (2011): The Death Cure; (2012): The Kill Order; (2016): The Fever Code. New York: Dell Publishing [The Maze Runner-Serie]. Vgl. Samjatin 2006 [1924]; sowie Orwell, George (1990 [1949]): Nineteen Eighty-Four. London et al.: Penguin. Vgl. hier und im folgenden Satz Layh, Susanna (2014): Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 182–204. Zu den Merkmalen kritischer Dystopien nach Layh gehören ferner die Dekonstruktion von Gattungskonventionen und die Verwendung metafiktionaler Strategien; vgl. ebd. Vgl. O’Sullivan, Sean (2019): Six Elements of Serial Narrative. In: Narrative 27.1, S. 49–64 sowie II.1.1 in dieser Arbeit. Foucault, Michel (2006 [1984]): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 317–329, hier S. 317.

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I. Einleitung

Verbindung von Menschen an weit voneinander entfernten Regionen durch neue Kommunikationstechnologien und insbesondere soziale Netzwerke finden. Die Entgrenzung vormals isolierter Regionen wird insbesondere in den bereits genannten Krisen offenbar. So folgte auf den Bankrott der Bank Lehman Brothers im Jahr 2008 in den USA die Einführung der Kurzarbeit in Deutschland, war der seit 2010 schwelende Syrien-Krieg ein Auslöser für Migration und Flucht aus dem Nahen Osten nach Europa, verschärft die Abholzung des Regenwaldes in Südamerika die globale Erderwärmung und hat der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine u.a. die Einsparung von Gas in Deutschland zur Folge. Zugleich erleben Segmentierungen von globalen bis hin zu lokalen Kontexten eine Renaissance: Bewohner einzelner Regionen wie Katalonien und Schottland setzen sich für ihre Unabhängigkeit von übergeordneten Staaten ein, Nutzer sozialer Netzwerke isolieren sich in ›Filterblasen‹ und große internationale Abkommen scheitern, wie anhand des Beispiels der Transatlantic Trade and Investment Partnership aus dem Jahr 2013 deutlich wird. Lars Koch konstatiert eine weltweite Zunahme von Mauern zwischen staatlichen Territorien und als Motiv im politischen Diskurs.32 Koch zufolge reagieren populäre Fernsehserien mit der Inszenierung physischer Barrieren auf die »Wiederkehr der ›Ideologie des Nationalstaates‹« und die Angst »vor einem bedrohlichen Anderen«.33 Mauern scheinen die Rückkehr zur »Vertrautheit der Vergangenheit« zu versprechen und werden als Projektionsfläche für die »Verhinderung der Grenzüberschreitung von Flüchtlingen, illegalen Arbeitskräften, Drogen, Waffen und Terror« wahrgenommen.34 Da Dystopien als Reaktionen auf soziale, ökologische, ökonomische und politische Probleme ihrer jeweiligen Zeit referieren, liegt es nahe, dass auch ihre Rauminszenierungen in Bezug auf Gegenwartsphänomene wie z.B. die bereits aufgeführten gedeutet werden können. Die zahlreichen militärischen, politischen sowie semantischen Grenzen und natürlichen Barrieren, die in den seriellen Dystopien errichtet, überschritten und dekonstruiert werden, können als Referenz auf den Diskurs um Mauern und Grenzen in Politik, Gesellschaft und Populärkultur verstanden werden. Beispiele hierfür liegen in den Serien The Man in the High Castle, Trepalium, Wayward Pines, 3 %, Electric City und The City & The City vor.35 Sie können sowohl als Reaktion auf gegenwärtige Raum-Diskurse als auch als Fortsetzung einer genrespezifischen Tradition gedeutet werden, nach der sich Eu- und Dystopien gleichermaßen nach außen hin abschotten.36 Dafür steht exemplarisch der Tagebucheintrag von D-503, dem systemtreuen Protago-

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Vgl. Koch, Lars (2019): Walling out. Zur Diskurspolitik und Mythomotorik Neuer Mauern in der Populärkultur. In: Becker, Johannes et al. (Hg.): Zukunftssicherung: Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: transcript, S. 167–184, hier S. 167f. Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. Vgl. auch McGuire, Randall H./McAtackney, Laura (2020): Introduction. In: Dies. (Hg.): Walling In and Walling Out. Why Are We Building New Barriers to Divide Us? Albuquerque: University of New Mexico Press, S. 1–24, hier S. 15, Vgl. Trepalium (2016), F: Arte, Creator: Antarès Bassis/Sophie Hiet sowie Electric City (2012), USA: Yahoo! Screen, Creator: Tom Hanks. Vgl. Marks, Peter (2015): Imagining Surveillance: Eutopian and Dystopian Literature and Film. Edinburgh: Edinburgh University Press, S. 104–109.

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

nisten in Wir, in dem die zivilisatorischen Errungenschaften des ›Einzigen Staates‹ auch auf dessen Isolation von einer unkontrollierbaren Außenwelt zurückgeführt werden: Doch zum Glück trennte mich die Grüne Mauer von diesem wilden, grünen Meer. O große, göttlich-begrenzte Weisheit von Mauern und Schranken! Die Mauer ist wahrscheinlich die bedeutendste Erfindung der Menschheit. Der Mensch hat erst dann aufgehört, ein unzivilisiertes Geschöpf zu sein, als er die erste Mauer errichtete.37

Räume serieller Dystopien im Post-TV Die vorliegende Studie greift das beschriebene Potential serieller Dystopien bezüglich ihrer Rauminszenierungen auf und orientiert sich dabei an den folgenden Fragen: 1. Synchrone interserielle Perspektive: Welche Gemeinsamkeiten teilen Räume serieller Dystopien im Post-TV bezogen auf ihre audiovisuelle Wahrnehmung und Rezeption, ihre Semantik und ihre narrative Darstellung? 2. Diachrone transmediale Perspektive: Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Rauminszenierungen gegenwärtiger serieller Dystopien und denen dystopischer Hypotexte? 3. Historischer Kontext: Welche gegenwärtigen Raumdiskurse und gesellschaftlichen Ängste sind den Rauminszenierungen serieller Dystopien eingeschrieben? 4. Charakteristika des Serienraums: Wie verhalten sich diegetische Räume serieller Erzählungen im Kontrast zu Räumen abgeschlossener Erzählungen? 5. Eignung der Analyseinstrumente: Inwiefern sind die gegenwärtigen Konzepte und Theorien aus Film- und Literaturwissenschaften sowie anderer Disziplinen zur Raumanalyse serieller Erzählungen geeignet?

In dieser Studie werden Merkmale der Rauminszenierungen serieller Dystopien ab 2010 vor dem Hintergrund des Post-TV erforscht (Frage 1 bis 3). Im Zentrum stehen dabei die Serien Alpha 0.7 (2010, D: SWR), Wayward Pines (2015–16, USA: FOX), The Man in the High Castle (2015–2019, USA: Amazon Prime Video), Trepalium (2016, F: Arte) und 3 % (2016–2020, BR: Netflix).38 Mit Blick auf die jeweilige fiktive Gesellschaft, Themen und Handlung können die Serien der Dystopie-Definition nach Claeys zugeordnet werden. Zugleich werden die statischen Gesellschaften der Dystopie-Serien durch die Aktivitäten von Widerständlern dynamisiert, liegen Enklaven und Freiräume für Rebellen sowie offene Erzählenden vor. Somit stehen die seriellen Dystopien sowohl in der Tradition ›klassischer‹ als auch kritischer Dystopien. Um die Ergebnisse der Untersuchung zu bewerten und ihre Aussagekraft zu überprüfen, werden weitere zeitgenössische serielle Dystopien herangezogen, darunter vor allem The Handmaid’s Tale und Westworld,

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Samjatin 2006 [1924], S. 89. Vgl. Alpha 0.7 – Der Feind in dir (2010), D: SWR, Creator: Sebastian Büttner/Oliver Hohengarten.

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I. Einleitung

ferner The City & The City, Snowpiercer, Electric City sowie die jeweils ersten Staffeln von Continuum und Altered Carbon.39 Die Prozesshaftigkeit kritisch-serieller Dystopien spiegelt sich vor allem in der Inszenierung ihrer diegetischen Räume wider. Die fiktiven Räume, die z.T. deutliche Gemeinsamkeiten mit den Topographien dystopischer Hypotexte erkennen lassen, werden im Zuge seriellen Erzählens mehrfach fragmentiert und zugleich entgrenzt. Auf Ebene der histoire ist ihnen die Einfassung in Episode und Staffel gleichsam ›vor‹ dem Erzählen eingeschrieben. Auf Ebene des discours werden bekannte Räume und Orte verdichtet oder um neue Territorien erweitert. Die Dynamisierung wird flankiert von unterirdischen Bunkern und Tunneln, die den Serienraum ebenso vertikal durchfurchen wie einzelne intakte und baufällige Wolkenkratzer. Nicht selten eskaliert der jeweilige soziale Umbruch in der Zerstörung repräsentativer Bauten oder der Nivellierung semantischer Grenzen zwischen den Räumen der Aufständischen und denen der Herrschenden. Mit der Fortführung ihrer storyworlds in Erzählungen anderer Medien, z.B. in Form von prequels und sequels, überschreiten die diegetischen Räume die Barrieren ihrer Kernserien. Durch ihr immersives Potential regen sie schließlich die Auflösung der Grenze zwischen Diegese und Rezipienten an. Abgesehen vom Desiderat genrespezifischer Merkmale, das anhand einer Untersuchung der Räume serieller Dystopien bearbeitet werden soll, eignet sich dieser Untersuchungsgegenstand auch, um der Frage nachzugehen, was Serienräume auszeichnet und von Räumen abgeschlossener Texte unterscheidet. Weil dystopische Räume imaginäre und reale Raumentwürfe einbeziehen, verweisen sie stärker auf ihre Gemachtheit als z.B. die Räume der Daily Soap oder der Sitcom. Sie verwenden unterschiedliche raumbezogenen Erzählstrategien zwischen Verdichtung und Expansion, weisen wechselnde Semantiken auf und machen den Rezipienten Angebote zur Immersion oder Distanzierung von Handlung und storyworld. Weiterhin weisen sie Strategien zur räumlichen Navigation in der Diegese auf, generieren aber auch gezielt Erfahrungen der Desorientierung. Sie zeichnen sich durch einen vielfältigen Umgang mit geographischen und politischen Karten und plastischen Raummodellen aus, die u.a. zur Authentifizierung und zur Suggestion eines statischen und homogenen Raums eingebunden werden. Die Untersuchung entwirft darüber hinaus Kategorien zur vorwiegend narratologischen Analyse von Serienräumen (Frage 4 bis 5). Ausgehend von bestehenden Raummodellen und Theorien aus Serialitätsforschung, Literatur- und Filmwissenschaft, Architektur und Kartographie (vgl. II.2, 3) wird ein Instrumentarium erarbeitet, in dem räumliche Qualitäten geschlossener und offener ästhetischer Texte gleichermaßen zusammengeführt werden, und das in der Anwendung zur Beschreibung serienspezifischer Räume beiträgt. Das daraus resultierende dreigliedrige Modell zur Untersuchung von

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Vgl. Westworld (2016-2022), USA: HBO, Creator: Lisa Joy/Jonathan Nolan; Altered Carbon (2018–2020), USA: Netflix, Creator: Laeta Kalogridis; sowie Continuum (2012–2015), CDN: Showcase, Creator: Simon Barry. Da die vorliegende Arbeit als Dissertation im November 2020 eingereicht wurde, konnten nicht alle Staffeln der in die Untersuchung einbezogenen Serien aufgegriffen werden. Für Altered Carbon wurden die Staffeln 1 und 2, für Snowpiercer Staffel 1, für The Handmaid’s Tale und Westworld jeweils die Staffeln 1, 2 und 3 für Vergleiche und Diskussionen der Ergebnisse hinzugezogen.

Albträume ohne Grenzen: Dystopie, Serie und Raum

Serienräumen orientiert sich an den Funktionen der Räume und Orte im Hinblick auf Rezeption (vgl. IV.1), Semantik (vgl. IV.2) und serielles Erzählen (vgl. IV.3). Während die Ebene der Rezeption Aspekte fokussiert, die sich unmittelbar auf die Wahrnehmung und Erfahrung des diegetischen Raums beziehen (Orientierung, ästhetische Illusion, Atmosphäre), konzentriert sich die Ebene des seriellen Erzählens auf die Fragen der Auswahl und Kombination von Raumausschnitten sowie die reziproke Beziehung zwischen diegetischem Raum und segmentierter Narration. Die Ebene der Semantik nimmt das Verhältnis von Raum als Träger von Bedeutungen anderer Konstituenten der fiktiven Welt wie Figur, Handlung und Zeit sowie extraserieller Diskurse in den Blick und stützt sich dabei vor allem auf die literaturwissenschaftliche Raumnarratologie Caroline Franks.40 Anhand eines Handlungsraums, der in der finalen Staffel der Serie 3 % narrativ aufgelöst wird, wird schließlich die Anwendung des Analysemodells illustriert (vgl. IV.4). Die Räume serieller Dystopien werden innerhalb der oben aufgeführten Kernserien vergleichend untersucht, um gemeinsame Merkmale zu destillieren. Ausgegangen wird dabei von den Episoden und Staffeln der Serie, Paratexten wie transmedialen Erweiterungen und Werbebildern sowie Äußerungen von Production Designern, Drehbuchautoren, Regisseuren oder anderen am Produktionsprozess beteiligten Akteuren. Dabei werden die Serien jeweils als Texte rezipiert, nicht aber als Werke:41 Es wird davon ausgegangen, dass die einzelnen Segmente der Serien einen sinnhaften Zusammenhang stiften, dass das Intervall zwischen Episoden und Staffeln aber ebenso konstitutiv ist wie die Unabgeschlossenheit und potentielle Erweiterbarkeit der Serie.42 Dieser hermeneutische Zugang, der auf das Verstehen der Raumsemantiken und der Regeln seriellen Raumerzählens abzielt, wird vor allem durch bestehende narratologische Ansätze der Serialitätsforschung, die Tradition des reading von Fernsehen und Fernsehserie, filmhermeneutische Ansätze sowie bestehende philologische Untersuchungen und Anknüpfungspunkte zu gegenwärtigen Fernsehserien legitimiert (vgl. II.1.2, II.1.3). Zwar wird davon ausgegangen, dass sich Serienräume an die Rezipienten richten, Äußerungen von Zuschauern in Fan-Foren oder ähnliche Dokumente werden in die vorliegende Studie jedoch nicht einbezogen, weil kaum relevantes Material in ausreichendem Ausmaß vorliegt.43 Besondere Beachtung finden jedoch die Bedingungen, die die

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Vgl. Frank, Caroline (2017a): Raum und Erzählen. Narratologisches Analysemodell und Uwe Tellkamps »Der Turm«. Würzburg: Königshausen & Neumann. In Anlehnung an Hickethier werden in dieser Arbeit Filme und Fernsehserien als Texte und Erzählungen begriffen u.a., weil sie jeweils »einen inhaltlichen Zusammenhalt, eine formale und kommunikative Kohärenz ihrer Elemente [aufweisen] und durch den Rahmen einer Kommunikationssituation bestimmt sind«; vgl. Hickethier, Knut (2012): Film- und Fernsehanalyse. 5., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 25. Vgl. O’Sullivan 2019. Die Position, Serien könnten sowohl als unabgeschlossene Texte als auch als Werk rezipiert werden, wird vertreten in Stockinger, Claudia (2019): Werk in Serie? Werkförmigkeit unter den Bedingungen von Populärkultur. In: Dannenberg, Lutz/Gilbert, Annette/Spoerhase, Carlos (Hg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 259–302. Für eine Untersuchung des reziproken Verhältnisses zwischen serieller Erzählung und den Rezipienten vgl. Hayward, Jennifer (1997): Consuming Pleasures. Active Audiences and Serial Fictions from Dickens to Soap Operas. Lexington: The University Press of Kentucky, S. 52–71.

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I. Einleitung

Produktion, Distribution und Rezeption serieller Dystopien und ihrer Räume im sogenannten Post-TV bestimmen (vgl. II.3). Der Begriff Post-TV umfasst in diesem Zusammenhang den Prozess der Lösung serieller Erzählungen vom linearen Fernsehen, ihre Nutzung über Streaming-Plattformen und verschiedene Endgeräte, die Effekte dieses Prozesses auf die Etablierung neuer Rezeptionsmodi sowie die zunehmend transmediale Ausbreitung von Serien (vgl. II.1.1.3).

II. Theoretische Grundlagen

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

1.1 Serielles Erzählen im Post-TV Das Prinzip der Serialität liegt neben dem Fernsehen auch in anderen Medien wie Literatur, Film, Musik und Fotografie vor.1 Dennoch ist die Serialitätsforschung gegenwärtig vor allem durch fiktionale Fernsehserien dominiert, die wiederum mehrheitlich als Formen des Erzählens begriffen werden.2 Jason Mittell zufolge liegt der narrative Charakter der Fernsehserie begründet in einer »sustained narrative world, populated by a consistent set of characters who experience a chain of events over time«.3 Für Kathrin Rothemund besteht die fiktionale Fernsehserie hingegen aus mindestens zwei Episoden, die sich durch formale und/oder inhaltliche Kohärenz auszeichnen. Serielles Erzählen folgt im Aufbau einzelner Episoden mindestens einem wiederkehrenden dramaturgischen Modell, das je nach Serienform durch mehr Offen- oder Geschlossenheit zu beschreiben ist, meist zeichnen sich die Episoden zu-

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Weber/Junklewitz schlagen eine für unterschiedliche Medien gültige Definition der Serie vor: »Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können«; Weber, Tanja/ Junklewitz, Christian (2008): Das Gesetz der Serie: Ansätze zur Definition und Analyse. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews 1, S. 13–31, hier S. 18. Schleich/Nesselhauf fokussieren in ihrer ebenfalls medienübergreifenden Definition stärker den Charakter des seriellen Erzählens, weshalb sie neben dem Thema auch Figuren als ›Bindeglied‹ einzelner Segmente sehen und von einer »progressive[n] Fortsetzung der Geschichte (und damit auch der Narration)« ausgehen; Schleich, Markus/Nesselhauf, Jonas (2016): Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration. Tübingen: Francke Verlag, S. 13. Mit der Rückkehr zum status quo in Episodenserien scheint diese Definition jedoch weniger gut vereinbar zu sein. Vgl. hierzu II.1.1.2 und II.1.2.2 in dieser Arbeit. Mittell, Jason (2015): Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling. New York/ London: New York University Press, S. 10, Herv. i. O.

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II. Theoretische Grundlagen

dem durch wiederkehrendes Figurenarsenal und/oder eine Kontinuität der diegetischen Räume aus.4 Beide Definitionen eint die Aufmerksamkeit für die fiktiven Räumlichkeiten von Fernsehserien, sei es als ›Container‹, in dem sich die Handlung abspielt (Mittell) oder als kohärenzstiftendes Element (Rothemund). Mittells Definition geht im Sinne der kognitiven Narratologie von einer Manifestation des seriellen Textes in der Vorstellung der Zuschauerschaft aus5 und ermöglicht somit einen literaturwissenschaftlichen Zugang zu Fernsehserien. Während Rothemunds Definition zentrale Prinzipien seriellen Erzählens wie Segmentierung, Repetition und Kohärenz aufgreift, liest sich Mittells Beschreibung allerdings so, als könne sie auch für abgeschlossene bzw. werkhafte Fernsehfilme gelten. Um die Spezifika fiktiver Räume in seriellen Dystopien zu erschließen, müssen die vorhandenen Definitionen und Modelle der Film-, Fernseh- und Literaturwissenschaft aber sowohl an das Serielle als Erzählprinzip als auch an das mediale Umfeld gegenwärtiger Fernsehserien angepasst werden. Folglich liegt der Schwerpunkt dieses Kapitels zum einen auf den Charakteristika fernsehserieller Erzählungen, die sie von abgeschlossenen Texten bzw. Werken trennen, zum anderen auf den Bedingungen seriellen Erzählens, die sich aus der Medialität, der Produktion, Distribution und Rezeption im Post-TV ergeben. Abschließend wird begründet, warum philologische und narratologische Ansätze produktiv für die Untersuchung von Räumen serieller Dystopien der Gegenwart sind.

1.1.1

Merkmale und Formen seriellen Erzählens

Zu den Kriterien seriellen Erzählens, die diese Darstellungsform von Werken abgrenzen, gehören 1.) das Erzählen in Segmenten, 2.) das Prinzip von Repetition und Variation, 3.) die Unabgeschlossenheit der Narration und 4.) Kohärenzstiftung über narrative Brüche hinweg. Für Sean O’Sullivan ergibt der sinnhafte Bruch zwischen zwei Teilen das zentrale Kriterium für Serien und bietet darüber hinaus den Rezipienten eine Gelegenheit, Leerstellen im seriellen Text zu füllen.6 Das wiederkehrende Intervall bringe sechs Elemente hervor, die serielle Erzählungen in verschiedensten Medien, vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, kennzeichneten:7 Die Kategorie discursive connections umfasst die Elemente iteration, multiplicity und momentum und beschreibt die strukturellen Verbindungen zwischen den Segmenten sowie die durch das Intervall hervorgerufenen Konsequenzen für das Erzählen. Diese seien ferner durch den Umfang des Erzählsegments (bei der Fernsehserie Episode und Staffel) sowie die Länge des Intervalls beeinflusst. Die Kategorie varieties of scope konzentriert sich wiederum auf Elemente, die durch die serielle Organisation hervorgerufen und im Laufe ihrer Ausbreitung ausgestaltet werden, nämlich world-building, personnel und design. O’Sullivan schlägt mit seinem Kriterien-Katalog keinen Ersatz für etablierte narratologische Kategorien wie Zeit, Raum und Handlung vor, 4 5 6 7

Rothemund, Kathrin (2017): Erzählen im Fernsehen. In: Huber, Martin/Schmid, Wolf (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 458–471, hier S. 463. Mittell 2015, S. 10. O’Sullivan 2019, S. 51. Vgl. für die folgenden Ausführungen O’Sullivan 2019, S. 51–54.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

sondern geht davon aus, dass diese Elemente alle anderen Aspekte serieller Narration, die auch in geschlossenen Erzählungen vorkommen können, überwölben und re-organisieren.8 Mit Blick auf die Fernsehserie ließe sich ergänzen, dass die Fragmentierung in Episoden und Staffeln durch eine Reihe konventionalisierter paratextueller Elemente wie Epigraphe, cold openings, opening credits, ending credits sowie previously on- und next onSegmente akzentuiert wird.9 Das zweite zentrale Merkmal seriellen Erzählens ist die Wiederholung: »Jede Form serieller Fortsetzung schwankt zwischen den Polen der Wiederholung, Stagnation und Progression, wenn auch – aufgrund der verschiedenen Formen […] – unterschiedlich stark«.10 O’Sullivan schlägt den bereits genannten Begriff der Iteration vor, um die serielle Wiederholung von den in der Kunst allgemein gebräuchlichen Mustern der Repetition und des Parallelismus abzugrenzen.11 Iteration umfasse ritualisierte Wiederholungen, die dadurch die Erzählung strukturieren, dass sie die Rezipienten an bereits Bekanntes erinnern und Vertrautheit schaffen. Fernsehserien mit hoher Iteration wiederholen laut O’Sullivan z.B. opening credits, fassen vorherige Episoden am Beginn der aktuellen Folge zusammen oder verwenden bekannte Handlungsorte. Serien mit geringer Iteration zeichneten sich hingegen dadurch aus, dass sie weniger oder kaum auf Bekanntes verweisen und stattdessen das Erzählte oder die Erzählweise stärker variieren, wie z.B. die Serie Party Down, die für jede Episode einen neuen Schauplatz auswählt.12 Wie O’Sullivan selbst bemerkt, überschneidet sich das Iterative mit den Ausführungen zur Serie von Umberto Eco.13 Serialität ist laut Eco die Wiederholung im Sinne einer »Kopie vom gleichen abstrakten Typus«.14 Bei den Serien glaubt man, sich an der Neuheit der Geschichte (die immer die gleiche ist) zu erfreuen, tatsächlich erfreut man sich aber an der Wiederkehr des immer konstanten narrativen Schemas. Die Serie erfüllt in diesem Sinne unser infantiles Be-

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Obgleich O’Sullivans Formulierungen eindeutig strukturalistische Denkkategorien zugrunde liegen, ist z.B. die Unterscheidung zwischen discursive connections und varieties of scope nicht als analog zu etablierten Modell-Ebenen wie discours und histoire zu verstehen. Dies wird exemplarisch anhand der Elemente world-building und personnel deutlich, die immer die narrative und serielle Organisation von Raum und Zeit einerseits und Figuren andererseits meinen, also discours und histoire jeweils bereits ›mitdenken‹; vgl. O’Sullivan 2019. Schleich/Nesselhauf 2016 schlagen den Begriff des seriellen Rahmen bzw. serial frame für »alle Elemente« vor, »die sich um die eigentliche Episode[nhandlung] gruppieren« und unterscheiden zwischen dem direkten seriellen Rahmen, »der sich um die jeweilige Episode positioniert« wie z.B. das cold opening, und dem indirekten seriellen Rahmen, »der dem Rezipienten zusätzliche […] Informationen liefert und in der Regel in einem anderen Medium stattfindet und durch diese Transmedialität […] nicht in direktem Kontakt mit der Episode steht«, wie z.B. eine Webserie, die zur Kernserie gehört; vgl. ebd., S. 182f. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. hier und für die folgende Darstellung O’Sullivan 2019, S. 53f. Das Resultat einer von O’Sullivan für Party Down beschriebenen Innovation ist letztlich aber auch eine Form der Wiederholung, nämlich die Fortführung eines etablierten Erzählschemas. Vgl. ebd., S. 53. Eco, Umberto (2005 [1987]): Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien. In: Ders.: Streit der Interpretationen. Hamburg: Philo, S. 81–111, hier S. 86, Herv. i. O.

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II. Theoretische Grundlagen

dürfnis, die gleiche Geschichte immer wieder zu hören, getröstet zu werden durch die »Wiederkehr des Identischen«, das nur oberflächlich verkleidet ist.15 Diese oberflächliche ›Verkleidung‹ des Bekannten nennt Eco an anderer Stelle Variation.16 Serien würden wie andere Texte auch einen »doppelten Modell-Leser«, »einen naiven und einen ›gewitzten‹« Zuschauer voraussetzen und konstruieren: Während der naive Zuschauer eher an Wiederholung und Unterhaltung interessiert sei, durchschaue der kritische das serielle Schema und erfreue sich an der Art und Weise der Wiederholung bzw. der »Strategie der Variationen«.17 Als kommerzielle und populärkulturelle Artefakte sind Fernsehserien gezwungen, etablierte Erzählmuster zu modifizieren, um das Interesse der Zuschauerschaft an der Serie und somit auch ihre zukünftige Produktion aufrechtzuerhalten. Florian SchultzPernice zufolge befindet sich serielles Erzählen aus diesen Gründen in einem permanenten Dilemma: Es müsse zum einen Bekanntes wiederholen, zugleich aber Ereignishaftigkeit aufweisen – und die entstehe, »je unvorhersehbarer, unwahrscheinlicher, folgenreicher, unumkehrbarer und unwiederholbarer« ein Ereignis sei.18 Mit ihrer Ausbreitung sei die Serie gezwungen, »immer neue Formen von Ereignishaftigkeit zu entwickeln«.19 Dieser Verlauf der Selbstüberbietung drohe schließlich »rekursiv zu werden und damit zu eskalieren«.20 Um das Gleichgewicht zwischen Repetition und Ereignishaftigkeit bzw. Variation aufrechtzuerhalten, greife serielles Erzählen auf fünf Strategien zurück: 1. Verdeckung: »[G]leichartige Ereignisstrukturen und also Wiederholungen« treten »in anderem Gewand« auf. So finden sich z.B. Figuren aus Emergency Room in anderen Räumen wieder (England, Afrika), die Handlungsschemata und Themen bleiben aber gleich. Der »Raumwechsel« ist »größtenteils ein Oberflächenphänomen«, anstelle der »Konstitution von Ereignishaftigkeit« findet eine »Verdeckung der Wiederholung durch Variation der Oberfläche« statt. 15 16 17

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Eco 2005, S. 88. Ebd., S. 98 Ebd., S. 97f. Während also der naive Zuschauer einer Krimi-Serie Freude am Showdown hat, in dem der Mörder enttarnt wird, vergnügt sich der gewitzte womöglich anhand der Art und Weise, wie der abstrakte Typus jeweils neu wiederholt wird. Der gewitzte Zuschauer ist auch eher in der Lage, sich an der Form des Erzählens generell zu erfreuen, z.B. an intertextuellen Verweis des Schauplatzes, in dem der Mörder entdeckt wird, weil er auf andere Krimi-Erzählungen referiert, somit den Zuschauer seines enzyklopädischen Wissens gewahr werden lässt und ihm Zutritt zum intertextuellen Spiel gewährt; vgl. ebd., S. 91–96. Die Unterscheidung zwischen dem naiven und gewitzten bzw. kritischen Zuschauer beschreibt keine unveränderbaren Zustände: Eco betont, dass jeder Rezipient durch das Erkennen innovativer Darstellungsstrategien zu einem kritischen Leser werden kann; ebd., S. 98. Schultz-Pernice, Florian (2016a): Narrative und normative Probleme und ihr Potential für den Aufbau narrativer Kompetenzen und die Wertebildung. In: Anders, Petra/Staiger, Michael (Hg.): Serialität in Literatur und Medien, Band 1: Theorie und Didaktik. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 42–55, hier S. 43f. Schultz-Pernice‹ Begriff der Ereignishaftigkeit geht u.a. von Lotman 1972 aus; vgl. ebd. Schultz-Pernice 2016a, S. 44. Ebd.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive 2. Eskalation: Ereignishaftigkeit wird »sukzessive im Hinblick auf die genannten graduierbaren Kategorien gesteigert«, wodurch es zu einer »›Dynamik der seriellen Überbietung‹« bzw. einer »Wiederholung und Durchbrechung der Wiederholung« kommt. Diese Strategie kann u.a. in Form einer »zunehmenden Raumdynamik der Figuren« deutlich werden. 3. Expansion: »In diesem Fall wird das Erzähluniversum so ausgeweitet, dass sich auch die ereignishaften Strukturen vervielfältigen können«. Beispiele sind die »Ausweitung des Figureninventars«, »des Raumsystems oder der narrativen Darstellungsmittel«. So führe z.B. das Hinzufügen neuer Figuren zu neuen »Ereignispotentialen«. 4. Verschiebung: »Neue Typen von Ereignishaftigkeit können auch durch Seitwärtsbewegungen generiert werden – etwa durch die Verschiebung des ereigniskonstitutiven Systems semantischer Räume oder des Figureninventars«. Ein Beispiel ist die Serie Twin Peaks, in der die »Aufklärung eines Verbrechens […] von anderen semantischen Komplexen, welche Strukturen der Ereignishaftigkeit auf ganz anderen Ebenen generieren[,]« überlagert werden. 5. Metaisierung: »Die Dialektik von Schemakonstitution und Schemadurchbrechung im seriellen Erzählen« wird selbst zum »Schematismus«. Einige Serien stellen an diesem Punkt ihr Wissen um die serielle Dynamik aus, in dem sie auf ihr eigenes Erzählen verweisen. Ein Beispiel ist das Ende der Serie Emergency Room mit dem Titel der 325. Episode, »The Beginning of the End«.21

Wie Schultz-Pernice anmerkt, überlagern sich einige dieser Strategien gegenseitig.22 Darüber hinaus geht auch nicht jede Strategie zwangsläufig auf das Spannungsverhältnis zwischen Wiederholung und Ereignishaftigkeit zurück: Metanarrativität ist ein Merkmal, das in Serien wie The Simpsons und Boston Legal selbst Wiederholung und Variation unterliegt und stellt mit Blick auf die Vielzahl auf sich selbst referierender Serien vielmehr eine Konvention gegenwärtigen seriellen Erzählens im Fernsehen als eine Form der Schemadurchbrechung dar.23 Weiterhin lässt sich die Übersicht durch die Strategie der intraseriellen De-Eskalation oder Unterbietung, also die Reduktion ästhetischer und narrativer Innovation, ergänzen.24 Unabgeschlossenheit als drittes Kriterium seriellen Erzählens wird mit Blick auf fiktionale Fernsehserien jüngeren Datums auf mindestens zwei Ebenen deutlich: der linearen Ausbreitung der Erzählung und der Offenheit der storyworld. Als fortgesetzte Erzählung wird die fiktionale Fernsehserie meist so ausgestrahlt, dass ihr Ende noch nicht ab-

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Schultz-Pernice 2016a, S. 45f. Ebd., S. 46. Eine Annäherung ist z.B. zwischen Expansion und Verschiebung zu erkennen. Vgl. The Simpsons (1989-), USA: FOX, Creator: Matt Groening; sowie Boston Legal (2004–2008), USA: ABC, Creator: David E. Kelley. Sudmann zufolge existiert diese Strategie allein in der Minderung der Qualität der jeweiligen Serie, im interseriellen Vergleich sei sie hingegen »im Wesentlichen eine Distanzierungsgeste«; Sudmann, Andreas (2017): Serielle Überbietung. Zur televisuellen Ästhetik und Philosophie exponierter Steigerungen. Stuttgart: Metzler, S. 269f.

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II. Theoretische Grundlagen

sehbar ist.25 Davon ausgenommen sind geschlossen veröffentlichte Formate wie die mini series und der Mehrteiler.26 Fernsehserien sind ob ihrer potentiellen Erweiterbarkeit immer fragmentiert, halten jedoch zugleich einen möglichen Abschluss in der Schwebe: In den wenigsten Fällen […] darf eine Serie mit sorgsam vorbereiteter Closure abtreten, sozusagen nachträglich zum werkhaften Mehrteiler geadelt. Möglich wird dies nur, wenn sich das kommende Ende bei Produktion und Erstausstrahlung bereits als Ende kennt bzw. als solches erwartet und rezipiert wird. Selbst in diesen Fällen aber lässt die Erzählung meist markierte Anschlussmöglichkeiten für eine Fortsetzung offen (wie in den letzten Episoden von Sex and the City oder The Sopranos).27 Das gewollte oder ungewollte Ende einer Serie hindert sie nicht daran, selbst auf ihre Fortsetzung hinzuwirken, z.B. durch Cliffhanger oder als Abbruch ausgestellte Enden, wie in eben jenem historischen Finale der Sopranos. Sowohl nach einem Finale als auch einem Abbruch können Serien potentiell unendlich erweitert werden, durch Wiederaufnahmen in Form von sequels, pre-quels, revivals oder ihrer Reanimation in Form von Fan Fiction. Auch spin-offs sowie transmediale Fortsetzungen in Kinofilm, Literatur, Graphic Novel oder Computerspiel zeugen von der Unabgeschlossenheit (fernseh-)seriellen Erzählens.28 Eine andere Form der Unabgeschlossenheit betrifft nicht die Ausbreitung der Erzählung, sondern die Permeabilität der Diegese fiktionaler Fernsehserien gegenüber anderen Formaten wie z.B. Nachrichten sowie mit Blick auf die Zuschauerschaft. Das Fernsehen ist laut Jane Feuer durch Offenheit, Serialität und Nicht-Linearität geprägt, und insbesondere »›diegetic‹ fictions« seien durchgehend von Voice-Over-Ankündigungen und Werbung unterbrochen.29 Folglich könne das Konzept der Diegese, wie es für das Kino Verwendung finde, nicht mit dem Fernsehen in Einklang gebracht werden, weder hinsichtlich seiner Narrativität noch mit Blick auf dessen Rezeptionsmodi.30 Im Fernsehen würden die Grenzen der Diegese bewusst missachtet und durch Werbung sowie in Richtung der Rezipienten überschritten, ohne dass es sich dabei um einen Normbruch 25

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Vgl. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 116f. Vgl. ferner Kelleter, Frank (2012): Populäre Serialität. Eine Einführung. In: Ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, S. 11–46, hier S. 12; sowie Feuer, Jane (1986): Narrative Form in American Network Television. In: MacCabe, Colin (Hg.): High Theory/Low Culture: Analyzing Popular Television and Film. Manchester: Manchester University Press, S. 101–115, hier S. 102–104. Ferner sind hier auch Serien zu nennen, die in einem finanziell abgesicherten Umfeld sowie von creators mit hoher künstlerischer Freiheit und folglich nach einem vorab festgelegten Plan produziert werden können, wie z.B. The Wire (2002–2008). USA: HBO, Creator: David Simon; vgl. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 117. Kelleter 2012, S. 27. Vgl. Piepiorka, Christine (2017): Lost in Time & Space. Transmediale Universen & prozesshafte Serialität. Hamburg: tredtition, S. 251. Feuer 1986, S. 104. Vgl. auch Morsch, Thomas (2012): Serialität und metaleptische Erfahrung. In: Montage AV 21.1, S. 151–174. Morsch geht ebenfalls von der Durchlässigkeit des Fernsehens und vor allem der Fernsehserie mit Blick auf die aufeinanderfolgenden Programme, Zuschauer und reale Ereignisse aus. Vgl. Feuer 1986, S. 104.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

handele.31 Neben diesen strukturell bedingten Transgressionen sind auch Metalepsen in Fernsehserien ein ›klassisches‹ televisuelles Phänomen, das den Eindruck einer offenen storyworld erzeugt. Gemeint sind damit sowohl metafiktionale Referenzen von Figuren, die die Künstlichkeit der eigenen Welt offenlegen und an die Zuschauerschaft adressierte Aussagen,32 als auch cross over einer Figur in ein fremdes fiktives Universum.33 Überschneidungen fiktionaler Serien mit anderen Fernsehtexten finden auch im nicht-linearen Post-TV statt, das später detaillierter erläutert wird.34 So überlagern sich bei der Distribution per Streaming-Plattform paratextuelle und diegetische Elemente mehrfach, wenn am Ende einer Serie die ending credits die finale Handlung ›verdecken‹, zudem aber bereits eine Vorankündigung für die nächste Episode oder eine andere Serie im Bildraum erscheint. Zu Überschneidungen fiktiver Welten kommt es auch durch die Praktik des multi-screen viewing, in der mehrere Angebote über Fernsehsender oder Streaming-Plattformen parallel rezipiert werden.35 Bei dieser zweiten Form der Unabgeschlossenheit handelt es sich weniger um eine Spezialität des Seriellen, aber dennoch um eine Konsequenz einer gegenwärtigen und weit verbreiteten Rezeptionspraxis des Fernsehens. Die Kriterien des Intervalls, der Spannung zwischen Repetition und Variation sowie der Unabgeschlossenheit seriellen Erzählens erfordern viertens kohärenzstiftende Elemente, die die einzelnen Teile der Erzählung verbinden und dabei helfen, narrative Innovationen in das bekannte Schema zu integrieren. Der Grad intraserieller Kohärenz wird durch die jeweilige Form fernsehseriellen Erzählens bestimmt. Rothemund unterscheidet Serienformen entlang der Pole ›geschlossen‹ und ›offen‹. Innerhalb dieses Kontinuums ließen sich in der angegebenen Reihenfolge die idealtypischen »Grundformen« der Reihe bzw. Anthologie-Serie (z.B. American Horror Story), der series, d.h. des episodischen bzw. vertikalen Erzählens (z.B. The Simpsons) und der serial, d.h. des fortgesetzten bzw. horizontalen Erzählens (z.B. Gute Zeiten, Schlechte Zeiten) anordnen.36 Ergänzend sei hier auch der Mehrteiler bzw. die mini series genannt, die bereits in

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Vgl. ebd., S. 105. Vgl. hierzu Morsch 2012, S. 160. Morsch formuliert bewusst einen weiten Metalepse-Begriff, der Transgressionen zwischen Serie sowie realer Welt und Zuschauern, aber auch Selbstreflexivität umfasst und charakteristisch für die »fortgesetzte und zeitlich gedehnte Erzählung« sei. Folglich spricht er »von einer metaleptischen Erfahrung«, »die sich als charakteristisch für die gegenwärtige Serienrezeption bezeichnen lässt«; vgl. ebd., S. 152. Vgl. hierzu die Episode »Novel Connection« (S7E8) der Serie Magnum, P.I. (1980–88), USA: CBS, Creator: Donald P. Bellisario/Glen A. Larson: In dieser Folge wird der gleichnamige Held nur durch die Unterstützung von Jessica Fletcher von einem Mordverdacht befreit, die die Protagonistin einer anderen Serie ist, nämlich von Murder, She Wrote (1984–96), USA: CBS, Creator: Peter S. Fischer et al. Vgl. zu diesem und anderen intraseriellen cross over Weber, Tanja/Junklewitz, Christian (2016): Die Vermessung der Serialität: Wie Fernsehserien zueinander in Beziehung stehen. In: MEDIENwissenschaft 1, S. 8–24, hier S. 15–19. Vgl. II.1.1.3 in dieser Arbeit. Vgl. Piepiorka 2017, S. 181f. vgl. hierzu auch II.1.1.3 in dieser Arbeit. Vgl. Hißnauer, Christian (2020): Serialität und Serienformen. In: Geimer, Alexander/Heinze, Carsten/Winter, Rainer (Hg.): Handbuch Filmsoziologie. Wiesbaden: Springer [Sammelband ohne durchgehende Paginierung], S. 6. Zu den Serienbeispielen vgl. American Horror Story (2011-), USA:

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II. Theoretische Grundlagen

der Produktion auf Abgeschlossenheit angelegt sind (z.B. Der gleiche Himmel)37 und den höchsten Grad an Geschlossenheit aufweisen. Die intraserielle Kohärenz innerhalb der jeweiligen Serienformen wird durch previously on-Segmente und opening credits gestiftet, aber auch durch Erzählstränge. Da letztere in der series innerhalb einer Episode abgeschlossen werden, liege bei dieser Serienform eine geringere intraserielle Kohärenz vor als bei serials, die Erzählstränge über mehrere Episoden und Staffeln aufspannten.38 Dennoch könne sich auch bei Episodenserien Kohärenz einstellen: Dazu zählt beispielsweise die ›kumulative Narration‹ […], die sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer ergibt, die eine bestimmte Serie sehr häufig schauen und die durch selbstreflexive Verweise, beispielsweise in Form von Verweisen auf frühere Folgen, innerhalb einer Serie einen Mehrwert gegenüber Zuschauerinnen und Zuschauern haben, die nur Zugang zu der Hauptnarration einer bestimmten Folge bekommen […].39 Ein anderes Modell zur Erfassung intraserieller Kohärenz schlagen Tanja Weber und Christian Junklewitz vor. Sie unterscheiden zwischen der »Fortsetzungsreichweite, die angibt, über welche Distanz sich ein Handlungsbogen erstreckt, und der Fortsetzungsdichte, die das quantitative Verhältnis beschreibt zwischen den Folgen, die fortgesetzt erzählen, und denjenigen, die abgeschlossen sind«.40 So liege bei der Serie House M.D., die fast ausschließlich ihre Handlung innerhalb einer Episode abschließe und nur selten episodenübergreifend erzähle, eine geringe Fortsetzungsdichte und -reichweite vor.41 Verliebt in Berlin oder Türkisch für Anfänger, also durchgehend episodenübergreifend erzählende Serien, hätten hingegen eine hohe Fortsetzungsdichte und -reichweite.42

1.1.2 Serialitätsforschung und populäre Serialität Laut Christian Hißnauer fragt die Serialitätsforschung nicht nur nach der Ästhetik, sondern ebenso nach der kulturellen Arbeit – der Praxis – seriellen Erzählens. In der neueren Serien- und Serialitätsforschung werden Serien da-

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FX, Creator: Ryan Murphy/Brad Falchuk; Gute Zeiten, schlechte Zeiten (1992-), D: RTL, Creator: Reg Watson. Rothemund 2017, S. 466. Vgl. auch Hißnauer 2020, der darauf hinweist, dass Mehrteiler »oftmals eher als ›zerteilte‹ Fernsehfilme wahrgenommen« werden und dass die Begriffe Mehrteiler und »›Mini-Serie‹« problematisch seien, da auch Serien mit einer hohen Anzahl an Episoden wie Lost »von vornherein auf ein bestimmtes Ende nach mehreren Staffeln hin konzipiert« sind und »es durchaus Beispiele dafür gibt, dass Produktionen aufgrund ihres Erfolges eine zunächst nichtgeplante Fortsetzung fanden«; ebd., S. 6, Anm. 13. Zum Serienbeispiel vgl. Der gleiche Himmel (2017), D: ZDF, Creator: Paula Milne. Vgl. Rothemund 2017, S. 464. Ebd. Weber/Junklewitz 2008, S. 24. Ebd. Ebd.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

her auch als vast narratives […] und moving targets […] begriffen, also als stetig wachsende – sich ausdehnende – und dabei stets bewegliche Erzählungen.43 Zentral für die Serialitätsforschung ist Frank Kelleters Konzept der populären Serialität.44 Darunter versteht er einen »Erzähltypus«, der seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem auffälligen, in bestimmten Zusammenhängen sogar vorherrschenden Merkmal kultureller Praxis wird. Es geht um Fortsetzungsgeschichten mit Figurenkonstanz, die produktionsökonomisch standardisiert, d.h. in der Regel arbeitsteilig und mit industriellen Mitteln, sowie narrativ hochgradig schematisiert für ein Massenpublikum hergestellt werden.45 Anders als z.B. die bereits zitierten Definitionen seriellen Erzählens von Mittell und Rothemund betrachtet Kelleter serielle Erzählungen sowohl als Akteure, die sich durch Selbstbeobachtung, Einflussnahme auf die Rezeption und Selbsthistorisierung auszeichnen als auch als Artefakte, die in arbeitsteilige ökonomische Prozesse eingebunden sind und kommerziellen Interessen unterliegen. Sie unterscheiden sich von Werken nicht nur durch Unabgeschlossenheit und ihre potentiellen Anschlussmöglichkeiten, sondern auch durch die Orientierung an ihren Rezipienten, da sie deren Interesse für die Erzählung durch »medien- und erzähltechnische Innovationen« aufrechterhalten müssen und ihre »eigene Wirkung auf das Publikum beobachten können, während die Erzählung noch läuft«.46 Die Untersuchung von Fernsehserien, von der die stärksten Impulse für den Diskurs zur populären Serialität und für die Serialitätsforschung ausgehen, wurde in den letzten Jahren besonders durch eine vergleichsweise kleine Anzahl fiktionaler Programme wie The Sopranos, The Wire, Mad Men und Breaking Bad geprägt, die sich durch eine Ästhetik und Erzählweisen auszeichnen, die in Abgrenzung zum ›traditionellen‹ Fernsehen als ›innovativ‹, ›neu‹ oder ›qualitätsvoll‹ bezeichnet und unter Termini wie QualityTV und Complex-TV verhandelt werden.47 Die Adressaten dieser Serien sind »ein beson43 44 45 46 47

Hißnauer 2020, S. 2. Der Begriff und die Forderung nach einer sog. Serialitätsforschung gehen maßgeblich auf Kelleter 2012 zurück; vgl. ebd., S. 36. Vgl. für die folgende Darstellung Kelleter 2012, S. 18–24. Kelleter 2012, S. 18. Ebd., S. 23, 24. Vgl. hierzu ergänzend die Zusammenfassung der fünf »Perspektiven« auf populäre Serialität nach Kelleter in Hißnauer 2020, S. 2f. Vgl. Mad Men (2007–2015), USA: AMC, Creator: Matthew Weiner und Breaking Bad (2008–2013), USA: AMC, Creator: Vince Gilligan. Die Bezeichnungen für gegenwärtige TV-Serien ließen sich ergänzen um »›High End TV‹ (Nelson 2007), ›Auteur Series‹ (Dreher 2010; Dreher 2014), ›Prestige TV‹ (Hill 2013), ›Art TV‹ (Mittell 2006)«; zit. in Nesselhauf, Jonas/Schleich, Markus (2015): Vorwort: Feeling That the Best Is Over. Vom Ende der Qualität und der Qualität von Enden. In: Dies. (Hg.): Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des ›Quality Television‹. Bielefeld: transcript, S. 9–31, hier S. 10. Die Vielzahl an Begriffen für das generelle Phänomen ›anderer‹ und besonders hochwertiger Serien verweist darauf, dass es keine einheitliche Vorstellung dessen gibt, was Qualitätsfernsehen genau ist. In vielen Einzelstudien, die sich auf die Qualität von Fernsehserien konzentrieren sowie Monographien zum Quality-TV erfolgt vorrangig ein Bezug auf die zwölf Kriterien, die von Robert Thompson formuliert wurden: »Demnach ist Qualitätsfernsehen kein gewöhnliches Fernsehen (1); Qualitätsserien werden von Künstlern gemacht (2), sprechen ein gehobenes Publikum an (3), haben niedrige Einschaltquoten und kämpfen gegen den Widerstand der Sender

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II. Theoretische Grundlagen

ders begehrtes, heißt: zahlungskräftiges, gebildetes und (bisweilen) globales Publikum«, weshalb der Bezeichnung Quality-TV durchaus »eine schichtspezifische Zuschreibung inhärent« ist.48 Einerseits erscheint diese Kategorisierung funktional, da sie offensichtlich ein Verlangen in der Forschung nach einer ästhetischen Bewertung von seriellem Erzählen im Fernsehen indiziert.49 Der Kriterienkatalog des Quality-TV nach Robert Thompson offenbart sich als besonders einflussreich, weil sich die »gegenwärtig zirkulierende[n] Argumentationen und Zuschreibungen […] im Wesentlichen immer noch um« ihn formieren.50 Zudem ist davon auszugehen, dass der Qualitätsdiskus, der neben Forschung und Feuilleton auch von den Fernsehserien selber betrieben wird,51 sowohl »den Einzug der Fernsehserie in den akademischen ›Elfenbeinturm‹« als auch die zunehmend kritisch geführte Diskussion über ›gutes‹ und ›innovatives‹ Fernsehen wahrscheinlich erst ermöglichte.52 Andererseits ist die Nobilitierung einer Handvoll Serien, die darüber hinaus fast ausschließlich US-amerikanischen Ursprungs sind, aus vielen Gründen problematisch. Kritikwürdig am Quality-Begriff ist u.a. die Aufwertung fiktionaler Serien durch Vergleiche mit Film und Literatur,53 die Kanonisierung einer geringen Anzahl an Serien auf Kosten anderer,54 die Ausblendung von Formaten wie Sitcoms55 und dokumentarischen Serien56 sowie die Verbreitung widersprüchlicher und schwer durchschaubarer Vorstellun-

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und des Mainstream-Publikums (4); sie verfügen über ein großes Figurenensemble, präsentieren unterschiedliche Perspektiven und haben multiple Plots (5), entwickeln ein serielles Gedächtnis (6), kreieren neue Genres, indem sie bestehende Genres kombinieren (7), sind literarisch, autorenzentriert, komplexer als andere Serien 8), selbstreflexiv (9), behandeln kontroverse Themen (10), versuchen, ›realistisch‹ zu sein (11) und werden mit Lobeshymnen und Preisen überhäuft (12)«; Frizzoni, Brigitte (2012): Zwischen Trash-TV und Quality-TV. Wertediskurse zu serieller Unterhaltung. In: Kelleter, Frank (Hg.): Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, S. 339–351, hier S. 341f. Frizzoni 2012, S. 340. Vgl. Sarah Cardwell 2007, zit. in Borsos, Stefan (2017): Nach dem ›Quality TV‹: Anatomie und Kritik eines Diskurses. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen/Reviews 1, S. 8–25, hier S. 15. Frizzoni 2012, S. 342. Vgl. Sudmann 2017, S. 200. Vgl. Nesselhauf/Schleich 2015, S. 17, inkl. Anm. 22. Vgl. Borsos 2017, S. 19f. Vor allem The Sopranos, The Wire, Mad Men und Breaking Bad werden wiederholt als »›die ›großen Vier‹« bezeichnet; vgl. Nesselhauf/Schleich 2015, S. 11. Zum Ausschluss von Serien aus dem ›Quality-Kanon‹, die sich im Gegensatz zu den vier genannten Serien um weibliche Charaktere drehen, vgl. Frizzoni 2012, S. 346. Ausnahmen stellen diesbezüglich einige Beiträge in Nesselhauf/Schleich 2015 dar, darunter Pankratz, Anette (2015): »The Far Side«. Britische Sitcoms, Qualitätsdiskurse und das Populäre. In: Nesselhauf, Jonas/Schleich, Markus (Hg.): Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des ›Quality Television‹. Bielefeld: transcript, S. 213–228. Vgl. Bleicher in einem Interview mit Keilbach; Keilbach, Judith (2012): »Der Begriff Fernsehen wird auf etwas übertragen, das überhaupt kein Fernsehen ist«. Joan Bleicher über altes und ›neues‹ Fernsehen. In: Montage AV 21.1, S. 109–114, hier S. 112.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

gen von Komplexität und Innovation.57 Beanstanden lässt sich nicht zuletzt eine gewisse Geschichtsvergessenheit, da suggeriert wird, Serien vor den 1990er bzw. 2000er Jahren erzählten ohne ästhetischen Anspruch oder narrative Innovationen.58 Anders als in der akademischen Auseinandersetzung um Quality-TV spielt diese Kategorie in der Wahrnehmung der Zuschauer kaum eine Rolle, wie Barbara Frizzoni mit Blick auf eine empirische Untersuchung konstatiert: In über vierzig Interviews, die Studierende der Universität Zürich im Rahmen eines Seminars zu Biografie und Serienrezeption im Jahr 2009 mit 16- bis 59-jährigen Fernsehzuschauern führten, wird interessanterweise kaum auf die Besonderheit der damals aktuell laufenden Quality-TV-Serien eingegangen. Serien scheinen für die Rezipierenden einfach Serien zu sein, egal ob es sich dabei um Lost oder um Marienhof (ARD, 1992–2011) handelt.59

1.1.3 Distribution, Rezeption und Ästhetik fiktionaler Serien des Post-TV Einschneidender als die veränderte Erzählweise, die von der anfangs begrenzten Zahl an Fernsehserien des Quality-TV im Zuge interserieller Konkurrenz und Überbietungsprozesse auch auf weniger prestigeverdächtige Produktionen übertritt,60 sind die Effekte technologischer Neuerungen sowie von Medienkonvergenzen auf die Ästhetik und Rezeption von Fernsehserien. Der Begriff des Post-TV beschreibt die durch Medienkonvergenz hervorgerufene Loslösung von Film bzw. Video und Serie von Fernsehsendern, ihre Migration über legale und illegale Streaming-Plattformen sowie Internetseiten für semiprofessionelle Produktionen (z.B. YouTube, Vimeo), die Konkurrenzsituation zwischen

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Vgl. zu diesem Kritikpunkt sowie zu einer umfassenden Darstellung und Kritik des Qualitäts-Diskurses Sudmann 2017, S. 62–97. Vgl. Borsos 2017, S. 9–14 sowie Bleicher in Keilbach 2012, S. 110f. Frizzoni 2012, S. 346. Für eine umfassende Kritik an der Vorstellung des Qualitätsfernsehens vgl. zudem Morsch, Thomas (2010b): It’s not HBO, it’s TV. Zum exzellenten Fernsehen jenseits des Qualitätskanons. In: Cargo 8, S. 45–46; sowie Hißnauer 2020, S. 3–5. Sudmann 2017 spricht von einer »Eskalationsdynamik« der interseriellen Überbietung, wenn sich mehrere Serien, z.B. in der Nachfolge von Lost, mit Blick auf »ein ästhetisches Merkmal auf exponierte Weise ästhetisch« steigern würden; ebd., S. 249. Denkbar ist die Reproduktion von Merkmalen vermeintlich prestigeträchtiger Serien, ungeachtet von Genrezugehörigkeiten. So weisen mittlerweile auch Serien, die gemeinhin nicht im Verdacht ästhetischer Hochwertigkeit stehen, eine special episode auf, in der es zu Experimenten mit narrativen Techniken kommt, wie in der Folge »Ein Mord mit Aussicht« (S4E1) der Serie Mord mit Aussicht (2007–14), D: ARD, Creator: Marie Reiners. In dieser Episode wird die Tatnacht nicht nur im Sinne des Krimi-Genres multiperspektivisch rekonstruiert, sondern der Grad interner Fokalisierung so weit erhöht, dass sich aus der überzeichneten Darstellung der Charaktere und ihrer Wahrnehmung Rückschlüsse auf sie selbst ziehen lassen. Ein weiteres Beispiel ist die Telenovela Sturm der Liebe (2005-), D: ARD, Creator: Bea Schmidt, die mit der Jubiläumsepisode »Märchenhafter Fürstenhof« (S1E2797) zum zehnjährigen Bestehen die Figuren in einem alternativen Handlungsverlauf im Stil des Musical-Films agieren lässt und damit einen für die Serie ungeahnten Grad an Selbstironie und Metafiktionalität erreicht.

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diesen alternativen Angeboten und dem linearen Fernsehen sowie die erhöhte Kontrolle der Zuschauerschaft über ihr eigenes Rezeptionsverhalten.61 Der Erfolg von Abonnementsendern, digitalen Plattformen und Möglichkeiten der Online-Piraterie versetzt die Rezipienten in die Lage, TV-Serien unabhängig von zeitlichen und räumlichen Vorgaben über mobile Endgeräte zu konsumieren und somit ihre Rezeption in hohem Maße selbst zu steuern.62 Wiederum können Streamingdienste wie Netflix, Hulu oder Amazon Prime die Vorlieben ihrer Kunden für Filme und Serien erheben, das Serienangebot anpassen63 und somit Einfluss auf deren Geschmack und die Produktion weiterer Serien ausüben. Der Wandel des Fernsehens unterminiert die Dominanz US-amerikanischer Produktionen, da neben illegalen Plattformen, YouTube oder Vimeo vor allem über die genannten Streaming-Dienste zunehmend Serien aus Europa, Lateinamerika und Asien zugänglich werden. Anhand des Unternehmens Netflix lässt sich exemplarisch nachvollziehen, dass auch das Streaming, das mit dem Versprechen der Demokratisierung und Transnationalität von Film- und Serienangeboten einhergeht, mittel- bis langfristig außerhalb der globalen Mittelschicht kaum verfügbar sein wird.64 Aufgrund der nationalen und regionalen Unterschiede in Hinblick auf Internet-Bandbreiten, Lizenzen für Serien und Filme sowie technische Fähigkeiten der Nutzer, die z.B. bei der Umgehung nationaler Beschränkungen erforderlich sind, bleibt Ramon Lobato zufolge die Serien-Rezeption über den Streaming-Dienst vorerst von den Faktoren »class, education and technological competency« abhängig65 und somit einer Vielzahl potentieller Zuschauer vorenthalten. Aus der Liberalisierung des Fernsehens ergeben sich neue Rezeptionsmodi. Neben dem bereits erwähnten distracted (multi-screen) viewing (Rezeption einer Serie/eines

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Vgl. Olek, Daniela (2014): TV for the Post-TV Generation? How Transmedia Television Series Yearn for Another Type of Audience. In: Eckel, Julia: (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld: transcript, S. 129–144, hier S. 130f.; sowie Strangelove, Michael (2015): Post-TV: Piracy, Cord-Cutting, and the Future of Television. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, S. 3–20. Vgl. Strangelove 2015, S. 125f. Vgl. hierzu Jenkins, Tricia (2016): Netflix’s geek-chic: how one company leveraged its big data to change the entertainment industry. In: Jump Cut. A Review of Contemporary Media 57. https://www.e jumpcut.org/archive/jc57.2016/-JenkinsNetflix/, aufgerufen am 13.03.2020. Die Algorithmen, mit denen Netflix die Beliebtheit und somit den Erfolg von Serien misst, hält das Unternehmen sowohl vor den Zuschauern als auch den showrunner und Drehbuchautoren geheim; vgl. ebd., S. 2. Vgl. Lobato, Ramon (2017): Streaming services and the changing global geography of television. In: Warf, Barney (Hg.): Handbook on Geographies of Technology. Cheltenham: Edward Elgar, S. 178–192, hier S. 181. Ebd., S. 180–184. In Deutschland liegen z.B. einige Lizenzen für Serien und Filme, über die in den USA Netflix verfügt, bei Streamingdiensten wie Maxdome, weshalb diese Angebote im Deutschland-Auftritt von Netflix nicht vorkommen. Laut Christian Stiegler setzte Netflix-Deutschland z.B. 2014 einen Akzent auf »smaller, critically acclaimed films«, was jedoch eher auf mangelnde Lizenzen für große Hollywood-Produktionen als eine intendierte Programmatik zurückzuführen sei. Als Konsequenz konzentriere sich Netflix-Deutschland verstärkt auf eigene Produktionen und das Angebot prestigeträchtiger deutschsprachiger Produktionen wie Stromberg; vgl. Stiegler, Christian (2016): Invading Europe: Netflix’s Expansion to the European Market and the Example of Germany. In: McDonald, Kevin/Smith-Rowsey, Daniel (Hg.): The Netflix-Effect. Technology and Entertainment in the 21st Century. New York/London: Bloomsbury, S. 235–246, hier S. 242f.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

Films wird begleitet durch Online-Aktivität der Rezipienten über mindestens ein weiteres Endgerät) sind diesbezüglich binge watching (Rezeption mehrerer eigenständiger Segmente ohne Unterbrechung),66 viewing on demand (zeitlich und räumlich selbstbestimmte Rezeption über legale, illegale oder semi-professionelle Plattformen), mobile access (Rezeption über mobile Endgeräte) und social viewing (Rezeption findet räumlich isoliert, jedoch parallel zum Austausch mit anderen Zuschauern über soziale Netzwerke statt) zu nennen.67 Die weitreichendste Konsequenz der Nutzung von StreamingPlattformen und DVDs mit Blick auf das serielle Erzählen ist die Möglichkeit, den flow von Serien auszusetzen und den seriellen Bruch zu umgehen.68 Mit den verschiedenen Endgeräten machen Zuschauer jeweils unterschiedliche Rezeptionserfahrungen: Planned viewing occurs more frequently on large television sets while smaller, more mobile screens promote unplanned viewing. Internet-enabled televisions are the platform of choice for viewing long-form content such as movies while desktop computers and mobile devices are more likely to be used for viewing short clips and user-generated content. The availability of online content also leads to many changes in the way we view. Binge viewing, which was observed in the days of VHS and DVDs, may be on the rise as a result of the audience’s access to larger catalogues of content.69 Dabei scheinen Fernsehsender Schwierigkeiten damit zu haben, die Zuschauerschaft auf das eigene erweiterte Angebot im Internet aufmerksam zu machen: »Post-television culture promotes a distracted audience that has entertainment options other than television immediately at hand«.70 Das distracted multi-screen viewing über Fernsehgerät, PC, Smartphone, Tablet o.Ä. hat erheblichen Einfluss auf die Aufmerksamkeit der Rezipienten, weil konkurrierende Angebote aus dem Internet unmittelbar verfügbar sind und die parallele Rezeption digitaler Inhalte zur Serie die Aufmerksamkeit für letztere mindern kann.71 Somit tritt die Fernsehserie im Post-TV nicht nur in Konkurrenz zu anderen Fernsehserien, sondern auch zu anderen digitalen Angeboten. Söhnke Hahn sieht die veränderte Distribution und Rezeption, »neue Endgeräte und gegenwärtige Serien […] in einem vielschichtigen Wechselspiel zueinander, das sich möglicherweise verstärken wird und Veränderungen der seriellen Produkte mit sich

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Vgl. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 210. Vgl. Strangelove 2015, S. 130–137. Die durch das Internet herbeigeführte Transformation des Fernsehens schätzt Strangelove als weitaus bedeutender für das Zuschauerverhalten als die Erfindung der DVD ein; ebd., S. 124. Dies wird durch die Möglichkeit realisiert, eine Serie an einer beliebigen Stelle anzuhalten, an der der serielle Text selber keinen ›Einschnitt‹ (Szenenübergänge, serieninterne Cliffhanger, Intervalle zwischen Episoden und Staffeln) vorsieht. Strangelove 2015, S. 127. Ebd., S. 131. Ein Beispiel hierfür ist das Phänomen des cord-cheating, d.h. die Nutzung digitaler Angebote, die nicht vom Sender kreiert wurden, während der Film- oder Serienrezeption; ebd. Vgl. ebd., S. 132.

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II. Theoretische Grundlagen

bringen könnte«.72 Die aus diesem reziproken Verhältnis resultierenden Konvergenzen stellten die Serienproduzenten vor neue Herausforderungen: Komplexe Narrative können nicht mehr nur einem Medium und dessen Dispositiv entsprechen. Sehgewohnheiten wie die des Binge-Watching sind nur eine Möglichkeit des Konsums unter viele [sic!], die es zu antizipieren gilt. On-Demand-Abrufbarkeit mag dabei die komplexe Serialität begünstigen; in einem nicht-linearen Verhältnis von Wirkungskräften mag sie durch die komplexen Serien selbst gefördert worden sein. Die Distribution (zumindest der individuelle Umgang mit ihr) wird zur eigenen narrativen Kraft – Unterbrechungen, ob produktionsbedingt oder selbstgewählt, verändern den Rhythmus der Geschichten.73 Zu den ästhetischen Konsequenzen dieser Medienkonvergenz und -konkurrenz zählen die transmedialen Erweiterungen der Kernserie um Paratexte, ergänzende oder eigenständige Narrative, die zum selben diegetischen Universum gehören. Viele Serien werden zugleich über mehrere Plattformen oder Medien erzählt und zeichnen sich nicht mehr durch Linearität aus, sondern sind in einem eigenen Netzwerk räumlich angeordnet.74 Diese Anordnung erfordert Daniela Olek zufolge eine aktive Rolle der Rezipienten in der Recherche und Auswahl, wobei die Kombination der Kernserie mit ihren Erweiterungen einen je nach Zuschauer individuellen ›Weg‹ ergibt.75 Zuschauer partizipieren über Kommentare u.a. mittels Twitter, an der Bewertung von Serien und beeinflussen somit deren Sichtbarkeit und Auswahl; zugleich wird ihre Interaktion von Sendern, Plattformen und Produktionsfirmen angeregt.76 Diese hier skizzierten Veränderungen der Distribution und Rezeption sowie ihres medialen Umfeldes wirken sich auch auf die Ästhetik serieller Erzählungen im Post-TV aus. Sowohl die Rezeption von Fernsehserien über verschiedene Plattformen und Endgeräte als auch die Partizipation der Zuschauerschaft werden bereits in der Produktion antizipiert, wie sich exemplarisch an der ästhetischen Gestaltung von House of Cards erkennen lässt. So sind laut Hahn Seitenverhältnisse und Bildkomposition der Serie sowohl auf die Rezeption über stationäre als auch mobile Endgeräte ausgerichtet, das Auslassen von previously on-Segmenten erleichtere das binge watching und die serieninterne Reflexion mobiler Endgeräte korrespondiere wiederum mit der mobilen Rezeption der Serie.77 Pretty Little Liars reflektiert laut Jennifer Gillan durch die Integration von Smartphones und Sozialen Medien nicht nur die ›doppelte‹ Rezeption von Fernsehserien im Post-TV, sondern ermöglicht durch das Versenden fiktiver Twitter-Nachrichten die Immersion der Rezipienten in die storyworld und somit ihre Bindung in den Programm-

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Hahn, Söhnke (2013): Von Flow zu Flow: Konvergenzen und (TV-)Serien. Versuch eines historischen, technischen und ästhetischen Überblicks. In: Journal of Serial Narration on Television 4, S. 9–27, hier S. 9. Ebd., S. 22. Olek 2014, S. 130f. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. Strangelove 2015, S. 140. Vgl. Hahn 2013, S. 19f.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

ablauf des Senders ABC vor dem Hintergrund eines zunehmend kompetitiven medialen Umfelds.78 Obgleich sich durch die beschriebenen Charakteristika grundlegende und gegenwärtig nicht vorhersehbare Veränderungen abzeichnen, lassen sich auch Kontinuitäten zwischen Post-TV und ›traditionellem‹ Fernsehen erkennen. Max Dawson betrachtet die Vielfalt konkurrierender Endgeräte nicht als jeweils diskrete Einheiten mit spezifischen ästhetischen Merkmalen und Rezeptionsmodi, sondern wiederum als ein Gefüge mit gemeinsamen Merkmalen, die durchgehend zentral auch für das lineare Fernsehen gewesen seien.79 Rothemund verweist zudem darauf, dass »der Flow nach wie vor eine zentrale Bedeutung für die Bindung der Nutzerinnen und Nutzer an die serielle Erzählung ebenso wie an den übertragenden Kanal« hat.80 Darüber hinaus verorten sich Plattformen und Serien des Post-TV mitunter selbst bewusst in der Tradition des linearen Fernsehens. Die Produktion von Serien eigens für bestimmte Streaming-Plattformen »reperformiert und remediatisiert« laut Christine Piepiorka das Dispositiv des Fernsehens, da dessen serielle Struktur und Episodenlängen bestehen bleiben.81 Als Inszenierung des ›traditionellen‹ Televisuellen kann die Integration digitaler Sender für verschiedene Genres oder ästhetische Präferenzen in das Interface von Amazon Prime verstanden werden,82 ebenso wie die Anordnung von Mediatheken öffentlich-rechtlicher oder privater Fernsehsender auf einer Ebene mit genuinen Angebote der Streaming-Plattform.83 Auch in einzelnen Serien, die von Abonnementsendern oder Streaming-Diensten produziert und ausgestrahlt werden, wird das stationäre, lineare Fernsehen inszeniert, in dem Apparate prominent platziert oder die Praxis des ›alten‹ Fernsehens durch Figuren immer wieder zelebriert wird.84

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Vgl. hierzu Gillan, Jennifer (2015): Television Brandcasting: The Return of the Content-Promotion Hybrid. New York: Routledge, S. 253ff. Vgl. Dawson, zit. in Strangelove 2015, S. 131. Vgl. Rothemund 2017, S. 469. Es kann auch argumentiert werden, dass die zentralen Funktionen des linearen bzw. stationären Fernsehens nach Newcomb (intimacy, immediacy, continuity) auch auf die Distribution und Rezeption von Inhalten von Streaming-Plattformen zutreffen; vgl. Newcomb, zit. in ebd., S. 459. Auch Schleich/Nesselhauf 2016 konstatieren, dass Elemente der Fortsetzung und des seriellen Rahmens auch auf Streaming-Plattformen weiterhin vorliegen: So würden die Episoden von House of Cards auch in der Rezeption über Netflix cold openings aufweisen, »obwohl die Serie nicht dem flow des linearen Fernsehens unterliegt«; ebd., S. 211. Mit Blick auf die parallele Rezeption verschiedener Angebote oder die Abfolge von Rezeptionen einer Serie über verschiedene Endgeräte lässt sich mit Hahn 2013 von einem »›Flow der Medien, ihrer Geräte, ihrer Rezeptionsweisen und Narrative‹« reden; ebd., S. 23. Piepiorka 2017, S. 262. Vgl. z.B. die »Prime Video Channels« Indie Movies und Arthouse CNMA, die über Amazon Prime abrufbar sind (aufgerufen am 5.05.2020). Hierfür können u.a. die Mediathek des öffentlich-rechtlichen Senders ZDF sowie Joyn angeführt werden, eine gemeinsame Plattform der Medienkonzerne ProSiebenSat1 Media und Discovery, über die u.a. Angebote aus dem Programm Privatsender ProSieben und Sat1 verfügbar gemacht werden. Serien, in denen Fernsehapparate und die Rezeption des Mediums ausgestellt werden, sind z.B. The Sopranos (vgl. Sudmann 2017, S. 276f.) und The Crown (2016-), UK/USA: Netflix, Creator: Peter Morgan.

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II. Theoretische Grundlagen

1.2 Ansätze für die Serienanalyse Gegenwärtige Fernsehserien sind längst nicht mehr ein alleiniger Forschungsgegenstand der Film- und Fernsehwissenschaft, sondern werden in vielen unterschiedlichen Disziplinen untersucht.85 Die Bedingungen des Post-TV, unter denen Serien nicht mehr integriert in einen Programmablauf, sondern auf Plattformen zur freien Auswahl angeboten, sowohl segmentiert als auch als Ganzes veröffentlicht werden, und unter denen die Zuschauer stärker über Zeit, Ort und Art der Rezeption bestimmen können, erlauben es, viele Serien sowohl als unabgeschlossene Texte als auch als Werke zu rezipieren.86 Im Folgenden wird die These vertreten, dass die ›neuen‹ Fernsehserien aufgrund ihrer Ästhetik sowie der oben dargestellten veränderten Bedingungen des PostTV gewinnbringend mit einem philologischen Ansatz untersucht werden können, der hermeneutische und narratologische Verfahren einschließt. Um den »philologischen Zugriff[]«87 auf gegenwärtige Fernsehserien zu legitimieren, werden zunächst Potentiale und Grenzen erzähltheoretischer Ansätze vorgestellt, der Diskurs um das reading von Fernsehserien skizziert und schließlich Anknüpfungspunkte zwischen Film- und Fernsehwissenschaft sowie Literaturwissenschaft bezüglich der Analyse und Interpretation audiovisueller Texte aufgezeigt.

1.2.1 Narratologische Zugriffe auf fiktionale TV-Serien Besonders narratologische Zugriffe auf Serien erfreuen sich seit längerem großer Beliebtheit.88 Sarah Kozloff konstatiert bereits 1992, dass die meisten Fernsehsendungen Erzählungen seien, und meint damit die ganze Bandbreite von Sitcom über Cartoon, Daily Soap und Fernsehfilm bis hin zu Formaten wie Nachrichtensendung und Werbung, die zumindest narrative Techniken verwenden.89 Gaby Allrath, Marion Gymnich 85

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Vgl. für die Literaturwissenschaft Brittnacher, Hans Richard/Paefgen, Elisabeth K. (Hg.) (2020): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: edition text + kritik. Ein politik- und sozialwissenschaftlich ausgerichteter Sammelband, der wiederum selbst Vertreter verschiedener Disziplinen vereint, liegt vor mit Besand, Anja (Hg.) (2018): Von Game of Thrones bis House of Cards. Politische Perspektiven in Fernsehserien. Wiesbaden: Springer. Eine kultur- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer US-amerikanischen Serie findet sich in Arenhövel, Mark/Besand, Anja/Sanders, Olaf (Hg.) (2017): Wissenssümpfe. Die Fernsehserie True Detective aus sozial- und kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln. Wiesbaden: Springer. Vgl. Stockinger 2019, S. 261, S. 295–297. Vgl. Mikos, Lothar (2018): Aktuelle Methoden der Filmanalyse. In: Geimer, Alexander/Heinze, Carsten/Winter, Rainer (Hg.): Handbuch Filmsoziologie. Wiesbaden: Springer [Sammelband ohne durchgehende Paginierung]. Vgl. Kozloff, Sarah (1992): Narrative Theory and Television. In: Allen, Robert Clyde (Hg.): Channels of Discourse, Reassembled: Television and Contemporary Criticism, 2. Aufl. Chapel Hill: University of North Carolina Press, S. 67–100; Allrath, Gaby/Gymnich, Marion/Surkamp, Carola (2005): Introduction: Towards a Narratology of TV Series. In: Allrath, Gaby/Gymnich, Marion (Hg.): Narrative Strategies in Television Series. Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan, S. 1–43; Rothemund, Kathrin (2013): Komplexe Welten. Narrative Strategien in US-amerikanischen Fernsehserien. Berlin: Bertz + Fischer; Mittell 2015; Schultz-Pernice 2016a; Schleich/Nesselhauf 2016; Kelleter, Frank (Hg.) (2017): Media of Serial Narrative. Columbus: Ohio State University Press; O’Sullivan 2019. Vgl. Kozloff 1992, S. 68.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

und Carola Surkamp begründen die narratologische Analyse von Fernsehserien mit Blick auf deren zunehmenden Gebrauch von »experimental narrative techniques like multiperspectivity and unreliable narration as well as innovative functionalizations of voiceover narration and of audiovisual presentation of consciousness« seit den 1990er Jahren90 – wohlgemerkt in fiktionalen Serien, womit sie die Narrativität von Fernsehserien mit dem Qualitäts- und Komplexitätsdiskurs verknüpfen und das Korpus an Serien stark eingrenzen. In den erzähltheoretisch akzentuierten Studien kommen u.a. Konzepte der kognitiven Narratologie und des Neoformalismus,91 die formalistisch und strukturalistisch geprägte Narratologie92 sowie filmnarratologische Modelle, u.a. nach Seymour Chatman93 oder Markus Kuhn,94 zur Anwendung.95 Die Grenzen der Narratologie liegen in ihrem formalistischen Charakter, weshalb Inhalt und Ideologie, psychische und soziale Effekte ebenso wie die Herkunft der Geschichte Kozloff zufolge durch andere Methoden beleuchtet werden müssen.96 Ferner konstatiert Andreas Sudmann, dass narratologische Verfahren allein die »Serialität der gegenwärtigen Fernsehserie« nicht erfassen könnten, weil diese sich neben der narrativen Organisation auch auf »›epistemische[r] Ebene‹« niederschlägt.97 Die Produktivität narratologischer Methoden zeigt sich hingegen in der Rekonstruktion von Bedeutungen und der Untersuchung von Darstellungstechniken, die, obgleich nicht neu, dennoch für die Breite des Fernsehens ungewöhnlich sind. Mit Blick auf die Frage, was das Erzählen in Serien von dem in abgeschlossenen Formaten des Fernsehens oder des Films unterscheidet, bieten sie sich in besonderer Weise an. Darüber hinaus lassen sich narratologische Verfahren mit anderen Forschungsansätzen wie dem der Filmphänomenologie98 sowie dem Verständnis der Serie als Akteur im Kontext des Post-TV vereinbaren.99

1.2.2 Reading versus Unreading Während die Beschäftigung mit eher populärkulturellen Gegenständen wie dem Fernsehen und einzelnen Serien in der germanistischen Literaturwissenschaft noch begründungsbedürftig ist, besteht in den television studies seit jeher eine Verbindung zur hermeneutischen Analyse sowie zur Praxis der Interpretation. Dies lässt sich an der Entstehungsgeschichte sowie den Forschungsansätzen des Faches erkennen. Glen Creeber konstatiert, dass die television studies einen ausgeprägt interdisziplinären Charakter

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Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 4. Vgl. Mittell 2015. Vgl. Kozloff 1992. Vgl. Allrath/Gymnich/Surkamp 2005. Vgl. Schleich/Nesselhauf 2016. Seltener werden neuere Ansätze der Narratologie angewendet, z.B. die gender-orientierte Narratologie in Lörke, Melanie (2020): One Mississippi: erzählen, werden (über)leben. In: Brittnacher, Hans Richard/Paefgen, Elisabeth K. (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: edition text + kritik, S. 221–243. Vgl. Kozloff 1992, S. 68. Vgl. auch Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 3f. Sudmann 2017, S. 6. Vgl. hierzu IV.1 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu IV.3.4 in dieser Arbeit.

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II. Theoretische Grundlagen

haben, da sich im Fach Untersuchungsmethoden wiederfinden, die u.a. den Literaturund Kulturwissenschaften entlehnt sind.100 Eine Nähe zum literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist auch im Forschungsfeld der textual analysis zu sehen, das in den Einführungswerken durchweg von den Feldern audience and reception studies, institutional analysis und historical analysis unterschieden wird.101 Im Sinne des Strukturalismus konzentrieren sich textanalytische Zugänge auf textuelle Details und ignorieren eher den institutionellen Kontext und die Geschichte sowie die Art und Weise, wie das Fernsehen von der Zuschauerschaft aufgenommen wird.102 Im Vordergrund stehen Fragen der Interpretation und der Rekonstruktion von Bedeutung: • • •

how meaning can exist ›in‹ texts how meanings might depend on relationships between viewers and texts how knowledge of production context and history ›outside‹ the text might affect the meaning which television texts have.103

Die Kritik an textanalytischen Untersuchungen von Fernsehen und Fernsehserie richtet sich auf die subjektive oder willkürliche Lesart von Texten, welche auf geringer empirischer Grundlage beruhe, die Geschichte der Institutionen und der Rezeption vernachlässige104 und die vielfältigen Bedeutungen eines Fernsehprogramms auf eine dominante Interpretation reduziere.105 Auch bei Auffassungen der Film- und Fernsehanalyse, die sich vermeintlich vollständig von literaturwissenschaftlichen Verfahren abgrenzen, lassen sich Überschneidungen mit philologischen Methoden finden. Lothar Mikos sieht das Spezifische der soziologischen Film- und Fernsehanalyse in der Betrachtung der Kommunikation zwischen Filmen und Zuschauern und der »gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie produziert und reproduziert werden«, verortet sie aber zugleich »im Kontext des interpretativen Paradigmas […], wobei sich der Prozess des Verstehens am herme-

100 Vgl. Creeber, Glen (2009b): Introduction. In: Ders. (Hg.): Tele-Visions. An Introduction to Studying Television. London: BFI/Palgrave Macmillian, S. 1–11, hier S. 2. Vgl. auch Miller, Toby (2010): Television Studies: the basics. London/New York: Routledge 2010, S. 23. Dieser Zusammenhang wird auch hergestellt in Brittnacher, Hans Richard/Paefgen, Elisabeth K. (2020): Vorwort oder: Erzählen in Literatur und Serie. Was verbindet Homer mit David Chase, Amy Sherman-Palladino und Vince Gilligan? In: Dies. (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: edition text + kritik, S. 7–18, hier S. 12. 101 Vgl. Creeber 2009b, S. 6; Miller 2010, S. 23; sowie Bognell, Jonathan: An Introduction to Television Studies. London/New York: Routledge 2004, hier S. 2. 102 Vgl. Bognell 2004, S. 86. 103 Ebd., S. 86. 104 Vgl. Creeber, Glen (2009a): Analysing Television: Issues and Methods in Textual Analysis. In: Ders. (Hg.): Tele-Visions. An Introduction to Studying Television. London: BFI/palgrave macmillian, S. 26–38, hier S. 26. 105 Vgl. Ebd., S. 34. Auch Uwe Japp gibt zu bedenken, dass die Literaturwissenschaft Gefahr laufe, die »heterogenen Botschaften des Fernsehens auf ästhetische Sachverhalte« zu reduzieren; Japp, Uwe (1996): Das Fernsehen als Gegenstand der Literatur und der Literaturwissenschaft. In: Schanze, Helmut (Hg.): Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. München: Fink, S. 17–28, hier S. 17. Für eine Kritik an »philologischen Zugriffen auf den Film« vgl. Mikos 2018, S. 3.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

neutischen Zirkel orientiert«.106 Er begreift Filme »als Anweisungen zur Rezeption und Aneignung«, die die Rezeption der Zuschauer nicht »determinieren«, sondern »Angebote« darstellen.107 Damit ist gemeint, dass die Filmtexte nach einer Vervollständigung durch den Zuschauer verlangen, sie werden erst in der Rezeption und Aneignung produziert. Nach diesem Verständnis können Filme auch keine abgeschlossenen Bedeutungen an sich haben, die in einer Analyse ›objektiv‹ freigelegt werden könnten, sondern sie entfalten ihr semantisches und symbolisches Potential erst durch die aktiven Zuschauer.108 Die hier beschriebene Perspektive auf filmische Texte ist auch der Literaturwissenschaft keineswegs fremd und wird von ihr in Form der Rezeptionsästhetik praktiziert. In ähnlichen Formulierungen lassen sich die von Mikos aufgeführten Ebenen der Filmtext-Analyse auch in germanistischen Einführungswerken finden, was als weiterer Beleg für Gemeinsamkeiten der Disziplinen bezüglich ihrer Analysemethoden gelten kann: »1) Inhalt und Repräsentation, 2) Narration und Dramaturgie, 3) Figuren und Akteure, 4) Ästhetik und Gestaltung und 5) Kontexte«.109 Eine noch größere Nähe zur literaturwissenschaftlichen Textanalyse zeigt die Filmhermeneutik Knut Hickethiers, deren Ursprung er in der Literaturwissenschaft ausmacht.110 Der Einfluss literaturwissenschaftlicher Ansätze spiegelt sich auch in der Praxis des Interpretierens konkreter Programme wieder, angefangen beim reading nach John Fiske und John Hartley bis hin zu neueren Auslegungen dieses Zugangs, z.B. durch die Reading-Reihe von Kim Akass und Janet McCabe.111 Das reading von Fernsehserien in der Tradition von James Monaco, Fiske und Hartley geht von Ansätzen der Literaturwissenschaft und »der Prämisse aus, eine Fernsehserie sei (wie ein Roman oder ein Theaterstück) als ein ›Text‹ zu verstehen, der dann eben auch als solcher ›gelesen‹ werden kann«.112 Die Analyseschritte der Methode umfassen Inhalt, Handlung, Figuren,

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Mikos 2018, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 6. Vgl. zur Hermeneutik als literaturwissenschaftliche Methode u.a. Jeßing, Benedikt/ Köhnen, Ralph (2007): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 278–290; sowie Karenovics, Ilja (2010): Hermeneutik. In: Schmid, Ulrich (Hg.): Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam, 133–163. Vgl. Hickethier 2012, S. 32. Diese ›textuelle Tradition‹ beginnt in den britischen television studies in den 1970er Jahren (vgl. Creeber 2009b, S. 4) und entwickelt sich aus der Auseinandersetzung von Literaturwissenschaftlern mit der Populärkultur; vgl. Hartley, John (1998): Housing Television: Textual Traditions in TV and Cultural Studies. In: Geraghty, Christine/Lusted, David (Hg.): The Television Studies Book. London et al.: Arnold, S. 33–50, hier S. 33. Die Bearbeitung von Fernsehprogrammen durch Literaturwissenschaftler ging Hartley zufolge zunächst mit einer deutlichen Abneigung gegenüber populärkultureller Ästhetik einher; vgl. ebd., S. 33. Unter dem Einfluss des Strukturalismus war es dennoch möglich, Zeichensysteme zu untersuchen, die sich nicht einer Hochkultur zuordnen ließen oder sich dieser Kategorisierung entzogen; vgl. Creeber 2009a, S. 28. Die in den television studies verbreiteten Untersuchungsansätze am televisuellen Text sind u.a. »Close critical reading«, »Semiotic analysis«, »Analysis of visual images« sowie »Cultural analysis«; Creeber 2009a, S. 29. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 73.

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II. Theoretische Grundlagen

Sprache, Ästhetik, Narration und Rezeption.113 Markus Schleich und Jonas Nesselhauf zufolge liegt der Mehrwert dieses close reading in der »umfassenden und mehrschichtige[n] Perspektive« des Ansatzes sowie der Möglichkeit, damit Serien vergleichen zu können.114 Unter dem Plädoyer des Unreading von Fernsehserien kritisiert Herbert Schwaab die in den von Akass und McCabe herausgegebene Reading-Reihe praktizierten kultur- und literaturwissenschaftlichen Zugriffe, weil sie die Auswahl weniger, für das Fernsehen nicht-repräsentativer Serien vorantrieben und sie das eigentliche Potential des Fernsehens, nämlich den Charakter der Alltäglichkeit und die Adressierung eines Massenpublikums, ignorierten.115 Serien wie Six Feet Under und The Sopranos seien ein allzu gefälliges Untersuchungsmaterial, um narrative Komplexität herauszuarbeiten: Es handele sich dabei nicht um das Offenlegen bisher unentdeckter Tiefenstrukturen gegen Widerstände des Textes nach dem eigentlichen Reading-Verständnis der Kulturwissenschaften, sondern um das Aufzeigen dessen, was die Serien und ihre Produzenten den Rezipienten ohnehin nahelegen wollten.116 Schwaab vertritt stattdessen die Fokussierung auf die Erfahrung und den Genuss der Serien, weil sich die Ausstrahlungsbedingungen sowie die Hybridität und Diversität des Fernsehens der kulturwissenschaftlich geprägten Vorstellung, einen Text kontrollieren zu können, entziehe.117 Schwaabs Kritik überzeugt mit Blick auf Studien, die lediglich das nachweisen, was die Serie bewusst ausstellt, auf geschichtsvergessene Beiträge, die suggerieren, ästhetische Innovationen kämen im Fernsehen erst ab den 2000ern vor, und auf solche, die die Produktions- und Distributionskontexte weniger Serien für das gesamte Fernsehen verallgemeinern.118 Allerdings blendet er seinerseits Rezeptionsbedingungen und ihre Konsequenzen für die akademische Auseinandersetzungen aus, was an der Forderung zu erkennen ist, das Fernsehen, insbesondere HBO, solle nicht eine spezifische Form des Fernsehens ›bewerben‹,119 was müßig anmutet, da sich doch gerade der genannte Abonnementsender durch seine Differenz zum ›traditionellen‹ Fernsehen definiert (»It’s not TV – it’s HBO«). Seiner Argumentation liegt zudem ein unscharfer Fernsehbegriff zugrunde, der häufig mit Fernsehserien gleichgesetzt wird und die Ko-Existenz von Serienund Fernsehrezeption über unterschiedlichste Medien und Modi ausblendet. Schwab weist nicht darauf hin, dass das reading seine Legitimation nicht ausschließlich durch

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Vgl. ebd., S. 73f. Ebd., S. 74. Vgl. Schwaab, Herbert (2013): ›Unreading‹ contemporary television. In: Valck, Marijke de/Teurlings, Jan (Hg.): After the Break. Television Theory Today. Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 21–33, S. 21ff. Vgl. ebd., S. 23f. Vgl. ebd., S. 28–30. Auch Sudeep Dasgupta unterstreicht die Undurchdringlichkeit bzw. Opazität fernsehserieller Bilder im Gegensatz zur Vorstellung, Serien ließen sich ›lesen‹ und verweist auf die sensorische Erfahrung der Serienrezeption; Dasgupta, Sudeep (2017): Sensing the Opaque. Seriality and the Aesthetic of Televisual Form. In: Kelleter, Frank (Hg.): Media of Serial Narrative. Columbus: Ohio State University Press, S. 183–203, hier S. 183ff. Vgl. Schwaab 2013, S. 26f. Vgl. ebd., S. 27.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

die Anwendung im akademischen Bereich erhält, sondern auch Dank veränderter Distributions- und Rezeptionsbedingungen des Post-TV. Diese Bedingungen ermöglichen einem breiten Publikum durch die beliebige Auswahl und Aneinanderreihung von Episoden oder das Anhalten und Zurückspulen einer Folge das ›Lesen‹ von Details im Hinblick auf einen größeren Bedeutungszusammenhang. Davon zeugen nicht zuletzt die unzähligen Serien-Analysen von Fans in Foren, Blogs und YouTube Clips. Ein weiterer Kritikpunkt an der Reading-Reihe von McCabe und Akass im Besonderen sowie an gegenwärtigen textanalytischen Ansätzen bezüglich der TV-Serie im Allgemeinen entfacht sich an der bisweilen eklektizistischen Verwendung theoretischer Zugriffe. Michael Dellwing konstatiert die Abkehr der Mehrzahl der Beiträge der ReadingReihe von einer theoretischen Fundierung ihrer Untersuchung bzw. das Heranziehen von Theorie-Fragmenten, um die jeweilige Argumentation punktuell zu stützen.120 Zugleich erkennt Dellwing in dieser »pragmatistische[n]« Herangehensweise jedoch eine Forschungsmethode, die sich durch ihre Passung auf das serielle Material auszeichnet.121 Viele Serien seien durch eine Fülle an Episoden charakterisiert und würden statt von Einzelnen durch ein Team aus bisweilen wechselnden Produzenten, Drehbuchautoren und Regisseuren hervorgebracht, was hermeneutische Analysen und Deutungen erschwere.122 Serienforschung ist vielleicht nicht möglich, ohne als Zugeständnis an die Unübersichtlichkeit der (Serien-)Welt die Übersichtlichkeit klassischer Analysemethoden hinter sich zu lassen. Diese Unübersichtlichkeit macht Serienprotokolle und gründliche Analysen unmöglich. Sie scheint jedoch kein ausreichender Grund für eine Abwendung von klaren, fundierten theoretischen Perspektiven, die auch im Licht der Unübersichtlichkeit des Materials weiter verteidigt werden könnte.123 Laut Dellwing unterscheidet die »gegenwärtige anglo-amerikanische Serienanalyse« im Sinne des neuen Pragmatismus nicht zwischen Ansatz und Material und möchte die Serie nicht als Objekt für die Schärfung theoretischer Ansätze »›missbrauchen‹«.124 Theorie und Methode würden vielmehr als »Rechtfertigungsstrategie« verwendet, um die Leserschaft von der eigenen Argumentation zu überzeugen.125 Das Besondere dieser pragmatistischen Vorgehensweise sei nicht, dass das Erkenntnisinteresse vor die theoretische Verankerung gestellt, sondern dass vielmehr »das praktische Erkenntnisinteresse offen als Analyserahmen« verwendet werde.126

120 Vgl. Dellwing, Michael (2009): Serienforschung ohne Fernsehtheorie? Der Pragmatismus nonchalanter Neubeschreibungen in »Reading Contemporary Television«. In: Medien und Kommunikationswissenschaft 57, S. 238–255, hier S. 238ff. 121 Ebd., S. 250. 122 Vgl. ebd. 123 Ebd., S. 251. 124 Ebd. Delwing stützt sich dabei auf Pragmatismus-Auffassung von Rorty 1982, 1999; vgl. ebd. 125 Dellwing 2009, S. 252. Damit stünden die Beiträge der Reading-Reihe in deutlichem Kontrast zur deutschsprachigen Fernseh-Forschung, wie sie Dellwing zufolge von Mikos 2008 und Wulff 1999 vertreten werden; ebd., S. 249, 251. 126 Dellwing 2009, S. 252.

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II. Theoretische Grundlagen

Die Position Dellwings wird mit der vorliegenden Arbeit insofern vertreten, als auch für die Analyse des Raums serieller Dystopien des Post-TV eine Vielfalt an Modellen und Theorien unterschiedlichster Disziplinen herangezogen werden müssen,127 um dem Gegenstand und seinen Charakteristika auf Ebene der Rezeption, der Semantik und des seriellen Erzählens gerecht zu werden. Ähnlich wie bei Dellwing beschrieben tritt dabei die Forderung nach der Einheitlichkeit eines theoretischen und methodischen Zugangs hinter das Ziel zurück, den äußerst vielseitigen Forschungsgegenstand zu begreifen und detailliert beschreiben zu können.

1.2.3 Philologische Ansätze für die Serienforschung Auffallend ist, dass das akademische Interesse an vermeintlich komplexen und qualitätsvollen Serien zu einem nicht unwesentlichen Teil durch Literaturwissenschaftler getragen wird.128 Der fachfremde Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand der TV-Serie kann dieses nur auf den ersten Blick unorthodoxe Unterfangen mittlerweile durch den Rückgriff auf einen umfangreichen Katalog an Begründungen legitimieren. Die Argumentationen beziehen sich mehrheitlich auf intermediale und -textuelle Vergleiche, handeln aber auch die Zuständigkeiten der Literaturwissenschaft aus und gehen mit der (Auf)Wertung der Disziplin und ihrer Gegenstände einher. •

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Formalästhetische und inhaltliche Nähe neuerer, narrativ komplexer und prestigeträchtiger Serien zu traditionellen philologischen Gegenständen, allen voran zum Fortsetzungsroman129

Vgl. hierzu II.2 sowie II.3 in dieser Arbeit. Hiervon zeugen nicht nur jüngere Publikationen wie der Sammelband von Brittnacher/Paefgen 2020 oder die Tätigkeit einzelner Literaturwissenschaftler, sondern auch die institutionelle Verankerung von Zeitschriften wie dem Journal of Serial Narration on Television und dem dazugehörigen Living Handbook of Serial Narration on Television, die beide über den Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität des Saarlandes organisiert waren. Dass beide Publikationsorgane mittlerweile eingestellt sind, weist wiederum auf das sich reduzierende Interesse der Literaturwissenschaft für Serien bzw. die besondere Aufmerksamkeit für diesen Gegenstand in den 2000er und 2010er Jahren hin. Auch der zeitweise Anstieg an Lehrveranstaltungen zu Fernsehserien im Rahmen literaturwissenschaftlicher Studiengänge verweist auf das Interesse der Disziplin für diesen Gegenstand. Zwar ist dies zum einen ein Beleg für die von Sudmann 2017 konstatierte »kulturelle Anerkennung«, die die Fernsehserie seit Beginn des 21. Jahrhunderts erfahren hat, für die Literaturwissenschaft trifft aber auch der zweite Teil seiner Beobachtung zu, nämlich dass noch immer ein überraschend hoher »Aufwand […] darauf verwendet wird, die Beschäftigung mit diesem populären Medium zu rechtfertigen«; ebd., S. 2. Vgl. Brittnacher/Paefgen 2020, S. 9f.; Paefgen, Elisabeth K. (2020): Roman in Anführungszeichen? Filmisch-serielles und schriftlich-romanhaftes Erzählen. In: Brittnacher, Hans Richard/Paefgen, Elisabeth K. (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: edition text + kritik, S. 21–57; sowie Fröhlich, Vincent/Ruchatz, Jens (2019): Teil 1: Die Fernsehserie als Roman des 21. Jahrhunderts? Roman und televisuelle Narration im Vergleich. In: Fröhlich, Vincent/ Gotto, Lisa/Ruchatz, Jens (Hg.): Fernsehserie und Literatur. Facetten einer Medienbeziehung. München: edition text + kritik, S. 25–61.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

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Kategorisierung der Fernsehserie als Erzählung und folglich als Untersuchungsgegenstand für die Literaturwissenschaft130 Adaptionen von literarischen Motiven131 sowie literarischen Werken und Serien durch Fernsehserien132 Rückgriff der Drehbuchautoren und showrunner auf literarische Erzählmuster oder Motive133 »verdeckte Literarizität« des Seriendrehbuchs134 »medientheoretische[] Umdeutung und Erweiterung des Literaturbegriffs« mache Fernsehen und Fernsehserien zu »legitimen Gegenständen« der Literaturwissenschaft135 Literatur als Motiv, Metapher oder Metonymie in Serien136 Publikation fiktiver Literatur aus Fernsehserien in der extratextuellen Welt137 Fernsehserien als Gegenstand der Literatur138 Nobilitierung von Fernsehserien impliziere Aussage über Status literarischen Lesens und von Literatur139 »›Verfilmte[] Literatur im Fernsehen‹« als Zeugnis der Qualität von Literatur140 Ähnlichkeiten in den Rezeptionsmodi von Fernsehserien im Post-TV und des gebundenen Buchs141

Die These von Hans Richard Brittnacher und Elisabeth K. Paefgen, serielles Erzählen im Fernsehen seit den 2000ern ließe sich gewinnbringend durch den philologischen Blick untersuchen, ist sicherlich einer der innovativsten unter den genannten Ansätzen und bedarf einer ausführlicheren Darstellung und Diskussion, nicht zuletzt, weil er zur Legitimation der folgenden hermeneutischen und narratologischen Analyse beiträgt. Der Autor und die Autorin berufen sich im Vorwort ihres Sammelbandes auf philologische »Tugenden«: Ihre Kenntnisse, ihr Wissen und ihre Techniken sind dienlich, um die komplex-komplizierte Struktur und Darstellung dieser neuen Serien zu erläutern, zunächst mit dem

130 Vgl. Brittnacher/Paefgen 2020, S. 11. 131 Vgl. Schanze, Helmut (1996): Einleitung. In: Ders. (Hg.): Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. München: Fink, S. 7–13, hier S. 7. 132 Vgl. Fröhlich, Vincent/Gotto, Lisa/Ruchatz, Jens (2019): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Fernsehserie und Literatur. Facetten einer Medienbeziehung. München: edition text + kritik, S. 7–21, hier S. 11f, 15f., 18. 133 Vgl. Brittnacher/Paefgen 2020, S. 11f. 134 Fröhlich/Gotto/Ruchatz 2019, S. 18f. 135 Japp 1996, S. 17. 136 Vgl. Diederichsen, Diedrich (2010): In bewegten Bildern blättern: Die Videothek von Babylon. In: Dreher, Christoph (Hg.): Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series: The Re-Invention of Television. Stuttgart: Merz & Solitude, S. 167–197, hier S. 177ff. 137 Vgl. Fröhlich/Gotto/Ruchatz 2019, S. 19. 138 Vgl. ebd., S. 20. 139 Vgl. ebd., S. 39. 140 Schanze 1996, S. 7. 141 Vgl. Diederichsen 2010, S. 173ff; sowie Metcalf, Greg (2012): The DVD Novel. How the Way We Watch Television Changed the Television We Watch. Santa Barbara: Praeger, S. ixff.

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II. Theoretische Grundlagen

besonderen Blick auf die schriftliterarischen Vorgänger, auf die Verwandtschaften bzw. Divergenzen zwischen den beiden Erzählformen. Aber auch die Tugenden der Sorgfalt, die von Nietzsche als »Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes« gepriesene Philologie, die Geduld des beharrlichen Fragens und des behutsamen Lesens, des Prüfens, Innehaltens und Zurückblätterns, der Differenzierung unterschiedlicher Erzählhaltungen und -stimmen, der Charakterisierung der Figurendarstellung, des Vergleichs von Erzählzeit und erzählter Zeit sowie des Aufspürens der zahlreichen intertextuellen und -medialen Verweise dienen terminologisch und erkenntnisleitend beim close reading der Neuen Serien. Auch ein mit dem hermeneutischen Zirkel vertrautes Lesen, das vermeintliche Sicherheiten jederzeit im Blick aufs Ganze relativiert und im Detail die Signatur des Ganzen erkennt, erweist sich als hilfreich, um die inhaltlichen Details und formalen Eigentümlichkeiten der häufig sogar über Staffelgrenzen hinweg gespannten Handlungsbögen wahrzunehmen.142 Diese Charakteristika, die den Blick des Philologen – so der Titel des Sammelbandes – auszeichnen, lassen sich durch weitere Auffassungen philologischer Arbeitsweisen untermauern und ergänzen. So definieren Christoph Hoffmann und Caroline Welsh »philologische Neugierde« neben dem Interesse für das Detail und die »Stockungen des Leseflusses«, durch »zergliederndes Lesen«, »›Wiederkäuen‹« und die »›Kunst der Auslegung‹« im Sinne Friedrich Nitzsches.143 Philologische Neugierde ist Hoffmann und Welsh zufolge eine »Haltung, die mit Absicht unökonomisch verfährt« und sich weder in der abschließenden Untersuchung noch darin erschöpft, »aus dem Randständigen wieder das Panorama eines großen Ganzen« zu entwickeln.144 Vielmehr handelt es sich bei philologischer Neugierde um die »Offenheit für die Störung, die auf unvorhergesehene Pfade führt«.145 Der philologische Zugriff bietet so gesehen kein spezifisches Instrumentarium, sondern einen bestimmten Modus der Untersuchung, der sich durch textnahes Lesen, das Zergliedern und geduldige Befragen des Textes im Sinne der Hermeneutik sowie eine geschärfte Aufmerksamkeit für Details und Irritationen auszeichnet. Mit Blick auf die von Hoffmann und Welsh beschriebenen Merkmale dieser Untersuchungshaltung, darunter die Vokabeln ›Stockungen‹, ›Wiederkäuen‹ und die zitierte »Offenheit für die Störung«, scheinen sich die durch Fragmentierung, Wiederholung und potentielle Endlosigkeit gekennzeichneten Serien besonders als Forschungsgegenstand der Philologie anzubieten. Auch Nesselhauf und Schleich schlagen die Untersuchung serieller Erzählungen im Fernsehen aus literaturwissenschaftlicher Sicht vor. Die Grundlage dieser transdiszipli-

142 Brittnacher/Paefgen 2020, hier S. 11. 143 Hoffmann, Christoph/Welsh, Caroline (2006): Philologische Neugierde – »in jedem Augenblick auf das Äußerste gefaßt«. In: Dies. (Hg.): Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde. Berlin: Parerga, S. 9–13, hier S. 9. 144 Ebd., S. 10. 145 Hoffmann/Welsh 2006, S. 10. Nach Auslegung von Rupert Gaderer ist auch die Medienphilologie darauf ausgerichtet, »das Wiederständige und Störende in philologischen Verfahren und deren Vulnerabilität« zu ergründen; Gaderer, Rupert (2017): Was ist eine medienphilologische Frage? In: Balke, Friedrich/Gaderer, Rupert: (Hg.): Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas. Göttingen: Wallstein, S. 25–43, hier S. 43.

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

nären Forschung sei der intermediale Kontext von Literatur, die ›neuen‹ Serien, die sich von der vermeintlichen Simplizität des Fernsehens gelöst hätten sowie die Segmentierung als Gemeinsamkeit von Serien in Literatur und Fernsehen.146 Um dem Gegenstand der Fernsehserie in der Analyse gerecht zu werden, streben die Autoren die Modifikation literaturwissenschaftlicher Konzepte an.147 Ihr Plädoyer für eine literaturwissenschaftliche Serienforschung mutet auch wie eine Rechtfertigung der Existenz der Literaturwissenschaft angesichts schwindender Beliebtheit schriftlicher Texte und dem gesteigerten Interesse für andere Künste wie Graphic Novel und Film an.148 Zugleicht hallt darin Jörg Schönerts Forderung nach der Vermittlung einer »philologischen Kompetenz« wider, die er Ende der 1990er Jahre ebenfalls vor dem Hintergrund einer sich verändernden Medienlandschaft formuliert.149 Unter diesem Begriff versteht Schönert neben »Analyseverfahren aus der Linguistik« auch Kategorien, die von der Literaturwissenschaft für die Analyse von literarischen Entwürfen der Wirklichkeit eingesetzt werden – wie Sprechsituationen und Vermittlungsperspektive, Figur und Figurenkonstellation, Raum- und Zeitorganisation, wie ›story‹ und Sequenz, Episode und Ereignis, Konfliktgestaltung und Konfliktlösung […].150 Diese Kategorien ließen sich in der Untersuchung von »Film- und Fernsehprodukte[n]« anwenden.151 Ähnlich wie später Nesselhauf und Schleich spricht Schönert sich dafür aus, literaturwissenschaftliche Untersuchungen anhand von Texten anderer Medien »mit Blick auf die prinzipielle Medialität, Materialität und Historizität von Kommunikationsangeboten« zu betreiben.152

1.3 Fazit Der philologische Ansatz inklusive modifizierter literaturwissenschaftlicher und narratologischer Methoden kann mit den ›neuen‹ Serien im Umfeld des Post-TV in Einklang gebracht werden. Dafür sprechen vor allem drei Gründe, bei deren Erörterung ich auf einige der oben aufgelisteten Schnittstellen zwischen Literaturwissenschaft und Fernsehserien zu sprechen komme. 1.) Es bestehen Ähnlichkeiten zwischen hermeneutischen und narratologischen Untersuchungsverfahren der Literaturwissenschaft sowie der Textanalyse und dem reading der television studies. Insbesondere philologische Verfahren wie das verlangsamte Lesen

146 Vgl Nesselhauf, Jonas/Schleich, Markus (2013): Literary Approaches towards Serial Narration on Television. Or: Is this really neccessary? In: Journal of Serial Narration on Television 1, S. 9–11, hier S. 10. 147 Vgl. ebd., S. 11. 148 Vgl. ebd., S. 9. 149 Schönert, Jörg (1999): Germanistik als Medienwissenschaft oder als radikale Philologie? In: Eversberg, Gerd/Segeberg, Harro (Hg.): Theodor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Berlin: Erich Schmidt, S. 15–24, hier S. 18. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Ebd., S. 19.

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II. Theoretische Grundlagen

und die Aufmerksamkeit für ›Störungen‹ aller Art werden auch in der Film- und Fernsehanalyse u.a. bei Hickethier und Mikos, beschworen: »Wissenschaftler müssen in der Analyse offen sein für Unerwartetes, für Besonderes, d.h., sie müssen ihre methodisch kontrollierte Aufmerksamkeit und Sensibilität gegenüber dem Gegenstand aktivieren, um zu sehen, was in der ›normalen‹ Rezeption nicht ohne Weiteres zu sehen ist«.153 Dabei geht es nicht um eine medienblinde Ausweitung philologischer Instrumente, um die kritisierte »Rede von der ›Filmsprache‹ bzw. der ›Fernsehsprache‹«154 oder die Idee einer Medienphilologie als einer »Art Dach- oder Superwissenschaft«.155 Die Verwendung narratologischer und literaturwissenschaftlicher Ansätze muss mit der Anpassung der jeweiligen Werkzeuge für die Analyse serieller Erzählungen im Post-TV einhergehen. Hermeneutische und erzähltheoretische Ansätze sind für die Analyse der Räume serieller Dystopien u.a. erforderlich, weil diese mehrfach semantisiert und narrativ strukturiert sind. 2.) Hermeneutische und narratologische Untersuchungen werden von einem großen Teil der Zuschauerschaft wie selbstverständlich durchgeführt. Mittell weist auf die Fanpraktiken des forensic fandom, d.h. tiefgründige Analysen durch Rezipienten,156 sowie die Erstellung von orienting paratexts hin,157 die eine der Literaturwissenschaft sehr vertraute Annäherung über wiederholtes und verzögertes ›Lesen‹ nahelegen.158 Auch die Konzeption von YouTube-Clips, in denen Theorien zu Handlungssträngen sowie den Motiven einzelner Charaktere von Serien wie Game of Thrones erörtert werden, dokumentieren die Anwendung hermeneutischer Interpretationsverfahren: Häufig handelt es sich hierbei um eigene Serien von fan theory-Videos, die von Zuschauern erstellt werden und in denen mit jeder weiteren Episode bereits etablierte Theorien erweitert oder durch die Formulierung neuer Untersuchungsfragen ersetzt werden.159 153 154 155

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Mikos 2018, S. 10. Ebd., S. 1. Gegen das letztgenannte Konzept sprechen sich Balke und Gaderer deutlich aus; Balke, Friedrich/ Gaderer, Rupert (2017): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas. Göttingen: Wallstein, S. 7–22, hier S. 9ff. Zugleich warnen sie vor der übereifrigen Anwendung traditioneller philologischer Konzepte: »Medienphilologie kann und will nicht die bessere Filmwissenschaft sein, sondern zielt auf die Bestimmung dessen, was man den medialen Aggregatzustand des Audiovisuellen in unterschiedlichen Medienkulturen nennen könnte, etwa wenn ›Film‹ unter den post-kinematografischen und posttelevisuellen Bedingungen der Gegenwart als ein variables Bewegtbildmodell konzipiert wird, das zwischen verschiedenen Medien transferiert und getauscht werden kann«; ebd. 11f. Vgl. Mittell 2015, S. 288f. Vgl. ebd., S. 261ff. Vgl. auch Diederichsen 2010, der die Verfügbarkeit von Fernsehserien über DVDs und StreamingPortale als Grund für die ausführlichen Lektüren durch Zuschauer ansieht; ebd., S. 177. Vgl. z.B. die Videos von Talking Thrones, in denen u.a. Backstories von Figuren rekonstruiert und der weitere Handlungsverlauf ausstehender Episoden und Staffeln von Game of Thrones antizipiert werden. Die den Videos zugrundeliegende Methodik erinnert deutlich an hermeneutische Verfahren: »What I like to do is try to figure out how Game of Thrones will come to an end. And sometimes, you can find the answers by taking a look at some of the older scenes from previous seasons. There are clues throughout the entire show, you just have to know where to find them«; vgl. Talking Thrones (12.11.2018): Varys Told Us What Would Happen In The End? – Game of Thrones Season8 (End Game Theories). In: YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=72fNEj

1. Serielles Erzählen im Post-TV aus philologischer Perspektive

3.) Schließlich ermöglichen neuere Medien bzw. Kanäle der Distribution philologisch geprägte Untersuchungen in besonderem Maße. Für die Ausführung dieser These muss zunächst der populäre Vergleich zwischen der Rezeption von Büchern und der von Serien über DVD und Streaming-Dienste – häufig in Kombination mit mobilen Endgeräten – problematisiert werden. Die These der DVD-Novel, wie sie von Diedrich Diederichsen und Greg Metcalf vertreten wird, ist ein durchaus heikler Anknüpfungspunkt zwischen Literaturwissenschaft und Fernsehserie. Die Bindung einzelner Episoden oder auch Staffeln im Medium der DVD rückt Serien in die Nähe von Werken und erleichtert ihre Kanonisierung. Die Grundlage einer philologischen Untersuchung bietet die DVD aber vor allem, weil sich mit ihr der serielle Text anhalten sowie verzögern lässt und zudem Ausschnitte als Stills kopiert sowie analysiert werden können. Somit erfolgt durch die Nutzung von DVDs und Streaming-Portalen eine Annäherung an den Rezeptionsmodus des gebundenen Buches. Allerdings ist diesbezüglich der Hinweis von Friedrich Balke und Rupert Gaderer sinnvoll, nachdem Philologen durch ihre Untersuchungstechniken der Textanordnung und der Kommentierung »den Gegenstand, von dem sie zugleich behaupten müssen, dass er allen Varianten vorausliegt,« hervorbringen.160 So besteht in der beschriebenen Praxis der Verzögerung und Isolierung einzelner Einstellungen u.a. die Gefahr, die narrative Entwicklung des diegetischen Raums im Verlauf der Serie zu ignorieren. Problematisch ist auch, dass die ausschließliche Rezeption der Serie über DVD oder Streaming-Portale den ursprünglichen Ausstrahlungskontext vergessen machen kann und die Gefahr birgt, die Interaktion der Serie als Akteur mit anderen zeitgenössischen Serien und gesellschaftlichen Diskursen auszublenden. Auch Auswirkungen von Produktionsbedingungen wie z.B. Kürzungen und Erhöhungen des Budgets auf die Serienästhetik und -qualität drohen durch das ›Lesen‹ der DVD oder des Streaming-Angebotes übersehen zu werden. In der Folge können extratextuelle Phänomene wie niedrige Einschaltquoten, Zerwürfnisse zwischen Sender und showrunner oder der Tod von Schauspielern ggf. als ästhetische Entscheidung missinterpretiert werden, obwohl sie aus anderen Gründen herrühren.161 DMMOA, aufgerufen am 20.10.2020. Sudmann 2017 sieht in den Textanalysen der Serienfans, die »nicht unbedingt mit wissenschaftlichem Anspruch, aber doch mit zuweilen erstaunlicher Akribie« geleistet werden, eine Herausforderung für die Geistes- und Kulturwissenschaften, da durch die ›Vorarbeit‹ der Fans die Frage nach »Urheber- bzw. Autorschaft« neu verhandelt werden muss; ebd., S. 69. 160 Balke/Gaderer 2017, S. 14. Darüber hinaus ist die DVD viel mehr als ein Buch, wie Vincent Fröhlich und Jens Ruchatz 2019 konstatieren: »Zusatzmaterialien, Tonspuren mit unterschiedlichen Sprachen, Kommentaren der Mitglieder des Produktionsteams, insbesondere des creator, Untertitel, deleted scenes etc. zeigen, dass die DVD mit ihrem Zusatzangebot für sich wirbt. Soweit Bonusmaterialien den Hintergrund des Schaffensprozesses und den im Serientext manifestierten Gestaltungswillen herausstellen, legen sie zugleich offen, wie prekär und unsicher der Status einer Fernsehserie als Kunstwerk noch ist – finden sich analoge ›Beigaben‹ im Fall der Literatur doch allenfalls in posthumen, kritischen Werkausgaben«; ebd., S. 50f. 161 So kann das Ableben von Archie Andrews Vater in Riverdale, über das der Protagonist – und mit ihm die Zuschauer – nur per Telefon erfahren, als dramaturgisch nachlässig inszeniert betrachtet werden, bei der Rezeption zur Erstausstrahlung der Episode »Chapter Fifty-Eight: In Memorian« (S4E1, 9.10.2019) wird es aber als extratextuelle Referenz gedeutet, da der Schauspieler von Fred

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II. Theoretische Grundlagen

Die Gebundenheit von Episoden und Staffeln in der DVD und ihre Vereinigung innerhalb eines Streaming-Portals suggerieren die Abgeschlossenheit der einzelnen Serien. Dieser Eindruck wird z.B. durch die Archivierung verschiedener Serien, digitaler Sender und Mediatheken im Interface von Amazon Prime sowie dessen ästhetische Inszenierung verstärkt, die Dank des schwarzen Untergrundes die Nähe zum Kino bzw. zu einem Archiv, ausgehend von der linearen Anordnung der Kacheln, evoziert.162 Somit suggerieren Streaming-Portale, deren Angebot in hohem Maße variiert, dass sie Werke von überzeitlichem Wert in einen statischen Kanon aufnähmen. Neben der Ästhetik blendet auch die Rezeptionspraxis der Streaming-Portale die Segmentierung serieller Erzählungen aus. Binge watching wird durch den nahtlosen Übergang zwischen Episoden und Staffeln im Streaming ebenso unterstützt wie in der Nutzung von DVDs und Abonnementsendern. Zugleich stehen dem Eindruck des abgeschlossenen Serientexts aber neue Rezeptionsmodi und die Verfügbarkeit mobiler Endgeräte entgegen: Sei es, weil von wandernden Rezeptionen über verschiedene Internetseiten an einem oder über mehrere Endgeräte während des Zuschauens ausgegangen werden muss oder weil Serien nicht unbedingt portioniert und abgeschottet über zahlungspflichtige Portale, sondern auch über YouTube oder illegale Plattformen rezipiert werden, in denen – wie im linearen Fernsehen auch – verschiedene Angebote und Werbung die fiktionalen Serienwelten unterbrechen und überlagern. Die hier aufgeführten Beispiele zeigen, dass die Thesen der DVD-Novel und des Streaming-Portals als Bibliothek nur auf bestimmte Rezeptionskontexte zutreffen. Aktuelle technologische Gegebenheiten sowie ihre breite Nutzung durch die akademische und nicht-akademische Zuschauerschaft sind eine zentrale Legitimation für textanalytische Zugänge zu Fernsehserien und für die Ausschöpfung filmphilologischer Methoden des Anhaltens, Verzögerns und Isolierens von Einstellungen. Genauso legitim, wie eine Serie zu ›lesen‹, ist aber das intermittierende Zuschauen und -hören parallel zur Verrichtung häuslicher Arbeiten sowie das Zelebrieren einer Episode zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung und mit dem Wissen um ihren Produktions- und Distributionskontext. Die folgende Raumanalyse kann freilich nicht alle denkbaren Rezeptionsmodi im Kontext des Post-TV bedenken. Sie kann aber davon ausgehen, dass die detaillierte und wiederholte Rezeption der jeweiligen Serien möglich ist und dass zugleich Merkmale seriellen Erzählens (Segmentierung, Repetition und Variation, Unabgeschlossenheit und Kohärenz) den Text und die Rezeption beeinflussen. So strukturiert beispielsweise das Intervall zwischen Episoden und Staffeln auch dann die Serie, wenn mehrere Folgen nacheinander rezipiert werden, etwa weil die ending und opening credits auf der DVD oder die Ankündigung der nächsten Episode im Streaming-Dienst zu sehen sind.

162

Andrews, Luke Perry, einige Monate zuvor verstarb; vgl. Riverdale (2017-), USA: The CW, Creator: Roberto Aguirre Sacasa. Vgl. zur ähnlichen Ästhetik des Interface von Netflix Lobato 2017, S. 187ff.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

Die im Folgenden vorgestellten Theorien und Modelle zum Raum aus Film- und Literaturwissenschaft sowie anderer Disziplinen sind nach ihrer Eignung für die Raumanalyse serieller Dystopien ausgewählt. An diesem Vorgehen ließe sich kritisieren, dass bestimmte Erkenntnisse durch die Eingrenzung der Untersuchungswerkzeuge im Vorfeld der Studie verborgen blieben. Für eine solche frühzeitige Auswahl spricht allerdings, dass der Forschungsapparat auf die notwendigsten Ausführungen begrenzt bleibt und dass sich die Untersuchung an den Charakteristika des Gegenstandes orientiert und nicht an den Qualitäten der Analyseinstrumente. Abgesehen von kurzen Überblicken über den Forschungsstand zum Raum in Film- und Literaturwissenschaft erfolgen jeweils eine Darstellung der Theorie oder des Modells sowie eine knappe Begründung für deren bzw. dessen Anwendung in der Raumanalyse serieller Dystopien des Post-TV. Da im Folgenden die Begriffe ›Raum‹ und ›Ort‹ verwendet werden, soll vorab eine Differenzierung beider Termini formuliert werden. Laura Frahm führt zentrale Auffassungen von Raum und Ort in der gegenwärtigen Forschung auf Definitionen René Descartes zurück und formuliert die folgende Unterscheidung: Während der Ort […] der Lagebestimmung zwischen Körpern dient, bezeichnet der Raum die allgemeine, ausgedehnte Größe und Gestalt, die auch bei einem Ortswechsel der Körper gleichbleibt. […] Während der Ort stets mit etwas Statischem, Unbewegtem und nach außen hin Begrenztem kurzgeschlossen wird, bezeichnet der Raum gerade als Gegenstück dazu das Flexible, das Bewegte und das Ausgedehnte.1 Mit Blick auf Filme und Fernsehserien lässt sich eine Unterscheidung zwischen Handlungsräumen und Handlungsorten vornehmen.2 Der Handlungsraum ist laut Benjamin

1 2

Frahm, Laura (2010): Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld: transcript, S. 51f. Vgl. für die folgenden Ausführungen zu Handlungsräumen und -orten auch Kröber, Franz (2022b): Serienräume lesen und erfahren: Entwurf einer medienästhetischen Dimension der Serialitätsdidaktik. In: Pietsch, Volker/Lehndorf, Helen (Hg.): Figuren, Räume, Perspektiven – (Re-)Konstruktionen literar- und medienästhetischen Lernens. Frankfurt: Peter Lang, S. 192, Anm. 7.

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II. Theoretische Grundlagen

Beil, Jürgen Kühnel und Christian Neuhaus »der Raum, in dem die Geschichte angesiedelt ist«, Handlungsorte sind hingegen abgegrenzte Räume, in denen Figuren handeln.3 Beide seien wiederum in einen »Handlungsraum in einem weiteren Sinne« eingebettet, den Anschauungsraum.4 Die Autoren geben als Beispiel den Film Sense and Sensibility an, in dem England den Anschauungsraum bildet und Handlungsorte wie »Landhäuser und Stadtpalais« aufweist.5 Ferner ist von den flächenmäßig größeren und semantisch gegensätzlich codierten Räumlichkeiten der »Landsitze« und London die Rede, die jedoch keiner Kategorie zugeordnet werden.6 In vielen gegenwärtigen Fernsehserien wird jedoch nicht nur ein Handlungsraum entworfen, sondern werden die zunächst eingeführten Orte um immer weitere ergänzt, wodurch sich auch der eingangs vorgestellte Raum erweitert. Folglich wird in Bezug auf Serien von einer Koexistenz mehrerer semantisch und topographisch unterschiedlicher Räume oder Regionen innerhalb eines Anschauungsraums ausgegangen. Handlungsräume bzw. Regionen vereinen mehrere Handlungsorte und weisen eine größere Fläche als einzelne Handlungsorte auf. Handlungsorte liegen innerhalb von Handlungsräumen bzw. Regionen und teilen deren semantische Merkmale und andere Charakteristika (Klima, Vegetation etc.) weitestgehend. Handlungsraum und Handlungsort sind in eine umfassende fiktive Topographie der Serie eingebettet, die häufig nur angedeutet wird, z.B. durch Karten.

2.1 Raum im Film – Forschungsstand und ausgewählte Konzepte Die theoretische Aufarbeitung des filmischen Raums wird unterschiedlich bewertet: Laut Oliver Schmidt bestehen in der Filmwissenschaft unterschiedliche Raumkonzepte, bisher jedoch weder eine »umfassende[] und konsistente[] Theorie des filmischen Raums«, noch eine »systematische Reflektion der einzelnen Raumkonzepte in Hinblick auf ihre medienspezifischen Implikationen und das jeweils zugrunde liegende Raumverständnis«.7 Dagegen stellen Matthias Christen und Silke Martin eine gleichbleibende

3 4 5 6 7

Beil, Benjamin/Kühnel, Jürgen/Neuhaus, Christian (2016): Studienhandbuch Filmanalyse. 2., aktual. Aufl. Paderborn: UTB, S. 277. Ebd. Ebd. Ebd. Schmidt, Oliver (2013a): Filmische Räume. Zur textuellen Bindung räumlicher Systeme im Film. In: Bateman, John A./Kepser, Matthis/Kuhn, Markus (Hg.): Film, Text, Kultur. Beiträge zur Textualität des Films. Marburg: Schüren, S. 294–319. Vgl. ausführlicher hierzu Schmidts Bestandsaufnahme jüngerer Publikationen, die den Raum im Film untersuchen: Laut Schmidt handelt es sich hierbei vermehrt um »Theoretisierung[en] des filmischen Raums selbst«, »Einzeluntersuchungen zur Konstruktion des filmischen Raums« sowie Arbeiten mit einem Schwerpunkt auf den »weltbildenden Aspekten des Films«; Schmidt, Oliver (2013b): Hybride Räume. Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende. Marburg: Schüren, S. 38; vgl. auch Khouloki, Rayd (2007): Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung. Berlin: Bertz + Fischer, S. 9.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

Tendenz zu einer zunehmend feineren Ausdifferenzierung« der »Erscheinungsformen« sowie »ästhetischen und narrativen Funktionen« des filmischen Raums fest.8 Einflussreiche Konzepte des filmischen Raumes stammen u.a. von Éric Rohmer und Étienne Souriau.9 Rohmer unterscheidet zwischen dem filmischen Raum, einem Konstrukt, dass Zuschauer auf Grundlage einzelner Raumausschnitte im Zuge der filmischen Rezeption bilden, dem Bildraum, dem auf die Leinwand projizierten und inszenierten Bild sowie dem architektonischen Raum, der künstliche und nicht-künstliche Drehorte umfasst.10 Für die Raumanalyse ist weiterhin Souriaus Trennung zwischen Diegese, der Leinwand und dem Profilmischem relevant. Letzteres ist »jede objektive Wirklichkeit, die aufgenommen wird, insbesondere alles was speziell hierfür geschaffen oder arrangiert wurde«.11 Die Diegese, ein sowohl aus filmwissenschaftlicher als auch literaturwissenschaftlicher Sicht zentraler Begriff zur Erfassung fiktiver Welten,12 umfasst »all das, was den Film, insoweit er etwas darstellt, betrifft. Diegetisch ist alles, was man als vom Film dargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt, gehört«.13 Zwischen beiden Konzepten liegen Ivo Ritzer zufolge Überschneidungen vor: Rohmers architektonischer Raum sei äquivalent zu Souriaus profilmischem Raum, der Bildraum zum filmophanen und der filmische zum spektatoriellen Raum.14 Innerhalb der Geisteswissenschaften sowie in einzelnen Disziplinen existieren verschiedene Auffassungen von ›Raum‹. Konsens besteht in den Geisteswissenschaften Oliver Schmidt zufolge aber über drei Charakteristika: 1.) Raum ist nicht absolut, sondern relational und damit dynamisch; 2.) Es handelt sich beim Raum im Film nicht um eine reale Gegebenheit, sondern ein »synthetisches Produkt« der Wahrnehmung; 3.) Raum ist bedeutungstragend, ästhetisch und prozessual.15 Laut Schmidt besteht in der Filmwissenschaft ein konstantes Problem in der theoretischen Erfassung von Raum im Bezug zum Film: Er ist erstens Bedingung filmischen Erzählens, zweitens Mittel filmischen Erzählens und drittens selbst Gegenstand der filmischen Erzählung. Diese Unterscheidung ist insofern

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Christen, Matthias/Martin, Silke (2018): Raum. Topografie und Topologie des Films – Geopolitik des Kinos. In: Groß, Bernhard/Morsch, Thomas (Hg.): Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden: Springer [Sammelband ohne durchgehende Paginierung], S. 2. Vgl. Keutzer, Oliver et al. (Hg.) (2014): Filmanalyse. Wiesbaden: Springer, S. 28ff. und Christen/ Martin 2018, S. 6–8. Vgl. ebd., S. 28–40. Souriau, Étienne (1997 [1951]): Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie. In: Montage AV 6.2, S. 140–157, hier S. 156f. Die anderen der insgesamt acht Ebenen des filmischen Universums sind laut Souriau das Afilmische, das Filmographische, das Filmophanische, das Kreationelle und das Spektatorielle; vgl. ebd. Kessler, Frank (2007): Von der Filmologie zur Narratologie. Anmerkungen zum Begriff der Diegese. In: Montage AV 16.2, S. 9–16. Souriau 1997 [1951], S. 151. Vgl. Ritzer, Ivo (2020): Frühe Filmwissenschaft: Von der Filmologie zu Strukturalismus/Semiotik. In: Hagener, Malte/Pantenburg, Volker (Hg.): Handbuch Filmanalyse. Wiesbaden: Springer, S. 217–231, hier S. 220. Schmidt 2013b, S. 36.

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II. Theoretische Grundlagen

theoretisch prekär, als sie eine Dimensionalität des Begriffs aufzeigt, die ihn scheinbar als Universalkonzept für die verschiedensten filmwissenschaftlichen Forschungsbereiche qualifiziert, seien es nun Fragen der Ontologie, der Repräsentation, der Wahrnehmung oder der Ideologie des Films.16 Der »Raum, wie er innerhalb der einzelnen Forschungsfelder verwendet wird,« müsse deshalb »differenziert und auf seine Operationalisierbarkeit innerhalb der Trias von Filmtext, Filmwahrnehmung und Filmerleben durch den Zuschauer hin untersucht werden«.17

2.2 Erzählen und Erfahren des filmischen Raums Für die Untersuchung von Räumen serieller Dystopien des Post-TV braucht es Konzepte, mit denen a) die narrative Struktur und Semantik, zugleich aber b) die filmisch-seriell erzeugte Erfahrung erfasst werden können, die mit der Inszenierung der Serienräume und ihrer Rezeption einhergehen. a) Ausführliche narratologische Studien zum Raum im Film fehlen bislang.18 Als narrative Kategorie tritt der Raum vor allem durch seine Semantisierung in Erscheinung, d.h. durch die Informationen, die ihm in Bezug auf Figur, Handlung, Zeit und extratextuelle Diskurse eingeschrieben sind. Häufig wird zur Analyse dieser Funktion das Chronotopos-Konzept von Michael Bachtin aufgerufen.19 Ferner wird auf das Wissen der Zuschauer zur alltäglichen Bedeutung von Raum und zu genrespezifischen Konventionen verwiesen, aufgrund derer z.B. eine verfallene Hütte zu Beginn eines Films auf Handlungsschemata des Horror-Genres verweisen kann.20 In filmnarratologischen Analysemodellen wird der Raum vor allem unter dem Gesichtspunkt der Mise en Scène verhandelt.21 So führt die Filmnarratologie von Markus Kuhn ›Raum‹ nicht als einzelnen Untersuchungsparameter auf, sondern ordnet ihn der Mise en Scène zu und diese wiederum der Kategorie der audiovisuellen Erzählinstanz.22 Kuhn betont, »dass die visuelle Erzählinstanz nicht vollständig losgelöst von der Miseen-scène betrachtet werden kann«.23 Schlüssig ist Kuhns Hinweis, dass »viele Elemente

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Schmidt 2013a, S. 295. Ebd. Vgl. Frank 2017a, S. 426. Vgl. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016, S. 280–287. Vgl. Mikos, Lothar (2015): Film- und Fernsehanalyse. 3., überarb. u. aktual. Aufl. Konstanz/München: UTB, S. 109, S. 224–226. Die Mise en Scène umfasst laut Kirsten in Anlehnung an Bordwell und Thompson 2008 »›those aspects of film that overlap with the art of theater: setting, lighting, costume, and the behavior of the figures. In controlling the mise-en-scene the director stages the event for the camera‹«. Diese Definition beschränke sich »auf die profilmische Situation« und blende Kameraarbeit und Schnitt aus. Kirsten, Guido (2020): Mise en Scène. In: Hagener, Malte/Pantenburg, Volker (Hg.): Handbuch Filmanalyse. Wiesbaden: Springer, S. 65–81, hier S. 69f. Kuhn, Markus (2011): Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 90f. Vgl. zu den folgenden Ausführungen zu Kuhn auch Frank 2017a, S. 425. Kuhn 2011, S. 91.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

der Mise-en-Scène primär keine narrative, sondern eine symbolische, charakterisierende, dramaturgische, metaphorische, atmosphärische oder metonymische Funktion haben«, wobei insbesondere der Realitätseffekt nach Roland Barthes eine besondere Rolle spiele.24 Allerdings führt er diese Funktionen sowie die sekundären narrativen Effekte anhand der Mise en Scène nicht aus und reduziert zudem die Konstruktion des Raums durch die Zuordnung zur visuellen Erzählinstanz allein auf optisch wahrnehmbare Aspekte.25 Aus einer Beispielanalyse aus Peter Verstratens Film Narratology geht hervor, dass er der Darstellung von Ort und Raum eine semantische Funktion sowie die Generierung von Stimmungen und Orientierung oder Desorientierung attestiert.26 Allerdings schlägt er keine Kategorien vor, mit denen eine differenzierte narratologische Untersuchung dieser Funktionen möglich wäre. Seine Ausführungen zu Location und Setting als Teil der Mise en Scène implizieren eine narrativ-dramaturgische Funktion des Raums, wenn er konstatiert, dass einzelne Genres bestimmte Locations verlangen oder dass das Setting intertextuelle Konnotationen aufweisen kann.27 Sowohl bei Kuhn als auch bei Verstraten fehlt die Auseinandersetzung mit etablierten narratologischen Raumkonzepten, wie z.B. der Chronotopos-Theorie oder der Raumsemantik. Auch Nina Heiß wendet sich dem Raum unter dem Begriff der Mise en Scène zu, greift aber u.a. auf Lotmans Raumsemantik zurück, diskutiert das Verhältnis des Raums zu Figur und Handlung, ordnet Räume hinsichtlich ihres Realitätsgrades zwischen den Polen des »dokumentarischen und imaginären Modus« ein und erörtert das narrative Potential anderer gestalterischer Elemente, die bei der Konstruktion von Räumen zum Einsatz kommen, wie z.B. dem Ton.28 Im Vergleich zu den Erzähltheorien des Films von Kuhn und Verstraten ist die Erörterung der narrativen Qualitäten des filmischen Raums bei Heiß am differenziertesten. In allen drei Narratologien des Films führt jedoch die Fokussierung auf die Mise en Scène bzw. auf die profilmische Rauminszenierung zur Vernachlässigung der narrativen Struktur des Raums, die über die Auswahl von Raumausschnitten durch die Kamera und deren Kombination in der Montage auf Ebene des filmischen discours entsteht. Wegweisend ist diesbezüglich Chatmans Vorschlag, Raum im Film in story-space, also den ›erzählten‹ Raum, und discourse-space, also den Raum des ›Erzählens‹, zu differenzieren.29 b) Die Rezeption von Filmen lässt sich allerdings nicht allein auf die Konstruktion von Bedeutungen sowie das Verstehen und Bewerten von Erzählungen begrenzen. Die

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Ebd., S. 91f. Auch wenn Kuhn 2011 an anderer Stelle darauf hinweist, dass sein Begriff der visuellen Erzählinstanz immer auch die auditive Ebene meine (ebd., S. 86f.), so sind doch die Zuordnung des Raumes allein zur visuellen Kategorie der Mise en Scène sowie die von ihm gewählten Beispiele als Einengung des Potentials filmischer Raumkonstruktionen zu verstehen. Vgl. Verstraten, Peter (2009): Film Narratology. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press, S. 36f. Vgl. Ebd., S. 62f. Vgl. Heiß, Nina (2011): Erzähltheorie des Films. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 91–103 und S. 155–163. Vgl. Chatman, Seymour (1993 [1978]): Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London: Cornell University Press, S. 96ff. Vgl. hierzu auch II.3.3.4 in dieser Arbeit.

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II. Theoretische Grundlagen

sinnliche Wahrnehmung von Film beinhaltet Thomas Morsch zufolge »eine ›beginnende Reflexion‹«, ist aber »der Urteilsbildung und reflektierenden Bewusstseinsprozessen gegenüber vorgängig«.30 Der Film bringe »mittels der Arbeit der Kamera in performativer Weise Wahrnehmungen« hervor, »die […] wiederum der Wahrnehmung der Zuschauer im Kino anheim gestellt werden«.31 Diese phänomenologischen Ausführungen lassen sich u.a. auf Vivian Sobchacks Theorie der »double occupancy of cinematic space« zurückführen.32 Laut Sobchack erfahren die Zuschauer den Raum der filmischen Welt sowohl durch ihre eigene körperlich bedingte Wahrnehmung als auch über die mediatisierte Wahrnehmung innerhalb der filmischen Inszenierung: The embodied activity of perception and expression – making sense and signifying it – are given to us as modalities of a single experience of being in the presence of and producing meaning and diacritical value. What we look at projected on the screen […] addresses us as the expressed perception of an anonymous, yet present, »other«. And, as we watch this expressive projection of an »other’s« experience, we, too, express our perceptive experience.33 Die Zuschauer erleben folglich den Film sinnlich und durch den eigenen Leib als einen Erfahrungsraum einer sich im Film ausdrückenden Instanz und damit als ein anderes »Subjekt der Wahrnehmung«.34 Auch wenn in der folgenden Raumanalyse zu heuristischen Zwecken mal die narrativen Qualitäten und mal das emotionale Erleben des Raums betont werden, sind die kognitive, perzeptive und affektive Rezeption des filmischen Raums nicht trennbar: »[D]ie leibliche Erfahrung im Kino vollzieht sich nicht auf Kosten der kognitiven oder geistigen Erfahrung, sondern ist mit dieser unauflöslich verschränkt«.35 Dies wird u.a. daran deutlich, dass die durch filmisch-serielle Rauminszenierungen generierten Stimmungen und Atmosphären affektiv wahrnehmbar sind, zugleich aber auch den Raum semantisieren, indem sie ihn als düster, freundlich etc. zu erkennen geben. Ebenso verhält es sich mit Fragen der unmittelbaren oder mittelbaren filmischen Präsentation von Schauplätzen und ihrem Grad an Realität, der sich mit dem Eindruck der Immersion überschneiden kann. Im Folgenden sollen zwei Analysemodelle vorgestellt werden, die die narrativen und semantischen sowie die erfahrungsbezogenen Aspekte des filmischen Raums integrieren. In ihrem filmanalytischen Einführungswerk schlagen Beil, Kühnel und Neuhaus die Untersuchung des Raums hinsichtlich der Ebene der Geschichte, des Diskurses und der Wahrnehmung vor.36 Auf der Ebene der Geschichte werden Räume und Orte als Schau30 31 32

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Morsch, Thomas (2010a): Filmische Erfahrung im Spannungsfeld zwischen Körper, Sinnlichkeit und Ästhetik. In: Montage AV 19.1, S. 55–77, hier S. 57. Ebd., S. 58. Sobchack, Vivian (1992): The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton: Princeton University Press, S. 10. Mit der Zusammenfassung von Sobchacks Theorie unter dem ›Label‹ double occupancy of cinematic space übernehme ich eine Formulierung von Schmidt 2013b, S. 91. Ebd., S. 8f. Morsch 2010a, S. 60. Ebd. Vgl. für die folgende Darstellung Beil/Kühnel/Neuhaus 2016, S. 276–278.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

plätze der Handlung betrachtet, die zugleich semantisiert werden und mit Symbolen und Stimmungen aufgeladen sind. Die Ebene des Diskurses umfasst die »Dynamisierung des Raumes«, also die sukzessive Entstehung eines Handlungsortes oder -raums durch die Abfolge einzelner Einstellungen, die durch die Montage erzeugt wird, innerhalb einer Einstellung aber »durch die Bewegung der Kamera« generiert wird, »durch die es – vor allem bei Plansequenzen […] – zu einer permanenten Veränderung des im Bild festgehaltenen Raumausschnittes kommt«.37 Auf der Ebene der Wahrnehmung beschreiben die Autoren schließlich die Erfahrung des Raums im Film durch die Zuschauer. Die Omnipräsenz der Kamera ermögliche den Wechsel von Standorten für die Rezipienten und ihre Perspektiven auf Artefakte im filmischen Raum, wodurch der Eindruck entstehe, sie erlebten den dargestellten Raum. Das Analysemodell von Beil et al. verschränkt sowohl die narrative Strukturierung des filmischen Raums als auch dessen Potential als Erfahrungsraum miteinander. Problematisch sind jedoch ihre Annahme zur Erzeugung von Raumsemantik sowie ihr Verständnis der narrativen Qualitäten von Raum im Film. Die Autoren konstatieren, dass Raumsemantik und Stimmungen »von der Perspektive der Figuren, mit denen der Zuschauer sich identifiziert, abhängig« sind.38 Die Bedeutung von Raum und Ort entsteht aber nicht nur aus der rekonstruierten Geschichte des Films heraus und ist nicht ausschließlich abhängig von der Perspektive der Figuren bzw. selten allein auf eine Perspektive zurückzuführen. Die filmische Präsentation von Räumen in der Mise en Scène sowie die lineare Anordnung von Einstellungen auf Ebene des filmischen discours sind wesentlich an der Erzeugung von Semantiken und Stimmungen beteiligt – nicht zuletzt auch die Wahrnehmung von Räumen.39 So kann z.B. extradiegetische Musik sowie die Aufnahme eines Raumes mit einer mobilen Handkamera zu einer Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung eines Raums durch die Rezipienten führen, die die Figuren nicht teilen würden. Schmidt verbindet in seiner Monographie Hybride Räume kognitivistische und phänomenologische Perspektiven miteinander. Ebenso wie Beil et al. integriert er das filmische Erzählen und Erleben des Raums in einem Analysemodell, fügt dem jedoch die Kategorie des Raums der filmischen Wirklichkeit hinzu.40 Sein Instrumentarium soll »ästhetische Phänomene auf der Ebene der Diegese, der Narration und der audiovisuellen Darstellung als erlebbare filmische Räume fassbar und analysierbar« machen41 und geht von drei sich überlagernden Ebenen des Raums aus: Von einem raumtheoretischen Standpunkt aus betrachtet stellt die ›Welthaftigkeit‹ des Dargestellten den Ausgangspunkt der filmischen Erfahrung dar: Der Zuschauer

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Ebd., S. 278. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016, S. 277. So kommt z.B. Butler zu der Beobachtung, dass Sets fiktionaler Serien narrative Bedeutung für den Zuschauer tragen; vgl. Butler, Jeremy G. (2002): Television. Critical Methods and Applications. 2. Aufl. Mahwah, New Jersey/London: Lawrence Erlbaum Associates, S. 94. Ausgehend vom Hollywood-Kino zwischen 1990 und 2010, dass sich »durch ein Spiel mit filmischen Räumen« auszeichne, vertritt Schmidt die These, dass in unkonventionellen Inszenierungen des Raums erst seine ›Schichten‹ wahrnehmbar und erfahrbar werden; Schmidt 2013b, S. 8f. Ebd., S. 9.

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II. Theoretische Grundlagen

geht zunächst davon aus, dass das, was ihm auf der Leinwand präsentiert wird, überhaupt den Anspruch erhebt, Teil eines raumzeitlichen Zusammenhangs zu sein (diegetischer Raum). Dieser Weltzusammenhang wird jedoch nicht nur durch physikalische und soziokulturelle Gesetzmäßigkeiten bestimmt, sondern auch durch narrative Regeln, die ebenso das Sein und Werden in dieser Welt bestimmen (narrativer Raum). Die Art und Weise, wie solch eine narrativisierte Welt auf der Leinwand audiovisuell zum Ausdruck kommt – die Regelhaftigkeit ihrer sinnlichen Erscheinung also – bildet einen dritten räumlichen Zusammenhang (audiovisueller Bildraum).42 Alle drei Ebenen – diegetischer, narrativer und audiovisueller Bildraum – überlagern sich Schmidt zufolge in der konkreten Rezeption. Der diegetische Raum werde »als Raumhypothese im Prozess des Filmverstehens […] als analog zum Raum unserer Alltagswelt gedacht, mit Eigenschaften wie Dreidimensionalität, Homogenität und Kontinuität«43 und durch die Zuschauer auf der Grundlage einzelner Einstellungen synthetisiert. Er habe den »Status eines wahrnehmbaren, bedeutungstragenden Objektes« inne und könne zugleich als »sinnlich-textuelles und in dieser Hinsicht affektives Erlebnismoment betrachtet werden«.44 Der diegetische Raum wird bei Schmidt durch die Ebenen des narrativen Raums und des audiovisuellen Bildraums überformt. Mit Blick auf den narrativen Raum erscheint die Filmwelt »als Erzählwelt, die bestimmten Genreregeln gehorcht«, die für die Zuschauer, jedoch nicht für die Figuren einsehbar sind.45 Dem narrativen Raum ordnet Schmidt u.a. die Funktion des discourse-space im Sinne Chatmans zu, der »auf die Vernetzung einzelner Handlungsräume durch die filmische Erzählung« verweist.46 Der audiovisuelle Bildraum ist schließlich eine Kategorie zur Analyse der Qualitäten von Filmbild und -ton, in denen »diegetische und narrative Räume« erst »ihren sinnlichen Ausdruck« finden.47 Zugleich bilde er die ›Schicht‹, über die die Filmwelt für Zuschauer primär kognitiv und sinnlich wahrnehmbar werde.48 Der Kategorie des audiovisuellen Bildraums weist Schmidt eine Reihe verschiedener Aspekte zu: Zu diesen gehören u.a. der visual style, Bildebenen bzw. layers, Dynamiken von Ereignissen, die sich im Bildraum abzeichnen, Medialität und Artifizialität des Filmbildes, sowie Segmentierung und Transitivität.49 Schließlich weist er darauf hin, dass alle drei Raumebenen »vom Zu-

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Ebd., S. 113. Ebd., 117. Vgl. ebd., 308. Ebd., 221. Ebd., S. 228. Schmidt ordnet Überlegungen zur Struktur des Raums bei Arnheim 1932, den Cinematic Space nach Sobchack 1992 sowie den hodologischen Raum nach Lewin bzw. Günzel 2008 als Aspekte des discourse-space ein; ebd., S. 228. Schmidt 2013b, S. 271. Vgl. Ebd. Der visual style meint »bestimmte Inszenierungsweisen von Dingen, Personen und Ereignissen im szenischen Raum«; ebd., S. 276. Layers sind »Bildschichten, die frei miteinander kombiniert werden können«, z.B. die Kombination aus Elementen des Real- und Trickfilms im selben Film. Ein Beispiel hierfür ist die Inszenierung einer »körperlosen Kamera«, die Spiderman auf seinem Weg zwischen den Wolkenkratzern New Yorks begleitet; ebd., S. 277f. Medialität und Artifizialität des »Filmbildes« werden z.B. bei Übergängen von Schwarzweiß zu Farbe in The Wizard of Oz deut-

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

schauer stets mit der Vorstellung typischer Genrewelten abgeglichen« werden und folglich von einem übergeordneten Genreraum beeinflusst seien.50 Das Potential dieses Instrumentariums für die Raumanalyse dystopischer Serien liegt zum einen darin, dass es neben konventionellen auch innovative Raumkonzeptionen erfassen kann: So antizipiert Schmidt durch die Konzentration auf Layers nicht nur Räume, die sich durch Augmented-Reality-Inszenierungen überschneiden,51 sondern geht auch davon aus, dass der diegetische Raum mehrere ontologische Ebenen miteinander verbinden kann, zu denen auch parallele Welten innerhalb einer Erzählung gehören.52 Zum anderen verbindet der Autor kognitivistische bzw. narratologische Zugänge mit phänomenologischen. Die »Medienblindheit« literaturwissenschaftlich geprägter Narratologie53 sowie der Raumsemantik54 könne somit ausgeglichen werden. Raum wird bei Schmidt als durch den filmischen Text55 vorstrukturiertes und zugleich als in der filmischen Erfahrung generiertes Phänomen gedacht. Das Analysemodell ist folglich gleichermaßen zur Untersuchung der Wirkung und möglicher Erfahrungen von Raum- und Weltkonstruktionen als auch ihrer Bedeutungen und Strukturen geeignet. Gewinnbringend ist weiterhin, dass Schmidt die narrativen Regeln, nach denen der Raum konstruiert ist, vor dem Hintergrund des Genres bewertet, dem der jeweilige Film zugeordnet werden kann. Problematisch ist hingegen, dass Schmidt wie Beil, Kühnel und Neuhaus davon ausgeht, dass der diegetische Raum bereits an sich Bedeutung trägt, jedoch offenlässt, ob diese Bedeutungen unabhängig von Figuren zugewiesen werden können oder welche Typen der Raumsemantik bestehen. Ferner ist seine Annahme des narrativen Raums durchaus einleuchtend, aber nur bedingt anschlussfähig an die in der Narratologie üblichen Trennung zwischen Geschichte bzw. histoire und Erzählung bzw. récit oder discours. Der narrative Raum meint bei Schmidt keine Ebene der narrativen Re-Strukturierung und Präsentation von Ereignissen und Geschehen sowie fiktiver Entitäten, sondern eher ein implizites Regelwerk, dass die filmische Inszenierung des jeweiligen Raums bestimmt. Sowohl der narrative Raum als auch der audiovisuelle Bildraum schneiden gewissermaßen durch die Konstrukte von Erzählung und Geschichte bzw. discourse-space und story-space hindurch. Folglich sollen die jeweiligen Modelle von Beil, Kühnel und Neuhaus sowie von Schmidt eher als Ausgangspunkt und gedankliches Gerüst für die Raumanalyse serieller Dystopien dienen. Sie machen deutlich, dass bestimmte Qualitäten des filmischen Raums sowohl kognitiv und affektiv verarbeitet als auch leiblich erfahren werden,

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lich; ebd., S. 282f. Segmentierung meint in diesem Zusammenhang die Aufteilung des Bildraums innerhalb von Einstellungen, Transitivität hingegen Bildübergänge; vgl. ebd., S. 283. Vgl. ebd., S. 309. Schmidt begreift Genres als »dynamische historische Systeme medialer Erfahrung, die durchaus in Zusammenhang mit soziokulturellen Veränderungen in der Gesellschaft stehen können«; ebd., S. 310. Vgl. ebd., S. 303–309. Vgl. ebd., S. 122. Schmidt 2013a, S. 299. Schmidt 2013b, S. 108. Schmidt 2013a versteht unter der Textualität des Films »eine sinnlich wahrnehmbare, synthetische, möglicherweise sogar haptische Textualität«; ebd., S. 300.

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II. Theoretische Grundlagen

während sie zugleich eine schwerpunktmäßige Auswertung räumlicher Phänomene serieller Dystopien unter den bereits genannten Kategorien der Rezeption des Raums, der Raumsemantik und der narrativen Organisation des Raums in fernseh-seriellen Erzählungen rechtfertigen. Allerdings widmen sich beide Modelle der Narrativität und Semantik des Raums nur punktuell.56 Deshalb werden im Folgenden grundlegende Konzepte zur Raumsemantik und Raumnarratologie aus der Literaturwissenschaft vorgestellt. Diese Ausführungen werden um Konzepte aus Philosophie, Game Studies, Architektur und Kartographie ergänzt, die ebenfalls als Werkzeuge für die Raumanalyse der seriellen Dystopien herangezogen werden.

2.3 Raum in der literaturwissenschaftlichen Narratologie Der spatial turn verhalf in letzter Zeit auch der literaturwissenschaftlichen Raumnarratologie zu neuer Vitalität,57 die zwar auf eine eigene Tradition vor der ›Raumwende‹ zurückblicken kann,58 allerdings bisher nur wenige systematische Untersuchungskategorien für dieses Thema hervorbrachte.59 Laut Ansgar Nünning ist dieser Umstand darauf zurückzuführen, dass Typologisierungsversuche an der Vielzahl unterschiedlicher Rauminszenierungen scheitern.60 Ein anderer Grund mag in der Priorisierung der Zeit oder anderer Fragen über den Raum der Erzählung liegen sowie in der weit verbreiteten Auffassung, nach der die Erzählung vor allem eine »representation of a sequence of events« sei.61 Folglich ist es nicht verwunderlich, dass viele einschlägige Einführungen in

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So wird weder bei Beil, Kühnel und Neuhaus 2016 noch bei Schmidt 2013a und 2013b das Verhältnis zwischen Raum und Handlung mit Blick auf etablierte Konzepte wie Lotmans Raumsemantik erörtert, obgleich es zumindest die Kategorisierung von Handlungsraum und -ort bei Beil, Kühnel und Neuhaus implizit bestimmt (vgl. ebd., S. 277). Zudem verfügen sie weder über Kategorien zur Erfassung der den Rauminszenierungen eingeschriebenen extratextuellen Diskurse noch zur Untersuchung der Anordnung von Figuren im Raum. Auch werden Fragen der Atmosphäre und Semantik von bestimmten Baustilen und Baumaterialien sowie Ästhetiken von Karten nicht beleuchtet. Vgl. Frank 2017a, S. 41. Als Beleg hierfür führt Frank Einträge zum Raum in ›jüngeren‹ Handbüchern an. Symptome für das gegenwärtige narratologische Interesse am Raum der Literatur sind der Sammelband von Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: de Gruyter; Franks eigene Monographie (Frank 2017a) sowie ihr Handbucheintrag zu Raum in einem erzähltheoretischen Einführungswerk: Frank, Caroline (2017b): Raum. In: Huber, Martin/Schmid, Wolf (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 352–361. Historische Überblicke zur Erforschung von Räumen schriftlicher Erzählungen finden sich in Frank 2017a, S. 39–58; sowie in Ryan, Marie-Laure (22.04.2014): Space. In: the living handbook of narratology. https://www.lhn.uni-hamburg.de/node/55.html, aufgerufen am 3.09.2020, Kapitel »History of Approaches to Narrative Space«. Eine äußerst gründliche Darstellung und Einordnung des Forschungsdiskurses bietet Dennerlein, Kathrin (2009): Narratologie des Raums. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 13–47, 210–217. Vgl. Frank 2017a, S. 13. Vgl. Nünning 2009, zit. ebd. Ryan 2014.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie Räumen vergleichsweise wenig oder kaum Beachtung schenken.62 Analog zum diegetischen Raum des Films kann für literarische Erzählungen die Definition des erzählten Raums nach Caroline Frank angeführt werden: Zum konkreten Raum der erzählten Welt zählen all diejenigen Entitäten in Erzähltexten, die zur in der Regel dreidimensionalen Umgebung von Figuren werden können, die ein Innen und ein Außen besitzen und in denen innerfiktionale Handlung stattfinden kann – wobei auch Elemente, die sich in einem Raum befinden, als ein Teil von ihm, als sein Interieur, betrachtet werden sollen.63 Zwischen den diegetischen bzw. erzählten Räumen schriftlicher und filmischer Erzählungen liegt eine Reihe von Gemeinsamkeiten vor. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme64 stellt die explizite Darstellung von Raum keinen Unterschied zwischen Literatur und Film dar. Räume können in schriftlichen Erzählungen auch dann präsent sein, wenn sie nicht beschrieben werden, da Erzählungen stets eine Welt mit räumlicher Ausdehnung implizieren.65 Wiederum können Filme laut Frank »rein theoretisch« auf eine Visualisierung des Raums verzichten, indem der Bildraum keine Informationen zum diegetischen Raum aufweist.66 Beide Medien erzählen Räume zudem in Ausschnitten, die von den Rezipienten zu einem mentalen Modell zusammengefügt werden müssen und geben dabei vor, »wie viele und welche Eindrücke« sie vom Raum erhalten.67 Zentral für den Transfer von Raumtheorien anderer Disziplinen auf Fernsehserien ist aber die Tatsache, dass Raum zwar diskursiv mit medienspezifischen Mitteln hervorgebracht

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Vgl. Frank 2017a, S. 42. Eine Ausnahme mag die von Frank hervorgehobene und zitierte Einführung in die Erzähltextanalyse von Wenzel 2004 darstellen. Anhand eines Vergleichs verschiedener Ausgaben der Einführung in die Erzähltheorie von Martínez/Michael lässt sich zudem die innerhalb von über zehn Jahren gestiegene Relevanz der Kategorie ›Raum‹ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Narratologie nachverfolgen: In der 8. Auflage von 2009 ist lediglich implizit von Raum die Rede, wenn es um Lotmans Raumsemantik unter dem Stichwort »Handlungs- und Tiefenstrukturen« geht; vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 140–144. Die gegenwärtige 11. Auflage widmet dem Thema hingegen ein ganzes Unterkapitel, in dem der Bezug diegetischer Räume auf die extratextuelle Welt und ihre Funktion für die Handlung ebenso beleuchtet werden wie Lotmans semiotische Theorie; vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2020): Einführung in die Erzähltheorie. 11., überarb. u. aktual. Aufl. München: C.H. Beck, S. 155–165. Frank 2017a, S. 434. Vgl. Mahne, Nicole (2007): Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 86f. Vgl. Ryan 2014. Frank 2017a, S. 435, Anm. 690. Ebd., S. 434f. Die Vergabe räumlicher Informationen im Computerspiel ist laut Frank auch in »Spielen der neueren Generation« gesteuert, da ihnen trotz aller prinzipiellen Freiheit des Spielers bei der Erkundung des Raums »so etwas wie ein idealer Handlungsablauf ›einprogrammiert‹ ist, der im besten Fall eingehalten werden soll, wenn man Fortschritte erzielen möchte«; ebd. Es ließe sich hinzufügen, dass auch die Diegesen und somit die fiktiven Räume von Open-World-Spielen ganz konkret durch die ästhetische und technische Konstruktion der Skybox begrenzt sind; vgl. hierzu Bonner, Marc (2018): Welt. In: Beil, Benjamin/Hensel, Thomas/Rauscher, Andreas (Hg.): Games Studies. Wiesbaden: Springer, S. 129–151, hier S. 133f.

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II. Theoretische Grundlagen

wird, aber auf der Ebene der histoire angeordnet ist, die in Film und Literatur gleichermaßen generiert wird. Die im Folgenden präsentierten literaturwissenschaftlichen Raumtheorien sind für die Analyse serieller Dystopien geeignet, da sie sich auf die histoire der TV-Serie, die Semantik von Räumen sowie ihre Konstruktion im Verlauf linearer literarischer und fernseh-serieller Erzählungen beziehen lassen.

2.3.1 Chronotopos In seiner Chronotopos-Theorie untersucht Bachtin die Einschreibung historischer Zeit-Raum-Konstellationen in den Roman. Der Begriff des Chronotopos bezeichne den »grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen«.68 Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und kohärenten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.69 Bachtin macht deutlich, dass Räumen in der Literatur immer auch Zeit eingeschrieben ist: Der diegetische Raum wird dynamisiert, da sich die Zeit als dessen dritte Achse in ihm ›anfüllt‹. Zeit hingegen könne durch ihre ›Spuren‹ im Raum abgebildet werden. Einer der von Bachtin untersuchten Chronotopoi ist das Schloss der englischen gothic novel des 18. Jahrhunderts: Das Schloß ist angefüllt mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit im engen Sinne des Wortes, d.h. mit der Zeit der historischen Vergangenheit. Das Schloß ist der Ort, an dem die Herren der Feudalepoche und somit auch die historischen Figuren die Spuren der Jahrhunderte und der Geschlechter abgelagert haben – in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, in den Familienarchiven, in den spezifischen menschlichen Beziehungen der dynastischen Erbfolge, der Weitergabe von Erbrechten.70

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Bachtin, Michael M. (2008 [1975]): Chronotopos. 4. Aufl. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7. Zur Genese von Bachtins Theorie und deren Einflüssen vgl. Sasse, Sylvia (2010): Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik. In: Günzel, Stephan (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 294–308, hier 300f.; sowie Frank, Michael C. (2015): Chronotopoi. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 160–169. Bachtin 2008 [1975], S. 7. Ebd., S. 183. Chronotopoi des Romans sind bei Bachtin neben der gothic novel u.a. der griechische Roman, die antike Biographie und Autobiographie, der folkloristische Chronotopos oder der Ritterroman. Zum besonderen Status des gothic castle für Bachtins Chronotopos-Theorie vgl. May, Markus (2013): Zeit- und Raumstrukturen (Chronotopen/Heterotopien). In: Brittnacher, Hans Richard/Ders. (Hg.) (2013): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 583–593, hier S. 588f.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

Der Terminus des Chronotopos ist bei Bachtin bisweilen sehr weit gefasst.71 Vielleicht ist es die Ambiguität des Konzepts, die es Michael C. Frank und Kirsten Mahlke ermöglicht, aus Bachtins Text sechs unterschiedliche Funktionen herauszuarbeiten.72 Zunächst sei der Chronotopos eine kulturtheoretische Kategorie: Bachtin unterscheide zwischen realem bzw. äußeren Chronotopos, der eine »kulturhistorische Gegebenheit« darstelle, und dem literarischen bzw. inneren Chronotopos, der eine »künstlerische ›Aneignung‹« einzelner Momente der realen Gegebenheiten sei. Demnach sei Literatur »ein Medium des kulturellen Gedächtnisses«, wobei in Gattungstraditionen Chronotopoi mit deutlichem Bezug zu realen Gegebenheiten neben solchen existierten, die überholt seien.73 In seiner gattungstheoretischen Funktion könne der Chronotopos-Begriff zur Kategorisierung von Romanen herangezogen werden. Chronotopoi wie das Schloss der englischen gothic novel erfüllten eine narrative Funktion und konstituieren eine erzähltheoretische Kategorie, weil sie den Inhalt der Handlung prägten. Die Verräumlichung der Zeit habe eine gestalterische Funktion, da der amorphe Raum durch die Zeit erst Semantik und Dimension erhalte. Ebenso, wie der Chronotopos die Handlung beeinflusst, bestimme er ferner die literarische Darstellung des Menschen innerhalb des jeweiligen »Raum-Zeit-Gefüges«.74 Die sechste Kategorie sei schließlich produktions- und rezeptionsästhetischer Natur: »Die realen Chronotopoi der darstellenden Welt von Autor und Leser bringen die literarischen Chronotopoi in der dargestellten Welt hervor, was bedeutet, daß auch der Leser sich notwendigerweise an den raumzeitlichen Gegebenheiten seiner eigenen Epoche und Kultur orientiert«.75 Bachtin richtet sich laut M.C. Frank und Mahlke gegen die Auffassung, Literatur sei ein Spiegelbild ihrer Zeit: »Vielmehr kann jeder Autor aus einem Repertoire verfügbarer Chronotopoi wählen, weshalb sich etwa Dostoevskij und Tolstoj als Zeitgenossen durch die jeweils für ihr Romanwerk charakteristischen Chronotopoi unterscheiden«.76 Während das Chronotopos-Modell als gattungstheoretische Kategorie für diese Arbeit vielversprechend ist, weil es Gemeinsamkeiten der Räume serieller Dystopien offenlegen kann, erscheint die erzähltheoretische Funktion von Bachtins Konzept geeignet, die Beziehung zwischen Raum und Handlung zu ergründen.

2.3.2 Raumsemantik In seiner Theorie semantischer Räume geht Lotman ähnlich wie Bachtin davon aus, dass Räume die Handlung mitbestimmen. Allerdings basiert seine Annahme weniger auf einer festen Verbindung bestimmter genretypischer Handlungsabläufe mit einzelnen Orten, wie sie in der Chronotopos-Theorie beschrieben wird. Stattdessen ist Handlung bei 71 72

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M.C. Frank 2015 kritisiert die unpräzise Begriffsbestimmung bei Bachtin; vgl. ebd., S. 160. Vgl. für die folgende Darstellung Frank, Michael C./Mahlke, Kirsten (2008): Nachwort. In: Bachtin, Michael M.: Chronotopos. 4. Aufl. Mit einem Nachw. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 201–230. Um Verwechslungen zwischen Michael C. Frank und Caroline Frank zu vermeiden, wird ersterer im Folgenden als ›M.C. Frank‹ im Fließtext aufgeführt. Ebd., S. 205. M.C. Frank/Kirsten 2008, S. 206. Ebd., S. 206f. Ebd.

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II. Theoretische Grundlagen

Lotman abhängig von der Figurenbewegung im fiktiven Raum. Er geht davon aus, dass das »räumliche Modell der Welt« in Texten »zum organisierenden Element« wird, »um das herum sich auch die nichträumlichen Charakteristiken ordnen«.77 Das wichtigste topologische Merkmal des Raums ist die Grenze zwischen zwei gegensätzlichen semantischen Feldern sowie deren Unüberschreitbarkeit.78 Häufig seien semantisch gegensätzliche Räume auch topologisch einander gegenübergestellt.79 Als Beispiel kann die Aufteilung der Welt eines Märchens angeführt werden, in dessen einer Sphäre die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der realen Welt weitgehend gelten, und in dessen anderer Verwandlungen von Figuren möglich sind. In diesem Fall könnte zwischen einer ›magischen‹, ggf. ›unten‹ angeordneten Sphäre und einer ›realistischen‹, ggf. ›oben‹ angeordneten differenziert werden. Zentral für die Verknüpfung von Raum und Handlung sind laut Lotman ferner die Begriffe des Sujets und die Existenz beweglicher Figuren. Das Sujet ist ein vor dem Hintergrund der fiktiven Welt unerhörtes Ereignis, ein Normbruch, der in der räumlichen Bewegung der Figur realisiert wird.80 Figuren, die die i.d.R. impermeablen Grenzen überqueren und sich aus den ihnen zugeordneten Sphären lösen, bezeichnet Lotman als beweglich, alle anderen als unbeweglich.81 Ergänzt werden müssen an dieser Stelle zwei für die Textanalyse produktive Zusätze zur Konstitution des Sujets durch die Figur, die allerdings in der Präsentation und Diskussion der Raumsemantik nach Lotman oft keine Erwähnung finden:82 Erstens wird Mobilität als Figurenmerkmal mitunter bereits vor der Grenzüberschreitung angedeutet,83 zweitens implizieren einzelne Passagen in der Struktur literarischer Texte, dass die Grenze zwischen den Sphären sich nicht ausschließlich als fiktive materielle oder geographische Grenze manifestieren muss, sondern ebenfalls über Figuren markiert werden kann.84 Die Überschreitung der Grenze kann Lotman zufolge scheitern oder im Anschluss an ihre Durchführung die folgenden Konsequenzen haben: 1.) Der Held überschreitet die Grenze erfolgreich und kehrt zurück; 2.) Der Held überschreitet die Grenze, bleibt im Gegenraum und nimmt die Merkmale des Gegenraums an. Bei der zweiten Variante 77 78 79 80 81 82 83

84

Lotman, Jurij M. (1993 [1970]): Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. München: Fink, S. 316. Vgl. ebd., S. 327. Vgl. ebd., S. 312ff. Vgl. ebd. 1993 [1970], S. 338, 346. Vgl. ebd., S. 338. Vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 140–144 sowie Frank 2017a, S. 47f. u. S. 198. Vgl. Lotman 1993 [1970], S. 342f.: »So ist z.B. der Held des Zaubermärchens in der Ausgangssituation nicht Teil der Welt, in der er lebt: er wird verfolgt, ist nicht anerkannt und hat sich in seinem wahren Wesen noch nicht offenbart«. Vgl. ebd., S. 337f.: »Die klassifikatorische Grenze zwischen den kontrastierten Welten bekommt die Merkmale einer Linie im Raum – der Lethe Strom, der die Lebenden von den Toten trennt, das Höllentor mit seiner Aufschrift, die jede Hoffnung auf Rückkehr raubt, das Siegel der Verworfenheit, das dem armen Schlucker seine geflickten Schuhsolen aufprägen, die ihm den Zutritt in den Raum der Reichen verwehren, die langen Fingernägel und weißen Hände Olenins, die sein Aufgehen in der Welt der Kosaken verhindern«. Der Bezug auf eine topographische Räumlichkeit in den angeführten Beispielen nimmt mit ihrer Aufzählung immer weiter ab, bis die Grenze mit der Anführung von Olenin nicht mehr über den Raum, sondern über die Figur definiert wird.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

würde »die Bewegung […] zum Stillstand kommen«, also die Handlung beendet sein, weil aus der beweglichen eine unbewegliche Figur wird.85 Aus der ersten Variante könnten sich hingegen weitere Grenzüberschreitungen ergeben, etwa, weil der Held in keiner der »Welt[en] […] eins wird mit seiner Umgebung«.86 Lotmans Raumsemantik ist rege rezipiert und diskutiert worden. Seine Annahme, nach der Menschen abstrakte Sachverhalte mittels räumlicher Modelle und ihrer Aufladung mit Bedeutungen veranschaulichen und lösen, findet mittlerweile durch die Kognitionspsychologie Bestätigung.87 Matías Martínez und Michael Scheffel bemängeln jedoch, dass kein Nachweis dafür existiert, dass das Modell semantischer Räume auf alle Erzählungen anwendbar ist.88 M.C. Frank lobt einerseits die »extreme[] schematische[] Reduktion« der Raumsemantik als Gewinn für die konkrete Analyse, kritisiert zugleich aber die mangelnde Komplexität der Theorie.89 Frank konstatiert wiederum, dass Lotmans Modell Texten mit komplexen Raumstrukturen nicht gerecht wird, deren »verschiedene[] Teilräume[] […] in Abhängigkeit von den Figuren ganz unterschiedliche Funktionen haben können«.90 Tatsächlich ist für Lotman die Teilung des Raums in zwei Felder und die Zuordnung von Figuren zu einem der beiden der »grundlegende und wichtigste« Fall.91 Dennoch verweist Die Struktur literarischer Texte auch auf komplexere Raumaufteilungen:92 Es sind jedoch auch kompliziertere Fälle möglich: verschiedene Helden können nicht nur zu verschiedenen Räumen gehören, sondern auch mit verschiedenen, bisweilen unvereinbaren Typen der Raumaufteilung gekoppelt sein. Dann erweist sich ein und dieselbe Welt des Textes als für die jeweiligen Helden in verschiedener Weise aufgeteilt. Es entsteht sozusagen eine Polyphonie der Räume, ein Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung.93

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Ebd., S. 342 Ebd., S. 343. Vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 143. Ebd., S. 144, Frank 2017a, S. 198. Frank, Michael C. (2009): Die Literaturwissenschaften und der spatial turn: Ansätze bei Jurij Lotman und Michael Bachtin. In: Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript, S. 53–80, hier S. 68. Lotman klammere »Binnengrenzen innerhalb semantischer Felder« sowie ihre hierarchische Überlagerung aus und reduziere Bewegung »auf nur eine einzelne Figur, während die Teilräume ansonsten hermetisch voneinander abgeriegelt« blieben; ebd. Frank 2017a, S. 199. Frank kritisiert zudem, dass die Annahme »von binären Oppositionen, die angeblich der inneren Organisation der Textelemente zugrundeliegen«, relativiert wird: 1. Dadurch, dass das Ereignis erst aktiviert werde, wenn die Grenze überschritten und gegen elementare Normen der Welt verstoßen werde, womit das Konzept aber »seine eigene Destabilisierung« beinhaltet, »denn das binäre Weltmodell wird durch den Grenzübertritt infrage gestellt«. 2. Dadurch, dass der Aufbau des Raums sowie das Sujet von der jeweiligen extratextuellen Kultur abhänge: »Denn was in einem Kulturkreis einen Normverstoß darstellt, kann in einem anderen völlig normkonform sein. Literatur wird so definiert als ein zeit- und kulturgebundenes Medium, das Diskurse repräsentieren oder unterminieren kann«; Frank 2017a, S. 48. Lotman 1993 [1972], S. 328. Hierauf weist auch M.C. Frank hin; ebd. 2009, S. 67f., inkl. Anm. 16. Lotman 1993 [1972], S. 328f.

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II. Theoretische Grundlagen

2.3.3 Drei-Ebenen-Modell des erzählten Raums Frank legt mit ihrer Monographie Raum und Erzählen ein narratologisches Analysewerkzeug literarischer Raumentwürfe vor, das Raumkonzepte der Literaturwissenschaft und anderer Disziplinen integriert. Im Zentrum ihrer Theoriebildung steht die oben wiedergegebene Definition des erzählten Raums. In Anlehnung an die in der Narratologie gängige Unterscheidung zwischen histoire bzw. Geschichte und discourse oder récit bzw. Erzählung entwickelt Frank drei übergeordnete Kategorien zur Analyse erzählter Räume: 1.) die Selektion und Kombination von Teilräumen auf der paradigmatischen, 2.) die narrative Darstellung des erzählten Raums auf der diskursiven und 3.) die Semantisierung des erzählten Raums auf der semantischen Ebene.94 Laut Frank kann die Kategorie der Auswahl und Kombination von Teilräumen ohne Weiteres auf die Analyse von Comic, Film und Computerspiel übertragen werden.95 Diese Ebene schließt einerseits Fragen ein, die die Selbst- oder Heteroreferentialität der Teilräume, ihren Fiktivitätsgrad sowie ihre Intertextualität betreffen, andererseits solche zur Art und Weise ihrer Kombination mit- und Abgrenzung voneinander. Die Ebene der narrativen Darstellung des erzählten Raums ist jedoch deutlich von den medial bedingten Erzählverfahren abhängig und bedarf, wie Frank anhand des Konzepts der Fokalisierung illustriert, einer ausführlichen Überarbeitung für eine Anwendung auf fernseh-serielle Erzählungen.96 Die Kategorie der Semantisierung von Räumen wird von Frank nicht auf ihr interund transmediales Potential hin bewertet. Dieser Analysekategorie liegt die Beobachtung zugrunde, dass der erzählte Raum »auf etwas Anderes hin lesbar sein kann, aber nicht zwangsläufig sein muss«.97 Räume können Frank zufolge metonymisch auf andere »Konstituenten der epischen Situation« – neben dem Raum also Figuren, Handlung und Zeit – verweisen oder mit außertextuellen Diskursen aufgeladen sein; in diesem Fall handelt es sich um eine »Funktionalisierung und Semantisierung des Raums«.98 Da Figur, Zeit und Handlung auf Ebene der histoire angeordnet sind, ebenso, wie extratextuelle Diskurse im Raum ablesbar werden, lassen sich Franks Analysevorschläge zur Semantisierung ohne größere Modifikationen im Hinblick auf filmische Serien anwenden. Das Potential der Ebene der Semantisierung für die Raumanalyse serieller Dystopien liegt darin, dass Frank divergierende Begriffe der Literaturwissenschaft sowie Konzepte anderen Disziplinen zusammenführt. So bezieht sich das Instrumentarium zur Untersuchung des Verhältnisses von Figur und Raum nicht nur auf die ›klassische‹ Funktion des Raums als Symbol und Marker für Stimmungen und Wahrnehmungen von Charakteren.99 Durch die Integration sozialgeographischer Überlegungen kann herausgearbeitet werden, dass erzählte Räume ein Ergebnis von Anordnungspraktiken und Synthe-

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Vgl. Frank 2017a, S. 76. Vgl. ebd., S. 435. Vgl. ebd., S. 435–438. So können Raumbeschreibungen in der Literatur auch allein der Erzielung eines Realitätseffektes dienen; vgl. ebd., S. 188. Ebd. Vgl. u.a. Beil/Kühnel/Neuhaus 2016, S. 277.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

tisierungen sind, zugleich aber auch Figuren innerhalb erzählter Räume platziert werden.100 Ausgehend davon lassen sich z.B. anhand der Architekturen serieller Dystopien Aussagen über die fiktiven Gesellschaften und das Zusammenspiel von Raum und Gemeinschaft tätigen.101 Darüber hinaus entwickelt Frank Kategorien für die Erfassung extratextueller Diskurse, die den fiktiven Raumentwürfe eingeschrieben sind. Erzählungen und ihre Raumentwürfe sind ihr zufolge 1.) Archive, die Wissen zu historischen Raumdiskursen speichern, 2.) Texte, die über Raumkonstruktionen (metaspatiale Fiktionen) sowie über die Geschichtsschreibung vom Raum in wissenschaftlichen Disziplinen (metaspatiographische Fiktionen) reflektieren und 3.) »literarische Bezugnahme[n] auf den Genderdiskurs«.102 Die Liste der Diskurse, die fiktive Räume in Erzähltexten aufriefen, sei beliebig verlängerbar u.a. durch die Themen Ethnie und Nation.103 Diese Kategorien erscheinen geeignet, die jeweiligen politischen Ideologien aufzudecken, die Räumen und ihren filmischen Inszenierungen in seriellen Dystopien eingeschrieben sind.104

2.4 Raumkonzepte weiterer Disziplinen 2.4.1 Heterotopie Foucaults Theorie der Heterotopie besagt, dass bestimmte reale Orte »in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen«.105 Zu Beginn seines Aufsatzes Des espaces autres konstatiert er, dass die Gegenwart durch Simultanität geprägt sei und offenbart ein Verständnis von Raum als »Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden«.106 Diese Verbindung verschiedener Räume würde laut Foucault in Heterotopien und Utopien stattfinden und deutlich zu Tage treten, da beide Orte diese Relationen »suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren«.107 Utopien seien »zutiefst irreale Räume«, Heterotopien hingegen reale Utopien in der Gesellschaft.108 Foucault formuliert sechs Grundsätze der Heterotopie: Erstens produziere jede Kultur andere Heterotopien, die jeweils von gesellschaftlichen Veränderungen abhängig seien. Eine solche Abhängigkeit zeige sich in der Entwicklung der Krisen- zur Abweichungsheterotopie: So wurden junge Männer im 19. Jahrhundert in das Gymnasium mit angeschlossenem Militärdienst entsandt, um ihre Sexualität außerhalb der Familie auszubilden. Später wurden Menschen mit deviantem Verhalten in Sanatorien, Gefängnissen oder Altersheimen platziert. Zweitens sei die Funktion der Heterotopie zeitlich variabel. Als Beispiel führt Foucault den Friedhof an, der im 18. Jahrhundert noch inmitten der

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Vgl. Frank 2017a, S. 192–197. Vgl. hierzu IV.2.1 in dieser Arbeit. Frank 2017a, S. 209–220. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. hierzu u.a. IV.2.1.6 in dieser Arbeit. Foucault 2006 [1984], S. 320. Vgl. für die folgende Darstellung ebd., S. 317–327. Ebd., S. 317. Ebd., S. 320. Ebd.

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II. Theoretische Grundlagen

Stadt lag, im 19. Jahrhundert aber von urbanen Räumen abgegrenzt wurde. Drittens verbinden Heterotopien wie Theater, Kino und persischer Garten Foucault zufolge mehrere disparate Orte miteinander. Viertens stünden sie »meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen« und hätten »Bezug zu Heterochronien«.109 Diesen Typus unterscheidet er in Heterotopien, in denen sich Zeit verdichte, wie Museen und Bibliotheken, und solche, die auf die Vergänglichkeit ausgerichtet seien, wie z.B. Jahrmärkte. Fünftens seien Heterotopien von Ritualen des Eintritts gekennzeichnet. Der letzte Grundsatz beschreibt schließlich eine Funktion der Heterotopie zwischen Illusion und Kompensation: Den ersten Typus veranschaulicht Foucault mit dem Bordell, den zweiten mit der Kolonie. Das Schiff führt Foucault schließlich als Paradebeispiel der Heterotopie an, da es zwischen den Extremen der Illusions- und Kontrollheterotopie manövriert, als Ort keinen festen Ort aufweist und offen und geschlossen zugleich ist. Obwohl die Heterotopie-Theorie Foucaults in der Raumanalyse weit verbreitet ist, kann Tobias Klass’ Kritik zugestimmt werden, nach der die genannten Grundsätze nicht erklären, was die Heterotopie eigentlich ausmacht: Tatsächlich zeichnet sie sich allein durch das Merkmal der Abweichung von der Gesellschaft aus.110 Die sechs Grundsätze lassen sich Klass zufolge auf zwei Merkmale reduzieren: Dem Heterogenen werde entweder ein Raum zur Entfaltung ermöglicht, womit eine Krisenheterotopie vorliege, oder es werde wieder einer Norm untergeordnet, also einer Abweichungsheterotopie zugewiesen.111 Für die Raumanalyse serieller Dystopien ist dieses Konzept dennoch relevant, weil Dystopien häufig Räume etablieren, in denen sich das vermeintlich eutopische System von der Außenwelt isoliert, damit es vor Kritik geschützt und somit aufrechterhalten werden kann.

2.4.2 Leiblicher Raum, Architektur und Atmosphäre Gernot Böhme konstatiert, dass Architektur fälschlicherweise allein als visuelle Kunst begriffen werde und sieht ihre spezifische Qualität stattdessen in ihrer leiblichen Erfahrbarkeit.112 Er geht davon aus, dass Architektur nicht nur gelesen, sondern dass die von ihr bewusst erzeugten Atmosphären erspürt werden können.113 Die zwei Grundbegriffe seines Konzeptes sind der leibliche Raum und die Atmosphäre. Den leiblichen Raum definiert er als Raum, den wir durch unsere leibliche Anwesenheit erfahren, also de[n] Raum, den wir leiblich oder am eigenen Leibe spüren. Dieser Raum ist wesentlich durch Enge und Weite konstituiert. […] Der leibliche Raum ist weder der Ort, den ein Mensch durch seinen Körper einnimmt, noch das Volumen, das diesen Körper ausmacht. Der leibliche

109 Ebd., S. 324. 110 Vgl. Klass, Tobias (2014): Heterotopie. In: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Sonderausgabe. Stuttgart: Metzler, S. 263–266, hier S. 265. 111 Vgl. ebd. 112 Vgl. Böhme, Gernot (2013): Architektur und Atmosphäre. 2., korr. Aufl. München: Fink, S. 107f, S. 90. 113 Vgl. ebd., S. 134.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

Raum ist für den Menschen die Sphäre seiner sinnlichen Präsenz. Und diese transzendiert beständig die Grenzen seines Körpers.114 Die These der Überschreitung der eigenen Körpergrenzen, die für die Übertragung von Böhmes Konzept auf medial erzeugte Räume entscheidend ist, illustriert er mit dem Beispiel eines Blinden, der einen Stein durch seinen Stock ertastet, und den Stein nicht am Körper, sondern »am Boden, am Ende des Stockes« spürt.115 Analog dazu gelte für die Architektur, dass sie es ermögliche, »die Beengung oder die Weitung unseres Hinausspürens in den Raum selbst« zu erfahren.116 Diese Passage erlaubt den Transfer von Böhmes Konzepten der Atmosphäre und des leiblichen Raums auf fiktive Räume filmischer Serien ebenso, wie seine Bemerkung, die Musik ermögliche einen »Hörraum« als »Raum leiblicher Anwesenheit […], der von der Existenz konkreter Dinge unabhängig ist«.117 Besonders Architekturen könnten den leiblichen Raum stimulieren, in dem sie Emotionen von Menschen ansprechen.118 Böhme geht davon aus, dass Atmosphären bewusst von Architekten, Künstlern und Politikern durch den gezielten Einsatz sogenannter »Erzeugende[r]« kreiert werden.119 Zu diesen gehören »Geometrie, Gestalt, Proportion, Abmessung, […] Licht, Farbe und Ton« sowie Materialien, »Zeichen und Symbole«.120 Atmosphären hätten wiederum selbst räumlichen Charakter, weil »sie unbestimmt in die Weite ergossen« seien, was es ermögliche, »dass sie vom Menschen in seiner leiblichen Präsenz erfahren werden«.121 Böhme unterscheidet Atmosphären in Bewegungsanmutungen, Synästhesien und gesellschaftliche Charaktere. Bewegungsanmutungen sind architektonisch erzeugte »Bewegungssuggestionen« und Raumeindrücke wie z.B. »Massigkeit«, Enge und Weite.122 Synästhesien seien hingegen »Sinnesqualitäten, die mehreren Sinnesbereichen zugleich angehören, sodass man von einem scharfen Ton, einem kalten Blau, einem warmen Licht usw. sprechen kann«.123 Gesellschaftliche Charaktere seien konventionalisierte bzw. kulturspezifische Zuschreibungen, wie z.B. die Bezeichnung eines bestimmten Raums als ›gemütlich‹.124 Dem Vorwurf, Atmosphären seien irrational und bloße Projektionen eigener Stimmungen auf Umgebungen setzt Böhme entgegen, dass die individuelle Stimmung durch entgegengesetzte Atmosphären geändert werden könne.125 Die »Quasi-Objektivität von Atmosphären« ließe

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Ebd., S. 88. Ebd. Ebd., S. 88f. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. ebd., S. 25f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 25. Ebd., S. 124. Ebd. Dies ist Böhme folgend darin begründet, dass Synästhesien »Erfahrungen leiblichen Spürens sind und deshalb nur in ambivalenter Weise auf Sinnesbereiche verteilt werden können«; ebd. 124 Vgl. Ebd. Anhand der gesellschaftlichen Charaktere werde deutlich, »dass zu den Erzeugenden für Atmosphären durchaus auch Elemente gehören, die Zeichencharakter haben, von Materialien über Gegenstände bis zu Insignien im engeren Sinne«; ebd., S. 125. 125 Vgl. ebd., S. 25.

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II. Theoretische Grundlagen

sich ferner damit begründen, dass sie zumindest in der ersten Begegnung als Subjektunabhängig erfahren werden: Das Subjekt fühlt sich angerührt, von der Atmosphäre ergriffen, fühlt sich affektiv betroffen. Diese Erfahrung rechtfertigt es auch, von den Atmosphären als Gefühlsmächte zu sprechen. Diese Redeweise impliziert nicht, dass man den Atmosphären hilflos ausgesetzt ist. Denn erstens bestimmt man, wie gesagt, durch seine Reaktion mit, was die Atmosphären überhaupt sind; zweitens kann man sich explizit auf sie einlassen oder sie fliehen. Die letztere Möglichkeit ist ein zusätzliches Argument für die Quasi-Objektivität und Räumlichkeit der Atmosphären: man kann sich ihrem Einfluss nicht nur verschließen, sondern sich ihm auch durch räumliche Entfernung entziehen.126 Die Produktivität des leiblichen Raums für die Beschreibung von Raumerlebnissen mittels medial erzeugter Räume beweist z.B. Marc Bonner in Untersuchungen zu Computerspiel und Film.127 Obgleich insbesondere das Verständnis des leiblichen Raums und des Erlebens räumlich erzeugter Atmosphären laut Böhme nicht die Präsenz des Individuums im Raum einfordere, so sind seine Ausführungen mitunter ambivalent. Denn die Körperlichkeit von Artefakten kann laut Böhme zwar »durch perspektivische Darstellung […] repräsentiert werden, nicht aber ihre Räumlichkeit oder der Raum selbst«, auch wenn ein »Eindruck« davon, z.B. über 3-D-Projektionen, gewonnen werden kann.128 Das Dasein der Dinge im Raum und die Raumtiefe könnten nur durch die Möglichkeit des Auges zur »wechselnden Fixierung auf unterschiedliche Distanzen« sowie die leibliche Anwesenheit und Bewegung im Raum erfahrbar werden.129 Ausgehend von diesen Textpassagen bleibt die leibliche Erfahrbarkeit in der Rezeption medial erzeugter Räume also immer hinter dem unmittelbaren Erleben zurück, dass die leibliche Anwesenheit erfordert.130 Im Film werden, den Ausführungen zu Sobchack folgend, räumliche Bewegung und Raumtiefe durch die ›doppelte‹ Anwesenheit der Kamera suggeriert, allerdings handelt es sich hierbei ebenso wenig wie bei Open-World-Computerspielen in den Untersuchungen Bonners um eine freie Erfahrung des Raums und des eigenen Befindens im Raum. Bei der Übertragung von Böhmes Konzept des leiblichen Raums auf filmische Serien muss mitgedacht werden, dass die dargestellten Architekturen und ihre Atmosphären ebenfalls doppelte Inszenierungen sind, die Rezipienten also die Raumerfahrung einer

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Ebd., S. 26. Vgl. Bonner, Marc (2015a): Architektur als mediales Scharnier. Medialität und Bildlichkeit der raumzeitlichen Erfahrungswelten Architektur, Film und Computerspiel. In: Image. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft 21.1, S. 5–22, hier S. 12; Bonner, Marc (2015b): »Form follows fun« vs. »Form follows function«. Architekturgeschichte und -theorie als Paradigmen urbaner Dystopien in Computerspielen. In: Beil, Benjamin/Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa (Hg.): New Game Plus: Neue Perspektiven der Game Studies. Bielefeld: transcript, S. 267–299, hier S. 272; sowie Bonner 2018, S. 135f. 128 Böhme 2013, S. 109. 129 Ebd., S. 110. 130 Diese Differenz zwischen Räumen, die unmittelbar durch die leibliche Anwesenheit und solchen, die vermittelt über Filme oder Computerspiele erfahren werden, wird z.B. bei Bonner 2015a, S. 12, 2015b, S. 272 und 2018, S. 135f., ausgeblendet.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

impliziten Rezeptionsinstanz erfahren. Für die Untersuchung diegetischer Räume dystopischer Serien sind Böhmes Ausführungen relevant, weil sie eine Grundlage für die Analyse von Atmosphären durch filmisch-serielle Rauminszenierungen liefern.

2.4.3 Raumkonzepte der Game Studies Raumkonzepte der Game Studies sind für die Analyse filmischer Räume interessant, weil das Computerspiel auf filmische Verfahren zurückgreift und beide Medien auf Architektur.131 Obgleich das Interaktionsbild des Computerspiels im Kontrast zum filmischem Bewegtbild »eine kontinuierliche Erfahrung des im Film nur durch die Kamera ausschnittsweise präsentierten Raums ermöglicht«,132 lassen sich ästhetische Überschneidungen finden: Diese liegen neben Level-Architekturen,133 Quest-Strukturen134 oder dem world feeling von Filmen, Serien und Computerspielen des jeweils gleichen diegetischen Universums135 auch in alternativen Handlungsverläufen von Filmen wie Bandersnatch vor, zwischen denen die Zuschauer auswählen können.136 Aufgrund zunehmender ästhetischer Annäherungen zwischen seriell-filmischen Erzählungen und Computerspielen erscheint ein Blick auf ausgewählte Aspekte des Raums in Computerspielen sowie einige theoretische Ansätze nützlich. Laut Espen Aarseth ist Räumlichkeit eine zentrale Kategorie für die Analyse von Computerspielen: »Computer games are essentially concerned with spatial representation and negotiation, and therefore a classification of computer games can be based on how they represent – or, perhaps, implement – space«.137 Computer- bzw. digitale Spiele sind zwar auf verschiedene Arten zur Welt der Spieler hin ›offen‹, wie z.B. anhand des Augmented-Reality-Spiels Pokémon Go deutlich wird, und bilden mitunter »theaterhafte[] hybride[] Räume« aus.138 Dennoch liegt mit der »Kennzeichnung des spielerischen Raums« ein zentrales Kriterium für Spiele vor: »Die zeitliche Organisation der räumlichen Spiel-Arrangements ermöglicht eine dramaturgische Struktur, die sich

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Vgl. Günzel, Stephan (2008): Die Realität des Simulationsbildes. Raum im Computerspiel. In: Universitätsbibliothek Weimar. https://e-pub.uni-weimar.de/opus4/frontdoor/index/index/year/2008/ docId/1317, S. 127–136, hier S. 127, aufgerufen am 24.02.2020 [Artikel im Rahmen des Kolloquiums »Die Realität des Imaginären. Architektur und das digitale Bild«, Bauhaus-Universität Weimar, 19.22.04.2007] Rauscher, Andreas (2018): Raum. In: Beil, Benjamin/Hensel, Thomas/Ders. (Hg.): Game Studies. Wiesbaden: Springer, S. 3–26, hier S. 9. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Bonner 2018, S. 133. Vgl. Bandersnatch (2018), USA/UK, Regisseur: David Slade. Aarseth 1998, zit. in Rauscher 2018, S. 5. Vgl. auch Jenkins 2004, zit. in Günzel, Stephan (2014): Raum(bild)handlung im Computerspiel. In: Strohmaier, Alexandra (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 489–509, hier S. 502. Vgl. Niantic (2020): Pokémon Go. https://www.pokemongo.com/de-de/, aufgerufen am 16.09.2020; sowie Rauscher 2018, S. 4.

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II. Theoretische Grundlagen

im Sinne eines environmental storytelling näher an architektonischen Konzepten als an einer traditionellen Narration befindet«.139 Mit dem hodologischen Raum beschreibt Stephan Günzel den Raum des Computerspiels, der durch den Spieler in Form des Avatars beschritten wird.140 Es ist »der Gesamtraum des Spiels«, der »sich aus den Entscheidungen und Bewegungen, also der Interaktion mit der Raumrepräsentation und der Interaktion mit den Bildobjekten in der primären Ansicht, ergibt«.141 Schmidt konstatiert, dass mithilfe dieses Konzepts der filmische Raum auch als »Raumerschließung« deutlich wird, als »Dramaturgie bzw. Choreographie der einzelnen Handlungsräume«, die »als je spezifische Wege durch die mediale Architektur des Films zu verstehen« sind.142 Durch die lineare Anordnung der Bilder vom Raum werde der Raum verzeitlicht und präge »die Erscheinungsweise« der filmischen Welt.143

2.5 Karten und andere Repräsentationsmodelle des Raums Alle kartographischen Bildstrukturen – z.B. zweidimensionale Karten, 3D-Karten, plastische Reliefs und Panoramen – zeichnen sich durch raumstrukturelle Ikonizität aus: D.h., dass sie als Bilder in »idealisierender oder typisierender« Form auf Räume verweisen.144 Sie dienen der Wissensvermittlung zum Zweck der Orientierung und Navigation im Raum. Sie können aber auch »geografische[s] und räumliche[s] Wissen« erzeugen, z.B. zur geologischen Beschaffenheit eines Territoriums, sowie Dinge im Raum sichtbar machen, die »im optischen Sinn […] nicht sichtbar sind«, wie z.B. Luftströme.145 Darüber hinaus wurden »Karten in ihrer Geschichte nicht nur als politisch neutrale und objektive Darstellungen […], sondern auch als Machtinstrumente« verwendet.146 Ferner können Karten auch narrative Funktionen innehaben: Den Unterschied zwischen sujetlosen und sujehaften Texten, also solchen ohne und solchen mit Ereignis, erläutert Lotman u.a. anhand der Landkarte:

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Rauscher 2018, S. 4. Bonner verweist auf die Orientierungsfunktion von Bauten oder markanten Landschaften innerhalb der Welt, die als landmark innerhalb des Spiels immer wieder im Hintergrund erkennbar werden, und sowohl die Lust an der Erkundung des Raums fördern können als auch komplexe Open-World-Spiele strukturieren; Bonner 2018, S. 139f. Vgl. Günzel 2008, S. 133. Ebd. Günzel entlehnt den Begriff, der auf das griechische Wort für Weg, hodos, zurückgeht, von Lewin 1934, der »damit die Summe der einzelnen, von einem Individuum benutzen Wege« bezeichnet; Günzel 2008, S. 132f. Schmidt 2013b, S. 102. Ebd., S. 103. Gyula, Pápay (2014): Kartographie und Abbildung. In: Günzel, Stephan/Mersch, Dieter (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 187–194, hier S. 188. Bedö, Viktor (2014): Kartierung. In: Günzel, Stephan/Mersch, Dieter (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 390–396, hier S. 390 Gyula 2014, S. 187 sowie Kitchin, Rob/Dodge, Martin/Perkins, Chris (2011): Introductory Essay: Power and Politics of Mapping. In: Dies. (Hg.): The Map Reader: Theories of Mapping Practice and Cartographic Representation. Hoboken: Wiley, S. 388–394.

2. Theorien und Modelle für die Raumanalyse

Wenn wir uns eine Landkarte anschauen, so ist das ein gutes Beispiel für einen klassifikatorischen (sujetlosen) Text. […] Zeichnen wir aber in die Karte einen Pfeil ein, der z.B. die Strekke [sic!] regelmäßiger Schiffsverbindungen oder Flugrouten andeutet, so wird der Text sujethaltig: es wird eine Handlung eingeführt, die die (in diesem Falle geographische) Struktur überwindet. Wenn wir nun auf der Karte die Bewegung irgendeines konkreten Schiffes einzeichnen, bekommen wir etwas, was an die Verhältnisse im Sujet-Text erinnert: das Schiff kann in See stechen oder nicht, es kann sich an die Route halten oder von ihr abweichen […].147 Von einem ereignishaltigen Text ließe sich sprechen, wenn eine Norm durch eine eingezeichnete Route vorgegeben und gebrochen werde, das Schiff also einen anderen Kurs einschlage, und wenn durch die Einzeichnung der Bewegung eines konkreten Schiffes Zeit verräumlicht werde.148 Im Bereich der Fiktion wird die Fähigkeit von Karten, Raum nicht nur zu be-, sondern auch zu erzeugen, besonders deutlich: Beispiele hierfür sind sowohl die Karten des phantastischen The Lord of The Rings-Kosmos (J.R.R. Tolkien)149 als auch des Romans Tess of the D’Urbervilles (Thomas Hardy), der sich auf reale Städte, Dörfer und Landschaften bezieht, sie aber unter anderen Namen in die fiktive Region Wessex im Südwesten Englands transferiert.150 Im Film werden Karten laut Christoph Ernst in einer ergänzenden Funktion dort verwendet, »wo dessen eigene bildliche Möglichkeit an ihre Grenzen stoßen. Das ist der Fall, wenn es um die Visualisierung abstrakter Relationen und der Anschaulichkeit entzogener Verhältnisse geht«.151 Ernst attestiert Diagrammen und Karten die Fähigkeit der diagrammatischen Ikonizität: Dies bedeutet einerseits, dass von einem Bezugsgegenstand nur die Grundrelationen dargestellt werden, und andererseits, dass der Bezugsgegenstand durch das Diagramm und die Karte erst mit hergestellt wird. Sinnfällig wird dies bei abstrakten Gegenständen und Relationen, von denen man ausgeht, dass es sie gibt, die sich als solche aber der Sichtbarkeit entziehen. Das Besondere dieses Verhältnisses ist die Möglichkeit zur operativen (epistemischen) Nutzung. Die in Diagrammen und Karten repräsentierten Verhältnisinformationen können rekombiniert und transformiert werden, was zu Schlussfolgerungen mit pragmatischen Implikationen führt.152 Im Fall von Filmen müsste die Ikonizität von Karten nicht in einem »Verhältnis der kausalen Nachträglichkeit zur Welt« stehen, anders als in der extratextuellen Welt, in der da147 Lotman 1993 [1972], S. 340f. 148 Vgl. ebd. 149 Vgl. Lewis-Jones, Huw/Sibley, Brian (2019): In erfundenen Ländern. Literarische Geografien. In: Lewis-Jones, Huw (Hg.): Verrückt nach Karten. Geniale Geschichten von fantastischen Ländern. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 28–79, hier S. 70. 150 Vgl. Allingham, Philip V. (15.01.2017): Map of the Wessex of the Novels and Poems. In: The Victorian Web. https://victorianweb.org/photos/hardy/44.html, aufgerufen am 24.07.2020. 151 Ernst, Christoph (2014): Diagrammatische Ikonizität. Diagramme, Karten und ihre Reflexion im Film. In: Kirchmann, Kay/Ruchatz, Jens (Hg.): Medienreflexion im Film: Ein Handbuch. Bielefeld: transcript, S. 279–291, hier S. 281. Herv. i. O. 152 Ebd., S. 282.

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II. Theoretische Grundlagen

von ausgegangen werden kann, dass der in der digitalen oder analogen Karte dargestellte Weg tatsächlich existiert oder das in Miniaturform nachgebaute Modell einer Stadt tatsächlich die Stadt abbildet.153 Laut Ernst sind Karten im Film »Medien des virtuellen Verhältnisses einer Entwurfs- und Entwicklungslogik«, da die Welt im Film »nach den Vorgaben« der Karte konstruiert sein kann.154 Alexander Böhnke geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, dass Karten im Film einen ähnlichen Status wie das Filmbild aufweisen: »Der Diskurs über Karten verläuft in gewisser Weise in Analogie zum Diskurs über Film. Wo der ›Realitätseindruck‹ beim Film durch die Apparatur gesichert scheint, da sichert der wissenschaftliche Zugang der Karte diesen Bezug zum ›Realen‹«.155 Die Karte würde in der Filmrezeption also nicht als Repräsentation, sondern als Raumdarstellung verstanden werden, die sich äquivalent zur filmischen Einstellung verhält. In seiner Typologie der Karten im Film unterscheidet Böhnke zwischen Karten in den opening credits, statischen und dynamisierten Karten innerhalb des Films.156 In den opening credits seien sie weniger deutlich an eine perspektivische Wahrnehmung gebunden als innerhalb der filmischen Erzählung. Statische Karten würden als Hintergrund für einführende Erläuterungen verwendet werden. Dynamisierte Karten wiederum, die über Kamerabewegung oder den Kamerazoom dargestellt werden oder Teil einer Überblendung sind, müssten nicht vorrangig auf den Raum verweisen und Orientierung bieten. Stattdessen könnten sie auch als Teil eines bridging shots der dramaturgischen Gliederung dienen und eine neue Szene oder Sequenz markieren. Zugleich handele es sich bei diesem Typ der Karte um »Figurationen« des Fortgangs der Narration: Dynamisierte Karten stellten die »verbindende Tätigkeit der Narration« aus.157 Diese Übersicht über die Funktionen von Karten und die ihnen eingeschriebenen Diskurse sind relevant im Hinblick auf die Vielzahl zweidimensionaler und plastischer Repräsentationsmodelle von Raum in den Dystopie-Serien, die auf den jeweils eigenen Serienraum, ihr Verhältnis zu realen Räumen sowie die Art des seriellen Raumerzählens referieren.

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Ebd. Ebd. Böhnke, Alexander (2005): Karten und andere Adressen des Films. In: Augenblick 37, S. 46–67, hier S. 55. Böhnke begründet diese Aussage mit Bezug zu J. Brian Harley (2001), dem zufolge Kartographie seit der Aufklärung als faktische Wissenschaft wahrgenommen und Karten für gewöhnlich als »›mirror, graphic representation[s]‹« eines Raumausschnittes betrachtet würden; ebd. S. 55. Vgl. für diesen Absatz Böhnke 2005, S. 56–59. Ebd., S. 59.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

3.1 Der Raum der Fernsehserie in der Serialitätsforschung Das Interesse an Räumen in der Forschung zu Fernsehserien ist im Vergleich zu anderen erzähltechnischen Aspekten wie Figur, Zeit, Handlung, Perspektive und Fokalisierung sowie der narrativen Strukturierung von Serien bislang gering gewesen.1 Zwar existieren Einzelstudien zu Räumen in bestimmten Serien, die unter ästhetischen Gesichtspunkten Semantik und Atmosphäre von Handlungsorten fokussieren2 oder die Location bzw. den Drehort auf die ihm eingeschriebenen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen oder historischen Diskurse sowie deren Repräsentation im seriellen Text hin untersuchen.3 Die Frage, wie Serien im Gegensatz zu abgeschlossenen Texten bzw. Werken mit fiktiven Räumen umgehen, wie Räume und Orte also Variation und Repetition erzeugen oder welche Auswirkungen die narrative Segmentierung auf ihre Ästhetik hat, wird dabei aber selten berührt. Vielmehr lassen sich die Untersuchungsmethoden vieler Einzelstudien zu Räumen in Serien ohne größere Modifikationen auf Spielfilme oder Romane übertragen, was offenbart, dass auch für die Serialität des Raums bislang keine

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Vgl. hierzu u.a. Ganz-Blättler, Ursula/Scherer, Brigitte (1997): Paradiesische und andere Orte in serieller Fernsehfiktion. In: Michel, Paul (Hg.): Symbolik von Ort und Raum. Bern et al.: Peter Lang, S. 241–267, hier S. 247; sowie Waade, Anne Marit (2017): Locations in Television Drama Series: Introduction. In: Series 3.1, S. 5–10, hier S. 6. Vgl. u.a. Paefgen, Elisabeth K. (2016): Schöne Bilder vom Verfall. Zur Inszenierung wiederkehrender Orte und Räume in den Sopranos. In: Bath, Claudia et al. (Hg.): Wie die Sopranos gemacht sind. Zur Poetik einer Fernsehserie. Wiesbaden: Springer, S. 179–202. Vgl. u.a. Eichner, Susanne/Mikos, Lothar (2017): Berlin in Television Drama Series: A Mediated Space. In: Series 3.1, S. 41–50; sowie Hansen, Kim Toft/Christensen, Jørgen Riber (2017): Norskov and the Logic of Place: The Soft Effect of Local Danish TV Drama Production. In: Series 3.1, S. 11–25.

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II. Theoretische Grundlagen

geeigneten Untersuchungswerkzeuge gefunden wurden.4 Einige jüngere Publikationen zeigen jedoch, dass die Forschung beginnt, sich dieses Themas anzunehmen.5 Das eher verhaltene Interesse am Serienraum kann sowohl mit Blick auf Serien und ihren Einfluss auf die Serienforschung als auch auf den Einfluss der strukturalistischen Narratologie auf den Forschungsdiskurs erklärt werden. Der Diskurs zu Quality- und Complex TV wird auch von den TV-Serien selbst betrieben, schreibt sich in die Forschung ein und wird von ihr z.T. reproduziert.6 Sudmann kommt zu dem Schluss, dass Forscher »von Fernsehserien nachgerade […] akquiriert« werden:7 Das vor allem in den letzten Jahren generierte Wissen um die Ästhetik und Erzählweise der Fernsehserie fließe in die »einschlägige Ratgeberliteratur zur Serienindustrie« ein.8 Die »moderne Fernsehserie« nutze dieses Wissen wiederum »bei der ästhetischen Gestaltung ihrer zukünftigen Entwicklung«.9 Wissenschaftler würden somit zu einem Teil der ästhetischen Praxis seriellen Erzählens, weil sie in der Beobachtung des Gegenstands zugleich die Ergebnisse der eigene Analyse wahrnehmen.10 Mit Blick auf die expliziten und impliziten Schwerpunktsetzungen der Forschung ist festzustellen, dass vor allem jene Elemente seriellen Erzählens Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die seit längerem als innovativ, komplex und qualitativ wertvoll ausgezeichnet wurden: Figuren, Zeitverhältnisse, Fragen der Perspektive und Fokalisation – aber eben kaum Räume. Unter der Prämisse, das Serien zur Untersuchung das ›anbieten‹, was bereits gut erforscht ist, überrascht es wenig, wenn Mittell konstatiert, dass das »spatial storytelling« in gegenwärtigen US-amerikanischen Fernsehserien im Vergleich zu den Aspekten Zeit, Figur und Handlung und wenig innovativ

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So arbeiten z.B. Georgi-Findlay/Hellner anhand der Inszenierung von Handlungsorten und Landschaftsdarstellungen die außertextuellen stereotypen Diskurse zur Politik, Religion und Gesellschaft Louisianas auf, lassen aber Fragen der Wiederholung und Variation, der Segmentierung und potentiellen Fortsetzbarkeit der Serie und deren Wechselwirkung mit den dargestellten Räumen außen vor; vgl. Georgi-Findlay, Brigitte/Hellner, Stefanie (2017): Warum gerade Louisiana? Raum und Region in True Detective. In: Arenhövel, Mark/Besand, Anja/Sanders, Olaf (Hg.): Wissenssümpfe. Die Fernsehserie True Detective aus sozial- und kulturwissenschaftlichen Blickwinkeln. Wiesbaden: Springer, S. 107–117. Vgl. Piepiorka 2017; Adkins 2018; sowie das Themenheft zu ›Locations‹ von Series. International Journal of TV Serial Narratives (2017, 3.1). Waade 2017 weist zudem auf die Bedeutung der location studies hin, deren Ansätze verstärkt auch in der Erforschung von Fernsehserien herangezogen würden; vgl. ebd., S. 7. Sudmann konstatiert, dass die Television und Media Studies am »Hype um amerikanische Fernsehserien, insbesondere des Bezahlsenders HBO«, beteiligt seien und Studien über Fernsehserien mit Verweisen »auf deren ästhetische Leistungen und Wertschätzungen« versehen seien; Akademiker machten dabei ihren Status als Fans sichtbar; ebd. 2017, S. 69. Ebd., S. 200. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

sei.11 Kozloff konstatiert bereits 1992, »television narratives commonly underutilize setting«.12 Allerdings machen TV-Serien seit den 2000er Jahren vermehrt durch ihre Räume auf sich aufmerksam, was bei vielen Serien, die von Abonnementsendern oder Streaming-Diensten produziert werden, sicherlich sowohl auf die größere kreative Freiheit der showrunner und Drehbuchautoren, vor allem aber auf das vergleichsweise hohe Budget zurückzuführen ist.13 This tendency has opened up new ways of using and displaying the places that are featured in television series: there is greater use of location shooting, and a more significant handling of actual, geographical places – something that gives authenticity and visual values to the series. Location, a term that until recently has mainly been a practical term in television productions and television studies, has received new attention among producers, broadcasters, distributors, fans and audiences. Academics have picked up on the interests for locations and related them to theories such as cinematic landscapes, landscape painting, literary places, media geography, media consumption, media tourism and cult geographies […].14 In dem Maße, in dem Serien sich selbst und einzelne Themen als Forschungsgegenstände bisher ausgestellt haben,15 scheinen sie also nun ihre Schauplätze und deren filmisch-serielle Darstellung in den Vordergrund zu rücken. Deutlich wird dies an den preisgekrönten production designs von Game of Thrones und The Handmaid’s Tale,16 dem selbstbewussten Bewerben von Serien mit ihren eigenen Räumlichkeiten, wie es sich in Werbeplakaten von House of Cards oder den opening credits von Downton Abbey zeigt, in denen Räume und Orte metonymisch für die Serie stehen.17 11

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Mittell 2015, S. 275. Dieser Befund ist für sich genommen nicht ganz von der Hand zu weisen, treten doch als innovativ zu erachtende ästhetische Verfahren in der Darstellung von Räumen, wie z.B. das Zusammenführen von möglichen und unmöglichen Räumlichkeiten und Inkongruenzen zwischen narrativem, audiovisuellem und diegetischem Raum, wie sie von Schmidt 2013b für das Hollywood-Kino der 2000er Jahre beschrieben werden, kaum oder vergleichsweise selten in der US-amerikanischen Fernsehserie der Gegenwart auf. Zu einem gänzlich anderen Schluss kommt McNutt, der mit Bezug auf Breaking Bad und Dexter die »complexity of spatial representations« aktueller Serien lobt; McNutt, Myles (2017a): Narratives of Miami in Dexter and Burn Notice. In: Series 3.1, S. 73–86, hier S. 74f. Kozloff 1992, S. 75. Vgl. Waade 2017, S. 5. Nicht zu vergessen ist, dass auch die Wahl bestimmter Drehorte für die Produktion selbst lukrativ sein kann, weil sie mitunter mit Fördergeldern einhergeht; vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 5f. Vgl. Sudmann 2017 Vgl. die jährliche Vergabe der Ergebnisse der Emmy Awards. Auch die Einführung der Kategorie »Outstanding Production Design« im Jahr 2014 verweist auf eine gestiegene Relevanz der Rauminszenierung in Fernsehserien. Das Erscheinen der fünften Staffel von House of Cards wurde u.a. mit einem Werbebild angekündigt, das neben der Aufschrift »5.30.2017/Netflix« nur eine umgedrehte Flagge der USA vor dem Capitol bei wolkenverhangenem Himmel zeigt. Das Fehlen des Serientitels lässt darauf schließen, dass aus Sicht der für die Serie verantwortlichen Akteure Flagge und Raumgestaltung (Inszenierung des Gebäudes und des Wetters, Atmosphäre) ausreichen, um Figuren, Handlung und Charakter der Serie auf Seiten der Rezipienten aufzurufen; vgl. Netflix (2017): Date Announcement

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II. Theoretische Grundlagen

Die Abwesenheit des Raums in der Serien- und Serialitätsforschung ist aber auch ein Ausdruck von Diskursen innerhalb der Narratologie. Exemplarisch dafür steht die Annahme von Sabine Sielke, die, ungeachtet der Veränderungen des Serienraums im Zuge der sich erweiternden Narration, von einer Privilegierung von »Zeit- über Raumkonstellationen« durch die Prozesshaftigkeit des Seriellen ausgeht.18 Die Erzählforschung hat über lange Zeit den Raum in Schriftliteratur und Film vernachlässigt, auch wenn diesem Desiderat im Zuge des spatial turn deutlich mehr Aufmerksamkeit zugekommen ist.19 Das Desinteresse der Filmnarratologie am Raum beeinflusst auch die Erforschung serieller Erzählungen im Fernsehen.20 Exemplarisch hierfür steht das Einführungswerk Fernsehserien von Schleich und Nesselhauf, das sich in der narratologischen Erfassung der Spezifika seriellen Erzählens auf die Filmnarratologie von Kuhn bezieht.21 Dass Kuhns filmnarratologisches Modell den Raum lediglich als Teil der visuellen Erzählinstanz ansieht,22 kann wiederum darauf zurückgeführt werden, dass er sich vor allem an den erzähltheoretischen Parametern Zeit, Modus und Stimme nach Gérard Genette orientiert.23 Räumliche Phänomene werden in der Serienforschung mit sehr unterschiedlichen Termini beschrieben, was die Etablierung eines eigenständigen Forschungsdiskurses erschwert.24 Dies resultiert zum einen aus der Anwendung von Konzepten verschiedener

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Banner zu House of Cards. In: player.one. https://www.player.one/house-cards-season-5-trailer-h its-too-close-home-inauguration-day-579792, aufgerufen am 16.09.2020. Vgl. Downton Abbey (2010–2015), UK: ITV, Creator: Julian Fellowes. Sielke, Sabine (2012): Joy in Repetition: Acht Thesen zum Konzept Serialität und zum Prinzip der Serie. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, S. 385–400, hier S. 395, vgl. auch Schleich/ Nesselhauf 2016, S. 114f. So konstatiert Frank 2017a das Fehlen »[l]ängere[r] Arbeiten zur narratologischen Analyse von Raum im Film«; vgl. ebd., S. 426. Vgl. zum Stand filmwissenschaftlicher Forschung zum Raum II.2.1 in dieser Arbeit; zum spatial turn in der Filmwissenschaft Ott, Michaela (2009): Raum im Film – spatial versus topological turn und der Standort der Kritik. In: Csáky, Moritz/Leitgeb, Christoph (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn«. Bielefeld: transcript, S. 59–69. Vgl. zum spatial turn in der Literaturwissenschaft II.2.3 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu II.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Schleich/Nesselhauf 2016. Die Einträge des mittlerweile deaktivierten Online-Lexikon seriellen Erzählens auf der Homepage der Universität des Saarlandes sind in die Monographie von Schleich und Nesselhauf übergegangen; vgl. ebd., S. 10. Bereits dieses Living Handbook of Serial Narration on Television enthielt keine Lemmata wie ›Raum‹, ›Ort‹ oder ›Architektur‹. Vgl. Kuhn 2011, S. 90–92 sowie II.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Genette, Gérard (2010): Die Erzählung. 3., durchges. u. korr. Aufl. Paderborn: Fink. Vgl. für diese Beobachtung auch Frank 2017a, S. 425. Vgl. u.a. location und place bei Newcomb, Horace M. (1990): The Sense of Place in »Frank’s Place«. In: Thompson, Robert J./Burns, Gary (Hg.): Making Television. Authorship and the Production Process. New York/Westport/London: Praeger, S. 29–38, hier S. 30; Setting bei Kozloff 1992, S. 75; Chronotopos bei Mikos, Lothar (1992): Else Kling und das soziale Gedächtnis der Lindenstraße. In: Jurga, Martin (Hg.): Lindenstraße: Produktion und Rezeption einer Erfolgsserie. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 73–90, hier S. 75; symbolischer Ort und liminaler Raum bei Ganz-Blättler/Scherer 1997, S. 244, 259; Mise en Scène, studio sets, location setting bei Butler 2002, S. 93; Handlungsort, Innenraumkulisse, Gesamtraum sowie Handlungsraum, Rauminszenierung bei Hißnauer 2014, S. 362, 364f.; setting, cinematic landscape, site of production, intertextual location bei Christensen/Hansen 2017, S. 13; space

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

Disziplinen auf fernsehserielle Räume und Orte, zum anderen aus der Begriffsvielfalt innerhalb der Film- und Fernsehwissenschaften, die Termini für verschiedene Erscheinungsformen von Raum hervorgebracht hat (z.B. location für Drehort und als produktionstechnischer Begriff, place für den fiktiven Ort und als narrative Kategorie)25 oder Begriffe aufweist, die weitgehend synonym sind (z.B. fiktiver Raum/diegetischer Raum, Schauplatz/Handlungsort). Diese Ambiguität ist arbeitstechnisch unproblematisch, solange der Ausdruck ›Raum‹ nicht sowohl für Raumphänomene als auch als Metapher für nicht-räumliche Phänomene verwendet wird oder neu eingeführte Konzepte unscharf bleiben.26 Ein Vorschlag für einen Raumbegriff, der sich an den Charakteristika der Fernsehserie orientiert, findet sich bei Kevin Pauliks. Er verwendet die Termini »Serienraum« und »serielle[r] Raum«.27 Eine explizite Differenzierung beider Begriffe fehlt jedoch ebenso wie eine konkrete Definition, die ein selbst formuliertes Ziel von Pauliks darstellt. Der Serienraum/serielle Raum liege sowohl in Episoden- als auch Fortsetzungsserien vor, sei das Ergebnis eines Transformationsprozesses einer location in den place der Serie und seine Bedeutung hänge vom Seriengedächtnis der Zuschauer ab.28 Aus Pauliks Formulierungen kann eher indirekt erschlossen werden, dass es sich beim Serienraum/seriellen Raum nicht nur um fiktive, diegetische Entitäten, sondern vor allem um variiert wiederholte Räume/Orte handelt, die zudem auf konkrete Studiokulissen zurückgehen (müssen); ihm sind Bedeutungen eingeschrieben, die sich graduell ändern können und sie stiften Kohärenz.29 Produktiv an dieser Begriffsprägung ist die Orientierung an seri-

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sowie spatial storytelling, fictional spaces bei Mittell 2015, S. 263, 300; Raum und Ort bei Paefgen 2016, S. 179; diegetischer Raum, narrativer Ort bei Rothemund 2017, S. 463, 467; sowie Schauplatz, Nicht-Ort, Aktionsraum bei Griem, Julika (2010): Neues Team auf alter Bühne: Zum Verhältnis von Raum und Figur am Beispiel der neu besetzten Tatorte in Stuttgart, Leipzig und Hamburg. In: Dies./Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt: Campus Verlag, S. 51–68, hier S. 61–66, Vgl. Newcomb 1990, S. 30. So geht es bei Georgi-Findlay/Hellner 2017 entgegen ihres Ziels, »Raum und Region« oder »Handlungsorte« in True Detective zu untersuchen (ebd., S. 107f.), um die außertextuellen raumbezogenen Diskurse, die sich in die Rauminszenierungen einschreiben. Problematisch sind diesbezüglich Formulierungen wie: »Louisiana wird dabei symbolisch aufgeladen als Opfer und Täter. Der Bundesstaat sitzt mit auf der Anklagebank, als Regionalkultur (Hinterwäldler mit Südstaatenerbe), als politische Kultur (dominiert durch die religiöse New Right), als Opfer von Naturkatastrophen und als (williges?) Opfer einer Boom-Mentalität (Ölindustrie) mit ihren ökologischen und sozialen Folgen«; ebd., S. 108. Diese Verwendung von Raum-Begriffen verschiebt die Grenzen zwischen Konzepten, die sich am ›konkreten‹ fiktiven Raum orientieren, der innerhalb des Rezeptionsprozesses aus einzelnen Raumausschnitten generiert wird, und solchen, die Raummetaphern zur Bezeichnung nicht-räumlicher Phänomene nutzen. Unscharfe und inflationäre Verwendungen von Raumbegriffen können jedoch ihre jeweiligen Konzepte verwässern und entwerten. Pauliks, Kevin (2017): The North Remembers. Der serielle Raum und seine transmediale Konstitution im Videospiel. In: Journal Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 2, S. 305–323. www.ffkjournal.de/?journal=ffk-journal&page=article&op=view&path[]=35, aufgerufen am 30.05.2017, hier S. 2. Vgl. ebd., S. 307–312. Vgl. ebd., S. 306–314. Im Gegensatz dazu ist die Adaption des Raums wie z.B. des Thronsaals aus Game of Thrones in Videospielen laut Pauliks kein Serienraum/serieller Raum: Der Grund mag

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II. Theoretische Grundlagen

ellen Charakteristika und der Rezeption durch die Zuschauerschaft. Problematisch ist hingegen die Einengung auf die Transformation von Drehorten in fiktive Räume, die vom Sonderfall der Daily Soap ausgeht und für das von Pauliks gewählte Beispiel Game of Thrones nicht durchgängig geeignet sein kann, betrachtet man den Einsatz computeranimierter Räume. Auch wird im Beitrag nicht angemessen zwischen Raum und Ort unterschieden. Piepiorka untersucht das Verhältnis von Raum und transmedial erzählten Fernsehserien unter dem metaphorischen Begriff der Verräumlichung.30 Sie geht nicht von der Dominanz des Zeitlichen im seriellen Erzählen aus, sondern vertritt die These, dass Zeit und Raum im Kontext zunehmender Medienkonvergenz in einem ›doppelten‹ Interdependenzverhältnis zueinander stehen. Der in Serien dargestellte Raum sei aufgrund seiner schrittweisen Entfaltung zeitlich, die dargestellte Zeit wiederum insofern räumlich, »als sie auch außerhalb des Serientextes« vergehe und dargestellt werde.31 Zudem ermöglichen laut Piepiorka cross- und transmediale Erweiterungen der Serien sowie ihre Loslösung vom Programmablauf des ›traditionellen‹ Fernsehens die Parallelität verschiedener Erzählfragmente und stellen somit die Linearität seriellen Erzählens in Frage.32 Ausgehend von dieser Beobachtung lassen sich drei Formen der Verräumlichung in Serien des nicht-linearen Fernsehens unterscheiden: Sie entwerfen 1.) einen diegetischen Raum, erfahren aber 2.) selbst eine metaphorische Verräumlichung anhand parallelisierter Handlungsstränge[] an unterschiedlichen diegetischen Orten. So arbeiten sowohl Game of Thrones als auch The Walking Dead mit sehr ausgedehnten parallelen Handlungssträngen an unterschiedlichen Orten. In Game of Thrones werden mindestens vier Orte pro Episode parallel dargestellt.33 Weiterhin entsteht 3.) über transserielle Erweiterungen eine metaphorische Verräumlichung der Erzählung, z.B. in spin offs (transmedial) oder literarischen Adaptionen (crossmedial).34 Auch wenn die Idee der Verräumlichung durch Simultaneität von narrativen Angeboten im Fernsehen nicht ganz neu ist,35 so ermöglicht Piepiorkas Unterscheidung

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sein, dass die Adaption sie ›nur‹ digital ist sowie nicht aus einem physischen Drehort transformiert wird und weil der Ort innerhalb des Computerspiels keine eigenständige Variation erfährt, sondern seine Funktion und Bedeutung immer allein aus der Kernserie bezieht; vgl. ebd., S. 317–320. Piepiorkas Untersuchungsgegenstände sind die Serien Breaking Bad, The Walking Dead und Game of Thrones sowie deren trans- und crossmedialen Erweiterungen. Piepiorka 2017, S. 181. Vgl. ebd., S. 24ff. Piepiorka geht ebenso wie O’Sullivan 2019 davon aus, dass Zeit und Raum auch abseits der Parallelität von Erzählfragmenten in der Kernserie eng miteinander verknüpft sind; vgl. Piepiorka 2017, S. 272. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 120. Bleicher konstatiert 1999 für das Fernsehen, dass durch die »Zunahme der Programmanbieter seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre […] die einst lineare Abfolge des Programms mit einem Nacheinander der Angebote und Handlungsorte von einer komplexen Simultaneität der Bild- und Erlebniswelten abgelöst worden« ist. Durch diese Welt könnten die Zuschauer eine virtuelle Reise mittels Fernbedienung antreten und die Bewegung an einzelne Orte selbst bestimmen; Bleicher,

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

räumlicher Ebenen eine weitere Differenzierung, die z.B. auch in der Literaturwissenschaft besteht.36 Vor allem hebt sie die Bedeutung des Raums in einem Forschungsgegenstand hervor, dessen Besonderheit bislang eher auf zeitlicher Ebene vermutet wurde. Eine Lücke in ihrer Arbeit betrifft aber sowohl die Multimodalität und die narrative Funktion des diegetischen Raums als auch dessen Verbindungen mit seriellen Erzählprinzipien. Da sich die vorliegende Arbeit vor allem einer narratologischen Untersuchung von Serienräumen widmet, zugleich aber ihre spezifischen Wirkungen und Erfahrungspotentiale nicht außer Acht lassen möchte, müssen genau jene anhand von Pauliks und Piepiorka formulierten Leerstellen – die Merkmale des Serienraums und seine Funktionen – kartographiert werden. Im Anschluss an einen Einblick in die Wechselbeziehungen zwischen fiktivem Raum und den Produktions- und Distributionsbedingungen gegenwärtiger Fernsehserien werden bisherige Forschungsergebnisse den Aspekten der Rezeption, Semantik und dem Erzählen des Serienraums zugeordnet. Anhand dieser Aspekte der narrativen Kommunikationssituation können die Befunde der Untersuchung serieller Dystopien eingeordnet und bewertet werden. Das Teilkapitel schließt mit einer Arbeitsdefinition des Serienraums ab.

3.2 Serienräume im Kontext von Produktion und Distribution Die Konstruktion von Räumen fiktionaler Serien unterliegt zwar ästhetischen Entscheidungen, ist aber auch deutlich von produktionstechnischen und ökonomischen Faktoren beeinflusst.37 Auf diese Verschränkung verweist Hißnauers Untersuchung der Rauminszenierungen in den Serien der Tatort-Reihe, deren Kohärenz z.B. erheblich davon abhängt, ob eine Serie durchgehend von der gleichen Produktionsfirma betreut wird, ob kontinuierlich feste und identische Kulissen vorhanden sind oder ob für jede neue Episode unterschiedliche Drehorte ausgewählt und neu gestaltet werden müssen.38 »Gerade in den Rauminszenierungen wird […] immer wieder deutlich, wie sehr sich die Ästhetik populärer Serialität in Wechselwirkung mit ihrer Produktionspraxis entwickelt«.39 Eine Analyse von Räumen serieller Dystopien muss ihren ›Rahmen‹, die Produktion, Distribution und Rezeption im Blick haben, damit ihre Forschungsgegenstände nicht allein auf ihre ästhetischen Qualitäten beschränkt werden, sondern auch als kommerzielle Artefakte verstanden werden. Zur Unterscheidung von Räumen als Teil der Diegese einer Fernsehserie von denen, die in der pre-production als Kulisse ausgewählt oder konstruiert werden, schlägt New-

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Joan Kristin (1999): Fernsehen als Mythos. Poetik eines narrativen Erkenntnissystems. Opladen/ Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 110. Ryan 2014 unterscheidet neben a) dem narrativen Raum, womit in diesem Zusammenhang das Konstrukt des diegetischen bzw. erzählten Raums gemeint ist, das während des Lesens generiert wird, b) die räumliche Ausdehnung des Textes, z.B. der Schrift auf Papier, c) den Raum, der als Kontext und ›Behältnis‹ des Textes dient sowie d) der räumlichen Form des Textes; vgl. ebd. Vgl. Butler 2002, S. 94. Vgl. Hißnauer 2014, S. 361ff. Ebd., S. 381.

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II. Theoretische Grundlagen

comb das Begriffspaar location (Drehort, Kulisse) und place (Ort, der als Ergebnis des Transferprozesses in der Serie dargestellt wird) vor.40 James Butler geht bei seinen Überlegungen zum Raum hingegen von der Mise en Scène aus, um anschließend die Bedingungen und Handlungen in Produktion und Ausstrahlung zu erläutern, die zur Komposition des Settings in der Wahrnehmung der Zuschauer führen.41 Anders als Newcomb unterscheidet er zwischen studio sets, die konstruiert werden, und location settings, die ausgewählt werden, wobei Programme wie Game Shows, Sitcoms und Daily Soaps auf sound stages erstellt werden.42

3.2.1 Produktionstechnische und ökonomische Einflüsse In seiner überwiegend am linearen Fernsehen ausgerichteten Monographie Television. Critical Methods and Applications beschreibt Butler das Zusammenspiel von Produktion und Ästhetik von Serienräumen. Dieses zeige sich u.a. darin, dass Daily Soaps dazu tendierten, in geschlossenen Räumen zu spielen und selbst Außendrehs häufig in set designs inszeniert werden,43 oder viele Räume narrativer Serien eher breit als tief seien, damit die Kamera sich vor der Studiobühne entlang einer horizontalen Achse bewegen kann.44 Auch spiegelten Räume narrativer Serien Dominanzverhältnisse zwischen Ästhetik einerseits und technologischen und ökonomischen Bedingungen andererseits wieder. So sei die ästhetische Konvention, nach der Türen sich in Soaps und Sitcoms nicht hinter der Kamera bzw. in der vierten Wand befinden, durch den Einfluss des Theaters bedingt, da ansonsten der Eindruck entstehe, die Figuren träten durch den Publikumsraum ein und aus.45 Diese tradierte Raumgestaltung werde i.d.R. übernommen, um nicht die Aufmerksamkeit auf potentiell hinter der Kamera sitzende Zuschauer zu lenken.46 Auch müsse die Tür in Soaps sichtbar sein, da dieses Genre wie kein anderes von Unterbrechungen durch Ein- und Austritte von Figuren lebe, die einzelne Situationen stören.47 Die ökonomisch bedingte Beschränkung auf wenige Locations in einem studio set hat Butler zufolge wiederum Auswirkungen auf die Handlung von Soaps und Sitcoms: In a sense, stories must be written for the sets. Characters must be brought together in locations that are as much economically required as they are aesthetically determined. (This is also why when characters die or leave a soap opera other characters often move in to their houses and apartments.) And a large part of what they may do and what themes are presented is determined by where they are. Hospital sets are used 40 41

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Vgl. Newcomb 1990, S. 30. Vgl. Butler 2002, S. 93. Butlers Definition unterscheidet sich kaum vom Begriff der Mise en Scène nach Kirsten 2020, S. 69f.: »Mise-en-scene thus includes all the objects in front of the camera and their arrangement by directors and their minions. In short, mise-en-scene is the organization of setting, costuming, lighting, and actor movement«; vgl. Butler 2002, ebd. Vgl. Ebd. Für eine besonders ausdifferenzierte Auffassung der Locations von Fernsehserien vgl. Hansen/Christensen 2017, S. 13. Vgl. Butler 2002, S. 94. Vgl. ebd., S. 95f. Vgl. ebd., S. 97. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

to deal with issues of life, death, paternity, and maternity. Courtrooms house questions of justice. Private homes are the sites of intense personal and interpersonal emotions. In television programs, setting often determines story and theme, rather than vice versa.48 In Television Style erläutert Butler insbesondere die ökonomischen Faktoren, die auf die Gestaltung von Räumen für fiktionale Serien einwirken. Die Kosten der Produktion von Fernsehprogrammen werden den Kategorien below the line und above the line zugeordnet. Zur ersten Kategorie gehören »›Scenic Design, Scenic Construction and Painting, Studio Stagehands and Artists, Costume Design, Technical Personnel and Equipment, Studio Space, Support Crew (stage manager, wardrobe, makeup)‹«, zur zweiten hingegen Löhne für Produzenten, Regisseure, Drehbuchautoren sowie die Schauspieler der Hauptrollen.49 Die Kosten der Kategorie below the line lassen sich eher kürzen als above the line. Aus diesen ökonomischen Zwängen resultiert eine Anpassung der Mise en Scène der Daily Soap, welche sich dann wiederum auf die Praktiken auswirken, die das Genre selbst bestimmen. Dazu gehört u.a. das Drehen in Innenräumen, da dadurch Drehzeit minimiert und below the line costs niedrig gehalten werden können. The articulation of space in soap opera sets tends to be shallow and confined, although this has changed over the years as soap-opera set design has grown increasingly elaborate, despite the severe financial constraints. At the beginning of the genre, in the early 1950s, set design was remarkably, even absurdly, minimalist. […] The studios were not large and thus blocking was limited to side-to-side movement. Even today’s soap-opera studios do not permit much deep-space set design as five or six sets are commonly erected semi-permanently in a single studio, lining the walls so that camera equipment can be placed in the center of the room.50 Noch in den 1990er Jahren stellt Kozloff fest, dass das Setting in narrativen Fernsehprogrammen im Vergleich zum Kinofilm aufgrund mangelnder finanzieller Ausstattung von geringer Qualität sei.51 Anders als Daily Soaps und Sitcoms der 1980er und 1990er Jahre oder die Krankenhausserie Emergency Room, auf die Butler referiert, werden seit der Jahrtausendwende aber immer mehr Serien ausgestrahlt, die auch in die Inszenierung ihrer Räume größere finanzielle Mittel investieren.52 Auch werden Techniken der Computeranimation in fiktionalen Serien öfter verwendet als in den 1990er Jahren. Anhand 48

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Butler 2002, S. 98. Obgleich Butler sich mit Blick auf die narrative studio sets keinesfalls auf die Art fiktionaler Serien bezieht, die gegenwärtig als innovativ oder narrativ komplex betrachtet werden, stehen seine Ausführungen auch für diesen neuen Typ der Fernsehserie. Der Schauplatz, aber auch das konkrete set bestimmt die Themen der Serie Grey’s Anatomy (2005-), USA: ABC, Creator: Shonda Rhimes, ebenso, wie die Wahl der Wüste als location setting in Breaking Bad die Handlung beeinflusst. Butler, Jeremy, G. (2010): Television Style. New York: Routledge, S. 37. Vgl. Für die folgende Darstellung Butler 2010, S. 37f. Butler 2010, S. 38. Vgl. Kozloff 1992, S. 75. Offizielle Informationen zu den Produktionsbudgets aktueller Fernsehserien existieren i.d.R. nicht, dafür aber viele begründete Vermutungen, z.B. in Seale, Jack (16.11.2019): From the Crown to Game of Thrones: what’s the most expensive TV show ever? In: The Guardian. https://www.theg

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II. Theoretische Grundlagen

der Fernsehserie Game of Thrones stellen Christian Flörs, Dietmar Garreis und Martina List eine Veränderung der Produktion erzählter Räume auf der Ebene der digitalen und baulichen Kulissengestaltung und der daraus resultierenden Effekte für die Rezeption und die Ästhetik des seriellen Textes fest.53 Digitaltechnik und deutlich höhere Produktionsbudgets ermöglichten die Gestaltung »[a]ufwendig[] und detailliert inszenierte[r] Spielorte«, deren Qualität mit der von »großen Hollywood-Kinofilmen« vergleichbar sei.54 Darüber hinaus leiteten »die neuen TV-Serien ein szenenbildnerisch neues Zeitalter ein«.55 Welchen Einfluss Drehorte und die Produktionsbedingungen auf den in der TV-Serie konstruierten diegetischen Raum haben, zeigt ein Beispiel aus der zweiten Staffel von The Handmaid’s Tale. In der Episode »Holly« versteckt sich die Handmaid June in einer verlassenen Villa, als das Ehepaar Waterford auftaucht, um sie zurück in ihr Haus zu holen. Während Fred und Serena Waterford in der Eingangshalle der Villa miteinander streiten, steht June einige Stockwerke über ihnen hinter dem Fenster eines Atriums, das sich inmitten des Hauses befindet. Von hier aus hat sie einen geschützten Blick auf das Ehepaar und kann sie belauschen. Ein besonders spannungsgeladener Moment entsteht, als June mit einer Waffe auf Fred und Serena zielt, ohne dass diese es registrieren, womit sich die sonst brutal unterdrückte ›Magd‹ in einer seltenen machtvollen Position wiederfindet. Diese Szene wurde jedoch erst durch den Drehort des »Elizabethan-style manor house« in Ontario, Kanada ermöglicht und entwickelt, wie Elizabeth Williams, eine der Production Designer von The Handmaid’s Tale, erklärt: It meant that someone could stand in the attic, look down to the middle foyer, and eavesdrop on those below. It meant that a planned outdoors scene – the Waterfords fighting outside, June spying on them through a window, deciding whether to shoot – could be transferred inside, a big boon during below-freezing temperatures.56

3.2.2 Distribution des Serienraums Die hohe Aufmerksamkeit, die Production Designer den Kulissen schenken, tritt neben dem seriellen Text auch durch Paratexte wie kurze Dokumentationsclips sowie durch Auszeichnungen zutage. So veröffentlichte HBO ein Interview mit einer der Production Designerinnen von Game of Thrones, Deborah Riley, in dem der Prozess der Erschaf-

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uardian.com/tv-and-radio/2019/nov/16/from-the-crown-to-game-of-thrones-whats-the-most-ex pensive-tv-show-ever, aufgerufen am 4.09.2020. Vgl. Flörs, Christian/Garreis, Dietmar/List, Martina (16.02.2016): Game of Thrones und die Faszination amerikanischer TV-Serien. Der szenische Raum gewinnt an Bedeutung. In: Famab Blog. ht tp://famab.de/blog/games-of-thrones-die-faszination-amerikanischer-tv-serien/, aufgerufen am 16.09.2020. Ebd. Ebd., Herv. i. O. Williams zit. in Vineyard, Jennifer (29.08.2019): Emmy Contender: A House Changed a Major Handmaid’s Tale Season 2 Moment. In: Syfy. https://www.syfy.com/syfywire/emmy-contender-a-house -changed-a-major-handmaids-tale-season-2-moment, aufgerufen am 20.10.2020.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

fung der fiktiven Welt und ihre Funktion für die Serienrezeption erläutert wird.57 Vor Beginn der siebten Staffel der Fantasy-Serie im Sommer 2016 machte der Sender zudem einen In-Production Teaser zugänglich, der die Wartezeit der Zuschauer mit Aufnahmen der Kulissen und ihrer Entstehung sowie ausgewählter Drehorte überbrücken sollte.58 Weiterhin zeugen erst 2014 eingeführte Kategorien wie »Outstanding Production Design for a Narrative Period Program (One Hour or More)« der Primetime Emmy Awards von einer gestiegenen Bedeutung der Production Designer in der US-amerikanischen Fernsehlandschaft.59 Weiterentwicklungen von Technologien oder gänzlich neue Rezeptionsmodi führen dazu, dass die Räume in Serien seit Beginn der 2000er Jahre andere sind als in den 1980er oder 1990er Jahren. Laut Robin Nelson haben moderne Technologien zu einem dichteren Bild und einem verbesserten auditiven Erlebnis geführt und neuen Serien das Label des »cinematic tag« zugetragen.60 Rothemund konstatiert, dass auch »HDTV und Veränderungen im Bereich der Bild-Seitenverhältnisse durch neue, größere Fernsehgeräte« die Qualität der Rezeption enorm verbessert hätten.61

3.3 Serienräume in der Textanalyse – Rezeption, Semantik und serielles Erzählen Dieser Überblick zum Einfluss von Produktion und Distribution auf die Ästhetik der Serienräume soll als Referenzpunkt für die Untersuchung dystopischer TV-Serien fungieren. Die Textanalyse bezieht sich vor allem auf die sinnlich wahrnehmbaren Inszenierungen des Raums sowie dessen mentale Konstruktion im Zuge der Rezeption. Hier stehen die Semantiken und narrativen Funktionen des diegetischen Raums der Serie bzw. des Serienraums, sein Zusammenspiel mit seriellen Erzählprinzipien sowie seine Wirkung und Erfahrung in der Rezeption im Vordergrund. Beim Zuschauen sind diese Ebenen nicht voneinander getrennt und werden im Folgenden allein aus heuristischen Gründen voneinander differenziert. Räume in Fernsehserien zeichnen sich auf semantischer Ebene häufig dadurch aus, dass sie eben keine durchgehend konstante Bedeutung aufweisen, sondern dass diese variiert, weshalb eine Analyse von Raumsemantiken immer auch die serielle Darstellung erfasst. Ebenso ist die sinnliche Erfahrung des Serienraums in der Rezeption nicht von dessen Bedeutungen oder der Vertrautheit bekannter Orte zu trennen, die sich wiederum aus ihrer Wiederholung ergibt. Im Folgenden werden diese drei Analyseebenen auf der Grundlage bereits bestehender Forschungserkenntnisse und ausgewählter Serienbeispiele näher bestimmt. 57 58 59

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HBO (2014): Production Designer Deborah Riley (HBO). In: Vimeo. https://vimeo.com/86441080, aufgerufen am 28.03.2020. Vgl. HBO (22.07.2016): Game of Thrones Season 7: In-Production Tease (HBO). In: YouTube. https:/ /www.youtube.com/watch?v=pjue5j1JRaA, aufgerufen am 28.03.2020. Ebenfalls 2014 eingeführt wurden die Kategorien »Outstanding Production Design for a Narrative Program (Half-Hour or Less)« sowie »Outstanding Production Design for a Narrative Contemporary or Fantasy Program (One Hour or More)«; vgl. Television Academy (o.A.): Emmys. https://www.em mys.com, aufgerufen am 27.08.2020. Nelson 2007, zit. In Rothemund 2013, S. 33 Ebd.

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II. Theoretische Grundlagen

Grafik 1: Funktionen des Serienraums62

Die Funktionen des Serienraums in der Rezeption, der Semantisierung sowie seine Rolle im seriellen Erzählprozess werden in Grafik 1 zusammengefasst. Diese Aufteilung ermöglicht eine systematische Analyse von Serienräumen im Hinblick auf ihre Funktionen. Eine Anwendung von Typen oder Kategorien wie z.B. »Ausgangsräume, Zielräume, Durchgangsräume, Taburäume« bei Hans Krah oder »[n]ichteuklidische«, »[l]abyrinthische«, »[a]morphe Räume« bei Rayd Khouloki bietet sich zwar zur Benennung ausgewählter Phänomene der Rauminszenierung an, verspricht darüber hinaus aber nur einen geringen heuristischen Mehrwert und wird der Vielfalt konkreter fiktiver Räume nicht gerecht.63 Die vorgeschlagene Einordnung von Räumen im Hinblick auf ihre Funk62

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Diese Abbildung sowie die vorgestellten Funktionen des Serienraums gehen zurück auf Kröber, Franz (2020a): Im Maschinenraum seriellen Erzählens. Raum und Handlung in The Man in the High Castle. In: Brittnacher, Hans Richard/Paefgen, Elisabeth K. (Hg.): Im Blick des Philologen. Literaturwissenschaftler lesen Fernsehserien. München: edition text + kritik, S. 362–382, hier S. 368. Vgl. Krah, Hans (1999): Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen. In: Kodikas/Code. Ars Semiotika. An International Journal of Semiotics 22.1, S. 3–12, hier S. 8; sowie Khoulo-

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

tion unter den übergeordneten Kategorien der Rezeption, Semantik und seriellen Narration bietet sich hingegen zur Erfassung einer prinzipiell unendlichen Anzahl von Räumen und Orten an, die sich im Hinblick auf Topologie, Topographie und Semantik sowie ihre Anordnung in der seriellen Erzählung unterscheiden. Die einzelnen Funktionen des Serienraums werden im Folgenden auf Grundlage bestehender Forschungsergebnisse sowie ergänzender Ausführungen erläutert.

3.3.1 Rezeption von Serienräumen Auf Seiten der Rezeption erhält der diegetische Raum verstärkte Aufmerksamkeit, da die technologischen Bedingungen des Post-TV ein individuelleres Fernsehen ermöglichen und Rezipienten sich verstärkt als Interpreten und »Amateur-Narratologen« betätigten.64 Die Rauminszenierung finanziell hochkarätiger Produktionen stellt neue Anforderungen an die Kohärenz der Raumgestaltung und ihre Authentizität, was besonders dann deutlich wird, wenn die Erwartungen der Zuschauer auf eine gelungene Inszenierung enttäuscht werden. Beispiele hierfür liegen mit den für ihre sorgfältige Raumgestaltung bekannten Serien Downton Abbey und Game of Thrones vor, in denen Fans jeweils Illusionsbrüche durch Wasserflaschen und Pappbecher von Crew-Mitgliedern in den Kulissen festgestellt haben.65 Ein authentischer Raumeindruck, wie er u.a. durch Stadt- und Landschaftsaufnahmen mit Wiedererkennungswert in den Serien der Tatort-Reihe einhergeht,66 muss aber nicht unbedingt hermeneutische Aktivitäten hervorrufen, sondern kann auch Gratifikation für die Zuschauer darstellen, wenn es sich gleichzeitig um Orte der Sehnsucht oder besonders qualitätsvolle Aufnahmen handelt. Das Genießen hochwertiger Raum-Bilder kann ein Motiv für die Rezeption von ›Reise‹-Serien wie Das Traumschiff sein, deren Zuschauer sich eskapistischen Fantasien hingeben, oder mit der Mystery-Serie Lost einhergehen, deren Insel-Schauplatz Sudmann »als Schauwert an sich« einschätzt.67 Die kunstvoll gestalteten Räume aus The Dark Crystall: Age of

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ki 2007, S. 122f. Auch Frank kritisiert Krahs Versuch, »Räume nach ihrer aktantiellen Funktion für die Figur zu unterteilen«, weil sie die »potentielle Bandbreite an Funktionen« von Räumen nicht ausschöpfen; Frank 2017a, S. 191. Zwar spreche nichts per se gegen eine solche Unterscheidung, problematisch sei allerdings »der Versuch, eine Liste aufzustellen, die den Anspruch erhebt, jede Funktionalisierungsvariante erfassen zu können«; ebd. Mittell, Jason (2012): Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen. In: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript, S. 97–122, hier S. 119. Vgl. für Downton Abbey Thomas, Gina (8.09.2014): So schön war das England, das es nie gab. In: FAZ.NET. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/serien/am-set-von-downton-abbey-so -schoen-war-das-england-das-es-nie-gab-13131687.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, aufgerufen am 28.03.2020; für Game of Thrones o.A. (1.11.2019): Das Rätsel um den Kaffeebecher von Westeros ist gelöst. In: Der Spiegel. https://www.spiegel.de/kultur/tv/game-of-thrones-das-ra etsel-um-den-kaffeebecher-von-westeros-ist-geloest-a-1294532.html, aufgerufen am 4.09.2020. Vgl. Bollhöfer, Björn (2010): Tatort Deutschland – Auf geographischer Spurensuche zwischen Sylt und Konstanz, Aachen und Dresden. In: Griem, Julika/Scholz, Sebastian (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers. Frankfurt: Campus Verlag, S. 31–50. Vgl. Das Traumschiff (1981-), D: ZDF, Creator: Wolfgang Rademann; Sudmann 2017, S. 204.

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II. Theoretische Grundlagen

Resistance, deren Materialität und Haptik neben den nur teilweise animierten Puppen besonders unmittelbar wirkt, mag sowohl zur Unterhaltung als auch zur Immersion beitragen.68 Das Verlangen der Zuschauerschaft nach Immersion in die storyworld sowie nach einer vollständigen Raumübersicht spiegelt sich in der Produktion von Karten als orienting paratexts durch die Produktionsunternehmen oder Fans ebenso wider, wie rezipientenseitig generierte Wikis.69 Auch die vor allem in gegenwärtigen dystopischen TV-Serien prominent platzierten Karten und plastischen Raummodelle zeigen eine Tendenz von Serien, ihren Rezipienten räumliche Orientierung zu ermöglichen.70 Häufig werden Handlungsorte durch eingeblendete Bildunterschriften in den establishing shots, die verbale Nennungen von Toponymen durch Figuren und Voice-over-Erzähler sowie das Einfügen von landmarks in den opening credits oder innerhalb der Episoden angekündigt, wodurch die Navigation der Rezipienten im Serienraum erleichtert wird.71 Ungewöhnliche Handlungsorte können sich als Charakteristikum einer Fernsehserie herausstellen und die Wiedererkennung der Serie unterstützen.72 Pauliks merkt an, dass die Wiederkennung diegetischer Räume in Serien an das Seriengedächtnis der Zuschauer gebunden ist: Die Zuschauer bilden […] ein Funktionsgedächtnis aus, mit dessen Hilfe sie einerseits das Schema der Serie durchschauen können und durch das für sie andererseits die Serie überhaupt erst sinnhaft wird. Ein solches Funktionsgedächtnis kann als das serielle Gedächtnis der Zuschauer definiert werden, insofern dass es die einzelnen Elemente der Serie – Folge zu Folge – miteinander verknüpft, um dem Plot, den Figuren und dem Setting Sinn zu verleihen.73 Da sich viele Serien über mehrere Episoden und Staffeln erstrecken und sie i.d.R. mit der Erwartung eines kommerziellen Erfolges produziert werden, müssen sie Rezipienten für sich gewinnen. In vielen Fällen findet Zuschauerbindung durch Figuren statt, einige Serien werden aber auch gesehen, weil Rezipienten einem Schauplatz so nahe wie möglich kommen wollen.74 Auf dieses Bedürfnis reagiert z.B. Gilmore Girls, in dem parallel zur Kernserie Videos veröffentlicht wurden, in denen die Figur Kirk an die Zuschauer gerichtete Führungen zu ausgewählten Orten der fiktiven Kleinstadt Stars Hollow anbietet.75 Über die Homepage von Emergency Room wurde Butler zufolge eine

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Vgl. The Dark Crystall: Age of Resistance (2019), USA: Netflix, Creators: Jeffrey Addiss/Will Mathews. Vgl. Mittell 2015, S. S. 269f. Vgl. ebd., S. 270–273. Vgl. auch Piepiorka 2017, S. 120. Vgl. Ganz-Blättler/Scherer 1997, S. 245, Paefgen 2016, S. 179 sowie Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 34. Vgl. Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 34. Pauliks 2017, S. 310. Vgl. Waade 2017, S. 6. Vgl. o.A. (4.04.2007): Gilmore Girls Kirks Town Tour – Welcome to Stars Hollow. In: YouTube. https ://www.youtube.com/watch?v=YEkGp14tz5c, aufgerufen am 16.09.2020. Neben diesem expositorischen Clip umfasst die ›Führung‹ den Pavillion, Miss Pattys Tanzschule, das Wohnhaus von Rory und Lorelai, Taylors Süßigkeitenladen, seinen Supermarkt und Lukes Diner.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

Funktion eingerichtet, über die das Filmset virtuell ›begehbar‹ gemacht wurde,76 und eine interaktive Karte auf der Homepage von Game of Thrones ermöglicht Fans das Aufrufen von Informationen zu ausgewählten Orten im fiktiven Westeros.77 Ausgehend von der These, dass die Wiederholung von Serienwelten einen virtuellen Raum erschafft, betont M. King Adkins den besonders immersiven Charakter von Fernsehserien. Er konstatiert, dass insbesondere Serien wie Jericho, die ihre Welten mit weiteren Episoden erweitern, den Zuschauern die Möglichkeit geben, neue Räume gemeinsam mit den Figuren sukzessive zu erleben.78 Schließlich treten Stimmungen und Atmosphären, die mit Räumen und Orten einhergehen,79 in der Rezeption hervor und können in der Textanalyse auf den Einsatz der Kamera, des Tons und Lichts, aber auch auf die in Szene gesetzte Architektur sowie Baumaterialien und die mit ihnen assoziierten Wirkungen zurückgeführt werden.

3.3.2 Semantiken von Serienräumen Unter der Semantik von Räumen wird gemeinhin auch die narrative Funktion des Raums verstanden. Hier ist eine Präzisierung vonnöten: Der Raum an sich bzw. seine Inszenierung in der Mise en Scène und innerhalb der einzelnen filmischen Einstellung ›erzählt‹ streng genommen nicht.80 Wie Kuhn dargelegt, verfügt die Mise en Scène kaum über narrative Funktionen81 – und auch mit Blick auf die Montage und die Dynamisierung des Raums ist der Raum immer nur Teil einer Erzählung, indem er Stimmungen und Atmosphären erzeugt, oder indem er auf andere Elemente der Erzählsituation (Zeit, Figur, Handlung) sowie ein bestimmtes Genre verweist. Konsens besteht in der Serienforschung darüber, dass Räume narrative Informationen über Figuren liefern, weil sie über ihre Gestaltung und die in ihnen angeordneten Artefakte mit Bedeutungen aufgeladen sind.82 Butler bezeichnet Räume, die über ihre Gestaltung Charaktere näher bestimmen, gar als »narrative icons«.83 Unstrittig dürfte auch sein, dass die Rauminszenierung ein bestimmtes Genre markieren kann und dass Räume in semantischer Opposition zueinander stehen können.84 76 77 78 79 80

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Vgl. Butler 2010, S. 155f. Vgl. HBO (o.A.): Map. In: gameofthrones.com. www.gameofthrones.com/game-of-thrones/season-8/episode-6/map/location/8/castle-black, aufgerufen am 5.11.2019. Vgl. Adkins 2018, S. 102. Vgl. Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 34. Zwar gibt es durchaus einleuchtende Argumentationen, die die Narrativität des nicht bewegten Einzelbildes bekräftigen, und die auf bestimmte Einstellungen und ihre Mise en Scène übertragen werden könnten; vgl. Speidel, Klaus (2013): Can a Single Still Picture Tell a Story? Definitions of Narrative and the Alleged Problem of Time with Single Still Pictures. In: DIEGESIS 2.1, S. 173–194, insb. S. 188ff. Doch selbst in diesen Fällen ist es nie allein eine Landschaft oder ein Stadtpanorama, sondern immer das Zusammenspiel mit anderen intratextuellen Faktoren (wie unterschiedlich groß oder klein gestalteten, stark oder schwach beleuchteten Elementen, schnelle oder langsame Kamerabewegung etc.), das schließlich ein Ereignis und eine Erzählung generiert. Vgl. Kuhn 2011, S. 91. Vgl. Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 34; Butler 2002, S. 94. Butler 2002, S. 94, Herv. i. O. Vgl. Allrath/Gymnich/Surkamp 2005, S. 34.

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II. Theoretische Grundlagen

Diverser sind die Überlegungen zum Verhältnis zwischen Raum und Handlung. Ursula Ganz-Blättler und Brigitte Scherer zufolge sind Orte in Fernsehserien »im Allgemeinen mehrdeutig angelegt«:85 »Die zusätzlichen Konnotationen müssen nicht bewusst zur Kenntnis genommen werden, um zur ›Geschichte hinter der Geschichte‹ beizutragen. Es reicht, wenn man sie implizit ›mitliest‹«.86 Schauplätze, die relevant für die Serienhandlung sind, seien liminale Räume, die »die in ihnen verorteten Akteure zu andauernden Grenzerfahrungen« anhielten.87 So sei insbesondere der Strand in Magnum, P.I. ein symbolhafter und liminaler Handlungsort.88 Ihre Überlegungen zeigen Bezüge zu kognitionspsychologischen Konzepten, die davon ausgehen, dass bestimmte Orte mit festen scripts und frames verbunden sind, weshalb Räumlichkeiten in schriftlichen und filmischen Erzählungen einige Handlungsmuster wahrscheinlicher machen als andere.89 Rothemund geht ebenfalls von der Überlegung aus, dass bestimmte Räume und Orte mit festen Handlungsabläufen verbunden seien: »Krankenhäuser, Polizeistationen oder auch Gerichte sind z.B. Ausgangspunkte sogenannter Proceduals, bei denen bestimmten [sic!] vorstrukturierte Handlungsprozesse abgearbeitet werden und die zugleich einen hohen Figurenwechsel bedingen«.90 Diese Beobachtung, die Rothemund mit der Serie Law & Order illustriert, impliziert, das alltägliche bzw. originäre Funktionen von Räumen und Orten sowie ihnen eingeschriebene Assoziationen die Serienhandlung beeinflussen.91 Ein anderes Konzept, das die Serialität von Raum und Handlung stärker betont, stammt von Myles McNutt, der zwischen Räumen als narrative backdrop und als narrative engine unterscheidet.92 Der Raum als Hintergrund könne die Handlung zwar in begrenztem Maße beeinflussen, aber nicht generieren. So würden in Breaking Bad Orte wiederholt als Hintergrund verwendet, um den thematischen Effekt zu steigern oder um im Laufe der Erzählung Besonderheiten von Figuren zu verdeutlichen. Obwohl z.B. das To’hajiilee Navaio-Reservat für Breaking Bad von zentraler Bedeutung sei, sei

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Ganz-Blättler/Scherer 1997, S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S. 260. Vgl. u.a. Frank 2017a, S. 199–201. Dieser Zusammenhang von Raum und Handlung liegt z.B. den Ausführungen Mikos’ zum Raum im Film zugrunde: »Wenn z.B. ein Paar ein Restaurant betritt, lässt das in den nächsten Minuten des Films bestimmte Handlungen wahrscheinlich erscheinen. Sie werden in dem Restaurant sicher nicht in eine Verfolgungsjagd mit Autos verstrickt. Sie nehmen auch nicht an einem Schwimmwettbewerb teil. Der Ort des Geschehens, das Restaurant, lässt es wahrscheinlicher erscheinen, dass sie dort speisen werden, vielleicht auch Freunde treffen, mit denen sie verabredet sind«; Mikos 2015, S. 104f. Vgl. ferner Dennerlein 2009, die auf Grundlage kognitionspsychologischer Erkenntnisse den Begriff des Raummodells formuliert, um damit Verbindungen zwischen Wissen um Handlungen und Räumen zu beschreiben; vgl. ebd., S. 179ff. Rothemund 2017, S. 467. Ebd. Besonders deutlich formuliert Rothemund diese Annahme an anderer Stelle in Bezug auf Dexter: »Durch die geografische Nähe zu Lateinamerika bietet Miami narrative Potenziale für Erzählstränge über Drogen- und Menschenschmuggel sowie Bandenkriege, deren Auswirkungen in vielfacher Hinsicht die Seriengestaltung beeinflussen«; vgl. Rothemund 2013, S. 105. McNutt 2017a, S. 77f. Vgl. für die folgende Darstellung ebd., S. 77f.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

dessen »sense of spatial capital« allein durch seine Ästhetik und Symbolik von Wert für die Handlung: It is a landscape that is given meaning through the storylines that unfold within it, but the location itself holds no agency over the story – in this case specifically, the Navajo Nation plays no significant role in the series’ narrative, with the series choosing not to engage with the cultural or political dimensions of those who own and govern the land in question.93 Im Gegensatz dazu griffen Räume, die als ›Motor‹ oder ›Triebwerk‹ die Handlung voranbringen und über mehrere Episoden hinweg aufrechterhalten, das spatial capital einer location auf und transferierten es mit der Darstellung des place in die serielle Erzählung. Als Beispiel hierfür nennt McNutt die zweite Staffel der Serie Justified: Justified has primarily remain focused on Kentucky more broadly, but the series used its second season to dig deeper into the local culture of Harlan County, with a season long arc focused on drug matriach Mags Bennett’s efforts to defend her community against the threat of a mining company’s attempt to access the nearby mountain.94 Diese Ausführungen machen deutlich, dass McNutts Verständnis des narrativen Potentials von Schauplätzen auf Serien begrenzt ist, die an realen Orten gedreht werden und deren Geschichte, Geographie, Kultur, Ökonomie und/oder soziale Zusammensetzung innerhalb der Serie mit der Handlung verknüpfen.95 Zeit schreibt sich z.B. durch diegetische Kalenderblätter, Bilder, schriftliche Dokumente und Karten in den Serienraum ein, wie Anne Ganzert anhand von FlashForward herausarbeitet, wird aber auch anhand von physischen diegetischen Veränderungen von Bauten, Landschaften etc. deutlich.96 Auf einer basaleren Ebene wird Zeit aber bereits in der seriellen Erzählung »insofern verräumlicht, als sie auch außerhalb des Serientextes vergeht und dargestellt wird«.97 Schließlich setzen sich narratologische Publikationen zu Serien auch mit den extratextuellen Diskursen auseinander, die fiktiven Räumen und Orten eingeschrieben sind. Dafür lassen sich Untersuchungen von Rothemund und McNutt anführen, die sich unabhängig voneinander mit Miami als Schauplatz in Dexter auseinandersetzen. Dabei hinterfragen sie das handlungsgenerierende Potential Miamis mit Blick auf reale Verbrechen, tropisches Klima und Vegetation sowie den Einfluss lateinamerikanischer Kulturen.98 Betont werden sollte schließlich, dass die Bedeutungen, die einzelnen Handlungsorten und -räumen zugewiesen werden, in fiktionalen Fernsehserien nicht durchgehend stabil bleiben müssen. Darauf weist Pauliks mit Blick auf den Thronsaal in King’s Landing innerhalb der Serie Game of Thrones hin, der 93 94 95

96 97 98

Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Vgl. hierzu auch McNutt, Myles (24.04.2017b): Some Locations Matter: HGTV’s Uneven Relationship with Spatial Capital. In: Flow. A Critical Forum on Media and Culture. https://www.flowjournal.o rg/2017/04/some-locations-matter/, aufgerufen am 16.09.2020. Ganzert, Anne (2014): Verräumlichte Zeit am Beispiel von FlashForward. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal 3, S. 126–151. Piepiorka 2017, S. 181. Vgl. Rothemund 2013, S. 104f. und McNutt 2017a, S. 79–81.

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II. Theoretische Grundlagen

zwar durchgehend ein Ort der Macht ist, allerdings von Episode zu Episode zusätzliche Bedeutungen empfangen und auch wieder verlieren kann.99

3.3.3 Räume und serielle Erzählprinzipien Als Merkmale, die serielle von geschlossenen Erzählungen abgrenzen, wurden bereits Segmentierung, Repetition, Unabgeschlossenheit und kohärenzstiftende Elemente genannt und erläutert.100 Im Folgenden soll erörtert werden, in welchem Verhältnis die Prinzipien seriellen Erzählens zur Rauminszenierung stehen. Dabei werden zuerst die Segmentierung, Repetition und Variation von Räumen sowie Raumkohärenz thematisiert. Da das Prinzip der Unabgeschlossenheit in besonderem Maße das Raumerzählen in Serien sowie die Dynamisierung von Räumen auf Ebene von histoire und discours berührt, wird es unter einem eigenen, sich anschließenden Unterkapitel beleuchtet. 1.) Die Segmentierung des Serienraums zeichnet sich besonders dann ab, wenn die fiktive Topographie nach dem Muster der Level-Ästhetik von Computerspielen strukturiert ist. Ein Beispiel hierfür ist neben den noch zu untersuchenden dystopischen Serien die Animationsserie The Hollow, in der die Helden in einer virtuellen Welt mit jedem neuen Handlungsort eine weitere Aufgabe lösen müssen, wobei der von ihnen zurückgelegte Weg in einer sich vervollständigenden Karte archiviert wird.101 Daran wird deutlich, dass der Serienraum nicht nur ein Ergebnis narrativer Re-Organisation ist, sondern bereits auf Ebene der fiktiven Welt und gleichsam ›vor‹ der Erzählung segmentiert ist.102 Einzelne Raumfragmente oder Orte können die serielle Erzählung rhythmisieren, wenn sie zum Mittelpunkt einer Episode oder Staffel werden und deren Grenzen bzw. das Intervall zwischen den Erzähl-Segmenten betonen. Ein Beispiel für die Fragmentierung des story-space, die mit der Segmentierung des discourse-space auf der Ebene einer Staffel korrespondiert, ist The Wire, da mit jeder Staffel der Serie ein neuer Handlungsort oder -raum einhergeht.103 Rauminszenierungen können auch zum Symptom der Fortsetzung einer Serie werden. So können andere Beleuchtungsverhältnisse, eine qualitätsvollere Ausstattung oder eine veränderte Architektur für die Handlung und aus Sicht der Figuren irrelevant sein und unbemerkt bleiben, zugleich aber in Richtung der Zuschauer auf ein gestiegenes Produktionsbudget und indirekt auf den kommerziellen Erfolg der Serie verweisen. Ein Beispiel hierfür ist Game of Thrones. Insgesamt wirken die Handlungsräume und -orte der ersten Staffel im Vergleich mit denen der letzten Staffeln erstaunlich beengt: Die Figuren agieren überwiegend in geschlossenen Innenräumen, die im Vergleich zu späteren Staffeln rudimentär bzw. funktional ausgestattet sind, und Szenen wie der Jagdausflug von King Robert, die einen Außendreh erfordern, sind auf wenige Minuten und einen geringen Raumausschnitt beschränkt.104 In den folgenden Staffeln nehmen Außen99 Vgl. Pauliks 2017, S. 314. 100 Vgl. hierzu II.1.1.1 in dieser Arbeit. 101 Vgl. The Hollow (2018-2020), CDN: Netflix, Creator: Josh Mepham. Zur Level-Ästhetik digitaler Spiele in zeitgenössischen Fernsehserien vgl. auch Sudmann 2017, 214–220. 102 Vgl. hierzu IV.3.3 in dieser Arbeit. 103 Vgl. Sudmann 2017, S. 217. 104 Vgl. Game of Thrones, S1E6, »A Golden Crown«.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

drehs, umfänglichere und multiperspektivische Darstellungen einzelner Orte und spektakuläre Landschaftsaufnahmen sowie die detaillierte Ausstattung zu, sodass sukzessive der Eindruck besonders weiter Räume und einer authentischen Inszenierung entsteht, obwohl zugleich z.B. die Lage zentraler Schauplätze wie King’s Landing oder Winterfell in der storyworld unverändert bleiben. Die Gründe für die veränderte Rauminszenierung liegen vermutlich darin, dass sich der Abonnementsender HBO nach dem Erfolg der ersten Staffel einer loyalen Zuschauerschaft sicher sein konnte und das Risiko für Investitionen in die Raumgestaltung minimiert war, sowie in den insgesamt fast stetig zugenommenen Ausgaben für die Produktion, die ihr globaler Erfolg ermöglichte. Auch in Gilmore Girls kommt es zu Änderungen des Raums, die als solche nicht diegetisch existieren und nur von den Rezipienten wahrgenommen werden. In der Pilotepisode ist Luke’s Diner noch nicht in einer Häuserecke angeordnet, sondern hinter einer geraden Front. Der äußere und innere Eingangsbereich, Wohn- und Esszimmer im Haus von Emily und Richard Gilmore sind in der ersten Staffel anders gestaltet, Einund Ausgänge anders angeordnet als in den folgenden Staffeln. Beide Veränderungen sind als Inkonsistenzen in der Rauminszenierung einzuordnen, weil keine diegetische Motivation präsentiert wird und sie innerhalb der fiktiven Welt scheinbar gar nicht stattfinden. Luke betont in der ersten Staffel sogar, er habe den Laden seines Vaters in einen Diner umfunktioniert, ohne etwas daran zu verändern, und Lorelai Gilmore konstatiert, dass sie das Haus ihrer Eltern seit ihrer Kindheit kennte.105 2.) Die Serialität von Räumen bemisst sich zunächst in ihrer verlässlichen Rückkehr. So ist jedenfalls Hißnauer zu verstehen, wenn er feststellt, dass »wiederkehrende Räume« im Tatort »das Serielle einer Serie« erzeugen und mit der »Suggestion einer mehr oder weniger unveränderlichen ›Storyworld‹« einhergehen.106 Gemessen daran sind sowohl The Sopranos aufgrund des kontinuierlichen Handlungsortes von Tonys Wohnhaus als auch die Reality-Serie Ich bin ein Star, holt mich hier raus wegen ihres wiederkehrenden Studiosets im australischen Dschungel im höchsten Maße seriell.107 In manchen Serien ist der Handlungsraum eines der wenigen Elemente der Repetition, z.B. in Room 104 oder der Serie Grey’s Anatomy, in der das Krankenhaus gleichsam zum Container emotionaler, sozialer und gesundheitlicher Probleme wird, und in

105 Vgl. für die Äußerung von Luke Gilmore Girls (2000–2007), USA: The WB/The CW, Creator: Amy Sherman-Palladino, S1E10, »Forgiveness and Stuff«, für Lorelais Bezug zum Haus der Gilmores in Kindheit und Gegenwart der Erzählung ebd., S1E1, »Pilot«. Der Grund für die architektonische Veränderungen liegt darin, dass die Szenen für beide Orte in der Pilotepisode bzw. der ersten Staffel in jeweils bereits vorhandenen Gebäuden in Kanada gedreht wurden. Nach der Bewilligung der Serie im Anschluss an die Pilotepisode wurden für die Drehs in Luke’s Diner ab S1E2, »The Lorelais’ First Day at Chilton« sowie das Haus von Richard und Emily Gilmore ab S2E1, »Sadie, Sadie« gebaute Sets verwendet. 106 Hißnauer 2014, S. 362. 107 Vgl. The Sopranos (1999–2007). USA: HBO, Creator: David Chase; sowie Ich bin ein Star, holt mich hier raus (2004-), D: RTL, Creator: o.A.

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II. Theoretische Grundlagen

der mittlerweile weite Teile des ursprünglichen Casts ausgetauscht wurden, der zentrale Schauplatz aber unverändert geblieben ist.108 Die Wiederholung von Räumen und Orten ist in geschlossenen Formen wie Episodenserien besonders hoch, doch auch diese drängen früher oder später auf eine Variation der Schauplätze. Veränderungen der räumlichen Umgebung können durch Reisen von Figuren motiviert sein oder aufgrund veralteter Kulissen notwendig werden, wie z.B. in Daily Soaps. Denkbar ist auch die Integration neuer Locations, in deren Darstellung production values bzw. die hohe technische und ökonomische Qualität und der Aufwand der Produktion zum Ausdruck kommen und die somit Freude bei der Zuschauerschaft anhand der Ästhetik filmischer Bilder auslösen. Der Raum als Mittel zur Variation des seriellen Schemas ist insbesondere Bestandteil der von Schultz-Pernice formulierten Strategien der Verdeckung, Eskalation, Expansion und Verschiebung.109 Die Variation von Räumen kann jedoch ebenfalls regelhaft bzw. repetitiv werden.110 Dies ist u.a. bei Serien der Fall, die die storyworld im Rhythmus thematischer Schwerpunkte von Episode und Staffel ändern. Beispielsweise verwendet Lemony Snicket’s A Series of Unfortunate Events alle zwei Episoden einen neuen Schauplatz und etabliert damit ein Muster, dass sich in die Entwicklung des Serienraums einschreibt und bis zum Ende der dritten Staffel aufrechterhalten wird.111 Während diese Variationen durch ästhetische Entscheidungen begründet und bewusst herbeigeführt sind, ergeben sich viele Änderungen des Raums durch ökonomische Faktoren. Die Bottleneck Episode, in der Figuren kammerspielartig in einem begrenzten Raum agieren, ist auf die Einsparung finanzieller Mittel für Kulissen zurückzuführen.112 Inkonsistenzen in der Rauminszenierung, die aus ökonomischen oder technischen Bedingungen herrühren, liegen z.B. innerhalb einzelner Serien der Tatort-Reihe vor: Sie sind Hißnauer zufolge auf die Beteiligung verschiedener Produktionsfirmen an den Gestaltungen jeweils ›gleicher‹ Räume zurückzuführen, weshalb die Varianz der film- und serienästhetischen Inszenierung zugleich den Status der Serie als kommerzielles und arbeitsteilig produziertes Artefakt markiert.113 Die Erweiterung der Serientopographie von Gilmore Girls in der Episode »Here Comes the Son« ist sowohl auf die Exposition 108 Vgl. Room 104 (2017-2020), USA: HBO, Creator: Mark Duplass/Jay Duplass. Zugleich wird das Krankenhaus von Grey’s Anatomy selbst immer wieder durch Brände, Explosionen oder temporäre Schließungen variiert. 109 Vgl. Schultz-Pernice 2016a, S. 45f. sowie II.1.1.1 in dieser Arbeit. 110 Vgl. ebd., S. 46. 111 Vgl. Lemony Snicket’s A Series of Unfortunate Events (2017–2019), USA: Netflix, Creator: Mark Hudis/Barry Sonnenfeld. In diesem Muster offenbaren sich die Spuren der literarischen Serie, die der Adaption zu Grunde liegt. Viele dieser Räume eint allerdings, neben ihrer grundsätzlichen Ästhetik und einem morbiden Charme, ein heterotopischer Charakter: Die abgeschiedene Mühle, der veraltete Zirkus, die Villa des einsam lebenden, schrulligen Onkels, das Dorf der Rentner, das U-Boot und das Hotel sind allesamt Räume, die nur einer bestimmten Personengruppe Zutritt gewähren, nur unter bestimmten Bedingungen betreten werden können und deren Sozialleben nach Regeln funktioniert, die sie von ihrer Umwelt isolieren. 112 Vgl. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 244. Ein berühmtes Beispiel unter vielen ist die Episode »The One Where No One’s Ready« (S3E2) aus Friends (1994–2004), USA: NBC, Creator: David Crane/Marta Kauffman. 113 Vgl. Hißnauer 2014, S. 370, 381.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

als auch die kommerzielle Bewerbung einer geplanten neuen Serie zurückzuführen. In dieser Folge ist Jess auf der Suche nach seinem Vater in Venice Beach, Kalifornien. Die ungewöhnliche lange Erzählzeit, die diesem Handlungsstrang eingeräumt wird und die unvermittelte Privilegierung von Jess als zentrale Fokalisationsinstanz begründet sich aus dem Ziel der Produzenten, ein Spin-Off um Jess namens Windward Circle zu etablieren, das allerdings nie umgesetzt wurde.114 3.) Vor dem Hintergrund der Segmentierung serieller Erzählungen sowie ihrer potentiellen Unabgeschlossenheit stiftet der Serienraum unter allen anderen Elementen der Erzählung besonders häufig Kohärenz. Allein die Wiederholung eines Schauplatzes stellt ein durchgehendes Element dar, das mehrere Segmente verbindet – sowohl in ›klassischen‹ Formaten wie der Daily Soap als auch den Serien des Quality- und ComplexTV, die sich häufig durch mehrere Handlungsstränge und ein unübersichtliches Inventar an Figuren auszeichnen. Zur Untersuchung serieller Kohärenz durch Räume schlägt Hißnauer die Begriffe der Rauminszenierungsreichweite und -dichte vor. Die Rauminszenierungsreichweite beziehe sich »auf die Anzahl von Folgen, die einen Raum unverändert präsentieren«.115 Die Rauminszenierungsdichte hingegen gebe »das quantifizierte Verhältnis zwischen denjenigen Folgen an, die in ihrer Rauminszenierung stabil sind, und denjenigen, die davon abweichen«.116 Beide Merkmale müssten in Bezug »zur Anzahl von Folgen, in denen der Raum überhaupt vorkommt« und »zur narrativen Motivation« gesetzt werden.117 »So ist davon auszugehen, dass narrativ motivierte Veränderungen eher – aber auch nicht immer – als Ausweis serieller Kohärenz zu lesen sind. Unmotivierte Veränderungen sind hingegen als deutlicher Bruch mit der Serienkontinuität zu verstehen«.118 Räume müssten individuell auf ihre intraserielle Kohärenz befragt werden; hochfrequente Handlungsorte blieben tendenziell unverändert, seltene variierten tendenziell stärker.119 Serien, die staffelweise produziert werden, verfügen – selbst bei Episodenserien – über festgebaute Kulissen (zumindest für die wiederkehrenden Handlungsräume). Rauminszenierungsreichweite und Rauminszenierungsdichte sind daher zumindest für die einzelnen Staffeln (oft auch über mehrere hinweg) hoch. Die Darstellung der Räume kann sich aber zwischen den Staffeln – wie bspw. in 24 (2001–2010) – völlig verändern; unabhängig davon, ob solche Veränderungen motiviert sind oder nicht.120 Die Faktoren, auf die sich die ›Rauminszenierung‹ bezieht, schlüsselt Hißnauer nicht auf. Aus seiner Untersuchung zu ausgewählten Serien der Tatort-Reihe geht jedoch hervor, dass er sich vor allem auf das Design von Kulissen sowie die Auswahl von gebauten Räumen und nicht-künstlichen Drehorten bezieht. Die Inszenierung von Räumen,

Vgl. Press, Joy (2018): Stealing the Show: How Women Are Revolutionizing Television. New York et al.: Atria Books, S. 94. 115 Hißnauer 2014, S. 380. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. Ebd. 120 Ebd., S. 381.

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II. Theoretische Grundlagen

die, wie Hißnauer zu Recht betont, stark variieren kann, sollte sich aber auch auf weitere profilmische Mittel wie Licht, auf die Inszenierung durch einen bestimmten visual style etc. beziehen – also schlichtweg alle möglichen filmisch-seriellen Faktoren integrieren, die einen Einfluss auf die Konstruktion des Serienraums auf Seiten der Rezipienten haben und die in der Summe ermöglichen, dass dem Serienraum narrative Funktionen zugeordnet werden. Da sich serielle Räume im Post-TV zunehmend in andere Medien ›ausbreiten‹, müssen neben der intraseriellen Kohärenz auch Faktoren betrachtet werden, die den Raum einer Serie in Film, Comic, Computerspiel und Literatur wiedererkennbar konstruieren. Laut Piepiorka könne »die Einheitlichkeit der verwendeten visuellen Darstellungen und deren Bedeutungen« die Homogenität des transmedialen Universums unterstreichen.121 Räume in transmedialen Serien würden »homogener und einheitlicher«, je mehr die verwendeten einzelnen Elemente in ihrer Gestaltung der Visualität übereinstimmen. So bietet die Ästhetik des Medientextes dem Zuschauer Hinweise für die Story-Konstruktion und für das Verständnis von Zeit und Raum der Handlung, indem der Text früh und unmissverständlich zeitliche Dimensionen ankündigt (im Untertitel, im Dialog), der Sound zur Unterstützung des Verständnisses genutzt wird, Kamera-bewegungen [sic!] helfen, sich den Raum visuell vorzustellen, die Gestaltung des Schnitts eine logische Folge jeder Szene aus ihrem Vorgänger darstellt.122 Beispiele für eine kohärente Mise en Scène findet Piepiorka im transmedialen Universum von Breaking Bad durch die Adaption der Farben und Schnitte der Kleidungen von Charakteren und die durchgehende »Comic-Ästhetik«, die in der Kernserie und den Graphic Novels All Bad Things und Team S.C.I.E.N.C.E. zum Vorschein kämen.123 Mit Blick auf die medienspezifischen Darstellungen der storyworlds von The Walking Dead und Game of Thrones hebt sie weiterhin die transmediale Ähnlichkeit von Kameraeinstellungen und -perspektiven, Lichtverhältnissen, Farben und Farbsättigung sowie »Detailgenauigkeit« als Kriterien für Kohärenz hervor.124

3.3.4 Strategien seriellen Raumerzählens Zur Erfassung der narrativen Konstruktion von Raum in Film und Literatur unterscheidet Chatman zwischen story-space und discourse-space. Der story-space beinhalte Figuren

121 122 123 124

Piepiorka 2017, S. 146. Ebd., S. 138. Ebd., S. 140ff. Ebd., S. 144–146. Um tatsächlich die Kohärenz transmedialer Rauminszenierungen zu erfassen, müsste diese Aufzählung, die von Fernsehserien, Graphic Novels, Comics und Computerspielen ausgeht, um Darstellungstechniken ergänzt werden, die Räumlichkeiten auch in auditive und schriftliche Medien hinein erweitern und zugleich einen Eindruck der Zugehörigkeit der einzelnen Teile zueinander bzw. zur Kernserie markieren. Vorschläge zu einer intermedialen Raumnarratologie, die Literatur, Film, Comic und Computerspiel einbezieht, finden sich bei Frank 2017a, S. 424–440. Eine Übersicht über die Raumdarstellung im Hörspiel, die einen Vergleich mit anderen Medien zulässt, findet sich in Mahne 2007, S. 104–109.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

und Schauplätze und könne direkt über den Bildschirm oder die Leinwand ›gezeigt‹ werden (explicit story space) oder er befinde sich im off-screen, könne aber von den Charakteren wahrgenommen oder durch die Handlung angedeutet werden (implied story-space).125 Darüber hinaus sei er im hohen Maße dynamisch, da er durch die Bewegung der Kamera bzw. der Figuren und den Prozess der Montage in alle Richtungen ›ausgedehnt‹ werden könne.126 Dabei bleibe aber die Illusion, dass der story-space vorhanden sei, unangetastet.127 Auch die Räume der Fernsehserie verhalten sich dynamisch, wobei ihre Entwicklung durch die Segmentierung in Episoden und Staffeln sukzessive verläuft und die Linearität dieses Prozesses stärker betont wird.128 Laut Marie-Laure Ryan sind die fiktiven Welten narrativer Texte generell nicht statisch, sondern »dynamic models of evolving situations« und »simulations of the development of the story«.129 Allerdings unterteilt sie die storyworld in eine statische Komponente, die der Geschichte ›vorausgehet‹ und eine dynamische Komponente, »that captures the unfolding of the events«. Zu der statischen Komponente der storyworld zählt Ryan, obgleich dies im Widerspruch zu ihren Ausführungen zur fiktiven Welt steht, »[a] space with certain topographic features«.130 Anders als Ryan annimmt, finden Verformungen und Entwicklung des Serienraums aber parallel zur zunehmenden Erzählzeit sowohl auf der histoire-Ebene bzw. des story-space als auch der discours-Ebene bzw. des discourse-space statt. Auf Ebene des story-space können Orte und Räume jeweils weitestgehend gleich oder anders in den weiteren Episoden und Staffeln erscheinen. Veränderungen von Handlungsräumen und -orten können intradiegetisch durch alle möglichen Dekonstruktionen wie Brände, Explosionen oder Umbauten von Gebäuden, Rodungen von Wäldern oder behutsamere Modifikationen wie die Renovierung eines Zimmers motiviert werden. Auf Ebene der Erzählung und des discourse-space werden Räume fast nie gleich präsentiert;131 stattdessen erhalten die Zuschauer mehr Informationen zu den dargestellten Regionen und Orten oder weniger als in der vorherigen Episode. Die Strategien seriellen Raumerzählens sollen im Folgenden ausführlicher erläutert werden. Die Räume einer Serie werden i.d.R. linear erzählt, weil die einzelnen Raumausschnitte nacheinan-

125 126 127 128 129

Vgl. Chatman 1993 [1978], S. 96. Ebd., S. 101. Vgl. ebd. Vgl. Adkins 2018, S. 87. Ryan, Marie-Laure (2013): Transmedial Storytelling and Transfictionality. In: Poetics Today 34.3, S. 361–388, hier S. 364. 130 Ebd. 131 Ausnahmen sind Fälle, in denen die exakte Kopie von Raum und Raumdarstellung als Erzählstrategie bewusst präsentiert werden: Beispiele dafür liegen vor, wenn in Serien die Monotonie alltäglicher Abläufe pointiert dargestellt werden soll, wenn Analepsen vorliegen oder zuvor proleptisch erzählte Situationen von der Basiserzählung eingeholt werden. Ein weiterer Sonderfall liegt vor, wenn Figuren in die Vergangenheit reisen und sich in Szenen wiederfinden, die als Teil der Basiserzählung bereits zu sehen waren. Allerdings handelt es sich auch bei diesen Fällen nie um exakte Kopien der Räume, da z.B. ihre Semantik durch die Wiederholung verändert wird. Im Gegensatz dazu können die Raumdarstellungen sich wiederholender opening credits Kopien darstellen, haben aber nicht den Status von Handlungszentren.

101

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II. Theoretische Grundlagen

der angeordnet werden.132 Die Auswahl und Kombination der einzelnen Handlungsorte bringt aber unterschiedliche Muster zu Tage, durch die die Seriengeographie vermittelt wird. So bildet jede Serie abseits ihres story-space einen individuellen discourse-space ab: Auf Ebene der Erzählung bzw. des discourse-space lässt sich erkennen, wie viel Erzählzeit einzelne Handlungsräume und -orte beanspruchen (Dauer), wie häufig sie wiederkehren (Frequenz) und in welcher Reihenfolge sie präsentiert werden (Ordnung). Aus den unterschiedlichen Formen seriellen Raumerzählens lassen sich zwei konträre Typen isolieren, Expansion und Verdichtung von Raum (vgl. Tab. 1).133 Beide Erzählstrategien werden unter anderen Begrifflichkeiten in der Serialitätsforschung beleuchtet, z.B. bei O’Sullivan unter dem Begriff des world-building: »Serial narratives are positioned, more than any other publication method, to gradually map out, fill in, and then re-expand a diegetic universe«.134 Der Begriff der Verdichtung findet seine Entsprechung bei O’Sullivan im fill in, der der Expansion hingegen in der Ausdehnung räumlicher ›Kerne‹ im Laufe der seriellen Erzählung.135 Auch Adkins beschreibt die Expansionen von Welten und Räumen sowie das Phänomen des »filling out«.136 Allerdings bleiben Ausführungen zur narrativen Erweiterung von Orten und Räumen sowohl bei O’Sullivan als auch in anderen Konzeptionen seriellen Raumerzählens ungenau bezüglich der Frage, ab wann eine Serie ein ›filling in‹ von Räumen oder ihre Expansion betreibt. Unter dem Begriff der Expansion in Bezug auf Serienräume versteht Schultz-Pernice die »Ausweitung […] des Raumsystems«.137 Bei Ryan konzentriert sich der Terminus hingegen deutlich auf das Figureninventar und bezieht sich nur implizit auf Räume, wenn von einer vergrößerten Reichweite der storyworld die Rede ist.138 Wie lässt sich aber eine Szene, Sequenz oder Episode beschreiben, in der beispielsweise Figuren ein verstecktes Zimmer innerhalb eines bereits bekannten Gebäudes entdecken und anschließend erkunden? Ich möchte die Begriffe Expansion und Verdichtung wie folgt definieren: Expansion bedeutet die Erweiterung eines bereits bekannten Raums um weitere Räume bzw. Regionen. Diese unterscheiden sich deutlich vom etablierten Raum durch Grenzen, größere Distanzen, andere Semantiken und/oder architektonische, vegetative, geologische und klimatische Charakteristika. Zudem werden Raumexpansionen formalästhetisch markiert, etwa indem sie mit der Grenze zwischen Staffeln und Episoden korrespondie132

133 134 135 136 137 138

Ausnahmen können intraseriell und transmedial vorliegen: Innerhalb einer Serie können Räume durch split-screen Verfahren synchron erzählt werden, aber auch indem Figuren andere Räume per Überwachungskamera beobachten und beide Entitäten innerhalb einer Einstellung sichtbar sind; vgl. Adkins 2018, S. 106. Denkbar sind weitere zeitgleiche Vervielfältigungen von Raum wie metaleptische Eintritte in andere Erzählwelten, Zugänge zu magischen oder Parallelwelten in einer Einstellung etc. Zudem können Handlungen innerhalb des gleichen diegetischen Universums an verschiedenen Orten stattfinden, die über verschiedene Medien synchron rezipiert werden können. Andere Formen der Gleichzeitigkeit wie Parallelmontagen entstehen aufgrund von erzähltechnischen Konventionen, sind aber lineare Raumdarstellungen. Vgl. für die folgenden Ausführungen zu Expansion und Verdichtung auch Kröber 2022b, S. 192, Anm. 7. O’Sullivan 2019, S. 57, Herv.: F.K. Vgl. ebd. Adkins 2018, S. 93. Schultz-Pernice 2016a, S. 45f. Vgl. Ryan 2013, S. 366.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

ren, als bedeutende Reise einer Figur getarnt werden oder besonders exzeptionell im Vergleich zu vorherigen Raumeinführungen erscheinen, z.B. weil die neuen Räume nur durch Magie oder besondere wissenschaftliche Innovationen zugänglich sind. Verdichtungen sind hingegen zusätzliche Informationen zu einem bekannten Raum oder einem Ort, die im Zuge weiterer Episoden und Staffeln präsentiert werden. Diese Informationen können filmästhetischer Art sein, also durch veränderte Einstellungsgrößen und -perspektiven andere Ansichten eines Ortes ermöglichen. Sie umfassen auch die Präsentation von Zimmern eines bereits vorgestellten Hauses oder von Häusern einer bereits exponierten Stadt und, sollte eine bestimmte Region bereits präsentiert worden sein, womöglich auch die Erkundung einzelner Städte. Sie können auch semantischer Natur sein, etwa wenn eine Figur von einem Ereignis berichtet, das am jeweiligen Ort stattgefunden hat und dessen Erzählung bei den Zuschauern zu einer Neubewertung des Ortes führt.

(Handlungs-)Räume

(Handlungs-)Orte

Discourse-space

Expansion vs. Einengung

Verdichtung vs. Auflösung

Story-space

Änderung vs. Konstanz

Änderung vs. Konstanz

Tab. 1: Strategien seriellen Raumerzählens

Die Bestimmung beider Formen narrativer Raumdynamik – Expansion und Verdichtung – kann nur in Relation zur Inszenierung der fiktiven Topographie einer konkreten Serie erfolgen. Sie lassen sich anhand der Serien The Hollow und Desperate Housewives als Prototypen erläutern. Die einzelnen Handlungsorte von The Hollow, die in den aufeinanderfolgenden Episoden präsentiert werden, ergeben einen Pfad und werden linear erzählt, ohne dass zu Beginn ein Überblick der Seriengeographie gegeben wird.139 Die Strategie seriellen Erzählens vom Raum, die hier zu Tage tritt, ist die der Expansion: Durch die Bewegung der Figur bzw. die Mobilität der Erzählinstanz wird der Handlungsraum beständig erweitert, häufig im Takt von Episode und Staffel. Serien wie Desperate Housewives hingegen, die dem Handlungsmuster der Daily Soap verpflichtet sind, entwerfen von Beginn an den dominanten Handlungsraum, der in den meisten folgenden Episoden eher mit Details angereichert, nur punktuell verlassen und vereinzelt um benachbarte oder entfernte Regionen erweitert wird. Trotz einzelner Expansionen spielt die Handlung innerhalb von acht Staffeln in der Wysteria Lane. Dabei werden vor allem die wiederkehrenden Häuser der Nachbarn mit immer neuen Details präsentiert, wodurch sich das mentale Modell des fiktiven Raums auf Seiten der Zuschauerschaft vervollständigt, aber vergleichsweise selten um neue Räume ergänzt wird. Die Entscheidung, ob bei einer Raumveränderung eine Expansion oder Verdichtung vorliegt, hängt davon ab, wie der Raum zu Beginn der Serie eingeführt wird und wie sei139

Vgl. zum Serienraum von The Hollow Kröber 2022b, S. 193–203.

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II. Theoretische Grundlagen

ne jeweiligen Veränderungen präsentiert werden. Wenn eine Serie ihren Raum so exponiert, als sei er das dauerhafte Zentrum der Handlung, die Figuren sich aber in späteren Episoden oder Staffeln unvermittelt in andere Regionen bewegen, gibt es gute Gründe zur Annahme, dass eine Expansion vorliegt. Zugleich ist die Zuordnung zu einer der beiden Strategien seriellen Raumerzählens aber bereits eine Frage der Deutung. So könnte auch argumentiert werden, dass die einzelnen Welten, in die die Helden von The Hollow reisen, bereits durch die präsentierte unvollständige Karte antizipiert werden, die im Serienanfang zu sehen ist. Zudem stellt sich im Finale der ersten Staffel heraus, dass alle Stationen Teil einer virtuellen Welt waren, die die ›echten‹ Figuren mittels ihrer Avatare betreten haben. Die Präsentation eines ›Rahmens‹ der fiktiven Welt bzw. die Andeutung weiterer Handlungsräume wäre zumindest ein Indiz dafür, von einer Verdichtung durch verschiedene Orte auszugehen, auch wenn die semantischen und topographischen Kontraste zwischen den einzelnen Stationen in The Hollow wiederum dagegensprechen. Die Unterscheidung beider Modelle kann auch mit Blick auf die intradiegetische Distanz zwischen Orten schwerfallen. Die Expansion des Raums in The Hollow lässt sich an relativ klaren Kriterien nachvollziehen: Der jeweils neue Raum weist neben einer großen Distanz zum alten eine andere Semantik auf (z.B. Welt der Minotauren versus Vorboten der Apokalypse in der Wüste),140 andere geologische, vegetative oder klimatische Verhältnisse (z.B. Wald versus Eiswelt), ist durch natürliche Barrieren abgeschirmt oder der jeweilige Eintritt in neue Räume ist besonders markiert.141 Desperate Housewives hingegen spielt innerhalb eines relativ engen Radius. Eine eindeutige Expansion findet z.B. in der Episode »Look into Their Eyes and See What They Know« statt, in der Lynette, Bree, Gaby und Susan die Asche einer verunfallten Nachbarin zu deren Sohn transportieren und unterdessen Erinnerungen an die Verstorbene austauschen.142 Wie aber verhält es sich mit Szenen und Episoden, die die bekannten Wohnhäuser der Figuren oder den dominanten Handlungsraum der Straße verlassen und im Wald, Supermarkt oder Gerichtsgebäude spielen? Sind diese Ausbrüche aus dem engen Territorium der Wysteria Lane Raumerweiterungen? Anders als in der Serie The Hollow, in der der Übertritt in andere Räume zwar zur erwartbaren Struktur wird, aber immer wieder als Eingang in heterogene Sphären dargestellt wird, werden temporäre Schauplätze von Desperate Housewives nur selten als Bruch mit der diegetischen Ordnung inszeniert. Der Supermarkt wird öfter von Lynette und anderen Hausfrauen frequentiert, der Wald wird mehrfach zur Kulisse mysteriöser und grauenhafter Ereignisse und auch das Gerichtsgebäude wird wiederholt präsentiert und gehört zum Inventar der Serie. Zudem ordnen sich die meisten Orte der Serie in den globaleren Raum der Vorstadt Fairview ein, deren Modell mit jeder weiteren Episode ebenso verdichtet wird wie der zentrale Schauplatz der Straße und die Wohnhäuser der Figuren. Somit können

140 Vgl. The Hollow, S1E2, »The Dessert« sowie »S1E3, »Apocalypse«. 141 Vgl. ebd., S1E8, »The Ice«. Die genannten Markierungen betreffen die Art der Fortbewegung, also das Fliegen über weite Distanzen oder der Eintritt in andere Räume durch ›Kraftfelder‹, die sich im leeren Raum manifestieren. 142 Vgl. Desperate Housewives, S5E19, »Look into Their Eyes and See What They Know«.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

auch einmalige Ausflüge an Orte Fairviews, wie z.B. Sues Eintritt in ein für Prostitution bekanntes Viertel,143 als Verdichtung interpretiert werden. Anhand von The Hollow wird deutlich, dass Expansion zum Schema seriellen Erzählens werden kann. Es stellt sich aber auch die Frage, ob die Serienwelt sich tatsächlich ausbreitet, wenn die Serie doch von Beginn an um ihre Raumdynamik weiß. So können Zuschauer unter Rückgriff auf ihr Genrewissen bereits bei der Rezeption der ersten Episode der Animationsserie antizipieren, dass die Handlung in immer neuen Räumen spielen wird. Hinweise darauf sind die Platzierung der Figuren in einem ihnen unbekannten Raum, den sie nur durch das kooperative Lösen von Rätseln ähnlich eines Escape Games verlassen können; ihr mangelndes Wissen um die eigene Vergangenheit und übermenschliche Kräfte, die sie als Avatare kennzeichnen; eine Karte, die bis auf einen Ort genügend leere Fläche für zukünftige Schauplätze bereithält; und die Versetzung der Charaktere in einen gänzlich anderen Raum am Ende der Folge. Mit Blick auf die Regelhaftigkeit der Raumerweiterung von The Hollow kann zwischen einer schematischen und einer sporadischen Expansion unterschieden werden. 1. Schematische Expansionen sind regelmäßige Raumerweiterungen und sowohl Repetition als auch Variation. Sie erfüllen ein narratives Muster, erlauben aber zugleich, bekannte Handlungsschemata vor einem anderem ›Hintergrund‹ auszuführen.144 Ihre Innovationskraft ist i.d.R. gering, da sie einer Steigerungslogik unterliegen, die sich auszuhebeln droht oder ihren Ausweg im Metafiktionalen sucht: So muss auf jeden Raum ein neuer folgen, der unbekannter, aufregender etc. ist, als der vorherige.145 Beispielhafte Serien für diese Strategie sind neben The Hollow Detektivserien wie Murder, She Wrote und Agatha Christie’s Poirot, aber auch nicht-fiktionale Programme wie die kulinarische Dokumentations-Serie Zu Tisch.146 Schematische Expansionen können im Takt von Episoden stattfinden, wie in Zu Tisch, in der in jeder Folge Gerichte einer Region der Welt erkundet werden, oder von Staffeln, wie in The Wire.147 Sie können aber auch keinem festen Rhythmus verhaftet sein, wie in Murder, She Wrote und Poirot, also Serien, in denen die Detektive für einige aufeinanderfolgende Episoden an jeweils unterschiedlichen Orten agieren, aber immer wieder an einen zentralen Ort (Cabot Cove bzw. London) zurückkehren. 2. Sporadische Expansionen finden innerhalb einer Serie seltener statt als Verdichtungen bekannter Orte oder Präsentationen von Orten, die zu bereits etablierten Handlungsräumen gehören. Selten und eher in Serien mit langer Laufzeit können sporadische Expansionen wiederkehrende Orte einschließen: So wird in der Zeichentrickserie Disney’s Adventures of the Gummi Bears zunächst in der Episode »The Road

143 Vgl. ebd., S1E5, »Come In, Stranger«. 144 Vgl. die Strategie der Verdeckung nach Schulz-Pernice 2016a, S. 45. 145 Vgl. die Strategie der Metaisierung nach Schultz-Pernice 2016a, S. 46. Vgl. zu Ausführungen bezüglich dieser und der vorherigen Anmerkung auch II.1.1.1 in dieser Arbeit. 146 Vgl. Agatha Christie’s Poirot (1989–2013), UK: ITV, Creator: Clive Exton et al.; sowie Zu Tisch (2001-), D: Arte, Creator: o.A. 147 Vgl. The Wire (2002–2008).

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II. Theoretische Grundlagen

to Ursalia« in der fünften Staffel und anschließend nur in zwei weiteren Folgen das Schloss der Zauberin Lady Bane zum Handlungsort.148 Mit Blick auf die gesamte Serie können sie mitunter ein narratives Muster ergeben in dem Sinne, dass z.B. pro Staffel ca. ein Roadtrip oder Kurzurlaub stattfindet (z.B. Modern Family).149 Die Innovationskraft dieser Art der Raumentfaltung ist höher, weil die einzelnen Expansionen breiter gestreut sind. Folglich stehen sie auch weniger deutlich miteinander in Konkurrenz, weshalb die Gefahr einer ermüdenden Selbstüberbietung geringer ist. Analog dazu kann auch von einer schematischen und sporadischen Verdichtung gesprochen werden. 1. Schematische Verdichtungen treten am häufigsten in episodisch erzählten Serien auf. So führt jede Episode der Simpsons, deren Handlung in Springfield stattfindet, zu einem konkreteren und differenzierteren Modell des dominanten Handlungsraums auf Seiten der Rezipienten. Die verlässliche Repetition eines bzw. weniger Räume und Orte ist eines der Merkmale der klassischen Sitcom und wird bisweilen sogar als Charakteristikum des ›traditionellen‹ Fernsehens in Abgrenzung zu neueren Serien angeführt.150 2. Sporadische Verdichtungen liegen vor, wenn Handlung und Figuren einer auf Ausdehnung angelegten Serie an einem Ort unerwartet feststecken. Diese Strategie scheint nicht allzu verbreitet zu sein. Auf den ersten Blick scheint die Animationsserie The Animals of Farthing Wood ein geeignetes Beispiel aufzuweisen: Die Gruppe ungleicher Tiere, von der die Serie erzählt, befindet sich innerhalb der ersten Staffel auf dem Weg zum Weißhirschpark und durchläuft dabei unterschiedliche räumliche Stationen. In der Episode »False Haven« werden die Tiere von einem Bauern eingesperrt, können aber, bis auf den Fuchs, entkommen und in ein Wäldchen flüchten.151 In der darauffolgenden Episode befindet sich der Fuchs noch immer auf der Farm und die Mehrheit der anderen Tiere noch im Wäldchen, bevor sie schließlich vor Ende der Folge ihren Weg fortsetzen können.152 Da innerhalb der ersten Staffel aber weitere Episoden vorliegen, in denen die Tiere länger als geplant an einem Ort verweilen müssen, ordnen sich die Folgen um die Farm und den kleinen Wald in eine übergeordnete Logik von Bewegung und Stillstand ein, die das Raumerzählen der ersten Staffel von The Animals of Farthing Wood bestimmt. Ein prototypisches Beispiel für die sporadische Verdichtung wäre eine Serie, die auf 148 Vgl. Disney’s Adventures of the Gummi Bears (1985–1991), USA: NBC/ABC, Creator: Michael Eisner/Art Vitello/Jymn Magon, S5E2, »The Road to Ursalia« sowie S5E3b, »Life of the Party« und S6E15, »Rocking Chair Bear«. 149 Vgl. Modern Family (2009–2020), USA: ABC, Creators: Steven Levitan/Christopher Lloyd. 150 So zieht Sudmann u.a. aus der Begrenzung der Schauplätze in Spartacus den Schluss, dass die Serie sich »entschieden als Serie des Fernsehens« ausstelle; ebd. 2017, S. 143. Vgl. auch Hißnauer 2014, S. 362. 151 Vgl. The Animals of Farthing Wood (1993–1995), UK et al.: BBC et al., Creator: Colin Dann, S1E4, »False Haven«. 152 Vgl. Ebd., S1E5, »Snare for the Unwary«.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

die sukzessive Ausbreitung ihrer fiktiven Topographie ausgerichtet ist und in der die Verdichtung eines Raums die Ausnahme von der Regel darstellt.153 Expansion und Verdichtung sind jeweils extreme Formen der narrativen Präsentation von Raum. Beide Kategorien beruhen auf der Annahme, dass die dargestellten Ausschnitte der jeweiligen Räume und Orte auf der Erzählebene beliebig verformt werden könnten, die fiktiven Entitäten als Teil der Diegese aber unberührt davon bestünden. Demzufolge ist es auch möglich, die Dauer und Frequenz, in der von einem bekannten Ort erzählt wird, zu verkürzen oder sie überhaupt nicht mehr zu präsentieren (Auflösung, vgl. Tab. 1). Ebenso kann auch die Erkundung neuer Regionen und Räume an ihr Ende gelangen (Einengung, Tab. 1). Viele Serien sind nicht auf eine von beiden narrativen Strategien abonniert und wechseln sie: Game of Thrones stellt bis zur sechsten Staffel immer wieder bis dato unbekannte Räume vor. Dass sich ab der siebten Staffel die Handlung dem Finale nähert, wird nicht zuletzt auch daran erkennbar, dass nur noch wenige und bereits bekannte Handlungsräume und -orte vorliegen und diese mit einer viel höheren Frequenz erzählt werden als zuvor, bis die Ausdehnung der storyworld schließlich nur noch als Andeutung im Staffelfinale vorliegt.154 In diesem Fall kann von einer Einengung gesprochen werden, die die Strategie der Expansion ablöst, wohingegen wenige bekannte Orte wie Winterfell und King’s Landing weiter verdichtet werden. Räume und die ihnen zugehörigen Orte, die in vorherigen Staffeln mit immer weiteren Details angereichert wurden, wie z.B. Meereen,155 lösen sich hingegen auf Ebene der Erzählung auf, auch wenn sie virtuell als Teil der Diegese weiter bestehen. Ebenso können Expansionen in Verdichtungen münden: In der dritten Staffel von Breaking Bad wird ein unterirdisches Labor vorgestellt, in dem Walter Drogen produzieren soll.156 In den weiteren Episoden entwickelt sich das Labor schließlich zu einem wiederkehrenden Schauplatz und wird sukzessive mit Rauminformationen angefüllt, bis es schließlich im Finale der vierten Staffel gezielt von Walter und Jesse zerstört wird. Eine weitere, nachträgliche Verdichtung dieses Handlungsortes findet ferner im SpinOff Better Call Saul statt, in dessen vierter Staffel von der Konstruktion des Labors erzählt wird.157

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Möglicherweise ist die Serie Revolution ein solches Beispiel, von der Adkins 2018 schreibt, dass sie ihre eigentliche Expansion durch die post-apokalyptische Welt in der zweiten Staffel unvermittelt zum Erliegen bringt; vgl. ebd., S. 95–99. Vgl. Game of Thrones (2011–2019), USA: HBO, Creators: David Benioff/D.B. Weiss. In der finalen Episode der Fantasy-Serie liegen einige Hinweise darauf vor, dass sich der Serienraum bei einer Fortsetzung der Erzählung in unbekannte Regionen hinein ausdehnen könnte: Arya macht sich auf, bislang nicht kartographierte Territorien zu erkunden, die Unbefleckten brechen in Richtung Naath auf, John schließt sich den Wildlings hinter der Mauer an und Brans Suche nach Drogon könnte ihn mithilfe seiner Fähigkeiten, in das Bewusstsein von Tieren einzudringen, zumindest virtuell in fremde Umgebungen versetzen; vgl. ebd., S8E6, »The Iron Throne«. Vgl. ebd., Staffel vier bis sechs. Vgl. Breaking Bad, S3E5, »Más« bis S5aE1, »Live Free or Die«. Vgl. Better Call Saul (2015-), USA: Netflix, Creator: Vince Gilligan/Peter Gould.

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II. Theoretische Grundlagen

3.3.5 Muster seriellen Raumerzählens Die Feststellung, dass eine Serie eher der einen oder der anderen Strategie seriellen Raumerzählens zuneigt, befördert für sich genommen noch keinen Erkenntnisgewinn. Neben der Art und Weise, wie ein Raum erzählt wird, stellt sich die Frage, nach welchem Muster Räume einer Serie erzählt werden. Frank schlägt zur Erfassung der topographischen »Kombination von Teilräumen« in literarischen Erzähltexten die Kategorien linearer, punktueller, gestaffelter und polyzentrischer Raummuster vor.158 Die punktuelle Anordnung von Räumen zeichnet sich dadurch aus, dass die Verbindungen zwischen Räumen, ihre Lokalisierung und ihre detaillierte Beschreibung ausbleiben. Sie seien funktionalisiert, wie z.B. für Romane der Aufklärung zum Zweck »der satirischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Verhältnissen«.159 Lineare Raummuster werden hingegen durch topographisch markierte Figurenentwicklung sowie den »semantischen Zusammenhang« der einzelnen Stationen von Heldenreisen, Reise- und Bildungsromanen charakterisiert.160 Gestaffelte Kombinationen von Räumen, für die Frank epische Texte Kafkas anführt, sind »vielfach in die Tiefe potenziert[]« und geben den Lesern nur »nach und nach Einblicke« in die Topographie.161 Die Protagonisten Kafkas, wie K. im Process, gelangen nicht zum »Kern« des Raumsystems und bewegen sich auf labyrinthischen, unüberschaubaren Wegen.162 Polyzentrische Raummodelle hingegen bestehen aus mehreren Orten, die zu Handlungszentren werden und dies für eine längere Spanne der erzählten Welt bleiben. Meist entspricht einer polyzentrischen Raumordnungsstruktur eine Differenzierung des Figurenpersonals in mehrere Gruppen. […] Vermutlich tendieren gerade solche Texte zu polyzentrischen Raummustern, die Verfahren der Simultanmontage anwenden.163 Während sich das polyzentrische Raumerzählen klar von den anderen Kategorien unterscheiden lässt, verhalten sich die anderen drei Muster des Raumerzählens nicht trennscharf zueinander. Frank räumt ein, dass die Zuordnung eines Textes zu einer der Kategorien immer auch das Ergebnis einer Interpretation sei. Zugleich enthalten ihre Ausführungen zwei implizite Kriterien: den Weg der Figur, der sowohl der linearen als auch die punktuellen Raumpräsentation zu Grunde liegt, als auch die Kausalität der Stationen, die für die Kategorisierung als lineare, aber nicht als punktuelle Kombination spricht. Der Begriff ›linear‹ suggeriert, dass die Figurenbewegungen in Entwicklungsromanen und Quest-Erzählungen konstant steigend und ohne Brüche oder Abzweigungen verläuft, was jedoch für viele Vertreter dieser Texte (u.a. David Copperfield und Great Expectations von Charles Dickens als Beispiele für den Bildungsroman164 oder die rekursive 158 159 160 161 162 163 164

Vgl. hier sowie für den folgenden Argumentationszusammenhang Frank 2017a, S. 104–107. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 106. Vgl. Schweizer, Florian (2011): The Bildungsroman. In: Ledger, Sally/Furneaux, Holly (Hg.): Charles Dickens in Context. Cambridge: Cambridge University Press, S. 140–147.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

Bewegung des »›doppelten Kursus‹« in Arthusromanen wie Erec von Hartmann von Aue165 ) nicht gilt. Im Folgenden wird die Raumentfaltung als an die Bewegung von Figuren gekoppelt verstanden und der Unterschied zwischen linearer, punktueller und gestaffelter Raumkombination geschärft (vgl. Tab. 2).

Muster narrativer Raumentfaltung Die narrative Raumdarstellung ist konstant an eine Gruppe von Figuren oder an eine Figur gebunden.

Die narrative Raumdarstellung folgt parallel unterschiedlichen Gruppen von Figuren oder einzelnen Figuren.

Linear: Räume und Orte werden durch Figurenbewegung in einen semantischkausalen Zusammenhang gestellt.

Polyzentrisch: Räume und Orte werden durch verschiedene, diegetisch parallel verlaufende Bewegungen jeweils voneinander getrennter Figuren(gruppen) entfaltet. Die Präsentation auf Ebene des discours wechselt i.d.R. zwischen den einzelnen Figurenbewegungen bzw. Räumen und Orten.

Punktuell: Räume und Orte werden ohne semantischen Zusammenhang zueinander dargestellt.

Gestaffelt: Räume und Orte werden durch rekursive, nicht-lineare Figurenbewegungen entfaltet.

Tab. 2: Muster narrativer Raumentfaltung

Mit Blick auf die beiden Beispiele The Hollow und Desperate Housewives lässt sich konstatieren, dass Franks Kategorien bei der Beschreibung gegenwärtigen seriellen Raumerzählens im Post-TV produktiv sind, solange sie kombiniert werden. Die Raumdarstellung von The Hollow wird zwar in dem Sinne linear entfaltet, als dass sie an die Mobilität von Mira, Adam und Kai gebunden ist, die Figuren von Station zu Station an Identität gewinnen, den Zweck ihrer Reise reflektieren und diese im Sieg über den Endgegner Colrath sowie das Bestehen der Prüfung Computerspiel beendet wird. Allerdings erleiden sie Rückschläge, verweilen an einzelnen Orten oder kehren an diese zurück, was für die Kategorisierung einzelner Segmente von The Hollow als Muster gestaffelten Raumerzählens spricht. Darüber hinaus teilt sich die Gruppe kurzzeitig, sodass für einige Zeit polyzentrisch erzählt wird. Desperate Housewives hingegen ist durchgehend polyzentrisch präsentiert. Zwar durchlaufen die einzelnen ständigen Protagonistinnen Bree, Susanne, Gaby und Lynette Entwicklungen, diese zeichnen sich jedoch kaum räumlich ab, weil alle (der Logik der Soap folgend) im Raum der Wisteria Lane verbleiben. Andere aktuelle polyzentrisch erzählende Serien wie Game of Thrones, die ein größeres Inventar an Handlungsräumen bieten, offenbaren mit Blick auf einzelne Figuren deren Progression als Bewegungen über räumliche Stationen hinweg, zugleich aber auch deren charakterliche Stagnation oder Regression, die dann ebenfalls an einzelne Orte gebunden sein kann. Für die Interpretation der Serien ist diese Zuordnung

165

Vgl. Cormeau, Christoph/Störmer, Wilhelm (Hg.) (2007): Hartmann von Aue: Epoche – Werk – Wirkung. 3., aktual. Aufl. München: C.H. Beck, S. 177.

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II. Theoretische Grundlagen

relevant, weil aus ihr hervorgeht, dass The Hollow nicht nur durch die Expansionsstrategie, sondern auch durch die dominant lineare Entfaltung des Serienraums den intermedialen Bezug auf digitale Spiele in einer weiteren Dimension der Raumdarstellung betont. Desperate Housewives stellt sich hingegen durch die stetige Verdichtung eines dominanten Handlungszentrums sowie das chronologische Erzählen verschiedener Figuren (und Orte) in die Tradition der Daily Soap, offenbart zugleich aber die Tragik der Figuren und somit den satirischen Charakter der Soap-Referenz, weil die Protagonistinnen trotz aller kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung den Vortort als Symbol bürgerlicher Enge bis zum Finale nicht dauerhaft verlassen können.166

3.4 Der Raum der Fernsehserie – eine Definition Traditionell scheint sich die Inszenierung diegetischer Räume in Fernsehserien dadurch auszuzeichnen, dass eine begrenzte Anzahl bekannter Handlungsorte vorliegt und dass diese wiederholt werden. Dieser ökonomische Umgang mit dem Serienraum lässt sich auf die bereits geschilderten produktionstechnischen Bedingungen in seriellen Formaten wie Daily Soaps und Sitcoms zurückführen sowie auf die Möglichkeiten, insbesondere in Bezug auf die Raumgestaltung finanzielle Ausgaben kürzen zu können. Diese ›traditionelle‹ Auffassung des Raums der Fernsehserie liegt auch den Ausführungen von Sudmann und Hißnauer zugrunde: So zieht Sudmann u.a. aus der Begrenzung der Schauplätze in Spartacus den Schluss, dass diese Serie sich »entschieden als Serie des Fernsehens« ausstellt,167 während für Hißnauer »wiederkehrende Räume« im Tatort »das Serielle einer Serie« erzeugen und mit der »Suggestion einer mehr oder weniger unveränderlichen ›Storyworld‹« einhergehen.168 Allerdings wurde im vorangegangenen Kapitel deutlich, dass sich Handlungsräume und -orte der Fernsehserie nicht allein durch ihre Wiederholung und eine beschränkte Anzahl auszeichnen müssen. Die Räume gegenwärtiger Serien sind stattdessen in hohem Maße dynamisch, sowohl auf Ebene des discourse-space als auch des story-space. Serien rekurrieren zwar durch eine begrenzte Anzahl an Räumen und Orten, die Platzierung der Handlung in Innenräumen und die hohe Frequenz, mit der Orte wiederholt werden, auf das ›klassische‹ Televisuelle. Doch vor allem die Rauminszenierungen neuerer Serien, sofern sie über höhere Produktionsbudgets und eine längere Erzählzeit verfügen, zeichnen sich zugleich durch eine detaillierte und hochwertige Ausstattung, die Expansion des Handlungsraums, die Zunahme an Orten und durch vermehrte Außendrehs aus. Die Produktion der Serie schreibt sich, insbesondere im Vergleich einzelner Staffeln, bewusst oder unbewusst in ihren diegetischen Raum ein.169 Das Serielle des Serienraums 166 Interessant ist an dieser Stelle, dass die Serie erst vom Sender ABC produziert wurde, als der Creator Marc Cherry sie wider eigene Überzeugung als daily soap bewarb. Vgl. Weinraub, Bernard (23.10.2004): How Desperate Women Saved Desperate Writer. In: The New York Times. https://www.nytimes.com/2004/10/23/arts/television/how-desperate-women-saved-desp erate-writer.html, aufgerufen am 25.07.2020. 167 Sudmann 2017, S. 143. 168 Hißnauer 2014, S. 362. 169 Vgl. ebd. 2014, S. 381 sowie II.3.3.3 in dieser Arbeit.

3. Raum und serielles Erzählen im (Post-)TV

besteht zwar auch in der Rückkehr zum Status quo, wie z.B. in der Episodenserie Family Guy, in der ein Handlungsort ggf. durch Zerstörung verändert wird, in der folgenden Episode aber wiederhergestellt ist.170 Auch können Räume unvermittelt stagnieren, selbst wenn ihre Serien eigentlich auf die Expansion ihrer diegetischen Universen ausgerichtet sind.171 Das Potential seriellen Raumerzählens zeigt sich aber vor allem in der Variation des Raums. In der Expansion und Verdichtung von Räumen oder der Veränderung fiktiver Architekturen über eine lange Erzählzeit hinweg wird letztlich auch der Erfolg der Serie deutlich, die sich über besonders viele Segmente ausdehnen kann, weil sie ihr Publikum konstant unterhält oder gar vergrößert. Der Raum der Serie wird einerseits mit Zeit angereichert, insbesondere in Langzeitserien mit episodenüberspannender Handlung, und fungiert als Chronotopos.172 Damit die Entwicklungen des Raums nachvollzogen werden können, bedarf es eines seriellen Gedächtnisses auf Seiten der Zuschauerschaft. Allerdings ist es bisweilen auch wichtig, wie Hißnauer bemerkt, dass die Rezipienten ihr Gedächtnis in Bezug auf Inkonsistenzen in der Rauminszenierung ausschalten:173 Viele Zuschauer dürften die beschriebene Inkonsistenz in der Raumgestaltung von Gilmore Girls kaum bemerkt haben und beweisen damit,174 dass sie die wesentlichen Informationen zur Rekonstruktion eines Handlungsortes (z.B. Atmosphäre, Stil, Semantik und Lage des Hauses von Richard und Emily Gilmore) von sekundären Informationen (z.B. Details der Innenarchitektur) trennen können. Für Episodenserien wird hingegen angenommen, dass sie – idealtypisch – keinen Chronotpos entwickeln, da sie immer wieder beim Nullpunkt ansetzen. Doch das Fortlaufen der Serie, ihre zeitliche Ausdehnung und ihre Unterbrechungen schreiben sich auch in die Raumgestaltung der series ein. Exemplarisch wird dies anhand der 2011 ausgestrahlten Episode »Back to the Pilot« in Family Guy deutlich, in der Stewie und Brian in die intradiegetische Vergangenheit bzw. die Handlung der ersten Episode zurückreisen.175 Die Anwesenheit der Figuren in einer Welt, deren Ästhetik der Pilotepisode aus dem Jahr 1999 nachempfunden wurde, macht auf die qualitative Entwicklung der Animationsserie aufmerksam. Obgleich der diegetische Raum derselbe ist, wie anhand des Hauses der Griffins deutlich wird, ist der audiovisuelle Bildraum ein anderer, was von den Figuren bemerkt und reflektiert wird.176 Auf der Grundlage der im vorliegenden Kapitel zusammengefassten Forschungsergebnisse zu produktionstechnischen und ökonomischen Aspekten des Serienraums sowie seiner Distribution, Rezeption, Semantik und seiner Funktion im Prozess seriellen

170 Vgl. Family Guy (1999-), USA: FOX, Creators: Seth McFarlane/David Zuckerman. 171 Vgl. Adkins 2018, S. 95 sowie II.3.3.4 in dieser Arbeit. 172 Diese Feststellung geht auf einen Kommentar von Heinrich Winkler während einer Diskussion im Rahmen der Tagung #espace. Diskursive Streifzüge durch die raumtheoretische Praxis (Wien, 29.31.01.2020) vom 29.01.2020 zurück. 173 Vgl. Hißnauer 2014, S. 379. 174 Vgl. II.3.3.3 in dieser Arbeit 175 So wirkt die intradiegetische Vergangenheit im Vergleich mit den aus der Zukunft stammenden Stewie und Brian artifiziell und die im Lauf der Serienausstrahlung gestiegene technische Qualität des Animationsstils wird deutlich; vgl. Family Guy, S10E5, »Back to the Pilot«. 176 Vgl. zum Begriff des audiovisuellen Bildraums Schmidt 2013b, S. 273ff. sowie II.2.2 in dieser Arbeit.

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II. Theoretische Grundlagen

Erzählens kann eine erste Arbeitsdefinition festgehalten werden:177 Der Serienraum im Fernsehen bzw. Post-TV kann zur Umgebung von Figuren und ihren Handlungen werden. Er kann im Hinblick auf Figuren, Handlung und Zeit semantisiert sein und auf extratextuelle Diskurse referieren. Seine Semantiken bezüglich der genannten Elemente der storyworld und der extratextuellen Diskurse können sich verändern. Ebenso wie der diegetische Raum des Films wird der Serienraum im Zuge der Rezeption, der Erfahrung und des Verstehens »als Raumhypothese […] zunächst als analog zum Raum unserer Alltagswelt gedacht, mit Eigenschaften wie Dreidimensionalität, Homogenität und Kontinuität«.178 Er erstreckt sich intra- und/oder transmedial über mindestens zwei Erzählsegmente. Seine Serialität zeichnet sich sowohl durch Repetition als auch Variation in Bezug auf Orte und Räume aus. Strategien des seriellen Raumerzählens, die das Wechselspiel zwischen Wiederholung und Variation des Serienraums auf Ebene des discourse-space bestimmen, sind Expansion und Einengung sowie Verdichtung und Auflösung. Die Darstellung des Serienraums ermöglicht filmästhetische Erfahrungen wie Immersion und das Erleben von Atmosphären, trägt zur Orientierung oder Desorientierung innerhalb der storyworld bei und kann zur Gratifikation und Unterhaltung beitragen. Ein spezifisch serielles Merkmal mit Blick auf die Rezeption stellt die Wiedererkennung von intraseriell wiederholten Räumen und Orten dar. Der Begriff des seriellen Raums wird bewusst nicht als Synonym für den Serienraum verwendet und soll in Anlehnung an das Konzept der seriellen Figur von Shane Denson und Ruth Meyer für diejenigen Räume vorbehalten bleiben, die in Erzählungen wiederkehren, die auf die gleiche storyworld rekurrieren.179 Zu nennen wären u.a. Gotham, der titelgebende Handlungsraum für die jüngste fernsehserielle Erweiterung des BatmanKosmos180 sowie Duckburg als Zentrum unzähliger Comic- und zweier Fernsehserien um Donald und Dagobert Duck.181 Während der Serienraum innerhalb einer Serie besteht und entwickelt wird, sind serielle Räume in der Lage, diachron über mehrere Erzählungen und Medien hinweg zu ›wandern‹.

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Vgl. hierzu II.3.1, 3.2 sowie 3.3 in dieser Arbeit. Vgl. Schmidt 2013b, S. 117. Laut Denson/Meyer sind serielle Figuren wie Sherlock Holmes Akteure, die i.d.R. auf Serien zurückgehen und die mehrere Erzählungen unterschiedlicher Medien durchlaufen; Denson, Shane/ Mayer, Ruth (2012): Grenzgänger. Serielle Figuren im Medienwechsel. In: Kelleter, Frank. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript Verlag, S. 185–203, hier S. 185–190. Anders als Seriencharaktere, die innerhalb einer Serie entwickelt würden, blieben sie eher flach und vermehrten »sich durch mehr oder weniger mechanische Wiederholungen von prädeterminierten Mustern«; ebd., S. 189. Weil die serielle Figur an sich konstant bliebe, träten in der jeweiligen Erzählung eher die Variationen ihrer Inszenierung hervor. 180 Vgl. Gotham (2014–2019), USA: FOX, Creator: Bruno Heller. 181 Vgl. für die verschiedenen deutschsprachigen Comic-Serien, in denen Duckburg zum Handlungsort wird, das Mickey Maus-Magazin sowie das Lustige Taschenbuch, für Fernsehserien hingegen DuckTales (1987–1990), USA: Syndication, Creator: Jim Magon; sowie dessen reboot DuckTales (2017-2020), USA: Disney XD, Creator: Francisco Angones, Matt Youngberg.

4. Dystopie und Raum

4.1 Die Dystopie – Entwicklung und Eingrenzung 4.1.1 Definitionen: Utopismus, Dystopie, Anti-Utopie und kritische Dystopie Die Dystopie unterliegt wie andere Genres auch permanenten Veränderungen, bildet neue Formen aus und nähert sich anderen Feldern an.1 Die Aktualisierung des Genres durch verschiedene Texte und Medien sowie die bisweilen stark voneinander abweichenden Kategorisierungen von Dystopien im transdisziplinären Forschungsdiskurs führen zu einer immensen Vielfalt von Begriffen2 und Problemen in der wissenschaftlichen Beschreibung.3 Die im Folgenden vorgenommene Auswahl von Positionen aus der Dystopieforschung ist bereits mit Blick auf die sich anschließende Analyse serieller Dystopien und ihrer Räume getroffen worden. Zwar wird dadurch die sehr rege Debatte um Definitionen und Verwandtschaftsverhältnisse zu anderen Genres stark verkürzt, allerdings mit dem Ziel, Konzepte und Termini als handhabbare Analyseinstrumente zu schärfen.4 Im ersten Teil dieses Kapitels werden der Utopismus als Ursprung dystopischer Fiktion vorgestellt und die zentralen Termini Dystopie, Anti-Utopie sowie kritische Dystopie erläutert und voneinander abgegrenzt. Anschließend erfolgt ein Überblick über die

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Genres werden innerhalb dieser Arbeit in Anlehnung an Katja Hettich »als flexible Verständigungsbegriffe« verstanden, »deren Funktion und Bedeutung sich verändert, je nachdem, in welchen historischen, kulturellen, pragmatischen und wissenschaftlichen Kontexten sie verwendet werden«; Hettich, Katja (2017): Formen und Funktionen von Genrebenennungen. In: Stiglegger, Marcus (Hg.): Handbuch Filmgenre. Wiesbaden: Springer [Sammelband ohne durchgehende Paginierung], S. 1. Voigts 2015 nennt die folgenden Termini und ihre jeweiligen Vertreter: »evolutionist utopia and anti-utopia (Tuzinski), cacotopia (Mill, Burgess), Mätopie (Huntemann), negative utopia (Sargent, Broich, Rey), inverted and reverse utopia (Walsh), apotropäische Utopie (Hönig), black utopia (Saage), nasty utopia, devolutionist utopia, Gegenutopia (Seeber), pessimist utopia (Mauthe), anti-technical utopia (Sühnel)«; ebd., S. 1. Vgl. auch Layh 2014, S. 109f. Vgl. hierzu die Unterscheidung der ›klassischen‹ Dystopie zur Anti-Utopie sowie zur kritischen Dystopie innerhalb dieses Teilkapitels. Ein Abriss der literaturwissenschaftlichen Dystopieforschung findet sich in Claeys 2016, S. 275–284.

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II. Theoretische Grundlagen

historische Entwicklung des Genres, eine Unterscheidung der Dystopie von den angrenzenden Feldern Science-Fiction und apokalyptischen Fiktionen sowie ein kurzer Abriss über die Medien, in denen die Dystopie innerhalb der letzten Jahre besondere Popularität erfuhr. Im zweiten Teil des Kapitels werden ausgewählte Befunde aus der Forschung zu dystopischen Räumen in Literatur und Film vorgestellt, um die Ergebnisse der folgenden Untersuchung im Kontext der dystopischen Tradition auswerten zu können. Sargent ordnet die literarische Dystopie der Tradition des Utopismus zu. Dieses übergeordnete Phänomen definiert er als social dreaming – the dreams and nightmares that concern the ways in which groups of people arrange their lives and which usually envision a radically different society than the one in which the dreamers live. But not all are radical, for some people at any time dream of something basically familiar.5 Der Utopismus schlage sich in der Literatur, in Theorien über Gesellschaftsentwürfe und kommunalen Gemeinschaften nieder, die ihrerseits Traditionen und Variationen herausgebildet hätten. Im Gegensatz zu anderen Theorien ist die literarische Utopie bei Sargent weniger zwangsläufig als positiver oder gar perfekter Entwurf einer fiktiven Welt beschrieben, sondern stellt wiederum eine übergeordnete Kategorie dar, die sich sowohl in Form einer besseren Gesellschaft, also der Eutopie, als auch in Form von Dys- und Anti-Utopien manifestieren könne. Diese Hierarchisierung lässt sich u.a. durch die Etymologie des Lexems ›Utopie‹ verstehen: The word utopia or outopia simply means no or not place. Topos means place; »u« or »ou« means »no« or »not«. Thomas More, inventor of the word, punned on eutopia or good place, and we have since added dystopia or bad place. […] [T]he primary characteristic of the utopian place is its non-existence combined with a topos – a location in time and space – to give verisimilitude. In addition, the place must be recognizably good or bad or at least would be so recognized by a contemporary reader. All fiction describes a no place; utopian fiction generally describes good or bad no places.6 Sargent betont, dass die Bestimmung utopischer Texte vom jeweiligen historischen Kontext, von den Intentionen ihrer Autoren sowie von den Lesarten zeitgenössischer Rezipienten abhängt, zeigt zugleich aber auf, dass die Offenlegung dieser Kriterien nicht immer möglich ist und darüber hinaus die Intention der Autoren der Wahrnehmung der Leser entgegenstehen kann.7 Der Bezug des historischen Kontextes auf den Text wird insbesondere mit der didaktischen Funktion von Dys- und Eutopie deutlich: »The traditional dystopia was an extrapolation from the present that involved a warning. The eutopia says if you behave thus and so, you will be rewarded with this. The dystopia, in the

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Sargent 1994, S. 3. Vgl. auch Claeys 2013, S. 14. Vgl. für die folgende Darstellung Sargent 1994, S. 3–9. Sargent 1994, S. 5. Die mögliche Inkongruenz zwischen den Perspektiven von Autoren und Lesern wird besonders deutlich in einem Zitat von Booker (1994): »›one man’s utopia‹ is ›another man’s dystopia‹«, zit. in Voigts 2015, S. 4.

4. Dystopie und Raum

tradition of the jeremiad, says if you behave thus and so, this is how you will be punished«.8 Sargent schlägt die folgende Definition der Dystopie vor: »Dystopia or negative utopia – a non-existing society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably worse than the society in which that reader lived«.9 Diese Beschreibung mutet einigermaßen vage an und könnte auch für Erzählungen des Horror-Genres oder einige naturalistische Dramen Anwendung finden. Allerdings erscheint sie mit Blick auf die beträchtliche Vielfalt des Genres und seine zahlreichen Ausprägungen, die auf die jeweils unterschiedlichen Reaktionen von Dystopien auf ihre zeitgenössischen Probleme zurückzuführen sind, notwendig. Allein in den Dystopien der Literatur aus den USA und dem Vereinigten Königreich zwischen der Nachkriegszeit und dem Ende des 20. Jahrhunderts besteht eine immense Themenvielfalt.10 Die 1950er Jahre sind von Ängsten vor Kapitalismus und Kommunismus bestimmt, die 1960er sind hingegen durch eine diffuse Untergangs-Paranoia gekennzeichnet, die sich in der Gleichzeitigkeit von Schwerpunkten wie Überbevölkerung und sozialer Isolation, dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und dem drohenden Polizeistaat, Erderwärmung und dem Leben nach dem Dritten Weltkrieg niederschlägt. Überbevölkerung und Umweltzerstörung dominieren auch die dystopische Literatur der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren prägt besonders feministische Kritik die Dystopie. Die bereits genannten Themen werden in den 1990er Jahren um die Schwerpunkte globale Unfruchtbarkeit, Misstrauen in religiöse Organisationen und eine Vorliebe für post-apokalyptische Settings unter dem Eindruck des bevorstehenden Millenniums ergänzt. Angesichts dieser Aufzählung wird deutlich, dass eine rein thematische oder zeitliche Eingrenzung nicht möglich ist und auch die Perspektiven von Textproduzenten und -rezipienten für die Definition ausschlaggebend sind. Claeys meldet Bedenken hinsichtlich von Dystopie-Definitionen an, die sich an den schwer zu bestimmenden Kriterien der Autorintention und Leserperspektive abarbeiten.11 Neben der Variation innerhalb des Genres sieht er Schwierigkeiten in der Formulierung einer konsistenten Definition mit Blick auf Texte, die sowohl eutopische als auch dystopische Elemente beinhalten.12 Claeys bezieht sich in seiner Definition stattdessen stärker auf inhaltliche Kriterien: Ein spezifisches Merkmal der Dystopie sei ihre Konzentration auf sozial-politische Fragen.13 In Abgrenzung zu Erzählungen über Naturkatastrophen und apokalyptische Szenarien ist aus seiner Sicht die »dystopia proper«14 eine 8

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Sargent 1994, S. 8; vgl. auch Sargent, Lyman Tower (2013): Do Dystopias Matter? In: Vieira, Fátima (Hg.): Dystopia(n) Matters: On the Page, on Screen, on Stage. Newcastle: Cambridge Scholars, S. 10–13, hier S. 12. Sargent 1994, S. 9. Vgl. bis zum Ende dieses Absatzes Claeys 2016, S. 453–481. Vgl. Claeys 2016, S. 280f. Vgl. Ebd., S. 273, 281. Claeys’ Charakterisierung stützt sich auf eine Analyse von über 150 schriftliterarischen Dystopien, die zwischen dem 18. und 21. Jahrhundert erschienen sind und überwiegend aus den USA oder Großbritannien stammen; vgl. ebd. 2016, S. 270. Ebd.

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II. Theoretische Grundlagen

Erzählung, in der eine substantielle Mehrheit Unterdrückung als Konsequenz menschlicher Handlungen erleidet: »Here the estrangement and isolation of individuals, and their fear of each other, are central, as well as the ways this is engineered by external, usually collectivist, authorities. Sometimes these are projections of existing political trends, or satires upon them«.15 Insofern attestiert auch Claeys literarischen Dystopien eine didaktische Funktion, da sie die negativen Konsequenzen gegenwärtiger Probleme der extratextuellen Gesellschaft innerhalb einer fiktiven, meist zukünftigen Welt zugespitzt darstellen und ihre Rezipienten dadurch zum Umdenken anregen.16 Claeys plädiert dafür, Dystopien unter drei Gesichtspunkten zu untersuchen: Autorintention, der antizipierten Reaktion der Leser im historischen Kontext sowie des Inhalts – »all of which are interwoven with the interpreter’s perspectives on the text«.17 Eine inhaltsbezogene Analyse vor dem Hintergrund des historischen Kontextes lenke den Blick auf die sozialen Beziehungen innerhalb der fiktiven Welten und sei besonders relevant, da Despotismus ein zentrales Thema moderner Dystopien sei.18 In what follows, then, literary dystopias are understood as primarily concerned to portray societies where a substantial majority suffer slavery and/or opression as a result of human action. Privileged groups may benefit from this. Others may escape it, either to a condition of previous (preferable) normality or to something better.19 Der seinerzeit und gegenwärtig immer noch verbreiteten Gleichsetzung der Termini Dystopie und Anti-Utopie widerspricht Sargent und schlägt vor, den Begriff der AntiUtopie für all diejenigen Dystopien zu reservieren, die als Kritik an einer bestimmten Eutopie oder am Utopismus generell formuliert werden.20 Auch Layh folgt dieser Differenzierung. Sie konstatiert, dass die Tradition der Utopie seit jeher begleitet sei von einer ebenso langen Traditionslinie anti-utopischen Denkens, das sich in einem breiten Spektrum außerliterarischer – politischer, soziologischer oder philosophischer – Kritik an der Utopie/dem Utopischen bzw. in einer Ablehnung der utopischen Intention äußert, die von der innerliterarischen Selbstkritik des Utopischen zu differenzieren ist. […] Die Utopie wird somit seit dem 19. Jahrhundert zur Zielscheibe utopiefeindlicher Kritik von kommunistisch-sozialistischer wie konservativer Seite gleichermaßen, wenn auch die jeweilige Perhorreszierung des Utopischen argumentativ ganz unterschiedlich begründet wird.21 Ein zeitgenössischer Vertreter der Anti-Utopie ist Layh zufolge Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, der »die unaufhaltsam fortschreitende Demontage und Zersetzung der Utopie des Realsozialismus plastisch« vorführt.22 Peter 15 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 290. Vgl. ebd., S. 270. Ebd., S. 290. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Sargent 1994, S. 8f. Layh 2014, S. 114f. Ebd., S. 128.

4. Dystopie und Raum

Fitting formuliert den Unterschied zwischen Dystopie und Anti-Utopie besonders treffend: Während die Dystopie mit ihrer Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft deren Veränderung fordere, verteidige die Anti-Utopie deren gegenwärtigen Zustand.23 Die Dystopie ist aufgrund ihrer didaktischen Funktion progressiv, die Anti-Utopie hingegen fortschrittsfeindlich. Dennoch liegen Anti-Utopien insofern meist in Form von Dystopien vor, als sie ihre Kritik am Utopismus in fiktiven Gesellschaften zum Ausdruck bringen, deren Bemühungen um eine ›bessere‹ Welt – meist gepaart mit Perfektionismus24 – sich in die Realisation totalitärer Staaten oder andere, im weitesten Sinne schlechtere Orte, umkehren. Seit den 1970er Jahren bildet sich ein neuer Typus der Dystopie heraus,25 der meist mit dem Schlagwort critical dystopia bzw. kritischen Dystopie bezeichnet wird, dessen Benennung und Definition jedoch je nach Forscher variiert.26 Meist wird den fiktiven Welten der kritischen Dystopien jedoch das Potential für eutopische bzw. bessere Gesellschaften attestiert: »[T]he ›critical dystopia‹ describes worlds which authors ›intended a contemporaneous reader to view as worse than contemporary society‹ but which usually include ›at least one eutopian enclave or holds out hope that the dystopia can be overcome and replaced with a eutopia‹«.27 Layh entwickelt in ihrer Studie Finstere neue Welten ein Konzept der kritischen Dystopie, das nicht auf einen zeitlichen Rahmen festgelegt ist und sowohl inhaltliche als auch formalästhetische Kriterien zu deren Bestimmung heranzieht. Zu ihrer vielfältigen Textgrundlage gehören auch Filme aus dem Zeitraum zwischen den 1960er und 1980er Jahren, da in diesen eine »Antizipation der kritischen Dystopie« zu Tage trete und einer der Anfänge des Diskurses zu dieser neuen Form des Genres in der Filmanalyse liege.28 Innerhalb ihrer Monographie verfolgt sie die These, dass sowohl die Utopie (im Sinne der Eutopie) als auch die Dystopie einen Paradigmenwechsel innerhalb des 20. Jahrhundert und insbesondere ab den 1980er Jahren unterlaufen haben.29 Laut Layh bedienen sich Autorinnen wie Octavia Butler, Marge Piercy, Ursula K. Le Guin und Margaret Atwood des Potenzials der dystopischen Erzählform und dehnen gleichzeitig deren formale Grenzen innovativ mit Hilfe metafiktionaler narrativer Strategien und postmoderner

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Vgl. Fitting, Peter (2010): Utopia, dystopia and science fiction. In: Claeys, Gregory (Hg.): The Cambridge Companion to Utopian Literature. Cambridge: Cambridge University Press, S. 135–153, hier S. 141. Sargent 1994 betont, dass Utopien nicht mit Vorstellungen von Perfektion in Verbindung stehen, sondern dass ihnen dieses Charakteristikum von Anti-Utopisten zugeschrieben werde, um dem Utopismus den Drang nach Kontrolle, wenn nötig auch mit Gewalt, und somit die Tendenz zum Totalitarismus unterstellen zu können; vgl. ebd., S. 9f., 21ff. Vgl. ebd. Vgl. Layh 2014, S. 176–178. Claeys 2016, S. 281. Claeys’ Formulierung lehnt sich bewusst an Sargents Definitionen von ›Subgenres‹ des literarischen Utopismus an. Als Reaktion auf das Konzept der kritischen Utopie von Moylan 1986 wirft Sargent 1994 erstmals die Möglichkeit einer kritischen Dystopie auf; Sargent 1994, S. 8f. Layh weist jedoch darauf hin, dass der Diskurs zur kritischen Dystopie bereits 1986 durch einen filmanalytischen Beitrag von Constance Penley angestoßen wurde; vgl. Layh 2014, S. 179–181. Layh 2014, S. 179. Vgl. ebd., S. 23ff.

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II. Theoretische Grundlagen

Erzählspiele aus. Dadurch unterlaufen diese Texte konventionelle utopische und dystopische Erzählmuster und entziehen sich den herkömmlichen Gattungsschemata.30 Layhs Konzept der kritischen Dystopie zeichnet sich 1.) durch eutopische Elemente innerhalb des Textes, 2.) durch eine sich ausschließlich in der Rezeption herausbildende eutopische Funktion sowie 3.) das Hinterfragen und Dekonstruieren von Gattungskonventionen und metafiktionale Strategien aus. 1.) Kritische Dystopien entwerfen Layh zufolge im Unterschied zu ›klassischen‹ Texten wie Nineteen Eighty-Four oder Swastika Night keine ausschließlich ausweglosen sozialpolitische Situationen, sondern enthalten auch eutopische Orte und signalisieren Hoffnung auf positive Veränderungen innerhalb der Fiktion.31 Dies könne durch die Darstellung einer Gesellschaft geschehen, die der außertextuellen gleicht und zeitlich vor der dystopischen Gesellschaft angeordnet ist, wodurch eine sozial-politische Entwicklung vor dem dystopischen ›Endzustand‹ angedeutet wird.32 Weiterhin kann das subversive Potential von Literatur innerhalb der Fiktion erfolgreiche revolutionäre Bestrebungen auslösen. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen kanonischen und ›neuen‹ Dystopien bestehe im jeweiligen Finale: Die ›klassische‹ Dystopie ende hoffnungslos, die kritische zeichne sich hingegen durch einen Schluss aus, in dem der Fortgang der Handlung ungewiss oder ambivalent sei. Als Beispiele führt die Autorin u.a. The Handmaid’s Tale und die der Erzählung angefügten ›Historical Notes‹ an, die implizieren, dass die regressive christlich-fundamentalistische Welt zerstört und die Protagonistin Offred gerettet werden konnte. Die Utopie bzw. Eutopie würde in solchen Texten als ›Subtext‹ realisiert, da sie nicht klar fixiert werden kann. Auch in diesem Beispiel offenbart sich die gesellschaftliche Dynamik als Charakteristikum der kritischen Dystopie. Die in den Enden kritischer Dystopien zu Tage tretende eutopische Funktion würde darüber hinaus durch erfolgreiche intradiegetische Widerstandsbewegungen verstärkt. 2.) Anders als die traditionelle nimmt die kritische Dystopie laut Layh Anstoß an der textexternen Gesellschaft, in dem sie bestehende Probleme extrapoliere und in die Zukunft verlege. Das »Spannungsfeld« zwischen empirischer und fiktiver Welt habe eine »utopische [bzw. eutopische] Funktion« und berge eine »klare Warnung« an die Rezipienten.33 Das Eutopische in den kritischen Dystopien werde nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern in den Texten ohne die oben genannten innertextuellen eutopischen Elemente im »›utopische[n] Anderswo‹« sichtbar, dass sich »in den Leerstellen innerhalb der dystopischen Narration« zeigt.34 Layh argumentiert, dass die »im 20. Jahrhundert zunehmende Unfähigkeit, sich positive utopische Welten vorstellen zu können, […] zu dystopischen Gesellschaftsentwürfen« führt, in denen gerade die Abwesenheit des Eutopischen auf das Eutopische verweist.35 Es bleibe bestehen, weil es sich auf die Rezeptionsebene verlagere: 30 31 32 33 34 35

Ebd., S. 25. Vgl. hier und für die folgende Darstellung Layh 2014, S. 182–204. Als Beispiel führt Layh die vielfältigen Analepsen in The Handmaid’s Tale an, die auf das ›zeitgenössische‹ Amerika verwiesen. Layh 2014, S. 182. Ebd., S. 192. Ebd., S. 193.

4. Dystopie und Raum

Gerade die De- und erneute Rekonstruktion der traditionellen dystopischen Narration bringt das Utopische [bzw. Eutopische] in der Leerstelle als ›a signified that is deferred‹ zur Entfaltung durch die Reaktion der Leserschaft auf und in ihrer Rezeption von kritischen Dystopien. Das dem Terminus Dystopie in der Gattungsbezeichnung beigefügte Adjektiv kritisch impliziert demzufolge auch die Rezeptionsebene in Form einer den Text aktiv-kreativ mitgestaltenden Leserschaft, welche dessen Leerstellen phantasievoll mit Assoziationen füllt, da sie nuanciert über die eigene zeitgenössische Realität reflektiert.36 3.) Die Verbindung eutopischer und dystopischer Elemente, die die kritische Dystopie von ihren ›klassischen‹ Vorgängern abgrenze, werde vor allem im Spiel mit formalen Charakteristika der Genres deutlich. Formale Konventionen der ›traditionellen‹ Dystopie würden nur übernommen, um sie zugleich kritisch zu beleuchten und in neue Formen aufzulösen. Kennzeichnend für die kritische Dystopie sei außerdem die Verbindung mit anderen Gattungen; in der Literatur z.B. mit dem historischen Roman, Briefroman oder Tagebuch, im Film wiederum mit Genres wie Film Noir, Kriminalgeschichte, Agentenkomödie oder Science-Fiction.37 Die Hybridität der kritischen Dystopie schaffe »auf innovative Weise Raum für Gesellschaftskritik und die damit verbundene utopische [eutopische] Intention«.38 Eine besondere Affinität kritischer Dystopien bestehe zur Darstellung feministischer Kritik, die wiederum die Umgestaltung des Genres vorantreibe, Zweifel an der Geschlossenheit von eutopos und dystopos äußerten und die Prägung der dystopischen Tradition durch vor allem männliche Schriftsteller aufdeckten. Darüber hinaus sei die kritische Dystopie durch metafiktionale Strategien gekennzeichnet, die den Fiktionalitätscharakter und die ›Gemachtheit‹ des Textes betonen sowie durch intertextuelle Verweise, die auf die Tradition von Eutopie und Dystopie aufmerksam machen. Layhs Ausarbeitung des Konzeptes der kritischen Dystopie besticht durch die vielfältige Textbasis sowie eine genaue Analyse der Romane und Filme. Obgleich Layh eindrucksvoll die Veränderungen von der ›traditionellen‹ zur kritischen Dystopie nachzeichnet, versäumt sie es, Kontinuitäten zwischen den Textgruppen aufzuzeigen. In der Extrapolation der außertextuellen Gegenwart liegt nicht etwa ein Unterschied, der die kritische von der traditionellen Dystopie abhebt, sondern eine deutliche Gemeinsamkeit beider Textgruppen. Zudem ist das von Layh als zentrales Merkmal formulierte Charakteristikum der kritischen Dystopie, nämlich die intradiegetische Möglichkeit, die bestehende schlechtere Welt zu verbessern oder sie gar zu überwinden, bereits in Nineteen Eighty-Four angelegt, nicht unähnlich der narrativen Komposition von The Handmaid’s Tale: Auch Orwells Roman enthält eine Art Anhang, nämlich eine fiktive sprachgeschichtliche Aufbereitung von Newspeak, der impliziert, dass Oceania und Big Brothers totalitäres System zerstört werden konnten.39 Auch die von Layh auf Ebene 36 37 38 39

Ebd., S. 194. Als Beispiel führt Layh den Film Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (1965) von Jean-Luc Godard an. Ebd., S. 187. Vgl. zu diesem Kritikpunkt Atwood, Margaret (20.01.2012): Haunted by The Handmaid’s Tale. In: The Guardian. https://www.theguardian.com/books/2012/jan/20/handmaids-tale-margaret-atwo

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der Rezeption betonte eutopische Funktion, die u.a. dadurch zustande kommt, dass das Eutopische ausgelassen bzw. verneint wird und somit – im Sinne von Sargents didaktischer Funktion – an die Rezipienten delegiert wird, wird bereits in der Lektüre von Wir oder Swastika Night realisiert.40 Problematisch ist darüber hinaus die Vorstellung, dass die Abwesenheit des Eutopischen als Signal für kritische Dystopien steht; zum einen, weil damit kein Unterschied zur traditionellen Dystopie auf Ebene des Textes besteht, zum anderen, weil die Interpreten zur Differenzierung zwischen ›traditioneller‹ und ›neuer‹ Dystopie doch wieder auf Kriterien wie Erscheinungszeit und formale Analyse zurückgeworfen werden. Zur Schärfung des von Layh entwickelten Begriffs und der Abgrenzung zwischen traditionellen Dystopien wie Wir und kritischen Dystopien wie Alphaville, The Handmaid’s Tale oder Brazil kann auf Gerald Farcas Unterscheidung zurückgegriffen werden: In Playing Dystopia, einer Untersuchung von Videospiel-Dystopien, spricht er der klassischen Dystopie durchaus eine eutopische Funktion zu, allerdings liege diese nicht im Bereich der gameworld, sondern manifestiere sich auf Seiten der Rezipient.41 Die kritische Dystopie wiederum bildet laut Farca eutopische Elemente innerhalb ihrer fiktiven Welt aus – diese können z.B. in widerständigen Enklaven oder subversiven Bestrebungen bestehen. Die Produktivität der kritischen Dystopie für gegenwärtige serielle Dystopien zeigt sich bereits anhand einer oberflächlichen Überprüfung einiger Beispiele aus der Kinderund Jugendliteratur. Die scheinbar unveränderbare Gesellschaft in Suzanne Collins’ The Hunger Games-Trilogie, deren Bevölkerung totalitär regiert, räumlich in Distrikte und somit zugleich in vorgefertigte sozial-ökonomische Muster gezwängt wird, erfährt durch den erfolgreichen Aufstand einer Gruppe von Rebellen eine Dynamisierung.42 Deutliche intertextuelle Referenzen auf das Genre und somit eine Markierung des Fiktionalitätscharakters liegen z.B. im ersten Teil der Filmadaption The Hunger Games vor, in einer Szene um Bergarbeiter aus Distrikt zwölf, die die Heimkehr der Arbeiter in die Stadt unter Tage in Metropolis von Fritz Lang aufruft.43 Eine Dekonstruktion traditioneller Genremuster besteht hingegen darin, dass statt eines männlichen Sytemvertreters aus der Mitte der dystopischen Gesellschaft eine unter dem Despotismus leidende junge

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od, aufgerufen am 2.09.2020; sowie Spiegel, Simon (2017): [Rezension zu] Layh, Susanna: Finstere neue Welten: Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg 2014. In: Journal of the Fantastic in the Arts, S. 163–165, hier S. 165. Vgl. hierzu Kuon: »Der utopische Rest der Dystopie liegt in ihrer Funktion, durch die ausführliche Schilderung einer negativen Gesellschaft und ihrer Auswirkungen auf das Individuum vor gegenwärtigen Entwicklungen zu warnen, um zu verhindern, dass die Prognose Wirklichkeit wird«; Kuon, Peter (2013): Utopie/Dystopie. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 328–335, hier S. 334. Vgl. Farca, Gerald (2018): Playing Dystopia. Nightmarish Worlds in Video Games and the Player’s Aesthetic Response. Bielefeld: transcript, S. 92–94. Farcas Einteilung geht in Anlehnung an Tom Moylan die Entwicklung eines Kontinuums voraus, dass sich zwischen den Polen »Utopie« (als Eutopie) und »Anti-Utopie« erstreckt. Dadurch können Dystopien nach ihrem Grad an Hoffnung klassifiziert werden, den sie in der Rezeption erzeugen oder innertextuell abbilden; vgl. ebd., S. 74–78. Vgl. Collins 2008, 2009, 2010. Vgl. The Hunger Games (2012), USA, Regisseur: Gary Ross.

4. Dystopie und Raum

Frau den Umsturz anführt und zum Erfolg bringt. Die Eleria-Trilogie von Ursula Poznanski ähnelt der Hunger Games-Serie deutlich, verfügt darüber hinaus aber ebenso über ein offenes Ende wie die Scanner-Serie von Robert M. Sonntag und die Ocean City-Trilogie von R.T. Acron: Zwar werden in diesen seriellen Dystopien die jeweiligen totalitären Systeme durch die Aktivität von Rebellen und Outlaws zerstört, die Transformation in eine Gesellschaft, die für die Mehrheit dauerhaften Frieden, Wohlstand oder andere als erstrebenswert angesehene Werte garantiert, steht aber noch aus, womit die kritischseriellen Dystopien diese Aushandlungsprozesse an die Rezipienten delegieren.44

4.1.2 Historische Entwicklung Die etymologische Geschichte der Dystopie beginnt 1747 in Dublin mit dem anonym veröffentlichten Gedicht Utopia: or Apollo’s Golden Days.45 Bei der Variante »›dustopia‹« scheint es sich um eine fehlerhafte Verschriftung von »dystopia« zu handeln.46 Vesselin M. Budakov konnte feststellen, dass es sich dabei nicht um eine isolierte Verwendung des Begriffes handelte, da ein Nachdruck des Gedichtes ein Jahr später im Londoner The Gentleman’s Magazine veröffentlicht wurde. Aus dieser Version, in der das Lexem »dystopia« verwendet wird, geht hervor, dass der Terminus dem Begriff der Utopie bzw. Eutopie entgegensteht, wie auch die Fußnoten, die das Gedicht begleiten, belegen. In diesen wird die Dystopie als »›unhappy country‹« beschrieben und mit der Eutopie kontrastiert.47 Weitaus bekannter dürfte die Verwendung des Terminus durch John Stuart Mill 1886 in einer Rede vor dem britischen Parlament sein, in der er die britische Politik in Irland kritisiert und deren Befürworter als »›cacotopians‹«, nach dem Griechischen als Bewohner eines ›schlechten Ortes‹, und »›dys-topians‹« bezeichnete.48 Laut Claeys findet der Begriff dystopia im späten 20. Jahrhundert Eingang in den Sprachgebrauch ein, allerdings vornehmlich in der Forschung zur Gegenwartsliteratur.49 In seiner Studie Dystopia: A Natural History zeichnet Claeys die Genese des Genres nach. Dessen Bezugspunkte liegen erstens in der Entwicklung des Totalitarismus und der Geburt der Masse als politischer Größe seit der Französischen Revolution sowie deren verschiedener Rollen in den wichtigsten politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere des Faschismus und Nationalsozialismus sowie des Bolschewismus, Stalinismus und Maoismus.50 Als zweite Quelle der literarischen

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Vgl. die Eleria-Trilogie: Poznanski, Ursula (2016 [2012]): Die Verratenen; (2017a [2013): Die Verschworenen; (2017b [2014]): Die Vernichteten. Bindlach: Loewe; die Scanner-Serie: Sonntag, Robert M. [Martin Schäuble] (2017 [2013]): Die Scanner; (2019): Die Gescannten. Frankfurt a.M.: Fischer; sowie die Ocean-City-Trilogie: Acron, R.T. [Christian Tielmann, Frank Maria Reifenberg] (2018a): Ocean City – Jede Sekunde zählt; (2018b): Ocean City – Im Versteck des Rebellen; (2019): Ocean City – Stunde der Wahrheit. München: dtv. Vgl. hier und für die folgende Darstellung Budakov, Vesselin M. (2010): Dystopia: An Earlier Eighteen-Century Use. In: Notes and Queries 57.1, S. 86–88. Budakov 2010, S. 86. Ebd., S. 87f. Claeys 2016, S. 273. Ebd. Vgl. ebd., S. 113–268.

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Dystopie macht Claeys Fiktionen des Wunderbaren in früher Neuzeit und Mittelalter aus, insbesondere von Monstern und Dämonen, sowie deren säkulare Manifestation, zu denen ab dem 18. Jahrhundert vor allem die Gothic Fiction gehören, später aber auch das Horror-Genre sowie der eher düstere Teil der Science-Fiction.51 Innerhalb der Fiktion und insbesondere der Literatur gilt für Claeys jedoch vor allem die Tradition der literarischen Utopie als Ursprung der Dystopie: Utopia comes into its own as a popular literary genre in the late nineteenth century. Dystopia emerges from the same set of problems: how to control industrialization, widespread poverty, the concentration of wealth, and an increasing tendency towards collectivist solutions to these issues. But in an age also characterized by growing individualism, some saw the more repressive and puritanical attributes of the older utopian tradition as part of the problem rather than of the solution. Homogeneity, uniformity, transparency and mutual supervision, abstinence from luxury, the suppression of dissent and privacy, and the intolerance of heresy figure in many early modern utopias from More onwards.52 Die ersten Dystopien, die Claeys Definition der dystopia proper am nächsten kommen, stammen aus der Zeit der Französischen Revolution, wobei von einem Genre erst ab den 1870ern gesprochen werden könne.53

4.1.3 Abgrenzung von Fiktionen der (Post-)Apokalypse und Science-Fiction Im Laufe der Entwicklung des Genres tritt eine Vielzahl an Variationen auf, die die Nähe der literarischen Dystopie insbesondere zu apokalyptischen und post-apokalyptischen Szenarien sowie zur Science-Fiction verdeutlichen. Daraus resultieren weitere Schwierigkeiten der Abgrenzung. In einigen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft begründet die Auseinandersetzung über die Grenzen zwischen Science-Fiction und Dystopie fast schon eine eigene Tradition.54 In der Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur und -medien sowie der Literatur- und Mediendidaktik, in der nicht zuletzt seit den 2000ern Publikationen zur Dystopie sowie zur Apokalypse stark zunehmen,55 werden Dystopie 51 52 53

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Vgl. ebd., S. 58–109. Ebd., 274. Vgl. ebd., S. 270. Vgl. auch Stableford 2020, der der als ersten dystopischen Text The Tale of the Future aus dem Jahr 1644 nennt – »a tract […] warning of the terrible disaster which would follow were the monarchy to be restored«; ebd. Claeys Fokus liegt auf politisch orientierten Dystopien und Anti-Utopien, die seiner enger gefassten Definition entsprechen. Ausgelassen werden vor allem ab den 1950er Jahren jugendliterarische Dystopien, Texte der dystopischen Science-Fiction, dystopische Computerspiele sowie fiktionale Darstellungen des Holocaust und der Gulags; ebd., S. 448. Vgl. hierzu neben der folgenden Darstellung in diesem Kapitel Fitting 2010, S. 135–153. Vgl. u.a. Glasenapp, Gabriele von (2013): Apokalypse now! Formen und Funktionen von Utopien und Dystopien in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ewers, Hans-Heino/Glasenapp, Gabriele von/ Pecher, Claudia (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 67–86; Roeder, Carolin (2012): Die Dystopie als Dschungelcamp. Traditionelle Zukunftskritik und postapokalyptische Arena-Szenarien in aktueller All-Age-Literatur. In: Der Deutschunterricht 64.4, S. 36–45; sowie die Zeitschriften JuLit 1 (2014)

4. Dystopie und Raum

und Science-Fiction kaum voneinander differenziert56 und in der Filmwissenschaft existiert die Dystopie oder der dystopische Film schlichtweg nicht als eigenständiges Genre.57 Ungeachtet dessen gibt es gute Gründe für eine Unterscheidung der Genres innerhalb der Forschung, wie im Folgenden dargestellt wird. Häufig werden Dystopie, Science-Fiction und Apokalypse-Fiktionen nicht als getrennte Kategorien behandelt. In der Filmwissenschaft und u.a. durch Simon Spiegel wird die Position vertreten, die Dystopie sei ein Subgenre der Science-Fiction.58 Spiegel definiert die Science-Fiction über die Kriterien des Novums, also ein Element, das in der extratextuellen Welt nicht möglich ist, aber über eine technizistische Ästhetik sowie über die Naturalisierung als Versuch, »zumindest oberflächlich[] Bezug auf ein wissenschaftlich-technisches Weltbild« zu nehmen, plausibilisiert wird.59 Die Science-Fiction solle folglich »als fiktional-ästhetische[r] Modus« bezeichnet werden, »der den Aufbau und die Darstellungsweise der fiktionalen Welt beschreibt«.60 Als solch ein Modus sei die Science-Fiction umfassender »als ein ›klassisches‹ Genre« und beschreibe einen »Typus fiktionaler Welten, in dem typische Science-Fiction-Genres wie etwa Invasionsfilm, die Space Opera, der Superheldenfilm oder die Dystopie angesiedelt« seien.61 Laut Eckart Voigts lassen sich Science-Fiction, Dystopie und Post-Apokalypse-Erzählungen nicht präzise voneinander trennen und zeichnen sich insbesondere durch

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[Thema der Ausgabe: »Bis ans Ende der Zeit: Zukunftsentwürfe und Zeit-Räume in der Literatur für Jugendliche«] und kjl&m. Kinder- und Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek 64.3 (2012) [Thema der Ausgabe: »Kein Ort. Niemals? Endzeitstimmung und Dystopie als Themen der Kinder- und Jugendliteratur«]. Vgl. Kröber, Franz (2022a): Die Lust am Untergang. Vorschläge zu einer Didaktik der Dystopie. In: Stauffer, Isabelle/Dziudzia, Corinna/Tatzel, Sebastian (Hg.): Utopien und Dystopien. Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe. Bielefeld: Aisthesis, S. 73–90, hier S. 75–81. Abgesehen davon, dass Dystopien im Film in filmwissenschaftlichen Publikationen überwiegend als Science-Fiction klassifiziert werden, wie im Verlauf dieses Kapitels zu sehen ist, enthalten z.B. auch neuere Überblickswerke zu filmischen Genres keinen eigenständigen Eintrag zur Dystopie oder Utopie; vgl. Kuhn, Markus/Haffke, Irina/Weber, Nicola Valeska (Hg.) (2013): Filmwissenschaftliche Genreanalyse: eine Einführung. Berlin/Boston: De Gruyter; Stiglegger, Marcus (Hg.) (2017): Handbuch Filmgenre. Wiesbaden: Springer. Layh konstatiert, dass »keine umfangreichen filmanalytischen Studien, die sich konkret mit dem Phänomen des dystopischen Films beschäftigen«, existieren; ebd. 2014., S. 179, Anm. 564. Eine Ausnahme mag die folgende soziologische Studie zur Darstellung von Zukunftsängsten im dystopischen Spielfilm bilden: Akremi, Leila (2016): Kommunikative Konstruktion von Zukunftsängsten. Imagination zukünftiger Identitäten im dystopischen Spielfilm. Wiesbaden: Springer. Vgl. auch Darko Suvin, zit. in Claeys 2016, S. 288. Spiegel, Simon (2013a): Science Fiction. In: Kuhn, Markus/Haffke, Irina/Weber, Nicola Valeska (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse: eine Einführung. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 245–262, hier S. 247–248. Ebd., S. 249, Herv. i. O. Ebd., Herv. i. O. Die gleiche Argumentation findet sich in Schmeink, Lars/Spiegel, Simon (2017): Science Fiction. In: Stiglegger, Marcus (Hg.): Handbuch Filmgenre. Wiesbaden: Springer [Sammelband ohne durchgehende Paginierung], S. 2f. Fitting konstatiert, dass die Beschreibung der Science-Fiction äußerst problematisch ist und es bisher keine einzelne weithin akzeptierte Definition gibt; einflussreich sei aber vor allem die Science-Fiction-Theorie Suvins 1979, in der Utopie und Dystopie ebenfalls Subgenres darstellten; vgl. Fitting 2010, S. 135.

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II. Theoretische Grundlagen

»speculation and extrapolation« sowie »›the imaginative inhabitation of new possibilities‹« aus.62 Die post-apokalyptische Fiktion sei an der Grenze zwischen Science-Fiction, Horror und Eutopie bzw. Dystopie zu verorten.63 Obgleich das Motiv der Katastrophe sowohl häufig in dystopischen als auch Science-Fiction-Szenarien vorkomme, handele es sich erst um Apokalypse-Erzählungen, sobald eine Form der Offenbarung vorliege.64 Weitere Charakteristika der post-apokalyptischen Erzählung seien »›journeys through the wasteland created by the cataclysm; attempts to establish a new community; the re-emergence of violence and conflict; often, but not always, a return to civilization‹«.65 Roland Innerhofer stellt ebenfalls eine deutliche Überschneidung von Science-Fiction sowie Utopie bzw. Eutopie und Dystopie fest, allerdings nur in Bezug auf »das anspruchsvollste Segment der S[cience] F[iction]«: Dass der quantitativ weitaus überwiegende Teil der SF äußerst handlungsbetont ist und auf simplen Vorannahmen beruht, wird in den akademischen Genrediskussionen oft entweder ignoriert oder beklagt. Doch ist es gerade dieses aufs Handeln ausgerichtete Erzählen, das den deutlichsten Unterschied zwischen SF und Utopie oder Dystopie markiert.66 Innerhofer sieht den entscheidenden Unterschied zwischen den Genres darin, dass Eutopien und Dystopien statische Gesellschaften präsentieren, während die Science-Fiction offene und prozesshafte Welten abbildet.67 Die Warnung vor gefährlichen Entwicklungen, die kennzeichnend für die Dystopie ist, sei in der Science-Fiction allenfalls »eine fakultative Zutat«.68 Innerhofers Einschätzung, die Annäherung beider Genres liege im Grunde nur in einer begrenzten Gruppe von Texten vor, erscheint plausibel – vor allem, wenn ein eng gefasster Dystopie-Begriff zur Überprüfung herangezogen wird, wie ihn Claeys vorschlägt. Seine Unterscheidung mit Blick auf die Kriterien Statik vs. Prozesshaftigkeit greift hingegen nicht mehr mit Blick auf kritische Dystopien, die sich eben häufig durch die Dynamisierung statischer Gesellschaften, vor allem gegen Ende der jeweiligen Erzählung, auszeichnen. Claeys vertritt ebenfalls die Position, dass sich Dystopie und Science-Fiction ihre Eigenständigkeit und Unterschiede bewahrt hätten, auch wenn seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Annäherung der Felder stattgefunden habe.69 Ebenso wie Innerhofer führt er Standpunkte, nach denen beide Genres zusammenfielen, auf fehlerhafte Kategorisierungen innerhalb der Forschung zurück.70 Die Unabhängigkeit der Dystopie von der Science-Fiction begründet Claeys im Wesentlichen mit drei Argumenten. Das 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Voigts 2015, S. 1. Vgl. ebd., S. 5. Ebd. Mussgnug 2012, zit. ebd., S. 6. Innerhofer 2013, S. 319. Vgl. ebd., S. 319f. Ebd., S. 320. Vgl. hier und in der folgenden Darstellung Claeys 2016, S. 285–290. Claeys kritisiert, dass viele Studien der Science-Fiction explizit Texte, die als dystopisch gelten, ignorieren, andere hingegen Eutopien und Dystopien als Science-Fiction einordneten.

4. Dystopie und Raum

erste betrifft das unterschiedliche Alter beider Genres. Die Eutopie, die Claeys als wichtigsten literarischen Ursprung der Dystopie ausmacht, gehe dem der Science-Fiction um mindestens vier Jahrhunderte voraus: Der Begriff der Science-Fiction wurde nicht vor 1851 gebraucht und das Genre selbst, dessen Prototyp Frankenstein von Mary Shelley erst 1818 erschien, nehme erst im späten 20. Jahrhundert Gestalt an und vereinige ab den 1950ern auch Eutopie und Dystopie. Das zweite und wahrscheinlich überzeugendste Argument betrifft die Thematisierung der Konsequenzen von natürlichen oder menschengemachten Katastrophen sowie technologischen Neuerungen: »For dystopia, the question is not what the science produces, but its negative impact on humanity. So the issue is not whether we imagine ray guns, infinite power sources, or space travel. It is whether we use them as instruments of oppression and destruction«.71 Dystopian science fiction, also Hybride aus Science-Fiction und Dystopie, sind laut Claeys kein Beleg dafür, dass ein Genre vom anderen abgeleitet sei: Diese Kategorie beinhalte Texte mit einem Schwerpunkt auf Wissenschaft und Technik, die jedoch als unrealistisch und nicht als Extrapolation bestehender Entwicklungen betrachtet werden könnten. Claeys führt als drittes Argument zur Differenzierung beider Genres die von ihm als ›Atwood-principle‹ bezeichnete Position der gleichnamigen kanadischen Autorin an, nach der die Science-Fiction Unmögliches, die Dystopie aber potentiell Mögliches darstelle.72 Die in Nineteen Eighty-Four und Brave New World präsentierte Wissenschaft und Technik hätten zwar vor dem Hintergrund ihres historischen Kontextes keinen Anspruch auf Wahrheit, seien aber klar an bestehende Entwicklungen angebunden und hätten sich nur in Maßen von den gegebenen Bedingungen entfernt.73 Die Abgrenzung der Genres aufgrund unterschiedlich starker Bezüge zur extratextuellen Gegebenheiten forderten eine Unterscheidung zwischen den Gruppen der »realistic, science based« und »science fiction dystopias« ein:74 In der ersten Gruppe bzw. den »science-oriented dystopias« werde Technologie verwendet, um Individuen innerhalb der Gesellschaft zu unterdrücken, in der zweiten Gruppe, den »science fiction dystopias«, überstiegen die dargestellten Verhältnisse bei weitem die Möglichkeiten der extratextuellen Welt.75 Im Folgenden wird in Anlehnung an Claeys also von science-oriented Dystopien die Rede sein, wenn neuartige Technologien eher fakultativ sind und die jeweilige Serie von durch Menschen unterdrückten Gesellschaften handelt, von ScienceFiction-Dystopien hingegen, wenn Technologien unrealistisch erscheinen und ihre negativen Konsequenzen für die Gesellschaft nicht im Vordergrund der Erzählung stehen. 71 72

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Ebd., S. 286. Claeys 2016 schlussfolgert daraus, dass weiter zwischen »realistic, science based and science fiction dystopias« unterschieden werden muss und dass ein beträchtlicher Unterschied zwischen »›speculative fiction‹ and ›science fiction‹« besteht; ebd., S. 287. Fitting 2010 unterscheidet Science-Fiction und Utopie auch mit Blick auf die Fankultur, die bei der Science-Fiction ausgeprägt, bei der Utopie kaum vorhanden ist, sowie die Vorliebe einzelner Autoren für ein Genre, die für die Science-Fiction bestätigt werden kann, nicht aber für die Utopie, da kaum mehrere Utopien von einem Schriftsteller generiert würden; ebd., S. 144. Beide Argumente können auch analog für die Unterscheidung der Science Fiction zur Dystopie angewendet werden. Claeys 2016, S. 287. Ebd., S. 290.

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II. Theoretische Grundlagen

4.1.4 Medien der Dystopie Die Interdisziplinarität, die Sargent den utopian studies attestiert,76 ist sicherlich auch auf ihre transmedialen Weltentwürfe zurückzuführen. Neben dem Medium der Schriftliteratur,77 in dem die Dystopie als Genre ihren Ursprung hat, genießt es laut Claeys auf der Leinwand besondere Popularität: »Dystopia and cinema are a marriage made in Heaven, for both are in love with high drama, exaggeration, and special effects«.78 In den letzten Jahrzehnten hat sich auch das Computerspiel vermehrt der düsteren Ästhetik, dysfunktionaler Städte und post-apokalyptischer wastelands des Genres angenommen und ist im Zuge dessen zum Gegenstand der Erforschung dystopischer Szenarien geworden. Farca kommt zu dem Schluss, dass die Computerspiel-Dystopie im Kern eutopisch ist und ihr Potential aus den virtualisierten storyworlds und formbaren Räumen ziehe, die den Spielern die Erkundung in Vergangenheit und Zukunft erlauben.79 In other words, playing dystopia involves the player in the inner mechanisms of dystopian regimes and functions as a disruption of the present through video game play. By doing so, it indirectly enlightens the player about the true nature of social totality and drives her to catharsis by having experienced a reduced but focused simulation of it in virtuality.80 Innovative Impulse, die auch den Einfluss von Computerspielen offenbaren, hat das Genre in jüngster Zeit aus der Kinder- und Jugendliteratur erhalten, vor allem in Form serieller Erzählungen. Mit Suzanne Collins The Hunger Games-Trilogie und James Dashners Maze Runner-Serie liegen kritische Dystopien vor, die den Kampf gegen einen übermächtigen Staat oder ein Unternehmen mit dem Thema der Adoleszenz kombinieren und Raum und Figurenbewegung sowohl durch die Segmentierung der Narration als auch die Referenz auf Levelstrukturen von Computerspielen und den Topos des Labyrinths rhythmisieren.81 Einflussreiche Dystopien oder fiktive Welten mit dystopischen

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Vgl. Sargent 1994, S. 6. Das andauernde Interesse an Dystopien in der Literatur wird in jüngster Zeit u.a. belegt in Voigts/ Boller 2015 sowie Han, John J./Triplett, C. Clark/Anthony, Ashley G. (Hg.) (2018): Worlds Gone Awry. Essays on Dystopian Fiction. Jefferson, North Carolina: McFarland. Claeys 2016, S. 491. Vgl. Farca 2018, S. 404. Ebd. Vgl. auch Domsch, Sebastian (2015): Dystopian Video Games: Fallout in Dystopia. In: Voigts, Eckart/Boller, Alessandra (Hg.): Dystopia, Science Fiction, Post-Apocalypse: Classics – New Tendencies – Model Interpretations. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 395–410 sowie Bonner 2015b. Vgl. zu jugendliterarischen Dystopie-Serien im deutschsprachigen Raum die Eleria-Trilogie von Poznanski 2016 [2012], 2017a [2013], 2017b [2014]; die Scanner-Serie von Sonntag 2017 [2013], 2019; sowie die Ocean-City-Trilogie von R.T. Acron 2018a, 2018b, 2019. Zur Dystopie in der Forschung zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien vgl. Anm. 55 in II.4 in der vorliegenden Arbeit sowie Hintz, Carrie/Ostry, Elaine (Hg.) (2003): Utopian and Dystopian Writing for Children and Young Adults. New York: Routledge; Canode, Jillian L. (2018): Commodifying the Revolution: Dystopian Young Adult Literature and Cultural Critique. In: Han, John J./Triplett, C. Clark/Anthony, Ashley G. (Hg.): Worlds Gone Awry. Essays on Dystopian Fiction. Jefferson, North Carolina: McFarland, S. 139–149. Zu Parallelen zwischen jugendliterarischen und Post-TV-Dystopie-Serien in Bezug auf die Inszenierung der Serienräume vgl. V.1 in dieser Arbeit.

4. Dystopie und Raum

Zügen liegen auch in Form von Comics, Graphic Novels und Mangas vor: Zu nennen wären hier u.a. V for Vendetta von Alan Moore und David Lloyd, Watchmen von Alan Moore und Dave Gibbons sowie Marjane Satrapis Persepolis.82 Auch aktuell erlebt das Genre in diesen Medien eine Blüte, wofür z.B. die Comic-Serie The Walking Dead steht u.a. von Robert Kirkman, die die Grundlage der erfolgreichen gleichnamigen Fernsehserie und deren Spin-Offs bildet.83

4.1.5 Ein Arbeitsbegriff der Dystopie Neben der Definition der kritischen Dystopie ist für die Raumanalyse serieller Dystopien und die Auswahl der Gegenstände vor allem eine Differenzierung eines übergeordneten Dystopie-Begriffs vonnöten: Als Dystopien im weiteren Sinne sollen, Sargent folgend, alle Entwürfe schlechterer Welten im Vergleich mit der außertextuellen Gegenwart in verschiedenen Medien und Erzählformen verstanden werden. Zu diesen Texten gehören somit auch post-apokalyptische Narrationen, die nicht zwangsläufig Despotismus implizieren, z.B. die Fernsehserie The Walking Dead. Dystopien im engeren Sinne sind hingegen Texte verschiedener Medien, die sich, in Anlehnung an Claeys Definition, vor allem über inhaltliche Merkmale bestimmen las82

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Vgl. Moore, Alan/Lloyd, David (2005 [1982–1989]): V for Vendetta. New York: DC Comics; Moore, Alan/Gibbons, Dave (2005 [1986–1987]): Watchmen. Absolute Edition. New York: DC Comics; Satrapi, Marjane (2005 [2000–2003]): Persepolis: Eine Kindheit im Iran [frz. Persepolis]. Wien: Ueberreuter. Vgl. Kirkman, Robert/Moore, Tony/Adlard, Charlie (2006–2019 [2003-2019]): The Walking Dead. Berkeley: Image Comics. So weist das Online-Portal Comic – Das Magazin für Comic-Kultur über 40 verschiedene Graphic Novels und Comics unter dem Schlagwort »Dystopie« auf, zu denen sowohl ›Klassiker‹ wie V for Vendetta, Adaptionen wie The Handmaid’s Tale als auch aktuellere Post-apokalyptische Dystopien wie Endzeit von Olivia Vieweg, serielle Dystopien wie die La Présidente-Trilogie von Francois Durpaire und Farid Boudjellal und Hybride aus Science-Fiction und Dystopie wie No Borders (2016) von Michael Barck und TeMel gehören; vgl. o.A. (o.A.): Dystopie. In: Comic. Das Magazin für Comic-Kultur. https://www.comic.de/tag/dystopie/, aufgerufen am 10.02.2019. Bisher ist jedoch keine Studie erschienen, die die Dystopie in Comic, Graphic Novel oder Manga auf Grundlage einer größeren Textmenge untersucht. Als vergleichende Untersuchung, die auch Aussagen zum Verhältnis von Dystopie und Graphic Novel trifft, ist der folgende Aufsatz zu nennen: Vanderbeke, Dirk/Vanderbeke, Marie (2015): Graphic Dystopia: Watchmen (Moore/Gibbons, 1986–1987) and V for Vendetta (Moore/Lloyd, 1982–1989). In: Voigts, Eckart/Boller, Alessandra (Hg.): Dystopia, Science Fiction, Post-Apocalypse: Classics – New Tendencies – Model Interpretations. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, S. 201–220. Ähnlich wie in den Filmwissenschaften scheint die Forschung zu Graphic Novel, Comic und Manga die Dystopie auch nicht als eigenes Genre zu sehen, was auch daran liegen mag, dass formalästhetische Kriterien sowie Distributions- und Rezeptionsmodi bei der Klassifizierung eine relevantere Rolle als inhaltliche spielen. So unterscheiden Abel und Klein u.a. zwischen Graphic Novels, Webcomics, Funnies, Abenteuer- und Kriminalcomics, Phantastischen Comics, zu denen sie Science-Fiction, Fantasy und Horror zählen, Superheldencomics, Manga, Graphic Memoirs, Literaturcomics, Sachcomics sowie Metacomics; vgl. Abel, Julia/Klein, Christian (Hg.) (2016): Comics und Graphic Novels: eine Einführung. Stuttgart: Metzler. Heschers Genre-Typologie enthält nicht einmal die Kategorie der Science-Fiction: Watchmen und The Dark Knight Returns von Frank Miller werden hier als »superhero novel« eingeordnet und Persepolis auf die Funktion der »graphic memoir« reduziert; Hescher, Achim (2016): Reading Graphic Novels. Genre and Narration. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 51. Vgl. zu dystopischen und Science-Fiction-Settings in den Superheldencomics Vanderbeke/Vanderbeke 2015, S. 202f.

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II. Theoretische Grundlagen

sen: Dazu gehört die Extrapolation einer außertextuellen und als negativ betrachteten Entwicklung sowie die Darstellung ihrer negativen Konsequenzen für Gesellschaft und Politik, aber auch die Unterdrückung eines Teils der Gesellschaft durch andere Menschen (oder vergleichbare Akteure). Die Dystopie im engeren Sinne ist eine Warnung an die gegenwärtigen Rezipienten, ihre Handlungen und Verhältnisse so zu ändern, dass sie keine negativen sozial-politischen Konsequenzen hervorbringen. Ein Beispiel ist die britische Fernsehserie 1990, in der der Wohlstandsverlust Großbritanniens in den 1970er Jahren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sowie Wahlerfolgen der sozialistischen Labour Party in den Entwurf einer kommunistischen Diktatur im Vereinigten Königreich mündet, inklusive Bankenkrise, Absetzung des Königshauses, Planwirtschaft und staatlicher Überwachung.84 An letzterem Beispiel lässt sich auch aufzeigen, dass sich die Dystopie im engeren Sinn und die kritische Dystopie keineswegs ausschließen, sondern überschneiden können. 1990 ist zugleich eine kritische Dystopie, in deren Zentrum der Journalist Jim Kyle steht, der sich dem Regime widersetzt. Die kommunistische Regierung wird am Ende der Serie durch Widerständler und Bürger gestürzt. Die Dynamisierung der Gesellschaft, die zentral für die kritische Dystopie ist, schlägt sich zum einen im wankenden System nieder, wird aber auch durch die Bezugnahme auf die prä-dystopische Gesellschaft sowie auf die Nachbarstaaten des kommunistischen Britanniens deutlich, die ein Gegenmodell darstellen. Sowohl die analeptischen Hinweise auf das kapitalistische Großbritannien, die Widerständler, die das System von innen heraus destabilisieren sowie die Nachbarstaaten, die auf die extraserielle Welt der 1970er referieren, erfüllen die eutopische Funktion nach Layh innerhalb der kritischen Dystopie, weil sie die Möglichkeit des Systemsturzes vor Augen führen. Diese Arbeitsdefinition der Dystopie schließt keine TV-Serien aus, deren Handlung vor dem Hintergrund einer post-apokalyptischen Ödnis spielt und bezieht auch science oriented Dystopias ein – solange, wie die Serie im Kern die Unterdrückung von Menschen durch Menschen darstellt.

4.2 Dystopische Räume in Literatur und Film – ein Überblick Die folgende Zusammenfassung ausgewählter Studien ermöglicht einen Einblick in die Entwicklung dystopischer Räume sowie einige Charakteristika dieses Topos in Literatur und Film. Liest man den unvollständigen Forschungsüberblick als Historiographie dystopischer Räume in Literatur, Film und anderen Medien, dann handelt es sich dabei fast ausschließlich um eine Geschichte dystopischer Städte. Der Fokus auf urbane Räume kann damit erklärt werden, dass sich die Dystopie ebenso wie die Anti-Utopie für sozial-politische Fragen und deren Konsequenzen für die Gemeinschaft interessiert. Folglich sind die Schauplätze von Dystopie und Anti-Utopie vorrangig Metropolen und nicht Wald, Wüste oder Expeditionen im Weltall. Der Forschungsüberblick bildet einen Referenzpunkt für die spätere Einordnung der Merkmale von Räumen dystopischer Fernsehserien, die im Zuge der folgenden Analyse herausgearbeitet werden sollen. Um die 84

Vgl. 1990 (1977–1978), UK: BBC2, Creator: Wilfred Greatorex.

4. Dystopie und Raum

Einordnung der jeweiligen dystopischen Raumkonzepte zu erleichtern, werden literarische Texte, Graphic Novels und Comics, Filme und Fernsehserien in diesem Kapitel im Fließtext mit ihrem Erscheinungsjahr genannt. Dušan Glišović arbeitet in ihrem Aufsatz Die politisierte Architektur Gemeinsamkeiten von Baustilen heraus, die sich in kanonischen Dystopien des 20. Jahrhunderts wiederfinden.85 Dabei geht sie vor allem auf die Semantiken und extratextuellen Diskurse ein, die den dargestellten Architekturen und Baustoffen eingeschrieben sind. So macht sie in Samjatins Roman Wir (1924) Gegensätze zwischen Stadt und dem ›Alten Haus‹ aus: Während sich die Stadt durch breite Straßen, Glas und eine reduktionistische Ästhetik auszeichne, sei das Alte Haus als Bau aus dem 19. Jahrhundert erkennbar. Die Materialien, die urbane Bauten in Aldous Huxleys Brave New World (1932) kennzeichnen, seien vorwiegend »Stahl, Beton und Glas«.86 Ausgehend von Glišovićs Befunden kann angemerkt werden, dass dies allesamt Materialien sind, die eine maschinelle, ggf. arbeitsteilige Bearbeitung voraussetzen, und die, anders als Holz oder Naturstein, in Raumgestaltungen vorkommen, die tendenziell als ›künstlich‹, ›kühl‹ und ›modern‹ wahrgenommen werden. Die Architekturen in den Romanen Nineteen Eighty-Four (Orwell, 1949), Wir, Brave New World und Fahrenheit 451 (Ray Bradbury, 1953) bewertet die Autorin abschließend wie folgt: Es handelt sich in allen vier Romanen um Hauptstädte, in welchen die neuen, überdimensionierten Bauten aus Glas, Stahl und Beton mit den älteren, niedrigeren aber anthropomorpheren Häusern aus Backstein, Holz, Dachstein konfrontiert werden. Genauso das Interieur: kühle Funktionalität gegenüber der [sic!] alten, wohnlichen, gemütlichen Einrichtungen, die häusliche Wärme und Geborgenheit vermitteln. Das Uniforme der anti-utopischen, vorerst ›erdichteten Architektur‹, die aber seit Samjatin längst das Utopische abgestreift und zum Alltäglichen geworden ist, entspringt dem Funktionalitätsbedürfnis einer hochtechnisierten Zeit, die wenig für persönliche Gefühle der Zeitgenossen übrig hat.87 Die Uniformierung und Kontrolle des Individuums durch Raumgestaltung als wiederkehrende Motive sowie Kritik am Baustil des Funktionalismus belegen auch Rob Latham und Jeff Hicks für die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.88 In ihrer diachronen Studie verorten sie den Beginn der Genese urbaner Dystopien in der Literatur der

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Vgl. Glišović 1992, S. 208. Die folgende Darstellung bezieht sich auf Glišović 1992, S. 207–217. Es ist strittig, ob der Terminus ›Anti-Utopie‹ bei Glišović im Sinne einer Gruppe von Texten verwendet wird, die eine grundsätzliche Skepsis gegenüber utopischem Denken im Allgemeinen oder einem bestimmten utopischen bzw. eutopischen Text im Besonderen ausdrückt, da neben Brave New World auch Texte aufgeführt werden, die in der Forschung überwiegend als dystopisch bezeichnet werden, wie Nineteen Eighty-Four oder Wir. Denkbar ist vielmehr, dass der Begriff synonym mit ›Dystopie‹ benutzt wird, da eine Differenzierung zwischen beiden Termini u.a. in den 1990ern durch Sargent angestoßen wurde; vgl. Sargent 1994, S. 8f. Glišović 1992, S. 211. Ebd., S. 214 Vgl. hier und für den folgenden Argumentationszusammenhang Latham, Rob/Hicks, Jeff (2014): Urban Dystopias. In: McNamara, Kevin (Hg.): The Cambridge Companion to the City in Literature. New York: Cambridge University Press, S. 163–174.

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II. Theoretische Grundlagen

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dystopische Stadträume in der Literatur bewerten die Autoren als Reaktion auf die unvermittelte Ausbreitung eutopischer Literatur, in der die Stadt zum Ort menschlicher Verbesserungsfähigkeit dargestellt wurde. Die dystopische – besser gesagt anti-utopische – Gegenreaktion seien Stadtentwürfe gewesen, die gesellschaftliche Unterdrückung und Vernichtung repräsentierten. Frühe Dystopien wie Caesar’s Column (1890) von Ignatius Donnellys und When the Sleeper Wakes (1899) von H.G. Wells bildeten Manhattan bzw. London als zukünftige Städte ab, die von plutokratischen Eliten regiert und durch zügellosen Klassenkampf gespalten wären. Dabei handelte es sich tatsächlich um Anti-Utopien, die Kritik daran übten, in der Strukturierung und Planung von Städten ein Heilmittel für soziale Missstände zu sehen. Wir und Nineteen Eighty-Four verstehen Latham und Hicks als Beginn einer Reihe urbaner Dystopien, die totalitäre Gesellschaftsformen ebenso kritisieren wie zentralisierte Verwaltung und soziale Kontrolle. Paradoxerweise wurde Samjatins OneState jedoch von einigen Architekten als Modell der zukünftigen Stadt und als Versprechen von Ordnung und Wohlstand interpretiert. Latham und Hicks sehen Parallelen zwischen den dystopischen Städten der Literatur und dem Manifest Urbanisme (1925) des Schweizer Architekten Le Corbusier: Dessen Bautechniken erlaubten eine deutliche vertikale ›Anordnung‹ der Bevölkerung in einer ›hypermodernen‹ Stadt, die zugleich effizient organisiert und erhaben sein sollte. Le Corbusier sei sich der Parallelen seiner Entwürfe zu Samjatins schlichten gläsernen Türmen nicht bewusst gewesen, als er in den »dreamy terms of utopian literature« eine neue urbane Gestaltung unter dem späteren Titel »Radiant City« bzw. Ville Radieuse formulierte: »›As twilight falls, the glass sky-scrapers seem to flame … It is a spectacle organized by Architecture [sic!] which uses plastic resources for the modulation of forms seen in light‹«.89 In den frühen Science-Fiction Erzählungen der Zeitschriften Amazing Stories (1926-), Astounding Stories (1930-), Wonder Stories (1929–1955) und Modern Electrics (1908–1914)90 manifestiert sich Latham und Hicks zufolge der dystopische urbane Raum als futuristische, monumentale und erhabene Stadt, ebenso in Hugo Gernsbacks Roman Ralph 124C41+ (1911), dessen Version von Manhattan, gekennzeichnet durch seine imposante Hochhausarchitektur, schließlich Eingang in Langs Metropolis (1927) findet. Andere Science-Fiction-Texte hingegen entwerfen laut den Autoren die im Zerfall begriffene oder bereits zerstörte ehemals hochentwickelte Stadt, ein Topos, der bereits in Richard Jefferies’ After London; Or, Wild England (1885) enthalten ist. In der Nachkriegsliteratur stehen urbane Dystopien unter dem Einfluss der Technisierung menschlicher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten sowie der nuklearen Bedrohung. Die neuen Variationen dystopischer Metropolen seien »vaporized cities, polluted cities, overpopulated cities, hypertrophic or bureaucratically stratified cities, and cities suffering from social break-

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Ebd., S. 166. Amazing Stories, Wonder Stories und Modern Electrics wurden von Hugo Gernsback gegründet und zuerst herausgegeben, Astounding Stories von William Clayton und Harry Bates. Amazing Stories, Astounding Stories und Wonder Stories erlebten jeweils mehrere kurzzeitige Einstellungen, Namensänderungen und Herausgeberwechsel.

4. Dystopie und Raum

down or moral malaise«.91 Obgleich eutopische Entwürfe kaum noch vorkämen, erschienen in den 1970ern einige Texte, die sich mit dem Zusammenleben von Mensch und Natur auseinandersetzten. In den 1980ern und 1990ern ginge die dystopische Stadt eine Verbindung mit dem Cyberpunk ein, aus der u.a. William Gibsons Roman Neuromancer (1984) und die Stadtlandschaft in Ridley Scotts Blade Runner (1982) resultierten. Dystopische Städte gehören Latham und Hicks zufolge seit den 1990ern auch zum Inventar des Steampunk, erkennbar u.a. in China Miévilles The City & The City (2009) und des japanischen Manga-Comic u.a. Katsuhiro Otomos Akira (1982–1990). Die Autoren weisen darauf hin, dass seit den 1980ern in der westlichen Welt hingegen eine Reihe von einflussreichen dystopischen Metropolen in Graphic Novels vorliegen u.a. in V for Vendetta (Alan Moore und David Lloyd, 1982–1989) und Batman: The Dark Knight Returns (Frank Miller, 1986). Sie schließen ihre Studie mit dem Urteil, dass die urbane Dystopie als abgrenzbares Phänomen im Vergleich mit dessen Blüte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunehmend verschwinde. Dies sei ironischerweise eine Konsequenz des Erfolges dieses Topos: [I]n essence, many of the basic elements of the urban dystopia have been disseminated throughout the body of contemporary literature, becoming a portable assemblage of aesthetic and ideological properties that can be incorporated into all manners of texts. […] Moreover, the widespread experience of postwar urban life as dystopian has made the depiction of dark, foreboding, or oppressive cities in literature a matter of straightforward realism rather than an imaginative projection of a disturbing future. After more than a century of predicting the direst of possibilities, the urban dystopia is now hard pressed to find a darker vision than that evoked by the modern-day realities of shantytowns, dying downtown centers, and unchecked suburban sprawl.92 In seiner Untersuchung Imagining Surveillance widmet sich Peter Marks u.a. den Charakteristika, die die Räumlichkeiten von Eu- und Dystopien in Literatur und Film kennzeichnen. Als wichtiges Merkmal nennt er die räumliche Abgrenzung der Gesellschaft von der Außenwelt, die wiederum Kontrolle und Unterdrückung nach Innen garantiert.93 Utopian texts have inherent spatial concerns, the root word ›topos‹ designating a ›place‹ to which might be attached prefixes with positive or negative connotations. […] For several centuries, utopian texts tended to depict relatively defined places, sometimes islands or hidden worlds. Especially over the last century, particularly in the shadow of works of H.G. Wells, such places are more likely to be global or planetary in extend. […] Boundaries are monitoring pinchpoints where designated groups and individuals can be included and excluded, although clearly surveillance can and does take place within those boundaries.94 91 92 93 94

Latham/Hicks 2014, S. 168. Ebd., S. 174. Vgl. hier und in der folgenden Darstellung Marks 2015, 104–123. Ebd., S. 104. Hantsch kommt 1975 zu dem Ergebnis, dass räumliche und zeitliche Isolation Merkmale von Utopien sind. Weil ihre Untersuchung aus heutiger Perspektive sowohl Eutopien, Dystopien als auch Anti-Utopien umfasst, kann dieses Merkmal auf die genannten ›Formen‹ des Utopismus

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II. Theoretische Grundlagen

Aus- und Abgrenzung könne vom Gefühl der Bedrohung durch andere soziale Schichten motiviert sein und zur Errichtung von »Compounds« oder »›privatopias‹« führen,95 aber auch durch den Wunsch hervorgerufen werden, Natur vor dem Hintergrund zunehmender ökologischer Krisen kontrollieren zu wollen. Das Bestreben einzelner Figuren oder Gruppen, räumliche Grenzen zu überqueren, könne eine narrative und thematische Dynamik erzeugen, wie z.B. in Trumans Reise zu den Rändern des Fernsehstudios und schließlich hin zum ungewissen Los Angeles und außerhalb der Kontrolle durch Regisseur Christo in The Truman Show (1998). Marks macht darauf aufmerksam, dass auch das Fehlen von Wänden und Mauern eine Grenze darstellen kann, wie in The City & The City, in der soziale Schichten als Zonen koexistieren und sich überlagern. Er weist anhand des Baustiles des New Urbanism in The Truman Show sowie der Anordnung von Bauten in Utopia (1516) und Wir den Einfluss von Architektur auf das Verhalten und die räumliche Bewegung der Akteure hin und betont die Kontrollfunktion intentional geplanter Räume. Der Unterschied von eutopischen und dystopischen Sphären innerhalb eines literarischen Textes oder Films bestehe häufig darin, dass die eutopischen Räume viel stärker kontrolliert und durch staatliche oder staatsähnliche Institutionen überwacht würden, als die dystopischen Außenräume. Nicht selten lägen aber auch Zwischenräume vor, wie z.B. in The City & The City, die zum Rückzugsort von anarchistischen Individuen würden. Schließlich konstatiert der Autor, dass in den von ihm untersuchten Texten Räume der Überwachung häufig dekonstruiert und Grenzen niedergerissen werden: »Despite the criticism that utopian works imagine static worlds that are either positive or negative, the texts considered here illustrate far more dynamic and complex worlds that often incorporate both dystopian and eutopian elements«.96 Diese Schlussfolgerung liest sich als Beleg für Layhs Beobachtung eines Paradigmenwechsels von Eutopie und Dystopie sowie für die Aktualität der kritischen Dystopie.97 Carl Abbott analysiert in seiner überwiegend diachronen Studie Imagining Urban Futures Städte der Science-Fiction in Literatur und Film und entwickelt eine Typologie futuristischer Metropolen.98 Viele der analysierten Filme und literarischen Texte präsentieren Dystopien bzw. dystopische Städte, weshalb diese Untersuchungen auch für die vorliegende Arbeit relevant sind. Techno Cities seien ›Container‹ für neue Technologien, Machines for Breathing hätten technischen Charakter, weshalb ihr Funktionieren von hochentwickelten Konstruktionen abhinge, und Migratory Cities seien Variationen beider Städte, die die Gedankenexperimente über technisierte urbane Räume ins Extreme steigerten. Carceral Cities und Städte im Crabgrass Chaos legen laut Abbott einen Schwerpunkt auf die Stadt als soziale Umgebung – einerseits durch Metropolen, die sich strikt von der Außenwelt abgrenzen und zu einer Form des Gefängnisses werden,

95 96 97 98

ausgeweitet werden; vgl. Hantsch, Ingrid (1975): Semiotik des Erzählens. Studien zum satirischen Roman des 20. Jahrhunderts. München: Fink, S. 69f. Vgl. auch Plener, Peter (2006): Wider das Nichts des Spießerglücks. Zu Begriffen, Theorien und Kennzeichen (nicht nur) literarischer Utopien. In: Bernáth, Árpád/Hárs, Endre/Ders. (Hg.): Vom Zweck des Systems. Beiträge zur Geschichte literarischer Utopien. Tübingen: Francke, S. 191–214, hier S. 208. Harvey 2000 zit. in Marks 2015, S. 105. Marks 2015, S. 123. Vgl. hierzu II.4.1.1 in dieser Arbeit. Vgl. hier und in der folgenden Darstellung Abbott 2016, S. 11–14.

4. Dystopie und Raum

andererseits durch heruntergekommeine Vororte, deren Bewohner gleichermaßen eingesperrt sind, weil sie nicht über die finanziellen Mittel zum Aufbruch verfügen. Unter der Kategorie Varieties of Urban Crisis fasst der Autor Städte zusammen, die durch soziale Verwerfungen, Überbevölkerung und Chaos geplagt sind, im Gegensatz zur Deserted City, einer Ansammlung aus Ruinen in einer post-apokalyptischen Welt. Urbanes Leben im Zeichen von Market and Mosaik ist laut Abbott schließlich geprägt durch den sozialen und ökonomischen Austausch der Bewohner, der mit einer vertikalen Perspektive korrespondiere und in dem die Stadt ihren maschinellen Charakter ablegt. Die StadtTypen gehen Abbott zufolge aus zwei Strängen hervor: Der erste entspringt innovativen Stadtentwürfen mit neuen technologischen Möglichkeiten, der zweite ist hingegen in der Vorstellung begründet, dass zukünftige Städte sowohl Schauplätze der Blüte als auch der Konflikte innerhalb von Gesellschaft und Kultur sein werden. Ausgehend von Abbotts Typologie scheint die Stadt der Science-Fiction vor allem von dystopischen bzw. anti-utopischen Vorstellungen geprägt zu sein. Der von Annette Kuhn herausgegebene Sammelband Alien Zone II. The Spaces of Science-Fiction Cinema enthält einige Aufsätze, die sich mit Städten des Science-FictionFilms auseinandersetzen. Ebenso wie bei Abbott sind viele der als Science-Fiction kategorisierten Filme auch oder im eigentlichen Sinne der Dystopie zuzuordnen. Janet Staiger formuliert in ihrem Aufsatz Charakteristika dystopischer Städte im Future Noir-Film.99 Die Metropolen in Blade Runner, Brazil (1984) und der Fernsehserie Max Headroom (1987–1988) weisen laut Staiger die folgenden Merkmale auf: • • •



Im postmodernen Stadtbild werden Gegenwart und Zukunft verbunden. Die Städte sind dunkel bzw. nur indirekt durch künstliche Quellen beleuchtet, was einen zivilisatorischen Verfall signalisiert. Dunkelheit und Vermengung verschiedener urbaner Stile führt zum Eindruck labyrinthischer Städte, in denen nur wenige Aufnahmen aus der Aufsicht den Eindruck von Orientierung vermitteln. Die Städte sind schuttbedeckt, verfallen, heruntergekommen und verlassen. In diesem Erscheinungsbild manifestiert sich eine Kritik an der post-industriellen Kommunikationsgesellschaft – die zukünftige »noir city« ist »more nightmare than vision, more anxiety than wish-fulfilment«.100

Ebenso wie Latham und Hicks weist Staiger auf die Verbindung dystopischer Stadtentwürfe und moderner Architektur hin, allerdings seien es die filmischen Räume, die Bezug auf die extratextuellen Baustile nähmen und diese ironisch kommentierten: Die Future Noir-Städte referierten auf die Merkmale des Modernismus nach Le Corbusier, darunter die Ornamentlosigkeit, die Maxime, nach der ein Haus eine Maschine zum Leben sei, die Kriterien von Ordnung und Symmetrie, das Bauen in die Höhe, die Entwürfe der

99

Vgl. für diese Darstellung Staiger, Janet (1999): Future Noir: Contemporary Representations of Visionary Cities. In: Kuhn, Annette (Hg.): Alien Zone II. The Spaces of Science-Fiction Cinema. London/New York: Verso, S. 97–122. 100 Staiger 1999, S. 100.

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134

II. Theoretische Grundlagen

Radiant City bzw. Ville Radieuse sowie der »›Contemporary City‹«.101 Darüber hinaus weisen die dystopischen Räume Staiger zufolge darauf hin, dass auch Le Corbusiers Vorstellung der Stadt nicht demokratisch war, sondern von einem hierarchischen System ausgeht. Integral to all these dystopias is a bleak criticism of utopian versions of high modernist architecture and modern cityscapes, structures which arbor corrupt economic and social institutions. The semiotic operation, however, is apparent: transform, through context and intertextuality, the signifiers of modern life so that they become the signs of a troubled society.102 Der Sammelband enthält weiterhin einen Aufsatz von Sobchack, in dem sie zeitgenössische Diskurse zur Stadt ausgehend von urbanen Räumen in Science-Fiction-Filmen seit den 1950er Jahren nachspürt.103 Die Mehrzahl der von ihr untersuchten Filme stellt ebenfalls dystopische Science-Fiction oder Dystopien dar. Sobchacks Untersuchung endet mit den Städten des Science-Fiction-Kinos der 1990er Jahre: Diese urbanen Räume seien meist zerstört, ihre Existenz sei sogar nur in ihrer späteren Zerstörung begründet. Die Stadt dieser Filme stehe weiterhin unter dem Einfluss des Film Noir und insbesondere der Mise en Scène von Blade Runner, was anhand von Dark City (1998) sichtbar werde, und beherberge ›verlorene‹ Bewohner, die keinen festen Ort hätten und sich durch dynamische Identitäten auszeichneten. Die physische Unergründlichkeit bzw. ›Bodenlosigkeit‹ der Städte korrespondiere mit der instabilen Identität der Bewohner, was sich anhand von Blade Runner und Twelve Monkeys (1995) nachvollziehen lasse. Radically different from the ordered urban airways envisioned by both Metropolis and Just Imagine, this city is a dizzying and densely layered labyrinth of architecture and motion: it has neither skyscrapers (there is no visible skyscraper as such) nor ground. This is a city that seems to have no boundaries and yet, at the same time, is peculiarly hermetic.104 Sobchack kommt zu der Erkenntnis, dass die Stadt der Science-Fiction als Topos in andere Genres ›migriert‹: So komme sie in Filmen wie The Truman Show und Pleasantville (1998) vor, nur ohne Elemente der Science-Fiction, wobei der ›urbane Albtraum‹ als konstante Begleiterscheinung bestehen bleibe. Diese Einordnung überschneidet sich mit der Schlussfolgerung von Latham und Hicks, die die urbane Dystopie mittlerweile als allgemeines Merkmal ›realistischer‹ Genres sehen. Eben jenes Urteil lässt sich abschließend mit Gyan Prakashs Untersuchung Noir Urbanism bestätigen. Prakash zufolge wird die Stadt der Moderne in Literatur, Film, Kunst, Architektur, Journalismus und Soziologie vor allem als zerstörte Metropole repräsentiert, die von Kapitalismus, sozialer Teilung und gesellschaftlichen Konflikten geprägt

101 Ebd., S. 107f. 102 Ebd., S. 120. 103 Vgl. für diese Darstellung Sobchack, Vivian (1999): Cities on the Edge of Time: The Urban ScienceFiction Film. In: Kuhn, Annette (Hg.): Alien Zone II. The Spaces of Science-Fiction Cinema. London/New York: Verso, S. 123–143, hier S. 139–141. 104 Ebd., S. 141.

4. Dystopie und Raum

ist.105 Prakash betont, dass der dystopische Charakter der modernen Stadt erst durch ihre Interpretation in Texten der genannten Medien konstruiert wurde: In these portrayals, the city often appears dark, insurgent (or forced into obedience), dysfunctional (or forced into machine-like functioning), engulfed in ecological and social crises, seduced by capitalist consumption, paralyzed by crime, wars, class, gender, and racial conflicts, and subjected to excessive technological and technocratic control. What characterizes such representations is not just their bleak mood but also their mode of interpretation, which ratchets up a critical reading of specific historical conditions to diagnose crisis and catastrophe.106 Der Forschungsüberblick macht deutlich, dass die dystopische Stadt zum einen durch die Tradition des Genres und Einflüsse aus apokalyptischen Fiktionen und der ScienceFiction bestimmt ist, zum anderen aber auch durch zeitgenössische Architektur und die Diskurse, die Baustilen wie dem Funktionalismus oder spezifischen Räumen wie der Vorstadt eingeschrieben sind.107 Aus den Wechselwirkungen zwischen der Tradition dystopischer urbaner Räume, ihren medienspezifischen Darstellungen sowie zeitgenössischen Raumdiskursen löst sich die dystopische Stadt zunehmend von traditionellen Formen und breitet sich aus bzw. ›migriert‹ im Sinne Sobchacks durch verschiedenste Genres und Medien der Gegenwart. Besonders prägnant zeigt sich dies am Topos der US-amerikanischen Vorstadt in Film und Fernsehserie, die ›traditionelle‹ Merkmale wie Dunkelheit und Zerfall, Überbevölkerung und soziale Teilung kaum oder nur abgeschwächt aufweist, aber dennoch seit The Trueman Show, Twin Peaks und Desperate Housewives kaum noch ohne dystopischen Subtext rezipiert werden kann.108

105 Vgl. Prakash, Gyan (2010): Introduction. Imagining the Modern City, Darkly. In: Ders. (Hg.): Noir Urbanism. Dystopic Images of the Modern City. Princeton: Princeton University Press, S. 1–14, S. 1. 106 Ebd. 107 Zu eutopischen und dystopischen Entwürfe in der Architektur und Stadtplanung vgl. u.a. MacLeod, Gordon/Ward, Kevin (2002): Spaces of Utopia and Dystopia: Landscaping the Contemporary City. In: Geografiska Annaler. Series B, Human Geography 84.3-4, S. 153–170; sowie Hofmann, Aljoscha (2018): (Alb-)Träume des Städtebaus. In: utopisch dystopisch. Visionen einer ›idealen‹ Gesellschaft. Wiesbaden: Springer, S. 29–50. 108 Vgl. Twin Peaks (1990–1991), USA: ABC, Creators: Mark Frost/David Lynch. Zum dystopischen Charakter der US-amerikanischen Vorstadt in Film und Fernsehen vgl. Beuka 2003.

135

III. Begründung der Serienauswahl

1. Überblick zum Forschungsgegenstand

Publikationen zu dystopischen TV-Serien sind mit Ausnahme einzelner Aufsätze oder Arbeiten zu einzelnen Serien bislang selten.1 Auch in der Serien- und Serialitätsforschung wird die Dystopie überwiegend stillschweigend als Subgenre der ScienceFiction interpretiert, weshalb Publikationen zu apokalyptischen oder Science-FictionSzenarien ein Anlaufpunkt auf der Suche nach Befunden zu Serien mit dystopischem Charakter sind. Ein unvollständiger und nicht systematischer Blick auf Serien, vor allem aus den USA und Großbritannien, offenbart Parallelen zwischen den Dystopien in Literatur und Film einerseits und den seriellen Dystopien des Fernsehens bzw. Post-TV andererseits. Auch serielle Dystopien verschmelzen mit ihren Nachbargenres: ›Echte‹ Dystopien im Sinne von Claeys, die den gesellschaftlich-politischen Umgang mit negativen Tendenzen der Gegenwart in ihren Mittelpunkt stellen, Unterdrückung von Menschen durch Menschen thematisieren und eine Warnung auf der Grundlage extrapolierter gegenwärtiger Verhältnisse formulieren, kommen eher selten vor.2 In den meisten Serien wird lediglich auf dystopische Settings zurückgegriffen, d.h. die Handlung spielt in einer fernen düsteren Zukunft und vor dem Hintergrund sozialer Segregation, menschlicher Entfremdung in einer durchweg von technologischen Neuerungen dominierten Gesellschaft (z.B. Altered Carbon) oder den Nachwirkungen einer Katastrophe (The 100).3 Die mehr oder weniger dystopischen Serien spiegeln ebenso wie in Literatur und Film eine breite Themenvielfalt wider: Angst vor der Besatzung feindlicher Mächte und dem Verlust nationaler Souveränität (Okkupert, SS-GB, The Man in the High Castle), vor der Dezimierung der Menschheit durch selbst herbeigeführte Naturkatastrophen und Umweltverschmutzung (Telerop 2009 – Es ist noch was zu retten) oder durch einen Asteroideneinschlag (The Last Train); vor sozialistischen Superstaaten (1990), Oligarchien (Continuum), Epidemien und Pandemien (The Last Ship, The

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Eine Ausnahme mag der in Vorbereitung befindliche Sammelband Serielle Dystopien darstellen, der von Christian Hißnauer, Thomas Klein, Lioba Schlösser und Marcus Stiglegger herausgegeben wird. Vgl. 1990 [Titel der Fernsehserie]. Vgl. The 100 (2014-2020), USA: The CW, Creator: Jason Rothenberg.

140

III. Begründung der Serienauswahl

Rain) oder Misstrauen gegenüber künstlicher Intelligenz (Westworld).4 Hierin zeigt sich wiederum die Produktivität der Dystopie als Seismograph für gegenwärtige Ängste und gesellschaftliche Probleme. Bereits vor den populären literarisch-seriellen Dystopien der Hunger Games-Trilogie und der Maze Runner-Serie richteten sich dystopische TV-Serien an Kinder oder Jugendliche, z.T. mit überraschend anspruchsvollen Themen wie dem Widerstand gegen eine faschistoide, religiös motivierte Militärdiktatur in Großbritannien (Knights of God) oder dem Über- und Zusammenleben von Kindern in einer Welt ohne Erwachsene (The Tribe).5 In den 2010er Jahren scheint die Anzahl von Serien, die mehr oder weniger eindeutig als dystopisch bezeichnet werden können, rapide anzusteigen. Zwar sind viele der Serien an der Schnittstelle zwischen Dystopie, Post-Apokalypse und Science-Fiction zu verorten, dennoch liegen in diesem Zeitraum viele Produktionen vor, die die gesellschaftlichpolitische Auseinandersetzung mit negativen ›Trends‹ in den Mittelpunkt der Handlung stellen (z.B. Trepalium, 3 %). Dystopische TV-Serien seit 2010 sind durch Varietät gekennzeichnet, sowohl mit Blick auf extra- als auch intratextuelle Faktoren. Ihre Distribution umfasst Fernsehsender (z.B. Wayward Pines auf FOX, USA), Streaming-Plattformen (The Handmaid’s Tale auf Hulu), Abonnement-Sender (Westworld auf HBO, USA) sowie Webserien wie Electric City, die zuerst über Yahoo! Screen ausgestrahlt wurde und seitdem über YouTube frei verfügbar ist. Die mediale Streuung der Dystopie über verschiedenste Seriengenres, die sich bereits in der Vergangenheit in Sitcoms (Not with a Bang) und in populärwissenschaftlichen Formaten (Life After People) offenbarte, setzt sich ab 2010 mit Animationsserien für Kinder (Motorcity), japanischen Animés (Guilty Crown), Sketch Comedys (Million Dollar Extreme Presents: World Peace) und fiktionalen Anthologie-Serien (Black Mirror, Philip K. Dick’s Electric Dreams, Weird City) fort.6 Einige dieser Serien, z.B. Electric City, verweigern sich einer klaren Zuordnung als Dystopie, auch wenn zentrale Merkmale wie Gesellschaftskritik und totalitäre Züge erfüllt werden.7 Fiktionale serielle Dystopien kommen in eher geschlossenen Formen wie der mini 4

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Vgl. Okkupert (2015-2020), N: TV2, Creators: Karianne Lund/Jo Nesbø/Erik Skjoldbjærg; SS-GB (2017), UK: BBC One, Creator: Len Deighton; Telerop 2009 – Es ist noch was zu retten (1974), D: ARD, Creators: Jürgen Voigt/Karl Wittlinger; The Last Train (1999), UK: ITV, Creator: Matthew Graham; The Last Ship (2014–2018), USA: TNT, Creators: Steven Kane/Hank Steinberg. Vgl. Knights of God (1978), UK: ITV, Creator: Richard Cooper; The Tribe (1999–2003), UK: Channel 5, Creator: Raymond Thompson/Harry Duffin. Vgl. Not with a Bang (1990), UK: ITV, Creator: Tony Millan/Mike Walling; Life After People (2008–10), USA: History, Creator: David de Vries; Motorcity (2012–13), USA: Disney XD, Creators: Chris Prynoski/David Bickel; Guilty Crown (2011–12), J: Fuji TV, Creator: Hiroyuki Yoshino/Ichiro Okouchi; Million Dollar Extreme Presents: World Peace (2016), USA: Adult Swim, Creators: Sam Hyde et al.; Black Mirror (2011-), UK: Channel 4/Netflix, Creator: Charlie Brooker; Philip K. Dick’s Electric Dreams (2017-18), UK/USA: Channel 4, Creators: Ronald D. Moore/Michael Dinner; Weird City (2019), USA: YouTube Premium, Creators: Charlie Sanders/Jordan Peele. Die Serie kann weder der kritischen Utopie noch der Anti-Utopie zugeordnet werden kann: Sie präsentiert die gemeinhin als Utopie empfundene nachhaltige Nutzung ausschließlich erneuerbarer Energie. Zugleich stellt sie aber gesellschaftlich marginalisierte Wünsche nach freier Kommunikation, Information und Handel dar und lässt dadurch Werte kollidieren, die in weiten Teilen der westlichen Welt jeweils positiv besetzt sind und als erstrebenswert gelten.

1. Überblick zum Forschungsgegenstand

series (Alpha 0.7, Years and Years)8 sowie in offenen Formen wie der Langzeitserie vor (The Man in the High Castle, The Walking Dead). Darüber hinaus werden dystopische Gesellschafts- und Weltentwürfe auch in nicht-fiktionalen Formaten präsentiert, etwa in zahlreichen Dokumentationen oder Dokudramen zum Nationalsozialismus sowie in fiktiven Szenarien einer düsteren Zukunft (Life After People). Auffallend ist, dass viele dystopische Serien im engeren Sinn, die gesellschaftliche Probleme und Despotismus in den Mittelpunkt der Handlung stellen, nach einer oder zwei Staffeln enden bzw. abgebrochen oder für maximal zwei Staffeln produziert werden.9 Das abrupte Ende einer Serie im Fernsehen ist an sich eher die Norm als die Ausnahme,10 die Häufung von Serienfragmenten oder mini series mit dystopischem Charakter weist jedoch darauf hin, dass genretypische Settings und Handlungsverläufe, die sich zudem nur schwer für die Vielzahl unterschiedlicher Dystopien verallgemeinern lassen, es allein nicht vermögen, die serielle Erzählung über mehrere Staffeln aufrechtzuerhalten. Es bedarf entweder anderer Produktionsstrategien, wie die der Abonnementsender und Streamingdienste, die Serien wie The Man in the High Castle auf ein zahlungskräftiges und treues Publikum ausrichten können, einer stärkeren Betonung der Handlung oder der Verknüpfung mit anderen Genres wie Science-Fiction, post-apokalyptischen Erzählungen und dem Thriller. Die kritischen Dystopie-Serien The Man in the High Castle, 3 % und The Handmaid’s Tale zeugen sowohl von dem beschriebenen Genre-Synkretismus als auch von einer starken Handlungsbetonung und erweisen sich als erfolgreich, nimmt man das Lob der Kritik und die jeweilige Laufzeit von mindestens drei Staffeln als Kriterien ernst. Zudem kann aber auch vermutet werden, dass Themen wie staatliche Unterdrückung und die Tristesse der dystopischen Gesellschaft, wie sie in Dystopien im engeren Sinne vorliegen, für viele Zuschauer nicht ansprechend genug sind und sie nicht über einen langen Zeitraum hinweg binden können. Serien, die im weiteren Sinn dystopisch sind und in denen z.B. der Kampf gegen Zombies im Mittelpunkt steht (The Walking Dead) oder Produktionen, die mit immer neuen, mal mehr, mal weniger sozial-politisch relevanten Fragestellungen aufwarten (z.B. Black Mirror), sind langlebiger und erfolgreicher als Dystopien im Sinne von Claeys (z.B. 1990).

8

9 10

Vgl. Years and Years (2019), UK: BBC One, Creator: Russel T. Davis. Ein Beispiel für einen dystopischen Fernseh-Mehrteiler, ebenfalls eine geschlossene Serienform, ist Welt am Draht (1973), D: ARD, Creator: Rainer Werner Fassbinder. Vgl. Knights of God, 1990, Trepalium, Wayward Pines, Alpha 0.7 sowie Scotch on the Rocks (1973), UK: BBC1, Creators: Douglas Hurd/Andrew Osmond. Vgl. Mittell 2015, S. 319.

141

2. Dystopische TV-Serien ab 2010 – Überlegungen zu einer Typologie

Dieser Einblick in serielle Dystopien des Fernsehens zeigt, dass eine vollständige Übersicht zu diesem Forschungsgegenstand kaum zu erstellen ist, was auf die Popularität dystopischer und post-apokalyptischer Szenarien sowie düsterer Science-Fiction in allen Medien, fiktionalen, nicht-fiktionalen Formaten und ihren Zwischenformen sowie die hohe Varianz an Produktions- und Distributionsformen zurückzuführen ist. Eine Typologisierung dystopischer TV-Serien stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar. Ein solches Projekt wäre der Exemplarizität verpflichtet und sollte weder auf eine bestimmte Gruppe von Serien dystopischen Charakters noch auf einen vollständigen Überblick setzen. Vielmehr sollte sich eine Kartierung dieses Feldes an Serien orientieren, die möglichst unterschiedliche Kriterien repräsentieren. In diesem Sinne wurden auch die Serien ausgewählt, die die Grundlage des oben skizzierten ersten Überblicks bieten.1 Ausgehend von einem breit gefächerten Korpus könnten Dystopien nach Themen kategorisiert und Sub-Genres zugeordnet werden.2 Produktiv wäre die Zuordnung zu 1

2

Die Kriterien für einen möglichst breit gefächerten Korpus wären u.a. Bezüge zu Nachbargenres wie Science-Fiction und (Post-)Apokalypse, Vielfalt an Trends der extratextuellen Gegenwart, die in der Dystopie extrapoliert werden (Pandemien, despotisch regierte Staaten etc.), offene versus geschlossene Serienformen, verschiedene Distributions- und Rezeptionswege, verschiedene Produktionsländer und Rezeptionsgruppen, fiktionale versus nicht-fiktionale Serien, Real- versus Animationsfilm etc. Schweikart 2014 unterteilt gegenwärtige dystopische Romane und Romanserien für Kinder und Jugendliche in regressive, zukunftsorientierte Dystopien sowie »Untergruppen«, zu denen »kulturell-mediale[]« und »ökologische[]« Dystopien gehören; ebd., S. 18–20. Akremi 2016 greift in ihrer Typologie auf ein sehr umfassendes Korpus dystopischer Spielfilme zurück, die sie in vier »Settingtypen« einordnet und diese wiederum in Untergruppen aufgliedert: Settingtyp 1: »Einschränkung der Freiheit – Totalitarismus«, Settingtyp 2a: »Super-Gau – Krieg«, Settingtyp 2b: »Super-Gau – Naturkatastrophen«, Settingtyp 3a: »Konkurrenz Mensch und Technik – Herrschaft der Maschinen«, Settingtyp 3b: »Konkurrenz Mensch und Technik – Menschliches Ebenbild«, Settingtyp 3c: »Konkurrenz Mensch und Technik – Simulation«, Settingtyp 4a: »Eskalation von Gewalt – Gewaltverdrängung«, Settingtyp 4b: »Eskalation von Gewalt – Gewaltverherrlichung«. Mehrfachzuordnungen von Filmen zu den Settingtypen sind möglich; ebd., S. 169ff. Aufgrund seiner Reichweite, der hohen Anzahl an Serien, und weil er bis dato den einzigen Typologisierungs-Vorschlag zu dysto-

144

III. Begründung der Serienauswahl

serienspezifischen Kategorien, um vor allem relativ junge dystopische Erzählmuster zu erfassen: Wayward Pines und Persons Unknown stehen in der Tradition von The Prisoner und handeln jeweils von einer unfreiwillig an einem Ort versammelten Gemeinschaft, die sich gegen ihren Willen in einem von außen reglementierten System wiederfindet, das zur gegenseitigen Überwachung und uniformen Verhaltensweisen führt.3 Zudem gehen die Serien mit Mystery-Elementen einher und das Dystopische bleibt auf einen kleinen Teil der Menschheit beschränkt.4 Diese Serien teilen wichtige Strukturen, ihre Ähnlichkeiten treten aber unter Verwendung altbekannter Genrebezeichnungen wie ›post-apokalyptische Dystopie‹ nicht hervor, da die Gesellschaft in The Prisoner und Persons Unknown nicht von einer Katastrophe, wie in Wayward Pines, sondern von geheimen Organisationen herbeigeführt wird. Ein Nachteil einer thematischen Kategorisierung serieller Dystopien ist allerdings, dass sie zu Mehrfachnennungen der einzelnen Serien führt: The Handmaid’s Tale verbindet z.B. verschiedene Subgenres und kann sowohl als regressive, als feministische, kritische oder post-apokalyptische Dystopie typologisiert werden. Eine weitere Schwierigkeit dieses Vorgehens besteht in der Volatilität von Themen und Subgenres, da sich die Serien in ihrem Verlauf ändern. Mit Blick auf die erste Staffel kann Westworld als dystopisch bezeichnet werden, weil die Androiden willkürlich und oft brutal durch die Mitarbeiter und Gäste des Parks dominiert werden. In der zweiten Staffel lehnen sie sich gegen die aus ihrer Sicht despotische Gesellschaftsordnung im Sinne einer kritischen Dystopie auf. Durch die Expansion der Handlung in die Welt außerhalb der Erlebnisparks innerhalb der dritten Staffel wird schließlich ein globales Regime deutlich, in dem eine künstliche Intelligenz die Lebenswege der Menschen vorbestimmt und Abweichler ausschaltet, womit wiederum von einer dystopischen Gesellschaft und einem despotischen Machtapparat aus Sicht der Mehrheit der Menschheit gesprochen werden kann. Somit lässt sich Westworld zwar als Dystopie einordnen, aber immer wieder mit Blick auf andere soziale Gruppen und aus anderen Gründen: Das fortgesetzte Erzählen der Serie macht aus dem Terror-Regime, unter dem die Androiden leiden, am Ende der ersten und in der zweiten Staffel eine kritische Dystopie, wohingegen die despotisch herrschenden Menschen in Staffel drei selbst zu Unterdrückten einer digitalen Diktatur werden.

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pischen TV-Serien darstellt, muss an dieser Stelle auch der englischsprachige Wikipedia-Eintrag »Category:Dystopian television series« [sic!] genannt werden. Die drei Subkategorien lauten hier »Cyberpunk television series«, »Dystopian animated television series« und »Post-apocalyptic television series«; vgl. o.A. (19.04.2016): Category:Dystopian television series. In: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. https://en.wikipedia.org/wiki/Category:Dystopian_television_series, aufgerufen am 20.03.2020. Vgl. Persons Unknown (2010), USA: NBC, Creator: Christopher McQuarie; sowie The Prisoner (1967–68), UK: ITV, Creator: Patrick McGoohan. Diese Aussage trifft für The Prisoner und Persons Unknown insofern zu, als jeweils nur die Bevölkerung einer Kleinstadt panoptischen Praktiken ausgesetzt ist, während der Rest der Menschheit von diesen – mutmaßlich – unberührt bleibt. In Wayward Pines wird jedoch davon ausgegangen, dass die Bewohner der Kleinstadt zugleich die einzigen Menschen sind – eine Prämisse, die spätestens mit dem Auftauchen des FBI-Agenten Adam Hassler in Staffel zwei ins Wanken gerät.

3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse

Für die Auswahl der Serien, die als Gegenstände der Raumanalysen dienen, ist hingegen ein engeres Raster erforderlich. Ausgewählt werden Serien, die dem vorgestellten Arbeitsbegriff der Dystopie entsprechen – also Serien, die Gesellschaften unter einem despotischen bzw. totalitären Regime darstellen, zugleich aber, im Sinne der kritischen Dystopie, Anzeichen für einen sozial-politischen Wandel aufweisen. Um zugleich die angedeutete Varianz gegenwärtiger dystopischer Serien des Post-TV bezüglich weiterer Faktoren wie Distribution, Rezeption, Nationalität und Serienformen abzubilden, fällt die Wahl auf fünf Serien, die im Folgenden vorgestellt und auf ihren dystopischen Gehalt hin erörtert werden (vgl. Tab. 3).

Titel (showrunner/ creator)

Ausstrahlungszeitraum, Land

Staffeln/ Episoden

Sender/ StreamingDienst

Primäre Distribution

Alpha 0.7 – Der Feind in dir (Sebastian Büttner, Oliver Hohengarten)

14. November 2010, D (+21.12.201025.01.2011)

1 Staffel, 6 Episoden (+Hörspiel: 1 Staffel, 6 Episoden)

SWR

Lineares TV (SWR) Mediathek (SWR, ARD) Radio (SWR2)

Wayward Pines (Chad Hodge)

14. Mai 2015–27. Juli 2016, USA

2 Staffeln, 20 Episoden

FOX

Lineares TV Mediathek

The Man in the High Castle (Frank Spotnitz)

15. Januar 2015–15. November 2019, USA

4 Staffeln, 40 Episoden

Amazon Prime Video

StreamingDienst

Trepalium (Antarès Bassis, Sophie Hiet)

11., 18. Februar 2016, F

1 Staffel, 6 Episoden

Arte France

Lineares TV

146

III. Begründung der Serienauswahl 3% (Pedro Aguilera)

25. November 2016–14. August 2020, BR

4 Staffeln, 33 Episoden

Netflix

StreamingDienst

Tab. 3: Übersicht der untersuchten Serien

Die Handlung von Alpha 0.7 – Der Feind in dir beginnt im Jahr 2017 in Stuttgart. Das Unternehmen Protecta Society hat Brainscanner entwickelt, mit denen sich prüfen lässt, ob ein Mensch eine Prädisposition zu Gewalttätigkeit aufweist. Das Unternehmen, das von Uwe Gonzoldt und Professor Harald Rösler geleitet wird, steht kurz vor einem Vertragsabschluss über den Verkauf seiner Erfindung an die EU-Mitgliedsstaaten, Abschlüsse mit China und weiteren Ländern stehen in Aussicht. Eine Gruppe um Mila Antonovic widersetzt sich den Zielen des Konzerns und der IT-Angestellte Ralf Brändle wird unfreiwillig zum Mitstreiter. Johanna Berger, eine Mitarbeiterin des Konzerns, wird ohne ihr Wissen Opfer eines geheimen Experiments der Protecta Society: Das Unternehmen lässt in ihrem Gehirn einen Chip implantieren, der Johannas Willen steuern soll. Gonzoldt und Rösler planen, dass Johanna bzw. Alpha 0.7 – so ihre Bezeichnung innerhalb des Experiments – ein Attentat auf die Ministerpräsidentin von BadenWürttemberg verübt, damit der Einsatz der Brainscanner in der Öffentlichkeit eine politische Begründung erhält. Mila und ihre Mitstreiter leisten Widerstand gegen das Ziel des Konzerns und Johanna kann kurz vor dem geplanten Attentat doch ihren freien Willen beweisen und sich der Fremdsteuerung entziehen. Schließlich müssen Mia, Ralf und Johanna fliehen, um sich selbst sowie Johannas Familie zu schützen. An die sechs Episoden, die auf dem Fernsehsender SWR hintereinander ausgestrahlt wurden, schloss sich eine Fortsetzung in Form einer Hörspiel-Serie im Radiosender SWR2 an, die ebenfalls sechs Episoden umfasste.1 Die Handlung der Hörspiel-Serie konzentriert sich auf die Flucht von Johanna, Ralf und Mila vor dem Konzern, der diese schließlich aufspürt, beleuchtet die persönliche Vergangenheit der Unternehmensleiter Gonzoldt und Rösler und hebt die gesellschaftlichen Konsequenzen unmittelbarer menschlicher Überwachung hervor. Am Ende bleibt offen, ob die Bestrebungen der Aktivisten gegen den nationalen und internationalen Panoptismus erfolgreich sein werden, oder ob der Konzern es schafft, seine Erfindung zu vermarkten. Das transmediale Angebot der Serie wurde zudem durch fiktive Internetseiten in die extratextuelle Welt expandiert, die die Illusion einer Nutzung durch diegetische Akteure erzeugen. Somit dehnt sich das diegetische Universum der Serie transmedial aus. Die Dystopie in Alpha 0.7 ist dynamisch: Es wird keine statische Gesellschaft dargestellt, die bereits kontrolliert und uniformiert regiert wird, sondern eine Gesellschaft, die akut von den Bestrebungen eines Wirtschaftsunternehmens und staatlicher Stellen bedroht ist, weil sie zu einem System ohne individuelle Freiheit führen kann. Mit

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Vgl. Büttner, Sebastian/Hohengarten, Oliver (2010–2011): Alpha 0.7 – Der Feind in dir. D: SWR2. Die Hörspiel-Serie wurde in sechs Episoden ausgestrahlt, am 21.12.2010, 28.12.2010, 4.01.2011, 11.01.2011, 18.01.2011 und 25.01.2011.

3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse

dem Argument, der Verlust an Freiheit sei der Preis allgegenwärtigen Schutzes, referiert die Serie auf die durch 9/11 angestoßene Sicherheitsgesetzgebung in der westlichen Welt, die auch unter Zuhilfenahme neuer Überwachungstechnologien realisiert wurde. Die Science-Fiction-Elemente von Alpha 0.7 beziehen sich auf bereits vorhandene Forschungsergebnisse, nach denen sich u.a. anhand von Genanalysen die Wahrscheinlichkeit menschlichen Verhaltens bestimmen lässt. Im Zentrum steht aber kein auf Unterhaltung bedachter Technik-Kult, sondern die Frage, welche Konsequenzen die unmittelbare Überwachung für die Gesellschaft hat. Abgesehen vom offenen Ausgang und der relativ schlagkräftigen Opposition gegen den Konzern liegt mit Alpha 0.7 auch deshalb eine kritische Dystopie vor, weil durchaus ein intertextuelles Spiel mit dystopischen Hypotexten erkennbar ist. Das Szenario, dass ein Computersystem menschliches Leben steuert und dominiert, teilen u.a. Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution und Welt am Draht.2 Zwar überschneiden sich alle in dieser Arbeit verhandelten seriellen Dystopien mit anderen Genres, für Alpha 0.7 ist jedoch ein besonders deutlicher Synkretismus mit dem Thriller und eine geringere Schnittmenge mit dystopischen Erzählmustern festzustellen. Der Titel der Serie Wayward Pines ist zugleich der Name einer Kleinstadt in Idaho, in der sich der seines Gedächtnis verlustig gegangene FBI-Agent Ethan Burke nach einem Autounfall wiederfindet. Nach und nach entdeckt Ethan, dass er sich nicht mehr im Jahr 2014, sondern im Jahr 4200 befindet und zusammen mit den anderen Stadtbewohnern den wahrscheinlich letzten noch überlebenden Teil der Menschheit bildet. Der Psychiater und zugleich Gründer von Wayward Pines, David Pilcher, berechnete in der Vergangenheit den Zeitpunkt, an dem die menschliche Zivilisation zusammenbrechen würde und veranlasste den Bau der Stadt, die Auswahl der zukünftigen Bewohner, die dann gegen ihren Willen entführt wurden, sowie deren Konservierung für das Leben in der Zukunft. Die Wildnis außerhalb der Stadt, die durch ein Gebirge sowie einen elektrischen Zaun abgetrennt ist, wird von mutierten Menschen, Abbies, dominiert. In der ersten Staffel avanciert Ethan durch seine kritische Haltung zum totalitären System innerhalb der Stadtgesellschaft zum Verteidiger liberaler Werte und wird zum Sheriff befördert. Zwar kann er einen Großteil der Bewohner schließlich vor dem Angriff der Abbies retten, opfert sich aber zu diesem Zweck selbst. In der zweiten Staffel ist das System noch rigider geworden, da die Versorgung der Bevölkerung gefährdet ist und die totalitären Maßnahmen zum Ausdünnen von Fachkräften, vor allem in der Medizin, geführt haben. Der Held dieser Staffel ist der Arzt Dr. Yedlin, abermals ein weißer Mann der Mittelklasse,3 und auch diese Staffel mündet in einen Angriff der Mutanten, der den vorherigen in Dramatik und Anzahl der Opfer überbietet. Wayward Pines wurde über den stationären Fernsehsender FOX ausgestrahlt, anschließend war die Serie über das Online-Angebot des Senders, DVDs sowie Amazon Prime verfügbar. Parallel zur ersten Staffel wurde die zehn Episoden umfassende Webserie Gone: A Wayward Pines Story über die Homepage des Senders FOX veröffentlicht: Dabei geht es um einen Wissenschaftler, der erpresst wird, um an den Vorbereitungen 2 3

Vgl. Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution (1965), F/I, Regisseur: Jean-Luc Godard. Vgl. hierzu Lavigne 2018, S. 156f.

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III. Begründung der Serienauswahl

des Wayward Pines-Projektes mitzuarbeiten.4 Die Serie wurde nach der zweiten Staffel abgesetzt. Neben der gleichnamigen literarischen Trilogie von Blake Crouch, die innerhalb der ersten Staffel adaptiert wird, referiert die Serie deutlich auf The Prisoner, aber auch auf literarische Texte wie Looking Backward: 2000–1887 von Edward Bellamy und After London; Or, Wild England von Jefferies.5 Die Serie ist weder ohne das apokalyptische Setting noch ohne die technologische Neuerung der Apparatur denkbar, mithilfe derer der Alterungsprozess von Menschen über Jahrtausende gestoppt werden kann, weshalb auch Wayward Pines einen Hybrid aus Dystopie, Apokalypse und Science-Fiction darstellt. Das Dystopische ist nur ein Teil der Serie, die von der Aufklärung der Hintergründe von Ethans Anwesenheit in der Stadt sowie des Todes eines Kollegen nach dem Muster der Mystery-Serie, z.T. auch des Film Noir, bestimmt ist. Die Angriffe der Abbies auf die Stadt stehen wiederum klar im Zeichen des Horror-Films. Dennoch bestimmen die uniforme Gesellschaft und ihre despotische Regierung immer wieder die Handlung: Bürgern werden Identitäten und Berufe gegen ihren Willen zugewiesen, das Recht auf freie Meinungsäußerung besteht nicht und Abweichungen von der Norm werden mit öffentlichen Hinrichtungen bestraft. In der ersten Staffel glauben die Bürger noch, sich im Jahr ihrer jeweiligen Entführung zu befinden, trauen sich aber aus Angst vor dem System nicht, aus der Stadt auszubrechen oder nach ihren Freunden und Verwandten zu fragen. Eine Reihe gesellschaftlicher Regeln, u.a. »Enjoy your life in Wayward Pines« und »Do not discuss the past«, wird immer wieder zitiert und als kollektives Ritual öffentlich zelebriert, vor allem aber auch durch die Serie selbst in Form paratextueller Cinemagramme persifliert.6 Um den in der ersten Staffel verstorben Stadtgründer wird ein Führerkult etabliert und in der zweiten Staffel schließlich eine Militärdiktatur errichtet. Merkmale der kritischen Dystopie bestehen in den Versuchen der Rebellengruppen, einen Weg aus der Stadt zu finden und das System zu zerstören, aber auch in den Bestrebungen von Ethan bzw. Theo, das Leben in der totalitären Gesellschaft durch Lockerungen von Regeln zu verbessern.

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Vgl. Gone: A Wayward Pines Story (2015), USA: FOX, Creator: Christopher Leone. Vgl. Crouch, Blake (2012): Pines; (2013): Wayward; (2014): The Last Town. Las Vegas: Thomas & Mercer [Wayward Pines-Serie]. vgl. Bellamy, Edward (2007 [1888]): Looking Backward: 2000–1887. Oxford/New York: Oxford University Press; Jefferies, Richard (2017 [1885]): After London; or, Wild England. Edinburgh: Edinburgh University Press. Eine Serie, die das Motiv der Überlebenden nach der Apokalypse aufgreift, ist selbstverständlich The Walking Dead. Das Szenario der post-apokalyptischen Ausbreitung von Tieren und Pflanzen in ehemals von Menschen besiedelte Räume wird besonders in Life After People thematisiert. Eine Parallele zu Looking Backward besteht vor allem im Motiv der Aussetzung des menschlichen Alterungsprozesses, ferner aber auch in Details wie in der zeitgleichen Ausstrahlung von Live-Konzerten für alle Bürger, während sich der Bezug zu After London in der Beobachtung von Überlebenden über den Untergang der menschlichen Zivilisation und über die Ausbreitung von Pflanzen und Tieren in den ehemals von Menschen dominierten Raum manifestiert. Vgl. Aforgrave (14.06.2015): Another Prisoner, Welcome to Wayward Pines. In: aforgrave.de. htt ps://aforgrave.ca/detritus/2015/06/14/another-prisoner-welcome-to-wayward-pines/, aufgerufen am 23.03.2020. Die weiteren sechs auf dieser Website versammelten Regeln lauten: »Be happy«, »Work hard«, »Always answer the phone if it rings«, »Do not discuss the past«, »Do not discuss your life before«, »Do not try to leave«.

3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse

Ferner legt die serielle Dystopie den Rezipienten in analeptischen Bezügen zur extratextuellen Welt sowie in ihrem offenen Ende die Möglichkeit einer alternativen, besseren Welt nahe. Ängste, die die Serie aufgreift und in die Zukunft extrapoliert, sind neben gesundheitlichen Schäden in Folge von Umweltverschmutzung der Untergang der Zivilisation und die Furcht vor totalitären Systemen angesichts zivilisatorischer Krisen. Schließlich kann die Abschottung der Gemeinschaft laut Lavigne als »anti-immigration allegory« verstanden werden.7 In The Man in the High Castle wird eine alternate history kreiert: Die Basiserzählung setzt auf dem nordamerikanischen Kontinent ein, der westlich des Grand Canyon von Japan, östlich von Nazi-Deutschland besetzt ist. Die Handlung basiert auf dem Szenario, die Achsenmächte hätten den Zweiten Weltkrieg gewonnen und die USA sowie den Rest der Welt, abgesehen von wenigen ›neutralen‹ Flächen, eingenommen. Allerdings wird die Herrschaft beider Mächte sowohl durch den Machtanspruch der jeweils anderen Partei als auch durch subversive news reels in Frage gestellt. Diese fiktiven Nachrichtenfilme stellen in dokumentarischer Ästhetik den Sturz der Achsenmächte dar, überaus ikonische Szenen, die den Sieg der Alliierten markieren, sowie solche, die symbolisch für die Entnazifizierung stehen. Sowohl der Besitz der Filme als auch ihr mutmaßlicher Produzent, der titelgebende ›Mann im hohen Schloss‹, gelten in beiden Staaten als kriminell und werden von den Behörden verfolgt. Neben einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Anzahl von Figuren stehen vor allem Juliana Crain und Handelsminister Tagomi aus San Francisco, Obergruppenführer John Smith in New York sowie Hawthorne Abendsen, der Mann im hohen Schloss, im Zentrum der Handlung. Sie repräsentieren jeweils den Widerstand oder das politische System, sind dabei aber durchaus ambivalent und verfolgen häufig Interessen abseits der politischen Ziele ihrer jeweiligen Gruppierungen. Die Auseinandersetzung zwischen liberalen und faschistischen Wertvorstellungen wird angeheizt durch die zunehmende Bedeutung von Parallelwelten, die von einigen Figuren bewusst, von anderen unbewusst betreten werden. Die Amazon Prime-Serie stellt eine lose Adaption des gleichnamigen Romans von Philip K. Dick dar.8 Darüber hinaus steht die Serie in der Tradition englischsprachiger Dystopien in der Literatur, die von der militärischen Besatzung durch deutsche Nationen ausgehen9 und stellt ihr Wissen um ihren dystopischen Charakter aus, indem sie neben Werken von William B. Yeats und Sigmund Freud auch Brave New World und Brave

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Lavigne 2018, S. 153. Dick, Philip K. (1988 [1962]): The Man in the High Castle. New York: Ace Books. Beispielhafte Dystopien über deutsche Besatzungen anderer Staaten sind u.a. Cromwell the Third; Or, the Jubilee of Liberty (1886), The Invasion of 1910 (1906) von William Le Queux, When William Came: The Story of London under the Hohenzollerns (1913) von H. H. Munro und America Fallen! The Sequel to the European War (1915) von J. Bernhard Walker; vgl. Claeys 2016, S. 310f. Dystopien, die einen nationalsozialistischen Staat und dessen Ausweitung auf Territorien anderer Länder darstellen, sind neben The Man in the High Castle von Dick auch Burdekins Swastika Night und Fatherland von Robert Harris; vgl. Burdekin, Katharine (1985 [1937]): Swastika Night. New York: Feminist Press; Harris, Robert (1992): Fatherland. London: Hutchinson. Stableford 2020 führt Land under England von Joseph O’Neill (1935) als »anti-fascist dystopia[]«; ebd.

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III. Begründung der Serienauswahl

New World Revisited von Huxley als verbotene Literatur visuell zitiert.10 Wie bereits erwähnt, ist auch The Man in the High Castle im Laufe der seriellen Narration zunehmend von Science-Fiction-Elementen bestimmt und entwirft zugleich ein post-apokalyptisches Szenario, da die Schreckensherrschaft von Japanern und Deutschen erst möglich wird, nachdem sie eine Atombombe auf Washington abwerfen. Dennoch steht auch hier die gesellschaftlich-politische Auseinandersetzung um das bessere System im Mittelpunkt. Die Serie ist eine kritische Dystopie mit offenem Ausgang, da am Ende zwar die Japaner aus Nordamerika abziehen, der Griff Nazi-Deutschlands auf das American Reich gelockert wird und ein Zugang zu einer Parallelwelt die Deutung nahe legt, dass es sich bei den Besuchern aus der anderen Welt eher um Befürworter eines liberalen Systems handelt. Dennoch lässt das Serien-Finale offen, wie Rassismus, Antisemitismus, Führerkult und Staatswirtschaft zurückgedrängt werden sollen. Innovativ ist die Verlegung eutopischer Enklaven nicht nur an marginalisierte Orte und Naturräume, sondern auch in eine Welt, die dem historisch repräsentierten Bild der USA in den 1960ern nahesteht. Das Dystopie-Kriterium des wahrscheinlichen Szenarios wird durch die Serie nicht eingelöst, wenn man argumentiert, dass die globale Dominanz von Nazi-Deutschland und imperialistischem Japan zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung der Serie nicht absehbar ist. Jedoch lässt sich Claeys Begründung für die Kategorisierung des Szenarios als Dystopie an dieser Stelle übernehmen, mit der er Fatherland von Robert Harris kommentiert: »This is not a dystopia in the sense of a society we wish to avoid, but rather one we perhaps only narrowly escaped«.11 Genau in diesem Was-wäre-wenn liegt die Warnung der Serie vor einem zeitgenössischen Problem, nämlich dem Rassismus und Nationalismus in den USA, der vor dem Hintergrund der Trump-Administration und der erstarkenden Alt-Right-Bewegung ab 2016 jedoch an Aktualität und Relevanz gewinnt. In Trepalium wird eine Stadt dargestellt, die durch eine kreisrunde Mauer von ihrem verwüsteten Umland getrennt ist. Innerhalb des Stadtstaates regiert Premierministerin Passeron, allerdings unter dem starken Einfluss des Konzerns Aquaville, der ein Monopol auf sauberes Trinkwasser besitzt und dessen rigide Firmenpolitik die Gesellschaft dominiert. Die Stadtbevölkerung ist untereinander bis in die Familien hinein emotional entfremdet, verhält sich uniform und ist stets drauf bedacht, für ihre Arbeitgeber den größtmöglichen Nutzen zu erbringen. Denn all diejenigen, die aufgrund von Krankheit oder anderen Gründen keinen ökonomischen Mehrwert erzielen, werden arbeitslos und müssen die Stadt verlassen. Außerhalb der Stadtmauern leben die Entrechteten und Besitzlosen in der Zone. Unter dem Druck der Weltbank, von der sich die Premierministerin Kredite erhofft, muss sie die friedliche Koexistenz zwischen Stadt- und Zonenbewohnern beweisen und ermöglicht einigen Außenbewohnern über ein Lossystem den Zugang zur Stadt als Hilfsarbeiter bzw. ›Solidarische‹. Die außertextuellen Probleme, auf die die Serie referiert, werden mit aller Deutlichkeit präsentiert: Wassermangel, Umweltzerstörung sowie Massenarbeitslosigkeit begründen ein neokapitalistisches System, dessen Abschottungspolitik zugleich als Verweis auf weitere unbewältigte Probleme wie Flucht und unkontrollierte Migration verstanden werden kann.

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Vgl. The Man in the High Castle S2E2, »The Road Less Travelled«. Claeys 2016, S. 479.

3. Auswahl und Darstellung der Serien für die Raumanalyse

Die negativen Konsequenzen des radikal-kapitalistischen Systems sowie dessen Zerstörung durch Rebellen werden wie in den anderen Serien durch Figuren präsentiert, die für verschiedene Schichten und Interessen stehen. Ruben ist Angestellter bei Aquaville und erhofft sich eine höhere Position. Als seine Frau Thaïs, die sich in einen Rebellen verliebt hat, von diesem entführt wird und nicht mehr Zuhause erscheint, ersetzt er sie durch Izia, eine Solidarische aus der Zone, die Thaïs äußerlich exakt gleicht. Im Laufe der Serie wird aufgedeckt, dass der Konzern Aquaville das Wasser für die Zonenbewohner verunreinigt. Die Rebellen greifen die Stadt an und stürzen Konzern und Regierung, in einer der finalen Szenen wird jedoch angedeutet, dass der Anführer der Rebellen und die angeblich exekutierte Premierministerin im Verborgenen zukünftig gemeinsam die Stadt regieren werden. Bei Trepalium handelt es sich ebenso wie bei Alpha 0.7 um eine mini series, die bereits zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollendet war, und somit um ein geschlossenes serielles Format. Die Serie kann folglich auch als segmentiertes Werk angesehen werden. Zusammen mit der Kernserie wurde das interaktive Hörspiel A l’ombre du mur – Journal d’un inutile/Im Schatten der Mauer. Tagebuch eines Nutzlosen über die Homepage des Senders Arte zugänglich gemacht. Auf der mittlerweile inaktiven Internetseite ergänzten sich Hörspiel-Episoden, fiktive Zeitungsausschnitte, Flugblätter und Zeichnungen und brachten gemeinsam eine Erzählung hervor, die die ›Leerstelle‹ zwischen der Zuschauerschaft zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung sowie der Gesellschaft des fiktionalen Zukunftsszenarios überbrückte.12 Der homodiegetische Erzähler Hector berichtet in seinem Tagebuch in unregelmäßigen Abständen von den sozialen Unruhen in Frankreich und dem Übergang zu einem neuen Gesellschaftssystem, das schließlich durch den Bau einer Mauer markiert wird. Trepalium ist unter den ausgewählten fünf Serien diejenige, bei der die wahrscheinliche Extrapolation eines gegenwärtigen Missstandes den meisten Raum einnimmt – was die These stützen würde, dass Themen dieser Art nur in ›kurzen‹ Serien erzählt werden können. Zwar stehen auch hier zwischenmenschliche Konflikte im Zentrum der Handlung, allerdings fast ausschließlich, um die Auswirkungen des totalitären Systems auf die Individuen zu illustrieren. Ebenso wie andere kritische Dystopien liegt auch hier ein offenes Ende vor, das nicht klärt, wie eine gerechtere Gesellschaft aus der fiktiven Korporatokratie heraus aufgebaut werden soll. Mit dem erfolgreichen Widerstand der Rebellen sowie der Schaffung der eutopischen Enklave des ›Südens‹, der nur als Sehnsuchtsort emotional aufgeladen, nie aber konkret beschrieben oder audiovisuell erfahrbar wird, liegen weitere Kriterien der kritischen Dystopie vor. Hinzu kommt, dass mit der paratextuellen seriellen Erzählung des Tagebuchs eine Art Übergangserzählung zwischen extratextueller Welt und Kernserie geschaffen wird, die den Rezipienten sowohl signalisiert, dass sich ihre gegenwärtige Situation in eine dystopische Gesellschaft

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Vgl. hierzu Cadène, Thomas/Mardon, Grégory (2016): A l’ombre du mur – Journal d’un inutile/Im Schatten der Mauer. Tagebuch eines Nutzlosen. http://trepaliumjournal.arte.tv/fr, aufgerufen am 20.03.2020 [inaktiver Link]. Einen Eindruck über das mittlerweile nicht mehr zugängliche Hörspiel vermittelt die Homepage von Upian, dem Produktionsteam, dem Autor und Zeichner des Journal d’un inutile angehören; vgl. Upian (o.A.): A l’ombre du Mur. In: upian. Stories & Interfaces since 1998. https://www.upian.com/en/project/trepalium, aufgerufen am 17.09.2020.

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III. Begründung der Serienauswahl

verkehren könnte, zugleich aber auch darauf verweist, dass das Leben in der Stadt von Trepalium keinesfalls ohne Alternative ist. Die Basiserzählung der fünften Serie des Korpus, 3 %, setzt 104 Jahre nach der Etablierung des Processo und wahrscheinlich deutlich über 100 Jahre nach dem Zeitpunkt der Erstausstrahlung der ersten Staffel ein. Der Processo ist ein ritualisierter Auswahlvorgang, an dem die Bürger im Alter von 20 Jahren einmalig teilnehmen. Die Bewerber, die nach einem Auswahlgespräch zum Processo zugelassen werden, partizipieren an Wettbewerben, in denen sie ihre mentale und körperliche Stärke in Konkurrenz zu oder Kooperation mit anderen unter Beweis stellen müssen. Die Gewinner, ausschließlich 3 Prozent der Gesellschaft, dürfen das Festland, einen riesigen Slum, verlassen und fortan ohne Existenzsorgen auf einer Insel leben. Die Inselgemeinschaft wird nicht durch Nachwuchs gesichert, da alle Ankömmlinge vorher sterilisiert werden, sondern ausschließlich durch das Auswahlverfahren. Dieser Meritokratie steht wie den anderen fiktiven Gesellschaften der Umsturz bevor, angeführt durch die Rebellengruppe La Causa. Die Protagonisten sind u.a. Michelle, eine verdeckte Vertreterin der Rebellen, die sich im Zuge der Serie jedoch entschließt, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, sowie Joanna und Rafael. Ebenso wie Trepalium greift 3 % auf ein tradiertes Raummodell von Dystopien zurück und bezieht sich somit implizit auf einen ganzen Kanon traditioneller Dystopien.13 Vor allem aber durch die Inszenierung von Wettkämpfen zwischen jungen Menschen, die qua Verfassung vorgeschrieben sind, stellt sich 3 % in die noch junge, aber einflussreiche Tradition von The Hunger Games und The Maze Runner. Zudem ist auch diese Serie eine Adaption: Sie basiert auf der gleichnamigen mini series des creators Pedro Aguilera, die im Wesentlichen innerhalb der ersten Staffel der Netflix-Produktion adaptiert wird.14 Soziale Ungerechtigkeit ist ebenso wie in Trepalium das zentrale Thema von 3 %. Hinzu kommen Überwachungsmechanismen und Repressionen durch die quasi-staatliche Organisation, die ebenso wie die Wettkämpfe und das Gebäude, in dem diese stattfinden, als Processo bezeichnet werden. Die Serie fokussiert aber auch Ängste vor einem drohenden ökologischen Kollaps. So ist der Slum auf dem Festland ein Überrest menschlicher Zivilisation, während die Insel ein Refugium angesichts von Umweltverschmutzung und dem dadurch ausgelösten Zusammenbruch der Gesellschaften darstellt. Wie bei den anderen Produktionen handelt es sich bei 3 % um eine kritische Dystopie, die statische Gesellschaftskonzepte besonders deutlich ablehnt. Als Gegenmodell zur Insel Maralto, die das Zentrum der vermeintlich besseren Welt darstellt, etablieren Aussteiger und Widerständler in der dritten Staffel von 3 % die Concha bzw. ›die Muschel‹. Dabei handelt es sich um ein eutopisches Wohnprojekt und »um terceiro lugar, uma alternativa«,15 also »einen dritten Ort, eine Alternative«, in dem diejenigen Zuflucht finden, die weder im Slum noch auf der Insel leben wollen. Dieses Projekt scheitert u.a. aufgrund mangelnder Solidarität der Bewohner untereinander sowie durch Sabotage von Seiten des Processo. Die vierte Staffel endet schließlich mit dem Sturz des semi-staatlichen Regimes und eröffnet die Möglichkeit der Etablierung einer demokratischen Gesellschaft auf dem Continente bzw. im Slum. 13 14 15

Vgl. hierzu den Typ der sozialen Segregation in V.2 in dieser Arbeit. 3 % (2011), BR: YouTube, Creator: Pedro Aguilera. 3 %, S2E10, »Capítulo 10: Sangue«.

4. Potentiale für die Raumanalyse

Mit Blick auf ihre Rauminszenierungen sind diese Serien interessant, weil sie vergleichbare Erfahrungen von Räumen anbieten und auf tradierte Muster dystopischer Räume zurückgreifen, zugleich aber unterschiedliche Akzente setzten, wie im Vergleich von Alpha 0.7 und seinen realitätsnahen, gegenwärtigen Architekturen mit den durch NS-Bauweisen und Hakenkreuze diegetisch verfremdeten Bauten von The Man in the High Castle deutlich wird. Eine gewisse Bandbreite zeichnet sich auch in der Serialisierung der Räume ab: Während Trepalium sein Setting nicht verändert, wird das fiktive Territorium in 3 % im Rhythmus von Episoden und Staffeln entfaltet und erweitert. Auch schreiben sich Produktions- und Distributionsfaktoren in die Rauminszenierung ein, was an Unterschieden des looks bzw. des audiovisuellen Bildraums zwischen der ersten und dritten Staffel in 3 % oder den wechselnden Drehorten zwischen den beiden Staffeln von Wayward Pines für den gleichen fiktiven Handlungsort deutlich wird.1 Die transmediale Ausweitung der storyworld, die in Wayward Pines über eine Webserie, in Alpha 0.7 über Internetseiten sowie eine Hörspiel-Serie und in Trepalium über das interaktive Hörspiel ergänzt wird, spiegelt zudem ein gegenwärtiges Phänomen seriellen Erzählens im Post-TV wider. Darüber hinaus eignen sich diese fünf Serien für die Raumanalyse, weil ihre Handlungen ohne ihre diegetischen Räume nicht denkbar wären. Die oppositionellen semantischen Räume in 3 %, Trepalium und Wayward Pines bedingen Konflikte zwischen Außen- und Innenwelt, ebenso wie die Ausbreitung des diegetischen Raums in The Man in the High Castle innerhalb der fiktiven Welt und ihrer Parallelwelt, die mit der sich in Schleifen bewegenden Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des Widerstandes, Japanischem Kaiserreich und deutschem Nationalsozialismus korrespondiert. Die Wahl Stuttgarts als Handlungsraum für Alpha 0.7, der sowohl mit Vorstellungen innovativer Ingenieurskunst als auch biedermeierlicher Ordnung besetzt ist, gestattet erst die Privatisierung des Konflikts zwischen wirtschaftlich-staatlichen Eingriffen in die Rückzugsorte der Bürger.

1

Für Außenszenen der ersten Staffel wurde z.T. in der kanadischen Stadt Agassiz gedreht, während die zweite Staffel überwiegend in gebauten Kulissen gefilmt wurde.

IV. Analyse der Serienräume

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

In diesem Kapitel geht es um die Funktion, die Rauminszenierungen in der Rezeption serieller Dystopien innehaben: Zu diesen zählen die Gewährleistung von Orientierung im Serienraum; eine Darstellung, die zur Immersion in die storyworld einlädt oder eher zu einer Wirkung der Distanz führt; der Aufbau einer bestimmten Atmosphäre durch die Rauminszenierung; sowie die Gratifikation und Unterhaltung der Zuschauer, z.B. aufgrund hochwertiger Raumdarstellungen. Ausgegangen wird von der These, dass Serien storyworlds generieren, deren Raum sich von den Rezipienten erfahren lässt.1 Die Serie selbst stellt einen hodologischen, sich linear und sukzessive erweiternden Raum dar, den die Rezipienten anhand einzelner Einstellungen vervollständigen und erfahren.2 Dieser Raum muss in der Regel so strukturiert werden, dass die Navigation ermöglicht wird und die Diegese zugänglich wirkt. Im Rahmen der textanalytischen Untersuchung lassen sich nicht alle Funktionen, Rezeptionsmodi oder ästhetischen Wirkungsweisen angemessen untersuchen. So existiert zur Beantwortung der Frage, ob die Zuschauer z.B. Alpha 0.7 wegen der hochwertigen Ansichten des Stuttgarter Umlands rezipieren, weder eine Datengrundalge in Form von Fan Foren noch gibt der serielle Text hierüber Auskunft. Dieses Kapitel beschränkt sich aus diesen Gründen auf die Untersuchung der Rauminszenierungen mit Blick auf ihre Orientierungsfunktionen und ihr Potential, zur Immersion der Zuschauer in die Seriendiegese beizutragen. Im letzten Abschnitt wird erörtert, welche Atmosphären durch Rauminszenierungen tendenziell in den seriellen Dystopien erzeugt werden. Da es sich um eine Analyse des seriellen Textes handelt, werden keine Aussagen über konkrete Zuschauer, empirisch erhobene Daten von Nutzungsgewohnheiten oder psychologische Effekte formuliert. Stattdessen wird von modellhaften Zuschauern ausgegangen, die die Serien jeweils im Sinne Piepiorkas als »Leerstelle« in den seriellen Text einschreibt und »implizit voraussetzt«.3 1 2 3

Vgl. Adkins 2018, S. 2. Diese Vorstellung lässt sich auch anhand der filmphänomenologischen Ausführungen von Sobchack und Morsch in II.2.2 in dieser Arbeit begründen. Vgl. Günzel 2008, S. 132f. bzw. II.2.4.3 in dieser Arbeit. Piepiorka 2017, S. 203. Piepiorka umgeht mit der Modellierung des Zuschauers als Leerstelle das Betreiben empirischer Rezeptionsforschung. Mit Blick auf transmedial erzählende Serien stellt sie die These auf, dass der »Medientext« seine »zeitliche[n] und räumliche[n] Ordnungsstrategien«

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IV. Analyse der Serienräume

Um vergleichbare Aussagen über die fünf Serien treffen zu können, liegt ein besonderer Schwerpunkt in den Teilkapiteln zur Orientierung und ästhetischen Illusion bzw. Immersion auf der initialen Präsentation des Raums im Serienanfang. Die Raumexposition spielt für die Navigation der Rezipienten im Serienraum sowie für ihre Wahrnehmung desselben eine zentrale Rolle. Britta Hartmann weist darauf hin, dass die Orientierung der Zuschauer »eine der grundlegenden Funktionen des Filmanfangs« ist, wobei der Schwerpunkt noch vor den Figuren auf dem Schauplatz der Handlung liegt.4 Sie bezeichnet die »Initialphase des Erzählprozesses« als eine »›didaktische[]‹ Form narrativer Darlegung«, die den Prozess der Diegetisierung, also den Aufbau eines kohärenten Modells der fiktiven Welt, unterstützt.5 Die Diegetisierung umfasst – neben Informationen zur Zeit und sozialen Regeln der fiktiven Welt – auch räumliche Komponenten, da die Zuschauer das fiktive Universum aus »partiellen Rauminformationen, welche die einzelnen Filmbilder und -töne darbieten«, konstruieren.6 Hierbei greifen sie auch auf »paratextuelle[] Hinweise[]« sowie »Hintergrundwissen verschiedenster Art« zurück. Obgleich das Modell der fiktiven Welt einer »permanente[n] Revision unterworfen« sei,7 werde die Diegese von Fernsehserien »nicht mit Beginn jeder Episode von Grund auf neu« konstruiert, sondern z.B. durch »pre-title sequences« bzw. cold openings zu Beginn einer Episode aufgerufen.8 Einen deutlich immersiven Charakter haben die opening credits von Fernsehserien, die Kathrin Fahlenbrach und Barbara Flückiger deshalb auch als »immersive entryways« bezeichnen, über die die Zuschauer in die Seriendiegese ›eintauchen‹ können.9 Die ritualisierte Rezeption und Vertrautheit des seriellen Textes werden bei Fahlenbrach und Flückiger zu Vorbedingungen gelungener Immersion in den Serienraum.10 Da sich die in den credits dargestellten Räume aber überwiegend von denen innerhalb der Episoden unterscheiden11 und weil der Anfang einer Serie eben nicht Vertrautheit durch Wieder-

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an den (modellhaften) Zuschauer ausrichtet; ebd., S. 28. Als Beleg führt Piepiorka verschiedene »Adressierungsstrategien« in den Serien Breaking Bad, The Walking Dead und Game of Thrones sowie deren transmedialen Erweiterungen an. Hierzu zählt sie u.a. wiederkehrende intratextuelle Verweise auf einen Flugzeugabsturz in Breaking Bad, die sich durch akribische Beobachtung von den Rezipienten entdecken ließen; vgl. ebd., S. 202–220. Hartmann, Britta (2007): Diegetisieren, Diegese, Diskursuniversum. In: Montage AV 16.2, S. 53–69, S. 53. Sowohl Hartmann 2007 (S. 54) als auch Mittel 2015 (S. 55f.) vermengen unter dem Begriff der Orientierung Aspekte der Narration und der Rezeption miteinander. Hartmann 2007, S. 54. Von der Orientierung unterscheidet Hartmann die Exposition, die »Informationen über Ereignisse der Fabel, die vor dem ›Nullpunkt‹ des Plots liegen«, vermittelt; ebd. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Vgl. Fahlenbrach, Kathrin/Flückiger, Barbara (2014): Immersive Entryway into Televisual Worlds. Affective and Aesthetic Functions of Title Sequences in Quality Series. In: Projections 8.1, S. 83–104, hier S. 84. Ebd. Die Räume von opening credits haben häufig eher einen symbolischen Status, sie werden assoziiert mit Figuren, Handlungen etc. oder werden im Laufe der Serienausstrahlung zum ›Markenzeichen‹ der Produktion. Einen metaphorischen und assoziativen Charakter weisen insbesondere die Räume der opening credits der Serien auf, die Fahlenbrach und Flückiger untersuchen: Dexter, Six Feet Under und True Blood. Auch dann, wenn in den Räumen der opening credits Handlungen stattfin-

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

holung generiert, sind opening credits ungeeignet zur Untersuchung dystopischer Serienräume. Interessanter ist hingegen Mittells Beobachtung, nach der der Serienanfang – bei Mittell fast ausschließlich die Pilotepisode – eine inspirational function aufweist: Dieser Begriff umschreibt die Funktion des Anfangs, das Interesse der Zuschauer an der Serie bzw. ihrer storyworld aufzubauen.12 Die Pilotepisode müsse zugleich vertraut und original erscheinen, weshalb es sich bei ihr um die untypischste Episodenform und zugleich um eine höchst konventionale Darstellungstechnik handele, mit der Fernsehserien an die Sendernetzwerke und die Zuschauer vermarktet würden.13 Mitunter beginnen aber auch die ersten Episoden von Serien nicht mit den opening credits, sondern mit cold openings. Dieses Segment beschreibt Paefgen als »[e]ine Szene, die mehr oder weniger ohne paratextliche Vorbereitung den Zuschauer übergangslos in die diegetische Welt entführt«.14 Serienanfänge haben nach den opening credits die Dauer einer gesamten Episode, um die Zuschauer in die fiktive Welt einzuführen und einen Effekt der Immersion hervorzurufen. Im Gegensatz dazu ist, Paefgen zufolge, das cold opening »ein ›brutaler‹ Anfang«, der »den Bruch zwischen ›Diegese und Alltag‹« hervorhebt.15 Bei diesen Segmenten handelt es sich ebenso wie bei Pilotepisoden um serielle Erzählformen, die durch ihre »Voranstellung« hervorgehoben sind und »allegorisch für die Episode, für die Staffel oder gar für die ganze Serie stehen«.16 Insbesondere am Anfang der Serie können cold openings aber durch den Einstieg in medias res ein besonderes immersives Potential aufweisen. Darauf deutet auch Paefgens folgende Beobachtung hin: Cold openings »nehmen den Zuschauer (besonders) ernst […], wenn gleich zu Beginn des Unternehmens (eis)kalt gestartet wird und […] ins diegetische Geschehen hineingesprungen wird«.17 Als Raumexposition wird im Folgenden das Segment definiert, in dem die wichtigsten Handlungsräume der Serie – vor dem Hintergrund der ersten Staffel – zum ersten Mal explizit vorgestellt werden. Dabei kann es sich um ein cold opening, den Anfang der Pilotepisode oder mehrere Abschnitte der Pilotepisode handeln.

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den, wie z.B. in The Simpsons, steht der Raum eher symbolisch für die gesamte Serienwelt sowie ihre narrativen Gesetze, aber nicht für eine Handlung oder Figur in der konkreten Szene – anders, als es innerhalb der Kernserie möglich ist. Ausnahmen stellen credits dar, in denen Titelsong, Titelkarte und ggf. Angaben zu Schauspielern, Regisseur und anderen an der Produktion beteiligten Akteuren extradiegetisch über die bereits laufende Handlung überblendet werden, wie z.B. in vielen Episoden von Please Like Me; vgl. ebd. (2013–2016), AUS: ABC2/ABC, Creator: Josh Thomas. Auch die opening credits der hier verhandelten seriellen Dystopien sind in hohem Maße assoziativ, metaphorisch und symbolisch aufgeladen. Mittell 2015, S. 56. Ebd. Dies gilt auch für Serien, die von Streaming-Diensten produziert und ausgestrahlt werden, wie z.B. The Man in the High Castle; vgl. Schleich/Nesselhauf 2016, S. 151. Paefgen, Elisabeth K. (2018): (Eis)Kalte Eröffnung! – Wie fangen Serien an? Erster Versuch zu einer Didaktik des Anfangs. In: Krüger, Klaus/Kranhold, Karin (Hg.): Bildung durch Bilder: Kunstwissenschaftliche Perspektiven für den Deutsch-, Geschichts- und Kunstunterricht. Bielefeld: transcript, S. 143–167, S. 150. Ebd. Ebd., S. 151. Auch Pilotepisoden können für die gesamte Serienhandlung und ihren ästhetischen und narrativen Stil stehen: Mittel konstatiert unter dem Begriff der educational function, dass die Pilotepisode die Zuschauer ›lehrt‹, wie eine Serie zu rezipieren ist; vgl. Mittell 2015, S. 56. Paefgen 2018, S. 151.

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IV. Analyse der Serienräume

1.1 Orientierung Orientierung im diegetischen Raum geht auf Seiten der Zuschauer mit dem Aufbau mentaler Modelle einher. Schmidt schlägt eine Unterscheidung »zwischen zwei verschiedenen Prozessen der räumlichen Modellbildung« vor: »der Bildung von mentalen Modellen des Textverstehens, die auch bei rein sprachlich vermittelten Erzählungen wie einem Roman wirksam sind, und von mentalen Modellen der Wahrnehmung, die bei visuelle [sic!] Medien zusätzlich zur Anwendung kommen«.18 Beim Textverstehen rekonstruiert der Rezipient […] den ausgesagten Inhalt, das heißt die räumliche Gestaltung und Anordnung der Handlungsorte, im Sinne eines Spatial Mental models [sic!] […]. Dies gilt in gleicher Weise für das Lesen eines Romans wie für das Sehen eines Films und ist ein Prozess der permanenten Bildung von Hypothesen darüber, wo was wann geschieht und wie diese Orte ›tatsächlich‹ räumlich zueinander in Beziehung stehen. […] Das räumliche Modell, das der Rezipient dabei gedanklich konstruiert, ist jedoch nicht als ein vollständiger metrischer Raum zu begreifen, sondern eher als eine möglichst widerspruchsfreie Topologie räumlicher Relationen.19 Die Prozesse, die zum Aufbau einer kohärenten »Geografie« des diegetischen Raums führen, treten Khouloki zufolge erst dann in den Vordergrund, wenn die dafür notwenige »Kognitionsleistung den Großteil der Aufmerksamkeit« der Zuschauer benötigt.20 Dies sei dann der Fall, wenn »Orientierungsparameter[n]« aus dem Alltag durch die filmische Darstellung widersprochen werde.21 Zur Erstellung des Modells des diegetischen Raums sowie zur Navigation im diegetischen Raum greifen Rezipienten Miklós Kiss zufolge auf die Fähigkeiten zurück, die sie auch in der realen Welt anwenden, da Menschen nicht über Organe verfügen, die speziell zur Orientierung in filmisch-diegetischen Räumen ausgebildet sind.22 Darüber hinaus gebe es aber auch deutliche Unterschiede zwischen der Erfahrung des realen und des imaginären Raums im Film: »The disassociation of mind and body is responsible for self-evident differences in the experiencing process, as for example, climbing a real mountain and watching somebody who is climbing a mountain are not the same experiences«.23 Während der Eindruck der Desorientierung auf visueller Ebene u.a. durch unklare oder eine »extrem ausschnitthafte Darbietung des Raums« herbeigeführt werden kann, gibt es Flückiger zufolge auch auditive Strategien, mit denen der filmische Raum in der ›Schwebe‹ gehalten wird.24 Hierzu zählt

18 19 20 21 22

23 24

Schmidt 2013b, S. 59; Herv. i. O. Schmidt bezieht sich dabei auf eine Unterscheidung von Rehkämper 2007. Ebd., Herv. i. O. Khouloki 2007, S. 121. Ebd., S. 122. Kiss, Miklós (2014): Navigation in Complex Films. Real-Life Embodied Experiences Underlying Narrative Categorisation. In: Eckel, Julia et al. (Hg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld: transcript, S. 237–255, hier S. 243. Ebd. Flückiger, Barbara (2005): Narrative Funktionen des Filmsounddesigns: Orientierung, Setting, Szenographie. In: Segeberg, Harro/Schätzlein, Frank (Hg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg: Schüren, S. 140–156, hier S. 154.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

sie »[u]ndefinierbare Geräusche«, Klänge, die sich im Bild nicht lokalisieren lassen sowie »lange[] Nachhallzeit[en]« in großen, leeren Räumen.25 Mittell zufolge seien Räume in Fernsehserien so verständlich dargestellt, dass orienting paratexts, wie z.B. von Fans erstellte Karten, kaum notwendig seien: »Most programmes follow well-established filmic conventions for orienting viewers spatially in any scene, with little sense of purposeful ambiguity and playfulness«.26 Dennoch bilden serielle Dystopien des Post-TV Strategien aus, die den Zuschauern die Navigation im Serienraum erleichtern. Hierzu gehören die initiale Raumexposition, establishing shots sowie Karten und plastische Raummodelle.

1.1.1

Raumexpositionen I

Die Pilotepisoden der dystopischen Serien des Post-TV beginnen überwiegend mit Strategien der Desorientierung. Zwar geben sie bisweilen sogar noch vor Beginn der seriellen Erzählung über einen Prolog oder direkt am Anfang mit verschriftlichten Orts- und Zeitangaben Hinweise zum Handlungsort, vor allem aber durch filmästhetische Mittel lassen sie zumindest teileweise den Eindruck entstehen, der Raum sei unübersichtlich. Desorientierungsstrategien liegen insbesondere in Wayward Pines, Trepalium und 3 % vor. Doch auch die Serien Alpha 0.7 und The Man in the High Castle, die sich um eine störungsfreie Navigation der Zuschauer im diegetischen Raum bemühen, nehmen zumindest motivisch das Thema der (Des-)Orientierung in den Anfängen der jeweils ersten Episoden auf. Zum einen wird durch diese Orts- und Raumeinführungen Spannung erzeugt, mit der die Zuschauer an die serielle Erzählung und ihre storyworld gebunden werden sollen. Zum anderen wird durch die nebulöse Raumdarstellung, durch die dramaturgisch wichtige Auflösung der Desorientierung zur Orientierung, wie sie vor allem in den cold openings von Wayward Pines, Trepalium und 3 % vorliegt, die Aufmerksamkeit auf den Raum als handlungsrelevante Größe gelenkt. Die folgenden Analysen der fünf Kernserien sind nach dem Grad an Orientierung geordnet, beginnend mit der Serie, die den Rezipienten zu Beginn der Erzählung die Navigation im Serienraum besonders erleichtert.

Alpha 0.7 Alpha 0.7 beginnt zwar mit einem cold opening, aus diesem geht allerdings kein Hinweis auf den Handlungsraum Stuttgart oder einzelne Orte hervor. Zu sehen ist Johanna Berger, die dem verletzten Wissenschaftler Prenzinger zu Hilfe eilt.27 Die Szene findet auf einer Landstraße bei Nacht statt. Ausgehend von dieser Eröffnung ließe sich konstatieren, dass die Serie gleich zu Beginn die Navigation der Rezipienten im diegetischen Raum erschwert. Im Anschluss an die opening credits erfolgt allerdings ein establishing shot, in dem Stuttgart und dessen Umgebung aus der Aufsicht bei Tageslicht gezeigt werden. In extradiegetischer Schrift wird die Angabe »Stuttgart 2017« eingeblendet. Auf auditiver Ebene wird die Initialphase durch einen Nachrichtentext begleitet, in dem vom be25 26 27

Ebd., S. 154f. Mittell 2015, S. 173. Die folgende Darstellung bezieht sich auf Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«.

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IV. Analyse der Serienräume

vorstehenden »Sicherheitsgipfel der Europäischen Union« in Stuttgart die Rede ist. Anschließend wird das »Neurowissenschaftliche Pre-Crime-Center (NPC) des BKA Stuttgart« samt extradiegetischer schriftlicher Ortsangabe gezeigt. Der establishing shot greift die Aluminiumfassade des Drehortes, des Porsche-Museums in Stuttgart, auf, und inszeniert sie so, dass sich in der Fassade der darunter liegende Boden und Fahnenmasten spiegeln. Dadurch werden die Lageverhältnisse zwischen oben und unten scheinbar verkehrt, sodass für die Dauer dieser Einstellung ein nichteuklidischer Raum entsteht.28 Im Anschluss wird gezeigt, wie Journalisten und andere Gäste in das Atrium des Gebäudes eintreten. Eine Orientierung im Raum der Serie ist durch diese Einführung durchaus gegeben, selbst ohne die Ortsangaben wäre aufgrund der Kombination von Stadt- und Landschaftspanorama und den Ansichten des NPC deutlich geworden, dass sich der Schauplatz im vorher gezeigten Raum befinden muss. Die einzige Desorientierungsstrategie, die Spiegelung in der Fassade, hat keinen Einfluss auf die Navigation der Rezipienten im diegetischen Raum, sondern ist symbolischer Natur. Dadurch werden in Verbindung mit düsterer Musik der Ort des NPC charakterisiert und die Thriller-Elemente der Serie angedeutet.29 Als Störung der schematisierten Raumeinführung aus den Stationen ›Übersicht über Handlungsraum‹, ›Präsentation des Handlungsortes‹ sowie ›Beginn der Handlung‹ macht diese Darstellung erst auf die allzu gefällige Orientierungsstrategie der Serie aufmerksam. Während der Wohnort der Familie Berger, ein Einfamilienhaus, klar identifiziert und dem Handlungsraum Stuttgart zugeordnet werden kann, lässt sich der Firmensitz der Protecta Society ebenfalls lose in Relation zu den anderen Schauplätzen setzen. Die visuelle Ähnlichkeit zwischen dem Firmensitz und dem NPC durch die Dominanz von Glas, der Farbe Grau und indirektem Licht erschwert jedoch die Differenzierung zwischen beiden Handlungsorten. Daraus erklärt sich auch, dass die Fassade des Firmengebäudes samt Fahnen mit dem Namen des Unternehmens im establishing shot zu sehen sind und nach Johannas Ankunft ein Werbefilm für die Protecta Society gezeigt wird. Der Unterschlupf der Aktivisten von apollon, ein für die Handlung zentraler Ort, wird erst in den letzten Minuten der Episode gezeigt. Allerdings ist die Inneneinrichtung des Zimmers, in dem die Aktivisten ihren Coup im National Pre-Crime Center feiern, kaum von dem Interieur einer durchschnittlichen Wohngemeinschaft zu unterscheiden und verweist noch nicht auf die markante Gestaltung des Verstecks der Gruppe, das in der folgenden Episode zu sehen ist.

The Man in the High Castle Der erste erzählte Raum in The Man in the High Castle, ein Kinosaal, wird eingeführt mit dem Lichtkegel eines Filmprojektors und Geräuschen, die auf das Anlaufen

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Vgl. Khouloki 2007, S. 122. So ordnet Hanfeld die transmediale Serie dem Genre-Verbund »Science-Fiction-Thriller[]« zu; vgl. Hanfeld, Michael (14.11.2010): Ich sehe dir ins Gehirn, mein Kleines! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/fernsehen/alpha-0-7-im-swr-ich-sehe-dir-insgehirn-mein-kleines-11070200.html, aufgerufen am 23.05.2018.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

des Projektors hindeuten.30 Anschließend wird der im Kino gespielte Propaganda-Film des American Reich gezeigt. Die räumliche Einordnung des Handlungsortes in die fiktive Geographie des nordamerikanischen Kontinents ist nachrangig, weil diese bereits durch die Kartendarstellung in den zuvor platzierten opening credits stattgefunden hat.31 Dennoch bleibt Orientierung ein Thema des Anfangs der Pilotepisode, da die räumlichen Charakteristika des ersten Schauplatzes und seiner weiteren Umgebung nur sukzessive deutlich werden. Erst im Laufe des Propaganda-Films wird erkennbar, dass dieser eine eigene metadiegetische Ebene aufspannt und in einem Kinosaal vorgeführt wird. Als der Protagonist Joe das Kino verlässt, zeigt die Aufsicht in der Totalen den Namen des Kinos und dessen urbane Umgebung. Durch eine motivorientierte Kamerafahrt, die auf Joe fokussiert ist, wird allmählich anhand visueller Signale wie dem Kino, geschäftig umhereilender Menschen, einem bei Nacht geöffneten Zeitungskiosk und gelben Taxen sowie von soundmarks32 wie Verkehrsgeräuschen deutlich, dass der Handlungsort eine Großstadt bzw. New York in den (besetzten) USA sein muss. Schließlich ist es aber der Times Square, der trotz der Nazi-Ikonographie als solcher erkennbar ist und aufgrund von Charakteristika wie beleuchteten Werbeschildern bei den Rezipienten medial verbreitete Bilder von New York aktiviert. Spätestens die extradiegetische schriftliche Ortsangabe »Greater Nazi Reich/New York City – 1962« bestätigt die durch lokale visuelle und auditive Merkmale hervorgerufenen Vermutungen. An die Einführung des Schauplatzes New York schließt sich eine zweite Exposition an, in der die Struktur des Episodenbeginns anhand einer anderen Figur und eines anderen Handlungsortes wiederholt wird: Zu Beginn dieser Sequenz steht wieder eine Großaufnahme, die statt des Lichtkegels des Filmprojektors nun aber das Gesicht der Protagonistin Juliana zeigt. Im Anschluss daran wird deutlich, dass die Szene in einer Sporthalle stattfindet bzw. im Dojo, dem traditionellen Trainingsraum für die japanische Kampfkunstart Aikido. Zwar wird aufgrund der Sprache deutlich, dass der Handlungsraum nicht Japan ist, dennoch ist es auch hier erst die motivorientierte und an Juliana ausgerichtete Kamerafahrt, die in den Straßen San Franciscos situiert ist und diese Stadt als Schauplatz der Handlung kennzeichnet. Zentrale landmarks wie die Golden Gate Bridge, die im Stadtpanorama am Ende der filmischen tour am Horizont zu sehen ist, geben ebenso über die Lage des Handlungsortes Auskunft wie die extradiegetische schriftliche Ortsangabe (»Japanese Pacific States/San Francisco«). Der dritte Handlungsraum der Serie, die Neutrale Zone, wird stellvertretend durch den Ort Canon City eingeführt. Existenz und Lage des Ortes innerhalb der Seriengeographie werden bereits vor dessen audiovisueller Präsentation durch verbale Aussagen sowie intra- und extradiegetische Karten bekannt gegeben. Folglich ist die Einführung der Kleinstadt am Ende der Pilotepisode auch weitaus weniger enigmatisch als die von New York und San Francisco: Die Kamera bewegt sich vertikal abwärts entlang eines

30 31 32

Die folgende Darstellung bezieht sich auf The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Vgl. hierzu IV.2.2.2 in dieser Arbeit. In Analogie zu landmarks bezeichnet der Begriff soundmark oder sound mark Flückiger zufolge Laute, die »einen Ort geographisch, zeitlich, kulturell, ethnisch oder sozial definieren« und in der Einführung von Handlungsorten im Film die Orientierung der Zuschauer erleichtern; Flückiger 2005, S. 144.

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IV. Analyse der Serienräume

rostigen Ortseingangsschildes, auf dem unverkennbar ›Canon City‹ steht, darunter und im Bildhintergrund sind Berggipfel der Rocky Mountains zu erkennen, Stromleitungen, die den Himmel durchkreuzen sowie der zum Stehen kommende Bus, mit dem Juliana die Reise in die Neutrale Zone angetreten ist. Es scheint, als wolle sich die Serie der vollumfänglichen Orientierung Ihrer Zuschauer versichern, wenn auf der Seite des Busses nochmal der Namenszug der Stadt bzw. des aktuellen Handlungsortes geschrieben steht. Nachdem Juliana aus dem Bus ausgestiegen ist, erscheint in einer Nahe-Einstellung das Schild des »Sunrise Diner« in Leuchtbuchstaben und die Szene endet mit einem Panorama der Stadt, das aufgrund der Bergkulisse mit vorgelagertem Kiefernwald, der Wellblechdächer, eines mit Baumstämmen beladenen Transportautos und des Stichwortes ›Diner‹ Assoziationen mit gegenwärtigen Kleinstädten des Mittleren Westens der USA, aber auch mit dem Western-Genre weckt.33 Der Serienanfang von The Man in the High Castle benötigt keine eindeutige und schnelle Orientierung, da die der Pilotepisode vorangestellten opening credits durch die Darstellung einer Karte bereits einen Überblick der besetzten USA bieten. Deshalb können Übersichten über den Handlungsraum in allen drei Expositionen hinausgezögert werden. Während sich Canon City ohne Umstände in die etablierte Seriengeographie einfügt, müssen New York und San Francisco durch die Zuschauer erst erkundet werden. Die virtuelle Bewegung der Rezipienten in den jeweils eingeführten Orten New York und San Francisco ist als räumliches Rätsel inszeniert, dessen widersprüchlichen Hinweise, wie z.B. die Verbindung aus SS-Polizisten und gelbem Taxi in Manhattan, zum ›Lesen‹ des Raums aufrufen. Allerdings bleiben die jeweiligen Auflösungen der enigmatischen Raumaufführungen in hohem Maße irritierend, weil sie in den jeweiligen Totale-Einstellungen den japanischen Imperialismus vor der Kulisse der Golden Gate Bridge und den deutschen Faschismus vor dem Times Square inszenieren. Besonders in den Expositionen von New York und San Francisco wird deutlich, dass sich räumliche Orientierung und Atmosphäre beeinflussen. New York erscheint aufgrund der Darstellung bei Nacht und der grotesk anmutenden Nazi-Ikonographie als Ort fremd und bedrohlich. San Francisco hingegen wird bei Tag eingeführt, in Verbindung mit einer körperlichen Aktivität – im Gegensatz zur Rezeption des Films und der Spionage-Tätigkeit im dunklen Kinosaal – in einem betont hellen Raum, gefolgt durch Straßen, in dem die Gesichter von Menschen und ihre Regungen viel eher zu identifizieren sind. Darüber hinaus mündet die tour um Juliana in einem fast stereotypen Blick auf die Golden Gate Bridge und eine Straßenschlucht, zwei für San Francisco typische Raumdarstellungen. Da der Blick in die Weite geht und nicht von Häuserfronten oder Dunkelheit abgeschirmt ist, wie in der Exposition New Yorks, geht die Exposition San Franciscos mit dem Eindruck der Übersichtlichkeit einher. Alle drei Orte – New York, San Francisco und Canon City – werden mit voneinander unterscheidbaren Charakteristika eingeführt, die auch in den folgenden Episoden und Staffeln eine schnelle Differenzierung und störungsfreie Navigation erlauben. So werden die zentralen Schauplätze durch Sehenswürdigkeiten bzw. landmarks repräsentiert, die den Zuschauern auch aus der realen Welt bekannt sind. Canon City hebt sich von den urbanen Zentren hingegen durch seine Einbettung in eine Landschaft und die 33

Vgl. hierzu Haupts 2016, S. 159 sowie III.2.3.2 in dieser Arbeit.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

stereotype Inszenierung des Mittleren Westens ab, womit die Stadt die gesamte Zone und ihren Charakter als Refugium patriotischen Widerstandes gegen die Besatzer repräsentiert. Aber auch die Farbwahl für diese Orte und die von ihnen vertretenen Räume erleichtern die Orientierung im diegetischen Raum. Laut Production Designer Drew Boughton sowie der für die erste Staffel verantwortlichen Kostümdesignerin Audrey Fisher ist das Greater Nazi Reich im Osten der ehemaligen USA an den Farben der NaziUniformen ausgerichtet (Grau, Schwarz und Marineblau), wobei in New York auch rote Akzente vorkommen.34 Die Neutrale Zone sei auf keine einzelne Farbe abonniert, allerdings seien Farben und die Texturen der Bekleidungen ausgeblichen und abgenutzt.35 Die Japanese Pacific States im Westen seien wiederum überwiegend in Blau und Grün dargestellt, womit die Nähe zum Meer symbolisiert werden solle.36

Wayward Pines Wayward Pines beginnt mit der Detailaufnahme vom Auge des Protagonisten Ethan, der sich in einer für ihn und die Rezipienten fremden Umgebung, am Flussufer in einem Wald, wiederfindet.37 Zu hören sind das Plätschern von Wasser, das Rascheln von Blättern, die einzelnen Quellen der diegetischen Töne können aber nicht lokalisiert werden. Ethans Gesicht ist mit der Stirn zum unteren Bildrand und dem Kinn zum oberen hin ausgerichtet (vgl. Abb. 1), die Kamera bewegt sich vom Kopf ›hinauf‹ in Richtung des Unterkörpers. Ebenso wie in Alpha 0.7 werden hier »aus dem Alltag vertraute Orientierungsparameter« durch die Umkehr von »Oben-Unten-Relationen[] außer Kraft gesetzt«.38 Damit wird das Motiv räumlicher Desorientierung im Kerntext der Serie aufgegriffen, das auch in Paratexten von Wayward Pines wie Werbe-Materialien und Buchcovern auftaucht.39 Der Beginn der Episode referiert auf den Anfang von Lost: Auch die Initialphase dieser Serie eröffnet mit der Detaileinstellung auf das sich öffnende Auge

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Vgl. Boughton in Morgan, Laura (11.07.2016): The TV Show Every Design Junkie Should Be Watching. In: Architectural Digest. https://www.architecturaldigest.com/gallery/man-in-the-high-castle -tv-show-every-design-junkie-should-be-watching, aufgerufen am 24.06.2020; sowie Fisher in Kucharski, Joe (13.04.2016): Costume Design for an Alternative History: The Man in the High Castle. In: Tyranny of Style. A closer look at costume design and the language of clothing. http://tyrannyofst yle.com/costume-design-man-in-the-high-castle, aufgerufen am 20.06.2020. Vgl. Kucharski 2016. Vgl. ebd. Die folgende Darstellung bezieht sich auf Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Khouloki 2007, S. 122. Vgl. hierzu ein Date Announcement Banner, das die Ausstrahlung der Serie über den Sender Fox ankündigt (o.A: (2015): Date Announcement Banner Wayward Pines, Staffel 1. https://de.web.img2.acs ta.net/pictures/15/02/20/10/30/426830.jpg, aufgerufen am 20.05.2020) sowie Buchcover der deutschen Ausgabe der Pines-Trilogie von Blake Crouch (Random House (o.A.): Blake Crouch: Psychose. In: Random House. https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Psychose/Blake-Crouch/Goldman n/e560398.rhd, aufgerufen am 20.05.2020).

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IV. Analyse der Serienräume

einer Figur, die sich an einem unbekannten Ort wiederfindet.40 Mit Blick auf diese ersten Einstellungen lässt sich mit Khouloki von einem assoziierten Raum sprechen,41 den die Zuschauer anhand weniger Informationen konstruieren müssen und der ihnen keine verlässlichen Informationen zur Lage bietet. Anschließend wechseln immer wieder Totale- und Panorama-Einstellungen mit Halbnahe- und Nahe-Einstellungen sowie Einstellungen, die jeweils eine interne Fokalisierung über Ethan oder eine externe Fokalisierung nahelegen. So folgt auf die beschriebenen Aufnahmen von Ethans Auge, Kopf und Oberkörper eine Einstellung im Panorama und aus der Aufsicht auf das Waldstück, in dem er aufwacht. Dieser Wechsel zwischen kontrastierenden Raumwahrnehmungen, die einerseits den Standpunkt Ethans, andererseits den einer übergeordneten Instanz imitieren, erlauben zwar eine Einordnung des Schauplatzes in das größere Setting des Waldes, lassen aber potentielle landmarks der Seriendiegese wie das Bergmassiv, den elektrischen Zaun oder die Kleinstadt selbst, die eine räumliche Einordnung ermöglichen würden, aus. Ethans Weg vom Flussufer durch den Wald wird überwiegend in Nahe- und Detailaufnahmen präsentiert. Zu sehen ist u.a. die Detailaufnahme eines Baumes auf Augenhöhe Ethans, an dessen Rinde Harz hinabrinnt. Kurz darauf folgt eine Einstellung, in der sich Licht, Holz und Ethans Schritte im Wasser spiegeln – eine weitere visuelle Referenz auf das Spiegel-Motiv, da bereits mit dem ›umgekehrten‹ Kopf Ethans in den ersten Einstellungen etabliert wird. Der mit assoziativ anmutenden Schnitten dargestellte Weg des Agenten durch die Wildnis suggeriert, dass Ethan sprunghaft Details wahrnimmt und Mühe hat, sich im unbekannten Terrain zurechtzufinden. Diese Einstellungen sind immer wieder unterbrochen von Analepsen, in denen Ethan im Gespräch mit einem Psychiater zu sehen ist. Das Thema des Dialogs korrespondiert mit Ethans ungelenken Bewegungen im Wald sowie dem Spiegel-Motiv, da der Arzt ihn auf dessen Halluzinationen im Zuge eines Traumas anspricht. Die Parallelmontage aus der Szene in der Praxis und der im Wald ruft Fragen nach der zeitlichen Reihenfolge der Geschehnisse, ihrem zeitlichen Abstand zueinander sowie nach dem Lageverhältnis beider Räume zueinander hervor, die jedoch im cold opening nicht beantwortet werden. Auch während des Gesprächs zwischen Psychiater und Agent wird das Spiegel-Motiv aufgegriffen, da das Gesicht des Mediziners in einem Glastisch reflektiert wird. Der zweite räumliche Überblick nach der Panoramaeinstellung auf den Waldboden ist eine Einstellung in der Totalen auf eine Kleinstadt im Stil der 1940er bzw. 1950er Jahre. Ethans Bewegung über die Straße wird in einer motivorientierten Kamerafahrt dargestellt. Vor dem Betreten einer Bar wird er durch deren Fenster hindurch gefilmt, sodass ein Teil des Schriftzugs »The Excellent Bean« spiegelverkehrt dargestellt ist. Angekommen im Café schreitet er zur Bar. Hier scheint es zunächst so, als würde Ethan frontal gefilmt werden und als würde die hinzutretende Kellnerin ihn um ein Vielfaches überragen

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Vgl. Lost (2004–2010), USA: ABC, Creators: J.J. Abrams/Jeffrey Lieber/Damon Lindelof; S1E1, »Pilot (Part 1)«. Zur räumlichen Desorientierung zu Beginn der Pilotepsiode von Lost vgl. Piepiorka, Christine (2014): You’re Supposed to Be Confused! (Dis)Orienting Narrative Mazes in Televisual Complex Narrations. In: Eckel, Julia et al. (Hg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld: transcript, S. 183–202, hier S. 186. Khouloki 2007, S. 123.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

(vgl. Abb. 2). Gleich darauf wird aber deutlich, dass die Kellnerin vor einem Spiegel steht und Ethan anblickt, der wiederum hinter der Kamera positioniert ist. Mit dieser Aufhebung vertrauter Größenverhältnisse42 wird nicht nur eine weitere konventionelle Strategie zur Erzeugung von Desorientierung im diegetischen Raum bemüht, sondern abermals auf das intraserielle Motiv der Reflektion rekurriert. Die Wiederholung von Spiegelungen kann als Strategie räumlicher Desorientierung eingeordnet werden, die den Aufbau einer mental map der Seriendiegese beeinflusst und dadurch erst auf das Phänomen der Navigation von Figur und Rezipient im diegetischen Raum aufmerksam macht. Zugleich handelt es sich dabei auch um Symbole, die den narrativen twist um das futuristische Setting sowie den Bühnencharakter der Kleinstadt vorausdeuten. Der Höhepunkt und zugleich der Cliffhanger des cold opening ist die Auflösung der im Serienanfang implizierten Frage nach dem Ort. Diese wird durch Ethan verbalisiert und von der Bedienung beantwortet: »Wayward Pines, Idaho«. Nach dieser Auskunft fällt der Protagonist bewusstlos zu Boden. Anders als die vorherigen Serien wird den Zuschauern in dieser Eröffnung vergleichsweise wenig Informationen zum Raum und keine zur Zeit vermittelt. Bewusst werden geographische Hinweise zurückgehalten und eine Modellbildung des diegetischen Raums erschwert. Die Spiegel-Symbolik und die intertextuelle Referenz auf den Beginn von Lost sind metafiktionale Verweise auf diese Strategien. Auch die filmische Erfahrung ist auf Desorientierung angelegt: Die schwer lokalisierbare Geräuschkulisse, die Verschiebung räumlicher Höhen- und Tiefenverhältnisse sowie die Alternation zwischen extrem kontrastierenden Einstellungen erzeugen den Eindruck eines dynamisierten Bildraums und erschweren die Navigation der Zuschauer.

Abb. 1 (links): Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, 00:00:11; Abb. 2 (rechts): Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, 00:02:10.

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Ebd., S. 122.

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IV. Analyse der Serienräume

Abb. 3 (links): Trepalium, S1E4, 00:05:40; Abb. 4 (rechts): Trepalium, S1E4, 00:05:40.

Trepalium Auch Trepalium legt in seinem cold opening zu Beginn der Serie einen Schwerpunkt auf die Navigation der Zuschauer im Serienraum.43 Die Initialphase beginnt mit Schrifttafeln, die kryptisch auf die Existenz einer Mauer hinweisen. Nach dem die weiße Schrift auf schwarzem Grund verblasst, erscheint eine sich vergrößernde helle Fläche, die sich als Durchgang hinter einer von einem Jungen geöffneten Tür erweist (vgl. Abb. 3). Der erste Ort der Serie wird nicht mit einem establishing shot oder einer anderen Art der Übersicht eingeführt, sondern intern fokalisiert über den Protagonisten Noah, der in eine heruntergekommene Gasse tritt. Die Umgebung Noahs besteht aus mit Schutt bedeckten Straßen und baufälligen Häusern. Die dominierenden Farben der Umgebung sind Grau und Blau, die Materialien, die den Schauplatz auszeichnen, lassen sich im Wesentlichen auf Beton und Stein reduzieren. Schlafende Menschen liegen auf dem Boden mit Decken oder lehnen an Häuserwänden. Noahs Kleidung (Jacke, Schal und fingerlose Handschuhe) verweist auf niedrige Temperaturen. Zu hören sind das Husten sowie vereinzelte Rufe von Menschen, die Quellen der Geräusche können nicht ausgemacht werden. Das Licht bleibt eher schwach. Diese Aspekte der Mise en Scène verändern sich während der Darstellung der Zone im cold opening nicht und führen somit zum Eindruck eines homogenen Raums. Zugleich wirken die einzelnen Häuser und Raumausschnitte austauschbar, sodass eine Orientierung in der tristen Welt zu Beginn der Serie nicht möglich ist. Insgesamt wird die Zone als labyrinthischer und klaustrophobischer Raum eingeführt. Die Raumausschnitte werden mitunter durch verkantete Blickwinkel präsentiert,44 da die vertikalen Ränder der Häuser häufig nicht parallel zum Bildrand verlaufen. Dadurch entsteht ein Eindruck unterschwelliger Gefahr und der Desorientierung. Weil der Bildrahmen von Beginn des cold opening an bis kurz vor dessen Ende vor dem oberen Ende der Dächer abschließt, ist kein Himmel zu sehen und folglich erscheint der Straßenraum bzw. der Vorplatz der Häuserblöcke geschlossen. Dadurch wird die Vorstellung eines Containerraumes oder, im Kontext der tristen Atmosphäre

43 44

Die folgende Darstellung bezieht sich auf Trepalium, S1E1. Vgl. Keutzer et al. 2014, S. 13.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

und des heruntergekommenen Umfelds, einer Haftanstalt aufgerufen und durch die Bewegungen Noahs verstärkt: Wie ein Gefangener, der nach einem Ausweg sucht, läuft er überwiegend an Häuserwänden entlang. Dadurch, dass der Weg Noahs durch die Gassen in einzelnen Einstellungen und nicht per Kamerafahrt inszeniert wird und keine Übersichten erfolgen, entsteht eine »labyrinthische[] Raumkonstruktion[]«, in der verhindert wird, »dass der Zuschauer seinen gegenwärtigen über die Kameraposition definierten Standpunkt in das richtige Verhältnis zu den zuvor eingenommenen Standpunkten setzen kann«.45 Die Fokalisierung auf den erzählten Raum verläuft in den ersten Einstellungen intern über Noah, da dieser von hinten gefilmt wird, wobei die bewegte Handkamera auf die Unruhe und Unsicherheit Noahs in seiner Wahrnehmung der Umgebung verweist, aber mit Blick auf die verlassenen Gassen und vernachlässigten Bauten auch an Berichterstattungen aus Kriegsgebieten erinnert. Seine Bewegungen im Raum wirken unkoordiniert und wenig zielgerichtet. Dieser Darstellungsmodus löst sich erst auf, nachdem Noah das Objekt seiner Suche, eine Flasche Wasser, einer obdachlosen Frau entwendet und mit seiner Mutter Izia die Gassen der Zone verlässt. Dazu werden sie von Sirenengeheul und einer elektronischen Stimme aufgefordert. Der Aufruf der Lautsprecheransage, nach dem sich die Menschen im Handlungsort zum »Checkpoint numéro troi« begeben sollen, verstärkt die Assoziationen mit Kriegsgebieten, referiert aber auch auf die Ghettos dystopischer Filme und Film-Serien wie Children of Men oder The Hunger Games.46 Der Weg der beiden Figuren durch das Häuserdickicht wird nicht gezeigt, wodurch abermals der Eindruck eines labyrinthischen Raums verstärkt wird. Es schließt sich eine Einstellung an, in der Noah, Izia und andere Bewohner der Zone auf den Platz vor der Mauer zulaufen. Zugleich wird mit der Gasse, aus der Noah, Izia und andere Figuren auf den Platz zuströmen, zum ersten Mal ein Weg gezeigt, der zwei Orte verbindet. Nach dem Dickicht aus Gassen ist der Grenzraum zwischen Zone und Stadt der zweite größere räumliche Bereich, der im cold opening zu sehen ist. Im Anschluss an ein Gespräch zwischen Izia und Jeff löst sich die Kamera von den Figuren, fährt vertikal an der grauen Betonwand der Mauer entlang nach oben, erhebt sich über deren Rand und gibt den Blick auf Stadt frei (vgl. Abb. 4). Die leichte Aufsicht auf die Stadt ermöglicht den Rezipienten zum ersten Mal seit Beginn der Episode einen räumlichen Überblick. Verglichen mit der chaotischen Wirkung, die von der Darstellung der Zone ausgeht, erscheint die Stadt in perfekter Ordnung und wirkt deutlich einladender: Die meisten Bauten sind so präsentiert, dass sie im oberen Drittel des Bildraumes zum Bildmittelpunkt hin ausgerichtet sind (vgl. ebd.). Zum ersten Mal seit Beginn des cold opening erscheint der Raum nicht nach oben begrenzt, sondern der Blick auf den Himmel wird freigegeben. Zwar ist noch immer unklar, in welchem Land oder Erdteil der fiktiven Zukunft die Handlung angeordnet ist, dennoch erfahren die Rezipienten, dass sich beide Orte in direkter Nachbarschaft zueinander befinden. Während die Präsentation der Zone eher als tour stattfindet und mit der internen Fokalisierung über Noah dem Rezipienten dessen unstete Wahrnehmung nahelegt, wird die Stadt durch eine Aufsicht und externe Fokalisierung 45 46

Khouloki 2007, S. 122. Vgl. Children of Men (2006), USA/UK/J, Regisseur: Alfonso Cuarón.

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präsentiert, ein Modus der Wahrnehmung, dem im cold open keine menschliche Instanz zugeordnet werden kann. Aufsichten gehen ebenso wie Karten mit einem Moment des Ordnenden und Panoptischen einher und vermitteln den Eindruck, dass das Gezeigte durch die Art der Darstellung kontrolliert wäre.47 Diese Annahme wird durch die kontrastierende Darstellung von Zone und Stadt im cold opening bestätigt. Die Zone wird horizontal erfahren, ihre Lage bleibt undeutlich und der Standpunkt der Figuren, der audiovisuellen Erzählinstanz und folglich auch die inszenierte Bewegung der Zuschauer durch den Serienraum sind unstet. Die Stadt hingegen wird vertikal und statisch in einer Panorama-Einstellung präsentiert und somit aus der Distanz erlebt. Mit ihr geht vor allem ein Eindruck der Übersicht und Orientierung einher, weil sie auf die Darstellung der Zone folgt, die als undurchdringlicher Raum präsentiert wird. Dieser Kontrast wird am Ende des cold openings nicht aufgehoben, im Gegensatz zu den Raumeinführungen in Wayward Pines, 3 % und The Man in the High Castle: In der Initialphase erfolgt keine nachträgliche Aufsicht auf die Zone und an die Übersicht der Stadt schließt sich keine horizontale Erkundung des unbekannten Terrains an. Zugleich wird durch die scheinbar umfassende Ansicht von oben die Stadt als ›Spielraum‹ bzw. »Aktionsfeld für die sich dort vollziehenden Ereignisse« eingeführt.48

3% Auch 3 % beginnt erst mit einer räumlich-zeitlichen Angabe über Schrifttafeln. Zwar werden auch hier Eckdaten von Raum und Zeit deutlich: eine Welt mit zwei oppositionellen sozialen Räumen in einer unbestimmten Zukunft.49 Doch für die Konstruktion einer konkreten mental map sind diese Informationen kaum ausreichend. Begonnen wird ebenfalls in einem Ghetto, allerdings in einem Innenraum, der Wohnung der Figur Michele. Wo die Protagonistin sich befindet, ob es sich um ihre Wohnung oder die einer Fremden handelt, ist unklar. Über eine elektronische Stimme erhält Michele die Anweisung, sich auf den Weg zum Processo zu machen, eine Distanz, die laut Angabe zu Fuß in 47 Minuten überbrückt werden könne. Von ihrem Zimmer aus beginnt der Weg durch den Slum: Intern fokalisiert über Michele erfolgt der Blick von der erhöhten Position des Zimmers auf die Straße vor der Haustür – ein von diesem Standpunkt aus möglicher Überblick der Umgebung, der den Schauplatz kontextualisieren würde, bleibt aus. Mit ihren Freundinnen bewegt sich Michele anschließend durch ein Geflecht von Gassen und Häusern, dass ebenso wie in Trepalium nicht durch eine Kamerafahrt, sondern durch die Kombination einzelner Einstellungen verschiedener Raumausschnitte konstruiert 47

48

49

Die von Fahle formulierte Fähigkeit, das »reale[] physische[] Geschehen[] der Stadt in ein entphysikalisiertes Raster« zu überführten, lässt sich insbesondere auf die statische Darstellung der Stadt in Trepalium am Ende des cold openings übertragen; vgl. Fahle, Oliver (2007): Die Stadt als Spielfeld. Raumästhetik im Film und Computerspiel. In: Leschke, Rainer/Venus, Jochen (Hg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne. Bielefeld: transcript, S. 225–238, hier S. 230. Ebd., S. 231. Zum »Spielfeld« werde die Stadt im Film laut Fahle, wenn der Raum eine klare Begrenzung erhalte und Regeln für die auf dem Feld agierenden Akteure etabliert werden; vgl. ebd., S. 230. Die folgende Darstellung bezieht sich auf 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«.

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wird. Diese Darstellung erscheint ebenso labyrinthisch wie die der Zone in Trepalium, weil der Himmel über dem Slum nicht direkt zu sehen, sondern durch die Lichtkomposition nur zu erahnen ist. Der Slum wirkt jedoch ungleich unübersichtlicher, da die Häuserwände, die die engen Wege säumen, mit bunten Pappen und Stoffen überwuchert sind. Micheles Weg durch den Slum wird durch einen Szenenwechsel unterbrochen: In einer Parallelmontage wird ein Gespräch zwischen Ezequiel, dem Leiter des diesjährigen Processo, und Nair, einem Mitglied des Rates der fiktiven Gesellschaft, gezeigt. Ezequiel bereitet eine Rede vor, deren Gegenstand Terroristen sind, die die Gesellschaft bedrohen, Nair scheint von diesem Vorhaben abzuraten. Der Ort, an dem sich Ezequiel befindet, ist nicht identifizierbar, da ausschließlich Aufnahmen in Detail- und Nahe-Größen zu sehen sind. Nair befindet sich auf der Insel Maralto, die, wie Ezequiel verrät, über 6000 Kilometern vom Festland entfernt ist. Dies ist bereits das zweite Mal, das im cold opening mit präzisen Angaben auf räumliche Distanzen hingewiesen wird, womit die Lage einzelner Orte zueinander an Relevanz gewinnt, ohne, dass die Topographie der Serienwelt filmisch erlebt werden kann. In den Szenen, die im Slum angesiedelt sind, werfen die Figuren immer wieder Blicke aus der Straße hoch zu denen, die sie auf ihrem Weg zurücklassen: hinauf zu Treppen, die der Tross erklimmt oder hinauf an verfallenen Bauten, die in ihrer Trostlosigkeit metonymisch für den Slum stehen. Dadurch wird zwar von Beginn an eine topologische und soziale Vertikalität erzeugt, die für die Handlung von 3 % zentral ist, die Lage des Slums im Verhältnis zu anderen Orten bleibt jedoch unbestimmt, da Blicke von oben fehlen. Ebenso sind in diesen Szenen keine landmarks zu sehen, die den Zuschauern aus ihrem Alltag oder medialen Texten bekannt sind und zur Orientierung beitragen könnten. Zudem erzeugt ebenso wie bei Trepalium die Aufnahme per Handkamera einen unsicheren, instabilen audiovisuellen Bildraum. Dieser Eindruck wird durch die extradiegetische Musik unterstützt. Die folkloristische Collage aus Klängen, die sowohl durch Synthesizer als auch Zupf- und Holzblasinstrumente erzeugt werden, überschneidet sich mit Geräuschen, die auf die Interaktion zwischen Figuren und ihre Bewegungen im Raum schließen lassen. Zu einem Eindruck der Desorientierung trägt dieser Sound nicht nur bei, weil er sich nur teilweise von Geräuschen des fiktiven Alltags unterscheidet, sondern weil es sich hier um akusmatische Musik handelt, die sich nicht auf eine diegetische oder extradiegetische Quelle eingrenzen lässt.50 Darüber hinaus verweist die klangliche Inszenierung des Slums auf eine Ansammlung von Menschen, die die optisch wahrnehmbare Anzahl der Figuren um ein Vielfaches überschreitet. Zwischen Ton und Bild besteht eine Inkongruenz im cold opening, die die Konzeption eines homogenen Raummodells auf Seiten der Zuschauer erschwert. Während der Sound durch seine Fülle unterschiedlicher Geräusche (Sprechen von Menschen, Schreien von Kindern, Bewegungen auf der Straße, Geräusche ohne identifizierbare Quelle) den Eindruck eines weit auslaufenden und tiefen Raums generiert, ist der visuell wahrnehmbare Raum hermetisch abgeschlossen und umfasst ungleich weniger Menschen: So können die Figuren 50

Vgl. Eichenberger, Tanja (2019): Wie klang die Zukunft? Forbidden Planet und der Einzug elektroakustischer Klänge in den Science-Fiction-Film der 1950er Jahre. In: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture 64, S. 31–47, hier S. 35.

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IV. Analyse der Serienräume

in den einzelnen Einstellungen immer bequem Abstand voneinander halten, treten selten großen Gruppen auf, wird der Blick in den Slum immer durch Wände begrenzt und bislang kaum der Himmel über dem Ghetto gezeigt. Der Weg der Gruppe junger Menschen hinauf zum Processo-Gebäude wird ebenfalls als unsichere Raumerfahrung inszeniert. Die Treppenstufen werden ›schräg‹ bzw. im verkanteten Blickwinkel gezeigt, der Weg von A nach B bleibt wie in Wayward Pines und Trepalium unklar, vor allem, weil die Umgebung unvermittelt von einem urbanen Raum zu einem unbewohnten Gebirge wechselt. Kurz vor Erklimmen der Klippe, auf der das Processo-Gebäude thront, erfolgt ein Panorama-Blick auf den Slum, untertitelt mit »Amazônia Subequatorial«. Auf kognitiver Ebene können die Rezipienten den Handlungsraum des Slums in Verbindung mit realen Räumen wie Brasilien, den Favelas Brasílias sowie dem Amazonas-Gebiet stellen. Der Überblick über die Lage des Slums zum Gebirge erlaubt eine konkretere Ausgestaltung der mentalen ›Landkarte‹ des Serienraums. Das Processo Gebäude wird von außen im Panorama gezeigt: Es steht auf dem Gebirgskamm über dem Slum und inmitten einer kargen, steinernen Umgebung. Da aber seine Form, ein in sich gebogener, viereckiger Schlauch mit glänzender Fassade, kaum auf Gebäude der Alltagswelt referiert, können nur wenige konkrete Schlüsse über dessen Inneres gezogen werden. Die Aufnahmen vom Innenraum des Gebäudes geben, ebenso wie die Darstellung des Slums, keine Relationen einzelner Zimmer zueinander an, vielmehr gleicht ein Teilraum dem anderen, weil die Materialien Glas, Metall und glatter, weißer Stein überall vorkommen. Erst am Ende der Szene erfolgt ein Überblick über einen Teil des Gebäudeinneren, wenn der Spielleiter Ezequiel von einer erhöhten Galerie aus zu den Bewerbern spricht, die am Boden einer Halle stehen. Ebenso wie in der Slum-Sequenz wird die Vertikalität des Raums betont: Zum einen lenkt die Anordnung mehrerer Etagen übereinander, die zur Halle hin offen sind, den Blick in die Höhe oder Tiefe, zum anderen werden im Processo-Gebäude Blickachsen von oben nach unten und umgekehrt etabliert. Da Figuren und Kamera aber innerhalb der Halle angeordnet bleiben und diese aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Ausschnitten gezeigt wird, können die Rezipienten ein genaueres Modell dieses Ortes erstellen. Die bis hierhin fragliche Lokalisierung der Handlungsorte Slum und Processo-Gebäude in einem globaleren Raum wird schließlich durch eine über die Köpfe der Bewerber projizierte zweidimensionale Karte aufgelöst, die auf die Nordostküste Brasiliens referiert.

1.1.2 Exkurs: Karten serieller Dystopien des Post-TV – eine Typologie Karten und Miniaturmodelle von Handlungsräumen und -orten kommen sowohl extradiegetisch als auch intradiegetisch in seriellen Dystopien des Post-TV in großer Zahl vor. Zwar erfüllen sie sowohl für die Figuren als auch die Rezipienten mehr oder weniger ihren Zweck als Navigationshilfe im Serienraum, darüber hinaus gehen sie aber mit einer Vielzahl weiterer Funktionen einher. Im Gegensatz zu den anderen Analysekapiteln dieser Arbeit werden in diesem Kapitel bereits an dieser Stelle weitere serielle Dystopien einbezogen, um die Aussagekraft der Typologie zu erhöhen. Als Orientierungshilfen kommt Karten und plastischen Raummodellen in seriellen Dystopien des Post-TV eine besondere Funktion zu, weil die dystopischen storyworlds zum

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Teil auf die Topographie der extratextuellen Welt referieren, zum Teil aber autoreferentiell sind, also eigene Orte und Ortsbezeichnungen aufweisen oder aufgrund von vorangegangenen Katastrophen eine andere geologische Beschaffenheit oder klimatische Verhältnisse aufweisen, als die realen Räume, auf die sie sich beziehen. Insofern sind Karten und plastische Raummodelle essentiell, damit die Rezipienten sich in den fremden Welten zurechtfinden können.

Abb. 5 (links): The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«, 00:00:16; Abb. 6 (rechts): Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, 00:02:30.

Abb. 7 (links): Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, 00:02:39; Abb. 8 (rechts): Trepalium, S1E4, 00:05:40.

Electric City bindet Karten besonders effizient als Instrument der Navigation in die serielle Erzählung ein. Um zu gewährleisten, dass die Rezipienten die Handlungen einzelner Szenen den jeweiligen Städten zuordnen können, wird in den Szenenübergängen bzw. bridging shots der Webserie eine Karte des Stadtverbundes gezeigt, auf der Abbildungen einzelner Gebäude zu sehen sind, die symbolisch für die jeweilige Stadt stehen, sowie die Namen der Städte.51 Aus der Aufsicht wird die Bewegung der Kamera vom Ort der vorherigen Szene zum Ort der folgenden inszeniert, um die räumliche Zuordnung von Handlungen auf Seiten der Zuschauer sicherzustellen. 51

Vgl. Electric City, S1E1, »Truth or Consequence«.

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IV. Analyse der Serienräume

In den opening credits von The Man in the High Castle wird in der Totale die Darstellung des nordamerikanischen Kontinents auf einem Globus gezeigt, die eine Übersicht über die Handlungsräume der Japanese Pacific States, der Neutralen Zone und des American Reich bietet (vgl. Abb. 5).52 Sie signalisiert den Rezipienten, welche Wissensbestände über die Alltagswelt sie zur Erschließung des Serienraums nutzen können: Dazu gehört u.a. die Existenz des Kontinents Nordamerika sowie Kenntnisse über Berge, Flüsse und Meere im Umfeld der USA. Zugleich zeigt die Karte, dass diese Wissensbestände ›überschrieben‹ werden müssen mit politischen Informationen der fiktiven Welt. Dafür steht metonymisch auch die Projektion der Karte aus Licht und mit Angaben zu militärischen Prozessen und staatlichen Hoheitsgebieten auf dem Globus, dessen plastische Reliefs mit der Beschaffenheit der realen Erdoberfläche übereinzustimmen scheinen (vgl. ebd.).53 Gerade die Einbettung von Karten in die opening credits, wie sie in The Man in the High Castle und in 3 % vorliegt, richtet sich nicht nur an die initiale Orientierung oder die Re-Aktivierung räumlichen Wissens auf Seiten der Zuschauer, sondern symbolisiert zugleich die zurückgelegten, präsentischen und zukünftigen virtuellen Wege der Rezipienten im Serienraum mit der Rezeption jeder weiteren Episode.54 Die zurückgelegten Distanzen innerhalb der fiktiven Geographie werden mitunter durch Ergänzungen in Form weiterer Karten symbolisiert, die für neue Handlungsräume oder eine andere Funktion bekannter Räume stehen, wie z.B. in den veränderten opening credits der zweiten und dritten Staffeln von The Man in the High Castle.55 Nicht alle Modelle räumlicher Repräsentation in den seriellen Dystopien erleichtern aber die Navigation der Zuschauer im diegetischen Raum. Das plastische Raummodell in 52

53

54 55

Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Die Einführung des Settings mittels der Verbindung aus Globus und Kartenprojektion ist ein erklärtes Ziel der Produktionsfirma der opening credits unter der Leitung von Patrick Clair; Vgl. Clair in Dawe, Ian (2.02.2016): The Man in the High Castle (2015). In: Art of the Title. https://www.artofthetitle.com/title/the-man-in-the-hig h-castle/. Letzter Aufruf: 30.10.2020. Vgl. hierzu Kröber 2020a, S. 378–381. Während die Kartendarstellung der geteilten USA aber noch immer einen Überblick über die erzählten Räume gestattet, ist die Abbildung des plastischen Modells des Regierungsviertels Berlins in den credits zur zweiten Staffel weniger zum Aufbau einer mentalen Karte auf Seiten des Rezipienten geeignet, da dieser, anders als beim Abbild Nordamerikas, zuerst überhaupt Vorwissen zu den architektonischen Entwürfen der sogenannten ›Volkshalle‹ und dem Baustil der anderen Gebäude besitzen muss; vgl. die opening credits in The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«. Vgl. hierzu auch IV.2.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Adkins 2018, S. 99. Auch die opening credits von 3 % ändern sich im Rhythmus der jeweils neuen Staffel: Die credits der zweiten Staffel von 3 % erhalten neben der Karte, die die Nordostküste Brasiliens abbildet, eine Karte des Slums, die wiederum mit den Grundrissen von Gebäuden auf der Insel Maralto überzeichnet ist. In den credits der dritten Staffel kommt diese Karte jedoch nicht vor: Dort ist stattdessen eine dreidimensionale Abbildung der Concha zu sehen. Die opening credits von The Man in the High Castle werden in der zweiten und dritten Staffel um ein Miniaturmodell von Berlin erweitert, das in seiner Architektur stark an die nicht realisierten Pläne Adolf Hitlers bzw. Albert Speers für die Stadt ›Germania‹ angelehnt ist; vgl. zu den Bauvorhaben der Nationalsozialisten in Berlin Ellenbogen, Michael (2006): Gigantische Visionen. Architektur und Hochtechnologie im Nationalsozialismus. Graz: Ares Verlag, S. 33ff.; sowie Weihsmann, Helmut (1998): Bauen unterm Hakenkreuz: Architektur des Untergangs. Wien: Promedia, S. 272ff. Vgl. Für sich ändernde Karten in den opening credits serieller Dystopien des Post-TV auch Wayward Pines und The City & The City.

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den opening credits von Wayward Pines situiert zwar die erzählte Welt in einer US-amerikanischen Vorstadt, in dem die Architektur der cottages aus der Nachkriegszeit, die Pastellfarben und die Nähe zur Natur aufgegriffen werden, die auch den Stadtkern von Wayward Pines innerhalb der Episoden prägen (vgl. Abb. 6, 7).56 Dennoch findet hier keine Einbettung des Schauplatzes in ein größeres räumliches Umfeld statt. Aufgerufen werden kann bei den Zuschauern das Raumkonzept der Kleinstadt an sich, inklusive dazugehöriger frames wie kurze Wege, naturnahe Bebauung, mittelständische Wirtschaft und soziale Nähe. Die Übersicht eines größeren Territoriums als Spezifikum von Karten und anderen Repräsentationsmodellen von Raum bleibt allerdings in der filmischen Darstellung des Modells in den credits aus. Überblicke werden lediglich durch Panoramaeinstellungen suggeriert, in denen die Nachbildung des Stadteingangs zu sehen ist. Die Abfolge der konträren Einstellungsgrößen sowie die Akzentuierung der Schnitte durch abrupte Über- sowie vereinzelte Weißblenden erzeugen den Eindruck eines fragmentierten Raums. Zwar ist deutlich, dass die jeweiligen Raumausschnitte zur gleichen Stadt gehören, in welchem Lageverhältnis sie zueinanderstehen, wird jedoch nicht dargestellt, sondern, neben dem beschriebenen Montage-Stil, auch durch den Wechsel der Kamerastandpunkte zwischen Normal- (vgl. Abb. 6) und Aufsicht (vgl. Abb. 7) bewusst verschleiert. Auch der Übergang zwischen Pinienwald und Stadt geht aus der Kartendarstellung in den credits nicht hervor, sodass sich der für das Geschehen relevante semantische und topologische Gegensatz zwischen Wildnis und urbanem Raum in den kontrastierenden Einstellungsgrößen und dem unvermittelten Wechsel zwischen Auf- und Normalsicht auflöst.57 Darüber hinaus haben Karten im Zusammenhang mit seriellen Dystopien auch andere Funktionen inne. So ist z.B. die durch Karten suggerierte Kontrolle über Räume und Individuen in den hier untersuchten Serien von besonderer Relevanz, da deren Handlung maßgeblich von menschlicher Unterdrückung bestimmt ist. In Alpha 0.7 werden die Bewegungen von Mila, Ralf und Andreas auf ihrem Weg von Stuttgart in das Quartier von apollon von Peter Spreemann, einem Mitarbeiter der Protecta Society, über eine digitale Karte der Stadt nachverfolgt.58 Spreemann greift erst auf das Smartphone Ralfs und dann auf RFID-Etikette in dessen Kleidung zurück, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Die Autofahrt von Ralf, Mila und Andreas durch Stuttgart lässt sich somit über die Karte auf dem Computerbildschirm der Protecta Society jeweils bis zu dem Ort nachverfolgen, an dem Mila erst das Smartphone und später auch die Kleidung Ralfs aus dem fahrenden Auto wirft. Die Position des Beobachters von Akteuren im Raum bzw. der panoptische Blick wird den Zuschauern am deutlichsten in der Pilotepisode von The Man in the High Castle nahegelegt. Die jeweiligen Fahrten der Protagonisten Joe und Juliana werden mithilfe einer politisch-geographischen Karte nachvollzogen, welche über die Bilder der Diegese überblendet wird.59 Unabhängig voneinander begeben sich die Protagonisten aus New

56 57 58 59

Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Die opening credits der zweiten Staffel von Wayward Pines werden nur behutsam variiert, sodass die hier ausgeführte Deutung darauf übertragen werden kann. Vgl. Alpha 0.7, S1E2, »Schizophren«. Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«.

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York bzw. San Francisco nach Canon City, um dort einen der verbotenen Filme an eine Kontaktperson abzuliefern. Die jeweiligen Fahrten werden als sich spiegelnde Bewegungen auf der semi-transparenten Karte nachgezeichnet, die im Zusammenhang mit Einstellungen eingeblendet werden, in denen die jeweiligen Fortbewegungsmittel von Joe (ein LKW) und Juliana (ein Bus) zu sehen sind. Dabei entsteht eine Collage aus Kartenund Film-Bild, deren Ästhetik aufgrund ihrer materiellen Transparenz sowie der farblichen Gestaltung in hellen Grautönen stark an die Kartenprojektion aus dem Serienintro angelehnt ist.60 Für die Zuschauer ist die Karte zum einen eine Navigationshilfe, die ihnen einen Überblick über die von Joe und Juliana bereisten Strecken der Japanese Pacific Sates bzw. des American Reich ermöglicht. Zum anderen werden sie in die Situation versetzt, ein Mitglied des Widerstandes sowie einen Doppelagenten auf dem Weg zum Ort der Übergabe des geheimen Films zu überwachen, da sie – neben der Erzählinstanz – als einzige die jeweiligen Motive der Akteure kennen. Häufig liegen Karten in seriellen Dystopien des Post-TV im Zusammenhang mit der Ausübung von Macht durch die jeweiligen Systemvertreter vor. Ein Beispiel hierfür ist die Karte des gleichnamigen Themenparks in Westworld. In ihrem Umfeld wird die Konstruktion des Parks und dessen Zukunft diskutiert, werden Androide geortet und kontrolliert.61 In ihrer Funktion als Kontrollinstrument liegen Karten besonders dann vor, wenn die Vertreter dystopischer Regierungen oder andere Machthaber über das Schicksal der Bevölkerung beraten oder entscheiden, wie in den situation rooms der Japaner62 und Nationalsozialisten63 in The Man in the High Castle, in den Büros

60

61 62 63

Die behutsame Überblendung der Karte erinnert in ihrer Ästhetik sowie ihrer Funktion als bridging shot auf einen ähnlichen Gebrauch einer konkreten Karte in Casablanca. Dieser Film steht zu The Man in the High Castle insofern in einer thematischen Beziehung, als beide Erzählungen u.a. von Spionagetätigkeiten handeln, die gegen die Nationalsozialisten gerichtet sind. Vgl. Casablanca (1942), USA, Regisseur: Michael Curtiz. Zur Kartendarstellung in Casablanca vgl. Dünne, Jörg (2009): Zwischen Kombinatorik und Kontrolle: Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï. In: Hölter, Achim/Pantenburg, Volker/Stemmler, Susanne (Hg.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst. Bielefeld: transcript 2009, S. 77–96, S. 81f.; sowie Böhnke 2005, S. 58f. Zugleich kann die Überblendung der diegetischen Handlung mit einer semi-transparenten Karte als Referenz auf ähnliche Darstellungsästhetiken in US-amerikanischen Kinofilmen zwischen den 1940er und 1960er Jahren verstanden werden. So weist zumindest die Filmauswahl, anhand derer Böhnke 2005 Dynamisierungen von Karten im Film studiert (ebd., S. 58f.), daraufhin, dass dieses Medium zur narrativen und räumlichen Orientierung im genannten Zeitraum stark frequentiert wurde. Eine solche Referenz auf eine historische Ästhetik würde sich insofern in den look von The Man in the High Castle einfügen, als die Handlung in einem alternativen Entwurf der USA in den 1960er Jahren spielt. Auch andere künstlerische Artefakte oder Texte, die kennzeichnend für die 1960er Jahre sind, werden in das diegetische Universum der Serie transferiert, aber stilistisch verfremdet: So wird z.B. der Country-Pop-Songs »The End of the World« von Skeeter Davis (1962) in der Episode »End of the World«, S1E8, mit einem stark verlangsamten Takt, Pentatonik und Gesang in Japanisch und Englisch in einer Bar auf dem Territorium der Japanese Pacific States interpretiert. Vgl. hierzu u.a. Westworld, S1E1, »The Original«, S1E4, »Dissonance Theory« sowie S2E6, »Phase Space«. Vgl. The Man in the High Castle, S2E9, »Detonation« sowie S4E7, »No Masters But Ourselves«. Vgl. ebd., S2E10, »Fallout«.

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der Protecta Society in Alpha 0.764 und im Büro des jeweils aktuellen Machthabers in Wayward Pines.65 Zugleich werden Karten und plastische Miniaturmodelle in diesen Räumen der Macht zum Dekors, sowohl haptisch wahrnehmbar als auch als Projektion oder digitales Bild. In diesen Szenen ist nicht nur die geographische Information relevant, sondern auch die Symbolkraft der Karte als Instrument der Disziplinierung. Auch militärische Operationen sowie der Schutz vor (vermeintlichen) Feinden sind in seriellen Dystopien des Post-TV mit Karten verbunden. In Wayward Pines werden mithilfe von Raumrepräsentationen auf Computerbildschirmen die Aktivitäten der Abbies außerhalb der Kleinstadt überwacht,66 in The Man in the High Castle dienen Karten sowohl den Militärs der Japanese Pacific States als auch des American Reich zur Planung von Angriffen und der Antizipation des gegnerischen Verhaltens67 und in Trepalium wird der Sturz der Regierung und des Konzerns Aquaville durch die Rebellen anhand einer politischen Karte der Stadt geplant (vgl. Abb. 8).68 Letztere erfordert aufgrund ihrer sehr kurzen Präsentationszeit auf Seiten der Zuschauer besondere Aufmerksamkeit ein, ist aber eine zentrale Insignie politisch-militärischer Handlungsmacht der Rebellen, denen durch die Platzierung der Karte innerhalb der Szene strategische Planungskompetenz attestiert wird, die ihnen ohne dieses Instrument, angeordnet im düsteren Kellergewölbe und als lose Gruppe, kaum attestiert worden wäre. In diesem Zusammenhang ist auch der imperialistische Charakter der politischen Systeme serieller Dystopien zu nennen, der oft mit der Ausweitung ihres Territoriums einhergeht und der in Karten und plastischen Raummodellen gespiegelt und zugleich konstruiert wird. In The Man in the High Castle liegen zwei Repräsentationsmodelle von Raum mit dieser Funktion vor: In der Episode »Travelers« erläutert Reichsminister Heusmann anhand einer Zeichnung von Atlantropa, halb Vedute, halb Karte, ein Projekt, mit dem das Wasser des Mittelmeers zwischen Gibraltar und Marokko zur Energieerzeugung gestaut und für die landwirtschaftliche Nutzung entsalzt werden soll.69 Die scheinbar philanthropische Motivation des Vorhabens ist es, »a hungry continent« zu versorgen – ob es sich dabei um Europa oder Afrika handelt, bleibt ebenso offen, wie die Frage, wessen Arbeitskraft für das gigantische Projekt (aus)genutzt werden soll. In dieser Szene werden der Plan des Staudamms sowie dessen visueller Entwurf eindeutig von Heusmann bemüht, um seinen Sohn für die Ideologie und Produktivität des German Reich zu begeistern. Die kartographische Darstellung symbolisiert aber auch das Bestreben der Diktatur, in andere geographische und soziale Räume gewaltsam einzugreifen und sie zur Erfüllung politischer Ziele umzuformen, wobei die Belange der lokalen Bevölkerung sekundär erscheinen. Auf die imperialistischen Bestrebungen der Nationalsozialisten verweist auch ein zweites Beispiel aus The Man in the High Castle,

64 65 66 67 68 69

Vgl. Alpha 0.7, S1E2, »Schizophren«. Vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Vgl. ebd., S2E8, »Pass Judgement«. Vgl. The Man in the High Castle, S2E9, »Detonation«, S2E10, »Fallout« sowie S4E7, »No Masters But Ourselves«. Vgl. Trepalium, S1E4. Vgl. The Man in the High Castle, S2E3, »Travelers«.

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nämlich die plastischen Modelle der Nebenwelten, die in Szenen zu sehen sind, in denen die Besatzung paralleler Welten geplant wird.70 Die Karte der Erdoberfläche, die in den opening credits der ersten Staffel von Snowpiercer zu sehen ist, verweist eher auf imperialistisches Gebaren als eine Strategie der Kolonialisierung.71 Sie offenbart die Ignoranz dystopischer Machtzentren angesichts ihrer Außenwelt und zugleich ihren Besitzanspruch auf fremde Territorien. Auf den weißen Landflächen sind rote Punkte mit einem weißen »W« angebracht, das für Mr. Wilford steht, den Besitzer des Zuges Snowpiercer. In der kurzen Einstellung, in der die Karte gezeigt wird, breitet sich eine rote Linie vom oben angebrachten europäischen Kontinent über die weißen Flächen ›hinab‹ zum afrikanischen und anschließend zum asiatischen Kontinent aus. Die Linie verbindet sukzessive die roten Punkte miteinander und repräsentiert die erdumspannende und unendliche Bewegung des Zuges durch die postapokalyptische Landschaft. Die Kartendarstellung referiert wegen der zentralen Anordnung Europas sowie der aufgrund von Übertragungsfehlern zustande kommenden Verzerrung, nach der Afrika fast auf die Größe Grönlands verringert wird, auf die MercatorProjektion.72 Vor dem Hintergrund der eurozentrischen Kartographie und der technizistischen Ästhetik der credits ruft die Repräsentation der Zug-Bewegung das Narrativ der Erschließung und Ordnung eines ›wilden‹ Raums durch die westliche Zivilisation im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf, das eng verflochten ist mit dem Ausbau und Betreiben von Eisenbahnen in Afrika und Asien. Vor allem drückt die Karteninszenierung das Desinteresse der zahlenden Besatzung des Zuges Snowpiercer, einer kleinen privilegierten Gruppe, für den restlichen Teil der Menschheit aus, der abseits der Zugstrecke an den Folgen der Klimakatastrophe zugrunde ging. Weil Karten Böhnke zufolge historisch auf Reisebeschreibungen zurückgehen,73 werden sie je nach Ästhetik mit Abenteuern und Expeditionen in unbekannte Territorien assoziiert. Eine Karte, die mit der Erkundung fremder Räume verbunden ist, liegt u.a. in Wayward Pines vor. Ethan nutzt Karte und Kompass, um den Weg nach Boise zu finden.74 Zwar mag er räumliche Vorstellungen vom Umland der Kleinstadt haben, da er dieses aber zuletzt vor über 2000 Jahren betrat, ist er gezwungen, sich auf die Karte und die Überreste von landmarks wie eine zerfallenen Kirche im Wald zu verlassen, um im unbekannten Terrain zurechtzukommen. Ebenso wie Ethan müssen sich auch die Zuschauer die Wildnis und die verschütteten Überreste der Zivilisation erst erschließen. Der Charakter einer unsicheren, abenteuerlichen Expedition wird durch die Ästhetik der Karte verstärkt, die ausgeblichen und zum Teil verschmutzt ist.75 70 71 72 73 74 75

Vgl. ebd., S3E7, »Excess Animus« sowie S4S2, »Every Door Out«. Vgl. u.a. Snowpiercer, S1E1, »First, the Weather Changed«. Vgl. zur Darstellung der Erdoberfläche in der Mercator-Karte Anm. 81 in IV.1 in dieser Arbeit. Böhnke 2005 weist darauf hin, dass Karten historisch auf Reisebeschreibungen zurückgehen; vgl. ebd., S. 56. Vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Durch die Parallelmontage mit einer Szene um Ben, andere Schüler und die Lehrerin Meghan, die ihre Schützlinge darüber aufklärt, dass sie sich im Jahr 4028 statt 2014 befinden, werden Figuren und Zuschauer nicht nur über den Raum außerhalb der Kleinstadt, sondern auch über die zeitliche Situierung der Handlung aufgeklärt. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch die Karte, die Ethan im Notizbuch seines ermordeten Kollegen Bill Evans findet: Die handgezeichnete Karte von Wayward

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

Ähnlich verhält es sich mit der geographischen Darstellung des Slums in 3 %, die an einer Wand im Versteck der Rebellen neben einem Hinweis auf einen geheimen Ort hängt.76 Sie ist der Ausgangspunkt für die Suche dieses Ortes durch Joana und den Anführer der Rebellen, die an gegenwärtige Freizeitaktivitäten wie das Geocaching oder Escape Games erinnert. Der Karte sind durch ihre Nutzung Vorstellungen von Abenteuer und Expedition eingeschrieben, aber auch durch ihre Gestalt, da das braun angelaufene, beschmutzte und beschädigte Material deutliche Gebrauchsspuren zeigt.77 Als Instrumente der Wissensvermittlung, der Veranschaulichung komplexer technischer Vorgänge oder schwer greifbarer Phänomene, z.B. innerhalb der Science-Fiction oder der Fantasy,78 werden Karten auch in den seriellen Dystopien des Post-TV verwendet. Hierfür steht die Karte am Anfang der zweiten Staffel von 3 %. Die Wissenschaftler, die vier Jahre vor Beginn des Processo-Verfahrens, d.h. 108 Jahre vor Beginn der Basiserzählung auf der Insel Maralto eintreffen, vermessen diese mit Drohnen aus der Luft. Nach wenigen Augenblicken kehren die Drohnen zum Ausgangspunkt zurück und projizieren eine dreidimensionale geographische Darstellung über dem Strand, die detailliert die geologische Beschaffenheit der Insel, ihre Grenze zum Meer sowie die Ausbreitung der Vegetation anzeigt. Die unbekannte Insel Maralto, die den Zuschauern seit acht Episoden und einer Staffelpause als Handlungsort ›versprochen‹, aber nur in wenigen und kurzen Ausschnitten zugänglich gemacht wurde, wird mit faszinierenden technischen Finessen präsentiert. Zugleich sollen die Präzision und Zuverlässigkeit der Raumvermessung durch das kühle Design der Karte, aber auch durch die Gestaltung und Bewegung der Drohnen bezeugt werden, deren kugelförmigen Panzer glänzen und die sich schnell sowie als Teil eines Schwarms, ähnlich wie stoisch arbeitende Insekten, durch die Luft bewegen. Ein deutlich abstrakteres Phänomen, nämlich die Koexistenz verschiedener Welten, wird in The Man in the High Castle mithilfe plastischer Miniaturmodelle visualisiert.79 Räumliche Repräsentationsmodelle werden in den Dystopien ferner als Werkzeuge der Wissensgewinnung inszeniert: Mithilfe einer Karte und eines Overheadprojektors können Ralf und einige Mitglieder von apollon in Alpha 0.7 eine Hütte aufspüren, in der Informationen zu den kriminellen Plänen der Protecta Society zu finden sind.80 Die Karte Stuttgarts wird dabei als Raster, als Speicher räumlichen Wissens verwendet, über das die enigmatische Zeichnung aus dem Nachlass eines Kritikers der Protecta Society per Projektion gelegt wird, und die sich infolgedessen als Wegbeschreibung zur Hütte erweist. Als Messinstrumente sowie als Speicher räumlichen Wissens haben Karten in den dystopischen Serien aber auch eine Authentifizierungsfunktion inne. Dies gilt für jede Karte der jeweiligen fiktiven Welt. Häufig werden sie als objektive Medien der Informationsspeicherung wahrgenommen – auch wenn sich diese Annahme bereits mit Blick

76 77 78 79 80

Pines soll Ethan und Beverly helfen, einen Ausweg aus der Stadt zu finden; vgl. Wayward Pines, S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before«. Vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. In der gleichen Episode wird eine weitere Expedition geplant, diesmal in das Haus des Anführers einer Straßengang, zu deren Gelingen Joana eine Karte des Gebäudes zeichnen soll. Vgl. Ernst 2014, S. 281. Vgl. The Man in the High Castle, S3E7, »Excess Animus« sowie S4S2, »Every Door Out«. Vgl. Alpha 0.7, S1E2, »Schizophren«.

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auf die Übertragung von Maßstäben als falsch herausstellen kann.81 Dennoch bezeugt in den seriellen Dystopien jede Karte, die auf einen der jeweiligen fiktiven Räume referiert, dessen Existenz. Selbst die nur kurz zu sehende Aufzeichnung der Stadt in Trepalium mit ihren kreisrunden Mauern bekommt diesen Status in dem Moment zugesprochen, in dem sie auf dem Computerbildschirm im Quartier der Rebellen erscheint (vgl. Abb. 8).82 Dies ist bemerkenswert, da bis zu diesem Zeitpunkt die Stadtgrenzen audiovisuell so undeutlich gezeigt wurden, dass die Fläche der Stadt sowohl eine eckige als auch runde Form hätte einnehmen können. Zugleich wird aber auch der Wahrheitsgehalt der Karte innerhalb der fiktiven Welt untermauert, da sie in dieser Szene zur Vorbereitung eines paramilitärischen Angriffs genutzt wird. Karte und diegetischer Raum bezeugen gegenseitig ihre jeweilige Existenz und Glaubhaftigkeit. Besonders augenfällig wird die Fähigkeit von Karten, virtuelle Räume innerhalb der Serienwelt zu erschaffen, wenn sie auf Territorien verweisen, die bislang weder von Figuren betreten noch audiovisuell präsentiert wurden.83 Schließlich stehen Karten serieller Dystopien auch symbolisch für Figuren, Handlung und Zeit der Erzählung und erfüllen somit eine narrative Funktion.84 Die opening credits der vier Episoden von The City & The City beginnen jeweils mit der gleichen Darstellung einer Karte der Städte Besźel and Ul Qoma. Mit der Einblendung des jeweiligen Episodentitels verändern sich die Karten jedoch, sodass sie jeweils auf den thematischen Schwerpunkt der Handlung sowie die Wahrnehmung und den räumlichen Standpunkt des Protagonisten, Inspektor Borlú, verweisen. Innerhalb der fiktiven Welt von The City & The City befinden sich beide Städte auf demselben Territorium und die jeweilige Bevölkerung ist darauf konditioniert, nur die zu ihrer Stadt gehörigen Orte wahrzunehmen. Die erste Episode, in der Borlú in seiner Heimatstadt ermittelt, trägt folglich den Titel »Besźel«. Mit Erscheinen des Titels werden alle Teile der Karte, die auf Ul Qoma verweisen, rot eingefärbt und zeigen keine Details mehr wie Straßen, schriftliche Angaben oder Abbildungen von Gebäuden.85 Den Rezipienten wird also nicht nur der Handlungsraum der Folge mitgeteilt, sondern sie werden vorab auf die räumlich bedingte Perzeption Borlús eingestimmt. Die credits der zweiten Episode, »Ul Qoma«, färben wiederum den anderen Kartenteil, der auf Besźel verweist, in Gelb ein: In dieser Episode ermittelt Borlú in der Nachbarstadt; die Kartendarstellungen der folgenden zwei Episoden setzen

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Zur suggerierten Objektivität von Karten vgl. Böhnke 2005, S. 55 sowie Italiano, Federico (2015): Kartographisches Schreiben und kartographische Imagination. In: Handbuch Literatur & Raum. Bielefeld: transcript, S. 249–258, hier S. 251. Z.B. verzerrt die Mercator-Karte die Maßstäbe von Kontinenten und Inseln, weil sie die Oberfläche einer Ellipse auf ein zweidimensionales Feld überträgt. Das Resultat ist, dass mittels der Mercator-Projektion Grönland im Verhältnis zu Afrika ungleich größer und Afrika im Verhältnis zu Landmassen im Norden, z.B. Europa, ungleich kleiner dargestellt ist. Vgl. Trepalium, S1E4. Vgl. hierzu IV.3.2.1, 2 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch II.2.5 in dieser Arbeit. Vgl. The City & The City, S1E1, »Besźel«.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

dieses Muster fort.86 Weitere Beispiele für die narrative Funktion von Karten im Hinblick auf Handlung, Zeit und Figur liegen in anderen seriellen Dystopien des Post-TV vor.87

1.1.3 Establishing shots als Knotenpunkte im Serienraum Auch establishing shots in Fernsehserien haben eine Orientierungsfunktion: Ähnlich wie bei Filmen markieren sie Einstiege in »den Raum und die Umgebung« neuer Szenen sowie Sequenzen und erleichtern dadurch die Navigation der Zuschauer.88 Diese Ortseinführungen, meist Einstellungen in der Totale oder long shots, verfolgen laut Hans Jürgen Wulff zwei Funktionen: Zum einen unterstützen sie auf Seiten der Rezipienten den Aufbau des master space, also eines kognitiven Modells des diegetischen Raums, zum anderen gliedern sie den filmischen Text in Segmente durch die Markierung von Sequenzen89 und Szenen. In Fernsehserien werden Schauplätze, die zum ersten Mal vorgestellt werden, mitunter durch schriftliche Ortsangaben auf extradiegetischer Ebene näher beleuchtet. In der Regel bleiben diese Bildunterschriften auf die notwendigsten Informationen beschränkt und fallen nach der ersten Präsentation des Schauplatzes weg, solange ein Wiedererkennen durch Figuren90 oder andere Orientierungsstrategien wie landmarks oder lokale Sounds möglich ist. Betrachtet man die Serie selbst als hodologischen Raum, der durch die Rezipienten erkundet wird, dann stellen establishing shots Reflexionsorte bzw. nodes im Sinne Kevin

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Vgl. ebd., S1E2, »Ul Qoma«. Die Kartenänderung in den credits der dritten Episode symbolisiert den vorübergehenden Glauben Borlús an die Existenz einer mysteriösen dritten Stadt, die beide Räume vereinen könnte, namens »Orciny«. Nach Erscheinen des Episodentitels (»Orciny«) löst sich die Karte in hellgelbes Licht auf, das unter ihr zugleich an verschiedenen Stellen herausbricht. Nach dem Borlú schließlich von der geheimen Grenzpolizei »Breach« (so auch der Titel der vierten Folge) akquiriert wurde und somit beide Städte wahrnehmen kann, löst sich die Karte in den finalen credits in Stofffetzen auf, wobei eine dahinter liegende graue Fläche sichtbar wird, die an Beton erinnert und symbolisch für den Charakter der Grenzpolizei sowie die metaphorische Mauer zwischen den Städten stehen könnte; vgl. The City & The City, S1E3, »Orciny« sowie S1E4, »Breach«. Die Karte im cold opening der ersten Episode von 3 % verweist bereits auf die Staffelhandlung, da sich ein Objekt vom abgebildeten Festland zur Insel Maralto bewegt; vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Die Rot, Blau und Ocker eingefärbten Gebiete auf den intradiegetischen Karten in The Man in the High Castle referieren auf die politische Neuordnung der Welt nach dem Sieg der Achsenmächte und zugleich auf die Gegenwart der Diegese; vgl. The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«. Und die Anordnung des tödlich verwundeten Kleinstadt-Oberhaupts Jason auf dem Miniaturmodell von Wayward Pines in der gleichnamigen Serie zeugt sowohl davon, dass sein Schicksal untrennbar mit dem der untergehenden Stadt verbunden ist, als auch vom Hass vieler Bewohner angesichts seiner totalitären Herrschaft; vgl. Wayward Pines, S2E9, »Walcott Prep«. Vgl. Wulff, Hans Jürgen (19.01.2012): establishing shot. In: Lexikon der Filmbegriffe. http://filmlexik on.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=140, aufgerufen am 30.10.2020. Vgl. ebd. sowie Böhnke 2005, S. 58. Wulff 2012 weist darauf hin, dass »die Wiederaufnahme einer Szene durch eine erneute Raumtotale« auch durch die Unterbrechung von Fernsehfilmen oder Serien durch Werbung motiviert sein kann; vgl. ebd. Piepiorka beschreibt die Funktion von verschriftlichten Ortsnamen als »Orientierungshilfen für den Rezipienten« in Bezug auf Game of Thrones, die allerdings auf die »ersten Episoden« beschränkt bleiben, und schließlich »im Serienverlauf« wegfallen; ebd. 2017, S. 120.

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IV. Analyse der Serienräume

Lynchs dar: In seiner empirischen Untersuchung zur Erkundung von Städten definiert Lynch nodes bzw. ›Knotenpunkte‹ als Kreuzungen und Orte des Pausierens, an denen die Stadtbewohner von einem Weg auf den anderen wechseln.91 An diesen Knotenpunkten konzentriere sich der physische oder symbolische Charakter eines Stadtviertels.92 Diese Überlegungen zur unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung der realen Stadt lassen sich auf die Funktion der establishing shots für die Erfahrung des Serienraums übertragen: In diesem Sinn verdichten sich auch die Eigenschaften des angekündigten Schauplatzes im establishing shot und ermöglichen somit dessen Einordnung in die mentale ›Landkarte‹ der Zuschauer. Dies gilt sowohl für die initiale ›Begehung‹ eines einzelnen Handlungsortes als auch bei dessen Wiederholung innerhalb der Serie, ferner aber auch für die erneute Rezeption einer bereits angeschauten Dystopie-Serie. Die Besonderheit kritisch-serieller Dystopien des Post-TV im Unterschied zu vielen anderen Seriengenres ist jedoch, dass sie mögliche Welten abbilden, die sowohl auf die extratextuelle Welt als auch auf eigene Raumentwürfe referieren. Frank schlägt zur Untersuchung des Fiktivitätsgrade von Raumentwürfen in literarischen Erzähltexten eine Skala zwischen heteroreferentiellen und autoreferentiellen Bezügen vor: Erstere beziehen sich vorrangig auf reale, letztere »ausschließlich [auf] imaginäre Räume«.93 Auf dieser Skala lassen sich die Räume der meisten hier untersuchten Dystopien zwischen diesen Polen, aber mit einer Tendenz zur Heteroreferentialität einordnen.94 Man könnte argumentieren, dass das bei jedem fiktionalen Raumentwurf der Fall ist – auch die in den einzelnen Serien der Tatort-Reihe gezeigten Orte wie der Kölner Dom werden in eine Topographie eingebunden, die sich von der realen unterscheidet.95 Dadurch handelt es sich um heteroreferentielle, aber eben doch fiktive Raumentwürfe. In Dystopien werden aber reale Räume in ein mögliches, aber fiktives Szenario eingebunden, wobei die Inszenierung der Räume bewusst den Kontrast zwischen mitunter stereotyp dargestellten Orten der extratextuellen Welt und der imaginären Topographie aufrechterhält. In den establishing shots verdichtet sich der Gegensatz zwischen realen und imaginären Räumen der Serientopographie. Diese Segmente ermöglichen eine Zuordnung vieler Schauplätze zur extratextuellen Welt aufgrund markanter Bauten und Orte. Dabei unterscheiden sie sich bezüglich des Grades an Hetero- und Autoreferentialität. Zugleich fordern establishing shots bei den Zuschauern aber auch die Konzeption eines Seriengedächtnisses bezüglich des diegetischen Raumes ein. Dabei verlassen sich die Serien in unterschiedlichem Maße auf die Fähigkeit der Rezipienten, eine mentale ›Landkarte‹ der

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Lynch, Kevin (1960): The Image of the City. Cambridge, Massachusetts: M.I.T. Press, S. 47. Ebd., 47f. Frank 2017a, S. 82. Vgl. ferner die Unterscheidung zwischen dokumentarischem und imaginärem Modus der Rauminszenierung in Heiß 2011, S. 91ff. Die hier verhandelten Dystopien, insbesondere The Man in the High Castle, verhalten sich bezüglich ihrer Referenz auf die reale Welt bzw. medial verbreitete Vorstellungen realer Orte weitestgehend analog zu dem von Frank 2017a untersuchten Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht, eine alternate history, in der der »reale[] Georaum« im Wesentlichen beibehalten und »entsprechend dem konterkarierten Geschichtsverlauf umgestaltet« werde; ebd., S. 88. Wobei auch die Wahrnehmung realer Räume subjektiv und von Individuum zu Individuum unterschiedlich ist, ebenso, wie die Darstellungen realer Räume in Karten voneinander abweichen.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

Serienwelt zu konzipieren. Der Grad an Orientierungshilfen ist abhängig von der Orientierungskompetenz, die die Serie den Zuschauern attestiert und die diese durch Kenntnis des Serienraums und ihr Seriengedächtnis aufbauen. Orientierungshilfen in den establishing shots – aber auch innerhalb von Szenen und Sequenzen – zeichnen sich durch schriftliche Ortsangaben sowie eine wiederkehrende, gleichbleibende Darstellung ein und desselben Ortes aus. Zudem unterstützt die Darstellung bereits bekannter Handlungsorte in den Szeneneinführungen die Orientierung der Zuschauer: Bekannt kann ein Ort entweder sein, weil er auf eine Location der extratextuellen Welt referiert (z.B. die Darstellung der Siegessäule für den Schauplatz Berlin in The Man in the High Castle),96 oder weil der Schauplatz mit hoher Frequenz innerhalb der Serie auftaucht. Dass die Serie den Zuschauern eine hohe Orientierungskompetenz zuspricht, lässt sich im Umkehrschluss am Wegfall schriftlicher Ortsangaben, variierender Darstellungen eines Schauplatzes und an einer hohen Anzahl unbekannter Handlungsorte erkennen. Die establishing shots serieller Dystopien im Post-TV setzen insgesamt auf die Raumkenntnis der Zuschauer, was an der Variation der Raumdarstellungen in den Szenenanfängen zu erkennen ist. Dies steht im Kontrast zu der Mehrzahl – älterer wie aktueller – Fernsehserien, deren Ortseinführungen Paefgen zufolge unverändert wiederholt werde.97 Die Dichte an Orientierungshilfen in den establishing shots hängt von unterschiedlichen Faktoren wie der Länge der Erzählzeit, der Anzahl der Handlungsräume und -orte, zwischen denen das Geschehen wechselt, aber auch dem Ausstrahlungskontext ab. Ein gemeinsamer Grund für die hohe Variation der Darstellung ein- und desselben Schauplatzes in den establishing shots mag sein, dass alle hier untersuchten Serien spätestens im Anschluss an die Erstausstrahlung im linearen Fernsehen auch für eine Zweitverwertung auf Mediatheken oder von Beginn an für die Rezeption über Streamingdienste produziert wurden.98 Von den Zuschauern des Post-TV, so scheint es, kann insgesamt mehr Aufmerksamkeit und eine höhere Ambiguitätstoleranz erwartet werden als von Zuschauern der Serien, deren Ausstrahlung in ein festes Programm eingeordnet und deren Rezeption flüchtiger ist.

The Man in the High Castle The Man in the High Castle weist eine ungewöhnlich hohe Anzahl schriftlicher Ortsangaben in den establishing shots auf. Diese sind meist auf extradiegetischer Ebene und mittig im Bildraum angebracht. Sie erhalten somit eine besondere Präsenz und richten sich deutlich an die Rezipienten. Oft handelt es sich aber auch um Schilder von Straßen, Ortschaften oder Institutionen. Die Angaben zu den jeweiligen Schauplätzen sind bei den establishing shots mit extradiegetischer Schrift minutiös verfasst und enthalten nicht nur das jeweilige Toponym, sondern auch Hinweise zur Lage und Zugehörigkeit zu einem Staat oder Bundesstaat. Diese Akribie ist besonders auffallend, weil die Angabe lo-

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Vgl. The Man in the High Castle, S1E10, »A Way Out«. Paefgen 2017, S. 179. Als Beispiele für unveränderte establishing shots nennt Paefgen bestimmte Orte in The Wire, Seinfeld, Six Feet Under und Boston Legal. Zwar wurde Wayward Pines für den Fernsehsender Fox produziert und dort ausgestrahlt (14.05.2015-27.07.2016), doch bereits die Pilotepisode war vorab über die Online-Plattform des Senders abrufbar (23.04. – 30.04.2015).

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kaler Daten sowohl im Zusammenhang mit Orten vorkommt, die häufig zum Schauplatz der Handlung werden, als auch solchen, die nur für einen sehr geringen Teil der seriellen Erzählzeit präsent sind. In einer Szene der Episode »The Road Less Travelled« befindet sich Juliana auf der Flucht vor Mitgliedern des Widerstandes auf einer Landstraße.99 In der Episode zuvor befand sich die Protagonistin zuletzt auf dem Territorium der Pacific States.100 Zu Beginn der Szene deutet der Klang ihrer Schritte auf eine Straße als Schauplatz hin. Zu sehen ist der Ort aber kaum, das Bild ist fast schwarz. Kurz nach Beginn der Szene erscheint mittig die folgende Ortsangabe in Majuskeln: »Guerneville, California/75 Miles outside San Francisco«. Kurz darauf ist das Leuchten einer Laterne und der Umriss einer Straße zu sehen und ein fahrendes Auto zu hören. Ein Transportwagen hält und der fremde Fahrer willigt ein, Juliana ein Stück des Weges mitzunehmen. Die Frage des Fahrers nach Julianas Ziel bleibt unbeantwortet. In einer späteren Szene innerhalb der Episode wird die Handlung um Juliana und den Fahrer wieder aufgenommen: Mittlerweile beginnt es zu dämmern, sodass die Umgebung des fahrenden Autos zu erkennen ist. Die Szene endet mit einer Panoramaeinstellung, in der sich am Horizont die Golden Gate Bridge abzeichnet. Beide Szenen sind exemplarisch für die Einführung von Räumen in der Serie. Die detaillierte Beschreibung des Schauplatzes am Anfang der Episode ist vergleichbar mit anderen schriftlichen Ortsangaben in The Man in the High Castle.101 Zum einen ist die Angabe der Lage des Schauplatzes relevant, weil auf visueller Ebene keine landmarks vorliegen, die zur Orientierung beitragen, zum anderen lässt sich aber aus dem vorhergehenden Schauplatz – eine Landstraße in den Pacific States – sowie aus dem später präsentierten Panoramabild inklusive der Golden Gate Bridge ableiten, in welchem Umfeld sich Juliana befinden muss. Dennoch greifen die vorhandenen Informationen zum Raum auf schriftlicher und visueller Ebene so ineinander, dass sie nicht redundant sind. Sie richten sich an Zuschauer, die aufmerksam die Topographie der Serie rekonstruieren. Diese Art von establishing shots kommt nicht regelhaft vor, in einigen Episoden bleiben sie auch vollständig aus.102 Dennoch wird wie in einem Logbuch eine Vielzahl der Schauplätze in The Man in the High Castle mit den gleichen long shots und Totaleoder Panorama-Einstellungen und Angaben zu Lage und Staatenzugehörigkeit festgehalten. Besonders notwendig ist diese Art der Navigationshilfe, wenn Orte aus verschiedenen Zeitebenen sowie aus parallelen Welten präsentiert werden, wie z.B. in der Episode »Mauvaise Foi« in der fünften Staffel.103

99 Vgl. The Man in the High Castle, S2E2, »The Road Less Travelled«. 100 Vgl. ebd., S2E1, »The Tiger’s Cave«. 101 Häufig ist neben dem Ort die Zugehörigkeit zu einem staatlichen Territorium angegeben, z.B. »Monument Valley/Southern Utah/Japanese Pacific States« in The Man in the High Castle S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«. 102 Vgl. ebd., S4E6, »All Serious Daring«. 103 Vgl. ebd., S4E5, »Mauvaise Foi«: Die Angabe »1945/Fort Monmouth, New Jersey« leitet eine Analepse ein, »Bailey’s Crossroads/Virginia, USA« ist hingegen ein Ort in der Parallelwelt, in der die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben und »Moraga/Bay Area/Japanese Pacific States« ist ein Schauplatz innerhalb des von den Japanern annektierten Territoriums Nordamerikas.

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Auch die variierende Angabe von extradiegetischer Schrift sowie der filmästhetischen Darstellung ein- und desselben Schauplatzes in den establishing shots verweist darauf, dass den Zuschauern eine hohe Orientierungskompetenz bezüglich des diegetischen Raums attestiert wird. Dies lässt sich exemplarisch anhand des SS-Headquarters nachvollziehen, der Machtzentrale der Nationalsozialisten in Nordamerika. Die Angaben zu diesem Schauplatz in extradiegetischer Schrift sind nicht regelhaft: So wird der Ort ohne diegetische verbale Erklärung einer Figur oder andere Erläuterungen eingeführt (vgl. 9).104 Die Zuschauer müssen sich die Funktion des Gebäudes aus der Szenenhandlung, aus der kühlen Architektur des Baus sowie dem Verhalten der SS-Mitglieder angesichts von Obergruppenführer Smith an diesem erschließen. In den weiteren Episoden wird der Schauplatz wiederum mit oder ohne die schriftliche Angabe »SS Headquarter/New York City« präsentiert, allerdings ohne, dass dafür eine spezifische Motivation, z.B. die Orientierung der Rezipienten, zu erkennen wäre (vgl. Abb. 10–13).105 An der filmästhetischen Inszenierung des SS-Headquarters, das in verschiedenen Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen, Lichtverhältnissen und Platzierungen im Bildraum eingeführt wird, ist zu erkennen, dass die Serie sich an Rezipienten richtet, denen die Topographie von The Man in the High Castle vertraut ist und die diese mithilfe ihres Seriengedächtnisses beständig modifizieren (vgl. Abb. 9–13). Unverändert dargestellt sind lediglich die Höhe des alle umliegenden Bauten überragenden Hauses, die überwiegend düstere Wettersymbolik, das rote Banner sowie das von einer Adlerskulptur gekrönte Hakenkreuz. Durch die prägnante oder stereotype Darstellung realer landmarks wie dem Hudson River106 haben die Zuschauer in den Szeneneinführungen, aber auch innerhalb der Szenen, z.B. durch das Empire State Building,107 die Gelegenheit, das Geschehen durch ihr geographisches Wissen der extratextuellen Welt räumlich einzuordnen.108 Allerdings werden diese Orte durch die Ikonographie der Besatzermächte sowie durch quasi-historische oder fiktive Raumentwürfe konterkariert109 und erscheinen grotesk. Die Vermengung beider ›Ebenen‹ verlangt sowohl Raumkenntnisse der realen als auch der fiktiven Welt, damit die Navigation der Rezipienten im diegetischen Raum störungsfrei verläuft. The Man in the High Castle traut den Zuschauern durchaus die Kenntnis der eigenen

104 Vgl. ebd., S1E2, »Sunrise«. 105 Vgl. für establishing shots des SS-Headquarter mit extradiegetischer schriftlicher Ortsangabe u.a. ebd., S1E3, »The Illustrated Woman« und S2E2, »The Road Less Travelled«, ohne extradiegetische schriftliche Ortsangabe u.a. S1E2, »Sunrise«, S2E1, »The Tiger’s Cave«, S2E5, »Duck and Cover«, S3E2, »Imagine Manchuria« und S4E2, »Every Door Out…«. 106 Vgl. The Man in the High Castle., S4E2, »Every Door Out…«: Eine Kamerafahrt führt zum SS-Headquarter über Brooklyn Bridge und Hudson River hinweg. 107 Vgl. ebd., S4E4, »Happy Trails«. 108 Der Gedanke, dass intraserielle landmarks Orientierung im fiktiven Raum bieten, beruht auf Bonners Beobachtung zu landmarks in digitalen Spielwelten; vgl. Bonner 2015a, S. 11. 109 Beispiele hierfür sind das Stadtbild Berlins in der zweiten Staffel, das auf reale Bauten aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie historische Quellen über nicht umgesetzte Bauvorhaben referiert. Vgl hierzu Boughton in Hermanson, Marissa (1.02.2019): Behind the Scenes: A Dystopian, Midcentury Penthouse in ›The Man in the High Castle‹. In: dwell. https://www.dwell.com/article/the-man -in-the-high-castle-drew-boughton-d4de4b8b, aufgerufen am 2.06.2020.

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Serientopographie zu, aufgrund der sich rasant ausbreitenden Räumlichkeiten, der Einführung immer neuer, nur kurz präsenter Handlungsorte und -räume scheint die penible schriftliche Angabe von Toponymen und Lageverhältnissen aber ebenso angebracht wie die Darstellung serienexterner und -interner landmarks. Die Fülle verbaler, visueller und auditiver Orientierungshilfen110 erklärt sich aber auch vor dem Ausstrahlungs- und Rezeptionskontext der Serie: Da zwischen der Veröffentlichung der einzelnen Staffeln jeweils ein gutes Jahr lag und die Reihenfolge der Episodenrezeption über den StreamingDienst Amazon Prime variabel ist, gibt es einen pragmatischen Grund für die mitunter redundant anmutende Einführung der Orte.

Abb. 9 (links): The Man in the High Castle, S1E2, »Sunrise«, 00:27:47; Abb. 10 (rechts): The Man in the High Castle, S1E3, »The Illustrated Woman«, 00:11:52 (zugleich ebd., S2E2, »The Road Less Travelled«, 00:14:08).

Abb. 11 (links): The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«, 00:20:34; Abb. 12 (rechts): The Man in the High Castle, S2E5, »Duck and Cover«, 00:29:55.

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Nicht zu vergessen ist der jeweilige Sound der Schauplätze: So wird New York in The Man in the High Castle in Vorbereitung des jeweiligen Szenenwechsels mit Sirenen und Verkehrslärm inszeniert, die bereits in der vorherigen Szene zu hören sind, bevor der ›angekündigte‹ Handlungsort zu sehen ist.

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Abb. 13: The Man in the High Castle, S4E2, »Every Door Out…«, 00:30:05.

Wayward Pines Anders als The Man in the High Castle etabliert Wayward Pines klare Regeln, nach denen schriftliche Orientierungshilfen angegeben werden. Auch die Dichte bewusst gesetzter landmarks in den establishing shots ist um ein Vielfaches geringer. Nur zu Beginn der Serie bzw. bei der erstmaligen Einführung von Schauplätzen werden extradiegetische schriftliche Ortsangaben verwendet. Dazu zählen aber einzig die Büros des Secret Service, von denen analeptisch innerhalb der ersten bis dritten Episode erzählt wird.111 Die zentralen Handlungsräume der Basiserzählung – die Wildnis außerhalb von Wayward Pines, die Kleinstadt selbst und der Terminal im Bergmassiv – sowie andere, analeptisch erzählte Orte, werden nicht auf diese prominente Art und Weise eingeführt. Nur wenige Schauplätze, darunter das Sheriff’s Department,112 der Biergarten113 sowie die Wayward Pines Academy,114 werden mit Einstellungen vorgestellt, in denen die Namen der Orte intradiegetisch vorliegen und auf Hausfassaden oder Schaufensterscheiben angebracht sind. Daran wird sichtbar, dass die Serie auf die zügige Etablierung eines Seriengedächtnisses für die einzelnen Handlungsorte und -räume auf Seiten der Rezipienten setzt. Für die Räume, die nur kurze Zeit für die Handlung relevant sind, also die Schauplätze der vergangenen Geschehnisse wie Seattle, Boston115 oder Hawaii,116 werden mitunter Inszenierungen ausgewählt, die es erlauben, dass die Umgebung umstandslos von den Zuschauern identifiziert und lokalisiert werden kann. So wird Seattle u.a. mit einem Stadtpanorama präsentiert, in dem auch die Space Needle als bekanntes reales Wahrzeichen der Stadt zu sehen ist,117 Hawaii hingegen mit Meeresrauschen, weißem Strand

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Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before« sowie S1E3, »Our Town, Our Law«. Vgl. ebd., S1E1, »Where Paradise Is Home«, S1E3, »Our Town, Our Law«. Vgl. ebd., S1E1, »Where Paradise Is Home«, S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before«. Vgl. ebd., S1E4, »One of Our Senior Realtors Has Chosen to Retire«, S1E5, »The Truth«. Vgl. ebd., S2E5, »Sound the Alarm«. Vgl. ebd., S2E1, »Enemy Lines«. Vgl. ebd., S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before«.

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und leicht bekleideten Menschen.118 Wayward Pines geht um ein Vielfaches ökonomischer mit seinen landmarks und verbalen Hinweisen zu Orten und ihrer Lage um als The Man in the High Castle, ist dazu aber auch nur imstande, weil die Serie ein begrenztes Inventar an Handlungsräumen aufweist. Selbst wenn einzelne Orte im Vergleich der ersten zur zweiten Staffel variieren mögen, befinden sie sich doch immer noch innerhalb der Kleinstadt, der Wildnis oder der Superstructure im Gebirge und können deshalb mühelos durch die Zuschauer in die Serientopographie eingeordnet werden.

Trepalium Trepalium verzichtet vollständig auf extradiegetische Ortsangaben und nur wenige Schauplätze werden durch intradiegetische Schrift beschrieben. Hierzu gehören der Sitz des Konzerns Aquaville, das Sexodrome, eine Mischung aus Galerie und Bordell, sowie ein Supermarkt. Alle drei Beschriftungen haben eine explikative Funktion: Die Architektur des Konzerngebäudes unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen Bauten der Stadt, da auch hier Beton, Glas und dunkle Farben dominieren, vor allem die Fassade des Gebäudes ähnelt den anderen Hochhäusern der Stadt.119 Die erste von zwei Szenen, die im Sexodrome spielen, ist ohne die schriftliche Angabe des Toponyms nicht verständlich:120 Nach Rubens Unterredung mit seinem Vater im Umfeld anzüglicher Exponate geht der Vater ab, Ruben nimmt jedoch Blickkontakt mit einer Frau auf, die den Ausstellungsraum verlässt, und folgt ihr. Ebenfalls notwendig zur Orientierung sowie zum Verständnis der Handlung ist die Benennung des Supermarktes: Der Laden befindet sich in einem Bau, dessen bunte Fensterrose und gotischer Torbogen in der Außenfassade auf die ehemalige Funktion einer Kirche hindeutet. Auch wenn der Name ›Zapco‹ nicht allein auf den gegenwärtigen Charakter des Gebäudes schließen lässt, so lässt doch bereits das Neonlicht im Schriftzug eine kommerzielle Verwendung vermuten. In Kombination mit den Bildern von Lebensmitteln, die auf Bildschirmen angebracht sind und dem Versuch Jeffs, einen Flakon Parfüm zu kaufen, wird schließlich deutlich, dass der Raum ein Supermarkt ist.121 Abgesehen davon verwendet die Serie in ihren establishing shots weder extradiegetische Ortsangaben noch Bilder von Gebäuden, die auf überregional oder international bekannte Orte der realen Welt verweisen. Die Raumentwürfe von Trepalium, aber auch von 3 % haben unter den hier untersuchten Serien den höchsten Grad an Autoreferentialität. Zwar können die Zuschauer aus anderen Hinweisen den Schluss ziehen, dass der Handlungsraum mit einem Ort in Frankreich übereinstimmt: Zu nennen sind hier Französisch als Originalsprache der Serie oder Drehorte wie das Gebäude der kommunistischen Partei Frankreichs, das in Trepalium zum Sitz der Regierung transformiert

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Vgl. ebd., S2E1, »Enemy Lines«. Vgl. Trepalium, S1E1. Vgl. ebd. Die Wahl eines Kirchengebäudes als Raum für einen Supermarkt kann als Kritik an der Hierarchisierung menschlicher Bedürfnisse und emotionaler Wärme innerhalb der Stadt unter die Belange der Wirtschaft gedeutet werden. Die Kirche wird aber nicht nur als leblose Kulisse für den Konsum verwendet, sondern in Trepalium, S1E5 auch als religiöser Raum genutzt, wenn Jeff vor einer Marienstatue kniet und betet, während die Kunden an den Regalen entlanglaufen.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

wird.122 Kulissen und authentische Drehorte werden aber so in die Serientopographie überführt, dass ein imaginärer Raum entsteht, der sich deutlich auf dystopische Hypotexte123 und nur in Grundzügen auf die reale Welt bezieht. So stehen serieninterne landmarks wie das Panorama der Zone mit ihren verfallenden Häusern und Hütten124 oder das Viertel, in dem Rubens wohnt,125 deshalb im Vordergrund. Die Serie setzt darauf, dass diese von den Zuschauern erkannt werden, was an deren variierter Darstellung in den establishing shots deutlich wird. Die Dichte an Orientierungshilfen ist deshalb so gering, weil Trepalium mit nur sechs Episoden die klassische Erzählzeit einer mini series aufweist. Die wenigen Schauplätze lassen sich mühelos in eine mentale Landkarte von Trepalium einordnen, da die Anzahl der verschiedenen Handlungsräume wie bei Wayward Pines auf drei (Stadt, Versteck der Rebellen, Zone) begrenzt ist. Darüber hinaus erklärt sich der Verzicht auf Hinweise zur Navigation durch den Distributionskontext: Trepalium wurde vor allem für die Ausstrahlung im linearen Fernsehen konzipiert und die Episoden wurden in einem sehr kurzen zeitlichen Abstand ausgestrahlt.126

3% Auch 3 % vergibt nur wenige Orientierungshilfen: Der Slum sowie die Insel Maralto werden in der ersten127 und zweiten Staffel128 jeweils nur einmal mit extradiegetischen Ortsangaben eingeführt, ansonsten wird von schriftlichen Hinweisen auf die Lage der Schauplätze kein Gebrauch in den Szenenanfängen gemacht. Ebenso wie Trepalium nehmen die etablierten Räume auch nur rudimentär Bezug auf die reale Welt. Zwar suggeriert die Bildunterschrift »Amazônia Subequatorial«129 in Verbindung mit der Originalsprache Portugiesisch, dass das Geschehen auf brasilianischem Territorium in der fiktiven Zukunft stattfindet. Kenntnisse regionaler Räume werden von den Rezipienten zur Navigation innerhalb der storyworld jedoch kaum verlangt. Statt auf die Wiedererkennung 122

Vgl. Langlais, Pierre (1.02.2018): Au siège du PCF, sur le tournage de »Trepalium« la future série d’anticipation d’Arte. In: Télérama. https://www.telerama.fr/series-tv/au-siege-du-pcf-sur-le-t ournage-de-trepalium-la-future-serie-sf-d-arte,120474.php, aufgerufen am 20.03.2020. Auch das Hörspiel A l’ombre du mur – Journal d’un inutile, das auf der Homepage der Serie beim Sender Arte veröffentlicht wurde, verweist auf Frankreich als größeren Handlungsraum: Der autodiegetische Erzähler des Hörbuchs berichtet und von der Umwandlung der Gesellschaft unter dem Einfluss von Massenarbeitslosigkeit und der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Pseudo-dokumentarische Texte wie Zeitungsausschnitte oder politische Flugblätter in französischer Sprache können beim Hören der einzelnen Tagebucheinträge nach Belieben ›entfaltet‹ und rezipiert werden; vgl. Cadène/Mardon 2016. 123 Zu diesen zählen u.a. The Hunger Games und Children of Men. Den letztgenannten Film sowie Welcome to Gattaca betrachten die creators Sophie Hiet und Antarès Bassis, ebenso der Regisseur von Trepalium, Vincent Lannoo, als Inspirationen für die Serie, wobei Lannoo diese Reihe um Soylent Green erweitert vgl. Langlais 2018. 124 Vgl. insbesondere Trepalium, S1E3. 125 Vgl. u.a. ebd., S1E2. 126 Die ersten drei Folgen wurden am 11. Februar 2016, die Episoden vier bis sechs am 18. Februar auf Arte für Frankreich und Deutschland ausgestrahlt. Anschließend war Trepalium über die Mediathek des Senders verfügbar. 127 Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. 128 Vgl. ebd., S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. 129 Ebd., S1E1, »Capítulo 01: Cubos«.

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realer Bauten oder Landschaften zu setzen, exponiert die Serie intraserielle landmarks wie die Skyline des Slums mit seinen verfallenen Gebäuden, die zu Beginn der zweiten Staffel das Geschehen verortet.130 Ebenso wie bei Wayward Pines und Trepalium ist die geringe Dichte an Orientierungshilfen zu Szenenbeginn aber auch nur denkbar, weil die Serienhandlung in der ersten Staffel bis auf wenige Szenen im Slum und ProcessoGebäude spielt und diese ab der zweiten Staffel um die Insel Maralto verdichtet sowie in der dritten um die Concha sukzessive erweitert werden.

Alpha 0.7 Der höchste Grad an Heteroreferentialität liegt mit den Raumentwürfen von Alpha 0.7 vor. Reale lokale Sehenswürdigkeiten wie das Schloss Hohenheim131 oder medial verbreitete Ansichten der Handlungsorte, zu denen das Panorama von Stuttgart zählt,132 erlauben den Rezipienten, ihr Wissen zu Räumen der Alltagswelt, ggf. auch zum Stuttgarter Umland, zur Navigation im diegetischen Raum zu aktivieren. Serieninterne landmarks werden kaum prägnant ausgestellt, da, ebenso wie bei Trepalium, 3 % und Wayward Pines, nur wenige Handlungsräume vorliegen. Mitunter führt dies aber auch zu Orientierungsproblemen, weil Orte wie die versteckte Hütte des Kritikers der Protecta Society, Stefan Hartmann, nicht ausreichend markant etabliert werden und sie aufgrund ihrer Gestaltung nicht auf den ersten Blick vom Versteck der Aktivisten unterschieden werden kann.133 Einbezogen werden muss bei der Untersuchung der Ortseinführungen zu Szenenbeginn in Alpha 0.7 auch die Hörspiel-Staffel der Serie, die sich an die für das lineare und nicht-lineare Fernsehen produzierten Folgen anschließt. Die Nennung von Handlungsorten sowie die Darstellung eines lokalen Sounds müssen zu Beginn der einzelnen Szenen mitunter kombiniert werden, weil das Hörspiel i.d.R. keine visuelle Ebene aufweist.134 Schriftliche extradiegetische Ortsangaben kommen regelhaft nur bei der ersten Präsentation eines Schauplatzes zu Szenenbeginn vor. Die Serie antizipiert folglich den zügigen Aufbau einer mental map der storyworld auf Seiten der Rezipienten. Vorausgesetzt wird auch, dass die Zuschauer über eine hohe Konzentrationsfähigkeit verfügen, weil die Gestaltung einzelner Orte starke Ähnlichkeiten zu anderen Schauplätzen aufweist. Diese hohe Orientierungsfähigkeit kann verlangt werden, weil die Episoden von Alpha

130 131 132 133 134

Vgl. ebd., S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. Vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Der freie Wille«. Vgl. ebd., S1E2, »Schizophren«. Vgl. ebd. Gleiches gilt für den Sitz von Protecta Society und das National Pre-Crime Center; vgl. u.a. ebd. Vgl. Alpha 0.7, S1E1, »Neuanfang« [Hörspiel-Serie]. So werden die Zuhörer bereits auf Marseille vorbereitet, bevor die Stadt zum Ort der Handlung wird: In einem Nachrichtentext ist die Rede davon, dass Johanna Berger, die im Verdacht steht, ein erfolgloses Attentat auf die Baden-Württembergische Ministerpräsidentin verübt zu haben, unweit der französischen Grenze gesichtet wurde. Die anschließende Szene um Johanna, Mila und Ralf spielt in Marseille und wird mit dem Hinweis von Ralf auf das Meer und die Hafenstadt sowie Möwenschreie im Hintergrund eingeleitet. Ein Hörspiel mit visueller Ebene ist z.B. das interaktive sequel zu Trepalium, A l’ombre du mur – Journal d’un inutile; vgl. Cadène/Mardon 2016.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

0.7 ähnlich wie die von Trepalium im linearen Fernsehen dicht hintereinander ausgestrahlt wurden.135 Obgleich von Beginn an die Veröffentlichung der Serie über die Mediathek des Fernsehsenders ARD geplant war und somit bereits in der Produktion ein nationales Publikum adressiert wurde, richtet sich die Serie in der Wahl ihrer Schauplätze besonders an die Zuschauer im Südwesten Deutschlands:136 Für diese Region bzw. die Bundesländer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem Deutschlands der regionale Fernsehsender SWR und Radiosender SWR2 ›zuständig‹, also die Sendeanstalt, die die transmediale Serie in Auftrag gab.

1.1.4 Fazit und Diskussion In den Initialphasen serieller Dystopien des Post-TV werden häufig Strategien räumlicher (und narrativer) Desorientierung verwendet. Dies gilt insbesondere für Wayward Pines, 3 % und Trepalium, aber auch für andere serielle Dystopien. Innerhalb der ersten Sequenz von The Handmaid’s Tale befinden sich die Protagonistin June, ihr Mann und ihre Tochter auf der Flucht:137 In einem Auto fahren sie mit hoher Geschwindigkeit durch eine Landschaft, die überall im Norden der USA angesiedelt sein könnte. Nachdem das Auto gewaltsam in einer Böschung zum Stehen kommt, laufen June und ihre Tochter durch einen Wald, verstecken sich vor ihren Verfolgern und werden schließlich aufgegriffen. Westworld wird mit zwei verschiedenen Handlungsorten eröffnet, die von einem Gespräch zwischen den Androiden Bernhard und Dolores als Voice-over überlagert und zugleich verbunden werden:138 Zu Beginn sitzt Dolores leblos in einem dunklen Ort, anschließend agiert sie in einer Umgebung, die an Western-Filme erinnert. Die Hervorhebung der Begriffe »your reality« und »your world« in Verbindung mit Elementen der Science-Fiction in den vorhergehenden opening credits stellen die Frage nach einem Zusammenhang zwischen den Orten sofort ins Zentrum der Initialphase. Aufgeklärt wird die Topologie der Schauplätze aber erst viel später, auch wenn bereits im Anschluss an die erste Sequenz ein Überblick über die Prärie und die Gebirge des Erlebnisparks Westworld erfolgt. Allerdings handelt es sich bei der Inszenierung räumlicher Desorientierung in den seriellen Dystopien nicht zwangsläufig um eine genretypische Raumeinführung. Die Dystopie-Serie Electric City beginnt mit mehreren Totale- und Panorama-Einstellungen in Normal- und Aufsicht, in denen das grüne Tal, in dem der titelgebende Verbund von Städten liegt, dargestellt werden – auch wenn die genaue geographische Lage der Städte unbekannt bleibt.139 Auch Persons Unknown wird mit einem establishing shot eröffnet, in dem die Skyline von San Francisco zu sehen ist,140 während Continuum direkt mit extradiegetischen schriftlichen Angaben zu Zeit und Ort der futuristischen Welt und Bildern der dystopischen Stadt eröffnet wird.141 135

Die erstmalige Ausstrahlung aller Episoden von Alpha 0.7 fand im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender SWR am 14. November 2010 statt. Anschließend waren die Episoden online verfügbar. 136 Vgl. zur Ausstrahlung der Serie III.3 in dieser Arbeit. 137 Vgl. The Handmaid’s Tale, S1E1, »Offred«. 138 Vgl. Westworld, S1E1, »The Original«. 139 Vgl. Electric City, S1E1. 140 Vgl. Persons Unknown, S1E1, »Pilot«. 141 Vgl. Continuum, S1E1, »A Stitch in Time«.

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Vielmehr ist zu vermuten, dass die Desorientierungsstrategien in den Erzählanfängen symbolisch für die enigmatisch angeordneten Erzählstränge und narrativen Wendungen der hier untersuchten seriellen Dystopien stehen. Dabei korrespondiert die Unzugänglichkeit dystopischer Topographien mit den undurchsichtigen Motiven der Figuren und den schwer vorhersehbaren Entwicklungen einzelner Handlungsstränge. Auch in anderen seriellen Dystopien verweist das Motiv räumlicher Desorientierung auf die Struktur der Erzählung: So wird die in Westworld prominente Trope des Labyrinths von Katja Kanzler als Symbol der narrativen Desorientierung gedeutet, die die Serie betreibt.142 Die relative Häufung räumlicher Desorientierung in den Initialphasen serieller Dystopien ließe sich unter dieser Annahme zum einen auf Genrekonventionen zurückführen: Alle hier untersuchten Serien weisen Elemente der Mystery- und ThrillerGenres auf,143 in denen narrative twists zentrale Charakteristika darstellen. Zum anderen kann die pointierte Verwendung räumlicher Desorientierungsstrategien auf interserielle Überbietungslogiken zurückgeführt werden: Zumindest anhand von Wayward Pines lässt sich diese Vermutung nachweisen, da der Anfang dieser Serie in der Tradition von Lost und weiterer Serien steht.144 Nicht zuletzt ist der sukzessive Aufbau des diegetischen Raums durch Einstellungen, die die ›Leerstellen‹ der Serientopographie im filmischen Off-Raum füllen, sowohl ein spannungsförderndes Element, das das Interesse der Zuschauer aufrechterhält als auch eine Möglichkeit, die Immersion der Zuschauer in die Seriendiegese auszulösen.145 Die Analyse der Serienanfänge und der establishing shots als ›Knotenpunkte‹ im Serienraum zeigt, dass die Dichte an Orientierungshilfen in Fernsehserien (schriftliche Ortsangaben, serieninterne und -externe landmarks, gleichbleibende Darstellung eines Schauplatzes in Szenenanfängen sowie Karten und plastische Modelle von Raum) von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist: •

Länge der Serie, die selten bereits während der Produktion antizipiert werden kann

142 Kanzler, Katja (2018): ›This game is not meant for you‹: Westworld an der Schnittstelle von Narrativ und Spiel. In: Georgi-Findlay, Brigitte/Kanzler, Katja (Hg.): Mensch, Maschine, Maschinenmenschen. Multidisziplinäre Perspektiven auf die Serie Westworld. Wiesbaden: Springer, S. 53–70, hier S. 64–67. 143 Einige der Serien werden in Rezensionen als Thriller eingeordnet: Vgl. für Trepalium Keslassy, Elsa (2015): French TV creatives eager to tackle issues: Direct to Series showcases the best of Gaul and encourages trans-Atlantic collaboration. In: Variety 329.15, S. 60–61; für Alpha 0.7 Hanfeld 2010; sowie für Wayward Pines Rehfeld, Nina (14.05.2015): Wo bin ich hier bloß gelandet? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/serien/neue-serie-wayw ard-pines-mit-matt-dillon-bei-fox-13587560.html, aufgerufen am 30.06.2020. 144 Neben Lost bezieht sich Wayward Pines laut Stuever im Serienanfang auch auf Under the Dome, Extant, The 100, The Stepford Wives »and other tales of perfect-community-dystopia«, wie The Twilight Zone, Hotel California, Ascension, Millenium sowie den Spielfilm The Sixth Sense, der ebenfalls vom Regisseur M. Night Shyamalan stammt, der für als Produzent sowie Regisseur für die Pilotepisode an Wayward Pines mitwirkte; Stuever, Hank (13.05.2015): ›Wayward Pines‹: M. Night Shyamalan’s addictive effort. In: The Washington Post. https://www.washingtonpost.com/entertainment/tv/wayward-pines-m-night-shyamal ans-addictive-new-effort/2015/05/13/115a887e-f769-11e4-a13c-193b1241d51a_story.html, aufgerufen am 23.01.2020. 145 Vgl. zur immersiven Qualität des dystopischen Serienraums IV.1.2 in dieser Arbeit.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

• • • • • •

Anzahl unterschiedlicher Räume und Orte visuelle und auditive Unterscheidbarkeit der Schauplätze Bekanntheitsgrad der Schauplätze aufgrund der Serienrezeption oder aufgrund von Alltagswissen Länge des Intervalls zwischen einzelnen Episoden und Staffeln Produktion der Serie für mehrmalige oder einmalige Rezeption Geplante oder ungeplante Unterbrechung der Serienrezeption (z.B. durch Werbeblöcke versus längere Pausen während der Rezeption via DVD oder StreamingDienst).

Serielle Dystopien des Post-TV setzen bei ihren Zuschauern voraus, dass sie sowohl auf Raumwissen aus der realen Welt zurückgreifen als auch ein Seriengedächtnis zur fiktiven Topographie aufbauen. Die fiktiven Welten serieller Dystopien transferieren reale Räume zwar ebenso wie andere Serien in eine fiktive Umgebung, sie verfremden diese aber ungleich stärker, da sie in post-apokalyptische und futuristische Settings eingebettet werden. Beide Wissensbestände müssen bei der Konzeption einer mental map der jeweiligen Serienräume in Einklang gebracht werden, damit die Navigation in den dystopischen Welten störungsfrei verläuft. Neben den hier untersuchten Serien zeichnet sich auch The Handmaid’s Tale durch die Ko-Existenz realer und imaginärer Raumentwürfe aus. Explizit verwiesen wird in der Serie auf die Lage des totalitären Staates Gilead im Nordosten der USA, andere reale Orte werden wiederum nur angedeutet. So weisen Orte wie der Charles River oder die in der zweiten Episode einstürzende Kirche St Paul’s auf Boston als Handlungsort hin, auch wenn das Toponym nicht genannt wird.146 Aus der Typologie, die aufgrund der hier untersuchten fünf Kernserien sowie weiterer Serien erstellt wurde, geht hervor, dass Karten und plastische Repräsentationsmodelle von Raum in seriellen Dystopien des Post-TV in großer Zahl und vorrangig als Instrument zur Orientierung der Rezipienten vorliegen. Neben den hier untersuchten fünf Kernserien konnten dafür auch andere Beispiele angeführt werden. Darüber hinaus gehen diese Repräsentationsmodelle aber auch mit einer Vielzahl weiterer Funktionen und Semantiken einher, von denen einige in einer thematischen Beziehung zu den Spezifika kritisch-serieller Dystopien stehen. Hierzu gehören die Authentifizierung der fremden dystopischen Welt und die Explikation schwer nachvollziehbarer Zusammenhänge, vor allem in Bezug zu Elementen der Science-Fiction; die Kontrolle der Bevölkerung; die Nutzung von Karten für (para)militärische Zwecke; ihr symbolischer Verweis auf Machtausübung und implerialistisches Gebaren der dystopischen Machthaber; der Abenteuer146 So gibt Hendershot eine Brücke über dem Charles River als Schauplatz des Versuchs der Handmaid Janine an, ihre Tochter und sich innerhalb der Episode »The Bridge« (S1E9) zu ertränken, bemerkt aber auch, dass innerhalb Gileads alle expliziten Referenzen auf das Leben vor den Bürgerkriegen getilgt wurden, darunter die Zeitung Boston Globe; vgl. Hendershot, Heather (2018): The Handmaid’s Tale as Ustopian Allegory: »Stars and Stripes Forever, Baby«. In: Film Quarterly 72.1, S. 13–25, hier S. 21f. Auch wenn die Serie zu einem wesentlichen Teil in Kanada gedreht wurde, machen Fans Anzeichen aus, die auf Boston als Handlungsraum verweisen; vgl. u.a. Dasrath, Juhi A. (16.06.2017): Where does ›The Handmaid’s Tale‹ really take place? All signs point to Boston. In: masslive.com. https://www.masslive.com/entertainment/2017/06/where_does_the_handmaid s_tale.html, aufgerufen am 26.06.2020.

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charakter einiger Karten, die in Verbindung mit Expeditionen von Figuren stehen; sowie narrative Funktionen mit Blick auf Figuren, Handlung und Zeit der storyworld.

1.2 Ästhetische Illusion Da sich viele Serien über mehrere Episoden und Staffeln erstrecken sowie mit der Erwartung auf kommerziellen Erfolg produziert werden, müssen sie Zuschauer an sich binden. In vielen Fällen findet diese Bindung aufgrund von Figuren statt.147 Allerdings gibt es auch Serien, die sich Zuschauer wiederholt ansehen, weil sie von der Topographie der storyworld fasziniert sind oder sich gar wünschen, diese unmittelbar erfahren zu können.148 Hiervon legt die stetig zunehmende Zahl professionell organisierter Besuche der Drehorte fiktionaler Serien ebenso Zeugnis ab,149 wie die Expansion der storyworlds unter Beibehaltung ihrer räumlichen Charakteristika in andere Medien und Erzählformen hinein.150 Der Eindruck, in die fiktive Welt eines Romans, Films oder Computerspiels ›einzutauchen‹, wird als Immersion bezeichnet und ist ein »wirkungsästhetisches Phänomen«, das auf Seiten der Rezipienten entsteht.151 Kennzeichnend für diesen Wahrnehmungs-Modus ist Werner Wolf zufolge die »weitgehende Abschottung« der Rezipienten »von der realen Rezeptionssituation wie auch [deren] scheinbare Rezentrierung innerhalb der dargestellten Welt bzw. an einem Ort, der zu dieser in Beziehung« steht.152 Charakteristisch dafür ist die »Tendenz, die Bedingungen der Immersion auszublenden« sowie das Dargestellte »als [g]egenwärtig[] zu erfahren, selbst wenn es sich um Geschichten der Vergangenheit handelt«.153 Analog dazu ist davon auszugehen, dass auch Handlungen, die in einer möglichen Zukunft oder einer alternativen Vergangenheit angesiedelt sind, potentiell immersiv erfahren werden können. Eine entgegengesetzte Erfahrung kann sich in der Distanzierung vom Dargestellten niederschlagen. Der Eindruck der Distanz zeichnet sich durch »Rationalität« sowie

147 Vgl. Mittell, 2015, S. 127ff. 148 Vgl. hierzu II.3.3.1 in dieser Arbeit. 149 Ein Beispiel unter vielen ist die »Mad Men Cocktail Tour«, die sich zwischen ausgewählten Bars aufspannt; vgl. o.A. (o.A.): The Mad Men Cocktail Tour Experience. In: Mad Men Tour. https://madm entour.com/index.php, aufgerufen am 18.09.2020. Darüber hinaus werden Reisen zu Drehorten auch von Fans dokumentiert und kommentiert u.a. für die Serie Game of Thrones in David, Andrea (o.A.): Game of Thrones. In: filmtourismus.de. Die Welt der Drehorte. https://www.filmtourismu s.de/game-of-thrones/, aufgerufen am 13.09.2020. 150 Vgl. hierzu Piepiorka 2017, die unter dem Gesichtspunkt der Immersion das Online-Spiel Game of Thrones: Maester’s Path analysiert, das zum Kosmos der gleichnamigen Serie gehört; vgl. ebd., S. 198–201. 151 Wolf, Werner (2017): Ästhetische Illusion. In: Huber, Martin/Schmid, Wolf (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 401–417, hier S. 401. 152 Ebd., S. 402. Ryan beschreibt vier verschiedene Grade der »absorbtion« bzw. Immersion im Zuge der Rezeption von Schriftliteratur: Concentration, Imaginative Involvement, Entrancement und Addiction. Das Ausblenden der Umwelt des Rezipienten sei Teil der dritten Stufe und somit ein Zeichen starker Immersion; Ryan, Marie-Lauren (2001): Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press, S. 98. 153 Wolf 2017, S. 401.

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»ein Wissen um die mediale Grundlage der Vermittlung aller Repräsentation« aus.154 Besonders deutlich wird der Kontrast zwischen Immersion und Distanz in Matthias Hänselmanns Unterscheidung von »Materialsehen und Immersionssehen«.155 Hänselmann zufolge ist Immersion immer dann gestört, wenn Effekte zutage treten, die deutlich machen, dass das Gezeigte in irgendeiner Weise nur illusioniert, fingiert, vermittelt, erfunden – d.h.: ›gemacht‹ ist. Solche Effekte entstehen in erster Linie auf der Ebene des Discours und zwar vornehmlich […] durch gezielt eingebaute materielle Störungen beziehungsweise durch gezielt genutzte Auffälligkeit hinsichtlich der Materialität.156 Das Gegensatzpaar von Immersion und Distanz kategorisiert Wolf unter dem Begriff der ästhetischen Illusion.157 Diese weise »stets ein Moment latenter rationaler Distanz als Folge des kulturell erworbenen Wissens um den Artefaktstatus des Wahrgenommenen« auf.158 Mit Blick auf gegenwärtige fiktionale Fernsehserien, die sich durch Transmedialität und Genresynkretismus auszeichnen, zugleich aber im Mittelpunkt von Debatten um ihre künstlerische und narrative Wertigkeit stehen, muss betont werden, dass ästhetische Illusion ein transmediales, genre- und gattungsüberspannendes Phänomen ist und sowohl durch Serien und »Werke der ›Hochkunst‹« als auch »der ›Trivialkunst‹« ausgelöst werden kann.159 Serielle Dystopien des Post-TV können ebenso die Wirkung der Immersion erzielen wie Krimiserien oder Daily Soaps. Allerdings erscheinen ihre Rauminszenierungen auf den ersten Blick wenig ›einladend‹: Viele (Macht-)Zentren dystopischer Welten sind von einer wiederkehrenden genrespezifischen Ästhetik geprägt, die sich durch Stahl, Glas und Beton, strenge geometrische Formen, gigantischen Bauten, Dunkelheit und kühles Licht auszeichnet.160 Die Räume serieller Dystopien rufen zudem Irritation aufgrund der Fremdheit dystopischer Welten hervor. Diese tragen häufig Spuren vergangener Katastrophen oder weisen Elemente der Science-Fiction auf, die sich am deutlichsten in Form diegetischer Verfremdung niederschlagen bzw. »widersprüchliche[] Elemente auf der Handlungsebene« zeigen: Laut Spiegel kann diegetische Verfremdung »ungewöhnliches Verhalten der Figuren betreffen, aber auch ungewohnte, ›unmögliche‹ Bilder wie zum Beispiel […] in der Wüste gestrandete[] Schiffe«.161 154 155

Ebd., S. 402. Hänselmann, Matthias C. (2018): Das Gemachte als Bewusst-Gemachtes. Produktive und rezeptive Dimensionen von Materialität und Materialtransparenz im Film. In: Hans-Joachim Backe et al. (Hg.): Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung. Berlin/ Boston: De Gruyter, 27–52, hier S. 46. 156 Ebd., 36. 157 Wolf 2017, S. 401. Ästhetische Illusion unterscheidet Wolf von der »Illusion als Irrtum, Sinnestäuschung oder Halluzination« sowie der »›magischen bzw. rituellen Illusion‹ einer archaischen Wahrnehmung von Artefakten, bei der diese mit der Realität gleichgesetzt werden«; ebd. 158 Ebd. 159 Ebd., S. 405f. 160 Vgl. zur genrespezifischen Rauminszenierung der Dystopie in Literatur und Film II.4.2, in den seriellen Dystopien des Post-TV u.a. V.1, 2 in dieser Arbeit. 161 Spiegel, Simon (2007): Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films. Marburg: Schüren, S. 206f. Der diegetischen Verfremdung im Science-Fiction-Film steht laut Spiegel

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Vor allem ist die distanzierte Erscheinung der Räume serieller Dystopien auf die Vermengung von Orten der realen und der fiktiven Welt zurückzuführen. Laut Adkins werden die Zuschauer von Science-Fiction-Serien mit dystopischem oder post-apokalyptischen Charakter in einer Welt platziert, die der ihren ähnelt.162 Zugleich unterschieden sich diese Welten aber so stark von der realen, dass eine kritische Distanz zum Dargestellten möglich sei: »All storyworlds remove us to some point outside reality; science fiction just does so in a more obvious, self-conscious way«.163 Die Platzierung realer Räume, deren Bezug zur extratextuellen Welt deutlich ausgestellt wird, wie z.B. das Empire State Building im von Nazis besetzten New York, verweist auf die eigene Raumkonstruktion zurück und fordert zur Reflexion des Dargestellten auf. Diese Melange aus antiseptischem visual look und in sich gegensätzlicher Topographie, die viele serielle Dystopien des Post-TV kennzeichnet, kann die ungestörte Hingabe der Rezipienten an Handlung und Figuren durchaus bremsen. Zugleich kann hieraus ein besonderes Gratifikationserlebnis hervorgehen, das andere Seriengenres nicht bieten. Dennoch stehen die Rauminszenierungen vieler serieller Dystopien ebenso wie die von Dramedys und Fantasy-Serien vor der Aufgabe, einzelne Orte so authentisch wie möglich erscheinen zu lassen und den Zuschauern die Gelegenheit zu geben, die fiktive Welt unmittelbar zu erleben. Während sich die Alterität dystopischer Räume auf einige wiederkehrende Charakteristika zurückführen lässt, kann die Frage, ob der dargestellte Raum immersiv oder distanzierend wirkt, nicht pauschal beantwortet werden. Beide Pole der Skala ästhetischer Illusion, Immersion und Distanz, sind Erlebnisse von »variabler Intensität« und instabil.164 Auch die ›Messung‹ von Immersion und Distanz ist problematisch, weil sie zugleich abhängig ist von Text und Kontext, von Gattung, Genre und den Rezipienten.165 Mit Blick auf gegenwärtige Fernsehserien muss präzisiert werden, das insbesondere der situative Kontext 166 sowie der Einfluss des jeweiligen Endgerätes und

die Strategie der Naturalisierung entgegen, also die auf Ebene des discours stattfindende Plausibilisierung des Fremden durch die filmästhetische Darstellung; vgl. ebd., S. 205. 162 Adkins 2018, S. 84. 163 Ebd. 164 Wolf 2017, S. 403. Neitzel positioniert sich diesbezüglich deutlicher und konstatiert, dass eine »totale Immersion […], die unsere ganze Aufmerksamkeit und unseren gesamten Wahrnehmungsapparat beansprucht, […] ein Mythos« ist und »ein solcher bleiben« muss, da sich die Unterscheidung zwischen dem Ort der Rezeption und der dargestellten Welt nie aufheben lässt: »Immersion ist ein ambivalentes Phänomen, das gleichzeitiges Hier- und Dortsein bedeutet«; Neitzel, Britta (2008): Facetten räumlicher Immersion in technischen Medien. In: Montage AV 17.2, S. 145–158, hier S. 147. 165 Vgl. Wolf 2017, S. 403ff. Curtis hebt die Rolle technischer Apparate bei der Erzeugung ästhetischer Illusion hervor und kommt zu dem Schluss, dass »die Immersion als Ergebnis komplexer Rahmenbedingungen der Rezeption zu verstehen [ist], die die Konfrontationen mit textlichen Eigenschaften, Wahrnehmungsstrukturen und den Leerstellen dazwischen voraussetzen«; Curtis, Robin (2008): Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität der Bilder. In: Montage AV 17.2, S. 89–106, hier S. 92. 166 Damit meint Wolf u.a. die räumliche Umgebung, in der ein Roman, Film etc. rezipiert wird, und den Einfluss, den dieser Faktor auf die ästhetische Illusion ausübt; vgl. Wolf 2017, S. 403.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

seines technischen Entwicklungsstandes167 auf die Rezeption kaum einheitlich zu beschreiben sind. Der Rezeptionsmodus mag sich ebenfalls je nach Rezipient unterscheiden.168 Auch die Frage, wie das konkrete Erleben ästhetischer Illusion zwischen Immersion und Distanz zustande kommt, kann nicht abschließend beantwortet werden.169 Die Schlussfolgerung aus diesem Umstand für die vorliegende Untersuchung lautet deshalb, dass anstelle von Aussagen über konkrete Effekte während der Serienrezeption eher Potentiale der jeweiligen Rauminszenierungen hinsichtlich der Erzeugung einer ästhetischen Illusion formuliert werden. Der Ausgangspunkt für diese rezeptionsästhetische Analyse ist der serielle Text. Hinweise darauf, dass auf Textbasis zumindest Potentiale ästhetischer Illusion formuliert werden können, geben Aussagen von Production Designern wie z.B. Boughton. Dieser weist in Interviews daraufhin, dass die Sets von The man in the High Castle so gestaltet sind, dass sie sowohl fremd als auch vertraut wirken sollen.170 Zudem gehen bestimmte Darstellungsmuster tendenziell mit einer starken ästhetischen Illusion einher. Wolf zufolge lassen sich »einige Grundbedingungen, allgemeine Charakteristika und Prinzipien werkseitiger Illusionsbildung« zusammenfassen.171 Voraussetzung für den Effekt ästhetischer Illusion sei »ein unmittelbarer und objektiv gegebener Auslöser« sowie die Konstruktion einer fiktiven Welt bzw. ein »worldmaking« im jeweiligen Text.172 Orientiert am »realistischen Roman des 19. Jahrhunderts« erstellt Wolf »Charakteristika typischer illusionsbildender Erzählwerke«, die sich mit Modifikationen auch auf andere Medien und Gattungen anwenden lassen:173 a) Die Inhalts- oder histoire-Ebene ist die dominante Ebene, da sich auf dieser eine komplexe, kohärente und in ihrem Inventar lebensnahe Erzählwelt entfaltet, die in der Regel von einer gewissen Extension ist und dem Rezipienten Interessantes bietet; b) Die Vermittlungs- oder discours-Ebene bleibt demgegenüber relativ im Hintergrund und wirkt als ›transparentes Fenster‹, das den Blick unproblematisch auf die Erzählwelt freigibt bzw. ermöglicht und deren offensichtlichster Beitrag darin besteht, die

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Dieser Faktor ist Wolf 2017 zufolge durch die jeweiligen technischen Konventionen einer Zeit bestimmt, deren Unterschiede z.B. im Vergleich der special effects im Kinofilm verschiedener Jahrzehnte deutlich werden; vgl. ebd., S. 404. 168 Anzunehmen ist z.B., dass ein ›Eintauchen‹ in die Seriendiegese eher durch binge watching als ein distanziertes Pausieren innerhalb einer Episode begünstigt wird. 169 Curtis 2008 kritisiert, dass ein »systemische[r] Mangel an Komplexität« hinsichtlich der Erforschung des »Rezeptionsvorgangs der Immersion« bestehe; ebd., S. 92. Zudem kann laut Karl Prümm die Wahrnehmung des Immersionsgrades ausschließlich mit empirischen Methoden untersucht, aber auch dann nicht abschließend beantwortet werden; vgl. Prümm, Karl (2016): From the Unchained to the Ubiquitous Motion Picture Camera. Camera Innovations and Immersive Effects. In: Liptay, Fabienne/Dogramaci, Burcu (Hg.): Immersion in the Visual Arts and Media. Leiden/ Boston: Brill Rodopi, S. 140–163, hier S. 140. 170 Vgl. Boughton in Maleh, Linda (31.01.2019): Drew Boughton Talks About Creating the Incredible Fictional World Of ›The Man in the High Castle‹. In: Forbes. https://www.forbes.com/sites/lindam aleh/2019/01/31/drew-boughton-talks-about-creating-the-incredible-fictional-world-of-the-ma n-in-the-high-castle/#2f5154443659, aufgerufen am 2.06.2020 171 Wolf 2017, S. 405. 172 Ebd. 173 Wolf 2017, S. 406.

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Erzählwürdigkeit […] der dargestellten Welt und des in dieser ablaufenden Geschehens sowie deren Kohärenz und Wahrscheinlichkeit zu unterstützen oder zu generieren; c) Inhalts- wie Vermittlungsebene tendieren zu ernsthafter und ernst zu nehmender Darstellung, und d) Illusionsbildende Werke sind dominant heteroreferentiell und nicht oder nur gering metareferentiell.174 Obgleich besonders Figuren zur Immersion ›einladen‹, können auch Raumdarstellung, z.B. Landschaftsbeschreibungen, den Eindruck von Immersion erzeugen.175 Für Ryan ist der erzählte Raum nicht nur ein möglicher Auslöser von Immersion, sondern die Voraussetzung für den Eindruck der imaginären Anwesenheit in einer fiktiven Welt.176 Diese Feststellung kommentiert Robin Curtis dahingehend, dass »die Rolle der Raumwahrnehmung« im Prozess der Immersion betont werden müsse, weil die Präsenz und Involvierung bei der Filmrezeption einerseits durch die Plastizität und Greifbarkeit sowie andererseits durch die Deplatzierungsfähigkeit der filmischen Erfahrung ermöglicht wird. Der Film weist dem Zuschauer buchstäblich einen Platz im filmischen Raum zu, indem er in seiner Leiblichkeit so sehr vom Film adressiert wird, dass er unfreiwillig auf die Parameter jenes Raums reagiert – sei es etwa durch Übelkeit oder kinetische Erregung. Der filmische Raum wird jedoch nicht unbedingt durch die Gebote des visuellen Realismus gestaltet, sondern bietet nicht selten auch Brüche in der (nur imaginierten) räumlichen Kontinuität.177 Diese Ausführungen überschneiden sich deutlich mit der bereits beschriebenen double occupancy of cinematic space nach Sobchack.178 Fabienne Liptay stellt fest, dass, obwohl das Erleben von Filmen aufgrund technologischer Neuerungen vermehrt räumlich und das Film-Bild verstärkt auf seine Umgebung ausgreife, Bildraum und Zuschauerraum weit von einer Verschmelzung entfernt sind.179 Die Rezeption von Filmen sei hingegen stets durch eine Ko-Existenz der Empfindung von Immersion sowie einer Vereitelung dieser Empfindung gekennzeichnet: »Even in situations in which the image and its surroundings share a common space, film viewers experience having two bodies when they 174 175 176 177 178

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Ebd., S. 406f. Vgl. ebd., S. 402. Vgl. Ryan 2001, S. 14f. Curtis 2008, S. 95. Vgl. hierzu II.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Illusion leiblicher Anwesenheit im filmischen Raum und Immersion vgl. Lederle, Sebastian (2019): Illusionsästhetik und leibgebundene Immersion im Kinofilm. Anmerkungen zu einer begrifflichen Konstellation. In: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 1, S. 123–141. Liptay, Fabienne (2016): Neither Here nor There. The Paradoxes of Immersion. In: Liptay, Fabienne/ Dogramaci, Burcu (Hg.): Immersion in the Visual Arts and Media. Leiden/Boston, S. 87–108, S. 88. Auch wenn Liptay in seinen Ausführungen auf Kinofilme referiert, kann der Eindruck, der filmische Raum beziehe sich zunehmend auf den Raum des Zuschauers, auch auf die gegenwärtige Rezeption fiktionaler Serien bezogen werden, die zumindest mit Blick auf die immer größeren Ausmaße von Bildschirmen sowie die Beliebtheit von 3D-Technologie und Sound-Surround-Systemen im häuslichen Umfeld die Annäherung an das Kino suchen.

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find themselves in the midst of the film and, at the same time, outside in the viewing space«.180 Abgesehen vom scheinbaren Ineinandergreifen von audiovisuellem Bildraum und extratextueller Welt kann aber auch die Gestaltung des diegetischen Raumes zur ästhetischen Illusion führen. Ryan nennt zwei Verfahren zur Erzeugung von Immersion durch Raumdarstellungen in literarischen Texten. So hätten Bezüge zu empirischen Räumen, wie sie zum Beispiel durch Toponyme hergestellt werden, die Funktion, Rezipienten die Existenz der jeweiligen Topographien vor Augen zu führen und sie durch den Akt der Referenz an den jeweiligen Ort ›zu versetzen‹:181 The name Texas transports the reader not into a barren expanse but into a territory richly landscaped by cultural associations, literary evocations, personal memories, and encyclopaedic knowledge. Through this ability to tap into reservoirs of ready-made pictures, place names offer compressed images and descriptive shortcuts that emulate the instantaneous character of immersion in the space of visual media.182 Auch eine möglichst ›real‹ anmutende Raumdarstellung könne immersiv sein. Ryan verweist auf den effet de réel bzw. Realitätseffekt nach Roland Barthes. Dieser stellt fest, dass eine Analyse, die »Vollständigkeit anstrebt«, »auf Eintragungen [stößt] […], die sich durch keine – noch so indirekte – Funktion begründen lassen«.183 Diese Textstellen scheinen Barthes zufolge »mit einer Art Luxus der Erzählung einherzugehen, die so verschwenderisch ist, daß sie ›unnütze‹ Details verschenkt und dadurch den Aufwand für die Erzählinformation erhöht«.184 Ryan argumentiert, dass die scheinbar zufälligen Details ein Gefühl der Präsenz des Raums vermitteln und somit die Immersion erleichtern.185 Wie eine Untersuchung von TV-Serien auf ihr immersives Potential hin gelingt, zeigen Fahlenbrach und Flückiger in ihrer Studie zu opening credits US-amerikanischer Fernsehserien. Der Untersuchungsansatz der Autorinnen soll der folgenden Analyse als Vorbild dienen: Sie verwenden keine empirische Methode, sondern erörtern das immersive Potential der opening credits ausgehend vom filmisch-seriellen Material.186 Eben weil Immersion und Distanz, wie bereits ausgeführt, in hohem Maße kontextsensitiv sind, muss die Untersuchung konkrete Beispiele in den Blick nehmen. Ausgewählt werden deshalb ein weiteres Mal die Initialphasen der seriellen Dystopien, weil gerade hier die Spannung zwischen der Fremdheit der fiktiven Welt und der Aufgabe, die Zuschauer an die storyworld zu binden, deutlich wird. Der zweite Untersuchungsgegenstand des folgenden Teilkapitels sind Szenenanfänge: Anhand dieser Segmente wird ersichtlich, 180 181 182 183

Liptay 2016, S. 89. Ryan 2001, S. 128. Ebd. Barthes, Roland (2012 [1968]): Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders.: Kritische Essays IV. Das Rauschen der Sprache. 3. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp, S. 164–172, hier S. 164. 184 Ebd. 185 Vgl. Ryan 2001, S. 130. 186 Vgl. Fahlenbrach/Flückiger 2014, S. 89. Die Autorinnen untersuchen »probable effects on perception elicited by the patterns and devices observed. Thus we [Fahlenbrach/Flückiger] base our analysis on a close interaction between motifs and style«; ebd.

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wie intraseriell bekannte und unbekannte Handlungsorte eingeführt werden und welche Wirkung von der Darstellung ›realer‹ Orte ausgeht. Drittens wird das immersive Potential intraserieller landmarks erläutert.

1.2.1 Raumexpositionen II Trepalium Der Eindruck der Unmittelbarkeit stellt sich besonders zu Beginn von Trepalium ein. Nach einer Schrifttafel, welche die Handlung zeitlich und räumlich situiert, bleibt der Bildschirm schwarz. Auf diesem Untergrund erscheint eine sich vergrößernde helle Fläche, die sich als Durchgang hinter einer von Noah geöffneten Tür erweist (vgl. Abb. 3). Die Rezipienten werden dadurch zum Begleiter Noahs und erleben den folgenden Raum intern fokalisiert über ihn. Die sich aus dem schwarzen Bild herauslösende Tür und der sich langsam weitende Blick auf das triste Wohnviertel markieren die Schwelle zwischen Extra- und Intradiegese und zugleich eben jene Grenze, die im Sinne einer gelungenen Immersion überschritten werden muss.187 Noahs Bewegung aus der Dunkelheit in das Viertel kann als Übertreten einer narrativen ›Schleuse‹, aber auch als Bühnenauftritt gedeutet werden. Die Zone mutet aufgrund genrespezifischer Inszenierungsmuster einerseits fremd an: Die dominierenden Farbtöne grau und blau lassen den Ort ebenso kühl und trist erscheinen wie die Materialien Beton und Metall. Beim Heraustreten Noahs sind das Husten von Figuren, undefinierbare, vereinzelte Rufe zu vernehmen, einige Augenblicke später auch Sirenen. Das Licht bleibt eher schwach. Diese Aspekte der Mise en Scène verändern sich während der Darstellung der Zone im cold open nicht und führen somit zum Eindruck eines homogenen Raums, der das »Prinzip der Kohärenz« nach Wolf erfüllt.188 Die Bewegungen von Noah im Raum wirken unkoordiniert und wenig zielgerichtet. Die Fokalisierung auf den diegetischen Raum verläuft in der ersten Hälfte des cold open intern über Noah, da dieser von hinten gefilmt wird, wobei die bewegte Handkamera auf dessen Unruhe und Unsicherheit in seiner Wahrnehmung der Umgebung verweist. Die ungelenken Bewegungen der Kamera haben zur Folge, dass Noahs (vor allem räumliche) Wahrnehmung nachvollziehbar gemacht wird. Die filmische Inszenierung weist den Zuschauern einen Platz im diegetischen Raum an Noahs Seite zu, mit dem sie die Gassen der Zone erkunden. Der durch Schnitte fragmentiert erscheinende diegetische Raum sowie die mangelnde Vernetzung der einzelnen Raumbilder imitiert die wechselnde Wahrnehmung unterschiedlicher Orte in einem größeren Raum oder beim Zurücklegen eines Weges. Der weitgehende Verzicht auf extradiegetische Musik und das punktuelle Einblenden von Geräuschen, die nicht eindeutig lokalisierbar sind, tragen zu einem Eindruck der Unmittelbarkeit des Raumes, aber auch der leiblichen Präsenz der Zuschauer im fiktiven Raum bei. Die gewählten audiovisuellen Darstellungsmittel stehen analog zu Noahs »perspektivischen Beschränkungen der Wirklichkeitswahrnehmung«189 und erlauben ein Nach187 Vgl. Neitzel 2008, S. 146. 188 Wolf 2017, S. 408. 189 Ebd., S. 409.

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vollziehen seiner räumlichen Perzeption. Darüber hinaus erinnern die intern über Noah fokalisierten Szenen aufgrund der disruptiven Kameraführung und deren Nachahmung menschlicher Bewegungen im Zusammenspiel mit den heruntergekommenen Räumlichkeiten an Berichterstattungen aus Kriegsgebieten, wodurch der Anspruch der Szene auf Authentizität untermalt wird. Die Orte der Zone verweisen aufgrund der Materialien, der beschädigten Artefakte und der Architektur an Orte des Alltags der Rezipienten, sind aber nicht so spezifisch, dass sie an konkrete Räume erinnern würden, wie dies bei der Präsentation von Sehenswürdigkeiten der Fall wäre. Auch die völlige Abwesenheit von metafiktionalen Elementen, eine durchaus »ernsthafte[] […] Darstellung« des Beginns der Pilot-Folge sowie der Verzicht auf die Hervorhebung von Darstellungsmitteln bzw. die Dominanz der histoire- über die discours-Ebene190 tragen zum Aufbau einer immersiven Wirkung bei, wenngleich die Wahl von Farben und Formen der Räumlichkeiten aufgrund ihrer starken Homogenität fast schon wieder künstlich erscheinen mag. Gegen den Eindruck leiblicher Präsenz im Raum spricht wiederum der Wechsel von der internen Fokalisierung über Noah hin zu einer Nullfokalisierung durch Perspektivwechsel von Normal- in Aufsicht gegen Ende des cold opening sowie die vertikale Kamerabewegung von unten nach oben entlang der Mauer. Spätestens das Stadtpanorama ruft Irritationen hervor. Zwar ließe sich argumentieren, dass zentralperspektivische Darstellungen häufig das ›Eintauchen‹ in die fiktive Welt erleichtern, die monotone Architektur, die Hochhäuser aus Glas und Stahl innerhalb der statischen Aufnahme kurz vor Ende des cold opening wirken allerdings kühl und abweisend. Der obere Rand der Mauer bleibt in der letzten Einstellung des cold opening am unteren Bildrand sichtbar und bildet einen Rahmen oder eine Schwelle, ähnlich der zu Beginn des opening, und erhöht die Mittelbarkeit der Stadt-Darstellung. Darüber hinaus wirkt die Stadt künstlich aufgrund der unbewegten Wolken und des Sonnenscheins, der nur hier, nicht aber in der Zone hinter der Mauer vorliegt. Während die Zone ein Ort ist, der durch die Rezipienten quasi-körperlich erkundet werden kann, wird die Stadt als Objekt des distanzierten Betrachtens eingeführt und erhält den Status eines Kunstwerks, ähnlich einer frühneuzeitlichen Vedute. Die statische Inszenierung der Stadt, die besonders im Kontrast zur Darstellung der Zone deutlich wird, verweist auf die ›Gemachtheit‹ des Raums und lädt eher zur Reflexion statt zum ›Eintauchen‹ ein.

3% 3 % wird nach der Einblendung von Schrifttafeln mit einer vorläufigen Fokalisations- und Identifikationsinstanz eröffnet, nämlich der Protagonistin Michele.191 Die erste Szene beginnt im Zimmer Micheles, wobei die Zuschauer die Protagonistin zunächst durch einen Vorhang hindurch erblicken. Dadurch entsteht sowohl ein Gefühl der Distanz als auch der Eindruck, sich in einer weiteren Räumlichkeit im Zimmer zu verbergen. Die Innenausstattung aus beklebten und bemalten Wänden mutet zum einen künstlich an, wirkt zugleich aber aufgrund der durchgehenden Rottöne kohärent.

190 Ebd., S. 406. 191 Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«.

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Auch der Außenraum, die Straßen und Häuserfassaden im Slum, sind ähnlich aufwändig gestaltet.192 Pappen und Plastik-Planen, aufwendige Strickkunst sowie Graffitis zieren die an sich blassen Mauern der Häuser (vgl. Abb. 14–16). Zum Teil werden diese Installationen explizit durch die filmische Inszenierung in den Mittelpunkt gestellt und verschmelzen in Verbindung mit der Kostümierung und Körperhaltung einzelner Figuren zu intradiegetischen Kunstwerken, bei denen Formen und Farben jeweils von den Applikationen oder Malereien an den Wänden sowie Kleidung und Haltung der Figuren gleichermaßen konstituiert werden (vgl. Abb. 15, 16). Die Mise en Scène des Slums fordert die Aufmerksamkeit der Rezipierenden bewusst ein. Es kann davon ausgegangen werden, dass die hier beschriebene Architektur der Innen- und Außenräume weniger oder nicht allein als Ergebnis eines geringen Produktionsbudgets anzusehen ist, sondern viel eher das ästhetische Programm des Production Designers Valdy Lopes widerspiegelt. Dessen andere Arbeiten zeichnen sich durch kontrastreiche, leuchtende Farben aus193 und in seinen Installationen aus Fotographien, Zeichnungen und Zeitungsausschnitten194 oder aus Holz, Möbeln und Bildschirmen195 treten Techniken der Collage hervor.196 Die Inszenierung des Slums ist darüber hinaus von Bildern des Fotographen Gilles Coulon sowie Installationen des Künstlers Artur Bispo do Rosário inspiriert.197 Aufgrund der eklektischen Gestaltung wirken die Orte im Slum disparat und lebendig (vgl. Abb. 14–16). Die mangelnde Funktionalität der exzessiv angeordneten Artefakte im Raum erzeugt jedoch keinen Realitätseffekt, sondern hebt viel eher die Künstlichkeit dieses Handlungsraums hervor und verweist auf dessen Gestaltung.198 Die Fremdheit der post-apokalyptischen Welt wird neben der Mise en Scène durch Musik hervorgehoben. Musik in Science-Fiction Filmen, ein Genre, das den meisten seriellen Dystopien des Post-TV nahe steht, ist häufig akusmatisch.199 Das ›Fremde‹ in der Science-Fiction wird akustisch häufig mit Klischees illustriert – also neben elektronisch 192

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David bezeichnet die Gestaltung des Slums als »postexotisme« und vergleicht sie mit Raumentwürfen in den Texten d’Antoine Volodine; vgl. David, Sylvain (2017): Désordres établis. In: L’Inconvénient 68, S. 56–58, hier S. 57. Vgl. Lopes, Valdy (26.11.2010): Portfolio Valdy Lopes. In: issuu.com. https://issuu.com/valdylopes/d ocs/valdylopes, Bilder 30–31, 36–37, aufgerufen am 8.01.2019. Ebd., Bilder 102–103. Ebd., Bilder 104–105. Auch mit Blick auf das von Lopes gestaltete Bühnenbild für die Aufführung des Dramas Oh, the Humanity von Will Eno werden Kontinuitäten seiner Arbeitsweise deutlich, da die Kulisse des Theaterstückes hauptsächlich aus einem Berg aus defekten Alltagsgegenständen besteht, die scheinbar zufällig angeordnet sind; vgl. OISTAT/Royal Welsh College of Music & Drama (09.2013): Valdy Lopes Jn: »Oh, The Humanity!«. In: World Stage Design 2013. www.wsd2013.com/valdy-lopes-jn/, aufgerufen am 8.01.2019. Vgl. o.A. (2.02.2017): Como criar um sci-fi à brasileira: entrevista com eduardo piagge, director de fotografia de 3 %. In: Spcine. http://spcine.com.br/como-criar-um-sci-fi-a-brasileira/, aufgerufen am 30.05.2020. Die zweite Staffel inszeniert den Slum anders: Die Farbgebung ist hier viel kohärenter, da statt vielen konträren Farben Brauntöne dominieren. Auch die Beleuchtung ist einheitlicher und die ›Gemachtheit‹ des Raums fällt weniger ins Auge, weil Strickdecken und Pappen als Wandverkleidung kaum noch gezeigt werden; vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. Vgl. Eichenberger 2019, S. 35. Zur akusmatischen Musik in 3 % vgl. auch IV.1.1.1, Analyse zu 3 % in dieser Arbeit.

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erzeugten Sounds durch Musik des Barock sowie orientalisch oder lateinamerikanisch anmutende Klänge.200 Die Musik, die die Exposition des Slums in 3 % begleitet, trägt lateinamerikanischen und folkloristischen Charakter, referiert durch die Streicher und Harfenklänge auf Orchestermusik, an anderer Stelle wiederum auf elektronische DanceRhythmen. Das musikalische Leitmotiv, das sowohl im cold opening als auch in allen opening credits der Serie vorkommt, bezieht sich durch die exponierte Pentatonik auf Vorstellungen fernöstlicher Musik. Dieser vielfältige und dichte Sound wird sukzessive erzeugt: Die durch Instrumente generierten Klänge lösen sich nur langsam aus dem allgemeinen Gewirr an Menschenstimmen und anderen Umweltgeräuschen und verdichten sich zu einer Klangcollage, die haptisch und lebendig wirkt. Sie ist zugleich schwer zu durchdringen und illustriert sowie inszeniert die Alterität des Slums. Aufgrund des Wechsels zwischen mobiler und statischer Kamera erscheint der Slum fragmentiert. Anders als in Trepalium wird den Zuschauern aber hier kein fester Platz im Raum zugewiesen: Der Code der Informationsvergabe impliziert in einigen Einstellungen eine interne Fokalisierung über Michele, einzelne Einstellungen auf andere Bewohner des Slums, in denen Michele nicht zu sehen ist, suggerieren aber eine variierende interne oder eine externe Fokalisierung. Die Entscheidung der an der Serienproduktion Beteiligten gegen eine einzelne Hauptfigur201 deutet sich bereits im cold opening an: Eben weil die Wahrnehmungsinstanz nicht durchgehend an einen Charakter gebunden ist, wirkt die Zusammenstellung der Raumeindrücke disparat. Der beständige Wechsel der Standpunkte, von denen aus der Serienraum erfahren wird, verweist auf die Darstellung des Raums und erschwert die Immersion in die storyworld. Zudem werden die Figuren im Slum immer vor Mauern oder mit einer räumlichen Distanz gezeigt, die den Eindruck erweckt, die Kamera bewege sich beständig am Rand der jeweiligen Gasse, aber nie inmitten einer Menschengruppe. Beispiele hierfür sind das Filmen entlang von Mauern auf Menschengruppen oder von unten hinauf zu Häusern oder Außentreppen sowie Übersichten auf den Slum und das Processo-Gebäude. Im Gebäude des Processo setzen sich das Gefühl der Distanziertheit sowie die unstete virtuelle Platzierung der Zuschauer im Raum fort. Hier dominieren antiseptisch wirkende Materialien wie Stahl, Glas und heller Stein. Die Isolation der Zuschauer und ihre unstete Platzierung im Raum setzt sich fort: Mal ist Michele die Fokalisationsinstanz, mal Fernando, mal Ezequiel, die sich alle an unterschiedlichen Punkten im Gebäude befinden. Zwar wird das Geschehen im ProcessoGebäude tendenziell mit einer statischen Kamera präsentiert, die Distanziertheit durch Blicke aus weiter Entfernung – von der Galerie zu den Bewerbern und umgekehrt – bleibt aber bestehen.

200 Vgl. Noeske, Nina (2019): Zukunftsmusik? Musikalische Diegese im Science-Fiction-Film. In: Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture 64, S. 67–77, hier S. 70f. 201 Vgl. Daina Giannecchini, eine der Regisseurinnen von 3 %, in Dalgalarrondo, Luísa (22.12.2016): Entrevista com a diretora da série 3 %. In: Esquerda Diário. Movimento Revolucionário de Trabalhadores. https://www.esquerdadiario.com.br/Entrevista-com-a-diretora-da-serie-3, aufgerufen am 19.06.2020.

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Wayward Pines Wayward Pines beginnt mit der Detailaufnahme von Ethans sich öffnendem Auge.202 Die folgenden Einstellungen präsentieren, wie bereits beschrieben, jeweils immer mehr Informationen zur Figur und ihrer räumlichen Umgebung, als die vorherigen.203 Dadurch haben die Zuschauer die Gelegenheit, die storyworld sukzessive zu modellieren und sich mit dem Raum vertraut zu machen. Auch wenn dabei nicht deutlich wird, wo sich Ethan befindet, so erfahren die Rezipienten zusammen mit dem Protagonisten als Fokalisationsinstanz den diegetischen Raum. Auch die Begrenzung der auditiven Ebene auf natürliche Geräusche von Vögeln und Insekten sowie das Plätschern des Flusses oder das von Ethan verursachte Rascheln von Blättern ermöglicht das Einfühlen in die Vorstellung, leiblich in den dargestellten Raum involviert zu sein. Die Vordergründigkeit der von Tieren, Pflanzenteilen und Wasser ausgehenden Laute verweist auf die »gesteigerte[] Sensitivität der Wahrnehmung«204 von Ethan und lässt sich deshalb als Reaktion der Figur auf die Fremdheit der Umgebung deuten. Die Reduktion auf wenige, aber leicht identifizierbarer Laute im Sinne des priming erleichtert den Zuschauern die Konzeption des Raums205 und die Immersion in die Seriendiegese. Die Parallelmontage zwischen Ethans Ankunft in Wayward Pines im Jahr 4028 und seinem Gespräch mit dem Psychiater im Jahr 2014 stört jedoch die Einfühlung in den Waldraum aufgrund der assoziativ wirkenden Szenenwechsel und der Kontraste zwischen blassen (Handlung im Jahr 2014) und kräftigen Farben (Handlung im Jahr 4028).206 Die Montagetechnik ist stark vordergründig und lenkt die Aufmerksamkeit auf die narrative Komposition des cold opening. Zugleich ist die Raumdarstellung fast durchweg intern über Ethan fokalisiert, dessen Wahrnehmung imitiert wird: Darauf verweisen Detailaufnahmen der Natur sowie vordergründige diegetische Geräusche, die während Ethans Bewegungen durch das Unterholz zu hören sind. Die Kulissenhaftigkeit der Kleinstadt, die deutlich auf VorstadtSerien und -Filme referiert und sich in ihrer Farbgebung vom Ausgangsort des Waldes unterscheidet, aber auch ihre Einführung mit düsterer Musik und Bürgern, die misstrauisch auf Ethan blicken, lässt diese wenig einladend wirken – sowohl für den Protagonisten als auch für die Zuschauer. Der Eintritt Ethans hinter der Bedienung im CoffeeShop, der sich als Spiegelung herausstellt, verweist auf die Darstellungsebene des cold opening und mindert das immersive Potential der Szene. 202 203 204 205 206

Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Vgl. hierzu IV.1.1.1, Analyse zu Wayward Pines in dieser Arbeit. Flückiger 2005, S. 154. Vgl. ebd., S. 148f. Die Wahl des Jahres, in dem die Basiserzählung in der Kleinstadt Wayward Pines spielt, ist eine Referenz auf The Time Machine von H.G. Wells. Der Zeitreisende in dieser Novelle begibt sich zunächst zu den Eloi in das Jahr 802.701. Diese Jahreszahl ist Ruddick zufolge »composed of two related three-digit sequences, in which 7 is one less than 8, and 1 one less than 2, each minimally descending pair separated by an irreducible zero. The number, then, may arithmetically symbolize a cosmic running-down«; Ruddick, Nicholas (2014 [2001]): »Tell us all about little Roseberry«. Topicality and Temporality in H.G. Well’s The Time Machine. In: Evans, Arthur B. (Hg.): Vintage Visions. Essays on Early Science-Fiction. Middletown, S. 120–131, hier S. 121. Die Serie Wayward Pines wurde im Jahr 2014 produziert, die Handlung spielt in der ersten Staffel überwiegend im Jahr 4028, das ebenso wie in The Time Machine das Ergebnis einer Addition ist und auf das ›Auslaufen‹ von Zeit verweist.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

The Man in the High Castle Anders als Trepalium, 3 % und Wayward Pines beginnt The Man in the High Castle nicht mit einem cold opening. Die Serie wird mit einer Einstellung auf einen Filmprojektor eröffnet und spielt zu Beginn in einem Kinosaal. Der Projektor sowie der Kinosaal verweisen zwar symbolisch auf den fiktionalen Status der Serie,207 tun dies aber nicht auf Ebene der formalästhetischen Inszenierung und ›lenken‹ dadurch nicht vom Geschehen ab. Tatsächlich gibt die Beschränkung des Raums auf das Bild des Projektors und dessen Geräusche den Zuschauern die Gelegenheit, sich behutsam in die storyworld einzufühlen. Auch die Übersicht über den Zuschauersaal und die sukzessive Fokussierung auf den Propaganda-Film sowie den Protagonisten Joe erlauben eine Annäherung der Rezipienten an das Geschehen. Anders als der Filmprojektor wirkt der Propaganda-Film als doppelte Inszenierung sowohl des American Way of Life als auch der ideologischen Indoktrination der Nationalsozialisten. Er erscheint von Beginn an artifiziell und verhindert eine Immersion in die metadiegetische Welt des Clips aus idyllischer Naturkulisse und Vollbeschäftigung. Die am Ende des Films eingeblendete Flagge des American Reich erinnert klar daran, dass diese Serie ein fiktionales Szenario zeigt, verweist zugleich aber auf historische Ereignisse der extradiegetischen Welt. Auch die blassen Farben des Propaganda Films, sein blecherner Sound sowie der enthusiastische Ton des Sprechers, die in starkem Kontrast zur Gestaltung der diegetischen Welt stehen, verweisen auf die discours-Ebene des cold opening und sind somit tendenziell distanzierend statt immersiv. Die fiktive Stadt New York wird durch eine motivorientierte Kamerafahrt, hier anhand von Joe, erschlossen, eine Darstellung, die den Zuschauern einen Platz im Serienraum zuweist. Zwar bricht die Gestaltung des Times Square, einem als ›real‹ erkennbaren Ort, mit der Illusion, eine mögliche Welt zu erfahren, weil sich die stereotype Darstellung der Sehenswürdigkeit mit der Ikonographie der Nationalsozialisten überschneidet. Doch die Verbindung aus Bildern des Faschismus mit solchen der US-amerikanischen Großstadt der 1960er Jahre mutet durchaus realistisch an. So ist der Bomberjacke tragende Joe neben einem Polizisten in schwarzer NS-Uniform zu sehen208 und auf dem Times Square stehen die fluoreszierenden Neonlichter der Werbetafeln und die prägnanten Slogans der Mad Men-Ära neben Abbildungen blonder Mädchen und Jungen, Hakenkreuzen und Produkten wie Bratwurst, während das Gewimmel aus Autos und Nachtschwärmern auf der Straße dem bedrohlichen Klang von Polizeisirenen und Hubschraubern entgegensteht. Dieses Pastiche aus amerikanischem Way of Life der Nachkriegszeit und dem Größenwahn der Nationalsozialisten geht auf die Agenda des Production Designer Boughton zurück. Dieser suchte laut eigener Aussagen für die Raumgestaltung auf der Grundlage historischer Dokumente und Artefakte nach Schnittstellen zwischen den USA der Nachkriegszeit, dem Nationalsozialismus und anderen Diktaturen209 und verlieh

207 Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. 208 Laut der für die erste Staffel der Serie verantwortlichen Kostümdesignerin Audrey Fisher zielt die Wahl der schwarzen SS-Uniformen darauf ab, bei den Zuschauern »a deep sense of familiarity« zu erzielen; vgl. Kucharski 2016. 209 Boughton, Drew, zit. in Grobar, Matt (12.05.2016): ›Man In The High Castle‹ Production Designer Drew Boughton On Show’s Relevance To 2016 Presidential Race. In: Deadline. ht

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der Raumgestaltung einen used future-Look,210 wodurch der Eindruck entsteht, als könnte das groteske Szenario der Serie tatsächlich bestanden haben.211 Zugleich kommt hier auch das Ziel Boughtons zum Ausdruck, das fiktive historische Szenario sowohl vertraut als auch fremd erscheinen zu lassen: »Our visual mission was not to make things too different, as that would defeat the purpose of making this ›mirror‹ to examine ourselves and our past and present actions«.212 Anhand des fiktiven Times Square wird deutlich, dass der visual style von The Man in the High Castle zwar einen hohen Grad an Kohärenz aufweist, allerdings in seiner Opulenz überwältigend und fast aufdringlich wirkt. Ebenso, wie die Gebäude am Times Square mit Werbetafeln, Bildern und Slogans überfüllt sind, verhält es sich u.a. mit dem wenig später gezeigten Büro des Leiters einer Speditionsfirma, den Joe kontaktiert: Dort sind Dokumente, Aktenordner und Schreibutensilien exzessiv und dysfunktional angeordnet. Was auf den ersten Blick wie eine detaillierte Charakterisierung einer spezifischen Figur daherkommt, ist ein durchgehendes Stilelement der Serie. Kaum ein Raum ist nur mit funktionalen Gegenständen ausgestattet, meistens sind die Wohnungen und Büros in The Man in the High Castle mit einer Reihe von Deko-Elementen wie Skulpturen oder Bildern angereichert, die auf die hier agierenden Figuren und den Charakter des jeweiligen Raums verweisen. Ein weiteres Beispiel für dieses Phänomen ist der Buchladen, den Tagomi während seines Aufenthaltes in den ›alternativen‹ USA besucht und der exzessiv mit Büchern angereichert ist (vgl. Abb. 17).213 Häufig stellt diese Art der Mise en Scène im Sinne des Realitätseffektes einen narrativen und phänomenologischen Überschuss dar. Laut Production Designer Boughton orientiert sich die Ausleuchtung

tps://deadline.com/2016/05/the-man-in-the-high-castle-amazon-drew-boughton-production-de sign-interview-1201736358/, aufgerufen am 28.11.2018. 210 »Die used future strebt insbesondere im Sound-Design die Darstellung einer realistischeren Wiedergabe der Zukunft an, die zwangsläufig abgenutzt (›used‹) klingen muss, weil die Gebrauchsspuren der Gegenwart beständig inhärent sind. Gleichzeitig kann solch ein Umgang in der Darstellung der Zukunft im Film auch immer (zumindest bis zu einem gewissen Grad) technikpessimistisch gelesen werden«; Möhle, Daniel (19.05.2014): used future. In: Lexikon der Filmbegriffe. https://filmlexi kon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8528, aufgerufen am 29.04.2020. Auf visueller Ebene zeichnet sich der used future-Stil u.a. durch bewusst verschmutzte Raumschiffe und Astronauten sowie eine betont düstere Rauminszenierung (vgl ebd.). Möhle nennt als eines der ersten Beispiele Alien (1979) von Ridley Scott; vgl. ebd. 211 Diese Wahrnehmung teilt auch der Journalist Scott Von Doviak: »[T]he immersion in this world isn’t just about its most eye-catching design elements […]. Semel and Boughton haven’t made the mistake of making everything look like it was built five minutes ago; you can see the new built over the recognizably old, and the remnants of the world that came before (like the tattered Uncle Sam posters glimpsed in Canon City)«; Doviak, Scott Von (20.11.2015): In its first episode, The Man In the High Castle builds a world but not its characters. In: AV Club. https://tv.avclub.com/in-its-fir st-episode-the-man-in-the-high-castle-builds-1798185750, 20.11.2015, aufgerufen am 28.11.2018. 212 Boughton in Morgan 2016. 213 Vgl. The Man in the High Castle, S2E5, »Duck and Cover«. Weitere Beispiele für diese Art der Mise en Scène liegen u.a. in den Darstellungen der Fabrik für Waffenimitate, in der Frank und Ed arbeiten (ebd., S1E1, »The New World«), des Schlafzimmers der Smiths in ihrem Apartment in Manhattan (ebd., S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«) sowie der Wohnung von Bell und Elijah (ebd., S4E1, »Hexagram 64«) vor.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

an der Malerei Michelangelo Merisi da Caravaggios, weshalb Innenräume der Serie häufig betont dunkel inszeniert sind, während die handelnden Figuren und ihre Gesichter heller ausgeleuchtet werden und aus ihrer Umgebung herausragen.214 Durch die Anhäufung an Dekors und die Inszenierung räumlicher Tiefe durch die Lichtkomposition erscheinen die Räume einerseits real und plastisch. Andererseits wirken Innenräume wie das Büro von Warren durch die exzessive Anordnung von Artefakten artifiziell, weil sie den realistischen look der Serie stören. Die Einführung von San Francisco über den Ort des Dojos ist sowohl mit Blick auf den Grad ästhetischer Illusion als auch auf die Mise en Scène der gesamten Serie aufschlussreich. Der Aikido-Kampf zwischen Juliana und ihrem Trainingspartner wird ebenso als Aufführung inszeniert wie der Propagandafilm im Kino. Diese diegetische Darbietung wird jedoch stärker gerahmt, sodass die Zuschauer die Szenerie und auch den Raum von Beginn an distanzierter wahrnehmen können. So ist der Kampf räumlich entrückt, weil er auf einer separaten erhöhten Fläche im Trainingsraum stattfindet, die durch vertikale Balken und den Boden der Bühne eingefasst ist. Diese Rahmung wird durch die Anordnung der anderen Aikido-Kämpfer weitergeführt, die sitzend in einem Rechteck um Juliana und ihren Gegner platziert sind. Die Kamera wechselt zwischen Nah- und Halbnahe-Einstellungen auf die Kontrahenten und Groß- und Totale-Aufnahmen, die diese Rahmung in der Mise en Scène präsentieren. Auch in dieser Szene rückt die Rauminszenierung in den Vordergrund, weil die in der Trainingshalle verlaufenden Balken und Abflussrohre gleichwertig betont sind (vgl. Abb. 18). Selbst das Arrangement von Juliana und ihrem Trainingspartner in einer Linie, die parallel zur Wand hinter ihnen verläuft, fügt sich in die Dominanz der Geraden ein, die die Inszenierung des Dojos bestimmt. Aus den Kompositionen der Totale-Einstellungen, in denen das Dojo präsentiert wird, leitet sich der Eindruck verschiedener, koexistierender Perspektiven im Raum ab. Vor dem Hintergrund der Shoji-Türen, der Aikido-Kleidung und den japanischen Schriftzeichen referiert diese Mise en Scène auf die Parallelperspektivierung traditioneller japanischer Holzschnitte: In diesen Bildern konvergieren die Linien nicht in einem Fluchtpunkt, sondern verlaufen, wie der Name schon sagt, parallel […]. In solchen Bildern werden verschiedene Betrachterstandpunkte miteinander kombiniert […]. So wird etwa der Boden, auf dem eine Person steht, mit starker Aufsicht gemalt, die Person aber von der Seite dargestellt […].215 Hier sei auch erwähnt, dass die Serie diese Referenz durch den Holzschnitt an der Wand hinter der Trainingsfläche, der an Die große Welle von Kanagava (1830–1832) von Katsushika Hokusai erinnert, selbst markiert. Die Parallelperspektive in Film und Malerei führt laut Khouloki zu einer »›Verflachung‹ des Bildes«: Da ein einheitlicher Standpunkt fehle, bleibe der »Betrachter von der dargestellten Welt ausgeschlossen« und der präsentierte Raum beanspruche »mehr Eigenständigkeit«.216 Zwar handelt es sich nur um wenige Einstellungen innerhalb der Szene im Dojo, in denen der Trainingsraum auf diese Weise 214 Vgl. Boughton in Grobar 2016. Vgl. Keutzer et al. 2014, S. 52 zur »Chairoscuro-Technik« Caravaggios. 215 Khouloki 2007, S. 85. 216 Ebd., S. 86.

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IV. Analyse der Serienräume

inszeniert wird, dennoch verweist diese Darstellung auf den Raum als filmästhetisches Mittel und fordert tendenziell, die Terminologie Hänselmanns gebrauchend, das Material- statt Immersionssehen ein.217 Darüber hinaus ist das Filmen von Figuren durch semi-transparente Wände und Glasscheiben ein wiederkehrendes Stilmittel von The Man in the High Castle, das die Distanzierung der Rezipienten zum Geschehen hervorruft.218

Alpha 0.7 Der Anfang von Alpha 0.7 ist unter dem Gesichtspunkt ästhetischer Illusion von den hier untersuchten Serien am wenigsten auffallend. Zwar verweist die Spiegelung in der Fassade des NPC auf die Inszenierung von Raum und die kühlen Farben und Materialien innerhalb des Gebäudes lassen diesen Schauplatz weder markant noch einladend wirken.219 Dennoch ist die filmische Darstellung der Handlungsorte und -räume in der Initialphase nicht vordergründig und eindeutig dem continuity editing des Hollywood-Kinos verpflichtet. Die Raumentwürfe wirken authentisch, einzig die zu homogene Konzentration auf blasse und kühle Farben wirkt abweisend. Die Darstellung fordert die Zuschauer weder zum Eintauchen in die fiktiven Räume noch zu einer distanziert-reflexiven Betrachtung auf.

Abb. 14 (links): 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«, 00:01:29; Abb. 15 (rechts): 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«, 00:02:39.

217 218

219

Hänselmann 2018, S. 46. Vgl. z.B. das Verhör Julianas durch Inspektor Kido in The Man in the High Castle, S1E5, »The New Normal«, Frank im Atelier-Bereich seiner gemeinsamen Wohnung mit Juliana, ebd., S2E1, »The Tiger’s Cave«, ein Gespräch zwischen einem Verwaltungsbeamten und Minister Tagomi in dessen Büro, ebd., S3E7, »Excess Animus« und das Treffen zwischen Okami und Inspektor Kido in dessen Büro, ebd., S4E8, »Hitler Has Only Got One Ball«. Vgl. Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

Abb. 16 (links): 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«, 00:02:42; Abb. 17 (rechts): The Man in the High Castle, S2E5, »Duck and Cover«, 00:38:04.

Abb. 18 (links): The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«, 00:09:51; Abb. 19 (rechts): The Man in the High Castle, S1E10, »A Way Out«, 00.16:12.

Abb. 20: A l’ombre du mur. Journal d’un inutile/Im Schatten der Mauer. Tagebuch eines Nutzlosen, Eintrag Nr. 474.

209

210

IV. Analyse der Serienräume

1.2.2 Szenenanfänge Auch Szenenanfänge sind zur Untersuchung des immersiven Potentials der Räume serieller Dystopien aufschlussreich, da an ihnen nachvollziehbar wird, wie bekannte und unbekannte Räume eingeführt werden. Viele zeigen in den establishing shots zu Szenenbeginn oft prägnante Abbildungen der jeweiligen Handlungsorte. Diese variieren i.d.R. kaum, damit die Zuschauer sich sofort im diegetischen Raum orientieren, sich in den jeweiligen Schauplatz und dessen Atmosphäre einfühlen und seine Semantik rekonstruieren können. Diese ›Bruchstellen‹ fernseh-seriellen Erzählens sind darauf ausgerichtet, den Übergang von einer in die nächste Szene – mitunter auch nach einer Werbeunterbrechung – so reibungslos, d.h. so unmittelbar wie möglich zu gestalten. Durch die überwiegende Anzahl an Szenenanfängen der fünf Kernserien dieser Arbeit wird diese Erwartung erfüllt, dennoch liegen einige establishing shots vor, die aufgrund ihrer ästhetischen Darstellung oder der diegetischen Verfremdung des Dargestellten Irritation bei den Zuschauern hervorrufen und den Prozess der Immersion verzögern können.

The Man in the High Castle Am Ende der ersten Staffel der Serie wird mit Berlin – innerhalb der Diegese die Hauptstadt des Greater Nazi Reich – ein bis dahin unbekannter Schauplatz eingeführt.220 Im Zentrum des establishing shots steht die Siegessäule, die mitsamt Umgebung aus einer leichten Aufsicht und in einer Panoramaeinstellung aufgenommen wird (vgl. Abb. 19). Die Kamera bewegt sich langsam auf das Berliner Wahrzeichen zu, wobei die Siegessäule durchgehend die Bildmitte markiert. Durch diese Inszenierungsweise wird der gezeigte Raum betont und die Rezipienten bekommen die Gelegenheit, den Schauplatz des folgenden Handlungsstranges ausführlicher zu betrachten. Diese Ortseinführung vereint sowohl Darstellungsstrategien, die auf Immersion abzielen als auch solche, die die Art und Weise des Erzählens und Darstellens betonen. Die auf die Bildmitte konzentrierte Kamerafahrt, die zentralperspektivische Komposition221 von Siegessäule und abgehenden Straßen sowie das Crescendo der Blas- und Streichmusik evozieren das Gefühl eines ›Sogs‹ in den Serienraum. Auffallend ist die minutiöse Mise en Scène der Einstellung (vgl. Abb. 19): Unter der Kuppel der Volkshalle verläuft die Spree diagonal von rechts oben nach links unten. Diese Diagonale wird auf der rechten Seite des Bildes durch die Grenze zwischen Park und benachbarten Gebäuden gespiegelt, wodurch sich eine weitere Rahmung ergibt, die den Blick der Rezipienten auf die Siegessäule lenkt. Die zentrale Linie, die Nord-Süd-Straße, wird durch rote Fahnen hervorgehoben, die auf der linken Seite der Straße durchgängig angebracht sind. Die weiteren sich von der Säule abzweigenden Straßen sind erst gegen Ende der Einstellung erkennbar, wodurch die Nord-Süd-Straße abermals im Gegensatz zu anderen intradiegetischen Elementen akzentuiert wird. Auch der mittig dargestellte Kreisverkehr um die Säule ist markiert: Vom unteren Ende der Straße her fahren mehr Autos nach oben auf den Kreisverkehr als auf der gleichen Strecke von oben nach unten. Im Kreisverkehr selbst fahren alle Autos in die gleiche Richtung, nämlich entgegen dem Uhrzeigersinn, 220 Vgl. The Man in the High Castle, S1E10, »A Way Out«. 221 Laut Prümm 2016 sind zentralperspektivische Darstellungen tendenziell immersiv; vgl. ebd., S. 141.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

während der Streckenabschnitt zwischen Kreisverkehr und Regierungsviertel frei bleibt. Diese Kreisbewegung erinnert an einen Strudel auf einer Wasseroberfläche und akzentuiert die Bewegung der Kamera zur Bildmitte hin. Bildkompositionen, in denen Diagonalen hervorgehoben werden, wird räumliche Tiefe attestiert.222 Ausgehend von diesen Beschreibungen scheint der establishing shot geeignet, »die Grenze zwischen dem medialen Raum, in den man eintritt, und dem eigentlichen Rezeptionsraum im Bewusstsein der Rezipierenden partiell auszulöschen oder zumindest die Aufmerksamkeit von dieser Grenze abzuziehen« und somit ein Kriterium »mediale[r] Immersionsstrategien« nach Britta Neitzel zu erfüllen.223 Diesem Effekt der Immersion steht zugleich ein verfremdendes Moment entgegen: Die deutliche Symmetrie der Komposition erzeugt nicht nur die Illusion räumlicher Tiefe, sondern wird auch mit Stabilität sowie Künstlichkeit assoziiert224 und ähnelt aufgrund der perfekt erscheinenden Anordnung von Elementen im Bild frühneuzeitlichen Veduten. Entgegen der von Ryan aufgestellten These, dass Toponyme realer Orte mit dem Anschein von Realismus und folglich Immersion einhergehen, erzeugt die Präsentation der Siegessäule und die verbale Angabe »Berlin« nicht den Eindruck von Authentizität, sondern erscheint grotesk angesichts der Bezeichnung »Nazi Reich« sowie der visuellen Marker der Volkshalle und Hakenkreuzfahnen. Der Schriftzug in der Bildmitte erscheint kurz nach Beginn der Einstellung und verblasst anschließend, ähnlich wie opening credits, die die Akteure im Produktionsprozess von Filmen und Fernsehserien benennen. Die Typographie mutet im Kontext der Einstellung225 kühl und modern an, weist keine Serifen sowie nur wenige Rundbögen auf und kann deshalb der Schriftart Grotesk zugeordnet werden.226 Die schriftliche Ortsangabe ist nicht nur eine weitere Überbetonung jener symmetrischen Bildkomposition, sondern markiert die Grenze zwischen Rezipienten und Diegese, die die beschriebene Darstellung eigentlich vergessen machen soll. Die Spationierung bzw. die sich weit über das Bild erstreckenden Grapheme betonen den Bildschirm des jeweiligen Endgerätes, über das die Serie rezipiert wird, und verweisen somit sowohl auf den Rezeptionsprozess als auch auf die Produktion der fiktiven Welt. Ein Effekt der Unmittelbarkeit wird als Ergebnis der hier beschriebenen Darstellung konterkariert, da die »Vermittlungs- oder discours-Ebene« nicht »im Hintergrund« bleibt und wortwörtlich nicht »als ›transparentes

222 223 224 225

Vgl. Keutzer 2014, S. 90. Neitzel 2008, S. 146. Vgl. Keutzer 2014, S. 91. Nach Ziegenhagen entfaltet Typographie in filmischen Paratexten wie Trailern, dem Vorspann oder Filmplakaten ihre Wirkung immer in einem Wechselverhältnis mit Bild und Ton; vgl. Ziegenhagen, David (2017): »The future isn’t written in stone« (but in Bank Gothic). Genretheoretische Überlegungen zum typographischen Design von Science-Fiction-Filmen. In: Journal Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 2, S. 324–343, hier S. 331. 226 Vgl. Beinert, Wolfgang (23.09.2015): Grotesk. In: Typolexikon. Das Lexikon der Typographie. https://w ww.typolexikon.de/grotesk/, aufgerufen am 27.02.2018. Die hier vorgestellte Deutung im Kontext des establishing shots korrespondiert auch mit historischen Rezeptionen der Grotesk-Schrift: Laut Beinert wurde der Schrift besonders im 19. Jahrhundert eine »technokratisch nüchterne[] Anmutung« zugeschrieben, im 20. Jahrhundert galt sie »ebenso als sachlich, aber auch modern«; vgl. ebd.

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IV. Analyse der Serienräume

Fenster‹« wirkt.227 Stattdessen markiert die Schrift durch die Plastizität der Grapheme, die sie durch dünne Schatten auf der jeweiligen rechten und unteren Seite der Grapheme erhält, den Grenzraum zwischen Diegese und Extradiegese.228 Der Rahmen eines visuellen Werkes schafft laut Burcu Dogramaci und Liptay Distanz zwischen Rezipient und Artefakt, ist eine Art ›Sicherheitsnetz‹, dass den Rezipienten vor der Vermischung von Realität und Illusion schützt.229 Statt des Rahmens oder Vorhanges, der in Bildern oder in Theateraufführungen die Grenze zwischen Text und Rezipient markiert, verweist eine zentral platzierte schriftliche Ortsangabe in establishing shots wie diesem auf den Bildschirm des Fernsehers, Laptops, Tablets oder Smartphones und somit auf die materielle Grenze der Diegese und die Darstellungsmöglichkeiten des Mediums. Dieser Eindruck wird in establishing shots dieser Art in der dritten Staffel von The Man in the High Castle noch verstärkt, wenn die schriftliche Information bei der Präsentation eines neuen Ortes auftaucht und während horizontaler und vertikaler Kamerabewegungen stets in derselben Position verbleibt.230 Während die Mise en Scène dieser Art von establishing shots in The Man in the High Castle in ihrer Erhabenheit fast überwältigend wirkt, kommt den verzögert platzierten Ortsangaben eine didaktische Funktion zu: Sie reagieren auf die Ästhetisierung von Orten, die mit Menschenverachtung assoziiert werden, indem sie auf die Gemachtheit der Räume hinweisen und die Distanzierung von den imposanten Bildern ermöglichen.

Inszenierungen realer Orte in Szenenanfängen serieller Dystopien des Post-TV Dieser Typ von Szeneneröffnungen wird, wie bereits bemerkt, in The Man in the High Castle immer wieder verwendet, egal, ob ein Schauplatz bekannt oder unbekannt ist. Wiederkehrende Merkmale sind Darstellungsstrategien auf Ebene von Ton, Kameraführung und Mise en Scène, die auf die Immersion der Rezipienten ausgerichtet sind, zugleich aber formal und inhaltlich auffallende schriftliche Ortsangaben wie die bereits erläuterten. Ebenfalls werden entweder visuell und verbal oder nur verbal Schauplätze gezeigt, die auf ein realistisches Gegenbild in der extratextuellen Welt verweisen. Mitunter sind diese Orte durch die Ikonographie des imperialen Japans oder der Nationalsozialisten überlagert. Die Irritation angesichts authentischer Orte ist in dieser Serie auch mit intradiegetischen Ortsangaben verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Eröffnung einer Szene um Joe in New York, die mit einer Nahe-Einstellung auf ein Straßenschild mit

227 Wolf 2017, S. 406. 228 Vgl. hierzu Ziegenhagen, der u.a. den diegetischen Status von Schrift in Filmvorspannen untersucht: Ziegenhagen, David (2018): Schrift und Raum im Wandel. Digitale Animationstypografie und pseudo-filmweltliche Credits im Filmvorspann. In: Eckel, Julia/Feyersinger, Erwin/Uhrig, Meike (Hg.): Im Wandel… Metamorphosen der Animation. Wiesbaden: Springer 2018, S. 11–33. Diese establishing shots gehen klar über den Charakter einer »pragmatischen Ortsangabe« (Paefgen 2016, S. 179) hinaus und stimmen darin mit zeitgenössischen Serien wie z.B. Preacher (2016–2019), USA: AMC, Creators: Sam Catlin/Evan Goldberg/Seth Rogen, überein. 229 Vgl. Dogramaci, Burcu/Liptay, Fabienne (2016): Introduction. Immersion in the Visual Arts and Media. In: Liptay, Fabienne/Dogramaci, Burcu (Hg.): Immersion in the Visual Arts and Media. Leiden/ Boston: Brill Rodopi, S. 1–17, hier S. 7f. 230 Vgl. The Man in the High Castle, S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

der Aufschrift »Broadway« neben einem Hakenkreuz beginnt.231 Eine solche Darstellung zielt nicht auf einen Modus unkritischer Unterhaltung ab, vielmehr soll das Eintauchen in die fiktive Welt mit der Einführung von Handlungsorten und -räumen gezielt durch die Betonung ihrer Fiktionalität gestört werden. Ähnlich wie es Böhnke für die Ortseinführungen in Jackie Brown konstatiert, binden die imposanten establishing shots mit ihren redundanten Ortsangaben nicht die Zuschauer in die Serienerzählung ein, sondern sie verweisen auf die »narrative Instanz«, wohlmöglich sogar auf den »Autor« bzw. creator.232 Die Rezipienten sollen der ästhetisierten Raum- und Weltgestaltung, ihrer bewusst inszenierten Realitätseffekte eben nicht verfallen. Stattdessen wird ihnen mit penibler Transparenz der ›Eingang‹ zu den jeweiligen Handlungsorten und -räumen vorgeführt, als handele es sich um eine Rückversicherung, um Zeugnisse der freiwillig vom Zuschauer getroffenen Entscheidungen, tiefer und tiefer in die düstere Serienwelt von The Man in the High Castle einzutauchen. Auch in den anderen seriellen Dystopien liegen, wie bereits erwähnt, extradiegetische Ortsangaben vor, allerdings sind diese konventionalisiert bzw. weniger auffällig.233 Authentische Orte, die nicht notwendigerweise wiedererkannt werden, weil die Rezipienten auf ihr Seriengedächtnis zurückgreifen, sondern weil sie diese als Locations bzw. Orte ihrer realen Welt identifizieren, lösen im Kontext der dystopischen storyworlds auch in den anderen Serien keinen immersiven Effekt aus. In Wayward Pines wird z.B. die Skyline von Boston gezeigt,234 Alpha 0.7 eröffnet eine Szene mit einer Einstellung auf Schloss Hohenheim in Stuttgart235 und der Sitz der kommunistischen Partei Frankreichs in Paris wird in Trepalium zum Regierungsgebäude der Premierministerin.236 Diese visuellen und z.T. verbalen Orientierungshilfen erleichtern den Aufbau einer mental map, sie sind aber keine Strategie, mit der Immersion erzeugt wird. Stattdessen führen sie von der fiktiven Welt weg und fordern die Zuschauer im Sinne der kritischen Dystopie auf, Szenarien über mögliche negative Welten zu entwerfen: Was wäre, wenn die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? Wie würde Frankreich aussehen, wenn Massenarbeitslosigkeit das Tagessgeschehen bestimmte? Versuchen Unternehmen und Regierungen, die Bürger Europas auszuspähen?237 Symbolisch-touristische Wahrzeichen oder andere Orte mit Wiedererkennungswert, wie sie Björn Bollhöfer anhand der Fernsehreihe Tatort untersucht, haben die

231 232 233 234 235 236 237

Vgl. The Man in the High Castle, S1E5, »The New Normal«. Böhnke 2005, S. 50 Vgl. hierzu IV.1.1.3 in dieser Arbeit. Vgl. Wayward Pines, S2E5, »Sound the Alarm«. Vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Der freie Wille«. Vgl. Trepalium, S1E2. Für Wayward Pines und die Einführung von ›authentischen‹ Orten zu Szenenbeginn gilt diese Überlegung nicht. Seattle oder Hawaii, wie sie in der Serie zu sehen sind, sind eben (noch) nicht Teil einer dystopischen Gesellschaft oder einer post-apokalyptischen Ödnis. Allerdings könnten sich beim Rezipieren der Webserie Gone: A Wayward Pines Story, die das diegetische Universum von Wayward Pines erweitert, und der zweiten Staffel der Serie prinzipiell ähnliche Fragen zur Möglichkeit der Dystopie anschließen, z.B., ob in den USA tatsächlich Personen aus ihrem Alltag gerissen werden, um eine zukünftige Elite letzter Menschen zu unterstützen.

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IV. Analyse der Serienräume

Funktion, »Realität zu suggerieren«:238 »Insgesamt wird über die Wahrzeichen ein ästhetisches Schema konstituiert, das in stereotyper Form immer wieder die gleichen Bilder verwendet und mit neuen Geschichten füllt und verbindet«.239 Der Eindruck von Authentizität der fiktiven Handlung werde neben bekannten Orten auch durch die Darstellung von Autokennzeichen, Schriftzügen und Dialekten erzeugt.240 Bollhöfer kommt zu dem Schluss, dass die Raumdarstellung im Tatort zwischen »Bemühen um Authentizität einerseits und der Inszenierung von Lokalität andererseits« oszilliert.241 Zwar mag die prägnante Ausstellung ›realer‹ Orte und lokaler Charakteristika in ›realistisch‹ erzählenden Serien wie der Tatort-Reihe als Auslöser von Immersion interpretiert werden. In den seriellen Dystopien aber, die mit denkbaren, aber nicht realen Szenarien aufwarten, wird die Einbindung bekannter Orte aus Boston, Paris und Berlin eher als Illusionsbruch empfunden. Doch eben, weil diese Orte scripts und frames aus der gegenwärtigen Welt der Zuschauer aufrufen, machen sie auf deren doppelte Anwesenheit aufmerksam – sowohl in der Quasi-Wirklichkeit der storyworld als auch im heimischen Wohnzimmer oder an anderen Orten der Rezeption. Die ästhetische Illusion wird dadurch nicht zwangsläufig unterbrochen, aber die Vorstellung einer in sich geschlossenen und homogenen Diegese ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.

1.2.3 Intraserielle landmarks Die Wiederholung von Orten, die in einer Serie bereits etabliert wurden, trägt auch zur Immersion bei. Ryan weist darauf hin, dass die immersivsten Texte häufig diejenigen seien, die den Lesern am vertrautesten sind.242 So werden einzelne Räume mit einer dominanten Atmosphäre, vergangenen Handlungen oder mit Figuren assoziiert. Zwar lässt sich anhand des seriellen Textes nicht nachweisen, ab wann und in welchem Maße ein Handlungsort oder -raum für die Zuschauer vertraut ist. Doch die Art und Weise, mit der bereits etablierte Schauplätze eingeführt werden, verweist mitunter darauf, dass ihre Bekanntheit und Vertrautheit durch die an der Serienproduktion beteiligten Akteure bei den Rezipienten vorausgesetzt werden. Ein Beispiel hierfür sind die establishing shots von Wayward Pines und 3 %, die die Handlungsorte nur bei ihrer initialen Präsentation mit extradiegetischen schriftlichen Angaben versehen und in den folgenden establishing shots allein die Orte zeigen. Diese Serien gehen davon aus, dass die Zuschauer ab der zweiten Präsentation der Handlungsorte bereits ein konsistentes Modell des Serienraums generiert haben und dass ihnen die jeweiligen Schauplätze bekannt sind.243 The Man in the High Castle etabliert dahingehend keine Regularität und führt z.B. selbst in der dritten Staffel New York im American Reich noch mit schriftlicher Ortsangabe ein.244 Diese penible Beschreibung ist aber u.a. darauf zurückzuführen, dass der Serienraum von The Man in the High Castle bis in die vierte Staffel hinein noch erweitert 238 239 240 241 242 243 244

Bollhöfer 2010, S. 38. Ebd. Ebd. Ebd., S. 48. Vgl. Ryan 2001, S. 96. Vgl. hierzu IV.1.1.3 in dieser Arbeit. Vgl. The Man in the High Castle, S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

wird. Die Vertrautheit intraserieller landmarks auf Seiten der Rezipienten wird aber dennoch angenommen, was u.a. daran zu erkennen ist, dass die gleichen Schauplätze von establishing shot zu establishing shot unterschiedlich inszeniert werden. Dies ist beispielsweise bei der Darstellung des SS-Hauptquartiers in den Szenenanfängen von The Man in the High Castle der Fall.245 Schließlich wird die Kenntnis bestimmter Räume bei den Zuschauern oder deren Bindung an sie bei der Referenz auf die Serienräume in seriellen Paratexten angenommen. 3 %, Wayward Pines und The Man in the High Castle binden in den Werbebildern der bisher erschienenen Staffeln immer wieder Charakteristika des jeweiligen fiktiven Raums ein.246 Auch in narrativen Erweiterungen der jeweiligen Serie durch andere Medien werden markante Schauplätze zur Wiedererkennung verwendet, was darauf schließen lässt, dass sie als Marker von Vertrautheit und Auslöser von Immersion gezielt platziert werden. Hierzu zählen Zeichnungen der Mauer und der charakteristischen Hochhäuser aus Trepalium, die im multimedialen Hörspiel A l’ombre du mur. Journal d’un inutile parallel zur Kernserie online abrufbar waren (vgl. Abb. 20).247 Ohne die Kenntnis der Kernserie sind die einzelnen Tagebucheinträge sowie die Zeichnungen, aber auch die verbalen Beschreibungen der Mauer als Ort mit Wiedererkennungswert kaum zu verstehen. Innerhalb des Tagebuches ruft dieses Bauwerk jedoch für Rezipienten, die die Serientopographie kennen, die Semantik innerhalb der Kernserie auf und erleichtert den Zuhörern die Rückkehr in den diegetischen Raum des fiktiven Universums von Trepalium: Beispielhaft dafür steht eine Zeichnung der Zone im Tagebucheintrag Nr. 474, die im Hintergrund die Mauer und dahinter zwei in der audiovisuellen Serie des Öfteren gezeigte Hochhäuser präsentiert (vgl. Abb. 20). Ihre Höhe und strenge Form weicht deutlich von den kleinen Bauten im Bildvordergrund sowie der durch gebückte Figuren und die Zeichnung von schatten ab, wird zugleich aber als landmarks sichtbar gemacht, weil die diagonal über den Bildraum angeordnete Gasse von links unten nach rechts oben auf Mauer und Hochhäuser zuläuft (vgl. ebd.).

245 Vgl. hierzu IV.1.1.3, Analyse zu The Man in the High Castle. 246 So wird in vielen Werbebildern, die das Erscheinen der zweiten Staffel von 3 % ankündigen, sowohl auf den bis dahin unbekannten Ort der Insel als auch auf den Slum referiert, der bereits in der ersten Staffel zum Handlungsraum wurde: Auf einem dieser Bilder sind am rechten Rand baufällige Häuser im für den Slum charakteristischen Hellbraun zu sehen, die sich übereinander auftürmen; vgl. o.A. (o.A.): Date Announcement Banner, 2. Staffel 3 %. In: Internet Movie Database. https://www .imdb.com/title/tt4922804/mediaviewer/rm92884480, aufgerufen am 09.11.2020. In einem Werbebild für die zweite Staffel von Wayward Pines werden die wichtigsten Figuren vor der Kulisse der Hauptstraße platziert, deren Architektur einen hohen Wiedererkennungswert verspricht; vgl. Cavassuto, Maria (25.05.2016): Jason Patric and Djimon Hounsou Preview ›Wayward Pines‹ Season 2: ›It’s a Completely Different Show‹. In: Variety. https://variety.com/2016/tv/news/wayward-pine s-season-2-jason-patric-djimon-hounsou-interview-1201777091/, aufgerufen am 20.06.2020. Die erste Staffel von The Man in the High Castle wird u.a. mit einem Date Announcement Banner beworben, in dessen Vordergrund eine Freiheitsstatue mit emporgerecktem rechten Arm steht und in dessen Hintergrund die Skyline von New York, inklusive des aus den übrigen Bauten hervorstechenden SS-Headquarters, zu sehen ist; vgl. o.A. (o.A.): Date Announcement Banner The Man in the High Castle, Staffel 1. In: Internet Movie Database. https://www.imdb.com/title/tt1740299/me diaviewer/rm3529630464, aufgerufen am 17.09.2020. 247 Vgl. zum interaktiven Hörspiel III.3 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

In der Webserie Gone: A Wayward Pines Story, die parallel zur ersten Staffel von Wayward Pines ausgestrahlt wurde, sucht der Wissenschaftler Eric seine verschwundene Ehefrau Sarah.248 Schließlich stellt sich heraus, dass Sarahs Verschwinden von David Pilcher inszeniert wurde, um auf die Expertise Erics bei der Umsetzung seines Plans, einen Teil der Menschheit in eine ferne Zukunft zu transferieren, zurückzugreifen.249 Der Zielort von Erics Suche wird in der zweiten Episode der Webserie angegeben: Auf dem Notebook seiner Frau findet Eric Rechercheinformationen zum »Mountain Project« sowie das Bild eines Berges.250 Die Abbildung des Felsens, an dem innerhalb von Wayward Pines die Leitungsebene und die Vorräte der Kleinstadt untergebracht sind, kann als Auslöser des Einstiegs in die fiktive Welt der Kernserie betrachtet werden. Zwar wird die inhaltliche Zugehörigkeit von Gone: A Wayward Pines Story zu Wayward Pines bereits in der ersten Episode der Webserie durch Verweise auf die »Pilcher Company« offenbart,251 die visuelle Abbildung des Berges als landmark wirkt jedoch viel unmittelbarer.

1.2.4 Fazit und Diskussion Die Raumgestaltung ist in dystopischen Serien des Post-TV neben anderen Faktoren wesentlich dafür verantwortlich, Immersion oder den Eindruck von Distanz bei den Rezipienten auszulösen. Insgesamt ist die Tendenz festzustellen, dass die hier untersuchten Serien zwar auf der Ebene des discours überwiegend gängige Sehgewohnheiten bedienen und Darstellungstechniken verwenden, die einen Effekt der Immersion im Zuge des Rezeptionsprozesses unterstützen. Beispiele hierfür sind das continuity editing, der Einsatz einer subjektiven Kamera oder Darstellungen in Serien- und Szenenanfängen, die den jeweiligen Schauplatz durch die Bildkomposition oder auf den Ort ausgerichtete Kamerafahrten hervorheben und den Eindruck des ›Eintauchens‹ simulieren. Auch auf Ebene der histoire sind Strategien zu erkennen, die einen Eindruck der Unmittelbarkeit hervorrufen, wie die sorgsame Ausstattung der Innenräume in The Man in the High Castle sowie der Ghettos in der zweiten Staffel von 3 % und in Trepalium. Zugleich gehen eine Vielfalt von Raumgestaltungen bzw. deren pro-filmische Konstruktion in der Mise en Scène mit einem Moment der Irritation einher. Räume wie der Slum in 3 % sowie eine Vielzahl der Innenräume in The Man in the High Castle sind derart exzessiv mit Artefakten und Dekors-Elementen ausgestattet, dass sie allenfalls ironisch auf einen potentiellen Realitätseffekt verweisen. In ihrer Künstlichkeit referieren sie auf sich selbst sowie den Prozess ihrer Gestaltung, sodass das ›Materialsehen‹ der entsprechenden Szenen wahrscheinlicher ist als eine Immersion in die dystopischen Serienräume. Die Koexistenz immersiver und distanzierender Darstellungsmechanismen, das Zusammenspiel von Realitätsbezügen, Authentifizierungseffekten und dem Bestreben, eine autoreferentielle Welt zu erstellen, kommt in The Man in the High Castle am deut-

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Gone: A Wayward Pines Story, S1E1, »Where Is Sarah?«. Vgl. ebd., S1E9, »The Truth« sowie S1E10, »Dedication«. Ebd., S1E2, »Discoveries«. Ebd., S1E1, »Where Is Sarah?«.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

lichsten zum Ausdruck. Die archivarische Anhäufung von Artefakten als durchgehende ›Handschrift‹ der Serie geht weit über einen Realitätseffekt hinaus. Ebenso irritierend wie das überbordende Interieur wirkt die beständige Vermengung von Bezügen zur extratextuellen Geschichtsschreibung und zur eigenen Zeitlichkeit, die sich u.a. in der Verbindung von Symbolen des Faschismus sowie Versatzstücken US-amerikanischer Kultur der 1960er Jahre oder in Toponymen wie »Berlin/Greater Nazi Reich« ausdrückt. Die detaillierte, sorgsame Gestaltung der Innenräume, durch die die Beständigkeit der erzählten Welt und Glaubhaftigkeit der alternate history nachvollzogen werden kann, stehen diesen irritierenden Effekten wiederum ebenso entgegen wie die naturalistische Ästhetik, die visuell vor allem aus dem Einsatz von Licht und Kamerafiltern herrührt. Als Folge dieser Ausstattung wirken die Räume in The Man in the High Castle zudem merkwürdig vertraut. Diese Mechanismen, die eine Immersion des Rezipienten in die Diegese unterstützen, werden zugleich durch selbstreferentielle Elemente wie vertikale transparente Flächen oder establishing shots mit extradiegetischer Schrift ›ausgebremst‹. Diese Befunde lassen sich auch anhand einer anderen seriellen Dystopie, Altered Carbon, stützen.252 Die Exposition des Handlungsraums Bay City verbindet eine detaillierte Inszenierung der futuristischen Stadt mit der Hervorhebung der discours-Ebene. Der erste Überblick über Bay City in der Pilotepisode erfolgt durch eine Fensterscheibe. Zu sehen ist eine futuristische Architektur in der Tradition von Metropolis und Blade Runner: Einzelne Wolkenkratzer überragen die restlichen Häuser um ein Vielfaches, die Lichter in den Bauten deuten auf Glasfassaden hin, Anzeichen von Natur fehlen. Die Millionenmetropole wird bei Nacht präsentiert und von zwei Monden überragt, einzelne Fortbewegungsmittel fliegen über den Dächern und da Teile der Stadt im Bildvordergrund nicht auszumachen sind, kann vermutet werden, dass der Raum von Smog oder Nebel verhüllt ist. Diese Fülle an Informationen, die die nur wenige Sekunden dauernde Einstellung bereithält, lässt Bay City trotz deutlicher Anzeichen diegetischer Verfremdung realistisch erscheinen. Kurz darauf sind jedoch Geräusche elektronischer Maschinen zu hören, die Darstellung des Bildes ist gestört und löst sich auf. Zurück bleibt eine schwarze Glasscheibe. Statt der Ebene der histoire steht der (metadiegetische) discours im Vordergrund: Der Bildschirm bzw. die mediale Darstellung der Stadt bleiben nach dem Verschwinden der Illusion zurück und verweisen auf die televisuelle Rezeptionssituation, an der die Zuschauer teilnehmen. Es scheint, als wolle Altered Carbon gar nicht erst versuchen, seine storyworld authentisch erscheinen zu lassen und als sollten die Rezipienten von Beginn an eine distanzierte Haltung zu Raum und Geschehen entwickeln. Alle hier untersuchten Serien haben schließlich gemein, dass die Integration realer Orte in die jeweiligen fiktiven Welten, anders als in Genres, denen eine größere Nähe zur Realität attestiert wird, tendenziell eher zur Reflexion des Gesehenen anregen, als den Anschein der Authentizität zu erwecken. Die zitierten Bilder von Berlin oder San Francisco, die den Rezipienten aus der realen (Medien-)Welt vertraut sind, wirken in den seriellen Dystopien wie Fremdkörper in einem unbekannten Territorium. Sie regen eher zur Betrachtung gegenwärtiger gesellschaftlich-politischer Verhältnisse der empirischen Realität an und erfüllen somit die didaktische Funktion der kritischen Dystopie. Eine Vertiefung in die Serienwelt, die die Bedingungen der Lektüre sowie die Umwelt des 252 Die folgende Darstellung bezieht sich auf Altered Carbon, S1E1, »Out of the Past«.

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IV. Analyse der Serienräume

Rezipienten vergessen macht, wird durch Verweise dieser Art verhindert, da der Bruch zwischen realen und imaginären Räumen offen ausgestellt wird. Auch bei The Handmaid’s Tale ist es das Pastiche aus imaginären, dystopisch-fremden und realen Räumen, das Irritation und einen allgegenwärtigen Vergleich der fiktiven mit der empirischen Welt auslöst. Einerseits haben die filmischen Inszenierungen durchaus das Potential, Immersion auszulösen: Ein Beleg dafür ist die Faszination der Fans für die fiktive Geographie, die sich anhand von detailliert konzipierten Fandom-Seiten sowie Auflistungen von Referenzen auf reale Orte im Internet nachvollziehen lässt.253 Die sorgfältige Gestaltung der Innenräume sowie die Lichtkomposition der Serienwelt lassen vor allem die Wohnhäuser der Commanders und ihrer Familien authentisch erscheinen. Zugleich erinnern die Schauplätze im fiktiven Kanada oder den fiktiven USA aus der Zeit vor der Machtübernahme der christlich-fundamentalistischen Gruppierung ›Sons of Jacob‹ durch ihre Nähe zu realen Orten immer wieder an den Status der Serie als fiktionaler Entwurf einer denkbaren Zukunft und werfen die Frage auf, ob gegenwärtige westliche Gesellschaften Gefahr laufen, eine ähnlich gewaltsame Transformation zu erfahren.254 Darüber hinaus kann bereits die Wiederholung von Schauplätzen Vertrautheit bei den Rezipienten hervorrufen. Auch wenn der Schwerpunkt der Untersuchung neben einzelnen landmarks und establishing shots auf den Serienanfängen liegt, so haben Räume nicht nur innerhalb dieser Segmente die Funktion, die ›Einfühlung‹ der Rezipienten in die storyworld zu befördern. Die für Immersion relevante Vertrautheit einzelner Orte baut sich hingegen sukzessive im Zuge der Rezeption weiterer Episoden und Staffeln auf.255 Zugleich wird die Bekanntheit zentraler Räume und Orte vor allem in der Initialphase vorbereitet. Intraserielle landmarks setzen auf die Gewöhnung der Zuschauer an die fremden Räume im Zuge seriellen Erzählens. Diese Bindung wird auch in seriellen Paratexten wie Werbebildern und transmedialen Erweiterungen der Erzählung deutlich. Dabei lösen Orte, die einen hohen Wiedererkennungswert für die Kernserie aufweisen, den Eintritt in den Raum der storyworld aus, weil sie metonymisch für die gesamte Serientopographie stehen. Sie werden in den transmedialen Erweiterungen wie dem Hörspiel zu Trepalium oder der Webserie Gone: A Wayward Pines Story beibehalten und erzeugen Kohärenz zur Kernserie, auch wenn andere Schauplätze, Figuren und Handlungsstränge hinzugefügt werden.

253 Vgl. u.a. die Einträge zu ›locations‹ im englischsprachigen Fandom-Wiki: O.A. (o.A.): Locations. In: The Handmaid’s Tale Fandom. https://the-handmaids-tale.fandom.com/wiki/Category:Location s, aufgerufen am 2.06.2020. 254 Darüber hinaus wird die Spannung zwischen realen und dystopischen Räumen in The Handmaid’s Tale auch in diegetischen Karten aufgerufen: Dies wird sowohl in der Serie von Karten deutlich, die im Haus der MacKenzies hängen und die politische Veränderung der ehemaligen USA nachzeichnen (vgl. ebd., S2E11, »Holly«), als auch in einer von den Serienproduzenten veröffentlichten Karte der ehemaligen USA, auf der die Gebiete eingezeichnet sind, die von Gilead besetzt werden, in denen noch Kämpfe stattfinden oder die dem US-amerikanischen Widerstand zugeordnet werden; vgl. o.A. (o.A.): Geography of Gilead. In: The Handmaid’s Tale Fandom. https://t he-handmaids-tale.fandom.com/wiki/Geography_of_Gilead, aufgerufen am 20.06.2020. 255 Vgl. Adkins 2018, S. 93.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

Abschließend sei auch darauf hingewiesen, dass die Vertrautheit des Serienraums nicht erst mit der Initialphase der seriellen Narration beginnt, sondern prinzipiell auch durch Trailer, Teaser, Plakate oder andere Paratexte und Werbeaktionen vorbereitet werden kann. Ein besonders prominentes Beispiel aus dem Bereich serieller Dystopien des Post-TV ist die Ausstattung eines Waggons der New Yorker U-Bahn im Auftrag von Amazon Prime zur Bewerbung der ersten Staffel von The Man in the High Castle. Die Sitze des Waggons wurden mit den fiktiven Flaggen der durch das imperialistische Japan und faschistische Deutschland besetzten USA ausgestaltet. Die heftige Kritik an der Werbeaktion veranlasste den Streaming-Dienst, die Dekoration kurz darauf rückgängig zu machen.256 Mit diesem Beispiel liegt zugleich ein Hinweis darauf vor, dass die unmittelbar wahrnehmbare Raumgestaltung im Stil der alternate history-Serie bereits im Vorfeld ihrer Ausstrahlung einen immersiven Effekt haben kann.

1.3 Atmosphäre Die Atmosphären, die durch die jeweiligen Rauminszenierungen der seriellen Dystopien kreiert werden, sind nicht statisch, sondern hängen von der jeweiligen Handlung einer Szene oder Episode ab. Folglich können im Folgenden nur grob die dominanten, wiederkehrenden Stimmungen beschrieben werden, die mit den jeweiligen Bauten und ihren fernseh-seriellen Inszenierungen einhergehen. Zugleich spielen die Atmosphären der jeweiligen Raumentwürfe auch in den anderen Kapiteln immer wieder eine Rolle, sofern sie die jeweilige Deutungshypothese stützen, und werden somit innerhalb des gesamten Analysekapitels immer wieder aufgegriffen und detaillierter beschrieben. Mit Blick auf die hier untersuchten fünf Kernserien lässt sich festhalten, dass tendenziell ähnliche atmosphärische Wirkungen mit den Räumen einhergehen, in denen das despotische oder totalitäre System institutionell verortet ist und denen, die eher am Rande oder außerhalb dessen Reichweite liegen. Für dieses und die folgenden Kapitel soll deshalb zu heuristischen Zwecken von dystopischen Zentren und Peripherien die Rede sein. Beispielsweise ist das Zentrum der dystopischen Gesellschaft von Trepalium die Stadt, der periphere Raum die Zone (vgl. Tab. 4). Während die Stadt von der Regierung und Konzernen dominiert wird, gelten deren Regeln, nach denen Menschen vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten bewertet und behandelt werden, nur bedingt innerhalb der Zone, die geradezu einen semantisch-oppositionellen Raum in Relation zur Stadt darstellt. Auf ähnliche Weise lässt sich das Verhältnis zwischen Slum und Insel in 3 % sowie zwischen Wildnis und Kleinstadt in Wayward Pines beschreiben. Mit Bezug auf Beatrice Behn kann argumentiert werden, dass die Zone in Trepalium, der Slum in 3 % und die Außenwelt in Wayward Pines als Ghettos konstruiert werden, die für die je-

256 Vgl. Reuters (25.11.2015): Nazi-inspired ads for The Man in the High Castle pulled from New York subway. In: The Guardian. https://www.theguardian.com/us-news/2015/nov/25/nazi-inspired-adsfor-the-man-in-the-high-castle-pulled-from-new-york-subway, aufgerufen am 20.10.2020.

219

220

IV. Analyse der Serienräume

weilige Gesellschaft notwendig sind, um ihre eigene Identität gegenüber dem Abjekten aufrechtzuerhalten.257

Serie

Zentrum

Grenze

Peripherie

Alpha 0.7 – Der Feind in dir

Stuttgart

-

Wald, Ruine Stuttgart 21, Marseille

Wayward Pines

Wayward Pines

Zaun und Gebirge

Wildnis

The Man in the High Castle

New York

Politisch-militärische Grenzen

Neutrale Zone, Cluster innerhalb der Zentren

San Francisco Berlin Trepalium

Stadt

Mauer

Zone

3%

Maralto

Processo-Gebäude, Meer

Slum

Tab. 4: Zentren, Grenzen und Peripherien fiktiver Gesellschaften serieller Dystopien

Komplexere Raumstrukturen wie die von The Man in the High Castle präsentieren gleich mehrere Zentren und Peripherien, die jeweils auch nicht räumlich voneinander isoliert sein müssen, sondern ineinander verschränkt sein können: So ist das Zentrum des American Reich sicherlich New York, weil hier das SS-Headquarter platziert ist und die Nazis ihr ideologisches Projekt des Jahr Null hier durch öffentliche Propaganda und Architektur besonders deutlich inszenieren. Als politisches Zentrum der Pacific States gilt San Francisco.258 Die Peripherie des American Reich, zugleich aber auch der Pacific States, ist die Neutrale Zone. Doch auch die verstreuten Räume des Widerstandes wie unterirdische Bars gehören zu dieser Peripherie, obgleich sie nicht durch physische Grenzen vom Zentrum isoliert sind. Auch bei Alpha 0.7 ist die Peripherie in verschiedene Cluster fragmentiert,259 was anhand der unterschiedlichen Verstecke der Gegner der

257 Behn bezeichnet Ghettos in Science-Fiction-Filmen mit dystopischen Zügen als »Orte der Andersartigkeit«: Das Abjekte im Sinne von Kristeva, das die Gesellschaft als bedrohlich empfinde, sei hier ausgelagert, aber nicht ausgeschlossen. »Es bleibt Teil der Identität, da es durch die Gefährdung derselben diese wiederum mitdefiniert«; Behn, Beatrice (2016): Das Ghetto. Imaginäre und geografische Ausgrenzung. In: Jaspers, Kristina/Warnecke, Nils/Waz, Gerlinde (Hg.): Things to Come. Science – Fiction – Film. Bielefeld/Berlin: Kerber, S. 86–89, hier S. 87. Behns Auswahl dystopischer Filme (u.a. Children of Men, Metropolis, Elysium) rechtfertigt die Übertragung ihrer Überlegungen auf dystopische Serien. 258 Es ließe sich argumentieren, dass San Francisco und New York jeweils Teil eines übergeordneten Zentrums sind, nämlich Tokios als Repräsentant für das japanische Kaiserreich und Berlins als politischer Kern des Greater Nazi Reich. 259 Vgl. Behn 2016, S. 87.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

Protecta Society (Wald in erster, Bauruine des Bahnhofes Stuttgart 21 und Marseille in zweiter Staffel) zu erkennen ist.260 Atmosphären sind, wie bereits ausgeführt wurde, auch in der Rezeption filmisch erzeugter Räume erfahrbar.261 Neben der filmischen Inszenierung von Räumen durch Kamera, Ton, Licht und Schnitt gehen auch mit Architekturen und den verwendeten Materialien Semantiken und Stimmungen einher. Werkstoffe wie »Holz, Glas, Stahl, Marmor« sind laut Böhme »Charaktere von Architektur und Design« und bezeichnen »Erscheinungsqualitäten«.262 Die Wahrnehmung einer durch Werkstoffe erzeugten Stimmung in der Rezeption filmischer Serien kann mit Blick auf deren »optischen Eigenschaften der Oberflächenformation« begründet werden:263 Diese absorbiert, streut und bricht Licht, sodass filmisch präsentierte Materialien »auch ohne konkrete Berührung atmosphärisch spürbar« werden.264 Laut Thomas Raff tragen Materialien aber auch Semantiken.265 Er betont, dass die Semantik eines Werkstoffes abhängig von Kontext und Konventionen ist, wie er anhand des Baustoffs Beton illustriert, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts positiv belegt, später jedoch »zur populären Metapher für Untugenden wie Menschenverachtung, Borniertheit oder Herzlosigkeit herabgesunken« sei.266

1.3.1 Sterile Erhabenheit Insgesamt muten die Räume dystopischer Zentren steril und erhaben, aber auch bedrohlich an. Dies gilt für die repräsentativen Bauten des imperialistischen Japan und nationalsozialistischen Superstaates (The Man in the High Castle) ebenso, wie für das Kontrollzentrum im Bergmassiv (Wayward Pines), den Unternehmenssitz der Protecta Society (Alpha 0.7), das Wettkampfzentrum (3 %) sowie die Gebäude von Aquaville und der Stadtregierung (Trepalium). Dieser Eindruck lässt sich zunächst auf die dominierenden Materialien zurückführen. Die Machtzentren in 3 %, Trepalium, Wayward Pines und Alpha 0.7 sind vor allem aus Beton, Stahl und Glas gebaut, die aufgrund ihrer glatten Oberfläche, trister Farben sowie der Assoziation mit industriell-serieller Fertigung als kalt und wenig wohnlich wahrgenommen werden. Auch die funktionalistische Architektur dieser Orte erinnert eher an Werkhallen und setzt die Akteure permanenter Kontrolle aus. Der Baustil des Funktionalismus, insbesondere aber der des Brutalismus sind laut Bernd Henningsen als »Absage an Harmonie und Symmetrie« von ihren Vordenkern konzipiert worden und bringen »die Vorlieben für Technik und Maschinen, für

260 Hierzu gehört das Versteck von apollon (vgl. Alpha 0.7, S1E2, »Schizophren«), die geheime Hütte von Stefan Hartmann (vgl. ebd., S1E3, »Paranoia«) sowie das Häuschen von Milas Eltern, in dem sie mit Johanna Zuflucht sucht (vgl. ebd., S1E4, »Auf der Flucht«). 261 Vgl. hierzu s. II.2.4.2 in dieser Arbeit. 262 Böhme 2014, 156f. Böhme bezieht sich in der Beschreibung dessen vor allem auf Raff 1994. 263 Ebd., S. 159. 264 Ebd. 265 Böhme übernimmt diese These und differenziert die Quellen der Bedeutungen nach der Herkunft der Materialien, dem »privilegierten Zugang bestimmter Bevölkerungsschichten zu den Materialien« sowie auf Konventionen wie einer bestimmten Mode oder Ideologie; ebd., S. 159. 266 Raff, Thomas (1994): Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. München: Deutscher Kunstverlag, S. 15.

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IV. Analyse der Serienräume

Unruhe, Bewegung, Dynamik und Aggressivität« zum Ausdruck.267 Die großen Hallen des Processo-Gebäudes (3 %), des Wasserkonzerns (Trepalium) sowie der technischen Mitarbeiter im Leitungstrakt (Wayward Pines) degradieren aufgrund ihrer überdimensionalen Ausmaße die jeweiligen Figuren, berauben sie ihrer Individualität und wirken kalt und steril.268 Die Machtzentren in The Man in the High Castle sind weniger unspezifisch inszeniert und stattdessen durch stereotype Artefakte der jeweiligen Kultur und politischen Ideologie angefüllt. Dennoch vermitteln sie eine kühle und mitunter aggressive Stimmung: Die Büros und Besprechungsräume der Japanese Pacific States weisen zwar Naturmaterialien wie Holz auf, wie das Büro von Handelsminister Tagomi, und wirken folglich weniger leblos als das Gebäude des National Pre-Crime Center in Alpha 0.7. Die Betonung von waagerechten und vertikalen Linien u.a. durch Schiebtüren und Shoji kreiert, vermittelt jedoch Strenge, ebenso wie die kontrollierten und fast lautlosen Bewegungen der Figuren innerhalb dieser Räume. Die Büros und repräsentativen Bauten der Nationalsozialisten hingegen gehen mit einer eindeutigen Hierarchisierung der Gruppe über das Individuum einher. Hier kommt die »Bühnenarchitektur«, auf Ebene des filmischen discours auch die »Symmetrie und Zentrierung« von Akteuren sowie die bewusste Erzeugung des Erschauerns zum Vorschein, wie sie Böhme für die Architektur der Nationalsozialisten formuliert.269 Besonders deutlich wird dies im Büro der Figur Hitlers und innerhalb der Volkshalle in Berlin, da beide Orte die Intention nationalsozialistischen Bauens illustrieren, »den Betrachter durch Größe und Allmacht des Regimes zu beeindrucken und ihn letztlich einzuschüchtern«.270 Beide Schauplätze werden durch John Smith eingeführt, der sie, jeweils zum ersten Mal, ehrfürchtig betritt. Die »übermaßstäblichen Größen und Dimensionen«271 der Gebäude, die Wirkung der Raumtiefe, der erdrückenden Materialien wie Granit oder Marmor sowie die Inszenierung von Figuren mittels Lichts ist anhand von Johns ungewohnt zaghaften Bewegungen nachvollziehbar. Dessen Büro wirkt im Vergleich zu den aufmerksamkeitsheischenden Architekturen in Berlin fast zurückhaltend und funktional, ist aber dennoch mit Hakenkreuzen und einer Vielzahl antik und griechisch anmutender Skulpturen ausstaffiert und mit Granit oder anderem festen Stein ausgekleidet.272 Das Machtzentrum der dystopischen Gesellschaft in 3 %, die Insel Maralto, aber auch die Kleinstadt in Wayward Pines etablieren ein anderes Muster. Die Zentren in The Man in the High Castle, Trepalium und Alpha 0.7 folgen der Vorstellung, nach der die dystopische Gesellschaft sich durch ›entmenschlichte‹ Räume mit kühler Atmosphäre etabliert. In den Serien 3 % und Wayward Pines sind Gesellschaften aber gerade dann 267 Henningsen, Bernd (1984): Funktionalismus in Architektur und Politik. In: Merkur 38.8, S. 954–959, S. 958 268 Vgl. hierzu IV.2.1 in dieser Arbeit. 269 Böhme 2014, S. 167–169. 270 Weihsmann 1998, S. 24. 271 Ebd., S. 42. 272 Granit wurde für repräsentative Bauaufgaben im Nationalsozialismus wegen seiner Eigenschaft der Härte bevorzugt und ideologisch aufgeladen; vgl. Raff 1994, S. 13. Neben Granit wurden aber auch Sand- oder Kalkstein als »würdiges Material« betrachtet; vgl. Weihsmann 1998, S. 38.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

verdächtig bzw. dystopisch, wenn sie Perfektion umsetzen. Maralto ist ein Paradies, ein Ort, in dem Natur gebändigt und zur Kulisse von Freizeitaktivitäten degradiert wird. Die Menschen der Insel wandeln in bunten Stoffen umher, ihre Wohnungen sind großzügig geschnitten und hell.273 Ebenso einladend wirkt die Architektur der Wohnhäuser in Wayward Pines: Auch hier geben gepflegte Vorgärten den Anschein naturnahen Lebens, dominieren warme Farben, Holz und Bilder mit floralen Motiven die Inneneinrichtungen.274 Hier ist es allerdings das Übermaß an Transparenz und der Mangel an scheinbar ungeordneten Räumen, der diese dystopischen Zentren emotionsarm wirken lässt.

1.3.2 Belebte Räume Die marginalisierten Räume serieller Dystopien – z.B. die Slums, Ghettos und Ausweichorte in 3 %, Trepalium, The Man in the High Castle und Alpha 0.7 – muten hingegen belebt an. Sie werden als ungeordnet und freier wahrgenommen, sind mitunter aber auch bedrohlich und trist. Besonders die Zone und der Slum zeichnen sich neben Beton durch diverse Materialien aus, meist recycelte Werkstoffe aus Plastik und Textilien. Die Vielfalt an Texturen, Farben und Formen, die auch das Ghetto der Afroamerikaner in The Man in the High Castle kennzeichnet, macht diese Orte haptisch erfahrbar.275 Sie sind beengt und von unregelmäßigen Bauformen geprägt, erscheinen aber dadurch sowie aufgrund der freieren Bewegungen der hier agierenden Figuren zugänglich. Ein wiederkehrendes Element, dass die Räume der Peripherie und auch des Widerstandes gegen die jeweiligen dystopischen Machthaber lebendig und liberal erscheinen lässt, ist der Charakter diegetischer Musik: In der zweiten Staffel von 3 % werden zu lateinamerikanischen und Dance-Klängen Straßenfeste im Slum gefeiert, der Widerstand in The Man in the High Castle tanzt zu Jazz oder spielt Lieder, in denen die Führungsriege der Nazis geschmäht wird, während die Aktivisten in Alpha 0.7 sich in ihrem Versteck zu Alternative-Rock treffen.276 Im Gegensatz dazu mutet der Sound der dystopischen Machtzentren und somit auch deren Räumlichkeiten im jeweiligen Kontext normiert und streng an: In Wayward Pines wird abends klassische Musik von einem Pianisten vorgetragen, die von allen Haushalten empfangen werden kann, wobei es sich allerdings um die einzige musikalische Darbietung in der Kleinstadt überhaupt und zudem eine Art verordnetes Kulturprogramm der Kleinstadtleitung handelt.277 Der Festakt zur Zerstörung der Statue of Liberty durch die Nationalsozialisten in The Man in the High Castle wird durch den Chor der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven begleitet und bei einem Treffen zwischen Regierungs- und Wirtschaftsvertretern am Sitz der Pre-

273 274 275 276

Vgl. u.a. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. Vgl. u.a. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Vgl. The Man in the High Castle, S4E1, »Hexagram 64«. Vgl. 3 %, S2E6, »Capítulo 06: Garrafas«; The Man in the High Castle, S2E8, »Loose Lips«, S4E8, »Hitler Has Only Got One Ball«; sowie Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger. 277 Vgl. Wayward Pines, S1E4, »One of Our Senior Realtors Has Chosen to Retire« und S2E1, »Enemy Lines«.

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IV. Analyse der Serienräume

mierministerin in Trepalium sind Ausschnitte aus Wolfgang Amadeus’ 40. Sinfonie und Pjotr I. Tschaikowskys Dornröschen (1. Akt) zu hören.278 In den Peripherien und Clustern gilt das Gegenteil der totalitären Zentren der Dystopien: Je chaotischer ein Ort am Rande oder inmitten einer hochgradig strukturierten Gesellschaft, desto friedfertiger, kreativer und pluralistischer sind die dort lebenden Individuen tendenziell. So erscheinen zwar die Zone in Trepalium und der Slum in 3 % düster, mitunter auch bedrohlich, sie werden aber zugleich als belebt und freier wahrgenommen. Die Atmosphäre der jeweiligen Zentren und Peripherien ist in hohem Maße vom Kontrast dieser Raumtypen abhängig, der in der jeweiligen Serie etabliert wird. So mutet das Versteck im Wald von Alpha 0.7 mit dem schräg einfallenden Sonnenlicht, den warmen Braun- und Grüntönen wohltuend und beruhigend im Vergleich zu den dunklen und mit blauem Licht akzentuierten Zimmern der Protecta Society.

1.3.3 Fazit und Diskussion Die Dichotomie von Räumen im Zentrum oder der Peripherie serieller Dystopien und den ihnen eingeschriebenen Atmosphären kann mit den Attributen steril, erhaben und bedrohlich versus ungeordnet und lebendig beschrieben werden. Dieser Kontrast leitet sich aus der selbstverordneten Isolation der dystopischen Gesellschaft von der Außenwelt sowie ihrer totalitären Ausrichtung ab. Damit reihen sich diese fiktiven Räume in die Tradition literarischer Dystopien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein: Glišović konstatiert für die Hauptstädte von Texten wie Nineteen Eighty-Four einen Kontrast zwischen modern-funktionaler sowie kühler Architektur und älteren Bauten, die auch Naturmaterialien verwenden und vertrauter wirken.279 Diese Architekturen entsprängen »dem Funktionalitätsbedürfnis einer hochtechnisierten Zeit, die wenig für persönliche Gefühle der Zeitgenossen übrig hat«.280 Dieser Dichotomie liegt die Vorstellung zugrunde, dass die schlechteste aller Gesellschaften sich von Solidarität abgewendet und in ihren Verhaltensweisen der als gefährlich wahrgenommenen technischen Neuerungen angenähert hat. Folglich dominieren in vielen dystopischen Serien und Filmen Bauten des Funktionalismus, dem seit Le Corbusier das Etikett der ›Wohnmaschine‹ anheftet.281 Ungeordnet, dafür aber tendenziell liberal sind hingegen die Gegenorte der Outlaws. Eine durchaus anti-utopische Haltung liegt wiederum den zentralen Räumen in 3 % und Wayward Pines zugrunde: Maralto

278 279 280 281

Vgl. The Man in the High Castle, S3E, »Jahr Null«; sowie Trepalium, S1E2. Vgl. Glišović 1992, S. 214 sowie hierzu II.4.2 in dieser Arbeit. Vgl. Glišović 1992, S. 214. Vgl. Staiger 107f., Latham/Hicks 2014, S. 166. Charakteristisch für den Baustil Le Corbusiers ist, zumindest in seinem Frühwerk, die Orientierung an der Geometrie, dem »Ideal« des Kubus sowie an der Metapher der Maschine in Bezug auf das Wohnhaus: »Ein Haus verstand er als perfekt funktionierende ›Wohnmaschine‹, das heißt vom Entwurf her funktional wie eine Maschine, industriell herstellbar wie eine Maschine und benutzbar wie eine Maschine. Und auch die ästhetische Wirkung sollte der Sachlichkeit der Konstruktion einer Maschine gleichen und objektiven Gesetzen folgen«; Kretschmer, Hildegard (2013): Die Architektur der Moderne. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam, S. 170.

1. Where am I? – Rezeption dystopischer Serienräume

und die Wohnhäuser der Kleinstadt sind idyllische, je nach Perspektive auch perfekte Orte. Gerade die Verdächtigung des Strebens nach Perfektion als Versuch, Kontrolle oder Gewalt auszuüben, ist zentral für den Anti-Utopismus, der sich gegen jeden progressiven sozialen Entwurf wendet und die Utopie fälschlicherweise mit Perfektion gleichsetzt.282 Für 3 % lässt sich diese These anhand einer Aussage der Ko-Regisseurin Daina Giannecchi belegen, die von ihrem Gespräch mit dem creator Pedro Aguilera über die Insel Maralto berichtet. Laut Giannecchi belege Maralto, dass Perfektion und Kontrolle zusammengehörten, Perfektion aber nicht erreichbar sei und Kontrolle Angst erzeuge.283 Der Gegensatz zwischen Räumen mit kalter und solchen mit belebter Atmosphäre liegt auch in anderen seriellen Dystopien vor. In Altered Carbon schlägt er sich im Kontrast der düsteren, aber quirligen Straßen Bay Citys sowie dem unsicheren Licktown einer- und dem Aerium-Viertel andererseits nieder, in dem sich die Klasse der wohlhabenden Meths abschottet.284 Ähnliche genrespezifische Klischees offenbaren sich im Vergleich der ersten mit der dritten Klasse und ihren jeweiligen Waggons im Zug von Snowpiercer.285 In The Handmaid’s Tale sind die Wohnhäuser der obersten Vertreter des christlich-fundamentalistischen Staates Gilead zwar mit floralen Mustern übersäht und zeichnen sich durch dunkles Holz und sanft einfallendes Sonnenlicht aus. Durch die zentralperspektivischen Aufnahmen und die statische Kamera wirken diese Orte zugleich jedoch erhaben und unnahbar. Vor allem aber die öffentlichen Räume wirken kalt und brutal: Die Verhaltensweisen der Handmaids und der meisten anderen Menschen im öffentlichen Raum Gileads sind auf das Notwendigste minimiert, fast überall sind Militärs mit Waffen präsent.286 Der Lebensmittelmarkt, in dem June einkauft, ist überwiegend steril und weiß, das New Rachel and Leah Center ist ein charakterloser Glaspalast.287 Die zentralen Orte der Macht bedienen hier zwei verschiedene Raumlogiken: Orte des Staates erscheinen bedrohlich, weil sie karg und ornamentlos sind und industriell-technisch wirken, die privaten Räume der staatstragenden Familien muten hingegen kühl und erdrückend an, weil ihre Schönheit nur oberflächlich ist und als Hülle des Totalitarismus fungiert.288 Die Gegenorte mit belebter Atmosphäre zu Gilead sind Kanada und die USA vor der Machtübernahme der religiösen Fundamentalisten innerhalb der zahllosen Analepsen. Kanada ist überwiegend durch Orte des Alltags repräsentiert, wie Privatwohnungen, Cafés sowie Bars und steht für liberale Werte und Diversität. Selbiges gilt für die USA der Vergangenheit, abgesehen von den filmisch oder verbal erzählten Ereignissen, in denen das Erstarken der ›Sons of Jacob‹ deutlich wird.

282 283 284 285 286

Vgl. hierzu II.4.1.1 in dieser Arbeit. vgl. Dalgalarrondo 2016. Vgl. Altered Carbon, S1E2, »Fallen Angel« sowie ebd., S1E1, »Out of the Past«. Vgl. Snowpiercer, S1E1, »First, the Weather Changed«. Zur Atmosphäre des urbanen Raums der TV-Serie The Handmaid’s Tale vgl. Moldovan, Raluca (2020): The Dystopian Transformation of Urban Space in Margaret Atwood’s The Handmaid’s Tale. In: American, British and Canadian Studies 34.1, S. 103–123, hier S. 115–117. 287 Vgl. The Handmaid’s Tale, S1E1, »Offred«, S2E6, »First Blood«. 288 Vgl. hierzu z.B. das Wohnhaus der Putnams in The Handmaid’s Tale, S1E2, »Birth Day«.

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2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Die Untersuchung dieses Teilkapitels geht von der These aus, dass den Handlungsräumen und -orten dystopischer Serien des Post-TV Bedeutungen eingeschrieben sind, die über einzelne Gebäude oder Landschaften hinaus auf andere Konstituenten der storyworld verweisen – auf Figuren und fiktive Gesellschaften, intraserielle Zeit sowie die Handlung. An diesen drei Aspekten orientiert sich die Gliederung dieses Teilkapitels. Die Serienräume nehmen darüber hinaus Bezug auf Diskurse außerhalb der seriellen Erzählung: Hierzu zählen zunächst die sozialen Ängste und Probleme, auf die die jeweilige kritische Dystopie reagiert, aber auch außertextuelle Raumkonzepte. Da diese für sich genommen aber nur bei einzelnen Serien zu eigenständigen Deutungsergebnissen führen, wird die Untersuchung extratextueller Diskurse, die sich in den Serienraum einschreiben, in die folgenden drei Unterkapitel integriert.

2.1 Asoziale Räume – Raum und Figuren Obgleich in der Serien- bzw. Serialitätsforschung davon ausgegangen wird, dass Räume metonymisch auf Figuren verweisen können,1 liegen zu diesem Phänomen keine differenzierten Analysewerkzeuge vor. Im Folgenden wird deshalb auf das bereits vorgestellte raumnarratologische Analysemodell von Frank zurückgegriffen, das u.a. literaturwissenschaftliche Konzepte mit humangeographischen verknüpft.2 Zum Stimmungsbarometer werde ein erzählter Raum der Literatur, wenn dessen Darstellungen mit der »Perzeption und Apperzeption der Figuren« verbunden ist: Die Art und Weise der Rauminszenierung lasse Rückschlüsse über die Wahrnehmung von Raum und folglich über die emotionale Verfassung der Figur zu.3 Hingegen hingen räumliche Symbole nicht von der

1 2 3

Vgl. II.3.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. hier und für die folgende Darstellung Frank 2017a, S. 189–193. Vgl. zum Drei-Ebenen-Modell von Frank auch II.2.3.3 in dieser Arbeit. Als Beispiel führt Frank eine Landschaftsbeschreibung aus Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther an, die über den Protagonisten fokalisiert wird; vgl. Frank 2017a, S. 189.

228

IV. Analyse der Serienräume

Figurenwahrnehmung ab, verwiesen aber dennoch auf diese.4 Beide Kategorien können laut Frank auch in einer Raumdarstellung zusammenfallen. Die Grenzen der Kategorien offenbarten sich hingegen mit Blick auf »räumliche Entitäten […], die offensichtlich eine Symbolfunktion haben, deren Bedeutungsinhalt und damit zugleich deren Funktion für die Figuren aber nicht zweifelsfrei bestimmt werden kann«.5 Um die Produktion sozialer Raumstrukturen sowie die Bestimmung von Individuen durch diese zu beschreiben, greift Frank auf Martina Löws raumsoziologischen Ansatz zurück: Löw begreift Räume als von der menschlichen Wahrnehmung abhängig, »als relationale (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«.6 Der Raum als Produkt einer Anordnung entstehe entweder materiell durch »die tatsächliche Platzierung von Elementen« (Spacing) oder durch die »aktive mentale Verknüpfung von Elementen, bei der soziale Güter und Menschen bzw. Lebewesen über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse zu Räumen zusammengefasst werden« (Syntheseleistung).7 In »der alltäglichen Konstitution von Raum« sei immer von einer »Gleichzeitigkeit von Syntheseleistung und Spacing« auszugehen.8 Zugleich werde der Raum von Menschen aber nicht nur als Folge ihres Handelns, sondern auch als »dem Handeln vorgängige Größe« wahrgenommen – ein Phänomen, das Löw als »›Dualität von Raum‹« bezeichnet.9

2.1.1 Anordnung von Figuren im Raum Die deutliche Mehrzahl der Figuren der seriellen Dystopien kann weder ihre Bewegungen im Raum noch dessen Gestaltung bestimmen. Zwar ist die Anordnung von Figuren innerhalb der Peripherien der fiktiven Gesellschaften weniger streng geregelt,10 die Bürger der jeweiligen dystopischen Zentren unterliegen jedoch weiteren Allokationen, die sich implizit aus den ihnen aufgezwungenen sozialen Funktionen ergeben. In Wayward Pines werden den Bewohnern Berufe zugewiesen, die ihren jeweiligen Fähigkeiten ent-

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10

Ein anderes Beispiel aus dem Werther für den Raum als Symbol ist Frank zufolge das Fällen »von Linden auf dem Kirchplatz« zu Beginn des Briefromans, das Werthers »nicht mehr aufzuhaltende Entscheidung, sich das Leben zu nehmen«, antizipiert; vgl. ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Bestimmte Passagen in den Texten Franz Kafkas gelten Frank dabei als prototypisch für diese unsichere Bedeutungskonstruktion, da in jenen »die Hinweise auf den Zeichengehalt zu gering oder gar nicht vorhanden« seien; ebd. Ebd., S. 192. Ebd., S. 193. Herv.: F.K. Ebd., S. 193. Löw zit. ebd. Ausgehend von der Diskussion sozialgeographischer Konzepte formuliert Frank Leitfragen zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Raum und Figur in Erzähltexten: »Auf welche Weise nehmen die Figuren Einfluss auf einzelne Teilräume? Werden sie aktiv tätig und ordnen Dinge und Menschen innerhalb einzelner Teilräume an oder stehen sie in einem passiven Verhältnis zu ihnen? Und in welcher Beziehung steht die körperlich-räumliche Aktivität der Figuren zu ihrer mentalen Verknüpfung von Entitäten zu Räumen? Daran anschließend: Wie werden diese mentalen und körperlichen Aktivitäten im Text bewertet?«, Frank 2017a, S. 194. Vgl. Marks 2015, S. 109.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

sprechen sollen.11 Räumliche Konsequenzen und einen tiefen Eingriff in die Selbstbestimmtheit stellt auch die Zuteilung von Ehe- und Sexualpartnern dar.12 Während die letztgenannte Maßnahme zumindest durch eine (pseudo)wissenschaftliche Rhetorik gerechtfertigt wird,13 offenbart sich die Willkür politischer Entscheidungen mit Auswirkungen auf Privatleben und räumliche Anordnungen der Figuren in Hinblick auf systemrelevante Akteure: Die ehemalige Hypnotherapeutin Meghan, eine fanatische Anhängerin des ›Projektes‹ der vermeintlich eutopischen Stadt Wayward Pines, ist in der ersten Staffel als Lehrerin mit Bildung und Sexualerziehung der Schüler, in der zweiten wiederum als Forscherin mit der Untersuchung von Verhalten, Genom und Anatomie der mutierten Menschen betraut.14 Neben der spatialen Zuordnung, die in der Serie im Übrigen auch ganz praktisch durch die Darstellung der Maklertätigkeit Theresas nachvollzogen und durch personalisierte Akten mit den jeweiligen Funktionen der Bewohner reflektiert wird,15 werden Figuren aus bestimmten Orten offen ausgeschlossen. So darf Theresa die Schule ihres Sohnes nicht betreten, da sie hier laut der Lehrerin Meghan ihre Qualitäten als Mutter nicht verwenden könne: »School is for children, Theresa, not their parents. Your job is to feed them and keep them safe. Let us do the rest«.16 Abgesehen von der strikten Verteilung von Funktionen ist diese Zuordnung in der politischen Indoktrination der Kinder begründet. In Wayward Pines wird ein arbeitsteiliges System etabliert, in dem jede Figur einer genau umrissene Tätigkeitsbeschreibung entspricht, die mit denen der anderen, ähnlich wie in sozialistischen Systemen, ineinandergreift. Aus dieser sozial-ökonomischen ›Bedienungsanleitung‹ ergeben sich feste räumliche Bewegungsmuster, die beachtet werden, ohne dass sie physisch durch Grenzen und Übergänge innerhalb der Stadt markiert werden müssten. Analog zu den räumlichen Restriktionen in Wayward Pines können die sozialen Zuordnungen im nationalsozialistischen Staat in The Man in the High Castle gedeutet

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So wird Theresa nach ihrem Erwachen in der Stadt zur Mitarbeiterin des Maklers ernannt; vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Beispielhaft hierfür stehen Kate und Harold, die einer gemeinsamen Partnerschaft durch Krankenschwester Pam zugewiesen wurden (vgl. Wayward Pines S1E7, »Betrayal«) sowie die Schüler Frank und Meadow, die zur »reproduction« in dafür eigens angesetzten Sessions zusammenkommen müssen (vgl. ebd., S2E5, »Sound the Alarm«). Vgl. ebd., S2E4, »Exit Strategy« sowie S2E5, »Sound the Alarm«. Die Ausdehnung von Meghans Kompetenzen wird durch Kommentare anderer Figuren kritisch reflektiert (vgl. ebd., S2E5, »Sound the Alarm«). Die wortwörtliche Zuordnung von Figuren zu beruflich-gesellschaftlichen Funktionen und damit verbundenen Räumen in Wayward Pines lässt sich weiterhin anhand von Sheriff Pope illustrieren, der vor der globalen Katastrophe lange Zeit drogenabhängig und dann Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma war (vgl. ebd., S1E5, »The Truth«), anhand der früheren FBI-Agentin Kate, die in Wayward Pines ein Geschäft für Kinderspielzeug leitet, und schließlich anhand von Rebecca, die in den 2010ern eine erfolgreiche Architektin ist (vgl. ebd., S2E5, »Sound the Alarm«) und mehr als 2000 Jahre später in einem Schönheitssalon arbeitet. Das Maklerbüro ist neben der Leitungsebene im Bergmassiv und dem Büro des Sheriffs die einzige Institution, die Dokumente mit persönlichen Daten der jeweiligen Bewohner besitzt und eine Art Schleuser-Funktion erfüllt, da es Häuser an die aus dem Tiefschlaf erwachenden Menschen vergibt; vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Ebd., S1E7, »Betrayal«.

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IV. Analyse der Serienräume

werden: Die eindimensionale Rolle der Hausfrau und Mutter beschränkt Helen Smith auf Orte wie Wohnhaus bzw. Apartment, Nachbarschaft und Läden des täglichen Gebrauchs. Ähnlich hierarchisierte Anordnungen innerhalb der dystopischen Zentren existieren jedoch nicht in 3 %, Trepalium und Alpha 0.7: Hier zeichnen sich keine spatialen Zuordnungen nach Genderzugehörigkeit ab, Unterschiede bestehen allenfalls zwischen den Vertretern der Regierungen und der Bevölkerung des jeweiligen Zentrums, weil erstere sich wiederum separieren und zugleich größere Mobilität besitzen.17 Aktivitäten in der Gruppe werden in den dystopischen Zentren an eigens dafür vorgesehenen, meist öffentlichen Orten ausgetragen. Ihre Freizeit verbringen die Bewohner von Wayward Pines überwiegend in der Gegenwart ihrer Mitbürger u.a. beim Barbecue mit Nachbarn und Familie im Park,18 im Biergarten19 oder auf der Hauptstraße während des »Fellowship Gatherings«.20 Auch der Veteranentag in The Man in the High Castle wird als Feiertag in Gemeinschaft und vor aller Augen, im heimischen Vorgarten, zelebriert.21 Auf der Insel Maralto in 3 % werden Freizeitaktivitäten ebenfalls in der Gemeinschaft und in öffentlichen Räumen ausgeführt. In der Episode »Capítulo 01: Espelho« finden sportliche Übungen auf einer Wiese unweit eines Buffets statt, an dem sich die Bewohner zum gemeinsamen Essen versammeln. Die Tatsache, dass Michele ihre Mahlzeit allein einnehmen möchte, scheint so ungewöhnlich, dass Rafael sie auf mögliche Sanktionen für ihr sozial unangemessenes Verhalten hinweist, woran zugleich die gesellschaftliche Relevanz öffentlicher Zusammenkünfte deutlich wird.22

2.1.2 Überwachung und Disziplinierung Sichergestellt werden die staatlichen, semi-staatlichen oder konzerngeleiteten Anordnungen durch physische Grenzen und Überwachungsstrategien. Wie bereits dargestellt sind Abgrenzung und Kontrolle Charakteristika vieler Gemeinschaften in Dystopien.23

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Vgl. u.a. Premierministerin Passeron in Trepalium, deren Wohnung weitaus luxuriöser ausgestattet ist als die des leitenden Angestellten Ruben. Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Vgl. ebd., S1E4, »One of Our Senior Realtors Has Chosen to Retire«. Ebd., S1E8, »Choices«. In der Episode, »Betrayal«, schlägt Meghan ein Angebot Theresas zu einem privaten Abendessen in deren Haus mit ihren jeweiligen Ehemännern aus, weil Theresa und ihr Mann mehr von der Stadt sehen sollten (ebd., S1E7). Beide Paare treffen sich schließlich im Biergarten, in dem ein Großteil der zu diesem Zeitpunkt bekannten volljährigen Bürger zusammentrifft. Die Anregung eines Treffens im öffentlichen Raum durch Meghan ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Bürger der Kleinstadt die Praxis des öffentlichen ›Aufführens‹ sozialer Aktivitäten bzw. den von Seiten der ›Regierung‹ geförderten Panoptismus internalisiert haben. Vgl. The Man in the High Castle, S1E6, »Three Monkeys«. Fink zufolge wird in dieser Episode im unterscheid zu den anderen Folgen der ersten Staffel das Alltagsleben der Bürger des American Reich inszeniert, wobei nostalgische Bilder der 1960er satirisch überzeichnet würden; vgl. Fink, Moritz (2016): Why America Fought: Post-Postmodernism in Amazon’s The Man in the High Castle. In: Spiel. Neue Folge. Eine Zeitschrift zur Medienkultur/Journal of Media Culture 2.2, S. 127–146, hier S. 134–139. Vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. Vgl. u.a. Marks 2015, S. 104 sowie II.4.2 in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Als extremer Auswuchs der Abgrenzung von Figurengruppen in dystopischen Gemeinschaften gelten Abbott zufolge »carceral cities« – Städte, »that imprison their residents even with the best of intentions«.24 Grenzen sind in den hier untersuchten seriellen Dystopien allgegenwärtig: Mit Ausnahme von Alpha 0.7 werden sie bereits in den Serienanfängen als handlungsbestimmend eingeführt und insbesondere mit deren wiederholten Überschreitung hervorgehoben.25 Ihre Etablierung dient der Kontrolle des sozialen Verhaltens und lässt Rückschlüsse auf Identität und Werte der jeweiligen Gesellschaft zu. In Wayward Pines wird die Isolation der Gemeinschaft von der Außenwelt mit Blick auf die drohende Gefahr der Abbies begründet, ironischerweise sind die Bewohner aber zugleich selbst der Bewegungsfreiheit beraubt und Gefangene ihrer carceral city. Auch die Stadtgesellschaft in Trepalium schottet sich vor dem Devianten ab, in diesem Fall personifiziert durch eine Schar Mittelloser. Allerdings wird durch die Mauer das soziale Gefälle und somit auch die Bedrohlichkeit unproduktiver Verhaltensweisen wie Solidarität mit Schwächeren oder Zustände wie Krankheit innerhalb der Stadt potenziert, da die geringste Abweichung von der Norm die konkrete Zuordnung zu den Outlaws im Ghetto nach sich zieht.26 Die soziale Grenze zwischen Insel und Slum in 3 % ist in beide Richtungen gleichermaßen stabil, da der Zugang zum Paradies über die Wettkämpfe fast unmöglich und die rekursive Bewegung ins Ghetto eher unwahrscheinlich ist, gemessen an dem Lebensstandard, der mit der Rückkehr auf dem Spiel stünde. The Man in the High Castle hebt sich von diesen Fällen insofern ab, als die Grenzen der Nationalstaaten nicht zugleich ein soziales Gefälle markieren. In der Serie wird immer wieder deutlich, dass unterhalb der Oberflächenstruktur der scheinbar uniform geregelten und weltumspannenden Japanese Pacific States und des Greater Nazi Reich die verschiedensten sozialen Mikrokosmen koexistieren, und dass auch in der ›Neutralen Zone‹ sowohl despotische Enklaven (z.B. Canon City) als auch Refugien der Verfolgten des Systems vorkommen (z.B. Sabra). Die physischen Grenzziehungen zwischen Gesellschaften in den dystopischen Serien eint die Referenz auf extratextuelle Diskurse um Renationalisierung und Abschottung vor Krisen seit den 2010er Jahren, die nicht mehr statisch auf ein Territorium konzentriert sind, sondern selbst migrieren, sich in der medialen Wahrnehmung verstärken und an Diversität gewinnen.27 Abgrenzungen in Dystopien können Marks zufolge mit 24 25 26

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Abbott 2016, S. 50. Vgl. hierzu IV.2.2.3 in dieser Arbeit. So droht die Krankheit von Silas, dem Vater von Rubens, ihn arbeitsunfähig zu machen. Da er die Stadt verlassen müsste, falls er für die medizinische Betreuung nicht aufkommen könnte, hält er seine Erkrankung geheim; vgl. Trepalium S1E1. So erkennt Powell 2018 in The Man in the High Castle eine Reaktion auf den Rechtspopulismus von US-Präsident Donald Trump und anderer Politiker sowie politischer Organisationen westlicher Staaten; vgl. Powell, Zachary Michael (2018): The Ethics of Alternate History: Melodrama and Political Engagement in Amazon’s The Man in the High Castle. In: South Atlantic Review 83.8, S. 150–169, hier S. 155, 160. Der Journalist Handelzalts betrachtet Trepalium sowohl als Metapher für die Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern als auch für die Migrations- und Flüchtlingskrise Europas seit 2015; vgl. Handelzalts, Michael (10.04.2018): A Dystopian French Mini-series as a Metaphor for the Israeli Occupation. In: Haaretz. https://www.haaretz.com/life/television/.premium-dystopi an-french-mini-series-as-a-metaphor-for-israeli-occupation-1.5412639, aufgerufen am 1.08.2020. Wayward Pines bzw. die der Serie zugrundeliegende Roman-Trilogie spiegeln – intendiert oder

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IV. Analyse der Serienräume

Blick auf ein durch andere soziale Schichten ausgelöstes Bedrohungsgefühl stattfinden, und sich in sogenannten »Compounds« bzw. »›privatopias‹«, d.h. Refugien für privilegierte Gruppen, manifestieren.28 Die intra- und extratextuellen Gründe für gesellschaftliche Isolation und den Erfolg despotischer Führer und Führergruppen der dystopischen Serien sind Massenarbeitslosigkeit, verschwenderischer Umgang mit natürlichen Ressourcen, Umwelt- und Klimakatastrophen sowie Krieg und atomare Bedrohung. Alpha 0.7 reiht sich diesbezüglich nicht in die Textgruppe ein, weil die Serie die allgegenwärtige Überwachung der Privatsphäre durch supranationale Institutionen wie die Europäische Union und globalen Handel u.a. mit China, befördert sieht. Die Serie betrachtet zwar nicht internationale Zusammenarbeit als Bedrohung, stützt aber dennoch einen in politisch links gerichteten Kreisen verbreiteten Skeptizismus gegen globale und multilaterale Kooperationen. Durchgehende Merkmale der dystopischen Serien sind die Disziplinierung von Figuren durch Architektur, technologische Überwachung sowie filmische Inszenierungen, die den Eindruck räumlicher Kontrolle evozieren. Marks sieht eine langwährende Interaktion zwischen Architektur und Überwachung in Eu- und Dystopien, die er über Jeremy Benthams Panoptikon und die gläsernen Bauten in Wir bis hin zu Thomas Morus’ Utopia rückverfolgt.29 Diese Tradition der raumgebundenen Disziplinierung lässt sich auch in weiteren Dystopien freilegen. In Nineteen Eighty-Four stellen Bildschirme in den Privatwohnungen der Parteimitglieder deren lückenlose Überwachung sicher30 und pervertieren das Zuhause als geschützten Raum ebenso, wie die politisch geförderte Bespitzelung von Eltern durch ihre Kinder.31 Die Transformation des häuslichen in einen öffentlichpolitischen Raum findet ebenfalls durch die eigenen Kinder in Equilibrium, durch als Angestellte getarnte Eyes (Mitarbeiter des Geheimdienstes Gileads) in The Handmaid’s Tale und sowie durch Dienerschaft und Nachkommen in Swastika Night statt.32 Anhand dieser Aufzählung wird deutlich, dass die vermeintlich eutopischen Zentren von Dystopien in Literatur, Film und TV-Serie, die nur ausgewählten Individuen Zutritt gestatten, viel stärker überwacht werden als die sie umgebenden Peripherien: »Surveillance operates to establish and maintain the distinction between the ideal and the imperfect, between the desired and the dilapidated«.33 Innerhalb dieser Räume für privilegierte Gruppen, zu denen Marks u.a. die Innenstadt von Gattaca sowie A-Io in Ursula De Guins

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unbewusst – ebenso Diskurse um die Abschottung westlicher Staaten (USA) oder Staatengemeinschaften (Europäische Union) gegenüber Gruppen, die als gefährlich, unproduktiv oder aufgrund von Kultur und Religion ›abweichend‹ betrachtet werden; vgl. auch Lavigne 2018, S. 153. Marks 2015, S. 105. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Glišović 1992, S. 215. Vgl. Meyers, Jeffrey (2012): Spies in Nineteen Eighty-Four. In: Notes on Contemporary Literature 42.4. https://link.gale.com/apps/doc/A367642315/AONE?u=fub&sid=AONE&xid=53053685, aufgerufen am 1.08.2020. Vgl. Equilibrium (2002), USA, Regisseur: Kurt Wimmer und The Handmaid’s Tale, S1E1, »Offred«. In Swastika Night kann Friedrich von Hess seinem Diener Heinrich bezüglich seiner geheimen historischen Aufzeichnungen ebenso wenig trauen (vgl. Burdekin 1985 [1937], S. 64) wie seine männlichen Vorfahren sich sicher sein konnten, dass ihre Söhne vor deren Volljährigkeit verantwortungsvoll mit dem familiären Geheimnis umgehen können (vgl. ebd., S. 118). Marks 2015, S. 109.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

The Dispossessed zählt, kommt es zu teilweise exzessiver Überwachung untereinander im Sinne des Panoptismus.34 In seriellen Dystopien des Post-TV liegen panoptische Architekturen in geringerem Maße vor. Die wenigen Symptome einer solchen Bauweise sind die bodentiefen Fenster an der Vorderseite der Wohnhäuser und deren geringe Abstände zu ihren Nachbargebäuden in Wayward Pines (Nachbarschaft Familie Burke), The Man in the High Castle (Nachbarschaft Familie Smith) und Alpha 0.7 (Nachbarschaft Familie Berger) sowie das Großraumbüro von Aquaville in Trepalium, in dem Thaïs bzw. Izia arbeitet.35 Auffallender sind die technischen Überwachungsmechanismen, die in die privaten Räumen implementiert sind: Zu nennen sind statische Mikrophone und Kameras36 sowie Chips, die in die Körper oder Kleidung der Menschen implantiert werden, um ihre Bewegungen und Standorte nachzuvollziehen.37 Somit wird jeder Ort, den ein Mitglied der dystopischen Gemeinschaft betritt, im Moment seiner Präsenz zu einer öffentlich-politischen Sphäre. In dem scheinbar privaten Raum wird der allgegenwärtige Panoptismus der Serien besonders deutlich, weil selbst hier systemkonforme Verhaltensweisen kaum abgelegt werden. Exemplarisch hierfür steht, dass Rubens Frau Thaïs in Trepalium auch in ihren eigenen vier Wänden ihrer Tochter, die aufgrund ihrer Sprechbehinderung für die neo-kapitalistische Gesellschaft unbrauchbar ist, keinerlei Anzeichen von Zuneigung zukommen lässt.38 Motive der Überwachung und Kontrolle werden filmästhetisch hervorgehoben, wenn Räume als hermetisch geschlossen inszeniert werden und die Figuren gleichsam als Gefangene der Container-Räume erscheinen. So wird z.B. durch die Anordnung der dargestellten Elemente im Bildraum im cold opening von Trepalium die Zone als geschlossener Raum inszeniert.39 In The Man in the High Castle werden Figuren durchgehend durch transparente und semi-transparente Flächen präsentiert (vgl. Abb. 21) oder vor Raumteilern und Fenstern stehend (vgl. ebd. sowie Abb. 22), wodurch sie wie Exponate einer Ausstellung wirken und die Ausweglosigkeit ihrer jeweiligen Situation unterstrichen wird. Die Mise en Scène vieler Einstellungen von Alpha 0.7 ist dadurch gekennzeichnet, dass der diegetische Raum verengt erscheint, etwa, weil eine Kameraperspektive gewählt wird, in der Decke und Boden fluchtpunktartig aufeinander zulaufen und eine bildinterne Rahmung entsteht, die Figuren oder andere fokussierte Objekte künstlich eingeengt wirken lässt (vgl. Abb. 23, 24).

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Ebd., S. 116. Vgl. Trepalium, S1E1. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, The Man in the High Castle, S2E9, »Detonation«. Obgleich nicht in einem geschlossenen Raum findet die Abhörung eines privaten Gesprächs zwischen der Tochter von Obergruppenführer Smith und ihrem Schulfreund auf einer Parkbank mittels Mikrophons statt, um die Familie Smith zu denunzieren; vgl. ebd., S4E7, »No Masters But Ourselves«. Vgl. Wayward Pines, »Do Not Discuss Your Life Before«, Trepalium, S1E1, 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos« sowie und Alpha 0.7 S1E2, »Schizophren«. Vgl. Trepalium S1E1. Vgl. hierzu IV.1.1.1, Analyse zu Trepalium in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

Darüber hinaus liegen in den Serien Einstellungen vor, die z.B. aufgrund ihrer Perspektive und Bildqualität an Aufnahmen von Überwachungskameras erinnern40 sowie durch die verstärkte Auswahl geschlossener Locations als Handlungsorte die Figuren isoliert erscheinen lassen. In Alpha 0.7 kommen durchgehend Aufnahmen vor, die den Rezipienten die Wahrnehmung über eine Überwachungskamera nahelegen. Der Dreh in beengten Räumen ist in 3 %, vor allem aber in Trepalium auffallend, weil hier die überwiegende Anzahl der Szenen kaum in Landschaften oder der Wildnis stattfindet, sondern fast immer in Zimmern oder Straßen.41 Einerseits erinnert die Rauminszenierung durch die Geschlossenheit und begrenzte Anzahl von Räumen und Orten an Daily Soaps,42 mutet zugleich aber aufgrund der düsteren Handlung und der durchgehend schwachen Beleuchtung klaustrophobisch an. Es ist bezeichnend, dass selbst die in die Stadt integrierten Zonenbewohner diese nicht unmittelbar erfahren, sondern per Bus in einer langen Einstellung mit Raumexposition zu ihren Arbeitgebern transportiert werden.43

2.1.3 Menschenfeindliche Architekturen Der Architektur der dystopischen Zentren sowie ausgewählter repräsentativer Bauten ist zu entnehmen, dass für die fiktiven Gesellschaften die Masse einen hohen Wert besitzt, die Freiheit des Individuums aber keine Rolle spielt. Die Architekturen wirken disziplinierend auf Körperhaltung und Bewegungen der Bürger und bringen ihre Verachtung für deviante menschliche Formen und Regungen zum Ausdruck. Die Städte in Wayward Pines und Trepalium sind eher auf die Gruppe als den Einzelnen ausgerichtet. Panorama- und Totale-Einstellungen, in denen Straßen und Gebäude in Wohnvierteln im Bildraum symmetrisch oder als uniforme Masse angeordnet sind, legen die Bevormundung der Bewohner durch die dystopische Raumplanung nahe (vgl. Abb. 25, 26). Die Wohnhäuser beider Serien sind jeweils von außen nicht zu unterscheiden, parallel zueinander ausgerichtet und referieren sowohl auf vorfilmischer Ebene als auch durch die Anordnung in der Mise en Scène einiger Einstellungen (vgl. ebd.), die sie in Reihen, entlang von Straßen sowie in der Aufsicht zeigen, auf maschinell-serielle Fertigung. Ähnliche Tendenzen liegen mit Blick auf die Architektur der Insel in 3 % sowie auf die Gebäude im nationalsozialistischen Baustil in The Man in the High Castle vor, von denen zwar im American Reich nur wenige gezeigt werden, dennoch aber als

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Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«, S1E6, »Choices« sowie Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«, S1E6, »Der freie Wille«. Wenige Ausnahmen liegen in 3 % mit der Erkundung des Strandes von Maralto (vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«) sowie Aufnahmen in der Wüste im Umfeld der Concha in der dritten Staffel vor. Selbst die Flucht von Michele und ihrem Bruder durch den Wald der Insel mündet sofort wieder im geschlossenem Raum des unterirdischen Bunkers (vgl. ebd., S2E8, »Capítulo 08: Sapos«). Die Wahl mehrheitlich geschlossener Schauplätze ist sicherlich zuerst auf produktionstechnische und ökonomische Faktoren zurückzuführen (vgl. hierzu II.3.2.1 in dieser Arbeit), ruft aber dennoch eine ästhetische Wirkung mit Implikationen für die Semantik der Räume hervor. Vgl. Bleicher 1999, S. 200 zu den Räumen der Daily Soap. Vgl. Trepalium, S1E1.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Referenzpunkt intradiegetisch bestehen und ebenfalls die Uniformierung des Bürgers einfordern.

Abb. 21 (links): The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«, 00:46:25; Abb. 22 (rechts): The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«, 00:24:43.

Abb. 23 (links): Alpha 0.7, »Schizophren«, S1E2, 00:07:20; Abb. 24 (rechts): Alpha 0.7, »Auf der Flucht«, S1E4, 00:02:12.

Abb. 25 (links): Wayward Pines, S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before«, 00:33:21; Abb. 26 (rechts): Trepalium, S1E1, 00:40:30.

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IV. Analyse der Serienräume

Abb. 27 (links): Trepalium, S1E1, 00:15:31; Abb. 28 (rechts): Trepalium, S1E4, 00:08:07.

Der Vergleich der Interieurs verschiedener Häuser aus Wayward Pines u.a. von Kate Ballinger, Ethan Burke und Rebecca Yedlin, legt offen, dass die Gebäude nicht nur von außen, sondern auch von innen austauschbar sind.44 Küche und Wohnzimmer zeugen vom selben Landhausstil mit deutlicher Nähe zu idealisierten Naturbildern, erscheinen modern und frisch und zugleich durch eine Fülle an Details individualisiert, sind jedoch nicht für die einzelne Wohnpartei, sondern die gesamte Gesellschaft konstruiert. In diesen scheinbar privaten Räumen, in denen durch die Dominanz von Holz als Baumaterial, weiche Sofas mit Kissen und Decken eine warme Atmosphäre inszeniert wird, existiert kein Bild, kein Möbelstück oder Wandanstrich, der eine Aussage über die Vergangenheit und Interessen der Bewohner ermöglicht. Auch Veränderungen bestehender Lebensverhältnisse, die z.B. durch die Hinrichtung Beverlys und den Suizid Peter McCalls entstehen,45 hinterlassen in den Häusern keine Spuren. Sogar die Musik in den Straßen und Wohnungen von Wayward Pines ist uniform – über Lautsprecher in Bäumen und Radios in den Gebäuden sind dieselben Klavierkonzerte an mehreren Orten der Stadt zur gleichen Zeit zu hören.46 Ähnlich steril wirkt die Wohnung von Rubens Familie (Trepalium), wobei deren mangelnde Individualität dadurch verstärkt wird, dass Maëlles Spielzeuge wöchentlich durch einen zentralen Dienst ausgetauscht werden und dass eines der wenigen dekorativen Elemente, die Videowand im Wohnzimmer, mit Werbung für den Konzern Aquaville bespielt wird.47 Ebenso antiseptisch gestaltet sind die Wohnungen von Rafael und Michele auf der Insel in 3 %. Die eingangs dargestellte symbolische Funktion von Räumen bezüglich einzelner Figuren nach Frank liegt mit Blick auf die Bauten der dystopischen Zentren nicht vor, weil die Bürger in den dystopischen Zentren ihre Räume

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Vgl. hierzu exemplarisch die Darstellungen der Küchen in den Häusern von Kate und Harold in Wayward Pines (S1E3, »Our Town, Our Law«), der Familie Burke (vgl. ebd.) sowie des neu zugezogenen Wayne Johnson (ebd., S1E5, »The Truth«). Vgl. hierzu ebd., S1E2, »Do Not Discuss Your Life Before« bzw. S1E4, »One of Our Senior Realtors Has Chosen to Retire«. Vgl. ebd., S1E4, »One of Our Senior Realtors Has Chosen to Retire« und S2E1, »Enemy Lines«. Vgl. Trepalium, S1E1.

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kaum mit Blick auf eigene Qualitäten gestalten oder das System diese Gestaltung an ihrer Stelle vornimmt. Die repräsentativen Räume von Regierungen und Konzernen in den seriellen Dystopien fordern eine sprichwörtliche Lautlosigkeit ihrer Bürger ein, da unkoordinierte und zu schnelle Bewegungen hier widerhallen. Dies wird in der Exposition des Konzerngebäudes in Trepalium deutlich, weiterhin auch mit Blick auf die Eingangshalle des Wettbewerbs-Gebäudes in 3 %,48 den Pressesaal des National Pre-Crime Centers in Alpha 0.7 und die Große Halle in The Man in the High Castle.49 Diese Bauten ›denken‹ Menschen nicht als Individuen, sondern stets als Masse, was an ihren großzügigen Ausmaßen und dem exzessiven Ausstellen von Raumvolumina erfahrbar wird, die in besonders hohen oder breiten Hallen möglich sind. Der Sitz des Konzerns Aquaville in Trepalium erscheint gleich in der Anfangssequenz der ersten Episode übermenschlich groß und lässt die Mitarbeiter verschwindend klein wirken. Ausgelöst wird dieser Eindruck durch eine Drehung der Kamera um die eigene horizontale Achse, wobei die Eingangshalle des Gebäudes von der Decke bis hin zum Untergeschoss dargestellt wird.50 Obgleich die Angestellten durch ihre reduzierten Bewegungen und starren Körperhaltungen durchaus die Geometrie des Raums, die Betonung der Vertikalen und die Tristesse der unverschalten Betonwände widerspiegeln, scheinen sie verloren in der Eingangshalle und wie Fremdkörper oder Beiwerk des Raums. Der schmucklose Bau mit der Betonung gerader, langer Linien enthält keine Ornamente oder architektonischen Details und somit weder optischen noch physischen Halt für die Angestellten, wodurch ein Eindruck der Unsicherheit und Bedrohung evoziert wird. Ähnlich wird die Eingangshalle des Processo-Gebäudes in 3 % inszeniert, wobei ihre einschüchternde Wirkung und Bedrohlichkeit im Vergleich zu dort agierenden Menschen dadurch unterstrichen wird, dass in der Eingangsszene die Bewerber im Erdgeschoss, der Spielleiter Ezequiel aber, sekundiert von seinen Mitarbeitern, von der Galerie aus zu ihnen hinunterblickt und -spricht.51 Einzelräume in Trepalium wirken ähnlich beklemmend und passen sich nicht an die äußere Form des menschlichen Körpers an. Dies gilt sowohl für diejenigen Räume, die von Führungspersonen von Stadtstaat und Konzern als auch für solche, die von Angestellten besetzt werden. Die Büros der leitenden Angestellten und des Konzernchefs in Aquaville sowie das Büro der Premierministerin erscheinen in ihrer filmischen Inszenierung in die Breite gezogen, nach oben und unten aber stark begrenzt, weshalb die sich in ihnen aufhaltenden Menschen gedrungen anmuten und vom Raum dominiert werden. Dieser Eindruck wird durch die Aufnahme von Räumen in der Totalen und Halbtotalen, das Ausblenden von Türen, Fenstern und anderen Öffnungen in der Mise en Scène sowie die Platzierung der Kamera erreicht, die jeweils einen Teil von Decke und Boden einfängt (vgl. Abb. 27, 28).

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Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Vgl. The Man in the High Castle, S2E10, »Fallout«. Vgl. Trepalium, S1E1. Die Inszenierungen der jeweiligen hallen in Trepalium und 3 % erinnern an die Innenräume von Kirchen oder Kathedralen, weil diese Bauten ebenso das Gefühl der »verlorenen, gewissermaßen haltlosen Anwesenheit im übergroßen Raum« evozieren, das Böhme in seiner Analyse des Kirchenraums beschreibt; Böhme 2013, S. 146.

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IV. Analyse der Serienräume

Darüber hinaus wird der klaustrophobe Charakter einzelner Räume wie dem Büro der Premierministerin z.B. dadurch verstärkt, dass mehrere Perspektiven innerhalb einer Einstellung angedeutet werden (vgl. Abb. 28) und von der strengen geometrischen Konstruktion, wie sie z.B. im Gebäude von Aquaville vorherrscht, abgewichen wird.52 Die Premierministerin, Jeff und Zoé befinden sich in einer Szene hinter einem Schreibtisch, aber an unterschiedlichen Punkten zwischen Tisch und dahinterliegender Wand. Die Platzierung der Figuren in einer gedachten ungeraden Linie zwischen linkem und rechtem Bildrand sowie der Standort der Figuren, der von der Premierministerin hin zu Zoé immer weiter in den hinteren Bildbereich versetzt wird, evozieren den Eindruck räumlicher Tiefe und Breite. Der Schreibtisch erzeugt hingegen eher einen ›flachen‹ Raumeindruck, da er die Figuren vertikal spiegelt und somit künstlich bis zum unteren Bildrand ›verlängert‹. Die Linie zwischen der beleuchteten Decke und der Rückwand verläuft von oben links nach unten rechts und spiegelt somit die Innenkante des Schreibtischs im Bildvordergrund, die von unten links nach oben rechts leicht ansteigt. Beide Diagonalen generieren auf der linken Seite des Bildes Weite, auf der rechten jedoch Enge. Dieser Gegensatz wird dadurch akzentuiert, dass Jeff und Zoé im rechten, ›engen‹ Bereich stehen und Jeff beinahe von der Decke tangiert wird, während die Premierministerin auf der linken Seite, an der der Abstand zwischen Schreibtischkante und Decke am größten ist, sitzt. Durch diese Mise en Scène wirkt Jeff deutlich größer als die beiden anderen Figuren und sein Status als Außenseiter wird dadurch akzentuiert. Die Wirkung steht aber im Missverhältnis zu den tatsächlichen Figurengrößen, die, nah nebeneinander platziert, ihre natürlichen Maße ungeachtet der Trapezform des Raums beibehalten. Diese räumlichen und perspektivischen Inkongruenzen erinnern an Ames-Räume sowie die »›[g]estört[en]‹« Räume expressionistischer Filme wie Das Cabinett des Dr. Caligari.53 Die Rauminszenierung unterstreicht die ausweglose Situation der Figuren innerhalb der dysfunktionalen Gesellschaft. Die Arbeitsplätze der Angestellten von Aquaville muten wie Käfige an, in die sich die Mitarbeiter einfügen müssen.54 Exemplarisch hierfür stehen die Großraumbüros, deren Wände Gittern gleichen sowie die Einzelräume von Angestellten wie Ruben, die Gefängniszellen ähneln.55 Damit ›formuliert‹ der Raum Erwartungen an die hier lebenden Menschen: Sie sollen sich ihrer geringen physischen Ausmaße, aber auch ihrer minderen sozialen und ökonomischen Relevanz durch beständige Anpassung in klaustrophobische Orte im Wechsel zu Räumen ohne konkreten Halt und somit ohne Sicherheit abwechselnd eingeengt und verloren fühlen.56 52

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Vgl. Trepalium, S1E4. Auch in Einstellungen, die zu Beginn von Szenen stehen, die im Unterschlupf der Rebellen spielen, erscheint der Raum gedrungen und in die Breite gezogen; vgl. ebd. Zwar ist hier der Kontext ein anderer als in den Büros der wirtschaftlichen und politischen Elite, da sich die Rebellen in einem Tunnelsystem unter der Erde treffen. Dennoch kann die ähnliche filmästhetische Darstellung die Gegenspielerposition von Verfechtern und Gegnern des Systems untermalen. Für den Begriff des Ames-Raums vgl. Schmidt 2013b, S. 66; zur Raumkonstruktion im expressionistischen Film der Weimarer Republik vgl. ebd., S. 33f. Vgl. Trepalium, S1E1. Vgl. ebd. Selbiges gilt für die klinischen Hallen und engen Arbeitsräume im Bergmassiv von Wayward Pines, für die monumentalen Atrien und Hallen in The Man in the High Castle, den Kontrast zwi-

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

2.1.4 Spielräume und Laboratorien Die Anordnung und Überwachung der Figuren in abgegrenzten Räumen sowie ihre Steuerung durch mächtige Gruppen oder Einzelpersonen ruft Ähnlichkeiten der dystopischen Räume und ihrer Bewohner mit Spielen und Experimenten hervor. Seit den 1970er Jahren scheint sich mit Spielfilmen wie Rollerball (1975), Westworld (1973), Das Millionenspiel (1970), Gamer (2009) und The Island (2005) ein Subgenre der Dystopie herauszubilden, dass totalitär organisierte Gesellschaften oder isolierte Gemeinschaften mit der Spannung des Spiels sowie der Bedrohung durch unbekannte Mächte paart und sie mitunter intradiegetisch als Spektakel organisiert, das an ein Massenpublikum gerichtet ist.57 Unter dem Einfluss der Hunger Games-Trilogie und der Maze Runner-Serie erfährt die ludische Dystopie schließlich eine besondere Blüte.58 Laut Kanzler erkunden vor allem neuere Fernsehserien und insbesondere die Serie Westworld den »Grenzraum zwischen Narrativ und Spiel als Momentum«.59 Dystopischen Serien ist das Motiv der Verschwörung einer unbekannten Macht, die Isolation von Helden in abgegrenzten Räumen wie Themenparks, Feriendörfern oder Inseln durch Dritte nicht fremd. Räume des Spiels und des Experiments kommen unabhängig oder in Kombination miteinander in The Prisoner und Persons Unknown, unter den aktuellen Serien auch in The I-Land (2019), den Episoden »15 Million Merits« (2011) und »White Bear« (2013) der Anthologie-Serie Black Mirror sowie der Serie Westworld vor.60

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schen Eingangshalle und Arbeitszellen im Processo-Gebäude von 3 % bzw. dem Bau der Protecta Society von Alpha 0.7. Vgl. Rollerball (1975), UK/USA/CDN, Regisseur: Norman Jewison; Westworld (1973), USA, Regisseur: Michael Crichton; Das Millionenspiel (1970), D, Regisseur: Tom Toelle, Gamer (2009), USA, Regisseure: Mark Neveldine/Brian Taylor; und The Island (2005), USA, Regisseur: Michael Bay. Das Millionenspiel, Rollerball und die filmische Hunger Games-Serie sowie The Running Man (1987) und Gamer ordnet Angelika Unterholzner der Kategorie der Mediendystopie zu: »In Mediendystopien werden Menschen der einen Klasse in Arenen geschickt, um sich zur Unterhaltung der anderen Klasse zu bekämpfen«; Unterholzner, Angelika (2013): Dystopischer Jugendfilm – Trends, Themen und Motive. In: filmABC. www.filmabc.at/documents/55_FilmheftFilmABC_Dystopien.pdf, aufgerufen am 29.07.2020. Zum Verhältnis von Raum und Spiel in Collins’ The Hunger Games-Trilogie vgl. Halsall, Alison (2019): Playing with Space in Suzanne Collins’s The Hunger Games-Trilogy and Koushun Takami’s Battle Royale: Remastered. In: The Journal of Popular Culture 52.1, S. 117–136. Zur medialen Inszenierung der Hunger Games in Collins gleichnamiger Trilogie sowie ihrer Nähe zum reality television vgl. Wright, Katheryn (2012): Revolutionary Art in the Age of Reality TV. In: Pharr, Mary F./Clark, Leisa (Hg.): Of Bread, Blood and The Hunger Games. Critical Essays on the Suzanne Collins Trilogy. Jefferson: McFarland, S. 98–107; zur Funktion televisueller Inszenierung der Spiele und der Rolle der Zuschauerschaft in der Filmadaption vgl. Gagnon, Mollie (2015): Media and Hyperreality in the Film Adaptations of Suzanne Collins’ Hunger Games Trilogy. In: Keppell, Matthew Wilhelm/Pilkington, G. Ace (Hg.): The Fantastic Made Visible: Essays on the Adaptation of Science Fiction and Fantasy from Page to Screen. Jefferson: McFarland, S. 133–144. Kanzler 2018, S. 55. Vgl. The I-land (2019), USA: Netflix, Creator: Anthony Salter; Black Mirror, S1E2, »15 Million Merits« sowie S2E2, »White Bear«.

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IV. Analyse der Serienräume

Unter den in dieser Arbeit verhandelten Kernserien entspricht einzig 3 % diesem emergierenden Subgenre in Gänze. Gründe für diese Zuordnung sind die Wettkämpfe, ihre experimentelle Anordnung und Steuerung sowie ihre Funktion für die fiktive Gesellschaft. Aber auch das Leben auf der Insel trägt ludische Züge: Da für Essen, Medizin und Unterhaltung nach dem erfolgreichen Abschluss der Aufnahmeprüfungen von den Bewohnern keine Leistungen mehr erbracht werden müssen, bewegen sie sich zwischen gemeinschaftlicher Nahrungsaufnahme am Buffet und öffentlichen Fitness-Übungen wie in einem Freizeitpark.61 Die Raum-Figur-Beziehungen der anderen dystopischen Serien sind zumindest von den genannten ludisch-experimentellen Dystopien beeinflusst. In Alpha 0.7 wird Johanna Berger als Laborversuch der »Protecta Society« betrachtet. Der Konzern sieht sie nicht als Privatperson mit individueller Geschichte, sondern archiviert und steuert Johanna als den Versuch »Alpha 0.7«. Nach dem Einfügen des Chips in Johannas Körper wird sie zum Cyborg und zu einem Mord gezwungen, dessen mediale Verbreitung die gesellschaftliche Zustimmung zur breiteren technologischen Überwachung herbeiführen soll.62 Die Bewohner von Wayward Pines finden sich in einem Großraumexperiment wieder, einer Inszenierung des Kleinstadtlebens, in dem jeder für die Mitbürger sowie unbekannte Dritte möglichst authentisch den zufriedenen Citoyen ›spielt‹. Ferner kann die »mesure des emploi solidaire«, die ›Maßnahme zur solidarischen Anstellung‹ der Premierministerin in Trepalium, mit der die Integrationsfähigkeit der Stadtgesellschaft bewiesen werden soll,63 auch als politische Inszenierung gedeutet werden, in der Menschen entgegen ihrer Bedürfnisse vom einen Raum in den anderen bewegt werden: Die Bewohner der Zone bekommen im Losverfahren Arbeitserlaubnisse, letztlich handelt es sich bei der gesellschaftlichen Öffnung aber um den Versuch, die Weltbank zur Vergabe eines Kredits zu bewegen. Die Funktion der Figuren als Avatare im Raum, die von Konzernen, Regierungen oder regierungsähnlichen Organisationen bewegt werden, wird durch Karteninszenierungen reflektiert, z.B. in den opening credits von Wayward Pines, in denen Spielfiguren in einem Miniaturmodell der Stadt und ihres Umlandes zu sehen sind, oder in der digitalen Karte, die zu Beginn der Wettkämpfe den Bewerbern in 3 % präsentiert wird, aber auch im virtuellen Raummodell, das per Chip in Johannas Gehirn transferiert wird und ihr die Navigation im Schloss Hohenheim auf dem Weg zum Attentat auf die Ministerpräsidentin erleichtert.64 Die mediale Vermittlung der Spiele und Experimente ist zugleich aber auch eine Reflexion televisueller Unterhaltung: Die Inszenierung der Kleinstadtidylle in Wayward Pines referiert auf Daily Soaps und die Interpretation von familiären Werten im Fernsehen ebenso, wie der Zugang zu Ressourcen und menschenwürdigem Leben über brutale Wettbewerbe in 3 % eine Kritik am Format der Reality Show ist.

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Einzelne Bewohner der Insel gehen aber dennoch Tätigkeiten nach: So ist z.B. Rafael in der zweiten Staffel von 3 % Teil der Sicherheitskräfte, seine Freundin Elisa gehört zum medizinischen Personal. Vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Der freie Wille«. Trepalium, S1E1. Vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Der freie Wille«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

2.1.5 Abseits der Scheinwerfer Allerdings finden die Figuren innerhalb der dystopischen Zentren sowie außerhalb ihrer Grenzen Territorien oder einzelne Orte vor, an denen sie sich durchgehend oder temporär der Macht der Systeme entziehen oder gar alternative Projekte des Zusammenlebens gründen können. Marginalisierte Räume sind ein traditionelles Motiv der Dystopie und bieten anarchischen Individuen und Gruppen Zuflucht.65 Hierzu zählen Ghettos und eutopische Enklaven sowie Refugien der Systemgegner. Darüber hinaus stellen die seriellen Erzählungen den Handlungen in den dystopischen Gesellschaften fast immer Zeitebenen gegenüber, die Räume mit alternativen Gesellschaftsentwürfen präsentieren. Diese marginalisierten Räume zeichnen sich im Gegensatz zu den dystopischen Zentren dadurch aus, dass sie den Figuren ihre individuelle Entfaltung zumindest im eingeschränkten Maße ermöglichen und folglich auf narrativer Ebene symbolisch auf sie zurückverweisen können. Die Ghettos in 3 % und Trepalium zeigen anhand ihrer mehrfachen Gestaltung durch Graffitis, bemalte Stoffe und Pappen (3 %) oder durch die Spuren von Verfall und Rekonstruktion von Bauten (Trepalium) die Einschreibung von Individuen in den Raum. Dies gilt auch für die Privaträume der Figuren: Die Wohnung von Michele in der ersten Staffel von 3 % ist zwar aus verschiedensten Materialien gestaltet, deutet aber auf eine kohärente Einrichtungsstil ihrer Bewohnerin und somit die Möglichkeit hin, den Raum aktiv mitzugestalten. Das Bett scheint aus mehreren übereinandergestapelten Pappen und Folien konstruiert zu sein, der Vorhang im Zimmer besteht aus mit Schnüren oder Drähten aneinandergefügten Plastikröhrchen und die Wand wurde mit bemalten Papierblättern oder bedruckten Seiten aus Zeitschriften oder Büchern tapeziert.66 Einen Zusammenhang stiftet die Häufung von Rottönen, während es sich bei den parallelen Strichen auf der Tapete wahrscheinlich um Markierungen handelt, mit denen Michele die Tage bis zum Beginn des Processo abzählt.67 Ebenso befinden sich in der Wohnung von Jeff in Trepalium Hinweise auf dessen Religiosität durch einen Kandelaber, der in einen selbst gebauten Schrein integriert ist. Da die soziale Aufteilung der Räume in The Man in the High Castle weniger schematisch angelegt ist, lassen sich ähnlich deutliche Erkenntnisse nicht ableiten. Das Ghetto der afroamerikanischen Bürger in San Francisco, das erst in der vierten Staffel eingeführt wird, zeigt in den Innenräumen zwar auch Anzeichen des eingangs erläuterten Spacings nach Löw.68 Diese können aber nicht im selben Maße als Ausdruck von Selbstverwirklichung verstanden werden. Die Wohnung von Juliana und Frank verweist durch die Malerutensilien, durch Bücher, Kleidung und aufgestellte Photographien sowie die

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Vgl. Marks 2015, S. 77. Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Zwar kann Michele in ihrem Apartment in Maralto eigene Akzente setzen, indem sie z.B. Düfte oder Bilder auswählt (vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«), ihre persönliche Ordnung und Anordnung des Raums ist jedoch klar durch die Leitungsebene des Processo, die das Leben auf der Insel kontrolliert, vorstrukturiert. Vgl. die Wohnung von Bell und Elijah in The Man in the High Castle, S4E1, »Happy Trails«.

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IV. Analyse der Serienräume

Lage im Souterrain ausschließlich auf diese Figuren, nicht aber auf das politische System der Japanese Pacific States. Insgesamt lässt sich herausarbeiten, dass für die Figuren eher ein Spacing möglich ist, je marginalisierter ihr sozialer Stand ist. Eine individuelle Verbindung zwischen Raum und Figur lässt sich auch am anderen Ende der sozialen Skala erkennen. Relativ zu den öffentlich zugänglichen und repräsentativen Räumen der dystopischen Zentren sind auch die Orte, an denen politische Entscheidungsträger leben, eher marginalisiert und vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen. Exemplarisch hierfür stehen das Büro von David Pilcher in Wayward Pines69 sowie das Interieur der Wohnorte der Familie von Obergruppenführer Smith vor und nach der staatlich verordneten Ermordung des Sohnes Thomas. Die kühle Ausstattung der Penthouse-Wohnung der Smiths ab der dritten Staffel von The Man in the High Castle – Art Déco-Design mit dunklem Holz, Glas und Chromoberflächen sowie faschistische Ikonographie – steht im Kontrast zur betont häuslich-gemütlichen Atmosphäre des Einfamilienhauses aus der ersten und zweiten Staffel, das vor allem durch Polstermöbel, Holz und Pastellfarben geprägt war. Neben der Fragilität der Ehefrau Helen Smith ist es vor allem dieser Ortswechsel, der in der dritten Staffel von The Man in the High Castle den Verlust des Sohnes für die Familie deutlich macht. Dieser Vergleich verweist nicht nur auf die narrative Gestaltung der Figurenentwicklung durch die variierende Semantisierung des Raums, sondern auch auf die intradiegetisch gegebene Möglichkeit privilegierter Minderheiten serieller Dystopien, ihren individuellen Vorlieben und Emotionen abseits des festen Spektrums an politisch motiviertem Dekors Ausdruck zu verleihen. Die für die kritische Dystopie kennzeichnenden eutopischen Enklaven liegen auch in den fünf Serien vor. Hierbei handelt es sich um größere Territorien, in denen eigene Gesellschaften leben und sich von der Außenwelt isolieren: Beispiele hierfür sind die jüdische Gemeinschaft Sabra in The Man in the High Castle, das Versteck der Aktivisten von apollon im Wald in Alpha 0.7 und die Kommune der Concha in 3 %. Aber auch Sehnsuchtsorte wie der Süden in Trepalium, die allein verbal präsentiert und nie klar kenntlich werden, bestehen als alternative Gesellschaftsentwürfe zum dystopischen System. Die Gegenentwürfe der dystopischen Zentren manifestieren sich neben den dauerhaft lokalisierbaren Räumen auch in fragilen, temporären Refugien für Systemgegner, in die sich Rebellen und Kritiker vor der Kontrolle des Systems oder für konspirative Treffen zurückziehen. Hierbei handelt es sich um Durchgangsorte (Bahnhöfe, Parks, Gassen), entlegene Orte (Wälder) und Orte temporärer Zusammenkünfte (Bars, Aquarien). Die wenigen festen Infrastrukturen der Systemgegner sind meist getarnt oder verborgen. In 3 % werden solche Räume z.B. durch geheime Zugänge in Lüftungsschächten betreten,70 während das Tunnelsystem der Rebellen in Trepalium die strikte Trennung von Zentrum und Peripherie wortwörtlich unterläuft. In Wayward Pines ist der Anlaufpunkt für Systemgegner ein Spielzeugladen, der von Kate und Harold Ballinger geführt wird.71 In The Man in the High Castle stellen u.a. eine alte Lagerhalle und eine Wohnung in 69 70 71

Für eine ausführlichere Analyse dieses Raums vgl. IV.2.3.3 in dieser Arbeit. Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Vgl. Wayward Pines, S1E6, »Choices«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Harlem wiederkehrende Treffpunkte des Widerstandes dar.72 In diesen Orten wird fast geschäftsmäßig die Destruktion des politischen Systems vorangetrieben. Selten werden an diesen Orten zugleich Gegenmodelle praktiziert, wie z.B. im Bungalow der Aktivisten in Alpha 0.7: Hier werden sowohl Aktionen gegen das Ausspähen persönlicher Daten vorbereitet als auch ein alternatives Familien- oder Gemeinschaftsmodell gelebt. Auch die Wohnung in Harlem, in der sich Juliana und Wyatt in The Man in the High Castle zusammen mit zwei weiteren Widerständlern verstecken, wird zum Schauplatz ausgelassen gesungener Lieder, in der die nationalsozialistische Elite geschmäht wird und Wünsche für die Zeit nach der Diktatur formuliert werden.73 Besonders nachdrücklich und euphorisch werden Zusammenhalt und bessere Zukunft in den Treffen der unterdrückten Afroamerikaner der vierten Staffel von The Man in the High Castle von den Mitgliedern der Black Resistance zelebriert. Weitere Gegenorte sind intradiegetische Gesellschaften anderer Zeiten, die ein alternatives Zusammenleben nahelegen. Sie führen im Sinne der kritischen Dystopie den Rezipienten vor, dass eine bessere Gesellschaft als die dargestellte möglich ist. Dabei wird mal deutlich, wie in Trepalium und Wayward Pines, auf die extratextuelle Gegenwart angespielt, mal nur auf die Konsequenzen gegenwärtiger Handlungen der realen Welt, wie in 3 %. Die Serie Alpha 0.7 macht von der Kontrastierung der intradiegetischen Gegenwart durch ihre Vergangenheit kaum Gebrauch, weil die Handlung in der nahen Zukunft im Jahr 2017, ausgehend vom Ausstrahlungszeitpunkt 2010, spielt74 und diese Serie keine etablierte dystopische Gesellschaft präsentiert. The Man in the High Castle nutzt statt der intradiegetischen Vergangenheit viel stärker die in der Parallelwelt präsentierte US-amerikanische Gesellschaft der 1960er Jahre, die auf das historische Bild dieser Zeit referiert.75 Erwähnt werden muss zudem, dass eutopische Enklaven nicht nur von und für die Gegner des Systems gegründet werden, sondern dass auch ihre jeweiligen Vertreter Orte aufsuchen, an denen sie sich selbst der sozialen Disziplinierung der dystopischen Zentren entziehen können. Diese sind inoffiziell durchaus als eutopische Heterotopien vorgesehen und stellen somit zugleich ein Eingeständnis der politischen Systeme für die Überforderung ihrer Bürger dar. In Trepalium kann das Sexodrome, halb Galerie, halb Bordell, als solch ein Ort gesehen werden,76 in Wayward Pines das Büro des Stadtoberhaupts David Pilcher, das aufgrund seiner Sammlung von Artefakten aus Kunst und Wis-

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Vgl. das Haus des Widerstandes sowie die dazugehörige Halle, in der Frank und die anderen in der 2. Staffel von The Man in the High Castle an einer Bombe arbeiten (ab S2E4, »Escalation«) sowie die Wohnung in Harlem (vgl. ebd., S4E7, »No Masters But Ourselves«. Vgl. ebd., S4E8, »Hitler Has Only Got One Ball«. Weder in der Kernserie noch in der Hörspielfortsetzung befinden sich Absetzungen oder Kontrastierungen in dem Sinne, das die intraserielle Vergangenheit Ähnlichkeit mit der extratextuellen Gegenwart aufweist und zudem als positiv, ggf. mit einem nostalgischen Blick, bewertet wird. So stellen die studentische Bewegung gegen Krieg und nukleare Bedrohung, die durch Tagomis alternativen Sohn angeführt wird (vgl. The Man in the High Castle, S2E6, »Kintsugi«) sowie das Leben Julianas im alternativen Virginia (vgl. ebd. S4E1, »Hexagram 64« bis S4E3, »The Box«) einen deutlichen Kontrast zum Leben in den Pacific States und dem American Reich dar. Vgl. Trepalium S1E1.

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IV. Analyse der Serienräume

senschaft einen Gegenort zur puritanischen Kleinstadtkultur darstellt.77 In The Man in the High Castle ermöglichen Bordelle und ausschweifende Partys den Militärs und politischen Funktionären eine temporäre Flucht aus der jeweiligen totalitären Gesellschaft.78

2.1.6 Reflexion sozialer Funktionen von Raumentwürfen Die bis hierhin aufgezeigten sozialen Funktionen der Räume und Orte sowie die ihnen eingeschriebenen extratextuellen Raumdiskurse werden in seriellen Dystopien des PostTV mitunter reflektiert.79 Zur Untersuchung dieses Phänomens bietet sich Franks Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten metaspatialen Reflexionen an.80 Während Franks Beispiele für implizite Referenzen auf die Konstruktion des eigenen Raums nicht ohne ausführlichere Modifikationen auf fernseh-serielle Texte übertragen werden können, kann ihre Erläuterung expliziter metaspatialer Reflexionen als Grundlage der Untersuchung herangezogen werden: Diese umfassen »die offene Bezugnahme auf Diskurse über Raum und Raumproduktion auf extra- und/oder intradiegetischer Ebene«, z.B. in den Erzählungen von Figuren.81 Der Einfluss von Raumkonstruktionen auf das Verhalten von Figuren wird in keiner der Serien so deutlich reflektiert wie in Wayward Pines. Die Ideologie, die der Architektur der suburbanen Dystopie eingeschrieben ist, sowie die Funktion von Baustil und architektonischem Entwurf werden innerhalb der Episode »Sound the Alarm« explizit thematisiert. Analeptisch wird von der Architektin Rebecca Yedlin erzählt, die vom Stadtgründer Pilcher angeworben wird, um Wayward Pines zu entwerfen. Dass die Inspirationsquelle für Rebeccas berufliche Tätigkeit Henry Clubb ist,82 ein Architekt, der im 19. Jahrhundert durch das utopische Projekt der Octagon City Bekanntheit erlangte, stellt den Entwurf Rebeccas in die lange Tradition utopischer Stadtplanungen bzw. intentional communities.83 Die Zugehörigkeit des Projektes zum Utopismus, zur menschlichen Fähigkeit des sozialen Träumens, wird bereits im Angebot Pilchers an die Architektin deutlich markiert: »We need an arch. I need you to design it. […] I’m searching for dreamers like myself. Are you a dreamer, Rebecca? Wouldn’t you like the opportunity to build the city you always dreamt of building? A legacy beyond compare?«.84 In der Episode wird deutlich, dass mit dem architektonischen Entwurf die Steuerung des sozialen Zusammenlebens einhergeht. Stadtplanung wird u.a. dadurch the-

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Vgl. zum Sexodrome IV.1.1.3, zu Pilchers Büro IV.2.3.3 in dieser Arbeit. Die politisch-militärische Führung der Japanese Pacific States trifft sich z.B. im Club Omarei (The Man in the High Castle S2E4, »Escalation«), der Nachwuchs der zukünftigen Elite des German Reich kommt hingegen in einer Villa im Berliner Umland zu einem ausschweifenden Festem zusammen (vgl. ebd., S2E »Three Monkeys«). Vgl. II.2.3.3 in dieser Arbeit zu extradiegetischen Diskursen und Rauminszenierungen im Drei-Ebenen-Modell von Frank 2017a. Vgl. ebd. sowie Frank 2017a, S. 209–215. Wayward Pines, S2E5, »Sound the Alarm«. Vgl. ebd. Vgl. zu utopischen Stadtentwürfen Hofmann 2018. Vgl. Wayward Pines, S2E5, »Sound the Alarm«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

matisiert, dass die Baupläne der zukünftigen Kommune Wayward Pines in einer Detaileinstellung gezeigt werden.85 Die Pläne Rebeccas verweisen nicht nur auf Raum zum Wohnen, sondern auch auf Orte der Zusammenkunft, die dezidiert du für die Zuschauer erkennbar als »Theater« und »Biergarten« beschriftet und entlang der »Main Street« angeordnet sind.86 Die soziale Funktion des Stadtentwurfs bleibt innerhalb der fiktiven Welt nicht unbemerkt und wird von der Lehrerin Meghan u.a. dafür gelobt, zwischenmenschliche Begegnungen, den Kern vieler realer Eutopien bzw. intentional communities, herbeizuführen: »I loved your plans! The way you put the cars in the garages in the back of the houses, it’s just so elegant, and with everything close by, who needs to drive anyway? I mean, it’s just an obvious way to encourage socialisation«.87 Während für Rebecca die Stadtplanung »a design for happiness« darstellt, betrachtet ihr Ehemann Theo die Anfrage Pilchers nach einer idealen Kleinstadt mit Skepsis: »Mr. Right strolls into your office with a golden ticket, gigantic commission, asking you to build Mayberry. And that just doesn’t make sense to me. […] We both know that utopia can’t exist«.88 Über die Figur Ethan verweist die Serie nicht nur auf den eutopischen (und zugleich anti-utopischen) Charakter der Stadtplanung: Der Verweis auf den fiktiven Ort Mayberry, Schauplatz der betont häuslichen Serien The Andy Griffith Show und Mayberry R.F.D., stellt den Kleinstadtentwurf und somit die Serie in eine Reihe fiktionaler suburbaner Utopien, die in der jüngeren Vergangenheit und gegenwärtig ob ihres antiquierten Familienbildes und als einengend empfundenen Sozialgefüges unter dystopischen Vorzeichen wahrgenommen werden.89 Die bereits beschriebene Disziplinierung der Bürger durch Architektur und Technik sowie der allgegenwärtige Panoptismus wären ohne den Baustil von Wayward Pines, eine Mischung aus dem cottage style US-amerikanischer Vorstädte der 1940er und 1950er Jahre und dem »community design movement« des New Urbanism nicht denkbar.90 Die Vorstädte der Kriegs- und Nachkriegszeit der USA sind selbst intentional communities, auf dem Reißbrett entworfene Orte, in die Vorstellungen von Sauberkeit, Sicherheit und

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. The Andy Griffith Show (1960–1968), USA: CBS, Creators: Sheldon Leonard/Aaron Ruben/ Danny Thomas sowie Mayberry R.F.D. (1968–1971), USA: CBS, Creator: Bob Ross. Vgl. auch Beuka 2003, S. 155ff. Grant, Jill L. (2015): New Urbanism. In: Wright, James D. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. 2. Aufl., Band 16. Amsterdam et al.: Elsevier, S. 809–814, hier S. 809. Als Gegenentwurf zur sich ausdehnenden Monotonie US-amerikanischer Stadtbilder fokussierte sich der New Urbanism am Ende der 1980er Jahre verstärkt auf eine nachhaltige Entwicklung sowie intelligentes Wachstum und setzte sich die Förderung eines gesunden Lebens in der Gemeinschaft zum Ziel. Der New Urbanism lässt sich auf die City Beautiful-Bewegung und die Gartenstädte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Beide Strömungen zeigen hinsichtlich ihrer geometrischen Formen und ihres Anspruches, gemeinschaftliches Leben in der Stadt mit einem gesunden Leben in der Natur zu verbinden, eine Nähe zu Henry Clubbs Entwurf der Octagon City; vgl. Grant 2015, S. 809.

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IV. Analyse der Serienräume

Nachbarschaft projiziert wurden.91 Der New Urbanism greift auf diesen Baustil zurück und wird assoziiert mit »principles of compact form, mixed use, mixed housing types, higher urban densities, defined center and edge, walkability, and transportation alternatives«.92 Kritisch wird die Bewegung gesehen, weil sie die Idee verfolgt, durch die Bauform menschliches Verhalten beeinflussen zu können:93 »Practitioners building New Urbanism projects suggested that features such as front porches on houses could generate social interaction between neighbors; corner stores or local pubs would generate a sense of community«. Diese Vorstellungen – die in fast identischer Weise durch Rebeccas Entwurf in Wayward Pines aufgegriffen werden – ließen sich in der Praxis selten realisieren und führten nicht zwangsläufig zu gelungener sozialer Interaktion zwischen einzelnen sozialen Gruppen, sondern in Einzelfällen sogar zu Segregation.94 Obgleich die US-amerikanische Vorstadt im Gegensatz zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mittlerweile verstärkt zum Lebensmittelpunkt von nicht-weißen Bürgern geworden ist, hält Brigitte Hipfl fest, dass »das allgemeine Bild von amerikanischen Vorstädten nach wie vor mit der weißen Mittelschicht verknüpft« wird.95 Obgleich mit dem New Urbanism eine utopische Vision einhergeht,96 wird die architektonische Strömung in Filmen und Serien eher mit dystopischen Untertönen präsentiert, etwa in The Truman Show, in dem die in Florida gelegene Stadt Seaside als Kulisse für die Kontrolle des Alltags von Truman Burbank durch das Team einer RealityShow dient und zum Schauplatz Seahaven transformiert wird.97 The Truman Show, vor allem aber Fernsehserien seit den 1990er Jahren zeigen,98 dass der Topos der US-amerikanischen Vor- und Kleinstadt im Design des New Urbanism dystopische Qualitäten aufweist, weil sich der Traum von Sicherheit und Nachbarschaft in einen Albtraum kollektiver Beobachtung und Kontrolle umkehrt. Laut Robert Beuka werde die US-amerikanische Vorstadt in Blick auf Literatur und Film fast ausschließlich als ein »contrived, dispiriting, and alienating place« dargestellt:

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Hipfl, Brigitte (2010): »Desperate Housewives« – Dimensionen weiblichen Alltags. In: Röser, Jutta et al. (Hg.): Alltag in den Medien – Medien im Alltag. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. S. 89–103, hier S. 92ff. Grant 2015, S. 809. Ebd., 812 Grant 2015, S. 812. In einigen Fällen wird sogar Homogenität und die Abgrenzung sozialer Schichten durch ein Aufleben-Lassen der Vorstadt-Architektur der 1940er Jahre befördert, wie z.B. in der vom Konzern Disney gegründeten Stadt Celebration in Florida, zu deren Bevölkerung nur wenige Afro-Amerikaner gehören; vgl. ebd., S. 813. Hipfl 2010, S. 95. Vgl. Rees, zit. in Marks 2015, S. 107. Vgl. Marks 2015, S. 107. Die These Beukas, dass die US-amerikanische Vorstadt in Film und Fernsehen ausschließlich als Dystopie wahrgenommen werde (vgl. Beuka 2003, S. 154f.), bestätigt sich in aktuellen Produktionen wie Riverdale, findet aber Widerspruch z.B. in Gilmore Girls, einem Serienkosmos, der die Kleinstadt zum Refugium bzw. zur Utopie erklärt; vgl. dazu Johns, Erin K./ Smith, Kristin L. (2008): Welcome to Stars Hollow: Gilmore Girls, Utopia and the Hyperreal. In: Calvin, Ritch (Hg.): Gilmore Girls and the Politics of Identity. Essays on Family and Feminism in the Televison Series. Jefferson: McFarland, S. 23–34. Vgl. hierzu u.a. Twin Peaks, Desperate Housewives und Riverdale.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Even today, at a time when more Americans live in the suburbs than either the city or the country, and when the success of »gated communities« and »neo-traditional« towns suggests that the process of suburbanization continues to evolve, the major current films about suburbia (The Truman Show, Gary Ross’s Pleasantville, Sam Mendes’s American Beauty, and Todd Haynes’s Far From Heaven) nonetheless represent this environment as an entrapping and debilitating place to live.99 Wayward Pines ruft zwar auch die extratextuellen Diskurse zur Architektur der US-amerikanischen Vor- und Kleinstädte auf, arbeitet sich aber durch den Vergleich mit Mayberry und die Referenz auf die Ästhetik von Vorstadt-Serien wie Twin Peaks und Desperate Housewives viel stärker an den medialen Interpretationen des Baustils sowie der ihm eingeschriebenen sozialen Vorstellungen ab. Bei der Reflexion der Vorstadtarchitektur in Wayward Pines handelt es sich in Anlehnung an Frank nicht nur um metaspatiale (›Nachdenken‹ über Raumkonstruktionen), sondern auch um metaspatiographische Referenzen (›Nachdenken‹ über Geschichtsschreibung von Raum in wissenschaftlichen Disziplinen), da auch die genannten Filme und Serien Wissen zur Architektur der Vorstadt ›speichern‹ sowie ›fortschreiben‹ und sich diese Historiographie der fiktionalisierten Suburbs in Wayward Pines fortsetzt. Darüber hinaus referiert die Serie auf soziale Werte und Verhaltensweisen, die mit den Bildern US-amerikanischer Kleinstädte assoziiert werden. In der initialen Episode »Where Paradise Is Home« wird der Handlungsraum Wayward Pines dadurch charakterisiert, dass alltägliche Tätigkeiten und bürgerliche Tugenden wie auf einer Bühne vor den Geschäften der Hauptstraße regelrecht aufgeführt werden.100 Zu sehen ist hier eine Blumenverkäuferin, die vor ihren Auslagen patrouilliert, ein Mann mit Aktentasche, der den Bürgersteig entlang läuft, sowie ein Arbeiter, der das tadellose LeuchtreklameSchild des örtlichen Hotels säubert.101 Die performierten bürgerlichen Werte wie Fleiß und Sauberkeit sowie der Drang, den Nutzen für die Gemeinschaft durch permanente Aktivität unter Beweis zu stellen, bezeugen und aktivieren gleichsam die Ideologie der Kleinstadt-Architektur. Zu dieser Inszenierung gesellschaftlicher Werte gehört auch die optische Anpassung der Bewohner an die ihnen zugewiesene ›Kulisse‹. Dies wird anhand der Blumenhändlerin deutlich, die mit knielangem Kleid, weißer Schürze und Schere als Insignie ihres Berufsstandes als solche erkennbar wird.102 Ein weiteres Beispiel ist die Krankenschwester Pam, die in einer weißen Uniform aus Bluse mit Biesen-Plastron, kurzem Rock, Strumpfhose und Schuhen mit mittelhohen Absätzeninsbesondere vor dem Hintergrund der mintgrünen Krankenhauszimmer und der fliesenartigen Fensterscheiben sowie der Abwesenheit technologisch anspruchsvoller Untersuchungsgeräte deutlich an medial vermittelte Bilder des Pflegepersonals der 1940er und 1950er erinnert.103 Schließ99 Beuka 2003, S. 154f. 100 Diese Eingangsszene wird zu Beginn der zweiten Staffel, wenn Theo Yedlin die Kleinstadt bei Tageslicht erkundet, mit ähnlichen Kameraeinstellungen und -perspektiven sowie öffentlich performierten berufsspezifischen Handlungen wiederholt; vgl. Wayward Pines S2E1, »Enemy Lines«. 101 Vgl. ebd., S1E1, »Where Paradise Is Home«. 102 Vgl. ebd. 103 Vgl. ebd.

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lich ist der Hotelmanager zu nennen, der mit gescheiteltem Haar, langärmligen Hemd, Weste und Krawatte ›auftritt‹ und an seinem Tresen ohne digitale Unterstützung sowie beim Reinigen des Neon-Schildes des Hotels die Zugehörigkeit zu einer anderen Zeit signalisiert.104 Diese Bekleidungen erinnern in Kombination mit der Innen- und Außenarchitektur von Hauptstraße, Hotel und Krankenhaus an Bilder der Kleinstadt der 1940er Jahre in den USA und binden die Figuren in die Performanz von Tugenden wie Sicherheit und Sauberkeit ein.105 Bei Wayward Pines ist die soziale Funktion des Baustils nicht nur durch konkrete Benennung reflektiert, sondern auch, weil sie tatsächlich nur eine Inszenierung ist, eine bewusst aufgeführte Anpassung der Bewohner an ihre Umgebung. Abgesehen von der expliziten Thematisierung der Kleinstadtarchitektur und ihren sozialen Implikationen verweist aber bereits die Wahl der Drehorte und Kulissen einiger serieller Dystopien darauf, dass sich die Serien des Einflusses von Baustilen und Stadtplanung auf menschliches Zusammenleben bewusst sind. Als ein ›Nachdenken‹ über die soziale Funktion des Raums bzw. extratextuelle Raumdiskurse kann die Wahl der Handlungsorte ›Vorstadt‹ in The Man in the High Castle und ›Einfamilienhaussiedlung‹ in Alpha 0.7, besetzt mit ähnlichen Vorstellungen wie in Wayward Pines, verstanden werden. Als implizite Reflexionen über Raumkonstruktionen können vor allem die häufigen establishing shots und Panorama-Einstellungen von Bauten im Stil des Funktionalismus in Trepalium gedeutet werden.106 Als Locations dienen hierbei der von Oscar Niemeyer entworfene Sitz der Partie Communiste Francais, der zum Drehort für Szenen im Regierungsgebäude der Premierministerin verwendet wurde,107 sowie die Häuserzeile Les Dents de Scie in Trappes, südwestlich von Paris. An dieser Location wurden die Außenaufnahmen für die Wohngegend getätigt, in der Ruben mit seiner Familie lebt.108 Diese und andere Bauten des Funktionalismus, die immer wieder in Trepalium gezeigt werden, stehen allegorisch für die Disziplinierung der fiktiven Gesellschaft durch Architektur und raumbezogene Überwachungstechnologien, die im Vorhergehenden bereits dargestellt wurden.109 Das architektonische Manifest von Le Corbusier, einem der bedeutendsten Vertreter des Funktionalismus, ist durch die vertikale Anordnung von Wohnraum und soziale Regulierung geprägt,110 durch die Orientierung an der Geometrie und an »technischer Rationalität«.111 Die Kritik an Le Corbusiers Entwürfen im Besonderen und dem Funktionalismus im Allgemeinen richtet sich auf 104 Vgl. ebd. 105 Besonders in den hier geschilderten Fällen, die nicht für die Mehrheit der Bewohner stehen, werden die Figuren auch noch durch ihre Kleidung kontrolliert, da spontane und schnelle Bewegungen im jeweiligen Aufzug weniger möglich sind. Die Anpassung der Figuren an die Kulissen der Stadt sowie des Konzerngebäudes Aquaville erfolgt durch seltsam reduzierte körperliche Bewegungen, wozu auch die einschränkende Kleidung beitragen mag, deren Optik sich wiederum in die Interieurs von Privatwohnungen und des Konzerngebäudes einfügt. 106 Vgl. u.a. Trepalium S1E1-6. 107 Vgl. Langlais 2018. 108 Anlass zu dieser Vermutung gibt eine Nachricht, die vom Twitter-Account der französischen Stadt Trappes-en-Yvelines versendet wurde; vgl. #Trepalium; Trappes@villedetrappes (7.02.2016): http s://twitter.com/villedetrappes/status/696394312263856128, aufgerufen am 20.09.2020. 109 Vgl. hierzu IV. 2.1.1,2 sowie 3 in dieser Arbeit. 110 Vgl. Hicks/Latham 2014, S. 166. 111 Kretschmer 2013, S. 170.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

die technokratische Anordnung von Menschen in der Stadt, mit einem sozio-ökonomischen Gefälle vom Zentrum zur Peripherie,112 die Betrachtung von Menschen »allein aus theoretisch-abstrakter Perspektive und ohne empirische Beweiskraft«113 sowie auf die Eindimensionalität und Monotonie der Architektur und die ihr eingeschriebenen sozialen Verhaltensweisen.114 Die weit verbreitete Wahrnehmung des Funktionalismus als kalt und einengend erklärt, warum dieser Baustil Dystopien in Literatur, Film und Fernsehen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmt. Diese Wahrnehmung kommt auch in den establishing shots und Zwischensegmenten von Trepalium115 und 3 % zum Ausdruck, in denen Stadtpanoramen oder einzelne Wohnviertel präsentiert werden. 3 % referiert darüber hinaus aber vor allem auf reale urbane Ballungsräume Brasiliens, was anhand der Originalsprache Portugiesisch, den wiederholten Kartendarstellung in den opening credits sowie der Verortung des Slums im »Amazônia Subequatorial« erkennbar wird.116 So rufen die Aufnahmen von zerfallenen Hochhäusern und Wellblechhütten immer auch Bilder der Favelas Brasílias und der dort herrschenden Bedingungen des Wohnens und Zusammenlebens auf. Diese Bilder sind ebenso wie die die Inszenierung der Kleinstadt in Wayward Pines sowohl metaspatiale als auch metaspatiographische Reflexionen über bestimmte Räumlichkeiten. Denn die Darstellungen der verbauten und düsteren Gassen im Slum beziehen sich nicht nur auf die extratextuellen Diskurs über realen Ghettos in Brasilien, sondern vor allem auf die Inszenierung und Reproduktion der Vielzahl an Nachrichtensendungen und Reportagen über die Favelas.

2.1.7 Emanzipationsbewegungen im dystopischen Raum Die Bewegungen von Figuren in dystopischen Serien, insbesondere der Protagonisten, verweisen ähnlich wie ihre Perzeption des Raumes auf innere Vorgänge und Entwicklungen sowie ihre Position zur Gesellschaft. Im Zuge serieller Proliferation haben die Protagonisten die Möglichkeit, sich nicht nur innerhalb einer festgelegten Anzahl an Handlungsräumen und -orten, sondern auch innerhalb einer sich durch neue Episoden und Staffeln stetig erweiternde fiktive Topographie zu bewegen. Die ausgedehnten Streifzüge der Helden sind durch die Flucht vor staatlichen Repressionen oder das Ziel bestimmt, die Gesellschaft durch Konspiration oder Angriff zu verändern. Im Gegensatz zu den Helden kritisch-serieller Dystopien verharrt die breite Masse der Gesellschaftsmitglieder in den Räumen, denen sie zugewiesen wurden, was als Ausdruck ihrer Un-

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Staiger 1999, S. 108, vgl. auch Hofmann 2018, S. 42. Henningsen 1984, S. 956. Schäfers, Bernhard (2006): Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen. 2., durchg. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 136. Zwar werden auch andere Baustile wie postmoderne Architektur in Trepalium durch ihre filmische Inszenierung betont, z.B. in der langen Sequenz, in der Izia, Jeff und die anderen Solidarischen per Bus in die Stadt gefahren werden. Dabei referieren die während der Busfahrt gezeigten Gebäude allerdings kaum auf ihre soziale Funktion, sondern sie werden primär zur Erzeugung einer abweisenden und beklemmenden Atmosphäre dargestellt. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«.

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IV. Analyse der Serienräume

mündigkeit und fehlenden Handlungsmacht gedeutet werden kann.117 Hingegen sind die Reichweite der Bewegung im Raum und ihre Frequenz sowie die Orte, die die Helden aufsuchen, für die serielle Handlung118 und die narrative Entfaltung des diegetischen Raums relevant.119 Die Bewegungen der Protagonisten serieller Dystopien im Post-TV durch den jeweiligen Serienraum können Symptome für ihre emotionale und kognitive Verfasstheit sein. Auffällig ist zunächst, dass die meisten Helden serieller Dystopien nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern aus eher unterprivilegierten Sphären stammen und sich in die dystopischen Machtzentren hineinbegeben. Trepalium beginnt in der Zone mit Noah und Izia und inszeniert diese als eine Art Vorraum der Stadt, ebenso wie Michele im Slum wohnt und sich auf den Weg zur Insel begibt. Auch Ethan bewegt sich aus dem Transitraum des Waldes in die Kleinstadt. Juliana wohnt mit Frank in einer SouterrainWohnung und gehört zur ehemaligen US-amerikanischen Bevölkerung, die von den japanischen Besatzern unterdrückt wird. Bis auf Johanna in Alpha 0.7 stehen diese globaleren Bewegungen der Protagonistinnen im Kontrast zu denen der Helden ›klassischer‹ Dystopien des 20. Jahrhundert, die sich eher auf Individuen konzentrieren, die aus der Mitte des Systems zu dessen Kritiker oder Feind werden.120 In Wayward Pines versucht der Held der ersten Staffel, Ethan, aus der Kleinstadt zu entkommen, gelangt aber immer wieder zum Ausgangspunkt bzw. zum Ortseingang zurück.121 Die redundante Bewegung und die Unfähigkeit Ethans, sich aus dem physischen Raum dauerhaft zu befreien, korrespondiert mit seiner ungeklärten Zugehörigkeit zu seiner Ehefrau und seinem Sohn sowie zu seiner ehemaligen FBI-Kollegin und Geliebten. Viel eher zeichnen sich die jeweiligen Helden aber dadurch aus, dass sie sich als bewegliche Figuren im Sinne Lotmans über die in den jeweiligen fiktiven Welten festgelegten Normen hinwegsetzen und metaphorische und materielle Grenzen wieder und wieder überschreiten. In Verbindung mit der Spannung zwischen gegensätzlichen semantischen Sphären, die die seriellen Welten der Dystopien dominieren, tragen diese Bewegungen zwischen den ›Knotenpunkten‹ serieller Handlung schließlich zur Aufrechterhaltung der Erzählmaschinerie bei.122 117

Das Verharren der Bevölkerung in der Zone von Trepalium, in den Slums von 3 % und der verängstigten Bürger in Wayward Pines in ihren vorgegebenen Räumen kann als Resignation angesichts scheinbar unveränderbarer Verhältnisse interpretiert werden. Die Zerstörung der Mauer in Trepalium eröffnet die Chance zu einem gesellschaftlichen Neuanfang, die Zerstörung von Wayward Pines sowie die Rettung einiger Bürger in den künstlichen Tiefschlaf lässt zumindest die Hoffnung auf ein besseres System aufkommen, und die Erschaffung einer neuen Utopie in 3 % an einem anderen Ort durch die Figur Michele in der dritten Staffel zeugt vom Wandel politisch-gesellschaftlicher Einstellungen einiger Bewohner des Continente. 118 Vgl. hierzu IV.2.2.3 in dieser Arbeit. 119 Vgl. hierzu IV.3.1 in dieser Arbeit. 120 Zu nennen sind hier neben Winston Smith aus Nineteen Eighty-Four D-503 aus Wir, Bernard Marx, Helmholtz Watson und Lenina Crowne aus Brave New World sowie Guy Montag aus Fahrenheit 451; vgl. Orwell 1990 [1949]; Samjatin 2006 [1924]; Huxley, Aldous (2012 [1932]): Brave New World. Stuttgart: Reclam; Bradbury, Ray (2012 [1953]): Fahrenheit 451. New York: Simon & Schuster. 121 Dabei wird deutlich auf frühere dystopische bzw. Mystery-Serien referiert, allen voran auf The Prisoner, und Persons Unknown. 122 Vgl. hierzu IV.2.2.3 in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Die Ausgrenzung der Zone aus der Stadt und die finale Zerstörung der Mauer in Trepalium symbolisieren nicht nur die Befreiung einer Gesellschaft, sondern dokumentieren auch die Entwicklung des Protagonisten Ruben Garcia, der sich langsam von den Karrierewünschen seines Vaters emanzipiert und sich seiner von ihm vernachlässigten Tochter sowie Izia zuwendet.123 Michele durchläuft in 3 % nicht nur die Prüfungen des Processo, um die Insel Maralto zu erreichen und dort ihren Bruder zu finden sowie für die Rebellen zu spionieren. Zugleich gewinnt sie in der Zusammenarbeit mit den anderen Kandidaten an moralischer Integrität und knüpft Freundschaften. In der zweiten Staffel verabschiedet sie sich vom Ziel, den Processo zu bekämpfen, gründet in der dritten Staffel eine utopische Gemeinschaft und nimmt in der vierten Staffel doch wieder den Kampf mit dem sozial ungerechten System auf. Juliana in The Man in the High Castle, Michele in 3 %, Ethan und Theo in Wayward Pines, Izia in Trepalium und Johanna in Alpha 0.7 haben allesamt unbewältigte persönliche Probleme und Ziele, die abseits politischer Umstürze liegen, die es aber auf den längeren und kürzeren Wegen zur Revolution oder zum Schutz der Gemeinschaft zu lösen gilt. Die Emanzipation der Protagonisten von den jeweiligen Ideologien ihrer politischen Systeme sowie die Lösung eines privaten Konfliktes gehen einher mit dem Verlassen oder Dekonstruieren dominierender Schauplätze. Insgesamt liegt in den seriellen Dystopien eine Progression von einer Anordnung der Helden im Raum hin zu deren selbstbestimmten Bewegung vor. Während das »passive[] Platziert-Werden[] in einer vermeintlich vorgegebenen räumlichen Ordnung«, die die meisten Bürger der dystopischen Systeme erleben, laut Frank das Gefühl des Ausgeliefertseins verstärkt, impliziert die »aktive Komponente des Anordnens« ein deutlich »größeres identitätsstiftendes Potential«.124 Die ausschweifende Bewegung der Helden im Raum ist ein Zeichen von Macht, die eigentlich eher den systemnahen Figuren zugestanden, jedoch auf dem Weg zum geplanten Serienoder Staffelende auch seitens der widerständigen Charaktere ausgeübt wird. Die Figurenbewegung, die Handlung, Serienraum und Serienlaufzeit ausdehnt, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund kritischer Dystopien aufschlussreich, da angestammte Sphären verlassen und die statischen Raumvorstellungen ›traditioneller‹ Dystopien dekonstruiert werden.

2.1.8 Fazit und Diskussion Die dystopischen Serienräume des Post-TV semantisieren eher Gruppen als Individuen. Sie belegen Claeys Beobachtung, nach der sich Dystopien vor allem auf negative Gesellschaftsentwürfe statt auf individuelle Ängste konzentrieren.125 Die vor allem soziale Relevanz eutopischer und dystopischer Architektur zeichnet sich auch in der Typologie nach Ernest J. Green ab, die er auf der Grundlage realer Utopien bzw. intentional communities entwirft: Die realen Bauten stehen symbolisch-metonymisch für die jeweilige Gemeinschaft und spiegeln deren Werte wider; sie kanalisieren Verhaltensweisen und

123 Vgl. Trepalium, S1E6. 124 Frank 2017a, S. 194. 125 Vgl. Claeys 2016, S. 290.

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IV. Analyse der Serienräume

Einstellungen der Bewohner zugunsten sozialer Kontrolle in gewünschte ›Formen‹; Architektur illustriert und bekräftigt soziale Strukturen sowie den jeweiligen sozialen Status.126 Insgesamt zeichnen sich einige Überschneidungen zwischen den sozialen Funktionen der Architektur realer und intendierter Eutopien bzw. Dystopien ab. Figuren serieller Dystopien des Post-TV werden bereits vorgefertigten Räumlichkeiten passiv zugeordnet. Ihr soziales Handeln wird durch Architekturen beeinflusst und kontrolliert, was sich wiederum in ihren angepassten Handlungsweisen abbildet. Mitunter treten Inkongruenzen zwischen Raum und Mensch auf, etwa weil eine allzu geometrische und gigantomanische Architektur die Proportionen des humanen Körpers sowie seine potentiellen Handlungen ausblendet. Infolgedessen erscheinen die Bewohner dystopischer Gemeinschaften wie Fremdkörper in der jeweiligen Szenerie. Diese Befunde lassen sich mit Blick auf die gegenwärtigen seriellen Dystopien The Handmaid’s Tale und Westworld stützen: Sowohl die Handmaids und Marthas als auch die Androiden werden in soziale Rollen bzw. Funktionen des Spiels gezwungen und nach Belieben in die Häuser von Commandern und die Kolonien geschickt bzw. in die Erzählungen der Themenparks eingebaut. In The Handmaid’s Tale beschneiden die Grenzen der Wohnhäuser, die engabgesteckten und choreographierten Wege des alltäglichen Lebens, aber auch Gileads territoriale Limitierungen die individuellen Wünsche und Eigenschaften der Handmaids und Marthas, aber auch der Ehefrauen der Commander, die keinen Zugang zu höherer Bildung oder den Räumen politischer Entscheidungen haben.127 Die Androiden Westworlds sind wiederum auf die Themenparks Westworld, Shogun World, The Raj, Warworld oder Park 5 sowie die mit ihren jeweiligen Handlungssträngen einhergehenden Schauplätze beschränkt. Das Motiv der Überwachung, das eine Vielzahl von Dystopien prägt, steht auch in den seriellen Dystopien des Post-TV in Bezug zu Räumlichkeiten: Architekturen und physische Grenzen begünstigen die Kontrolle durch das System, insbesondere vermeintlich eutopische Städte und ihre Teilräume sind flächendeckend mit Kameras und Mikrophonen ausgestattet. Durch diese technischen Hilfsmittel sowie durch Chips, die in einigen Serien den Bürgern implantiert werden, können deren Bewegungen und geographischen Standpunkte auch in nicht normierten Räumen kontrolliert werden. Als Konsequenz existieren innerhalb der dystopischen Zentren für die breite Masse der Bevölkerung kaum private Rückzugsorte. In The Handmaid’s Tale wird Überwachung im häuslichen Bereich durch die Familie der Commander oder durch die Eyes sichergestellt. Die Handmaids selbst stehen innerhalb Gileads durch die Überwachung der Aunts, Marthas und ihrer ›Walking Partner‹ inner- und außerhalb privater Räume unter ständiger Kontrolle und sind eingebunden in ein panoptisches Regime, das auch ohne

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Vgl. Green, Ernest J. (1993): The Social Functions of Utopian Architecture. In: Utopian Studies 4.1, S. 1–13, S. 2f. Letzteres wird eindrucksvoll in Bezug auf Serena, Ehefrau des Commanders Fred Waterford, in The Handmaid’s Tale, S1E6, »A Woman’s Place« sowie S2E13, »The Word« dargestellt: Serena, vor Gilead erfolgreiche Autorin und politische Aktivistin, verliert durch den fundamentalistischen Staat, an dessen Genese sie aktiv mitgewirkt hatte, sukzessive an Einfluss und wird aufgrund des öffentlichen Verlesens einer Passage aus der Bibel mit der Amputation eines Fingers bestraft.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

technologische Finessen hochfunktional ist. Die Überwachung der Androiden in Westworld ist, wie sich nach Ausbruch von Dolores und Maeve aus den Themenparks in Staffel drei zeigt, nicht raumgebunden, sondern basiert rein auf elektronisch-digitalen Steuerungen, ebenso wie die Kontrolle der Menschen durch Engerraund Serac und die künstliche Intelligenz Rehoboam unabhängig von einem festen geographischen Standpunkt verläuft.128 In den ›Zwischenräumen‹ abseits staatlicher Überwachung, also in Ghettos, Slums, den Verstecken von Rebellen oder in der nicht kultivierten Natur, können sich Figuren frei bewegen und Räumlichkeiten selbst gestalten. In der audiovisuellen Präsentation dieser Räume lassen sich Aussagen über Stimmungen und Charaktereigenschaften von einzelnen Figuren ablesen, wohingegen vom jeweiligen System normierte Räume nicht hinsichtlich des Individuums, sondern nur mit Blick auf eine Ideologie semantisiert sind. Ausgehend von den in den Serien wahrnehmbaren Raumausschnitten existieren z.B. in Westworld weder für die Mehrheit der Androiden noch für die der Menschen solche Orte. Innerhalb Gileads in The Handmaid’s Tale scheint allein das Haus von Commander Lawrence seinen Bewohnern – allen voran natürlich Lawrence selbst – die Möglichkeit zu geben, ihre unmittelbare Umgebung nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und sich in diese einzuschreiben.129 Umso mehr haben die Herrschenden in beiden fiktiven Gesellschaften die Gelegenheit, den von ihnen erlebten Raum selbst zu gestalten: Die Themenparks in Westworld selbst sind Ausdruck dieser Macht, in The Handmaid’s Tale verdeutlichen die versteckten Bordelle die Mobilität und das Spacing der Commander.130 Zugleich sind aber auch die uniformen Außen- und Innenarchitekturen der Häuser der Commander sowie der öffentlichen Gebäude ein Symptom dafür, dass die politische Ideologie Gileads bis in den privaten Raum der staatlichen Elite reicht. Die soziale Funktion von Architektur bzw. die räumliche Kontrolle, der die Figuren unterworfen werden, wird mitunter von den Serien reflektiert, wie in Wayward Pines, aber auch The Man in the High Castle. Metaspatiale und metafiktionale Kommentare treten durch das ›Offenlegen‹ oder bewusste Ausstellen der Raumplanung oder der Ideologie eines bestimmten Baustils sowie durch Kommentare auf die Rolle von Räumen in anderen Serien, Filmen oder literarischen Texten hervor. In der Regel treten metaspatiale Reflexionen eher indirekt und punktuell in Form von establishing shots und die Verwendung fester Kulissen mit einer intertextuellen Tradition in entsprechenden Serien und Filmen oder aber durch Karten und andere räumliche Repräsentationsmodelle auf. Zum einen kann dies als Wertschätzung des Raums durch die Serie, zum anderen als Gradmesser für die Relevanz von Architektur für die narrative Konstruktion der fiktiven Gesellschaft und die serielle Handlung gedeutet werden.

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Vgl. u.a. Westworld, S3E5, »Genre« sowie S3E8, »Crisis Theory«. Vgl. The Handmaid’s Tale, ab S2E12, »Postpartum«. Obgleich auch andere Häuser von Commander-Familien Unterschiede hinsichtlich der Gestaltung aufweisen, so scheint es doch eine Art implizites diegetisches Regelwerk zu geben, nach dem z.B. die Arbeitszimmer der Ehemänner eher mit schwerem, dunklem Holz ausgestaltet, die Wohn- und Esszimmer mit floralen Mustern dekoriert sind. 130 Vgl. hierzu Jezebels in ebd., S1E8, »Jezebels«.

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IV. Analyse der Serienräume

In The Handmaid’s Tale finden sich Ansätze der Reflexion eigener Räumlichkeiten, etwa wenn June zu Beginn der Serie für die Adressaten ihrer Erzählung die Gründe ihrer Zimmergestaltung offenlegt und dabei die politische Ideologie Gileads skizziert wird.131 Auch die für alle Commander-Häuser angeordnete Renovierung nach dem Vorbild des Washingtoner Designs lässt auf eine politisch motivierte Architektur mit sozialer Wirkung schließen. Hierauf verweist ein Kommentar der Figur Aunt Lydia beim Betrachten des neuen Interieurs im Haus von Commander Lawrence: »Well, isn’t this a delight? […] All households doing their best to conform to Commander Waterford’s new regulations. Every residence elevated to D.C. standards«.132 Zwar wird hier durch Aunt Lydia der Eindruck bestätigt, dass die Uniformität der Privathäuser der Commander politisch motiviert ist, die Art und Weise des Einflusses dieser Raumentwürfen auf soziale Interaktion wird in der Serie jedoch (bislang) nicht beleuchtet. Die Anordnung und Kontrolle der Bewohner dystopischer Systeme ähnelt mitunter der von Avataren oder menschlichen Akteuren in Spielen und trägt zudem Züge von experimentellen soziologischen Versuchen. Damit folgen die Dystopien einem sich seit den 1970ern herausbildenden Muster oder Subgenre einer ludischen Dystopie, in der Individuen sich gegen ihren Willen in Labyrinthen, Wettkämpfen oder Themenparks wiederfinden, und ihre Bewährung in unterschiedlichsten Prüfungen oder beim Lösen von Rätseln von unbekannten Dritten gesteuert und meist medial inszeniert und verwertet wird. Neben 3 % und Wayward Pines entspricht vor allem Westworld, ferner Persons Unknown und The I-Land diesem räumlich-narrativen Muster. Bewegungen oder der Stillstand von Figurengruppen und einzelnen Charakteren geben auch in seriellen Dystopien Auskunft über innere Vorgänge und politische Emanzipationsprozesse. So verweist das Verharren von Figuren und Gesellschaften innerhalb der Mauern und Grenzen der scheinbaren Eutopie auf deren Resignation und auf ausweglose Situationen. Allerdings sind es vor allem Protagonistinnen, die in den seriellen Dystopien des Post-TV räumlich-semantische Grenzen überschreiten und somit ihre (zunehmende) politische Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen: Neben Juliana (The Man in the High Castle), Johanna (Alpha 0.7), Michele (3 %) und Izia (Trepalium) gilt dies für June (The Handmaid’s Tale) sowie Dolores und Maeve (Westworld). Dabei können Expansion und Verdichtung von Räumen dazu führen, dass sich die Charaktere in neuen Schauplätzen neuen Aufgaben gegenübersehen, an denen sie wachsen, eine veränderte Sichtweise unter Beweis stellen können oder scheitern.

2.2 Grenzwertige Bewegungen – Raum und Handlung Orte und Räume serieller Dystopien haben drei Funktionen für die Handlung: Sie können als ›Nährboden‹ bestimmte Ereignisse und Konflikte hervorrufen, weil sie mit Semantiken oder scripts und frames aufgeladen sind. Insofern ist bereits ihre Wahl für die serielle Erzählung handlungskonstituierend. Als Teil des Brandings einer Serie können

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Vgl. ebd. S1E1, »Offred«. The Handmaid’s Tale, S3E10, »Witness«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

sie wiederum symbolisch für zentrale Konflikte und Handlungsstränge stehen und werden in dieser Funktion in seriellen Paratexten wie dem Serientitel, den opening credits, DVD-Covern oder Werbematerialien verwendet. Darüber hinaus bilden sie in Verbindung mit der räumlichen Bewegung der Protagonisten einen narrativen ›Motor‹, der die Serienhandlung vorantreibt und aufrechterhält.

2.2.1 Raum als Nährboden serieller Handlung In der Serialitätsforschung,133 aber auch in der Film- und Literaturwissenschaft134 wird davon ausgegangen, dass die Wahl eines bestimmten Raums oder Ortes Erwartungen im Hinblick auf Ereignisse, Handlungsverläufe oder Rahmenbedingungen der Handlung aufruft. Diese Erwartungen bzw. scripts und frames speisen sich aus dem Wissen von Räumen der Alltagswelt sowie zu Raumdarstellungen bestimmter Genres.135 Genres können, müssen aber nicht zwangsläufig mit bestimmten Räumlichkeiten verbunden sein.136 Für ›traditionelle‹ und kritische Dystopien, die Science-Fiction oder post-apokalyptische Fiktionen lassen sich keine feststehenden Handlungsmuster und -räume beschreiben, mit Ausnahme von Einzeltexten, die mitunter ein Subgenre bilden können.137 Allenfalls offenbart der Vergleich kritischer Dystopien einige grundlegende Abläufe: Viele Vertreter dieses Sub-Genres beginnen mit der Präsentation einer statischen Gesellschaft, in der soziale und politische Abläufe ritualisiert wurden und die sich durch die Unterdrückung einer Mehrheit auszeichnet. Ein in der Vergangenheit politisch untätiges Gesellschaftsmitglied wird zum scharfen Kritiker oder Gegner des Systems und führt in Kollaboration mit einer Gruppe von Rebellen oder Terroristen die temporäre Beschädigung oder gar den Sturz des Systems herbei. In diesen Fällen zeichnen sich die Handlungsräume durch Grenzen und soziale Segregation aus, mitunter auch durch uniforme Architekturen, die den Eindruck von Statik unterstützen, sich im Laufe der Handlung jedoch als porös und ebenso instabil erweisen, wie das politische System selbst.138 Ausgehend von diesen Überlegungen lässt sich die Relevanz des Raums für die serielle Handlung durch eine Skala beschreiben, an deren einem Ende er bei gleichbleibender Handlung für austauschbar, am anderen Ende jedoch als unerlässlich gilt. Dieser

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Vgl. Ganz-Blättler/Scherer 1997, 245ff; sowie Rothemund 2017, S. 467; vgl. auch II.3.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. Mikos 2015, S. 104f.; Dennerlein 2009, S. 179ff.; sowie Bachtin 2008 [1975] in II.2.3.1 in dieser Arbeit. Vgl. Dennerlein 2009, S. 179–182. Vgl. Ebd., S. 182. Während Dennerlein sich eher auf die Verbindung zwischen Handlungsschemata bzw. scripts konzentriert, bezieht Frank auch weitere raumbezogene Erwartungen, z.B. die Lage zu anderen Objekten im Raum ein, indem sie den Begriff des frame verwendet; Frank 2017a, S. 200. Zum Mangel dominanter Handlungsmuster in der Science-Fiction vgl. Spiegel 2013a, S. 247. Ausnahmen innerhalb des Dystopie-Genres dürften vor allem literarische und filmische Serien für Kinder und Jugendliche seit den Hunger Games darstellen, die das Schema einer von Jugendlichen angeführten Revolution gegen ein totalitäres Systems immer wieder aufgreifen. Beispiele hierfür wären neben der Hunger Games-Trilogie Metropolis, Alphaville, Equilibrium, Logan’s Run (1977), USA, Regisseur: Michael Anderson; sowie The Running Man (1987), USA, Regisseur: Paul Michael Glaser.

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Ansatz impliziert, dass die serielle Handlung ebenso wie der Raum vom Beginn der Serie bis zu ihrem Ende kohärent bleibt und, ähnlich wie in einem Roman oder Spielfilm, überwiegend aufgrund ästhetischer Entscheidungen gestaltet wird. Diese Prämisse ist jedoch, wie bereits aufgezeigt wurde, unvereinbar mit dem kommerziellen Charakter von TV-Serien, dem Einfluss von ökonomischen und technischen Gegebenheiten sowie von Zuschauern und verschiedensten Akteuren, die an der Produktion beteiligt sind.139 Dennoch bleibt die textanalytische Frage nach der Relevanz des Raums für die Handlung legitim, weil Räume in Serien eben nicht mit Blick auf eine eindimensionale Handlung, sondern auf verschiedenste denkbare Ereignisse bestimmt werden und weil auch Variationen der Räumlichkeiten immer mit dem eingangs konstruierten fiktiven Universum kompatibel sein müssen. Ein besonderes Augenmerk bei der Relevanz des Raums für die Serienhandlung liegt aus diesem Grund erneut auf der Initialphase der jeweiligen Serie, da in den Serienanfängen in verdichteter Form Hinweise auf den Charakter von Raum, Handlung und Erzählung vorliegen und diese Darstellung zugleich als Spiegel des Wissens der Serie um ihr Raum-Handlungs-Verhältnis gelesen werden kann.140 Als ein solcher ›Nährboden‹, der Ereignisse und Konflikte und in der Folge bestimmte Handlungen und Handlungsstränge der Serie ermöglicht, ist der jeweilige Raum der meisten dystopischen Serien in dieser Arbeit zu verstehen. Die diegetischen Räume serieller Dystopien werden gleich zu Beginn dergestalt eingeführt, dass bestimmte Handlungsfolgen absehbar erscheinen. Diese Räume sind nicht beliebig für unterschiedlichste Handlungen verwendbar, wie z.B. die Wohnungen in Mehrparteienhäusern der Daily Soap,141 das Krankenhaus der Arztserie, das Polizeipräsidium, Gefängnis und Gericht der Krimiserie. Während die Schauplätze dieser Serien für eine große Bandbreite an Ereignissen, Konflikten und Handlungssträngen produktiv werden können, sind die Räume serieller Dystopien auf bestimmte Handlungen abonniert und somit auch auf ein Ende der seriellen Erzählung ausgerichtet. Dies gilt für die Mehrheit der hier untersuchten fünf Kernserien mit Ausnahme von Alpha 0.7, wie die folgende Analyse zeigt.

Alpha 0.7 Die Genres, auf die sich die Serie bezieht, werden in der Initialphase relativ eindeutig markiert: Die zeitliche Verortung im Jahr 2017, die Musik, die Ästhetik der opening

139 Vgl. hierzu II.1.1.3 sowie II.3.2 in dieser Arbeit. 140 Vgl. zu Analysen des Serienraums im Anfang der jeweiligen seriellen Dystopie IV.1.1.1 sowie IV.1.2.1 in dieser Arbeit. 141 Die Relevanz des Raums für bestimmte Handlungen einzelner Serien oder ganzer Genres zeigt sich exemplarisch mit Blick auf deutschsprachige Daily Soaps: Deren erfolgreiche und langlebige Vertreter spielen häufig an einer Straße oder in Wohnungen von Mehrparteienhäusern: vgl. u.a. Lindenstraße (1985–2020), D: ARD, Creator: Hans W. Geißendörfer, Marienhof (1992–2011), D: ARD, Creator: Simon Müller-Elmau, Unter uns (1994-), D: RTL, Creators: Jörg Brückner/Ray Kolle, und Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Der Grund dafür mit Blick auf die Handlung ist wahrscheinlich, dass an diesem Ort die jeweiligen Akteure jederzeit verfügbar sind, Zusammentreffen umstandslos inszeniert werden können und sich durch die Unterschiedlichkeit der Bewohner, ihre Kombination miteinander und Vorstellungen vom Stadtleben immer wieder neue Anlässe für weitere Handlungsstränge ergeben.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

credits, das Überwachungsmotiv, die futuristische Architektur des Handlungsortes des National Pre-Crime Centers sowie die technologische Neuerung des Hirnscanners verweisen alle auf Science-Fiction und Dystopie. Der eingangs vorgestellte Handlungsraum bleibt aber eher unspezifisch bzw. lässt zumindest zu Anfang keine Schlussfolgerung auf die Handlung zu: Stuttgart geht einher mit Vorstellungen von Kleinbürgertum, von technologischen Innovationen und seit dem Bauprojekt am lokalen Hauptbahnhof ›Stuttgart 22‹ auch mit erbittert verteidigten Mitbestimmungsrechten durch Bürger.142 Bis zum Schluss wird der Handlungsraum Stuttgart mit seinen Eigenschaften aber kaum für die serielle Handlung fruchtbar gemacht: Der Versuch des Technologieunternehmens Protecta Society, Menschen durch Chips in ihren Gehirnen fernzusteuern und dadurch die Freiheitsrechte der Bürger einzuschränken, hätte auch an anderen Orten innerhalb Deutschlands oder in anderen Ländern der westlichen Welt stattfinden können.143 Handlungskonstituierend ist sicherlich auch das Versteck der Rebellen im Wald, ist jedoch auch so wenig auf Ebene der Erzählung präsent und so unspezifisch, dass auch dieser Ort verlegt werden könnte und die Handlung sich dadurch nur minimal änderte. Aus der mangelnden Relevanz des diegetischen Raums als ›Nährboden‹ für die Handlung lässt sich der Schluss ziehen, dass die Übertragbarkeit der Handlung und des Kampfes um den Schutz der Privatsphäre vor Wirtschaft und Staat Teil der didaktischen Funktion der kritischen Dystopie sind. Unter dieser Deutung bekäme der Schauplatz Stuttgart paradoxerweise doch eine besondere Funktion: Eben weil Stuttgart in der extratextuellen Welt eher mit einer häufig belächelten Beschaulichkeit und eher ordinären Lebensentwürfen assoziiert wird, mag die Auswahl dieser Location als Handlungsraum für kriminelle und unerhörte Eingriffe in das Privatleben besonders erschreckend erscheinen. Auch mögen ökonomische und kulturpolitische Gründe die Wahl des Drehortes beeinflusst haben, da der produzierende und ausstrahlende Fernsehsender SWR ein Funkhaus in Stuttgart unterhält sowie sich als Rundfunkanstalt der ARD neben zwei weiteren Bundesländern auch auf Baden-Württemberg konzentriert.

The Man in the High Castle Die zwei zentralen Konflikte der Serie finden einerseits zwischen den Repräsentanten der Japanese Pacific States und des Greater Nazi Reich in der Verteidigung und dem Ausbau ihrer Vormachtstellung, andererseits zwischen dem Widerstand beider ehemals US-amerikanischer Staaten und der Besatzungsmächte um liberale Werte statt. Diese

142 Vgl. Alpha 0.7, S2E3, »Piraten«. 143 Zwar werden reale lokale Sehenswürdigkeiten wie das Hohenheimer Schloss zum Handlungsort gemacht (vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Der freie Wille«). Allerdings wird der Ort nicht wegen einer bestimmten Bedeutung, sondern wegen seiner Funktion als öffentliches Gebäude und Kulisse für ein politisches Ereignis ausgewählt. Selbst die Elemente der Innenarchitektur des Schlosses wie einzelne Embleme, Symbole oder Gegenstände im Schloss, die intradiegetisch genutzt werden, um Johannas Attentat auf die Ministerpräsidentin auszulösen, werden nicht aufgrund ihrer jeweils spezifischen Semantik, sondern ihrer Zugehörigkeit zur Inneneinrichtung und visuellen Prägnanz verwendet, als landmarks, anhand derer sich für Johanna der bevorstehende Angriff konkretisiert und die das Attentat auslösen sollen.

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IV. Analyse der Serienräume

Konflikte sind dem Serienraum durch korrespondierende semantische Sphären eingeschrieben, die sich überlagern und miteinander koexistieren. Zu Beginn der Serie wird insbesondere die Dichotomie zwischen Pacific States und Nazi Reich betont. Die Serie stellt vor allem die nationale und geographische Teilung durch die Besatzer durch die auf einen Globus projizierte Karte aus.144 Zu Beginn der ersten Episode werden bereits die diplomatischen Unstimmigkeiten zwischen Vertretern beider Staaten und ihre Einschätzungen der Gegenseite dargestellt und offenbaren einen intranationalen Konflikt, der sich in der ersten und zweiten Staffel verstärkt und reduziert, spätestens aber in der vierten Staffel eskaliert. Die Dichotomie von Japanese Pacific States und Greater Nazi Reich wird darüber hinaus in der Gegenüberstellung von New York und San Francisco und ihren soziokulturellen Besonderheiten unter der jeweiligen Besatzung offenbart. New York wird durch die nächtliche Szenerie, den rauchenden, lässigen Geheimagenten Joe Blake, das Kino als Topos des american dream und den Time Square mit seinen Werbebildern im Stil des Film Noir präsentiert, andererseits aber durch die Überschreibung mit der Ikonographie der Nationalsozialisten pervertiert. Dem gegenüber steht, so die Logik des Serienbeginns, San Francisco unter japanischer Besatzung: Dieser sozio-kulturelle Raum wird nicht über die Vergnügungsheterotopie des Kinos,145 sondern über den Dojo eingeführt, in dem die Besinnung auf den eigenen Körper anstelle der Hingabe an die Fiktion eingefordert wird. Über Juliana erfolgt eine Erkundung San Franciscos bei Tage durch Straßen voller Menschen, die sich geordnet und relativ uniform nebeneinander bewegen, die durch japanische Schriftzeichen und Laternen ebenso gekennzeichnet sind wie durch den Blick auf die Golden Gate Bridge, bis hin zu einem Laden, in dem fernöstliche Medizin verkauft wird. Abgesehen davon, dass beide Rauminszenierungen bewusst oder unbewusst ethnische und nationale Stereotype bedienen oder zumindest eine solche Interpretation ermöglichen, sind sie auf die Kontrastierung der Staaten im Osten und Westen Nordamerikas hin angelegt. Bereits in der Initialphase angedeutet wird auch der räumlich-semantische Kontrast zwischen Besatzern und Besetzten. Die Serienhandlung wird weniger von einem Konflikt zwischen Japanern und Deutschen um politische Macht dominiert, als durch den Kampf um Selbstbestimmung und liberale Werte, der beiderseits der Neutralen Zone zwischen dem Widerstand und den jeweiligen Machthabern geführt wird. In den opening credits wird dieser Konflikt dadurch aufgenommen, dass Artefakte, die symbolisch für Kultur und Geschichte der USA stehen, durch Bilder überlagert werden, die den Akt der Besatzung repräsentieren oder durch Embleme und Symbole der jeweiligen Achsenmächte.146 Im Serienanfang wird der Kontrast zwischen Systemvertretern und -gegnern im Intermezzo des Nazi-Agenten Joe Blake mit den Mitgliedern des Widerstandes offenbar, die von der SS inhaftiert und hingerichtet werden. Auf Seiten der Japanese Pacific States findet die Ermordung des Widerstands-Mitglieds Trudy, der Schwester der

144 Vgl. hier und im Folgenden The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. 145 Vgl. zur Heterotopie des Kinos II.2.4.1 in dieser Arbeit. 146 Vgl. Haupts, Tobias (2016): Die schlechteste aller möglichen Welten. Alternate History und The Man in the High Castle. In: Spiel. Neue Folge. Eine Zeitschrift zur Medienkultur/Journal of Media Culture 2.2, S. 147–166, hier S. 155.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Protagonistin Juliana, durch die japanische Geheimpolizei statt. Dieser semantische Gegensatz wird räumlich markiert, da die Widerständler in beiden Staaten in marginalen, dunklen Orten wie Fabriken und Gassen handeln, SS und Kempeitai jedoch den öffentlichen Raum beanspruchen und alle semi-privaten und nicht-öffentlichen Orte ebenfalls nach Belieben okkupieren. Obgleich sich in diesem close reading der Initialphase zeigt, dass weite Teile der Serienhandlung ohne die Wahl der fiktiven Topographie nicht denkbar wären, bleibt der bis zum Ende der ersten Staffel gezeigte globale Serienraum mit Blick auf die Expansion in die Parallelwelten unspezifisch. Gerade in der Existenz der Parallelwelten zeigt sich jedoch, wie relevant die Selektion von Schauplätzen für die Serienhandlung ist, auch wenn die Ergänzung einer fiktiven Wirklichkeit um eine andere augenscheinlich nicht ähnlich sorgfältig vorbereitet werden muss, wie die Entfaltung in Orte und Räume auf gleicher ontologischer Ebene.

Trepalium und 3 % Die jeweiligen Handlungsräume, die in Trepalium und 3 % aufgespannt werden, stehen vor allem für die Trennung von privilegierten und unterprivilegierten sozialen Gruppen. Die Binarität der jeweiligen Serienräume impliziert von Beginn an Handlungsverläufe, die auf die Aufrechterhaltung der Grenzziehung sowie deren Destruktion ausgerichtet sind.147 Die grundlegenden Merkmale der Handlungsräume werden gleich zu Beginn der jeweiligen Serie in einem Prolog vorgestellt. Trepalium: 30 Jahre nach dem Mauerbau … 30 ans après la construction du Mur …148 3 %: O mundo dividido em dois lados. Um farto e um escasso. Entre eles, um processo de seleção./ Aos 20 anos de idade, uma única chance. Os escolohidos nunca retornam. Eles são os 3 %./ Ano 104 do processo149

Vgl. andere Dystopien wie Wir, Metropolis und die Hunger Games-Trilogie, in denen sich räumlich markierte soziale Segregation in der Destabilisierung sozialer Grenzen entlädt. 148 Trepalium, S1E1. Der Text erscheint sowohl in deutscher als auch französischer Sprache, da der produzierende Sender Arte in Frankreich und Deutschland ein gemeinsames Programm ausstrahlt. Der gesamte Text ist auf einer Schrifttafel bzw. in einer Einstellung enthalten. 149 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Die Schrägstriche im Zitat des Originaltextes kennzeichnen jeweils den Übergang zwischen den Schrifttafeln bzw. das Aus- und Einblenden von Schrift. Übersetzung im Deutschen: »Die Welt ist in zwei Seiten aufgeteilt. Eine im Überfluss und eine in Armut. Zwischen ihnen steht ein Auswahlprozess./Mit 20 Jahren hat man nur eine Chance. Die Auserwählten kehren nie mehr zurück. Sie sind die 3 %./Jahr 104 des Prozesses«.

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IV. Analyse der Serienräume

Trepalium umschreibt den Raum der Serie eher implizit – der Bau einer Mauer geht i.d.R. mit der Teilung eines Raums und der Erschaffung von zwei neuen einher. Zudem scheint es sich beim Mauerbau um ein einschneidendes historisches Ereignis für die fiktive Welt zu handeln, das für die Strukturierung der Vergangenheit und Einordnung der Gegenwart relevant ist. Scripts und frames, die mit dem Mauerbau auf Seiten der Rezipienten aufgerufen werden, zielen auf die Trennung ehemals verbundener Gesellschaften oder von Familien und Freunden, auf die Militarisierung einer Gesellschaft sowie auf Konflikte zwischen Staaten ab. Der Prolog von 3 % ist weniger assoziativ angelegt: Hier ist direkt von einer dauerhaften Trennung armer und reicher Individuen die Rede, die sich über Jahrzehnte hinweg verfestigt hat. Gelockert und zugleich manifestiert wird die Segregation durch einen Auswahlprozess, der für seine erfolgreichen Teilnehmer irreversibel ist. Das Raummodell von Dystopien, in denen der Wohlstand deutlich ungleich verteilt ist, wird als solches neben den verbalen Hinweisen auch durch die genrespezifische Ästhetik markiert. Die kargen futuristischen Klänge, die weiße, serifenfreie Schrift auf schwarzem Grund sowie die Verlagerung der Handlung in die Zukunft rufen Assoziationen zu filmischen Dystopien sowie science oriented Dystopien auf.150 Diese Referenzen wecken ebenso wie die beschriebene Raumsemantik Erwartungen auf Handlungen, die von gesellschaftlichen Konflikten ausgehen und im Versuch münden, diese eskalieren zu lassen, um sie anschließend zu befrieden. In den jeweiligen cold openings wird der diegetische Raum ebenfalls als handlungsgenerierend inszeniert. In Trepalium wird das cold opening in der Zone eröffnet, aus der Perspektive der Outlaws. Obwohl die sozialen Hierarchien und auch nicht die Aufstiegsmöglichkeit durch den Erhalt von Losen noch nicht verbalisiert wurden, so vermittelt bereits die Bildsprache die Segregation sowie das Streben der Außenbewohner, Teil der Stadtgesellschaft zu werden. Maßgeblich verantwortlich hierfür ist neben der kontrastierenden Farbgebung zwischen kühl anmutendem Blau (Zone) und warm wirkendem Gold (Stadt) die Kamerabewegung, die von den Zonenbewohnern ausgeht (topologisch unten) und mit Blick auf die Stadt in einer Panoramaeinstellung endet (topologisch oben).151 Die der Bewegung eingeschriebenen Werte von arm zu reich, machtlos zu mächtig, signalisieren ebenso einen handlungstragenden Konflikt wie die strenge Bewachung der Stadt durch Soldaten und ihre Eingrenzung in einer massiven Mauer. Das cold opening endet in einem Cliffhanger, der seine Spannung auf die folgenden Episoden, aber auch die Staffelhandlung vollkommen aus dem Kontrast und sich andeutendem Konflikt der semantischen Räume Zone und Stadt bezieht. Auch das cold opening von 3 % wird im Raum der Entrechteten eröffnet und endet an der Grenze zum Sehnsuchtsort, der Insel der drei Prozent. Allerdings werden die Rezipienten im cold opening nicht auf Slum und Insel als Handlungsorte ›vorbereitet‹, sondern auf das Ghetto und den Übergangsraum des Wettkampfgebäudes. Angebahnt wird somit vor allem der Versuch der Bewohner, den Slum zu verlassen; das Betreten der Insel ist nicht für die Staffelhandlung vorgesehen. Aus diesem Grund wird in fast epischer Breite

150 Vgl. u.a. Metropolis, Logan’s Run, Blade Runner und The Hunger Games. 151 Vgl. zum Serienbeginn von Trepalium IV.1.1.1 in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

der Weg der 20-jährigen Slum-Bewohner durch ihr Ghetto hindurch, vorbei an Freunden und Familienmitgliedern sowie den Gescheiterten, denen der Zutritt zur Insel nicht gewährt wurde, präsentiert.152 Während das cold opening deutlich auf die Konflikte und ihre räumlichen Bedingungen der folgenden Staffel verweist, wird ein weiterer, staffelüberspannender Konflikt aufgezeigt: Kurz vor Ende dieses Segmentes wird das eigentliche Ziel der Bewerberinnen, der Eintritt in die Insel, über eine in den Raum projizierte Karte illustriert, auf der sich ein Objekt vom Festland nach Maralto bewegt. Die Karte referiert zum einen auf den diegetischen Versuch der Bewerber, vom Slum ins Paradies zu gelangen, ist zugleich aber auch ein metanarrativer Kommentar, weil sie den Kern der Handlung der ersten Staffel zusammenfasst. Bei Trepalium und 3 % wird jeweils allein aus der Wahl des Raums sowie seiner Inszenierung der Handlungsverlauf und die Nähe des Raums zur kritischen Dystopie deutlich: Die erstarrte Architektur und räumliche Trennung gesellschaftlicher Schichten verlangt geradezu ihre Destabilisierung. Während diese Räume den Gegensatz von Arm und Reich symbolisieren, sind es aber nicht zuletzt die Räume, die für die zweite Konfliktlinie der Serien stehen, für die Auseinandersetzung zwischen Systembefürwortern und -gegnern. Ähnlich wie in The Man in the High Castle werden auch in Trepalium und 3 % bereits in den ersten Episoden die Handlungsorte der Machthaber sowie der Rebellen vorgestellt.153 3 % stellt insofern eine Abweichung dar, als der Serienraum in der dritten Staffel mit der Etablierung der Concha modifiziert wird und diese Veränderung auf eine Entwicklung der Handlung zurückzuführen ist, die zumindest nicht mit den in der Initialphase präsentierten Räumlichkeiten angebahnt wurde. Da der Konflikt zwischen ProcessoLeitung und Rebellen an Schwungkraft zu verlieren droht, entsteht in der dritten Staffel ein Konflikt zwischen Aussteigern, die ihre eigene intentional community gründen, und den Machthabern. Paradoxerweise ist ein Großteil der Handlung der dritten Staffel also darauf zurückzuführen, dass die Gruppe um Michele gar keine Auseinandersetzung sucht und sich dem Konflikt, der aus der binär strukturierten Serientopographie resultiert, einfach entzieht. Die Bedrohung der Eutopisten durch das Militär des Processo, ihre internen Intrigen sowie ihre Versuche, sich gegen die Machthaber zu schützen, verlangen einen anderen Handlungsraum. Wiederum werden aber auch in der Concha, wie zuvor im Processo-Gebäude in der ersten Staffel, Wettbewerbe durchgeführt, die zur Auswahl der Bewohner führen sollen. Die Expansion um die Concha in der Wüste bestätigt zum einen, dass der eingangs vorgestellte Raum auf ganz spezifische Handlungen zugeschnitten ist, zum anderen aber auch, dass in der Serie kein Raum, auch kein ›nachträglich‹ hinzugefügter, austauschbar wäre.

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Besondere Nachdrücklichkeit erhält diese Darstellung, weil über weite Teile der Sequenz hinweg die sprachlichen Äußerungen der Figuren nicht vernehmbar sind, und stattdessen ihre Bewegungen, der Raum sowie die Musik im Vordergrund stehen. Sowohl in Trepalium als auch in 3 % handelt es sich dabei um jeweils unterirdische Verstecke der Rebellen bzw. der Mitglieder von La Causa.

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IV. Analyse der Serienräume

Wayward Pines Im Zentrum der Handlung von Wayward Pines steht einerseits die Auseinandersetzung um Selbstbestimmung zwischen den Kleinstadtbürgern und deren Regierung, andererseits der Schutz der letzten Menschen vor den Mutanten in der Wildnis. Obgleich auch dieser Handlungsraum unerlässlich für die Ereignisse der Serie ist, lassen sich die Konflikte und die sich daraus ergebenden Handlungen kaum aus der Initialphase ›herauslesen‹. Wayward Pines eröffnet mit mehreren semantischen Räumen, die für jeweils unterschiedliche Handlungen und Konflikte stehen: Im cold opening wechseln sich Einstellungen ab, die Ethan in der Praxis eines Psychiaters zeigen mit denen, in der sich der Held in einem Wald befindet; anschließend betritt Ethan Wayward Pines.154 Zwar ließe sich argumentieren, dass durch Wald und Stadt ein Konflikt zwischen Abbies und den letzten Menschen angedeutet werde, der für beide Staffeln weitaus wichtigere Konflikt zwischen totalitärem Regime und Widerständlern kommt hier jedoch nicht zum Vorschein. Anders als bei The Man in the High Castle, Trepalium und 3 % kann hier nicht davon ausgegangen werden, dass die Initialphase als Speicher räumlichen Wissens fungiert und in verdichteter Weise die Bedeutung der Topographie für die Handlung vorwegnimmt. Vielmehr wird im cold opening sowie in den opening credits, die fast ausschließlich auf die Stadt referieren, nicht nur bewusst der Eindruck räumlicher,155 sondern auch narrativer Orientierungslosigkeit erzeugt. Dennoch könnte die Serienhandlung an keinem anderen Ort der USA als dem Umland von Boise in Idaho spielen. Die Serie macht ganz bewusst vom spatial capital im Sinne von McNutt Gebrauch, bezieht also das Wissen um Idaho und die Kultur, Historie und gesellschaftlich-politische Struktur des Bundesstaates für die Handlung ein.156 Idaho, assoziiert mit einer christlich-konservativen Politik, muss als Kulisse für Dr. Pilchers Vorstellung der Post-Apokalypse und der Rettung weniger, scheinbar besonders wertvoller Repräsentanten der Spezies Mensch in einer ›Arche‹157 herhalten. Die konservative Haltung, die mit dem Bundesstaat assoziiert wird, wird in beiden Staffeln als spatial capital aktiviert und überspitzt reflektiert, wenn christlich-fundamentalistische Werte durch den Zwang zur Reproduktion bei Erwachsenen sowie Teenagern und die Todesstrafe für Homosexualität indirekt kritisiert werden.158 Selbst die Wildnis, die die Kleinstadt umgibt, verweist auf regionale Natur und Politik. Die Western White Pine zählt zu den Emblemen des Bundesstaates, mehrere Arten des titelgebenden Nadelbaums prägen die Wälder Idahos und sorgen für Lokalkolorit, während die Ruine des Idaho State Capitols in Boise, auf die Ethan während seiner Expedition trifft,159 für die Bedrohung von Freiheit und Rechtstaatlichkeit steht, die die Handlung prägt.

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Vgl. hier und im Folgenden Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Vgl. hierzu IV.1.1.1 in dieser Arbeit. Spatial capital erläutert McNutt an anderer Stelle als »the value space and place take on within a given text across ist production, distribution, and reception«, allerdings ebenso wie in McNutt 2017a nur in Bezug auf reale Drehorte und deren Transfer in eine TV-Serie; vgl. McNutt 2017b. Vgl. hierzu auch II.3.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Vgl. ebd., S2E5, »Sound the Alarm«. Vgl. ebd., S1E5, »The Truth«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

2.2.2 Handlungsräume und -orte als Branding der Serie Die Bedeutung des diegetischen Raums für die Serie wird in den opening credits sowie weiteren seriellen Paratexten von Wayward Pines, The Man in the High Castle, Trepalium und 3 % als Teil des Brandings der jeweiligen Produktion ausgestellt. Dadurch reflektiert die jeweilige serielle Dystopie die enge Verknüpfung von Serienraum und Handlung, transformiert den Raum aber zugleich zum Symbol für die eigene Handlung und Erzählung. Die opening credits haben u.a. die Funktion, die »Wiedererkennung der Serie« zu gewährleisten und als »Identitätszeichen und […] als regelrechtes corporate design des gesamten Formats« zu fungieren.160 Bis auf Alpha 0.7 wird diese Funktion in allen vier Serien unter Verwendung des diegetischen Raums statt.161 Bei Wayward Pines verweist bereits der Episodentitel auf die Relevanz des Raums für die Handlung. In Plakaten und anderen Werbebildern, die durch die Produktion oder Fans veröffentlicht werden, ist die Präsenz von Merkmalen des Raums, die ihn symbolisch oder metonymisch evozieren (Pinien, Nebel, Kleinstadtarchitektur) sowie serienspezifischer filmischer Darstellungsästhetiken (Verkehrung der Seitenverhältnisse) besonders hoch.162 Die zentralen Konflikte der Serie werden weniger durch eine räumliche Segmentierung, sondern durch die metareferentielle Ästhetik in den credits verdeutlicht: Die ohnehin artifizielle Kleinstadt wird in den opening credits abermals verfremdet, in dem sie als Miniaturmodell aus Holz und Kunstsand in Pastellfarben abgebildet wird. Ausgeblendet werden dabei die Räumlichkeiten im Bergmassiv, die Außenwelt, in der die Abbies hausen sowie die Orte konspirativer Treffen, womit die Serie zugleich ihre vielfältig angelegte Handlung und storyworld unterschlägt.163 In den Werbebildern ist hingegen die Kulisse aus Wald und Gebirge weitaus präsenter.164 Mit Blick auf die Serienhandlung, die u.a. durch die semantischen Gegensätzen dieser Orte hervorgerufen wird, ist keiner davon allein relevant, weshalb auch hier weniger von einer Ausstellung des Wissens um den Raum als Nährboden serieller Handlung, sondern von einer Desorientierungsstrategie ausgegangen werden kann, und die zitierten Räume der Kleinstadt in den opening credits eher die Funktion tragen, eine bestimmte Atmosphäre und filmische Erfahrung zu erzeugen als die Handlung anzudeuten. 160 Schleich/Nesselhauf 2016, S. 188f, Herv. i. O. 161 In den opening credits der Serie wird zwar eine Anordnung von Nervenzellen präsentiert, die an ein räumlich strukturiertes Modell erinnert und ebenso sind Zeichnungen zu sehen, in der Symbole wie Bilder von Handys wie in einer Mind-Map angeordnet sind; die dargestellten Modelle referieren jedoch nicht auf diegetische Räume. Weitere serielle Paratexte nehmen ebenso wenig Bezug auf den Handlungsraum von Alpha 0.7. 162 Vgl. u.a. die Kachel im Programm von Amazon Prime, mit der die erste Staffel angekündigt wird, Date Announcement Banner sowie DVD-Cover für diese Staffel u.a. Andrew (25.11.2015): Wayward Pines: Season 1 (2015) R1 DVD Cover. In: DVDcover.com. Replacement Archive. https://dvdcover.com/ wayward-pines-2015-r1-dvd-cover/, aufgerufen am 4.08.2020. 163 Die opening credits für die zweite Staffel von Wayward Pines enthält im Gegensatz zu dem für die erste Staffel einige Hinweise auf die Welt außerhalb der Stadt und die Existenz der Abbies, darunter eine Nachbildung des elektrischen Zauns, die hinter den Häusern zu sehen ist sowie Spuren auf dem Ortsschild, die auf die Klauen der Mutanten verweisen; vgl. Wayward Pines, S2E1, »Enemy Lines«. 164 Vgl. Anm. 162 in diesem Teilkapitel bzw. IV. 2.2.2..

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IV. Analyse der Serienräume

The Man in the High Castle verwendet in den opening credits ebenso nicht Bilder des diegetischen Raums, sondern verweist auf ihn durch räumliche Repräsentationsmodelle, die jedoch so kodiert sind, dass sie Aufschluss über handlungstragende Konflikte geben. So werden Ausschnitte des nordamerikanischen Kontinents auf einem Globus mit Relief gezeigt, auf den Längen- und Breitengrade sowie die Grenzen von Staaten mit entsprechenden Emblemen projiziert werden.165 Die geologischen Informationen werden mit politisch-militärischen überschrieben, weil Pfeile, die sich über das Meer auf das Land bewegen, als militärische Operationen der Achsenmächte beim Versuch, die USA zu besetzen, interpretiert werden können. Die Projektion nationaler Symbole und Flaggen für das imperialistische Japan und das faschistische Deutschland auf den Globus stehen für den Erfolg dieses Unterfangens, zugleich aber auch für eine unbefriedete Situation, in der eine Auseinandersetzung zwischen Siegern und Besiegten vorprogrammiert ist. Ähnlich räumlich markiert ist die Projektion von Symbolen der Besatzer auf Plastiken kultureller Wahrzeichen wie der Golden Gate Bridge oder, in den opening credits der zweiten und dritten Staffel, auf das zerstörte Capitol in Washington, D.C.166 In diesen modifizierten credits ist ein Miniaturmodell von ›Germania‹, der fiktiven Hauptstadt des Greater Nazi Reich, zu sehen, das zugleich auf den realen Entwurf des Architekten Albert Speers referiert. Die neuen Miniaturmodelle in den credits markieren die Erweiterung des Handlungsraums um zusätzliche temporäre Schauplätze in der zweiten und dritten Staffel. Die Kartenprojektion, die in sich nicht nur einen Kommentar auf den diegetischen Raum, sondern auf die Besetzung des Raums durch Aggressoren und die daraus entstehenden Auseinandersetzungen ist, wird nicht nur im cold opening zum Symbol der Serie, sondern auch auf DVD- und Buchcovern sowie Plakaten (vgl. Grafik 6). Die opening credits der bisher erschienenen Staffeln von 3 % referieren jeweils symbolisch auf die gesamte bislang wahrnehmbare fiktive Topographie sowie die Handlungsräume Slum, Maralto und Concha, um die die storyworld im Rhythmus von Staffeln erweitert wird. In jedem der opening credits bleibt ein Bild der Karte erhalten, die im initialen cold opening der Serie zu sehen ist und die die Lage vom Festland zur Insel illustriert.167 Dadurch wird sowohl auf die der Seriendiegese zugrundeliegende Raumaufteilung als auch auf die Variation von Schauplätzen und die Prozessualität des Serienraums aufmerksam gemacht.168 Das Intro von Trepalium greift ebenfalls die binäre Raumaufteilung auf. So ist der Bildraum in den opening credits in ein oberes und unteres Dreieck eingeteilt.169 Beide Dreiecke befinden sich vor dem Bild einer Wasseroberfläche und öffnen sich immer weiter, sodass sich ihre Schenkel zum Ende der credits treffen und der Bildschirm waagerecht in ein oberes und unteres Rechteck getrennt ist. Im Laufe der credits sind im oberen Teil Bilder zu sehen, die symbolisch für Konsum (z.B. Dollarnoten), menschliche Entfremdung (z.B. vereinzelte Menschen im Kaufhaus) und die Ausbeutung von Arbeitskraft (z.B. Näherinnen in einer Arbeitshalle) stehen, während im unteren Ausschnitt Bilder aufeinanderfolgen, die auf Armut (z.B. Menschen, die in einer

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Vgl. hier und im Folgenden The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Vgl. hier und im Folgenden ebd., S2E1, »The Tiger’s Cave«. Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«. Vgl. hierzu IV.3.1 sowie IV.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. Trepalium, S1E1.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Zeltstadt wohnen) und Umweltzerstörung (z.B. leblose Vögel in verunreinigtem Gewässer) verweisen. Die oberen Bilder sind in Goldtönen, die unteren in Blautönen gehalten, wodurch die ästhetische Gestaltung der Handlungsorte Zone und Stadt aufgegriffen wird. In den letzten Einstellungen muten die Bilder beider Abschnitte trostlos an, zeigen verwaiste Orte ohne Menschen und rufen post-apokalyptische Vorstellungen auf. Der Serienraum wird in den opening credits zu einem ästhetischen Programm erhoben und dient hier ebenfalls als Nährboden einer Geschichte, die der der Kernserie ähnelt, aber anders endet: In der dystopischen, allein von Interessen des Marktes bestimmten Welt wird die Gesellschaft in arm und reich getrennt, voneinander entfremdet und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen so weit vorangetrieben, bis die Menschheit sich die Lebensgrundlage entzieht. Der gleiche binär strukturierte Raum ›erzählt‹ bzw. symbolisiert allerdings in den opening credits den Niedergang der Zivilisation durch Ressourcenausbeutung. Die fernseh-serielle Inszenierung dieser weit verbreiteten Prophezeiung erfüllt ebenso wie die Handlung der Kernserie die didaktische Funktion der Dystopie, die Rezipienten zur Reflexion ihres gegenwärtigen Handelns zu bewegen und zeigt zugleich die Produktivität des Serienraums mit Blick auf mehrere Handlungsverläufe.

2.2.3 Räumliche Bewegung als Motor serieller Handlung Die Handlung der dystopischen Serien wird vor allem durch räumliche Bewegung der Charaktere vorangetrieben. Wie bereits dargelegt wurde, geht Lotman von einem Handlungsbegriff aus, der sich aus räumlicher Bewegung und der Verletzung intratextueller Normen ergibt, die sich in der Überschreitung konkreter Grenzen niederschlägt.170 Lotman zufolge kann der Übertritt einer Grenze zwischen semantisch gegensätzlichen Räumen durch eine bewegliche Figur wie folgt realisiert werden. a) Scheitern des Übertritts und Ende der Handlung b) Erfolgreicher Übertritt und Rückkehr; Held bleibt unverändert und beweglich, die Handlung kann fortgesetzt werden c) Erfolgreicher Übertritt, Held verbleibt im Gegenraum und nimmt dessen Merkmale an; die Bewegung kommt zum Stillstand, weil die bewegliche zur unbeweglichen Figur wird.171

Krah schlägt eine weitere Differenzierung der Grenzüberschreitung nach Lotman sowie ihrer Konsequenzen vor. Die »eigentliche Grenzüberschreitung«, bei der die Merkmale der Figur nicht verändert werden, entspricht in seinem Vorschlag Variante b), die Veränderung der Figur im Zuge des Übertritts entspricht Variante c) nach Lotman.172 Eine Ergänzung der von Lotman formulierten Konsequenzen stellt Krahs Vorschlag des »Metaereignis[es]« dar:

170 Vgl. hierzu II.2.3.2 in dieser Arbeit. 171 Vgl. Lotman 1993 [1970], S. 342 sowie II.2.3.2 in dieser Arbeit. 172 Krah 1999, S. 7.

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IV. Analyse der Serienräume d) Das »System der semantischen Räume […] [wird] selbst transformiert […]; Grenzen werden aufgehoben, verschoben, konstituieren sich neu, wodurch eine Figur von ihrem zugehörigen Raum getrennt wird«.173

Die Konsequenzen der Grenzübertritte bzw. der Transformation semantischer Räume integriert Krah in eine Theorie des »Konsistenzprinzips«:174 Ein ereignishafter Zustand ist in einen konsistenten, ereignislosen zu überführen; dieses Prinzip dient als Motor von Handlung und ›Problemlösung‹. Bei der Ereignistilgung gibt es in der Logik des Systems, analog der Entstehung von Ereignissen, drei prinzipielle Varianten: (a) [hier b)] die Rückkehr in den Ausgangsraum, bei der der frühere Zustand wiederhergestellt wird, (b) [hier c)] das Aufgehen im Gegenraum; dies entspricht einem Verlust der eigentlichen/früheren Merkmale und der Annahme der nun konstitutiven. Je nach ›ideologischer‹ Auffüllung – und Perspektive – lassen sich diese prinzipiellen Varianten als Ausgrenzung, Flucht, Integration, Assimilierung deuten […]. Ferner gibt es die (c) [hier d)] Metatilgung, bei der analog dem Metaereignis eine Transformation der Welt an sich stattfindet, dergestalt, daß eine ursprünglich ein Ereignis darstellende ›Grenzüberschreitung‹ nun nicht mehr als Ereignis interpretiert wird, da die betreffende Grenze ihren Status als Grenze verloren hat […].175 Krah betrachtet nicht das Ereignishafte und Unerhörte als Motor der Handlung, sondern den Versuch, im Anschluss an den Normbruch zur Normalität zurückzukehren oder eine neue Normalität zu etablieren. Serielle Erzählungen benötigen jedoch McNutt zufolge immer wieder neue Impulse, um Handlungsstränge aufrechtzuerhalten und zu erweitern176 und sind demzufolge überhaupt nicht darum bemüht, ereignislos zu werden.177 Insbesondere Serien, die über einen langen Zeitraum entfaltet werden, begnügen sich höchstens temporär mit Ereignislosigkeit. Sie streben in der Regel nach immer neuen Konflikten, Normbrüchen und somit Anlässen für weitere oder für die Wiederbelebung bereits bestehender Handlungsstränge. Einer der ›Motoren‹ seriellen Erzählens ist McNutt zufolge das spatial capital des Schauplatzes, womit er seine Ausführungen allerdings auf Locations bzw. Drehorte eingrenzt, die als solche auch bei der Serienrezeption er-

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Ebd. Dabei bezieht sich Krah auf Renner 1983; ebd., S. 7. Ebd., S. 7f. Martínez/Scheffel 2009 teilen die sujethaften Texte in revolutionäre (erfolgreiche Grenzüberschreitung) und restitutive (gescheiterte oder aufgehobene Überschreitung) auf; vgl. ebd., S. 142. Auch Mahler fordert eine weitere Differenzierung an Fällen von Grenzüberschreitungen: Er schlägt vor, die Texte, die eine Grenzüberschreitung als nur vorläufig erfolgreich inszenieren, in solche zu unterteilen, in denen die Grenzüberschreitung a) rückgängig gemacht wird (»›Restitutionsschema‹«) oder b) nachhaltig ist (»›Revolutionssujet‹«). Der letzte Fall müsse weiterhin aufgegliedert werden in Normbrüche, die immer noch im Kontrast mit dem bestehenden Weltbild stehen und solche, in denen der Normbruch mit einem neu etablierten Weltbild zusammenfällt; Mahler 1998 zit. in: Ruhe, Cornelia (2015): Semiosphäre und Sujet. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 170–177, hier S. 175. Vgl. McNutt 2017, S. 78f. sowie II.3.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu auch Schultz-Pernice 2016a, S. 43f. sowie II.1.1.1 in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

kennbar werden.178 Die Metapher des Raums als Motor seriellen Erzählens sowie seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung und Erweiterung der Serienhandlung soll im Folgenden übertragen werden auf die Mobilität von Figuren und ihre semantisch-topographischen Grenzüberschreitungen im Sinne Lotmans. Durch diesen Ansatz können neben realen Drehorten auch eigens für die Serienproduktion konstruierte Räume bzw. Kulissen und imaginäre Raumentwürfe auf ihr Potential für die Serienhandlung hin befragt werden. Grenzüberschreitungen können in seriellen Erzählungen Ereignisse, Konflikte sowie Handlungen herbeiführen und aufrechterhalten. Obgleich viele gegenwärtige Serien sich durch eine Fülle an Figuren, Räumen und Orten auszeichnen, begrenzt die Wiederholung zentraler semantischer Räume oder einzelner Orte die Anzahl der Räumlichkeiten, sodass Grenzüberschreitungen im Sinne Lotmans als unerhörte, nie dagewesene Ereignisse, limitiert bleiben.179 Die Wiederholung von Räumlichkeiten und Figuren innerhalb einer Serie verlangt einen nachhaltigen Umgang mit Grenzübertritten, der nur erreicht werden kann, wenn Räume und Figuren gleichermaßen ›recycelt‹ werden, also die gleichen Strukturen auf ihrer Oberfläche variiert oder die gleichen Räume und Figuren, aber mit anderen Bedeutungen, wiederverwendet werden. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist die Bewegung von Juliana im Serienraum von The Man in the High Castle im Vergleich der ersten mit der zweiten Staffel.180 In der ersten Staffel arbeitet Juliana im Nippon Building in den Japanese Pacific States, um Informationen für den Wiederstand zu beschaffen. Dieser Übertritt ist eine Grenzverletzung, da eine vormals unpolitische Bürgerin im Auftrag des Widerstandes in den Raum der Besatzer eintritt und hier sowohl durch Spionage gegen deren Ziele agiert als auch eine persönliche Bindung mit einem ranghohen Vertreter des Regimes entwickelt, dem Handelsminister Tagomi. In der zweiten Staffel wird dieser Übertritt in einem anderen räumlichen Umfeld wiederholt und durch diesen Wechsel der topographischen ›Oberfläche‹ und andere Vertreter eines anderen Regimes variiert: Juliana erhält als politischer Flüchtling Asyl im Greater Nazi Reich sowie Zugang zum familiären Umfeld des Obergruppenführers Smith und dem Freundeskreis seiner Ehefrau. Kurz darauf wird sie vom Widerstand zum Ausspähen der Smiths akquiriert.181 Im Grunde liegen in beiden Staffeln die gleichen Bewegungen und Grenzübertritte vor, die durch eine Verlegung in einen anderen Raum bzw. eine Strategie variiert werden, die Schultz-Pernice als Verdeckung bezeichnet.182 Durch diese Übertragung eines zentralen Handlungsstranges von einem Raum in einen anderen bzw. einer Staffel in eine

Vgl. hierzu McNutt 2017a sowie II.3.3.2 in dieser Arbeit. Zum spatial capital nach McNutt vgl. Anm. 156 in IV.2 in dieser Arbeit. 179 Auf das Problem serieller Erzählungen, einen Ausgleich zwischen Ereignishaftigkeit und Serialität zu finden, weist Schultz-Pernice hin; vgl. ebd. 2016, S. 43f. Vgl. auch II.1.1.1 in dieser Arbeit. 180 Vgl. im Folgenden Kröber 2020a, S. 374–377. 181 Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der ersten und zweiten Staffel mit Blick auf Julianas Handlungsstrang liegt darin, dass sich Juliana im jeweiligen Staffelfinale gegen den kurzfristigen Erfolg des Widerstandes und für den Schutz eines Repräsentanten des Nationalsozialismus (Joe Blake bzw. Thomas Smith) entscheidet; vgl. Kröber 2020, S. 375f. 182 Vgl. Schultz-Pernice 2016a, S. 45 sowie II.1.1.1 in dieser Arbeit. 178

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IV. Analyse der Serienräume

andere wird deutlich, wie The Man in the High Castle trotz eines begrenzten Serienraums durch das geschickte Austauschen von Figuren, einzelner Räume und Orte Grenzüberschreitungen als ereignishaft erscheinen lassen kann, obgleich sie im Kern bereits zu dem für die Serie etablierten narrativen Normen gehören. Weil in den neueren, polyzentrisch erzählenden Serien i.d.R. jeweils mehr als eine Hauptfigur existiert, werden räumliche Bewegungen als narrative Motoren nicht nur in Variation wiederholt, sondern es koexistieren mehrere solcher Motoren gleichzeitig. So finden z.B. in The Man in the High Castle auch ereignishafte Grenzüberschreitungen statt, die von anderen Figuren in jeweils anderen Handlungssträngen ausgeführt werden.183 Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Serienhandlung auch durch bestimmte Themen oder Figurenhandeln angestoßen werden kann, bei denen kein vordergründiger Bezug zur fiktiven Topographie vorliegt, wie McNutt konstatiert: In order to generate enough storylines to support an ongoing television series, a show must start with a set of themes, situations, or character relationships that sustain the series moving forward, through what Michael Newman characterizes as the ›beats and arcs‹ of TV narrative (2006). Whether considering a high scholl drama or a workplace sitcom, all shows rely on one or more engines to generate these beats and arcs, maintaining storytelling momentum through an entire season. In the context of contemporary drama, meanwhile, shows tend to rely on multiple engines, able to generate storylines that can function both episodically and serially over the course of a season or series.184

The Man in the High Castle, Trepalium und 3 % Das Konzept asynchroner Figurenbewegung durch variable Räume als Motor serieller Handlung erweist sich insbesondere mit Blick auf The Man in the High Castle, 3 %, und Trepalium als produktiv. In den drei Serien liegen jeweils raumsemantische Gegensätze zwischen Orten der Systemaffirmation und -destabilisierung vor (vgl. Tab. 5). Die Räume, die von den Systemvertretern beansprucht werden und diese repräsentieren sind meistens institutionalisiert, öffentlich bekannt und dauerhaft – ein Beispiel aus The Man in the High Castle ist das SS-Headquarter in New York. Die Orte, in denen sich Rebellen und Widerständler treffen, sind hingegen eher entlegen und geheim, oft auch nur temporär Schauplatz subversiver Handlungen, wie der Bahnhof, in dem sich Juliana in der Pilotepisode mit einem Vertreter des Widerstands trifft.185 Die Protagonisten von The Man in the High Castle, Trepalium und 3 % sind par excellence bewegliche Figuren im Sinne Lotmans, da ihre jeweilige Bewegung bis zum Ende der jeweiligen Serie nicht in einem semantischen Raum zum Stillstand kommt. Juliana (The Man in the High Castle), Izia (Trepalium) und Michele (3 %) werden zwar von Beginn an auf Ebene des discours als ›Grenzgänger‹ erkennbar, aus intradiegetischer Sicht ist von ihnen jedoch kein Normbruch zu erwarten. So wird Julianas Offenheit gegenüber der japanischen Kultur durch Aikido-Training und Vorliebe für Sake-Cocktails ebenso

183 Vgl. Kröber 2020a, S. 377. 184 Vgl. McNutt 2017a, S. 78. 185 Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

verdeutlicht wie ihre Nähe zu ihrer Mutter, die den Besatzern abweisend gegenüberstehen.186 Die Ermordung ihrer Schwester Trudy durch die japanische Geheimpolizei lässt sie deren Rolle beim Widerstand einnehmen.187 In Trepalium gelangt Izia durch ein Los von der Zone in die Stadt, arbeitet dort als Solidarische bei Ruben und gibt sich dann als dessen Ehefrau aus, um später für die Rebellen Informationen zu beschaffen. Und in 3 % nimmt Michele als verdecktes Mitglied der Rebellengruppe La Causa am Processo Teil, um auf die Insel zu gelangen.

Topographie systemaffirmierend

systemablehnend

Alpha 0.7

Zentrale des Konzerns Protecta Society, National Pre-Crime Center

Versteck der Aktivistengruppe apollon im Wald, Versteck von Mila, Ralf und Johanna in Marseille/Küste Südfrankreichs

Wayward Pines

Zentrale im Bergmassiv

Spielzeugladen der Ballingers, Kapelle auf Friedhof, Wohnwagen von Ben

The Man in the High Castle

Gebäude politischer Handlungsmacht in den Pacific States (u.a. Nippon Building, Sitz der Kempeitai), im American Reich (SSHeadquarter, Wohnsitze der Familie Smith), im Nazi Reich (u.a. Reichskanzlei und Große Halle)

Orte des Widerstandes in Pacific States (Lagerhalle, Blumenladen von Karen, Ghetto in San Francisco), im American Reich (Gassen, Parkbänke, Untergrundbar, Wohnung von Bell und Elijah, Wohnung des Widerstands in Harlem), in der Neutralen Zone (Wälder, Grand Palace, Wohnhaus der Abendsens, Sabra)

Trepalium

Gebäude politischer Handlungsmacht (Regierungsgebäude, Wohnung von Nadia Passeron und Monroe Moretti, Wohnung von Lars Passeron), Zentrale des Konzerns Aquaville

Versteck der Rebellen im Tunnelsystem unter Stadt und Zone, Schule in Zone, Treffpunkt vor Aquarium in der Stadt

3%

Gebäude politischer Handlungsmacht auf Insel Maralto, Gebäude des Processo

Versteckte Räume der Rebellengruppe Causa im Slum und der Concha

Tab. 5: Einteilung der semantischen Räume dystopischer Serien hinsichtlich des jeweiligen politischen Systems

Diese Figuren sind Heldinnen in verdeckter Mission, die sich immer wieder der systemaffirmierenden oder der systemablehnenden Partei, ihren Zielen und konkreten Räumen annähern, zudem aber über eine persönliche Motivation verfügen und in

186 Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. 187 Vgl. Kröber 2020a, S. 374.

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IV. Analyse der Serienräume

dieser über mehrere Episoden hinweg erstaunlich kohärent bleiben.188 Die Aussage von Hawthorne Abendsen, des ›Mannes im hohen Schloss‹ über Julianas Auftreten in den weiteren Parallelwelten, in denen sie immer gleich bleibe (»You were always you«), während andere sich änderten,189 kann auch auf ihr Verhalten in der Auseinandersetzung der verschiedenen Motive der unterschiedlichen Parteien sowie als Kommentar über die narrative Gestaltung der Figur gedeutet werden. In Trepalium verfolgt Izia durchgehend das Ziel, sich und ihrem Sohn bessere Lebensbedingungen und die Reise in den Süden zu ermöglichen, obgleich sie sowohl von Ruben als auch durch die Rebellen zum Erlangen jeweils eigener Ambitionen vereinnahmt wird. Michele allerdings erfährt eine erhebliche Änderung ihres Charakters bzw. ihrer ›Merkmalsmenge‹: Zu Beginn von 3 % schleust sie sich als Vertreterin des Widerstandes in die Insel ein mit dem Auftrag, diese von innen zu zerstören, sucht aber zugleich nach ihrem verurteilten Bruder André. Nachdem sie von der Schuld ihres Bruders erfährt und sich von den Zielen der Widerstandsgruppe La Causa verabschiedet, gründet sie in der dritten Staffel ihre eigene eutopische Enklave, besinnt sich zum Ende der Staffel aber wieder auf den Kampf mit dem System des Processo, für den sie sich gegen ihren Bruder stellt und von dem sie schließlich ermordet wird. Trotz dieser Veränderungen, ihrer Sesshaftigkeit innerhalb der dritten Staffel und ihres Todes vor Serienende in der vierten Staffel,190 bleibt sie insgesamt eine bewegliche Figur, die wie Juliana und Izia nicht dauerhaft in einem semantischen Raum aufgeht. Es kann zwar nicht geschlussfolgert werden, dass die Übertritte über Grenzen zwischen semantisierten Räumen die einzigen handlungstreibenden Faktoren der Serien sind.191 Dennoch bestimmen sie die Handlung maßgeblich. Für Juliana in The Man in the High Castle tritt eher der Raum des Widerstandes auf sie in Form ihrer Schwester Trudy zu. Anschließend nimmt sie deren Rolle ein und macht sich als Mitglied des Widerstandes auf den Weg nach Canon City zur Übergabe des verbotenen Films »The Grasshopper Lies Heavy«.192 Ihr Eintritt in den Zwischenraum der Neutralen Zone wäre nicht ereignishaft, wenn sie tatsächlich als Widerstandsmitglied käme, ist es jedoch, weil sie eine unpolitische Aikido-Sportlerin in der ›Verkleidung‹ einer Konspirativen ist. Gleiches Gilt für Julianas Mitarbeit im Nippon Building der japanischen Besatzer in der ers188 So schert Juliana z.B. aus dem Plan des Widerstandes aus, Obergruppenführer Smith zu denunzieren, in dem die genetische Krankheit dessen Sohnes Thomas öffentlich gemacht wird. Da diese Handlung auch den Tod von Thomas nach sich zöge, erschießt Juliana das Widerstandsmitglied George Dixon, um Thomas zu schützen. Vgl. The Man in the High Castle, S2E10, »Fallout«. Ebenso wenig führt Julianas Annäherung an Tagomi und die Familie Smith, die jeweils das despotische System der Pacific States oder des Nazi Reich repräsentieren, zur Übernahme ideologischer Positionen. 189 The Man in the High Castle, S2E10, »Fallout«. 190 Vgl. IV.1.1.2 in dieser Arbeit. 191 Die Analyse der Serienhandlung mit raumsemantischen Ansätzen befördert zugleich die Deutung, dass der Serienraum handlungsbestimmend sei. Aber auch thematische Gegensätze zwischen ›arm‹ und ›reich‹ (Trepalium, 3 %) oder ›mächtig‹ und ›ohnmächtig‹ (The Man in the High Castle) sowie Figuren, die insgesamt dasselbe Ziel unter wechselnden Bedingungen verfolgen, sind handlungstragend. Eine eindeutige Gewichtung einzelner narrativer Elemente bezüglich ihres Einflusses auf die Serienhandlung ist kaum möglich. 192 The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

ten Staffel, in der zweiten Staffel dann für ihre Interaktion mit SS-Obergruppenführer Smith und dessen privatem Umfeld als politischer Flüchtling und in der vierten Staffel als Aikido Lehrerin in der Parallelwelt der USA, die nicht nach Kriegsende besetzt wurden. Für eine Spionin des Widerstandes wären diese Grenzübertritte regelhaft, für Juliana, für die auch die Rolle der politischen Rebellin nur eine weitere Identität ist, und die mit den Zielen des Widerstandes erst in der finalen Staffel vollends übereinstimmt,193 sind ihre Aufenthalte bei den politischen Gegnern sowie in der Parallelwelt jedoch unerhörte Grenzüberschreitungen. In Trepalium wird der Eintritt von Izia und anderen in die Stadt als Solidarische zwar gesetzlich geregelt, stellt aber, darauf weisen die Reaktionen der Stadtbewohner hin, durchaus einen Normbruch dar. Ähnlich unerhört dürfte ihre Inszenierung als Ehefrau von Ruben sein. Schließlich wird Izia gegen ihren Willen zum Mitglied des Widerstandes.194 In 3 % ist es mit Michele hingegen der verdeckte Übertritt auf die Insel, also nicht die Nutzung der vorgegebenen Infrastruktur zum sozialen Aufstieg, sondern deren Unterwanderung, die schließlich gleich zwei Staffeln bestimmt, also in der ersten durchgeführt und in der zweiten als Konsequenz inszeniert wird. Ebenso unerhört im Sinne Lotmans ist aber, dass eine Bewohnerin des Sehnsuchtsortes Maralto ihre Privilegien ausschlägt und eine eigene intentional community in der dritten Staffel mit der Concha gründet. Neben den bereits genannten Grenzübertritten bestehen auch weitere durch jeweils andere Protagonisten in The Man in the High Castle, Trepalium und 3 %.195 Allerdings sind diese weniger relevant für den Fortgang der gesamten Serienhandlung, weil etwa nur ein Grenzübertritt für eine Figur besteht, die sich ansonsten entlang der intraseriellen Normen bewegt oder weil die Übertritte nicht langfristig erfolgreich sind. Ein- und dieselbe Figur kann innerhalb einer seriellen Dystopie mehrere unterschiedliche Grenzen zwischen Sphären überschreiten, die zwar nicht immer gegensätzlich semantisiert sein müssen, sich aber dennoch deutlich voneinander unterscheiden. Juliana tritt nicht nur als Bürgerliche in Gestalt der Spionin in die Sphäre des Widerstandes und das Nippon-Building ein (1. Staffel), sondern anschließend als politischer Flüchtling in das Nazi Reich (2. Staffel). Ab diesem Zeitpunkt erfolgen rekursive Bewegungen in die Zone (2. und 3. Staffel), in die Pacific States (3. Staffel) sowie in das American Reich (4. Staffel). Diese Bewegungen sind aber dennoch ereignishaft, weil Juliana nicht nur nach Antworten um die news reels des Mannes im hohen Schloss

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Julianas deutlich abweichende Haltung in Bezug auf die Ziele des Widerstandes wird u.a. darin deutlich, dass letzterer gleich zwei Mal versucht, sie zu ermorden; vgl. The Man in the High Castle S2E1, »The Tiger’s Cave« und ebd., S2E10, »Fallout«. 194 Vgl. Trepalium, S1E2. 195 Vgl. für The Man in the High Castle Kröber 2020a, S. 377, inklusive Anm. 60. Auch Jeff (Trepalium) erhält nach der Auswahl Zugang zur Stadt, seine Ermordung durch Zoé zeigt jedoch, dass sein Grenzübertritt nicht erfolgreich ist. Rafael bzw. Tiago (3 %) tritt wie Michele als verdecktes Widerstandsmitglied vom Slum auf die Insel über, assimiliert sich durch seine Arbeit beim Sicherheitsdienst und bleibt doch unverändert auf der Seite der Rebellen. In der vierten Staffel tritt insbesondere Joana als bewegliche Figur in Erscheinung, da sie mit anderen Vertretern der Concha auf die Insel reist, diese zerstört und auf dem Festland maßgeblich für eine demokratische Gesellschaftsform eintritt.

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IV. Analyse der Serienräume

und um ihre Schwester sucht, sondern sich ab der dritten Staffel deutlich auf den Sturz des politischen Systems auf beiden Seiten des Grand Canyon konzentriert, ihre Merkmalsmenge sich also verändert hat, während die semantischen Sphären, die sie durchschreitet, gleich bleiben. Wie deutlich die Serienhandlung und die Ereignisse um Juliana durch räumliche Mobilität in unterschiedlich codierten Sphären bestimmt ist, zeigt sich darin, dass Juliana vor dem Finale der vierten Staffel in die alternative Welt der unbesetzten USA eintritt. Dieser Raumwechsel kann als retardierendes Moment gesehen werden, das die finale Auseinandersetzung dramaturgisch vorbereitet. Zugleich handelt es sich bei dem Raumwechsel abermals um ein unerhörtes Ereignis, das Handlung und serielle Erzählung aufrechterhält, weil Juliana bewusst in die Parallelwelt eintritt, was den meisten anderen Figuren der Serie bislang eher zufällig gelungen ist. Erst die Rückkehr aus der alternativen Welt in das vom initialen Angriff der Achsenmächte zerstörte Washington stilisiert Juliana als Heilsbringerin und Rächerin der Unterdrückten.

Wayward Pines Auch die Handlung von Wayward Pines profitiert von der Versetzung der Protagonisten in ein anderes räumlich-semantisches Feld, auch wenn es sich dabei nicht immer um einen Grenzübertritt im Sinne Lotmans, also ein unerhörtes Ereignis und einen Bruch mit intradiegetischen Normen handelt. Die Helden beider Staffeln, Geheimagent Ethan und Arzt Theo, gelangen wie die meisten der Bewohner gegen ihren Willen in die Kleinstadt. Unerhört ist das ›Einfrieren‹ bzw. die Kryokonservierung von Menschen und ihre problemlose Widerbelebung über tausend Jahre später sicherlich für die Rezipienten, gemessen an den hunderten von Bürgern, die jeweils vor Ethan und Theo auf diese Weise von der Gegenwart in die Zukunft gelangt sind, ist dieses Vorgehen aber keineswegs aufsehenerregend. Ähnlich verhält es sich mit Ethans und Theos Kontaktfreudigkeit sowohl zu der politischen Führung der Kleinstadt als auch zur Widerstandsgruppe – sie belegen die Beweglichkeit der Figuren, ihr Potenzial, semantische und zugleich räumlich kodierte Grenzen zu überschreiten. Ereignishaft im Lotmanschen Sinne sind diese Übertritte jedoch kaum: Vom Geheimagenten Burke ist nichts anderes zu erwarten, als dass er mit der Kleinstadtführung und den Widerständlern kooperiert und dennoch unbeeinflusst eigene Wertvorstellungen verfolgt und sich darüber hinaus in das unbekannte Terrain der Wildnis wagt. Theo wiederum ist, wie bereits dargestellt, als narrativer ›Wiedergänger‹ Ethans im Grunde nur eine andere Oberfläche für die gleiche Figurenfunktion des kritischen Helden mit Außenseiterstatus, der mit vermeintlich gesundem Menschenverstand als einziger Probleme lösen kann, die von politischen Fanatikern herbeigeführt wurden. Die Rückkehr dieser Helden-Funktion nach Wayward Pines zu Beginn der zweiten Staffel sowie die Wiederholung von Grenzübertritten zwischen systemaffirmierenden und systemablehnenden Räumen, die bereits Ethan eine Staffel zuvor ausgeführt hatte, etablieren seine Beweglichkeit als Norm und entziehen ihr die Ereignishaftigkeit sowie ihre dramaturgische Spannung. Allerdings macht die Grenzfunktion der Figuren Ethan und Theo weite Teile der Handlung aus und erfüllt eine Scharnierfunktion zwischen den Polen ›systemstabilisierend‹ versus ›systemdekonstruierend‹ sowie den Gegensätzen ›Mensch‹ versus ›Mutant‹. Gerade die Wiederholung der Bewegungen hinein in konträre semantische

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Räume durch Ethan in der ersten und durch Theo in der zweiten Staffel bestätigt, dass der Grenzübertritt auch ohne Normbruch im Lotmanschen Verständnis die Handlung aufrechterhält und voranbringt. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Figur oder der Raum – oder beide Elemente der seriellen Narration – zumindest auf der ›Oberfläche‹ variiert werden. Während in The Man in the High Castle die gleiche Bewegung Julianas zwischen semantisch gegensätzlichen Räumen durch ihre Verlegung vom Territorium der Pacific States in das Greater Nazi Reich als ereignishaft inszeniert wird, so muten die Zusammenführungen verschiedenster Sphären durch den zentralen Helden auch in der zweiten Staffel von Wayward Pines innovativ an, weil Ethan gegen Theo ausgetauscht wird. Auch inhaltlich geht es in Wayward Pines immer wieder um die Verteidigung konkreten physischen Terrains: Die Abbies wollen in beiden Staffeln die Stadt kapern, die letzten Menschen in der zweiten Staffel wiederum das fruchtbare Land außerhalb der Kleinstadt bewirtschaften. Beide Staffeln enden jeweils mit einem (temporären) Erfolg der Abbies und dem Rückzug der Menschen. Auch hier bestätigt die Wiederholung dieses Schemas die Relevanz grenzüberschreitender Mobilität für die serielle Handlung.

Alpha 0.7 Mit Blick auf Alpha 0.7 lässt sich argumentieren, dass die Versetzung von Figuren in semantische Räume, die ihnen eigentlich nicht zugänglich sein sollten, die Handlung vorantreiben. Allerdings ist der Einfluss dieser Grenzübertritte auf die Handlung deutlich geringer als in The Man in the High Castle, Trepalium oder 3 %. Zudem sind diese Übertritte auch weniger stark räumlich markiert. Der erste ›unerhörte‹ Eintritt in einen anderen semantischen Raum findet nicht etwa durch die politische Aktivistin Mila im National Pre-Crime Center statt, da es für sie erwartbar ist, sich auch unter falschen Identitäten in eine Pressekonferenz einzuschleusen, um ihre Ziele zu verfolgen. Ereignishafte Übertritte geschehen stattdessen durch die Angestellte Johanna Berger, die ohne ihr Wissen durch einen Chip zum Cyborg transformiert wird und sich auf der Flucht vor dem Unternehmen Protecta Society vollkommen außerhalb ihrer bürgerlichen Sphäre in die Hände der Aktivisten von apollon begibt, als Cyborg und gegen ihren Willen zu einem politischen Attentat gedrängt und schließlich als Kriminelle europaweit gesucht wird. Allerdings lässt sich kaum sagen, an welcher Stelle hierbei ein semantischer oder räumlicher Grenzübertritt durch Johanna vorliegt: Ist sie bereits als bewegliche Figur zu bezeichnen, weil sie durch die Protecta Society ferngesteuert wird, sich aber im letzten Moment ihres freien Willens bedienen kann? Inwiefern liegt eine räumliche Markierung vor, wenn Johanna mit Mila quer durch Europa vor dem Unternehmen und seinen bis in die Strafverfolgungsbehörden reichenden Einfluss flieht? Insgesamt lässt sich die räumliche Mobilität Johannas nur schwer als Motor der seriellen Handlung von Alpha 0.7 bestimmen, da sich Johanna Berger und der ›Avatar‹ Alpha 0.7 den gleichen Körper ›teilen‹ und somit nicht durchgehend Johanna, sondern zwei Akteure im Wechsel eine räumliche Bewegung ausführen. Ralf Brändle hingegen wird deutlicher als bewegliche Figur markiert, da er, ohne dies zu wissen, als Sohn des Protecta-Mitarbeiters Harald Rösler Verbindungen zum Unternehmen, als IT-Mitarbeiter zur bürgerlichen Gesellschaft und sich durch die Begegnung mit Mila immer mehr den politischen Aktivisten annähert. Ähnlich wie in The Man in

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IV. Analyse der Serienräume

the High Castle und mit Juliana tritt nicht Ralf in einen Gegenraum ein, sondern der Gegenraum der radikalen Kritik an Staat und Wirtschaft gerät über Mila in das Umfeld Ralfs, in dem Moment, in dem sie ihn in seinem Auto als ihren Geliebten inszeniert und somit seine Untersuchungshaft herbeiführt.196 Dieser Kontakt ist ereignishaft, weil er den Eintritt von Ralf in das Versteck der Aktivisten und zugleich seinen Austritt aus der bürgerlichen Existenz nach sich zieht. Ähnlich wie in Wayward Pines wird die Versetzung von Johanna und Ralf in der zweiten Staffel, die als Hörspiel inszeniert ist, im Grunde durch die Verlegung der Handlung an einen anderen Raum nur wiederholt. Auch hier lässt sich zwar sagen, dass die Verschiebung im Sinne von Schultz-Pernice zwar die Relevanz der Serientopographie betont,197 dennoch handelt es sich weniger um eine Grenzverletzung: Sowohl Ralf als auch Johanna sind bereits als Kriminelle und Kritiker der staatlichen und wirtschaftlichen Überwachungspläne markiert, ihre Flucht und ihr Aufenthalt in marginalen Räumen wie der Insel eines Schleppers oder in einem verrufenen Viertel von Marseille innerhalb der Hörspiel-Staffel198 sind jedoch keine innovativen Ereignisse. Mit Blick auf diese Einzelanalysen muss konstatiert werden, dass die hier vorgenommene Modifikation von McNutts Theorie des Raums als Motor der Serienhandlung allenfalls dessen Idee einer narrativen Relevanz von Raum übernimmt, sich ansonsten aber am Lotmanschen Handlungsbegriff orientiert. Lotmans Raumsemantik, die häufig wegen ihrer Binarität und vermeintlichen Unterkomplexität kritisiert wird,199 lässt sich auch auf serielle Erzählungen übertragen, weil diese den Stillstand der Bewegung bzw. die Ereignistilgung nach Krah200 immer wieder hinauszögern. Um auch mit einer begrenzten Anzahl an Räumen und Orten den Eindruck von Ereignishaftigkeit zu erwecken, werden bereits durchgeführte Grenzbrüche in Kombination mit anderen Figuren oder anderen Topographien wiederholt, wobei im Grunde die gleichen semantischen Räume ›recycelt‹ werden. Während die bislang in wenigen Staffeln erzählten Serien Wayward Pines, Trepalium, Alpha 0.7 und 3 % die Aufrechterhaltung und Fortführung der Serienhandlung durch räumliche Bewegung weniger pointiert illustrieren, zeigt The Man in the High Castle exemplarisch, dass Julianas Schwanken zwischen den Räumen von Widerstand und Regime in Staffel eins und zwei sowie zwischen Rückzug und Angriff in Staffel drei und vier die Serienhandlung zentral bestimmt.

2.2.4 Fazit und Diskussion Die Räume serieller Dystopien des Post-TV dienen als Nährboden dominanter Handlungsstränge und ermöglichen diese erst. Während die Handlung von Alpha 0.7 auch an anderen Schauplätzen stattfinden könnte, sind die Konflikte und Ereignisse in den anderen Serien außerhalb ihrer Handlungsräume nicht denkbar. Insbesondere in den

196 Vgl. Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«. 197 Vgl. Schultz-Pernice 2016a, S. 46 sowie II.1.1.1 in dieser Arbeit. 198 Vgl. Büttner/Hohengarten 2010–2011 [Hörspiel-Staffel als Fortsetzung von Alpha 0.7], S1E1, »Neuanfang« sowie S1E2, »Vertrauen«. 199 Vgl. hierzu II.2.3.2 in dieser Arbeit. 200 Vgl. Krah 1999, S. 7f.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Initialphasen der seriellen Dystopien wird deutlich, wie eng die zentralen handlungstragenden Konflikte mit spezifischen Orten sowie semantischen Oppositionen zwischen Räumen verbunden sind. Auch wenn z.B. Erweiterungen des Serienraums im Laufe der Serie 3 % dem Einwand Vorzug geben, die Wahl eines Raumes sei weniger bedeutsamer, da er nach Belieben modifiziert werden könne, so sind auch Expansionen von der ästhetischen Gestaltung des Raums in der Initialphase abhängig.201 Folglich kann der Serienanfang auch als metaphorischer Ort des Wissens über die Relevanz des Raums für die Handlung verstanden werden. Dies trifft unter anderen aktuellen seriellen Dystopien des Post-TV auch auf The Handmaid’s Tale zu, in deren Initialphase sowohl der Nordosten der USA (Gilead) als auch Kanada sowie die USA vor der Machtübernahme der Sons of Jacob aufgerufen werden. Bis einschließlich der dritten Staffel bewegt sich die Handlung in den genannten Räumen. Die Räumlichkeiten von Westworld hingegen expandieren bis in die dritte Staffel hinein, ohne dass diese Veränderung bereits in der Pilotepisode besonders ausgestellt gewesen wäre. Handlungskonstitutiv sind aber beide jeweiligen Serienräume: Die Handlung der Handmaid June könnte sich außerhalb Gileads, ohne den Kontrast zum gegenwärtigen Kanada und zu den vergangenen USA nicht entfalten, ebenso, wie die Handlung um Dolores, Maeve und Bernhard nicht außerhalb eines Themenparks entwickelt werden könnte. Gerade die Expansionen des Serienraums in der zweiten und dritten Staffel von Westworld zeigt aber, dass sich Figuren von den Ausgangsorten der Handlung emanzipieren können und dass die Handlung durch andere Räume der Serientopographie verlängert und aufrechterhalten werden kann, auch wenn diese Räume wiederum durch Kontraste oder Ähnlichkeitsverhältnisse nur in Abhängigkeit von den Ausgangsräumen zu denken sind. Die enge Verknüpfung zwischen Handlung und den Räumen serieller Dystopien des Post-TV werden in deren opening credits und anderen seriellen Paratexten reflektiert. Hier werden Ausschnitte der fiktiven Topographie als Teil des coporate designs bzw. des Brandings der Serie ausgestellt. Dadurch wird einmal mehr die Relevanz des Raums als Nährboden der Serienhandlung unterstrichen. Ebenso wie Wayward Pines und Electric City stellen auch The City & the City sowie Westworld bereits durch die Wahl des jeweiligen Serientitels zentrale Handlungsräume aus und machen sie jeweils zum Symbol der seriellen Narration. Während die Städte Besźel und Ul Qoma in den variierenden credits von The City & the City deutlich thematisiert und in ihrer Verbindung zur Handlung und dem Protagonisten Inspektor Borlú reflektiert werden,202 findet der diegetische Raum in den opening credits von Westworld keine Beachtung. Allerdings werden auf der fiktiven Homepage des Delos-Unternehmen, dass innerhalb der storyworld von Westworld die Themenparks besitzt, neben dem gleichnamigen Park Westworld auch die Handlungsräume der zweiten und dritten Staffel (The Raj, Shogunworld, Warworld und Park 5) beworben, was einer Verwendung fiktiver Räume als Branding der Serie sehr nahe kommt.203 Doch nicht immer wird der Raum von seriellen Dystopien des Post-TV

201 Vgl. hierzu die Analysen zum Serienraum von 3 % in IV.3.2 in dieser Arbeit. 202 Vgl. hierzu IV.1.1.2 in dieser Arbeit. 203 Vgl. HBO (o.A.): Experience. In: Delos Destinations. https://www.delosdestinations.com/#experien ce, aufgerufen am 25.08.2020.

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IV. Analyse der Serienräume

als Schauwert ausgestellt, wie anhand von The Handmaid’s Tale und Alpha 0.7 deutlich wird. Andere Serien wie Continuum und Altered Carbon verwenden zur Kommunikation der Serienidentität den Raum nur in Kombination mit anderen Elementen der Diegese und weiteren Symbolen. So ist auf den DVD-Covern und den Kacheln im Interface von Amazon Prime von Continuum die Skyline einer futuristischen Stadt als Hintergrund zu sehen und in den opening credits von Altered Carbon wird neben einer Reihe symbolischer Darstellungen ebenfalls das Panorama einer Metropole gezeigt.204 Abgesehen von der Wahl und initialen Ausgestaltung der Serientopographie über zentrale Räume und Orte wird die Handlung serieller Dystopien des Post-TV durch räumliche Bewegung ihrer Protagonisten vorangetrieben und aufrechterhalten. Im Sinne von Lotmans Raumsemantik sind diese Charaktere häufig von Beginn an als bewegliche Figuren markiert und überschreiten wiederholt metaphorische und konkrete Grenzen zwischen gegensätzlich codierten Räumen. Obgleich die Wiederholung der Grenzüberschreitung die Ereignishaftigkeit mindert, weil sie mit zunehmender Frequenz ein Muster etabliert, kann sie durch die Variation unterschiedlich semantisierter Räume weitergeführt werden. Die Grenzüberschreitung der Figuren serieller Dystopien kann mit der Neutralisierung semantischer Gegensätze enden, weil etwa das bestehende politische System gestürzt, die Grenzen zwischen den Räumen der Befürworter und Gegner aufgehoben werden und somit ein Metaereignis im Sinne von Krah eintritt. Dies ist der Fall bei Trepalium und 3 %. Aber auch die literarischen Serien The Hunger Games, The Maze Runner und die Eleria-Trilogie enden jeweils mit einem Bruch bestehender Systeme und somit mit der Aufhebung von Grenzen zwischen semantisch gegensätzlich kodierten Räumen. Dass diese seriellen Dystopien verschiedener Medien mit der Aufhebung semantischer Gegensätze ihrer Handlungsräume enden, zeigt die Relevanz der fiktiven Topographie für die Serienhandlungen. Die Verbindung aus beweglicher Figur und konträr codierten Räumen ist auch produktiv für die Handlung von The Handmaid’s Tale und Westworld. June ist ähnlich wie Juliana (The Man in the High Castle) und Izia (Trepalium) eine Grenzgängerin zwischen systemaffirmierenden und -ablehnenden Räumen, deren Eigenschaften insgesamt konstant bleiben.205 Eine Grenzüberschreitung, die zum Ende der Bewegung führen würde oder ein Metaereignis bleiben aber in den bisherigen drei Staffeln von The Handmaid’s Tale aus, weil ansonsten auch die Fortsetzung der Serie in Gefahr wäre:206

204 Vgl. zu den DVD-Covern von Continuum u.a. o.A. (o.A.): Continuum – Season 1. In: Covercity. https: //www.covercity.net/cover/dvd-covers-continuum-season-1-16539, aufgerufen am 20.10.2020; zu den opening credits von Altered Carbon vgl. jeweils S1E1, »Out of the Past« und S2E2, »Phantom Lady«. 205 Obgleich June in der dritten Staffel der Serie, im Zuge der Vorbereitung der Flucht mehrerer Kinder und Marthas aus Gilead, immer radikaler und kalkulierender agiert. 206 Vgl. Hißnauer, der in einem Vortrag auf der Tagung »Dystopien in Serie« konstatiert, dass es »keine grundlegende Veränderung« am in der seriellen Dystopie dargestellten »Zustand[es]«, »eine Verbesserung oder eine Beseitigung der Gefahr geben« kann: »Dystopie-Serien sind somit letztendlich hoffnungslos«; vgl. Hißnauer, Christian (12.04.2019): Endsieg-Fiktionen: Vergangenheitsentwürfe als kontrafaktische Spielräume einer nationalsozialistischen Zeitgeschichte in The Man in the High Castle und SS-GB, Folie 24. Vortrag, Dystopien in Serie. Fachtagung. DEKRA Hochschule für Medien, Berlin.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Weder beugt sich June den Erwartungen in Gilead und passt ihre Figurenmerkmale vollends ihrer Umgebung an, noch verfolgt sie ernsthaft eine Flucht nach Kanada, womit ihre Bewegung zum Stillstand käme – obgleich in den jeweiligen Finalen der zweiten und dritten Staffel dazu die Gelegenheit bestünde. Ebenso wie in anderen seriellen Dystopien wäre ein Ende der Figurenbewegung mit dem Zusammenbruch von Gilead denkbar, weil June dann nicht mehr zwischen dem Widerstand und ihrer Rolle als Magd im Haus eines Commanders oszillieren müsste. Bis einschließlich zur dritten Staffel ist es aber genau diese Spannung zwischen beiden konträren, räumlich markierten Polen, die die Serienhandlung aufrechterhält und ihr neue Impulse verleiht. Dolores und Maeve aus Westworld sind zwar ebenfalls bewegliche Figuren, weil sie sich an vorgegebene Normen nicht anpassen bzw. sich von ihnen emanzipieren. Anders als June verfügen sie jedoch über ein größeres Maß an Mobilität, das in ihren Bewegungen durch verschiedene Parks bzw. in die ›reale‹ Welt außerhalb der Themenparks sichtbar wird und zugleich ein Ausdruck von Macht und Selbstbestimmtheit ist. Dennoch ist bei den Androiden Maeve und Dolores nicht restlos klar, ob es sich wirklich um eigene Entscheidungen und genuin bewegliche Figuren oder um Versetzungen in andere Felder aufgrund der Entscheidungen Dritter handelt.207

2.3 Today, we tear down the old – Raum und Zeit Die Räume der Dystopie-Serien zeigen drei verschiedene ›Umgangsformen‹ mit intradiegetischer Zeit: 1. Inszenierung einer politisch motivierten Zeit bzw. das Ausblenden unliebsamer vergangener Ereignisse, 2. Existenz des ›tatsächlichen‹ Zeitverlaufs abseits dystopischer Zentren und 3. Akkumulation von Zeit an eigens dafür bestimmten Orten. In einigen Serien wird die ›tatsächliche‹ Zeit als Veränderung auch in (4.) Destruktionen physischer Bauten sichtbar. Dystopien erwecken ebenso wie Eutopien zumindest in ihren Zentren den Eindruck vollkommener Statik und isolieren sich nicht nur räumlich durch Grenzen, sondern auch durch architektonische Entwürfe, die einen Bruch mit der Vergangenheit hervorrufen. Diese Eigenzeitlichkeit ist nicht nur handlungsbedingt, sondern auch auf Vorstellungen futuristischer Räume zurückzuführen, die mit der Dystopie, aber auch der Science-Fiction verknüpft sind: In Alpha 0.7 existiert kein fiktives politisches Programm zur Gestaltung der Architektur wie in The Man in The High Castle, dennoch werden Locations ausgewählt, deren jeweiliger Baustil futuris-

207 Im Vergleich mit anderen gegenwärtigen Fernsehserien, die nicht als Dystopie eingestuft werden, zeigt sich, dass die Bewegung der Helden zwischen semantisch konträren Räumen kein Charakteristikum ist, dass insbesondere serielle Dystopien auszeichnet. Auch Protagonisten anderer Serien wie Walter White in Breaking Bad befinden sich zwischen zwei konträr kodierten Sphären und erzeugen durch ihre Bewegung zwischen den Räumen Ereignisse und Konflikte, die die Handlung am Laufen halten. So oszilliert Walter zwischen seinem Leben als Familienvater und High SchoolLehrer einer- und dem als Drogenproduzent andererseits, wobei die Überschneidung beider Bereiche und der schließlich gescheiterte Versuch Walters, sie zu trennen oder koexistieren zu lassen, durchgehend die Handlung bestimmt.

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IV. Analyse der Serienräume

tisch anmutet und somit eher die Erwartungen an eine zukünftige und von technischen Innovationen gekennzeichnete Welt erfüllen.208 Wie sich Zeit in den diegetischen Raum einschreiben kann wurde bereits in der Darstellung des Chronotopos-Konzepts von Bachtin sowie des vierten Grundsatzes der Heterotopie nach Foucault erläutert.209 Einen Bezug zwischen Zeit und Raum als intradiegetische Größen stellen auch Oliver Keutzer et al. für die Untersuchung von Filmen her: Nun ist Zeit zunächst nichts anderes als eine physikalische Maßeinheit, die dazu dient, die Abfolge von Ereignissen oder, noch allgemeiner, die Veränderungen in einem räumlichen Ensemble zu erfassen. In diesem Sinne handelt es sich auch bei den […] dramaturgischen Strategien wie der Konzeption des Handlungsverlaufs oder den Techniken der Figurenentwicklung um Phänomene der Zeit. Sie werden erst messbar und beschreibbar, wenn die drei Achsen der räumlichen Ausdehnung um eine vierte, temporale erweitert werden. Innerhalb des raum-zeitlichen Kontinuums zeichnet sich die Zeitachse durch ihre monodirektionale Linearität aus und determiniert damit nicht nur die Kausalbeziehungen innerhalb einer jeden Ereigniskette, sondern auch deren Unumkehrbarkeit. Kann sich also ein Gegenstand im Raum beliebig hin- und her bewegen, dabei einen Punkt verlassen und wieder zu ihm zurückzukehren [sic!], so gilt dies nicht in der Zeit, wo dieselbe Bewegung als irreversibel fortlaufender Prozess erscheint. Denn mag die Position im Raum auch erneut dieselbe sein, bei dem Zeitpunkt wird es sich stets um einen anderen, nämlich einen späteren handeln.210 Auch wenn die untersuchten Serien mit ihrer Nähe zur Science-Fiction und der Verlegung des Settings in die nahe (Alpha 0.7) oder ferne Zukunft (Trepalium, 3 %, Wayward Pines) oder in eine alternative Vergangenheit (The Man in the High Castle) besonderes narratives Potential aus der Inszenierung von Zeit schöpfen, sind die Zeitkonzepte innerhalb der Diegesen im Vergleich zu anderen Erzählungen, die mehr oder weniger deutliche Bezüge zur Science-Fiction aufweisen, relativ konservativ und zeichnen sich ebenso wie in der Alltagswelt durch Progression und Unumkehrbarkeit aus.211 In Alpha 0.7, Trepalium und 3 % wird lediglich die Illusion erzeugt, die Handlung spiele in einer möglichen Zukunft. Auch in Wayward Pines findet keine Veränderung von Zeit statt. An Stelle einer Zeitmaschine, wie sie z.B. in der gleichnamigen Novelle von H.G. Wells existiert, findet keine frei bestimmbare Bewegung durch die Zeit statt. Vielmehr wird die Veränderung, an der Zeit sichtbar wird, für eine Gruppe von Figuren für einen bestimmten Zeitraum ausgesetzt, konkret durch die Kryokonservierung der zukünftigen Bewohner von Wayward Pines. In The Man in the High Castle verläuft Zeit mo208 Vgl. hierzu das Porsche-Museum in Stuttgart, das als Drehort für das National Pre-Crime Center in Alpha 0.7 verwendet wird, ebd., S1E1, »Prenzinger«. 209 Vgl. zum Chronotopos II.2.3.1, zur Heterotopie II.2.4.1 in dieser Arbeit. 210 Keutzer et al. 2014, S. 203f., Herv. i. O. 211 Auch in The Man in the High Castle, der Serie, die unter den fünf Kernserien dieser Arbeit vielleicht den innovativsten Umgang mit Zeit präsentiert, kann z.B. der Tod von Thomas Smith nicht rückgängig gemacht werden, auch wenn dessen Vater John sichtlich mit diesem Gedanken spielt, wenn er in die Parallelwelt reist, in der die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, um die dort lebende Version von Thomas anzutreffen; vgl. ebd., S4E5, »Mauvaise Foi«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

nodirektional und wird nicht nachträglich verändert. Einzig die Synchronität mehrerer Zeiten, die sich aus der Parallelität verschiedener Welten ergibt, bricht mit der Alltagsvorstellung von Zeit, referiert jedoch wiederum auf die subjektive Zeitwahrnehmung, die von Individuum zu Individuum variiert sowie auf Theorien paralleler Universen. Viele Dystopien in Literatur und Film teilen wiederkehrende Darstellungsmuster diegetischer Zeit, die mitunter stark durch die Science-Fiction beeinflusst sind. Ingrid Hantsch stellt für Utopien – zu denen sie in ihrer Studie neben (satirischen) Eutopien wie Utopia auch Dystopien wie The Machine Stops sowie Anti-Utopien wie Brave New World zählt – die These auf, dass diese sich nicht nur räumlich von ihrer Umgebung verschließen,212 sondern auch zeitlich isolieren.213 Laut der Autorin ist die zeitliche Abgrenzung der Utopien (bei Hantsch de facto ein Oberbegriff für Eu-, Dys- und Anti-Utopien) eine Voraussetzung ihrer Statik und der Stabilität und des »Zustand[es] der systemhaften Geschlossenheit«,214 der diesen fiktiven Gemeinschaften zu eigen ist.215 Die zeitliche Isolation konstituiere sich u.a. »in dem totalen Traditionsbruch[,] der notwendig Vergangenheit und realisierten synthetischen Endzustand trennt[] […]. [Die] Utopie konstituiert sich damit in Zeitlosigkeit«.216 Der Bruch mit der Geschichte offenbare sich u.a. in der ideologisch motivierten Änderung von Sprache, z.B. in Nineteen EightyFour.217 Die Folge der zeitlichen Abgrenzung der Utopie seien »Traditionsenthobenheit« sowie ein zwiespältiges Verhältnis zur eigenen Geschichte.218 Die Isolation gegenüber der Geschichtlichkeit, die um der Statik willen vollzogen wird, bedingt notwendig auch die Thematisierung eines spezifischen Verhältnisses zur eigenen aktuellen Geschichte. Wird sie festgehalten – wie dies in Orwells 1984 der Fall ist – so ist sie Gegenstand der Manipulation und der Vernichtung: Das System muss sich ständig bemühen, die eigene Unfehlbarkeit unter Beweis zu stellen, weil Fehler zukunftsgerichtete, individuelle Denkimpulse auslösen könnten. Geschichtsfälschung ist die Folge des Verhältnisses der Utopie zur Geschichte.219

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Vgl. hierzu II.4.2 sowie IV.2.1.2 in dieser Arbeit. Vgl. Hantsch 1975, S. 61, 69–77. Ähnlich wie Sargent 1994, S. 5–9 (vgl. hierzu auch II.4.1.1 in dieser Arbeit) beruft sich Hantsch implizit auf einen weiten Utopie-Begriff, ohne dies kenntlich zu machen. Der Analyse-Korpus ihrer Monographie Semiotik des Erzählens weist Anti-Utopien wie Brave New World, Eutopien wie Utopia und Dystopien wie Nineteen Eighty-Four auf; vgl. Hantsch 1975. Plener unterzieht Hantschs Kriterien einer Neubewertung, wobei deren Aktualität und Anwendbarkeit hinsichtlich einer großen Zahl von Utopien unter Beweis gestellt wird; vgl. Plener 2006, S. 191–214. 214 Hantsch 1975, S. 69. 215 Zu diesem Befund kommt auch Meyer, der Isolation als eines von mehreren Merkmalen von Utopien anführt; vgl. Meyer, Stephan (2001): Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung. Frankfurt: Peter Lang, S. 39f. 216 Hantsch 1975, S. 71f. 217 Ebd. 1975, S. 72. Als Beispiele für die Eingriffe in Sprache nennt Hantsch weiterhin William Morris’ News from Nowhere, Bellamys Looking Backward und Huxleys Brave New World; vgl. ebd. 218 Hantsch 1975, S. 72. 219 Ebd. 1975, S. 76. Herv. i. O.

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Eine mögliche Konsequenz dieses Umgangs mit Geschichte in Utopien ist die »Erstellung des Mythos« von der eigenen (fiktiven) Geschichte,220 durch den sich die Gemeinschaft in einem eigenen temporalen Koordinatensystem verortet. Eine Folge der Abgrenzung utopischer Texte in Raum und Zeit ist laut Hantsch die Statik der fiktiven Welt: »Die literarische Utopie ist die fiktionale Konkretisierung« eines »synthetischen Endzustandes«, der das »Zusammenleben in Glück und Sicherheit des Einzelnen in dessen kollektiver Erfüllung« umfasst.221 Damit vollziehe die Utopie, »was in der Realität nicht existiert: Sie überführt Gesellschaft, die immer als Prozess mit innerer Dynamik auftritt, in absolute Statik«.222 Folglich vollziehe sich »Wandel […], wenn überhaupt, nur als kontrollierter, systemstabilisierender Wandel, dessen Ziel prädeterminiert und dessen Vollzug geregelt ist«.223 Hantsch führt die Zustandsveränderung in Orwells Nineteen Eighty-Four als Beispiel an: Diese ist in die Vergangenheit verlagert, in der »vollkommene Wirklichkeitskontrolle und Denkversklavung« noch nicht möglich sind.224 Die statische Welt ist hingegen die gegenwärtige, die die Leser aus der Perspektive des Protagonisten Winston Smiths wahrnehmen und die, trotz all seiner Bestrebungen, unveränderlich bleibt. Eine Reihe von Dystopien und Anti-Utopien arbeiten sich am Gegensatz zwischen einer neuen, gegenwärtigen Gesellschaft und einer vergangenen, besiegten oder rückständigen Gesellschaft ab. Beide ›Zeitlichkeiten‹ sind im jeweiligen diegetischen Raum eingeschrieben: Häufig sind Räume der ehemaligen Gesellschaft und des neuen Systems auch strikt voneinander getrennt, in einigen Fällen liegt aber eine dichte Verflechtung unterschiedlicher Zeiten im Raum vor. So stehen sich in Brave New World und Wir jeweils eine hochentwickelte, moderne Gesellschaft und eine unterprivilegierte Gruppe archaischer Naturbewohner bzw. ›Wilder‹ gegenüber, die durch konkrete Grenzbebauungen voneinander getrennt sind.225 In Metropolis, Nineteen Eighty-Four und der filmischen Adaption der Hunger Games-Trilogie sind es weniger Barrieren, sondern eher die unterschiedlichen Architekturen, die jeweils den Raum der Regierenden von dem der Regierten abgrenzen und ersteren modern, letzteren rückständig erscheinen lassen.226 Einige Dystopien bilden jedoch weniger holzschnittartig eine Trennung zwischen verschiedenen Zeitkonstruktionen durch räumliche Grenzen ab, sondern zeichnen sich 220 Ebd. 1975, S. 76. 221 Ebd. 1975, S. 63. Vgl. hierzu auch Meyer 2001, S. 40f. 222 Hantsch 1975, S. 63. Vgl. auch Innerhofer 2013, S. 320. Zur Illustration dieses Gedankens sei auf eine Äußerung des autodiegetischen Erzählers D-503 in Wir von Samjatin verwiesen: »Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht«; vgl. Samjatin 2006 [1924], S. 26. 223 Hantsch 1975, S. 64. 224 Ebd. 225 Vgl. Huxley 2012 [1932] sowie Samjatin 2006 [1924]. 226 Zwar sind die einzelnen Distrikte Panems durch territoriale Grenzen voneinander unterscheidbar, insbesondere in der filmischen Adaption werden jedoch durch die Gegenüberstellung des ärmlichen und von Bergbau geprägten District 12 und der futuristischen Skyline des Capitols das sozioökonomische Gefälle der dort jeweils ansässigen Menschen und der hiesigen technischen Standards deutlich; vgl. The Hunger Games (2012). Mit Blick auf die verfallenen Bauten in Nineteen Eighty-Four stellt Glišović fest, dass diese »einen rückwärtigen Zeitverlauf« vermitteln, »obwohl das Geschehen der Zukunft, dem Utopischen zugewandt ist. […] Der Autor, statt die Realität zu futurisieren, antiquierte die Zukunft und schloß somit den Kreis«; vgl. ebd. 1992, S. 125.

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durch einen Eklektizismus an Baustilen aus, der innerhalb eines Territoriums auf die Verdichtung und Ansammlung von Zeit hinweist. Als Beispiel dafür ist der Film Blade Runner zu nennen, dessen Metropole zugleich futuristisch und vergangen erscheint: Das retrofitted Design[] […] geht vom Grundgedanken aus, dass künftige Großstädte nicht vor dem Hintergrund einer Tabula rasa gebaut werden können, sondern aus den bestehenden Städten entstehen müssen. Statt makellos glänzenden futuristischen Bauten zeigt Blade Runner Gebäude und Maschinen, die nach und nach erweitert und notdürftig umgebaut wurden, die deutliche Gebrauchsspuren aufweisen und oft schon zerfallen sind.227 Auch Brazil und Dark City sind von diesem used future-Look geprägt.228 Weil diese Filme sich durch ein Pastiche aus bereits bekannten architektonischen Stilen, futuristischen Elementen und antiquierter Ästhetik den Anstrich einer eigenen Zeit geben,229 benötigen sie nicht zwangsläufig einen weiteren kontrastierenden, regressiven Handlungsraum, der sie als fremd oder phantastisch ausweist. Schließlich beinhalten viele Handlungsräume fiktiver Dystopien einzelne anachronistische Orte, die die Ausblendung der Vergangenheit und die Inszenierung einer eigenen Zeit durch Architektur erst sichtbar machen, weil sie Zeit in Form von Artefakten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft mit historischem Wert speichern oder sich im Vergleich mit ihrer Umwelt durch eine deutlich älter erscheinende Bauweise auszeichnen. Diese Heterochronien im Sinne Foucaults kommen sowohl in den Zentren als auch den Peripherien dystopischer Gesellschaften vor.230 Hierzu zählen das von einer Glasschicht überzogene ›Alte Haus‹ in Wir und der Antiquitätenladen in Nineteen Eighty-Four, der ob seiner Funktion und Artefakte als ›Archiv‹ verräumlichter Zeit gilt.231 In Metropolis stechen sowohl die gotische Kathedrale als auch das Haus des Erfinders Rotwangs heraus, die im Gegensatz zur futuristischen Ästhetik der oberen Stadt und zum industriellen

227 Spiegel, Simon (2013b): Filmanalyse: Blade Runner. In: Kuhn, Markus/Haffke, Irina/Weber, Nicola Valeska (Hg.): Filmwissenschaftliche Genreanalyse: eine Einführung. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 266–269, hier S. 268. 228 Vgl. Dark City (1998), AUS, Regisseur: Alex Proyas. Laut Sobchack 1999 ist Dark City deutlich von der Mise en Scène Blade Runners beeinflusst; vgl. ebd., S. 140. Zu Parallelen zwischen Blade Runner und Brazil, die sich vor allem aber auf den Einfluss von Metropolis zurückführen lassen, vgl. Friedman, Régine-Mihal (1993): ›Capitals of Sorrow‹: From Metropolis to Brazil. In: Utopian Studies 4.2, S. 35–43, hier S. 39–41. 229 Vgl. hierzu Friedman 1993, S. 39. 230 Vgl. zur Heterochronie sowie zur Heterotopie II.2.4.1 in dieser Arbeit. 231 Vgl. Samjatin 2006 [1924], S. 27–32 sowie Orwell 1990 [1949], S. 97–103. Das »Alte[] Haus« in Wir ist ein »morsche[s], düstere[s] Gebäude«, das »von einer gläsernen Hülle umschlossen« ist; Samjatin 2006 [1924], S. 27. Hier wird eine Wohnung, deren Gestaltung auf die Gegenwart der zeitgenössischen Leser Samjatins referiert, samt Inneneinrichtung konserviert: »[I]n dem ganzen Zimmer war der gleiche regellose Wirrwarr von Formen und Farben wie in der alten Musik«; ebd., S. 29. Als Archiv gibt sich der »junk-shop« von Mr. Charrington in Nineteen Eighty-Four zu erkennen, weil er »antique[s]« verkauft und in seiner ersten Darstellung im Roman über seine Fülle an Artefakten beschrieben wird, unter denen »dusty picture-frames« ebenso genannt werden wie »tarnished watches that did not even pretend to be in going order«; S. 98.

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Charakter der unteren Stadt stehen. In Equilibrium werden wiederum Kunstgegenstände, die ob ihrer emotionalen Wirkung verboten sind, von Widerständlern versteckt, mitunter in Räumen, die aufgrund ihrer Dekoration und Anhäufung historischer Artefakte musealen Charakter aufweisen.232 Bevor die Funktion des Serienraums hinsichtlich der diegetischen Zeit serieller Dystopien des Post-TV untersucht werden kann, muss allerdings anhand der fünf Kernserien selbst nachgewiesen werden, inwiefern sich ihre dystopischen Zentren temporal isolieren. Im Anschluss daran werden die Phänomene der Koexistenz ideologischer und tatsächlicher diegetischer Zeit, die Etablierung archivarischer Räume sowie die Destabilisierung physischer Räume vorgestellt und untersucht.

2.3.1 Do Not Discuss Your Life before – zeitliche Isolation und soziale Statik Eine deutliche Abgrenzung der dystopischen Gesellschaft von ihrer Vergangenheit und somit die Ausblendung alternativer Gesellschaftsformen wird besonders effektiv in Wayward Pines, Trepalium und 3 % vollzogen. Während die zeitliche Isolation in The Man in the High Castle mittels einer architektonischen Programmatik innerhalb der Serie als Prozess zu beobachten ist, findet sie in Alpha 0.7 nur behutsam und andeutungsweise statt. Wayward Pines und The Man in the High Castle thematisieren die Erschaffung einer eigenen Zeit sogar direkt, z.T. auch mit räumlichen Mitteln.

Wayward Pines In Wayward Pines wird ein Zeitpunkt festgelegt für ein vermeintlich eutopisches Projekt, mit dem die Menschheit nach der selbstverschuldeten Apokalypse in Form ökologischer Katastrophen wieder auferstehen soll. Nach David Pilchers Entdeckung, der zufolge genetische Veränderungen langfristig zum Aussterben der Menschen führen, versetzt der Wissenschaftler die zukünftigen Bewohner der Kleinstadt gegen ihren Willen in die Kryokonservierung, eine Art Tiefschlaf.233 In der Episode »Choices« wird in einer Analepse vom Aufwachen der ersten Bewohner im Jahr 4014 erzählt.234 Auf diegetischer Ebene ist vor allem der Abstand von rund 2000 Jahren sowie der dazwischen liegende Untergang der menschlichen Zivilisation eine deutliche Zäsur, die einen Neubeginn bzw. eine neue Geschichtsschreibung begründet. Ereignisse innerhalb der Menschheitsgeschichte, die vor der Erschaffung von Wayward Pines liegen, werden durch Pilcher und seine Mitstreiter getilgt oder umgeschrieben. Dies wird u.a. an der Abwesenheit von Museen und Bibliotheken in der Kleinstadt deutlich, während Pilcher Artefakte, die von Kultur und Wissenschaft der westlichen Welt zeugen, in seinem Büro unter Verschluss hält.235 Das Leben vor der Apokalypse und

232 Vgl. hierzu den verborgenen Raum in der Wohnung von Mary O’Brian, ferner auch das Versteck der Rebellen zu Beginn von Equilibrium (2002). 233 Dies scheint eine Anspielung auf all jene utopischen Texte zu sein, in denen Charaktere große Zeiträume überdauern, statt durch sie hindurch zu reisen, z.B. in dem sie Zeit ›verschlafen‹ wie in Bellamys Looking Backward: 2000–1887; vgl. Bellamy 1888. 234 Vgl. Wayward Pines, S1E6, »Choices«. 235 Vgl. ebd., S1E5, »The Truth«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

der Gründung von Wayward Pines sollen möglichst ausgeblendet werden, um die Gegenwart der vermeintlichen Eutopie aufgrund mangelnder Vergleichswerte als bestmögliche erscheinen zu lassen. Mantraartig werden besonders innerhalb der ersten Staffel immer wieder die Regeln des Zusammenlebens von den Bewohnern wiederholt, darunter auch der Wahlspruch »Do Not Discuss Your Life Before«, der zugleich der Titel der zweiten Episode der ersten Staffel ist.236 Die Vorstellung einer statischen, scheinbar schon immer existenten Gemeinschaft wird zudem in einzelnen Episodentiteln der Serie angedeutet und ausgestellt, z.B. in »Where Paradise is Home«237 und »Once Upon A Time In Wayward Pines«.238 An die Stelle von Erinnerungen an das Leben vor der Apokalypse sowie von Geschichtsschreibung treten Gründungsmythen und eine eigene Zeitlichkeit der Kleinstadt. Dabei stehen u.a. christliche Motive Pate. So vergleicht die Lehrerin Megan während ihres Versuchs, Schüler zu indoktrinieren, David Pilchers Projekt der Rettung weniger Menschen indirekt mit Noahs Rettung von Mensch und Tier mittels der Arche.239 Die ausgeblendete Vergangenheit um das Leben vor Wayward Pines wird insbesondere in der zweiten Staffel ersetzt durch den Mythos um die First Generation und den Gründervater David Pilcher: Exemplarisch für die Künstlichkeit der Geschichtsschreibung der Kleinstadtgesellschaft und die naive Anbetung einer Führungsfigur steht das reanactment der Gründung von Wayward Pines in Form eines Schul-Musicals.240 Der Eindruck mangelnder Progression wird darüber hinaus durch die seriell-zyklischen Erzählstrukturen der jeweiligen Staffeln angelegt. Nachdem die Stadt am Ende der ersten Staffel durch einen Angriff der Abbies zerstört und ein Großteil der Population der letzten Menschen getötet wurde, einigen sich die Vertreter der städtischen Exekutive und des Widerstands, Pam und Kate, auf den Versuch, zukünftig nach demokratischeren Gesichtspunkten zusammenzuleben.241 In der Schlusssequenz der Episode, die durch eine Ellipse mit dem Umfang eines Jahres auf die beschriebene Szene folgt, erscheint die Kleinstadt jedoch visuell und bezüglich ihrer sozial-politischen Struktur fast

236 Dieses an sich bereits stark selbstreferentielle Motto wird u.a. ironisch verwendet, wenn Ethan einen verdächtigen Widerständler im Verhör in scheinbarer Sicherheit über dessen vergangenen rechtswidrigen Handlungen wiegt: »Franklin, we don’t talk about the past here«. Wayward Pines S1E7. Als selbstironisch kann diese Regel bezeichnet werden, weil Handlungsstränge eben doch immer wieder von Analepsen bestimmt sind und die Serie selbst mit Previously-On-Segmenten arbeitet. Somit thematisiert die Serie ihre eigene Vergangenheit des Erzählens und des Erzählten. Vgl. hierzu auch die selbstironische Reflexion der rituellen Verhaltensregeln in Cinemagrammen der Serie; vgl. Aforgrave 2015. 237 Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. 238 Ebd., S2E3, »Our Town, Our Law«. 239 Ebd., S1E5, »The Truth«. Vgl. auch den indirekten Vergleich des Projektes um Wayward Pines mit der biblischen Arche durch Pilcher selbst, ebd., S2E5, »Sound the Alarm«. 240 Vgl. ebd., S2E4, »Exit Strategy«. 241 Vgl. ebd., S1E10, »Cycle«. Die Einigung der bis zum Angriff der Abbies verfeindeten Figuren zeigt Züge eines eutopischen Entwurfes. Kate und Pam verständigen sich auf die Notwendigkeit der Kooperation von Widerstand und Kleinstadt-Leitung, um das Überleben der Gemeinschaft sicherzustellen. Zugleich streben sie aber an, eine optimierte Version von Wayward Pines zu realisieren: »If we are gonna survive, we gonna have to make it better. No more lies, no more surveillance. No more reckonings«; ebd.

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unverändert. Jason Higgins, Repräsentant der First Generation, die die Macht in der suburbanen Dystopie übernommen hat, patrouilliert die Straßen als Vertreter des totalitären Systems in einer Uniform, die an die Bekleidung der SA im Nationalsozialismus erinnert.242 In den letzten Einstellungen ist nicht nur zu erkennen, dass Gebäude, Straßen und Parks vollkommen restauriert sind. Vielmehr erinnert ein prägnant im Bildraum positioniertes Denkmal an den Gründervater David Pilcher und wird sekundiert durch einen Laternenpfahl, an dem ein erfolgloser Widerständler aufgehängt ist. Das Staffelfinale signalisiert in dieser Szene vor allem auf Ebene der Mise en Scène, dass die vermeintlich eutopische Gemeinschaft ihre eigene Geschichtsschreibung steuert und sich von politisch unliebsamen Ereignissen abgrenzt. Der Titel der Episode, »Cycle« referiert auf die Rekursivität des sozial-politischen Systems – vor allem, weil der Wideraufbau der Stadt nach einem Angriff von außen bereits intradiegetisch zum zweiten Mal stattfindet.243 Das Scheitern der dysfunktionalen Gesellschaft, das sich in den Angriffen der Mutanten und Zerstörungen der Stadt unübersehbar abzeichnete, muss in der Logik des Systems aus dem öffentlichen Raum durch Restauration verbannt werden. Zugleich macht die Wiederholung des Stadtbildes die Relevanz der Regression in die totalitäre Gesellschaft für das serielle Erzählen deutlich, da sich ein Zyklus von Angriff – Zerstörung – Auferstehung an den nächsten reiht. Dieses Muster findet Bestätigung im Ende der zweiten Staffel, auch wenn es aufgrund der vorzeitigen Einstellung der Serie nur Indizien dafür gibt, dass auch in einer möglichen dritten Staffel die Rückkehr zur Kleinstadt-Dystopie erfolgt wäre.

Trepalium Ebenso wie in Wayward Pines wird in Trepalium eine ›andere‹ Zeit vor allem durch die Verortung der Basiserzählung in einer unbekannten Zukunft konstruiert. Zwar lässt sich eine Verbindung zwischen der fiktiven und der empirischen Welt herstellen u.a. durch das interaktive Hörspiel A l’ombre du mur. Journal d’un inutile, das die storyworld ergänzt und die Ereignisse dokumentiert, die zum Bestehen der despotischen Welt geführt haben.244 Innerhalb der Kernserie wird die Gegenwart der Geschichte jedoch von der realen Welt der zeitgenössischen Rezipienten abgegrenzt. Dies ist bereits im Prolog durch die temporale Bestimmung deutlich: »30 Jahre nach dem Mauerbau …/30 ans/après la construction du Mur …«.245 Auch die opening credits füllen die Leerstelle zwischen der extratextuellen Gegenwart der Erstausstrahlung und der der Diegese, in dem sie symbolisch, metaphorisch und metonymisch auf eine sich vervielfältigende Ausbeutung von Arbeitskraft und Umwelt und schließlich auf eine Zerstörung menschlicher Zivilisation berufen.246 Die Aussagen der Premierministerin Nadia Passeron in der ersten Episode verweisen auf eine Vergangenheit vor dem Leben inner- und außerhalb der Stadt.247 Hier 242 Vgl. ebd. 243 Bereits Jahre vor Ethans Erwachen in der Kleinstadt wird Wayward Pines zerstört, aber nicht durch die Abbies, sondern durch die Bewohner, die kurz zuvor erfahren hatten, dass sie die letzten Menschen sind und ihr vorheriges Leben nicht mehr aufnehmen können; vgl. ebd., S1E6, »Choices«. 244 Vgl. Cadène/Mardon 2016. 245 Trepalium, S1E1. 246 Vgl. hierzu IV.2.2.2 in dieser Arbeit. 247 Vgl. Trepalium, S1E1.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

ist von einer idyllischen Koexistenz verschiedener sozialer Sphären, allerdings auch von bürgerkriegsähnlichen Zuständen die Rede. Vor allem aber die Verbindung aus Bau- und Modestilen aus dem Beginn und der Mitte des 20. Jahrhunderts mit postmoderner Architektur sowie behutsamen technischen Neuerungen kreiert einen ganz eigenen Charakter der Diegese, der sich zwar auf Strömungen verschiedener Künste der empirischen Welt beruft, sich durch deren Kombination aber deutlich von der realen Welt und ihrer Geschichtsschreibung abgrenzt. Auch die Sprache der Premierministerin erinnert an das Newspeak aus Nineteen EightyFour und ist ein Indiz für die politisch motivierte Inszenierung einer eigenen Zeit: Erwerbstätige heißen »active« (»Aktive«), Arbeitslose »inactive« (»Untätige«); wer als Arbeiter aus der Zone in die Stadt einreist ist ein »employée solidaire« (»Solidarischer«) und Menschen, die das gegenwärtige politische System ablehnen, sind »des activiste« (»Rebellen«).248 Die Statik der Stadtgesellschaft wird von zwei Seiten in Frage gestellt: Zum einen löst die Premierministerin die strenge soziale Teilung durch einen regulierten Übergang der Zonenbewohner in die Stadt auf, zum anderen unterlaufen die Rebellen die räumlich-soziale Dichotomie durch den Versuch, das etablierte System zu stürzen. Ganz anders als in Wayward Pines wird eine zeitliche Isolation durch eine Betonung des Moments angestrebt, ähnlich der auf den Augenblick ausgerichteten Heterochronien nach Foucault:249 Die Stadtgesellschaft ist durch eine offen gelebte Promiskuität, Hedonismus und das Vernachlässigen tiefergehender emotionaler Bindungen geprägt und der Drang zur individuellen Selbstverwirklichung sowie Werte wie Jugend, die Abwesenheit von Krankheit und beruflicher Erfolg stehen im Vordergrund.250 Der Einlass der Solidarischen zeigt als katalysierte Form gesellschaftlicher Veränderung den Misserfolg der sozialen Segregation und somit des politischen Systems auf. Weil die politische Inszenierung gesellschaftlicher Statik dadurch gebrochen wird, stellt der Übergang der Zonenbewohner in die Stadt bereits einen ersten Schritt der vermeintlichen Eutopie in Richtung Zerfall dar.

3% In 3 % wird die eigene Zeit der Diegese ebenso wie in Trepalium bereits im Prolog signalisiert: Hier ist sogar von einer eigenen Zeitrechnung der fiktiven Gesellschaft die Rede (»Ano 104 do processo«).251 Die Genese der dystopischen Gesellschaft und ihres scheinbar eutopischen Zentrums, der Insel Maralto, wird erst in der zweiten Staffel geschildert, bleibt aber für die Bewohner von Slum und Insel geheim. Einzig der Mythos des Gründerpaares, das scheinbar für den Ursprung der Meritokratie verantwortlich ist, verweist 248 Ebd. 249 Vgl. Foucault 2006 [1984], S. 325 sowie II.2.4.1 in dieser Arbeit. 250 Dies wird u.a. deutlich, wenn Petterson, eine Konkurrentin Rubens um den Job des Abteilungsleiters, Izia vorschlägt, sich von Ruben zu trennen und stattdessen sie zu heiraten, was den sozialen Stand Izias und die beruflichen Erfolgsaussichten Pettersons erhöhen würde; vgl. Trepalium, S1E3. Für diese Werte steht auch exemplarisch die Beziehung zwischen Ruben und seinem Vater, deren einzige tragfähige Grundlage der Drang nach beruflichem Erfolg, keinesfalls aber eine emotionale Bindung ist. 251 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«, Herv. i. O.

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auf die Entwicklung der fiktiven Gesellschaft und gibt ihr den Anstrich einer langen Tradition und somit eines erfolgreichen sozialen und politischen Systems. Einen Einblick in die diegetische Vergangenheit, über eine alternative Gemeinschaft und deren Bezug zur extratextuellen Welt zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung geben Analepsen der zweiten Staffel. Hier wird in der Handlung selbst die Ausgrenzung unliebsamer historischer Ereignisse und die Umschreibung von Geschichte anhand des Mythos des Gründerpaares der Insel Maralto thematisiert. Dieser intradiegetische Mythos, der bereits in der Eröffnungsepisode durch den Spielleiter Ezequiel in der Begrüßung der Bewerber erwähnt und später immer wieder beschworen wird, wird in der Episode »Capítulo 09: Colar« rekonstruiert, dekonstruiert und korrigiert.252 In dieser Folge wird in extern fokalisierten audiovisuellen Analepsen von den Wissenschaftlern Laís, Vítor und Samira berichtet, die die Insel im Auftrag eines Konsortiums erkunden und zu einem Refugium vor drohenden ökologischen Katastrophen umgestalten, das ein klimaneutrales und ressourcenschonendes Leben ermöglicht. Da der Grundwasserspiegel im Festland dramatisch gesunken ist und eine küstennahe Stadt in Folge dessen in einem Krater abzusinken droht, steht der Festlandgesellschaft ein Bürgerkrieg bevor. Aus Angst vor sozialen Verwerfungen ordnet das Konsortium, das die Transformation der Insel zu einer intentional community finanziert, vom Festland aus an, alle Wissenschaftler vor Ort zurückzuschicken, damit die Geldgeber und ihre Familien selbst auf der Insel Zuflucht suchen können. Über die Frage, ob das Festland gezielt zerstört werden solle, damit die Insel vor weiteren unliebsamen Zugriffen geschützt bleibe, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Forschern, im Zuge derer Samira im Affekt erschossen wird. Anschließend wird die Stromzufuhr im Festland von Laís und Vítor zerstört und der Kontrollraum mitsamt der Leiche verschlossen. Sowohl die unrühmliche Geschichte der Gründung der Insel-Eutopie als auch der Mord an Samira geraten in Vergessenheit. Diese Analespen um das Gründer-Trio werden parallel zur analytischen Erzählung um die bisher ungeklärte Vergangenheit von Micheles Bruder André gesetzt, der, wie sich herausstellt, an eben jenem Kontrollraum, den er selbst entdeckte, seinen Mentor umbrachte, um die heroische Erzählung um das vermeintliche Gründerpaar aufrechtzuerhalten. Deren Mythos stellt sich als fingierte Erzählung, als Umdeutung der Vergangenheit heraus. An die Stelle der tatsächlichen Entwicklung wird ein heteronormatives Narrativ von glorreichen Personen gesetzt, die als Elternfiguren Pate für die Meritokratie stehen. Ausgeblendet wird dabei nicht nur ein anderes Modell von Partnerschaft, Liebe und Sexualleben, auch der moralisch fragwürdige Umgang der Forscher mit der Bevölkerung des Festlandes bleibt ohne Konsequenzen. Mit diesem analeptischen Handlungsstrang sowie dem fanatischen Drang Andrés, die politisch und sozial konstruierte Identität der Inselidylle um jeden Preis aufrechtzuerhalten, macht 3 % auf den fast idealtypischen Versuch der Inszenierung eines Mythos der vermeintlichen Eutopie im Sinne Hantschs aufmerksam und dekonstruiert ihn zugleich im Sinne der kritischen Dystopie.253

252 Vgl. 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar«. 253 Vgl. hierzu IV.4. in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

The Man in the High Castle Am deutlichsten werden Neubewertung und Umschreibung von Geschichte in der Serie The Man in the High Castle betrieben. Hierauf verweisen exemplarisch bereits die Titel einiger Episoden, wie z.B. »The New World«,254 »History Ends«255 und »Jahr Null«.256 Die politische Umdeutung zeitlicher Ereignisse deutet sich in den opening credits der Serie an. Diese verweisen durch die Projektion von politisch-kulturellen Symbolen des japanischen Kaiserreiches und der deutschen Nationalsozialisten sowohl auf den Status der Serie als alternate reality als auch auf die für die Handlung zentralen news reels, die alternative historische Verläufe suggerieren. Darüber hinaus nehmen sie aber auch die diegetische politische Inszenierung von Zeit vorweg, die die Nationalsozialisten mit der Überschreibung des öffentlichen Raums durch die Ikonographie des Faschismus anstreben und die in der dritten Staffel mit dem Projekt des ›Jahr Null‹ weiter vorantreiben wollen. Laut Fernando Gabriel Pagnoni Berns und Emiliano Aguilar erinnert die Transformation ›Amerikanischer‹ Embleme zu »National Socialist monuments« in den opening credits die Zuschauer an die Verantwortung von Architekten und die Rolle von Architektur in der Ausführung einer »totalitarian political agenda«.257 Die Auseinandersetzung um die Deutung von Geschichte und die sich aus der Deutungshoheit abgeleitete politische und gesellschaftliche Macht ist eines der wichtigsten Themen der Serie, lassen sich doch viele einzelne Handlungen immer wieder auf die Auseinandersetzung zwischen Japanern, Deutschen und dem Widerstand um die Filme des Mannes im hohen Schloss verkürzen, die jeweils alternative Geschichtsverläufe präsentieren. Anders als die Zeitdystopien Alpha 0.7, Wayward Pines, Trepalium und 3 % verlagert The Man in the High Castle die Handlung nicht einfach in eine Zukunft, die von der Welt der Rezipienten ausgeht, sondern in eine andere Welt, die sich auf die empirische Vergangenheit bezieht und sie zugleich de- und rekonstruiert. Die Uchronie von The Man in the High Castle stellt eine zeitliche Isolation dar, weil sie Geschichte umdeutet, sich somit den realen Ereignissen entzieht und auch keine Warnung hinsichtlich einer möglichen Zukunft ausspricht, sondern hinsichtlich einer möglichen Vergangenheit.258 In der ersten und zweiten Staffel der Serie macht sich die Eutopie der Besatzer und die Dystopie der Besetzten im physischen Raum vor allem durch die Substitution von Symbolen US-amerikanischer Kultur und Geschichte durch die Ikonographie des japanischen Kaiserreichs und des deutschen Nationalsozialismus deutlich. In der dritten Staffel betreiben die Nationalsozialisten im American Reich eine auch visuell wahrnehmbare Umschreibung von Geschichte und inszenieren die Zeitlichkeit ihres politischen Systems bewusst selbst. Ihre politische Agenda verdichtet sich in einer Rede des neuen Führers

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The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Ebd., S3E6, »History Ends«. Ebd., S3E10, »Jahr Null«. Pagnoni Berns, Fernando Gabriel/Aguilar, Emiliano (2017): Say Heil! to Architecture. In: Krajewski, Bruce/Heter, Joshua (Hg.): The Man in the High Castle and Philosophy. Subversive Reports from Another Reality. Chicago: Open Court, S. 15–24, hier S. 15f. 258 Diese Argumentation basiert auf Claeys Analyse von Harris’ Roman Fatherland; vgl. Claeys 2016, S. 479.

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IV. Analyse der Serienräume

Himmler, die insbesondere an die nach Ende des Krieges Geborenen gerichtet ist. Anlass der Rede ist die Sprengung der Statue of Liberty. Himmler: Today is for you: The generation born since the end of the war. A pure generation, free from the decrepit ideologies of the past. You are the future. You are the Reich. But you must be vigilent: The enemies of the Reich are everywhere. Those who would anchor you to the past must be eliminated to make room for the new. Today, we tear down the old. Here is your Fuhrer’s gift to you: A new beginning – Jahr Null!259

Alpha 0.7 In Alpha 0.7 wird nicht bewusst eine eigene Zeitlichkeit, schon gar nicht ein eigener Mythos erstellt, da es sich intradiegetisch nicht um eine bereits bestehende statische Dystopie handelt, sondern vielmehr um den Versuch, ein Überwachungsregime und somit eine – je nach Standpunkt bessere oder schlechtere – Welt zu erstellen. Zwar wird die zeitliche Verortung der Handlung im Jahr 2017, also einer fiktiven nahen Zukunft zum Zeitpunkt der Serienausstrahlung (2010), durch die Auswahl futuristisch anmutender Locations und eine Rauminszenierung bekräftigt, die den Bezug der Serie zur ScienceFiction fast holzschnittartig markiert.260 Allerdings wird durch diese Elemente diegetischer Verfremdung im Sinne Spiegels261 keine Zeit konstruiert, die auf ein bestimmtes dystopisches Programm zurückgeführt werden kann wie in Wayward Pines, Trepalium oder 3 %. Neben dieser diegetischen Verfremdung und einer technizistischen Ästhetik ist es vor allem der in den fünf Kernserien etablierte Gegensatz zur Vergangenheit, der die eigene Zeit der Dystopie akzentuiert. In diesem Punkt zeigen die hier untersuchten seriellen Dystopien große Übereinstimmungen mit den von Hantsch untersuchten Eu-, Dys- und Anti-Utopien, weshalb angenommen werden kann, dass mit der temporalen Isolation ein konstitutives Merkmal utopischen Erzählens in die gegenwärtigen Serien Eingang findet. Trepalium, 3 % und Wayward Pines generieren durch die innerhalb der Kernserie oder in seriellen Paratexten analeptisch erzählte Vergangenheit, die im Ähnlichkeitsverhältnis zur extratextuellen Welt zum Zeitpunkt der Serienausstrahlung steht, eine Kontrastfolie, vor der die in der Dystopie inszenierte Zeit noch fremder und hermetisch abgeschlossener gegenüber alternativer Welten anmutet. The Man in the High Castle präsentiert nicht nur eine alternative Geschichtsschreibung, sondern grenzt sich auch von einer alternativen Vergangenheit ab, in der die Achsenmächte die USA durch einen Atomangriff besiegten. Diese wird in Analepsen aufgerufen und dient zur Abgrenzung der intraseriellen Gegenwart.262 Der tatsächliche Übergang von

259 The Man in the High Castle, S3E10, »Jahr Null«. 260 Als Location für den Sitz des National Pre-Crime-Centers wird das Porsche-Museum gewählt, ein Bau, der aufgrund seiner schwebend wirkenden dritten Etage, ihrer fast fließenden, dynamischen Form und der Aluminiumplatten in der Außenfassade bereits in der extratextuellen Welt futuristisch anmutet. Eher stereotyp wird die Zugehörigkeit der Serie auch zur Science-Fiction markiert, wenn im Inneren des Gebäudes der Protecta-Society ein Saugroboter platziert wird, das Atrium im kühlen, indirekten Licht erscheint und eine computergesteuerte Frauenstimme erklingt; vgl. Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«. 261 Vgl. Spiegel 2007, S. 206f. 262 Vgl. u.a. The Man in the High Castle, S2E10, »Fallout«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

der Welt vor der Dystopie in die Dystopie wird allerdings ausgespart, weshalb die jeweilige totalitäre Gesellschaft wirkt, als habe sie immer bestanden.

2.3.2 Nebeneinander von Zeiten im Raum Die Räume der jeweiligen seriellen Basiserzählung zeigen jedoch nicht ausschließlich die Intentionen ihrer Herrscher, die Gesellschaft in eine neue, vermeintlich bessere Zeit zu führen. Vielmehr kommen sie innerhalb der filmisch-seriellen Inszenierung in Konkurrenz mit ihren Umgebungen vor, mit den Slums, mit Natur und Wildnis oder heterotopischen Clustern, die sich in der Mitte der dystopischen Zentren befinden. Akzentuiert wird die programmatische Architektur der jeweiligen Dystopie neben diesen Gegenorten auch durch Erzählungen anderer Gesellschaftsformen, die entweder analeptisch inszeniert werden oder, im Falle von The Man in the High Castle, durch Einblicke in parallele Welten Alternativen zum gegenwärtigen System präsentieren. Diese Ko-Existenz von intradiegetischer Zeit bzw. ihrer Spuren im Raum und einer ideologisch motivierten Inszenierung von Zeit kommt in allen hier untersuchen Serien bis auf Alpha 0.7 vor.263

Wayward Pines Die Stadt, die Ethan zu Beginn der seriellen Basiserzählung betritt, erinnert nicht an ein typisch futuristisches Setting, sondern eher an medial vermittelte Bilder einer fiktiven Vergangenheit. Die Kleinstadt-Architektur der 1940er und 1950er Jahre mit ihren Pastellfarben, den Holzfassaden sowie der Typographie der Schilder und der Leuchtreklame der einzelnen Geschäfte erweckt vor allem im Zusammenspiel mit Ethans modern geschnittenem Anzug sowie der in der Parallelmontage gezeigten Praxis des Psychologen den Eindruck einer regressiven Gesellschaft.264 Assoziationen mit medialen Bildern der US-amerikanischen Kleinstadt werden durch die sozialen Verhaltensweisen der Bürger aktiviert.265 Die Wohnhäuser der Bürger von Wayward Pines erinnern an Unterkünfte in Ferienparks oder Erholungsgebieten und verweisen auf die Welt zeitgenössischer Rezipi-

263 Allein der Kontrast zwischen den modern-kühlen Gebäuden der Protecta Society und dem National Pre-Crime Center einerseits und dem Versteck von apollon im Wald andererseits etabliert noch kein Nebeneinander zwischen artifizieller und realer Zeit im Raum, was darauf zurückzuführen ist, dass die Serie einen Prozess auf dem Weg zur Dystopie, nicht aber eine statische schlechtere Gesellschaft präsentiert. 264 Der Schauplatz der Serie Persons Unknown referiert ebenfalls erkennbar auf die 1940er und 1950er Jahre bzw. die oben zitierten Filme und Fernsehserien, im Gegensatz zu Twin Peaks, The Truman Show und Desperate Housewives liegen aber auch deutliche Parallelen auf Ebene der Handlung zwischen Wayward Pines und Persons Unknown vor. Ein gemeinsamer Hypotext beider Serien ist die britische Serie The Prisoner. Vgl. hierzu Kröber, Franz (2020b): »Welcome to Level Two« – Überlegungen zum Fragmentcharakter von Persons Unknown. In: Cuntz-Leng, Vera/ Einwächter, Sophie/Fröhlich, Vincent (Hg.): Serienfragmente. Wiesbaden: Springer, S. 253–266, hier S. S. 263f. 265 Vgl. hierzu IV.2.1.6 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

enten.266 Auch hier lässt sich jedoch ein ›Bruch‹ mit der Vergangenheit erkennen, den Hantsch als Charakteristikum von Utopien aufstellt: Die Einrichtung der Häuser ist durchgehend gleich, egal, ob eine Figur kurze oder lange Zeit in einem Haus lebt, oder dieses gerade verlassen hat.267 Auch wenn sich die Hauptstraße mit ihrer nostalgischen Architektur und das Wohnviertel aufgrund des jeweiligen Designs unterscheiden, so spiegeln beide Räumlichkeiten eine bewusste Inszenierung von Zeit wider. Sowohl im öffentlichen Raum der Hauptstraße, der angrenzenden Geschäfte und gastronomischen Einrichtungen als auch in dem Viertel der Stadt, in dem die Bewohner leben, werden Gleichförmigkeit und Statik, Rückwärtsgewandtheit und die Koexistenz mit domestizierter Natur in Form von Vorgärten und kleinen Parks inszeniert. Die Kleinstadt ist eine Heterochronie, aber weder, weil sie im Sinne Foucaults auf den Moment ausgerichtet ist oder Zeit akkumuliert,268 sondern weil sie auf die Beseitigung intradiegetisch ›realer‹ und die Performanz künstlicher Zeit ausgerichtet ist. Das Bergmassiv, das die Steuerungszentrale, die Speicher für Lebensmittel, Stromgeneratoren, Wasseraufbereitungsanalgen und die Kabinen mit den kryokonservierten Menschen beinhaltet, steht im Gegensatz zur Kleinstadtarchitektur: Die vorherrschenden Baumaterialien sind Beton und Stahl, bisweilen ist an den Innenwänden die Oberflächenstruktur des Berges zu erkennen, in den der Trakt gebaut wurde.269 Dadurch entsteht der Eindruck einer Entgrenzung zwischen Natur und Gebäude. Ein futuristisches Design liegt vor allem bei den Speichern für Lebensmittel und Menschen vor: Diese ähneln sich stark und sind jeweils in Reihen links und rechts eines großen Gangs angeordnet und in Weiß und Orange gehalten.270 Die Speicher setzen durch ihre geometrische Form, funktionale Anordnung und ihre Ähnlichkeit mit Industrieanlagen jeweils Nahrung und Menschen als Güter gleich. Die Deckenbeleuchtung besteht aus einer Reihe uniformer Reifen aus Neonröhren und erinnert somit an die typische Innenausstattung von Raumschiffen oder Bauten des Science-Fiction-Films. Der futuristische look des Bergmassivs ist im Gegensatz zur Kleinstadt nicht diegetisch inszeniert, sondern ließe sich innerhalb der fiktiven Welt mit Bezug auf physikalische und biologische Überlegungen begründen und steht deshalb eher im Zeichen der Science-Fiction. Dennoch finden sich auch hier politisch motivierte Hinweise auf das implizite Ziel der vermeintlichen Eutopie, einen eigenen Mythos zu erschaffen: In den Gängen des Bergmassivs sind Plakate aufgehangen, auf denen mit weißer Schrift auf orangefarbenem bzw. mit orangefarbener Schrift auf schwarzem Grund die Botschaften »Wayward Pines is the Future« und »We are the future« geschrieben stehen (vgl. Abb. 29, 30).271 Die Tatsache, dass beide Plakate jeweils für sehr kurze Zeit zu sehen sind und bei der Erstrezeption wahrscheinblich kaum auffallen sowie als Hintergrund der unruhig durch die Gänge streifen266 Als Location für die Wohnhäuser wurde die Marguerite Street in Coquitlam in British Columbia, Kanada, gewählt; vgl. o.A. (o.A.): Wayward Pines (2015–2016): Filming & Production. In: Internet Movie Database. https://www.imdb.com/title/tt2618986/locations, aufgerufen am 6.04.2019. 267 Vgl. hierzu IV.2.1.3 in dieser Arbeit. 268 Vgl. hierzu II.2.4.1 in dieser Arbeit. 269 Vgl. Wayward Pines, S1E6, »Choices«. 270 Vgl. ebd., 1SE3, »Our Town, Our Law«. 271 Wayward Pines, S1S6, »Choices«. Die Screenshots der Abbildungen wurden nachträglich aufgehellt.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

den Figuren Ethan und David Pilcher gezeigt werden, lässt die Botschaften wie zufällig platziert wirken. Zugleich werden sie durch Layout und den Handlungskontext ihrer filmischen Präsentation konterkariert: Es handelt sich bei den Parolen weniger um ein verheißungsvolles Versprechen, als eine trotzige bis bedrohliche Anordnung, was durch Orange als Warnfarbe signalisiert wird (vgl. ebd.). Zugleich machen die analeptischen Erzählungen eben jener Episode, »Choices«, deutlich, dass Wayward Pines’ Zukunft immer ungewiss war und auch in der diegetischen Gegenwart ist, weil die Folge damit endet, dass die Ballingers ein Bombenattentat planen, um aus der Stadt zu flüchten.

Abb. 29 (links): Wayward Pines, S1E6, »Choices«, 00:04:36; Abb. 30 (rechts): Wayward Pines, S1E6, »Choices«, 00:17:54.

Das Betreten der Außenwelt in Wayward Pines ist für die Bewohner nicht nur verboten, weil die dort lebenden Abbies die Population der letzten Menschen gefährden, sondern würde auch das Bestehen der Kleinstadt-Diktatur bedrohen: Der Blick auf die Überreste menschlicher Zivilisation jenseits des elektrischen Zauns erlaubt eine genauere zeitliche Verortung der Gemeinschaft und könnte die Transformation orientierungsloser Gefangener zu mündigen Bürgern einleiten.272 Die nicht domestizierte Natur außerhalb der Kleinstadt bezeugt den Verfall menschlicher Zivilisation. Sie entzieht sich überwiegend dem Versuch des Regimes, Geschichte und Zukunft sowie überhaupt die Einschreibung von Zeit in den Raum zu beenden. Die Expedition Ethan Burkes in das Gebiet um Wayward Pines bzw. in den ehemaligen Bundesstaat Idaho deckt deutliche Spuren menschlichen Lebens inmitten der Wildnis auf.273 Während ein Schild mit der Aufschrift »Boise«, das Ethan im Unterholz findet, die Überreste einer Brücke und einer Straße als landmark Ethans Fähigkeit zur Orientierung und Navigation im diegetischen Raum unterstützen, mag das verfallene Capitol des Bundesstaates als Sitz der Legislative an die Demokratie als alternativer Gesellschaftsform erinnern. Somit fungiert die Wildnis nicht nur als Speicher ehemaliger menschli272 Das Betreten der Außenwelt ist für die letzten Menschen wegen der dort hausenden Abbies kaum möglich, und die einzige Form der Aneignung dieses Territoriums findet durch die Anpflanzung von Nahrungsmitteln statt – ein Unterfangen, das schließlich durch den Angriff der Abbies ebenfalls vereitelt wird; vgl. Wayward Pines, S2E6, »City Upon a Hill«. 273 Die folgende Darstellung bezieht sich auf Wayward Pines, S1E5, »The Truth«.

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IV. Analyse der Serienräume

cher Aktivitäten, sondern symbolisiert auch Werte, die in Wayward Pines akut bedroht sind. Die Kleinstadtidylle und der Versuch, mit dem cottage style die geeignete Kulisse für die inszenierte Eutopie der letzten Menschen zu finden, mutet vor allem deshalb unangenehm regressiv an, weil die Idylle in zahlreichen Analepsen mit Räumen kontrastiert wird, die der extraseriellen Welt ähneln. Das Nebeneinander von Zeiten in Wayward Pines ist zum einen im story-space der seriellen Basiserzählung ablesbar, zum anderen aber auch anhand der zeitlichen Anordnung von Ereignissen auf der Ebene des discours. In beiden Staffeln werden die Gegenwart der Basiserzählung und die intradiegetische Vergangenheit immer wieder kontrastiert. Vor allem in der ersten Hälfte der ersten Staffel wird durch eine Parallipse,274 also das Aussparen der zentralen Information, dass sich die Ereignisse in Seattle in der Vergangenheit, die in Wayward Pines in der Gegenwart zutragen, ein besonderer dramaturgischer Effekt vorbereitet.275 Erst durch diese Gegenüberstellung von Handlungsräumen verschiedener temporaler Ebenen kann der narrative twist in der Episode »The Truth« erzeugt werden, in der die Zuschauer – bemerkenswerterweise zusammen mit einigen Schülern der Kleinstadt – darüber aufgeklärt werden, dass die Gegenwart der Erzählung in einer mehrere tausend Jahre entfernten Zukunft liegt. Von dieser Episode an besteht auch Gewissheit darüber, dass die Kleinstadt eine Kulisse ist, ein inszenierter Chronotopos des despotischen Regimes.

Trepalium Die zeitliche Isolation der Gesellschaft in Trepalium wird besonders durch den Kontrast zwischen der futuristischen Stadt und der rückständigen Zone deutlich. Zugleich erscheint aber auch die Stadt aufgrund der Verknüpfung verschiedenster Baustile heterogen: Paradoxerweise wird dadurch einerseits bereits eine Ko-Existenz verschiedener Zeiten ebenso etabliert wie ein eigener futuristischer look. Die Stadt wird von François Girard, dem Production Designer der Serie, als »rétro-futuriste« bezeichnet.276 Tatsächlich weisen die einzelnen Gebäude ein schwer zu entflechtendes Gewebe aus Stilen unterschiedlichster Epochen auf. Zunächst ist dieser Eindruck auf die Wahl der Drehorte zurückzuführen. Als Locations werden Gebäude genutzt, deren Architektur bereits futuristisch wirkt. So ist der von Oscar Niemeyer entworfene Sitz der Partie Communiste

274 Vgl. Genette, 2010, S. 125f. 275 Dies gilt nicht nur für Analepsen, in denen die individuelle Vergangenheit der jeweiligen Protagonisten vorgestellt wird, wie die von Ethan Burke in Staffel eins oder von Theo Yedlin in Staffel zwei, sondern auch für weiter zurückliegende Rückblenden wie die um David Pilcher: Diese Analepsen dokumentieren u.a. die Entstehung der Kleinstadt inklusive der Entschlussfassung für dieses Projekt sowie die Rekrutierung und Entführung von Menschen, die in der fernen Zukunft als Bürger von Wayward Pines leben sollen. Die Ereignisse vor Beginn der Basiserzählung in der ersten Episode werden auch durch die Webserie Gone: A Wayward Pines Story präsentiert. 276 Girard, François Gila (26.01.2016): Trepalium. In: Association des Chefs Décorateurs de Cinéma. https ://www.adcine.com/trepalium, aufgerufen am 10.02.2019. Das gleiche Attribut wird dem Stil der Kulisse in einem journalistischen Text zugeschrieben; vgl. Olité, Marion (11.02.2016b): Les impressionnants décors rétrofuturistes de Trepalium commentés par son créateur. In: Konbini Biinge. http s://biiinge.konbini.com/series/trepalium-decors-retrofuturistes-arte, aufgerufen am 21.09.2020.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Francais der Drehort für das Büro der Premierministerin, den Saal, in dem die Regierungschefin ihre Pressekonferenzen abhält,277 sowie ein Bankett, dass vom multinationalen Konzern Aquaville ausgerichtet wird.278 Das Centre National de la Danse sowie die Bibliothèque National de France werden als Kulisse für den Sitz des Konzerns Aquaville verwendet,279 die Außenaufnahmen für die Wohngegend, in der Ruben mit seiner Familie lebt, fanden in der Häuserzeile Les Dents de Scie in Trappes, südwestlich von Paris, statt.280 Zum Teil wurden die genannten Locations für die Verwendung in der Serie bearbeitet, indem u.a. Stellwände in der Nationalbibliothek aufgebaut281 oder Wände mit Stoffbahnen verkleidet wurden. Eine Relevanz hat die Wahl dieser Locations für die Untersuchung der Zeitlichkeit der Serie insofern, als die genannten Bauten in ihrer Architektur die Erwartungen von Gebäuden der Zukunft erfüllen, zugleich aber durchaus antiquiert anmutende Elemente enthalten. Aus den Überlegungen der Production Designer, der Drehbuchautoren sowie des Regisseurs ergeben sich Hinweise auf die intendierte Wirkung der verwendeten Schauplätze und ihrer filmischen Darstellung bezüglich der Zeit der Diegese. Der Regisseur Vincent Lannoo berichtet in einem Interview davon, ein »patchwork d’époques« zu erzeugen, um vom Leben der Figuren zu erzählen.282 So sind Lannoo zufolge z.B. die Kostümierungen den 1950er Jahren entlehnt,283 in Online-Reportagen zur Produktion von Trepalium wird hingegen auf die Ästhetik der 1970er284 und 1980er Jahre285 abgehoben und der Production Designer Girard gibt als Inspirationsquelle den »rétrofuturisme« von Auguste Perret aus den 1940ern und 1950er Jahren an.286 Ein dominanter Einfluss auf die Architektur der Stadt ist der des Funktionalismus. Der vordergründige Baustil ist geprägt von klaren Flächen, die frei von Details sind, der Betonung gerader Linien und geometrischer Formen, sowie der fast durchgängigen Verwendung von Beton,287 u.a. sichtbar in der Wohnhausreihe, in der Rubens Familie lebt. Insgesamt sind somit Anspielungen auf den Funktionalismus von Le Corbusier, aber auch den Brutalismus der Nachkriegsjahre erkennbar. Die im Konzerngebäude Aquaville und dem Regierungssitz erkennbare Monumentalität, die Dominanz der z.T. technizistischen Ästhetik, die vor allem in den Wolkenkratzern sichtbar wird sowie die strikte 277 Vgl. Langlais 2018. 278 Vgl. Olité, Marion (15.01.2016a): Sur le tournage de Trepalium, l’ambitieuse série d’anticipation d’Arte. In: Konbini Biinge. https://biiinge.konbini.com/series/sur-le-tournage-de-trepalium-lambi tieuse-serie-danticipation-darte/, aufgerufen am 20.09.2020. 279 Vgl. Olité 2016b. 280 Anlass zu dieser Vermutung gibt eine Nachricht, die vom Twitter-Account der französischen Stadt Trappes-en-Yvelines versendet wurde; vgl. #Trepalium; Trappes@villedetrappes (7.02.2016): http s://twitter.com/villedetrappes/status/696394312263856128, aufgerufen am 20.09.2020. 281 Vgl. Olité 2016b. 282 Jarry, Marjolaine (7.02.2016): »Trepalium«, le making-of par Vincent Lannoo. In: Téléobs. https://t eleobs.nouvelobs.com/series/20141224.OBS8639/trepalium-le-making-of-par-vincent-lannoo.ht ml, aufgerufen am 20.09.2020. 283 Ebd. 284 Langlais 2018. 285 Olité 2016b. 286 Ebd. 287 Vgl. zum Funktionalismus in Dystopien u.a. II.4.2 sowie IV.1.3.1 sowie IV.1.3.3 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

Ausblendung von Natur, die durch das Fehlen von Pflanzen oder Parks in der gesamten Serie deutlich wird, verweisen wiederum auf den italienischen Futurismus aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts.288 Demgegenüber steht die Auswahl der Espaces d’Abraxas als Drehort für einige Szenen. Dieser Vorort von Paris kann aufgrund seiner Zitate verschiedenster Baustile der postmodernen Architektur zugeschrieben werden: »Säulen, Bogen, Giebel, Gesimse, Profile, Rahmen und Bekrönungen« werden als Referenzen auf frühere Stile u.a. den Manierismus, »ironisch gebrochen, spielerisch, aus dem Funktionszusammenhang gelöst« und sollen »als Sprache verstanden« werden.289 Auch wenn die Locations, die in der Serie zu sehen sind, an sich überwiegend dem Funktionalismus zugeordnet werden können, so dominiert mit Blick auf die Gesamtheit der in der Serie präsentierten Baustile und ihrer Kombination miteinander der Eindruck architektonischer Heterogenität.290 Das Pastiche verschiedener Stile aus Architektur und Kunst sowie technizistischer Ästhetik – u.a. zu sehen in den in Tische und Wände eingelassenen Touchscreens – generiert eine eigene Zeit für die Stadt, die im Raum ›ablesbar‹ und erfahrbar wird. Beispielhaft hierfür steht die Wohnung von Ruben, Thaïs und ihrer Tochter Maëlle: Das kleine Apartment mit den quadratischen Fliesen in den Wänden sowie dem indirekten Licht erinnert an ein japanisches Studio, die Sitzgarnitur an Design-Elemente der 1970er Jahre, die Tapete in Maëlles Kinderzimmer an den Art Déco der 1920er, während der Bildschirm als Teil der Wand nahtlos zwischen Standbild, Unterhaltung und Informationsfunktion wechselt und den futuristischen Charakter der storyworld unterstreicht.291 Die Koexistenz verschiedener Baustile innerhalb der fernseh-seriellen Erzählung verweist auf mehrere extratextuelle Raumdiskurse sowie intradiegetische Vergangenheiten gleichzeitig. Daraus resultiert eine eigene, sich im diegetischen Raum spiegelnde Zeit. Hier liegen Parallelen zur Antike-Rezeption im Science-Fiction-Film nahe, die sich mitunter »auf unterschiedlichen Ebenen antiker Elemente« bedienen »und […] das Zukünftige so zugleich als historische Anspielung und wesenhafte Fremdheit« inszenieren.292 Dass die Stadtarchitektur überhaupt als zusammengehörig wahrgenommen wird, mag neben dem Gegensatz zur intradiegetischen Vergangenheit, der auch im Hörspielprequel A l’ombre du mur. Journal d’un inutile aufgerufen wird, auf den in der Serie inszenierten Kontrast zur Zone zurückzuführen sein, der durch das Produktionsteam durchaus intendiert ist. Production Designer Girard nennt Kuba als einen Ausgangspunkt seiner Konzeption für die Raumgestaltung der Zone, da innerhalb des kommunistischen Staates im Zuge des Embargos der USA ›die Zeit stehen geblieben‹ sei: »La Zone est une grande décharge, un reliquat du passé où les gens vivent en recyclant«.293 Sie zeichnet sich vor allem durch die deutlichen Spuren intradiegetischer Vergangenheit aus, durch 288 Vgl. zum italienischen Futurismus Kretschmer 2013, S. 92–98. 289 Ebd., S. 314. 290 Was wiederum damit zusammenhängen könnte, dass auch der Funktionalismus in der Architektur häufig nur ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlichster Strömungen ist. 291 Vgl. Trepalium, S1E1. 292 Wieber, Anja (2011): Antike und Sciencefiction-Film. In: Lexikon der Filmbegriffe. https://filmlexiko n.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5904, aufgerufen am 1.05.2020. 293 Olité 2016b, eigene Übersetzung: »Die Zone ist eine große Mülldeponie, ein Überbleibsel der Vergangenheit, in der Menschen vom Recyceln leben«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

zerstörte oder nicht mehr funktionsfähige Artefakte. Die durchgehende Darstellung der Zone mit einer geringeren Farbsättigung sowie die Dominanz von Blautönen lassen den Ort ›verblasst‹ erscheinen und verstärken den Eindruck des Vergangenen. Im Gegensatz zur Stadt mit ihrer eklektischen Zusammensetzung verschiedenster Baustile wirkt sie homogener, aber auch lebloser, ein Eindruck, der auch durch die eher gebückte Körperhaltung und phlegmatischen Verhaltensweisen ihrer Bewohner verstärkt wird.

3% Ähnlich verhält es sich mit 3 %: Auch hier koexistieren mehrere Zeiten sowohl im Vergleich von Insel und Slum, aber auch innerhalb des Slums, der wie die Zone in Trepalium als metaphorisches Archiv fungiert. Auch die Architektur der Inselbauten und ihrer Landschaftsgestaltung erinnert an den Funktionalismus der Moderne mit seinem Verzicht auf Ornamente, den klaren Linien und geometrischen Formen. Die Konstruktion großer, bodentiefer Fenster, die einen Übergang zwischen domestizierter Natur und Wohnraum schaffen, steht in der Tradition von Bauten Frank Lloyd Wrights wie Fallingwater (1953). Die Orientierung an Prismen und Trapezen bricht die strenge Geometrie der Moderne jedoch auf.294 Aufnahmen der Insel zu Beginn der zweiten Staffel, in der die Parkanlage zu sehen ist, zeigt, dass Natur durch geschwungene Wege und Pools oder Teiche eingehegt und kontrolliert wird.295 Insgesamt dominiert hier – trotz einiger postmoderner Anklänge in den architektonischen Formen – die Kühle und Sterilität des Funktionalismus. Eine futuristische Atmosphäre erhält die Insel als Handlungsraum vor allem durch die Bekleidung ihrer Bewohner, die z.T. an die 1970er Jahre sowie an gegenwärtige skandinavische Designs erinnern und wegen breiterer Schnitte und unkonventioneller Formen reduktionistisch bzw. clean anmuten. Die akusmatische Musik, mit der der Raum der Insel zu Beginn der zweiten Staffel inszeniert wird, ist wie die akustische Untermalung des Slums von pentatonischen Klängen und orientalisch anmutenden Melodien geprägt, wobei das Instrument der Marimba die Vorstellung eines maritimen Raums evoziert. Der Eklektizismus verschiedener Stilrichtungen aus Musik, Mode und Architektur trägt zur Inszenierung einer phantastisch-zukünftigen Welt bei. Der Slum hingegen wirkt vor allem durch die Kulisse aus verfallenen Bauten und deren Überlagerung durch Pappen und Textilien, Folien und Graffitis, heterogen und lebendig. In der zweiten Staffel wird der Slum durch Farbfilter vor allem in Ocker- und Gold-Tönen inszeniert und mutet deshalb im Vergleich zu seiner Darstellung in der vorhergehenden Staffel deutlich wärmer an.296 In der ersten Staffel scheinen die Bewohner noch ebenso desillusioniert wie die der Zone in Trepalium, doch in der zweiten Staffel, insbesondere der Episode »Capítulo 06: Garrafas« wird die Juvenilität der Slum-Population durch Straßentänze und Gesang in Musik-Video-Ästhetik inszeniert und bricht sich im selbstbewussten Verlangen nach der Aufnahme der Wettbewerbe bahn. Auch

294 Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass auch einige dem Funktionalismus oder der Moderne zugeordnete Architekten (Hans Scharon, Oscar Niemeyer) durch die Umsetzung geschwungener Formen auszeichnen, die insgesamt aber ebenfalls eine reduzierte Ästhetik auszeichnet. 295 Vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. 296 Vgl. hierzu die Analysen des Serienraums von 3 % in IV.1.2 sowie IV.1.3 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

symbolisch steht der Slum trotz der Allgegenwärtigkeit ökonomischer Unterlegenheit im Vergleich zu Maralto für Fortschritt und Zukunft: Während der Eintritt in die Insel mit der Sterilisation der ›drei Prozent‹ einhergeht, scheint die überwiegende Mehrheit der Slumbewohner unter 30 Jahren zu sein und bringt verlässlich immer neue 20-jährige Bewerber für den Processo hervor. Obgleich Verschmutzung und Zerstörung im Slum allgegenwärtig sind und auf jahrzehntelange Verteilungskämpfe und ökonomische Degeneration schließen lassen, handelt es sich nicht wie bei der Zone in Trepalium um eine Heterotopie, in der Zeit kaum zu vergehen scheint. Der Eindruck einer degenerierten und doch futuristischen Welt wird durch die parasitäre Überlagerung von Bauten mit weiteren Materialien, die kunstvoll recycelte Kleidung der Slum-Bewohner, minimale technische Innovationen wie z.B. Chips mit Ortungs- und Audiofunktion in den Ohren der Menschen sowie akusmatische Musik aus Latin- und Science-Fiction-Sound erzeugt.

The Man in the High Castle Ebenso wie für Wayward Pines, Trepalium und 3 % lässt sich auch für The Man in the High Castle eine Einteilung von Räumen mit Blick auf die ihnen eingeschriebenen Zeiten vornehmen, allerdings ist aufgrund der Länge der seriellen Erzählung sowie der immens größeren Anzahl an Handlungssträngen die Anzahl der Handlungsräume und -orte sowie die Qualität der Verräumlichung von Zeit höher als bei den anderen Serien. Die besetzten Gebiete der Japanese Pacific States sowie des Greater Nazi Reich auf dem Nordamerikanischen Kontinent spiegeln auf räumlicher Ebene den Versuch wider, jeweils neue gesellschaftliche Entwürfe zu realisieren. Dies wird zum einen deutlich bei der Einführung von San Francisco in der Pilotepisode, das hier verstärkt durch stereotype Anzeichen japanischer Kultur auffällt.297 Allerdings ist bereits hier anzumerken, dass die baulichen Repräsentationen des neuen Systems sich eher in die bestehende Umgebung einfügen und letztere noch immer das Stadtbild dominiert: So ist bereits in der Einführung von San Francisco die Golden Gate Bridge als Orientierungspunkt im Hintergrund erkennbar und verweist somit auch auf die ehemalige US-amerikanische Identität vor der Besetzung durch die Japaner. Tobias Haupts konstatiert diesbezüglich: Der Blick hinunter in die Straßen-Buchten von San-Francisco zeigt dieselben Häuser, wie sie in den 1960er Jahren zu sehen waren, nur dass diese nun mit japanischen Werbetafeln, Schildern und Fahnen ausstaffiert sind. Die Reste der (US-)amerikanischen Kultur sind in diesen Bildern nur noch am Rand zu finden, das Schild mit dem BBQ muss erst durch genaues Hinsehen gefunden werden.298 Ähnlich verhält es sich auf dem durch die Nationalsozialisten besetzten Territorium. Berlin als Hauptstadt des Greater Nazi Reichs zeigt kaum Spuren der Gesellschaft vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten: Der establishing shot, der zuerst in diesen Handlungsraum einführt, präsentiert am Horizont u.a. die Große Halle,299 der Blick aus

297 The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Anzumerken ist, dass es sich bei japanischer Schrift tatsächlich um drei Schriftsysteme handelt, um Kanji, Hiragana und Katakana. 298 Haupts 2016, S. 158 299 Vgl. The Man in the High Castle, S1E10, »A Way Out«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Hitlers Bürofenster fällt auf Bauten im Stil des Faschismus, geprägt durch weiße Fassaden, Adlerfiguren, Hakenkreuze, klassizistische Säulen und Flaggen sowie auf eine Magnetschwebebahn.300 In den Innenräumen der Repräsentanten des Nationalsozialismus wird die ›neue Zeit‹ der vermeintlichen Eutopie ebenfalls inszeniert. Das Büro von John Smith ist deutlich mit der Ikonographie des Faschismus dekoriert und wiederkehrend verwendete Materialien wie Marmor und Granit suggerieren ebenso wie der Bezug zur römischen und griechischen Antike durch Skulpturen sporttreibender Männer eine zeitliche Kontinuität der nationalsozialistischen Diktatur.301 Das American Reich hingegen, das immer wieder vor allem durch Manhattan repräsentiert wird, ist heterogener. Zu Beginn einer Szene der Episode »Now More Than Ever, We Care About You« wird eine Straße in New York samt umstehender Hochhäuser in der Totale gezeigt.302 Sichtbar sind Hakenkreuze sowie Eigennamen und Toponyme mit deutscher Etymologie: »Grand Berliner Hotel«, »Hotel Augusten«, »Dormer Pharmaceutical«.303 Trotz der Insignien der Besatzer im Raum ist New York als solches aber in dieser und anderen Einstellungen deutlich erkennbar. In derselben Episode blickt Joe aus der Penthouse-Wohnung von John Smith hinunter auf den Times Square. Die Einstellung in der Aufsicht zeigt graue Betonklötze, aus denen heraus zum einen der schräg zu den anderen Straßen verlaufende Broadway, zum anderen eine riesige rote Flagge mit Hakenkreuz auf dem Times Square herausstechen. Mit Blick auf die erste Staffel konstatiert Haupts, dass im intradiegetischen Übergang zur Besatzung durch Japaner und Deutsche »[b]auliche wie architektonische Veränderungen […] nicht stattgefunden« hätten: »[D]as Gebäude der japanischen Handelsmission wie auch das Hauptquartier der SS gehören zu jener Art von Wolkenkratzern und Amtsgebäuden, wie sie bereits vorher das typische Bild der Städte prägten«.304 Die bestehende Stadtplanung und die verschiedenen Baustiele westlich und östlich der Neutralen Zone verweisen auf die Zeit vor der Besatzung durch die Achsenmächte und sind durch die Ikonographien der beiden totalitär-faschistischen Systeme überschrieben, um eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung zu bezeugen. In den Privatwohnungen von Personen, die dem Widerstand angehören oder eher unpolitisch leben, sowohl in den Pacific States als auch im American Reich, befinden sich keine Einschreibungen der Besatzer. Dies betrifft die Wohnung von Juliana und Frank sowie die von Julianas und Franks Eltern, in der lediglich das pseudo-authentische Fern-

300 Vgl. ebd., S2E1, »The Tiger’s Cave«. 301 Vgl. ebd., S3E2, »Imagine Manchuria«. Auch Smiths Büro im Haus seiner Familie ist, wenn auch zurückhaltender, von ähnlichen Insignien gezeichnet. Zu diesen zählen eine weiße Skulptur eines Streitwagens mit zwei Pferden oberhalb einer Vitrine, zwei Stahlhelme auf einem Regal vor dem Fensterbrett sowie eine bronzene Adlerfigur auf dem Schreibtisch des Obergruppenführers; vgl. ebd., S2E2, »The Road Less Travelled«. Zur Bedeutung griechischer und römischer Antike im Nationalsozialismus vgl. Chapoutot, Johann (2014): Der Nationalsozialismus und die Antike. Aus dem Franz. v. Walther Fekl. Darmstadt: Zabern. 302 Vgl. ebd., S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«. 303 Ebd. 304 Haupts 2016, S. 157

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sehprogramm an die Besatzung durch die Nationalsozialisten erinnert.305 Auch die Unterkunft von Bell und Elijah im Ghetto der Afro-Amerikaner ist erwartungsgemäß ohne Hinweise auf die japanische Besatzung.306 Durch die Ignoranz der Besatzung als Ereignis und der politisch-sozialen Bedeutung der Besatzer im Raum erscheinen diese Orte paradoxerweise zwar aus der Zeit gefallen, stemmen sich aber zugleich gegen die artifizielle Inszenierung eines Mythos des ewigen Kaiser- bzw. des ›tausendjährigen‹ Reiches. Pagnoni Berns und Aguilar sprechen mit Blick auf The Man in the High Castle von »counter monuments«, die die Vorstellung einer statischen Vergangenheit destabilisieren und auf Ereignisse aufmerksam machen, die von der politisch geförderten Geschichtsschreibung ausgespart werden.307 Allein durch das Ausschließen der Embleme der jeweiligen despotischen Systeme aus ihren jeweiligen Wohnräumen kreieren Juliana und Frank bzw. Bell und Elijah Mahnmale gegen staatlichen Terror und Uniformitätsstreben. Die Neutrale Zone entzieht sich insgesamt am deutlichsten dem Versuch, die despotischen bzw. totalitären Regime im Raum zu verankern. Bereits die erste Präsentation dieses Gebietes anhand des Ortes Canon City in der Pilotepisode macht dies deutlich. In der Raumexposition dominiert von Beginn an das Motiv des Western-Films.308 Dieser Eindruck ist auf die Patina des Ortseingangsschildes sowie seine Typographie zurückzuführen;309 auf die Aufsicht in der Totalen, die Häusern mit über die Dächer hinausragenden Giebel zeigt, die sich um eine staubige Straßen reihen; auf die Dominanz von Erdtönen; die Platzierung einer verlassenen Miene unweit der Stadt; und schließlich auf Kleidung und Habitus des Marshalls, der mit Zahnstocher, knöchellangem Ledermantel und Cowboy-Hut durch Canon City patrouilliert.310 In der dritten Staffel wird dieses Motiv durch den Grand Palace in Denver wieder aufgegriffen, in dem mehrere kleine runde Tische vor einer Bar unter Rundbögen angeordnet sind, welche sich an der Decke wölben und mit Glühbirnen gespickt sind.311

305 So läuft bei der ersten Darstellung der Wohnung von Julianas Eltern eine Quizz-Sendung im Fernsehen, die über den Inhalt der Fragen und die Kleidung der Teilnehmer auf eine fiktive nationalsozialistische Gesellschaft, dank des Formats der Sendung und ihrer Abläufe aber auf das US-amerikanische Fernsehen der Nachkriegsjahre referiert; vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. 306 Vgl. The Man in the High Castle, S4E1, »Hexagram 64«. 307 Pagnoni Berns/Aguilar 2017, S. 20f. Neben Architektur und Gedenktagen können Pagnoni Berns/ Aguilar 2017 zufolge auch Artefakte als Beispiele der ›counter monuments‹ gelten, z.B. die Chrysantheme, die Tagomi Juliana zum Andenken an ihre durch die Kempeitai ermordete überreicht; vgl. ebd. 308 Vgl. Haupts, 2016, S. 159. 309 Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«: Auf der linken Seite des Ortseingangsschildes steht in Majuskeln »splendid climate/beautiful/mountain/drives & scenery/fine orchards«, in der Mitte »the city beautiful/Canon City/elevation 5343-ft« und auf der rechten Seite »stop off/and/drive to the/top of the/Royal Gorge«. 310 Vgl. ebd., »The New World« sowie S1E3, »The Illustrated Woman«. 311 Vgl. ebd., S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You« sowie S3E4, »Sabra«.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Der Sunrise Diner in Canon City spielt, entgegen der Behauptung Haupts, weniger deutlich auf das Western-Genre,312 sondern eher auf den mittleren Westen der USA als kulturellen Raum an, insbesondere durch die Entschleunigung im Diner sowie die intradiegetische Country Musik. Es ist bezeichnend, dass der Diner als Speicher von US-amerikanischer Geschichte und Kultur auf einer seiner Außenwände Plakate aufweist, die zum Widerstand gegen Japaner und Deutsche aufrufen.313 Deren Botschaft, aber auch direkte Spuren von Verschleiß deuten abermals darauf hin, dass die Neutrale Zone anders als die Pacific States oder das American Reich ein Raum ist, der sich dem tabula rasa der deutschen und japanischen Besatzer sowie ihrer politisch motivierten Inszenierung von Zeit entzieht. Während Haupts die Zone als Region bezeichnet, die »abseits der Zeit steht« und sich durch »ein völliges Verlorengehen von Geschichte im Dazwischen« auszeichnet,314 handelt es sich stattdessen um eine Sphäre, die sich gerade durch die Abbildung von Zeit auszeichnet, eben weil sie »seltsam leer und verwahrlost«315 erscheint im Gegensatz zu den sterilen Bauten der deutschen und japanischen Besatzer, und weil die Plakate an den Häuserwänden, die zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten und Japaner aufrufen,316 als ›counter monuments‹ an die intradiegetische Vergangenheit erinnern. In der dritten Staffel wird die Neuschreibung von Geschichte und die Zerstörung von Artefakten, die für die Vergangenheit und zugleich alternative Entwürfe stehen, direkt thematisiert. In New York wird durch die Nationalsozialisten, darunter Obergruppenführer Smith, Reichsführer Himmler, die Regisseurin Nicole Dörmer sowie der Propagandaminister des American Reich, Billy Turner, die Zerstörung von Bauten geplant, die die US-amerikanische Geschichte und Kultur repräsentieren. In einer Konferenz präsentieren Dörmer und Turner das Projekt des »New Colossus« vor Führer und Obergruppenführer unter Einsatz von Dias der jeweiligen Bauten. Billy Turner: It’s a makeover. A do-over, a facelift, a fresh start. Across the GNR [Greater Nazi Reich], we enter a new transitional phase: Year zero. Nicole Dörmer: It’s a state of re-becoming and it begins with the destruction of iconic landmarks of pre-Reich America. Turner: First on the list – a sentimental favourite. Which is precisely why she must be destroyed, schnell. Located, conveniently, right here in New York Harbour. [Ein Dia-Bild der Statue of Liberty wird gezeigt.] […] Dörmer: […] I want it to be more of a spectacle. Turner: And it’s not just about what goes down, it’s about what goes up, to replace this rock pile. Almost before you know it. [Es wird ein Dia-Bild gezeigt, auf dem anstelle

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Vgl. Haupts 2016, S. 159. Haupts sieht auch den Diner als Anspielung auf den Western, allerdings ist dieser Raum wenig genrespezifisch, tritt doch der Diner sowohl in Roadmovies, Kriminalgeschichten oder einer Reihe von Filmen und Serien auf, die sich im weitesten Sinne um das Leben in der US-amerikanischen Kleinstadt drehen. Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World«. Haupts 2016, S. 158. Ebd. Vgl. The Man in the High Castle, S1E1, »The New World« sowie S1E2, »Sunrise«.

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der Statue of Liberty eine Statur eines jungen Mannes und einer jungen Frau mit Flagge und Hitlergruß auf Liberty Island stehen.] Dörmer: America’s the Jahr Null generation, perfectly built to dismantle the past. […] Turner: This is the New Colossus. [Es wird ein Dia-Bild mit einer Nahaufnahme der Gesichter der Statuen des jungen Mannes und der jungen Frau gezeigt.]317 In dieser Szene werden die Funktion und Wirkung von Architektur zur Erzeugung einer eigenen Geschichte durch die Serie ausgestellt und reflektiert: Der Propagandaminister sowie die Regisseurin erkennen das subversive Potential von Denkmälern bzw. Bauten, die für die Vergangenheit stehen.318 Die Präsentation Turners trägt den Stil eines Marketing-Angebotes und greift das Stereotyp von Verkäufern und ihrer euphorisierenden und euphemistischen Sprache auf – darauf verweisen die Vokabeln »do-over«, »facelift«, »fresh start«, aber auch das juvenile Auftreten des Propagandaministers.319 Die Zerstörung symbolträchtiger Bauten soll ohne Schmerzen verlaufen und keine Lücke hinterlassen: »Almost before you know it« wird die Leerstelle durch ein heteronormatives und Gesundheit ausstrahlendes Paar ersetzt. Die Formulierung »perfecly built« bezieht sich durchaus sowohl auf die Konstruktion der Statur als auch auf die Physis der mit dem Denkmal entworfenen ›neuen‹ Generation. Der Name des Projektes, »New Colossus«, ist eine klare Referenz auf das Bauwerk der Antike und soll den Gesellschaftsentwurf der Nationalsozialisten scheinbar nahtlos mit denen der Griechen und Römer verbinden. Die Zerstörung und anschließende Ersetzung von Bauten ist Teil eines größeren Programmes namens »Jahr Null«. Die Perfektionierung der angeblichen Eutopie des Faschismus – aus Sicht der Nationalsozialisten – soll in der gleichnamigen Episode »Jahr Null« mit der groß inszenierten Zerstörung der Statue of Liberty begonnen werden.320 Ein ›counter monument‹ zu dieser Aktion wird wenige Momente nach der Sprengung dadurch manifestiert, dass Ed, Frank und Robert von der Aussichtsplattform des Coit Towers in San Francisco ein Plakat mit dem Zeichen des Widerstandes um Frank entrollen.321 Somit schreibt sich auch der Widerstand in den Raum der Serie ein und positioniert sich gegen eine einseitige Auslegung von Geschichte zur Beeinflussung von Gegenwart und Zukunft.

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Ebd., S3E5, »The New Colossus«. Vgl. Pagnoni Berns/Aguilar 2017, S. 16f. Hier wird einmal mehr deutlich, dass The Man in the High Castle in seiner alternate history nicht nur die mögliche Dominanz des Nationalsozialismus ausstellt, sondern zugleich mögliche Szenarien US-amerikanischer Kultur und Gesellschaft unter der Besatzung anbietet und somit die Frage aufwirft, ob bestimmte historiographisch und medial überlieferte Gegebenheiten vielleicht nur unwesentlich modifiziert auch in einer Diktatur fortbestanden hätten, und welche Konsequenzen sich daraus für die gegenwärtige US-amerikanische Identität ergeben würden. Abgesehen davon kann dieser Szene aber auch unterstellt werden, dass sie in Konkurrenz zur seriellen Erzählung der Marketing-Helden der Madison Avenue der 1960er Jahre in Mad Men steht oder sich zumindest auf diese Serie bezieht. 320 The Man in the High Castle, S3E10, »Jahr Null«. 321 Vgl. ebd.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

2.3.3 Archivarische Räume Die Kontrastierung der dystopischen Zentren und ihrer inszenierten Zeiten mit Gegenorten, denen Spuren alternativer Gesellschaften oder der intradiegetischen Vergangenheit eingeschrieben sind, legt die Funktion dieser Räume als Archive offen. Wohnorte, ganze Stadtviertel oder Landstriche fungieren in seriellen Dystopien als Speicher historischen Wissens. Häufig dienen diese Räume primär als Rückzugsorte der Systemfeinde oder sind aus Sicht der politischen Führung ohne Wert und deshalb marginalisiert. Zu nennen sind hier die Neutrale Zone in The Man in the High Castle, in der sich u.a. in Form von Plakaten Spuren des Krieges und des Widerstandes gegen die Besatzer finden. Aber auch die Anwesenheit von Widerständlern, Freigeistern, politisch Desinteressierten und Verfolgten macht die Neutrale Zone zu einem Ort, der sich gegen das Zeitkonzept, gegen den Versuch einer verordneten Utopie und die Geschichtsklitterung stemmt, die östlich und westlich des Grand Canyon betrieben wird. In den seriellen Dystopien kommen aber auch konkrete archivarische Räume wiederkehrend vor. Räume der Wissensdisposition zeichnen sich laut Burkhardt Wolf im Gegensatz zu Räumen der Wissensproduktion durch »›Aufschreibesysteme‹ […], Techniken und Agenturen« aus, »die die elementare Funktion des Aufzeichnens und Darstellens, des Speicherns, Verarbeitens und Überlieferns von Wissen übernehmen«.322 Zu den »wichtigsten Techniken der schriftlichen Wissensdisposition« zählt Wolf Archive, Bibliotheken, Registraturen sowie Computer.323 In seriellen Dystopien befinden sich Räume der Speicherung von Wissen entweder in der Hand der Herrschenden, die dort Wissen zur Sicherung ihrer Macht ansammeln und ggf. vor ihren Bürgern verbergen oder, wenn sie die Form von Bildungseinrichtungen einnehmen, zur Indoktrination der Bevölkerung genutzt werden. Aber auch die Systemgegner verfügen über Archive, die über alternative Gesellschaftsformen Auskunft geben oder subversive Informationen speichern. Ein solcher archivarischer Raum in Trepalium ist die Schule der Zone. Hier werden neben Büchern auch Zeitungen aufbewahrt, die vom Lehrer Robinson und dem Schüler Noah geordnet und sortiert werden.324 Die Schule ist zudem ein Raum, in dem vermeintliche Tatsachen des wirtschaftlichen Systems der Stadt in Frage gestellt werden. So regt Robinson die Schüler dazu an, den Begriff der Arbeit anhand des Lexems ›trepalium‹ kritisch zu betrachten und verweist auf den gesellschaftlichen Prozess, der zur gegenwärtigen Massenarbeitslosigkeit und der Dominanz von Konzernen wie Aquaville geführt habe.325 Dadurch aktiviert er das in der Schule eingelagerte historische Wissen. Die Funktion der Schule als Speicher kultureller Bildung, aber auch von Techniken der Wissensdokumentation werden insbesondere im cold open der finalen Episode hervorgehoben: Hier werden in aufeinanderfolgenden Einstellungen eine Schiefertafel, Zeichnungen und schließlich eine Tafel und Bücherregalen ohne Figurenhandeln und verbale

322 Wolf, Burkhardt (2015): Räume des Wissens. In: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.), Handbuch Literatur & Raum. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 115–125, hier S. 118. 323 Ebd., S. 120. 324 Vgl. Trepalium, S1E2. 325 Vgl. ebd., S1E1.

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Äußerungen gezeigt.326 Diese Artefakte stehen symbolisch für die Produktion, Speicherung und Archivierung von Wissen. In The Man in the High Castle existieren eine ganze Reihe von Räumen der Wissensdisposition. Hierzu zählen das Antiquariat Robert Childons, das sich auf die Sammlung und den Verkauf von »authentic Americana« versteht und dessen Vitrinen und Regale angefüllt sind mit Schmuckstücken, Lampen, Waffen, ausgestopften Tieren und Photographien verstorbener amerikanischer Berühmtheiten.327 Obgleich der Zweck des Antiquariats kommerziell ist und seine Kunden vor allem der japanischen Mittel- und Oberschicht angehören, die die historischen Artefakte als Kuriositäten betrachten und durch ihren Erwerb kulturelle Aneignung betreiben, bleibt es einer der wenigen Orte, an dem die ansonsten marginalisierte US-amerikanische Geschichte zum Ausdruck kommt.328 Ein weiterer archivarischer Raum der Serie ist die Scheune, in der Hawthorne Abendsen alias der Mann im hohen Schloss seine Filme über historische Ereignisse unterschiedlicher Parallelwelten aufbewahrt.329 In der Begehung der Scheune durch Juliana werden die Regale mit den beschrifteten Filmrollen in Naheinstellungen gezeigt. In einer Totale-Einstellung innerhalb der Episode »The Tiger’s Cave«, in der die Scheune vorgestellt wird, werden Juliana und Abendsen vor dem Schneidetisch gezeigt, der symmetrisch in der Bildmitte angeordnet ist und auf den gleißendes Sonnenlicht aus Fenstern fällt, die knapp unter der Decke angebracht sein müssen. Der Schneidetisch weist das Archiv auch als Ort der Wissensproduktion aus, vor allem im Kontext der Serienhandlung, in der bestimmte Filme weitergegeben, andere zerstört werden, und jederzeit deutlich ist, dass die Rezeption der alternativen Bilder die gegenwärtigen politischen Verhältnisse bedrohen. Die visuelle Inszenierung der Scheune, in der Abendsen und Juliana um einen von oben erleuchteten Schneidetisch in einem weiten, überwiegend dunklem Raum stehen, erinnert an Bilder von Altären unter Kirchenfenstern. Die auditive Einführung dieses Ortes durch treibende, orchestrale Musik, die von Streichern und Blasinstrumenten dominiert ist, hebt die Monumentalität des Raums sowie die individuelle Bedeutung der Szene hervor.330 Die Darstellung der Scheune verstärkt die fast transzendentale Position der Filme, auf die aus Sicht der Widerständler enorme Hoffnungen projiziert werden, aber auch von Abendsen, der unter dem Pseudonym 326 Vgl. ebd., S1E6. 327 Vgl. The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«. 328 Wobei Childon mit seiner Auswahl selber an der Inszenierung US-amerikanischer Geschichte als Form der Unterhaltung mitwirkt und ebenso kulturelle Aneignung betreibt, wie seine Kunden. Dies wird u.a. an Artefakten von Oberhäuptern der Ureinwohner Nordamerikas deutlich. Die herablassende und chauvinistische Haltung der japanischen Kunden spiegelt sich wiederum in Childons eigenen rassistischen Tendenzen wider, die z.B. in seiner Bewertung von Jazz-Musik zum Ausdruck kommen; vgl. The Man in the High Castle, S1E7, »Truth«. 329 Vgl. ebd., S2E1, »The Tiger’s Cave«. Der zweite Speicher der Filme und schließlich auch der dauerhaftere ist aber das Gedächtnis von Abendsen, wie er in dieser Episode mehrmals betont. Die Redundanz des materiellen Speichers wird schließlich deutlich, wenn Abendsen die Scheune mit der Mehrzahl der Filme abrennen lässt; vgl. ebd., S2E5, »Duck and Cover«. 330 Diese Szene wird in einer Parallelmontage mit der Rezeption von einem der ›alternativen‹ Filme durch Hitler gleichgesetzt, der die potentielle Gefahr für die nationalsozialistische Diktatur, die von den news reels ausgeht, zu begreifen scheint.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

des ›Mannes im hohen Schloss‹ in seinen Handlungen durch den Widerstand fast unhinterfragt ist und sich dessen Respektes sowie Schutzes sicher sein kann. Insgesamt ist das Motiv des Archivs in The Man in the High Castle besonders exponiert. Die Artefakte, die in den opening credits zu sehen sind, scheinen im Jefferson Monument versammelt zu sein, glaubt man den Entwürfen von Patrick Clair, dem Produzenten der credits.331 Das Antiquariat von Childon und das Filmarchiv von Abendsen sind Räume der Geschichtsdokumentation, vor allem aber Handlungsorte, an denen Aktivitäten gegen die Regierungen der Pacific States bzw. des Nazi Reich geplant werden. Zudem verweist die Quantität an Räumen der Wissensdisposition auf deren Bedeutung: Neben den genannten Archiven wird die Universitätsbibliothek der Pacific States332 ebenso zum Handlungsort wie die jeweiligen Büchereien in Canon City333 und im San Francisco der ›historischen‹ USA während eines Besuchs von Tagomi in der Parallelwelt.334 Auch Hitler ist im Besitz einer umfangreichen Sammlung über die Filme von Abendsen.335 Die Dominanz der Räume der Wissensdisposition in einer Serie, die einen alternativen historischen Verlauf in Form einer fiktionalen Erzählung präsentiert und die sich zugleich selber aus extratextuellen Archiven zum Zweiten Weltkrieg sowie zum Kalten Krieg bedient und historische Dokumente für das eigene world-building beliebig kombiniert,336 kann einerseits als selbstreferentielle Geste verstanden werden. Andererseits wird durch die Quantität und Qualität archivarischer Räume die Bedeutsamkeit von Historiographie, Wissenspeicherung und -umdeutung für gesellschaftlich-politische Prozesse aus Sicht der Serie bezeugt. Während Räume der Wissensdisposition in Trepalium und The Man in the High Castle zugleich auch semantisch gegen das jeweilige totalitäre System gestellt sein können, sind diese Orte in Wayward Pines mehrheitlich unter der Kontrolle der Kleinstadtleitung. Hierzu gehört die Wayward Pines Academy, einer der wenigen Orte in der Stadt, der Bücher beherbergt, die noch dazu unwiederbringlich sind. Hier wird Wissen nicht nur gespeichert, sondern auch für die politische Instrumentalisierung genutzt: So animiert die Lehrerin Meghan die Jugendlichen zur Reproduktion337 und klärt alle Schüler ab der first generation über den tatsächlichen räumlichen und zeitlichen Kontext von Wayward Pines auf, nährt ihren Glauben an die eigene soziale Verantwortung für die Ge-

Dies geht aus Bildern hervor, die den Produktionsprozess der opening credits dokumentieren und die als Teil eines Interviews des für die credits verantwortlichen Produzenten Patrick Clair auf der Website Art of the Title veröffentlicht wurden; vgl. Dawe 2016. 332 Die Bibliothek wird von Tagomi besucht. Er erhält Zutritt zu einem Raum mit zensierten Büchern, darunter Huxleys Anti-Utopie Brave New World und Brave New World Revisited sowie Texte von William Butler Yeats, Sigmund Freud, William Blake, William James und Jorge Luis Borges; vgl. The Man in the high Castle, S2E2, »The Road Less Travelled«. 333 Vgl. ebd., S1E2, »Sunrise«. 334 Vgl. ebd., S2E5, »Duck and Cover«. 335 Vgl. ebd., S1E10, »A Way Out«. 336 Vgl. Production Designer Boughton in Long, Kellee (28.08.2017): The Man in the High Castle’s EmmyNominated Production Designer on Building a Nightmare America. In: Motion Picture Association. https://www.motionpictures.org/2017/08/man-high-castles-emmy-nominated-production -designer-building-nightmare-america/, aufgerufen am 31.08.2020. 337 Vgl. Wayward Pines, S1E7, »Betrayal« sowie S2E4, »Exit Strategy«.

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meinschaft und versucht, sie von ihren Eltern zu entfremden.338 Das Maklerbüro, in dem Theresa arbeitet sowie das Büro des Sheriffs verfügen über Akten, die Aufschluss über Alter, Familienstand, Beruf und Wohnort der einzelnen Bewohner geben.339 Dadurch nehmen sie eine Schlüsselposition in der Dekonstruktion der Vergangenheit der Bürger und der Etablierung ihrer ewigen Gegenwart ein. Eine besondere Dichte historischer Informationen befindet sich jedoch unter direkter Kontrolle des heimlichen Machthabers David Pilcher im Bergmassiv. Die Arten von Speichern dieses Raums sind sehr divers und umfassen mehr als Daten in Form von Graphemen, Bildern oder Ziffern: Hier befinden sich zum einen die zukünftigen Bewohner der Stadt selbst im konservierten Zustand sowie Grundnahrungsmittel. Ferner kann davon ausgegangen werden, dass auch die unzähligen Computer im Bergmassiv Daten zur persönlichen Vergangenheit der jeweiligen Bewohner aufweisen. Weiterhin ist das Büro des Stadtoberhaupts – in der ersten Staffel David Pilcher, in der zweiten Staffel Jason Higgins – eine Schatzkammer kulturellen und historischen Wissens und wird als solche audiovisuell vorgestellt. In der Episode »Choices« führt Pilcher Ethan in sein Arbeitszimmer, das in der Regel von den Augen durchschnittlicher Bürger abgeschirmt ist.340 Sobald die Tür zum Büro geöffnet wird, erklingt akusmatisch Georg Friedrich Händels Sarabande.341 Der Raum wird durch eine knappe Kamerafahrt und -schwenks und ohne das Zeigen von Figuren vorgestellt. Zu sehen sind mehrere Gemälde u.a. Gustav Klimts Judith und Holofernes (1901) und Caravaggios Bacchus (1595)342 sowie Möbel im Stil des Barock. Die Wände sind mit Holz verkleidet, dessen Oberfläche abblättert, darüber hinaus enthält das Arbeitszimmer Kronleuchter, lila Vorhänge, frische Blumen, einen Parkettfußboden, ein Bücherregal, das eine gesamte Wand ausfüllt sowie ein Miniaturmodell von Wayward Pines, das auf einem Tisch stehend einen großen Teil des gesamten Büros einnimmt. Auf dem Schreibtisch befinden sich eine eingerollte Karte, eine Sanduhr und ein Computer. Die Artefakte im Raum verweisen symbolisch und metonymisch auf die Kultur, die Forschungstradition sowie die Geschichte der westlichen Welt.343 Die im Vergleich mit den Häusern der Bewohner hochwertigere Ausstattung referiert auf den Status von Pilcher, aber auch auf die Wertigkeit, die dieser den im Büro aufbewahrten Gegenständigen beimisst. Dass dieser archivarische Raum eben nicht in der Hand der Widerständler ist und zugleich der Bevölkerung von Wayward Pines vorenthalten wird, verweist zum einen auf die Hypokrisie und Widersprüchlichkeit des totalitären Systems. Deren moralische und materielle Dekadenz, aber auch der prekäre Status der letzten Menschen werden 338 339 340 341 342

Vgl. ebd., S1E5, »The Truth«. Vgl. ebd. Vgl. hier und im Folgenden ebd. S1E6, »Choices«. Händel, Georg Friedrich: Suite 4 in D-Moll, HWV 437. Rechts des Klimt-Gemäldes befindet sich außerdem ein Bild von einem an den Klauen aufgehängtem weißem Vogel, dessen Ästhetik an die Malerei aus den Niederlanden im 17. Jahrhundert erinnert. 343 In diesem Sinne ist es bedenklich, wenn Pilcher davon spricht, die Schätze der Welt ausgewählt zu haben, weite Teile dieser Welt aber in seiner ›Schatzkammer‹ eben keine Repräsentanten finden. Vgl. zur Konzentration auf weiße Charaktere und deren positiver Besetzung in Wayward Pines Lavigne 2018, S. 152–156.

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durch die Todes- und Vergänglichkeitsmetaphorik angedeutet, die neben dem BacchusGemälde, Klimts Bild des Fin de Siècle, den Jagdtrophäen und dem flämischen VanitasGemälde auch durch Händels Sarabande hervorgerufen wird. Die Kombination aus den genannten visuellen und auditiven Elementen setzt Historizität in dieser Raumeinführung mit Vergänglichkeit gleich, wodurch das Zentrum der politischen Steuerung der Kleinstadt dem eutopischen Projekt von der Gemeinschaft der letzten Menschen entgegensteht. Zum anderen wird das subversive Potential von Artefakten mit historischer Bedeutung deutlich. Aus der Sicht von Pilcher müssen Kunstwerke, Bücher und Instrumente wissenschaftlicher Messung der breiten Masse vorenthalten werden, um den Eindruck aufrechtzuerhalten, die gegenwärtige Welt sei die bestmögliche und mache Bestrebungen um einen Systemwandel überflüssig.

Alpha 0.7 Auch in Alpha 0.7 werden Räume der Wissensdisposition vor allem von Systemvertreten und ihren Gegnern betrieben. Entsprechend kontrastiv fällt die filmische Darstellung der Archive aus. Das Büro von Harald Rösler im National Pre-Crime Center wird als begehbarer digitaler Speicher inszeniert, da on-screen neben den Figuren vorrangig Computerbildschirme zu sehen sind.344 Aufgrund der dunklen Wände, vor denen indirektes Licht die Existenz bläulich schimmernder Monitore hervorhebt, erscheint das Büro als Ort kühler kognitiver Prozesse, in denen persönliche Daten sowie Standorte und Bewegungen von Menschen einsehbar werden. Das Büro von Peter Spreemann im gleichen Gebäude erscheint ebenso antiseptisch, wobei die hinter dem Schreibtisch angeordneten Aktenordner durch ihre metallische Oberfläche die dauerhafte Verfügbarkeit von Daten sowie ihre Funktion als Machtinstrument andeuten.345 Das mühelose Aufrufen privater personenbezogener Daten mittels der jeweiligen Computer, die gleich mit mehreren Bildschirmen daherkommen und somit einen panoptischen Machtgestus aufrufen, suggeriert, dass Rösler und Spreemann auf ein enzyklopädisches Wissen zugreifen können. Die Inszenierung glatter Oberflächen und reduzierten, kalten Lichts unterstreichen zwar die Virtualität und mangelnde Haptik der gespeicherten Daten, zugleich sind diese aber an einen statischen und begehbaren Ort gebunden – nicht umsonst werden die Büros des Pre-Crime Centers mehrfach in Verbindung mit der Suche nach persönlichen Informationen von Gegnern präsentiert.346 Die Dunkelheit des Büros Röslers, vor allem aber das Verhalten von Rösler und seinem Kollegen Gonzoldt, dass sich durch die gedrungene Körperhaltung, den starren Blick und leises Sprechen beider Figuren angesichts des Monitors auszeichnet,347 verstärken den Eindruck, dass die Akteure außerhalb gesetzlicher Regeln handeln. Im Gegensatz dazu steht das Hauptquartier von apollon: Hier existieren keine einzelnen Büros oder isolierte Arbeitszellen, sondern eine Ansammlung von Tischen mit Stand-Computern, die lose aufeinander im Halbkreis ausgerichtet sind, beleuchtet von Sonnenlicht, dass sich durch undichte Holzwände des Bungalows und durch abgeklebte

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Vgl. u.a. Alpha 0.7, S1E1, »Prenzinger«. Vgl. ebd., S1E2, »Schizophren«, S1E5, »Reset«. Vgl. neben den genannten Episoden auch Alpha 0.7, S1E3, »Paranoia« und S1E4, »Auf der Flucht«. Vgl. ebd., S1E3, »Paranoia«, S1E4, »Auf der Flucht« sowie S1E6, »Der freie Wille«.

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IV. Analyse der Serienräume

Fensterscheiben Weg bricht. Während im Pre-Crime Center Informationen einzig über Tastatur und das Interface des Monitors abgerufen werden, erzeugt die Nutzung von Papier, das Markieren von Folien und die Justierung von Bildeinstellungen über einen Overhead-Projektor den Eindruck eines haptisch wahrnehmbaren und unmittelbareren Zugangs zu Daten. Der größere Bewegungsradius der Figuren und die Nähe der Arbeitsplätze zueinander machen das Büro zu einem Ort der Kollaboration und Kooperation, an dem jede und jeder die individuellen Fähigkeiten zum größtmöglichen Erfolg aller einbringt.348

3% In 3 % existiert als Archivraum einzig ein unterirdisches Zimmer im Hauptgebäude auf Maralto: Hier werden in der DNA einer Meeresschnecke sämtliche persönlichen Informationen und Daten zur Ortung der Bewohner auf Festland und Insel gespeichert. Sie dienen somit dem System des Processo in der Kontrolle und Dominanz der Bevölkerung, werden aber in der Episode »Capítulo 10: Sangue« in der zweiten Staffel von Michele entwendet, um die Regierung zu erpressen.349 Der Raum weist aufgrund seiner kargen Ausstattung, steriler Oberflächen und des indirekten Lichts Ähnlichkeiten mit den Büros des Pre-Crime Centers in Alpha 0.7 auf und wird als biotechnische Innovation inszeniert, die vom Beginn des Insel-Projektes an die Daten der Bewohner speichert, und sie in der Anfangsphase aufgrund von Profil-Analysen sogar einzelnen Arbeitsteams zuteilt.350 Anders als in den Archivräumen der anderen Serien findet hier aber kaum Handlung statt. Dieser Datenspeicher bedarf anscheinend nicht menschlicher Aktionen, sondern funktioniert reibungslos und erhebt somit die Verbindung aus digitaler Innovation und Biologie über das fleißige Sammeln und Ordnen durch Menschen. Das letztere in der klinischen Welt der Insel eher als Störfaktoren interpretiert werden, zeigt sich vor allem darin, dass die Funktion des Speichers – eine Muschel, in deren DNA externe Daten abgelegt sind – zum Erliegen gebracht wird, als Fernando sein Blut in den Behälter mit der Muschel tropfen lässt.351 Diese archivarischen Räume sind im hohen Maße gefährlich für das jeweilige System, da sie von einer anderen Welt und der Existenz alternativer Gesellschaftsentwürfe zeugen. Mit Foucault können Sie als Heterochronien bezeichnet werden und gehören zur Kategorie der Orte, »in denen Zeit unablässig angesammelt und aufgestapelt wird«, wie Museen und Bibliotheken.352 Sie verhalten sich zugleich in Relation zu ihrer Umwelt abweichend und heterotopisch, weil in ihnen mehrere Orte zugleich vereinigt werden

348 Darüber hinaus sind als metaphorische Orte des Wissens die Gehirne der Versuchsobjekte des Alpha-Projektes zu betrachten. Sie sollen hier nicht weiter thematisiert werden, weil die Probanden nicht dauerhaft mit einem konkreten Ort verbunden sind vor allem in der Episode »Der freie Wille« wird durch die auf dem Chip in Johannas Gehirn gespeicherten Bilder und ihren Einfluss auf Johanna in Vorbereitung des Attentats im Schloss Hohenheim deutlich, dass es sich bei den Gehirn-Chips ebenso um digitale Archive handelt wie beim Computer in Röslers Büro. 349 Vgl. 3 %, S2E10, »Capítulo 10: Sangue«. 350 Vgl. 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar«. 351 Vgl. ebd., S2E10, »Capítulo 10: Sangue«. 352 Foucault 2006 [1984], S. 325. Vgl. hierzu auch II.2.4.1 in dieser Arbeit.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

und sie imaginative Gegenorte zu den etablierten Gesellschaftssystemen darstellen. Zugleich ›stapelt‹ sich an diesen Orten Zeit und schreibt sich wiederholt ein, ähnlich dem Chronotopos des Schlosses in der englischsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts.353 Aufgrund ihres subversiven Inhalts sind die archivarischen Räume serieller Dystopien des Post-TV in besonderer Weise isoliert. Sie sind dem Zugriff durchschnittlicher Bürger entzogen (Büro von Dr. Pilcher in Wayward Pines), gelten als geheim (Filmarchiv des Mannes im hohen Schloss) oder werden aufgrund ihrer Umgebung und ihres niedrigen sozialen Prestiges kaum beachtet (Schule in Trepalium, Versteck von apollon in Alpha 0.7). Häufig vereinen sie Vertreter des jeweiligen Widerstandes und werden zum Schauplatz konspirativer Treffen. Neben dem Filmarchiv des Mannes im hohen Schloss und Childons Antiquariat in The Man in The High Castle ist diesbezüglich die Schule in der Zone von Trepalium zu nennen, deren einziger Lehrer, Robinson, inkognito die Rebellen anführt, die schließlich zum Sturz des neokapitalistischen Systems führen.

2.3.4 Destabilisierung physischer Räume Während die zuvor geschilderten Einschreibungen der Zeit im Raum vorwiegend aus Ereignissen der intradiegetischen Vergangenheit der Serien herrühren, sind die Zerstörungen physischer Räume Ereignisse der seriellen Basiserzählungen. Sie sind unumkehrbar, konkretisieren tiefgehende gesellschaftliche Probleme und tragen zur Unterscheidbarkeit der ausgewählten kritischen Dystopien von traditionellen bei, in denen sich die Gesellschaften in der Basiserzählung kaum ändern.354 Die Einschreibung ›tatsächlicher‹ gesellschaftlicher Veränderungen – also nicht der politisch gelenkten – ist mitunter auf den Misserfolg der Regime zurückzuführen: Beispiele hierfür sind die Angriffe der Rebellen auf die Stadt inklusive der Zerstörung der Mauer in Trepalium sowie der Versuch der Widerständler um Kate, mittels einer Bombe den Zaun um Wayward Pines zu zerstören.355 In der gleichnamigen Serie können auch die Angriffe der Abbies und ihre Zerstörungen als Konsequenz gesellschaftlichen Unfriedens gewertet werden, weil sie durch das Misstrauen der Herrschenden in die Bürger und durch ihre Versuche, sie zu disziplinieren, hervorgerufen werden.356 Der Ansturm entrüsteter Wettbewerber in der zweiten Staffel von 3 % sowie der Plan der Rebellen in der dritten Staffel,

353 Vgl. hierzu II.2.3.1 in dieser Arbeit. 354 Vgl. Layh 2014, S. 195. Diese Einschränkung ist insofern wichtig, als dass bereits in Nineteen EightyFour mit den Erläuterungen zu Newspeak im Anschluss an die Erzählung um Winston ein Paratext vorliegt, in dem aus der diegetischen Zukunft auf die Gesellschaft zurückgeblickt wird, die in der Basiserzählung geschildert wird. Die Ausführungen, in denen Newspeak als ›historisch‹ betrachtet wird, impliziert, dass die Diktatur Big Brothers gescheitert ist; vgl. Orwell 1990 [1949], S. 312–326. Ähnlich verhält es sich mit dem ›Anhang‹ am Ende von The Handmaid’s Tale; vgl. hierzu Layh 2014, S. 195. 355 Vgl. Wayward Pines, S1E7, »Betrayal«. 356 Die Zerstörung von Wayward Pines im Finale der ersten Staffel ist auf das Mistrauen Pilchers gegenüber der eigenen Bevölkerung und dessen Deaktivierung des Zaunes zurückzuführen, die Destruktion am Ende der zweiten Staffel wiederum auf den Anspruch der politischen Führung, die Bürger durchgehend zu überwachen, wodurch der Angriff der Abbies zu lange übersehen wird.

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IV. Analyse der Serienräume

den diesjährigen Auswahlprozess durch ein Bombenattentat zu verhindern, bahnt die radioaktive Kontamination und somit Zerstörung Maraltos als Zentrum der vermeintlichen Eutopie an. Das Attentat auf Smith durch den Widerstand löst eine spektakuläre Zerstörungsszene aus, in der eine Explosion unter der Brücke des fahrenden Zuges des Obergruppenführers für dessen Entgleisung und Beschädigung sorgt.357 Einige Einstellungen später ist zu sehen, dass die Gebäude oberhalb der Lackawanna Kohlemine, in der die Nationalsozialisten einen Übergang zu parallelen Welten suchen, ebenfalls stark beschädigt wurden. Während diese Deformationen des Raums symptomatisch für die gescheiterten despotischen Systeme von American Reich und Pacific States sind, ist die Auflösung der Barrieren zwischen parallelen Welten in der finalen Szene zwar keine lustvolle Zerstörung, dennoch aber eine räumliche Markierung des Endes der Dystopie und des Fortlaufens von Zeit. Die spatialen Destabilisierungen deuten sich jeweils früh in den seriellen Dystopien durch die strikten Grenzziehungen, die statischen Inszenierungsmuster der dystopischen Zentren, die monumentalen Architekturen sowie die Platzierung der Treffpunkte der Rebellen in den wortwörtlichen Untergründen an. Sie fordern handlungslogisch die gesellschaftliche Eruption hervor bzw. symbolisieren bereits früh die Erosion des gesamten sozial-politischen Systems. Insofern sind die Destruktionen physischer Räume auch als Eskalation einer intraseriellen Steigerungslogik zu verstehen.358

2.3.5 Fazit und Diskussion Zeit wird in einigen seriellen Dystopien des Post-TV durch das bewusste Einschreiben einer Ideologie in die Bauten der jeweiligen Zentren verräumlicht. Damit geht der Versuch der Regime einher, eine eigene Zeit künstlich zu erstellen, sich der Einschreibung ›tatsächlicher‹ Zeit in den Raum zu entziehen und sie zu steuern. Insofern ist Zeit in den politischen Zentren serieller Dystopien eine Inszenierung, künstlich in den Raum gemeißelt, um das vermeintlich utopische Projekt alternativlos erscheinen zu lassen. Dieser Befund deckt sich überwiegend mit Beobachtungen anhand anderer aktueller serieller Dystopien des Post-TV. Das Regime Gileads in The Handmaid’s Tale ist Raluca Moldovan zufolge von den puritanischen Kolonien des 17. Jahrhunderts in Neu England inspiriert und gestalte den urbanen Raum bzw. das frühere Boston, in dem die Handlung des Romans und der gleichnamigen Serie The Handmaid’s Tale überwiegend spielt, nach seiner Ideologie um.359 In der Serie wird weniger offensiv durch andere, innovativere Architekturen die ›neue‹ Zeit Gileads inszeniert, auch wenn Embleme des christlichfundamentalistischen Staates auf Bauten und Kleidung einen Besitzanspruch auf das besetzte Territorium markieren.360 Vielmehr werden Bauten, die dem Regime missfal357 Vgl. The Man in the High Castle, S4E10, »Fire from the Gods«. 358 Vgl. hierzu IV.3.4 in dieser Arbeit. 359 Vgl. Moldovan 2020, S. 103. Auch Atwood selbst erklärt die puritanische Bewegung des 17. Jahrhunderts in New England zum Referenzpunkt des world-building des gleichnamigen Romans; vgl. Atwood 2012. 360 Hierzu zählen die Handmaids selbst, die durch ihre Kleidung und die ihnen aufgezwungenen Verhaltensweisen mobile und lebendige Mahnmale staatlichen Terrors im öffentlichen und privaten Raum darstellen. Ferner sind Embleme einzelner Gruppen und Institutionen zu nennen, wie das

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

len, zerstört, wie die St. Paul’s Cathedral, deren Einsturz June und Emily beiwohnen oder die in New York gesprengte St. Patrick’s Cathedral, von der Emily berichtet.361 Bestimmte Baustile scheinen eher die Ideologie Gileads zu repräsentieren, als andere: So wohnen die Commander-Familien in Villen, deren Architektur überwiegend dem 19. Jahrhundert und so unterschiedlichen Stilen wie Viktorianischer Stil, Federal Style und Greek-Revival zugeordnet werden können.362 Die Innenräume der Commander-Häuser, in denen ein Großteil der Handlung stattfindet, bilden die genannten Baustile nicht identisch ab, muten aber insgesamt eher antiquiert an, was auf Decken mit Fresken und Reliefs, gepolsterte Sitzmöbel im Stil des Biedermeier, florale Muster in den Wohn- und Esszimmern363 und schwere Möbel aus dunklem Holz in den Büros der Commander364 zurückzuführen ist. Selbst wenn die Architektur des 19. Jahrhunderts als Bezugspunkt der Raumgestaltung durch die Rezipienten nicht explizit erkannt wird, signalisiert das Design dennoch die Rückwärtsgewandtheit der Gesellschaft und konstruiert eine eigene Zeit im Raum,365 die als solche besonders im Kontrast zu den Orten Kanadas und analeptischen Darstellungen der früheren USA erkennbar wird. Durch die Vereinnahmung der Architekturen vergangener Zeiten sowie der Referenzen auf die Puritaner-Bewegung im 17. Jahrhundert, die nicht zuletzt in den Kostümen der Handmaids inklusive ihrer Hauben deutlich werden,366 versucht Gilead, an eine vermeintlich bessere Zeit anzuschließen. Counter monuments, die auf das Amerika vor der Machtübernahme der Sons of Jacob verweisen, bestehen nicht: Clubs und Bars fehlen ebenso wie freie Schulen für Jungen und Mädchen, Gotteshäuser anderer Religionen werden zerstört und Verlagshäuser stillgelegt.367 Auch die Reglementierung von Verhal-

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des Red Centers (vgl. The Handmaid’s Tale, S2E6, »First Blood«), vor allem aber die Flagge des Staates, die besonders deutlich und häufig während Junes Aufenthalt in Washington zu sehen ist; vgl. ebd. S3E6, »Household«. Vgl. ebd., S1E2, »Birthday«. Obwohl ein Großteil der Serie in Kanada gedreht wird, zeigen Aussagen der Production Designerin Julie Berghoff, dass Referenzen auf die Architektur New Englands und deren Historie durchaus intendiert sind; vgl. Sisson, Patrick (25.04.2017): ›Handmaid’s Tale‹ production designer on bringing dystopia to life. In: Curbed. https://archive.curbed.com/2017/4/25/15422426/set-design-hand maids-tale, aufgerufen am 18.10.2020. Moldovan 2020 scheint mit der Umgebung aus »imposing late Victorian houses and manicured lawns, guarded by menacing guards with machine guns« die Wohnorte der Commander-Familien zu beschreiben; eb.d, S. 115. Referenzen auf Baustile, die charakteristisch sind für die Architektur und Architekturgeschichte New Englands, werden auch von Fans im Internet festgestellt; vgl. u.a. Jacobs, Nicole (20.04.2018): Peek Inside the 19th-Century Mansion From The Handmaid’s Tale‹. In: houzz.com. https://www.houzz.com/magazine/peek-insi de-the-19th-century-mansion-from-the-handmaids-tale-stsetivw-vs∼105163099, aufgerufen am 1.09.2020 sowie o.A. (12.01.2018): Toronto Movie Locations: The Handmaid’s Tale. In: Julie Kennear. https://juliekinnear.com/movies/movie-locations-toronto/handmaids-tale, aufgerufen am 1.09.2020. Vgl. Haus der Waterfords und Haus der Puttnams in The Handmaid’s Tale, S1E3, »Late«. Vgl. ebd., S1E2, »Birthday«. Vgl. Atwood 2012. Vgl. Berghoff zit. in Stamp 2017. Der ehemalige und mittlerweile verwahrloste Sitz des Boston Globe dient June als Versteck während ihres ersten missglückten Fluchtversuchs; vgl. The Handmaid’s Tale, S2E2, »Unwomen« und S2E3, »Baggage«.

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IV. Analyse der Serienräume

tensweisen beeinflusst den Eindruck vom öffentlichen Raum: Die gemessenen Schritte von Handmaids, Ehefrauen der Commander und Marthas erwecken den Eindruck eines Überflusses an Zeit und von Gleichförmigkeit, die Abwesenheit gegenwärtiger technischer Geräte wie Smartphones und von Werbung lässt Gilead im Vergleich zu Kanada rückwärtsgewandt erscheinen. Die Statik der Gesellschaft wird durch eine generelle Reizarmut betont, da kaum Autos auf den Straßen fahren und Verkehrsgeräusche fehlen, stattdessen aber die gleichbleibende Farbpalette der domestizierten Natur die Wohngegenden der Commander kennzeichnet. Überhaupt ist Inszenierung von Zeit und vom eigenen Mythos der vermeintlichen Eutopie fundamental für das Bestehen des Staates: So wird den Handmaids der Bruch mit der individuellen Vergangenheit verordnet, Lesen, Genuss von Kunst und Kultur, Kontakt zu Freunden und Verwandten sind verboten. Insgesamt zeichnet sich Gilead in The Handmaid’s Tale aber nicht durch eine vollumfassende Inszenierung der ideologischen Zeit im Raum aus und steht damit in einer Reihe mit Dystopien wie The Man in the High Castle und The City & The City, die sich trotz ihrer unwirklichen Handlungen, zeitlichen Situierungen und Gesellschaften durch eine realistische Raumgestaltung auszeichnen.368 Ähnlich wird auch durch die Absage an technologischen Fortschritt in Electric City Zeitlosigkeit inszeniert. Auch wenn der globalere Handlungsraum von Westworld deutlich futuristisch erscheint, so lässt sich für die Ausgangsräume der Androiden – Westworld und andere Themenparks – durchaus eine Zementierung einer inszenierten Zeit festhalten. Dennoch bleibt mit Blick auf die Welt außerhalb der Themenparks in Westworld sowie für die fiktive Welt von Altered Carbon ungewiss, ob Architektur und Stadtplanung einer politischen Ideologie entspringen oder schlichtweg den intradiegetisch gegenwärtigen Stand der Baukunst und Technik abbilden. Ebenso wenig kann die Architektur der Stadt in Trepalium und der Insel in 3 % auf ein politisches Programm zurückgeführt werden, während die Innen- und Außenarchitektur in The Man in the High Castle und in Wayward Pines durchaus die gesellschaftlichen Normen der jeweiligen Dystopie wiederspiegeln. Darüber hinaus findet eine Verräumlichung von Zustandsveränderungen in den Nischen und marginalisierten Räumen statt, die das jeweilige System nicht kontrollieren kann oder offiziell ignoriert. In der Neutralen Zone (The Man in the High Castle) oder auf dem Festland (3 %) scheint sich Zeit in dem Maß stärker und fast exzessiv zu akkumulieren, in dem sie aus den dystopischen Zentren verdrängt wird. Aus der politisch motivierten Inszenierung von Zeit in den fiktiven Zentren serieller Dystopien und der marginalisierten Zeit in den Peripherien und Räumen der Systemgegner ergibt sich eine Ko-Existenz von Sphären mit unterschiedlicher temporaler Kodierung. Während diese Räume an sich als Archive gelten – als Archive dessen, was nicht gezeigt werden soll, was politisch als Realität inszeniert wird oder was sich tatsächlich diegetisch ereignet hat – sind intentionale Archive der Herrschenden und der Widerständler meist zugleich auch Orte politischer Entscheidungen, in denen die Regime Kontrolle ausüben und die Rebellen den Umsturz planen. Sie reichen von Kuriositätenkabinetten und Schatzkammern (z.B. Büro Pilchers in Wayward Pines), bis hin zu antiseptischen Lagern digitaler 368 Vgl. Moldovan 2020, die auf den Kontrast zwischen den brutalen Handlungen des Regimes und der Normalität und Ruhe verweist, der das Stadtbild des fiktiven Bostons bestimmt; ebd., S. 114f.

2. A Design for Happiness – Raumsemantiken serieller Dystopien

Daten (Datenspeicher in 3 %, Büro der Protecta Society in Alpha 0.7) sowie Orten der Medienvielfalt und Kooperation (Versteck von apollon in Alpha 0.7). Diese Bandbreite spiegelt sich auch in Westworld und The Handmaid’s Tale wieder. In Westworld gibt es eine Reihe steriler Archive, in denen auf kleinstem Raum eine Unmenge an Daten aufbewahrt wird, z.B. im Forge in Staffel zwei und im Supercomputer Rehoboam in Staffel drei, die zur Kontrolle von Androiden und Menschen eingesetzt werden.369 Speicher von Vergangenheit, aber in Form von Kunst und Kultur, liegen in The Handmaid’s Tale mit den Häusern der Commander vor: Die Production Designerin der ersten Staffel, Julie Berghoff, gibt an, dass die Gemälde im fiktiven Haus der Waterfords vormals Ausstellungsstücke gewesen seien: »We pretended like they went into the Boston Museum of Modern Art and stole all their favorite paintings [.] […] Serena Joy is a watercolorist, and she loves nature, so she picked Monets«.370 Die Häuser der Commander sind mit dem Büro David Pilchers in Wayward Pines vergleichbar, weil beide jeweils historisches und kulturelles Wissen der Öffentlichkeit vorenthalten. Zudem werden sie zu einem Ort, in dem die Mächtigen die Regeln für alle zu Ihren Gunsten brechen, wie Production Designerin Berghoff anhand von Commander Waterfords Büro erläutert: Dort gebe es »›[b]ooks, art, sexual art, alcohol. He [Comander Waterford] pulls out Scrabble, and I’m sure if he smoked he would be smoking cigars with the commanders in there‹«.371 Die Räume serieller Dystopien des Post-TV, die episodenübergreifend erzählen, verändern sich schließlich notwendigerweise mit zunehmender Erzählzeit, die sich durch verschiedene Strategien seriellen Raumerzählens wie Expansion und Verdichtung auf Ebene von story-space und discourse-space bemerkbar macht. Insofern ist die ›natürliche‹ Verräumlichung von Zeit, die nicht von der jeweiligen politischen Führung gesteuert wird, auch ein Symptom der Dramaturgie der seriellen Erzählung. Besonders auffällige Anzeichen der raum-zeitlichen Verschränkung auf Ebene von histoire und discours sind die Destruktionen dystopischer Räume, die sich bereits zu Beginn der Serien in den allzu starren oder ›glatten‹ Darstellungen von Raum und Gesellschaft ankündigen und sich als Höhepunkt einer serieninternen Steigerungs- und Überbietungslogik Bahn brechen.372 Dies wird neben der Beschädigung der Mauer in Trepalium, dem Außerkraftsetzen des Elektrischen Zauns und der Zerstörung der Stadt in Wayward Pines sowie den Explosionen im Umfeld der Lackawanna Kohlemine in The Man in the High Castle deutlich in der Destruktion des Themenparks in Westworld, von der in der zweiten Staffel der Serie erzählt wird.

369 Vgl. Westworld, S2E10, »The Passenger« sowie S3E8, »Crisis Theory«. 370 Stamp, Elizabeth (16.05.2017): 7 Secrets of The Handmaid’s Tale Set That Send a Message. In: Architectural Digest. https://www.architecturaldigest.com/story/7-secrets-of-the-handmaids-tale-set-t hat-send-a-message, aufgerufen am 1.09.2020. In der zweiten Staffel bietet June die Gemälde im Haus von Commander Lawrence einem Schmuggler dafür an, dass er ein Flugzeug für die Flucht von Handmaids, Marthas und Kindern nach Kanada bereitstellt. June zufolge sei das Haus der Lawrences »full of Picassos, Cezannes, Rembrandts, Pissarros«; vgl. The Handmaid’s Tale, S3E11, »Liars«. 371 Berghoff zit. in Stamp 2017. 372 Vgl. hierzu IV.3.4 in dieser Arbeit.

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3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Räume serieller Dystopien sind auf mehreren Ebenen dynamisch und weichen diesbezüglich nicht von den fiktiven Topographien anderer Serien ab. Sie sind von Verdichtungen und Expansionen ebenso geprägt wie von der Auflösung von Räumen und Orten auf Ebene des discours sowie der bereits angesprochenen Destruktion auf Ebene der histoire. Die aus dem Raumerzählen resultierende, mitunter unübersichtlich werdende Vielfalt an Schauplätzen, insbesondere in den jeweils vier Staffeln umfassenden Serien The Man in the High Castle und 3 %, wird von insgesamt kohärenten ästhetischen Darstellungsverfahren begleitet. Die Serien sind bemüht, ihre Räume trotz aller narrativen Dynamik so erscheinen zu lassen, als würden sie unverändert bestehen und als würde die gleichsam vorhandene fiktive Geographie ein statisches Spielfeld der Handlung sowie der voranschreitenden Figurenbewegungen oder Mobilität von Erzählinstanzen sein, über die der Serienraum wiederum von den Rezipienten entdeckt werden könne. Die Modifikation von Räumen innerhalb einer Serie führt zwangsläufig zur Selbstüberbietung, sei es durch eine gesteigerte Anzahl an Räumlichkeiten oder innovativere Schauplätze. Diese Steigerungslogik führt in vielen seriellen Dystopien des Post-TV schließlich zur Eskalation in Form der Zerstörung urbaner Machtzentren, wie sie bereits als Symptom des Scheiterns despotischer Regime beschrieben wurde.1 In der Entfaltung der Serienräume wird deutlich, dass wiederkehrende Charakteristika dystopischer Räume die Dynamik des Raumerzählens, also die Präsentation neuer Räume (Expansion) und das Hinzufügen neuer Information zu bekannten Räumen (Verdichtung), erst ermöglichen. Da die Serienräume durch eine Vielzahl semantischer und physischer Grenzen durchzogen sind, die sie in verschiedene Fragmente wie einzelne Handlungsräume und -orte ausdifferenzieren, können diese Fragmente überhaupt erst im Rhythmus neuer Episoden und Staffeln erzählt werden. Die Fragmentierung des story-space der seriellen Dystopie liefert also gleichsam das ›Material‹, mit dem der Raum auf Ebene des discourse-space segmentiert und komponiert werden kann. Durch die Korrespondenz von Raum-Fragmenten auf Ebene der histoire und ihrer Repräsentation

1

Vgl. hierzu IV.2.3.4 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

auf Ebene des discours werden erst Variation und Strukturierung der Handlung mittels Handlungsräumen und -orten ermöglicht. Auch die Dynamisierung des story-space, z.B. durch die Destruktion von Bauten, ist an genrespezifische Merkmale gekoppelt. Viele dystopische Welten und Räume unterliegen einem Zyklus aus Chaos und Statik: Die dystopische Gesellschaft, die von ihrer Führung als Eutopie, also bessere Welt, begriffen wird, folgt auf die Katastrophe und wird in kritischen Dystopien oft von Revolutionen aufgesprengt. Somit entsteht eine Abfolge aus Chaos und Statik, die sich auch in den konkreten Räumen in Form von Ruinen oder erstarrten Architekturen niederschlägt.

3.1 Fluide Topographien Die narrative Präsentation serieller Dystopien des Post-TV verläuft überwiegend polyzentrisch. Verdichtungen und Expansionen des Serienraums markieren intraseriell sowie transmedial das narrative Intervall und die Erzähleinheiten Staffel und Episode, wobei sich die Deutlichkeit der Korrespondenz von Raumerzählen und serieller Segmentation je nach Produktion unterscheidet. Zugleich variiert die Veränderung von Räumen und Orten auf Ebene des discourse-space die Erzählung sowie bekannte Handlungsschemata. Die hohe Flexibilität und Fluidität der Serienräume serieller Dystopien, die sich in dieser narrativen Komposition abzeichnen, werden durch mobile Figuren und Erzählinstanzen ermöglicht.

3.1.1 Mobilität von Figuren und Erzählinstanzen Figuren sowie Erzählinstanzen serieller Dystopien des Post-TV sind in hohem Maße mobil und erlauben den Rezipienten die virtuelle Erkundung der einzelnen Schauplätze. Mit Blick auf einzelne Akteure, aber nie auf die Gesamtheit der Figuren und Handlungsorte, können sich Pfade ergeben, deren Entwicklung und sich verändernde Semantik mit der physischen und psychischen Entwicklung der jeweiligen Figur korrespondiert. Expansion, Verdichtung, Stagnation und Auflösung von Räumen sind abhängig von der Mobilität der Erzählinstanzen und der Figuren.2 Die Protagonisten der seriellen Dystopien sind Grenzgänger: Sie dringen unter falscher Identität in gegnerische Sphären vor, wie Juliana (The Man in the High Castle), Michele (3 %), Izia (Trepalium) und Mila (Alpha 0.7). Zudem entdecken sie unbekannte Territorien wie Ethan (Wayward Pines) oder werden an diese durch machtvolle Akteure versetzt, was ebenso auf Ethan wie auf Theo (Wayward Pines) und Johanna (Alpha 0.7) zutrifft.3 Für die Figurenbewegung und somit das Ausfüllen der vormals weißen Flecken der jeweiligen Serien-Landkarte lassen sich im wesentlichen drei Motive ausmachen: Die Protagonisten serieller Dystopien versuchen, die Systemvertreter in den Zentren der Macht anzugreifen, befinden sich auf der Flucht und suchen Schutz in Refugien oder sie kehren zurück an die jeweils dominanten Handlungsräume, um die endgültige Auseinandersetzung mit dem dystopischen Regime zu suchen. 2 3

Vgl. zu den genannten Strategien seriellen Raumerzählens II.3.3.4 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu IV.2.1.7 in dieser Arbeit.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Mit Blick auf die einzelnen Figurenbewegungen ergeben sich lineare Muster der Raumentfaltung, die mit der Entwicklung einzelner Figuren und ihren spezifischen Handlungssträngen korrespondieren. Betrachtet man jedoch die Gesamtheit von Wegen und Teilräumen, die innerhalb der jeweiligen seriellen Dystopie aufgerufen werden, lässt sich die Evolution des Raums nur als Nebeneinander verschiedener Regionen bezeichnen. Selbst wenn einzelne Regionen dicht beieinander liegen und sich aus ihrer Präsentation eine Reihenfolge ergibt, so handelt es sich dabei nicht um ein lineares Muster des Erzählens: 3 % stellt zwar für jede Staffel einen anderen Raum oder ein Verbund aus Räumen in den Mittelpunkt des Geschehens, die bekannten Handlungsräume werden aber beibehalten und zugleich verdichtet, sind mal mehr, mal weniger relevant. Zudem geht die narrative Raumerweiterung nicht gleich für jede Figur mit Mobilität einher. So erfahren die Zuschauer in Staffel drei, dass Fernando, der ebenso wie Michelle von einem gerechteren Leben geträumt hat, vor Errichtung des eutopischen Projektes der Concha verstorben ist. Der Begriff des Labyrinths scheint geeignet, die Gesamtheit der Figurenbewegungen zu beschreiben, da keiner der Pfade ohne Pausen sowie rekursive Bewegung auskommt und einige Figuren ihren Weg durch den Serienraum auch beenden, weil sie sesshaft werden oder sterben und somit nicht länger Teil des metaphorischen Spiels sind. In jedem Fall wäre diese Lesart von Figurenbewegung als Umherirren, als ludische Aktivität eine, die die Serien den Zuschauern ohnehin nahelegen: Dies wird anhand der Desorientierungsstrategien in den Serienanfängen,4 anhand der Escape-Games, Geocachings oder konkreter Labyrinthe in 3 %, der Suche nach versteckten Daten und Räumen in Alpha 0.7 und der Konfrontation mit parallelen Welten in The Man in the High Castle deutlich. Bisweilen stellen serielle Dystopien die Interpretation von Figurenbewegung als Umherirren auch selbst aus: So zeigt die Kachel im Interface von Netflix, die 3 % bewirbt, mitunter ein Labyrinth aus der Aufsicht.5 Der Titel der ersten Staffel von Westworld, »The Maze«, sowie der Name der literarischen Maze-Runner-Serie sind ebenfalls selbstreferentielle Hinweise auf die Art, wie serielle Dystopien das Verhältnis zwischen Figurenmobilität und Raum betrachten.6 Allerdings zeigt die Labyrinth-Metapher, die in der Serienforschung weithin Verwendung findet,7 einmal mehr die von Sudmann konstatierte Annäherung zwischen Forschung und Fernsehserie, die ihn von einer ›Akquise‹ von Wissenschaftlern durch Serien sowie der ›Mitarbeit‹ von Serien an ihrer eigenen Untersuchung sprechen lassen.8 Problematisch am Labyrinth als Modell für die Pfade verschiedener Figuren im Serienraum ist außerdem die mit dem Begriff einhergehende Vorstellung, dass es für die Charaktere richtige oder falsche Entscheidungen gebe, die durch eine auf Kombination oder Zufall basierende Wahl eines Weges eigenständig herbeigeführt werde. Gegen diese Annahme spricht u.a. die Tatsache, dass die Art der Mobilität einer Figur, ihr Status als Grenzgänger oder unbewegliche Figur wie viele andere Elemente der

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Vgl. hierzu IV.1.1.1 in dieser Arbeit. Vgl. Netflix. https://www.netflix.com/de/, 2021, aufgerufen am 4.11.2021. Zur Trope des Labyrinths in Westworld vgl. Kanzler 2018, S. 64f. Vgl. u.a. Rothemund 2013, S. 158ff. Vgl. Sudmann 2017, S. 200f.

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IV. Analyse der Serienräume

seriellen Erzählung häufig bereits in der Initialphase zumindest zu erkennen gegeben werden. So sind z.B. die Helden der hier untersuchten seriellen Dystopien von Beginn an als bewegliche Figuren gekennzeichnet.9 Die Figurenbewegung, anhand derer sich der Serienraum entfaltet und verdichtet, kann treffender als Choreographie bezeichnet werden: Die Mobilität der Figur wird in Grundzügen zu Beginn der jeweiligen Serie bereits skizziert, im Rhythmus weiterer Episoden und Staffeln fortgeschrieben und durch Bewegung im Serienraum realisiert. Neben wiederkehrenden Figuren werden Räume auch durch mobile Erzählinstanzen entdeckt. Gerade in Serien mit mehreren Protagonisten bedarf es jedoch einer flexiblen narrativen Instanz. Während die audiovisuellen Erzählinstanzen von Sitcoms auf die Orte beschränkt sind, die auf einer Soundstage kreiert werden können, vermögen es die virtuellen Erzählinstanzen gegenwärtiger TV-Serien, große Distanzen in kurzer Zeit zurückzulegen, weite und enge, temporäre und dauerhafte Orte gleichermaßen zu dokumentieren. In keiner seriellen Dystopie wird die Beweglichkeit und somit die Existenz der narrativen Instanz so deutlich wie in The Man in the High Castle: Die selbstreferentiellen establishing shots, die Kartenüberblendung in der Pilotepisode sowie die Platzierung von Repräsentationsmodellen von Raum, nationalen und regionalen kulturellen Gütern der USA in den opening credits machen darauf aufmerksam.10

3.1.2 Entgrenzungen dystopischer Serienräume Innerhalb der theoretischen Überlegungen im Vorfeld der Raumanalyse wurden Muster serieller Raumentfaltung, ausgehend von der Initialphase der TV-Serie, vorgestellt.11 Alpha 0.7, Wayward Pines, The Man in the High Castle und Trepalium werden mehrheitlich auf Ebene des discours bzw. im discourse-space als multiple Regionen entwickelt, womit sie dem Typ polyzentrischen Raumerzählens zuzuordnen sind.12 So werden in der Pilotepisode aufeinanderfolgenden Szenen oder Sequenzen Orte eingeführt, die verschiedenen Räumen zugehörig sind und im Laufe der Serie verdichtet.13 3 % kann mit Blick auf die Pilotepisode überwiegend dem Typ linearen Raumerzählens zugeordnet werden: Zwar wird auch hier die Perzeption verschiedener Figuren an jeweils unterschiedlichen Orten im Slum oder dem Processo-Gebäude wiedergegeben und von den Ereignissen unterschiedlicher Orte erzählt, die Handlungsräume Slum und ProcessoGebäude werden in der Initialphase von 3 % allerdings nacheinander präsentiert.14 Dadurch werden die Wahrnehmungen, die Erwartungen und Anstrengungen der Slum-Bewohner auf Ihrem Weg zum Wettkampf-Gebäude betont, was exemplarisch anhand der Szenen greifbar wird, in denen sich der Tross der Bewerber vom Slum aus entlang des Berghangs, zum Processo-Gebäude sowie bei Eintritt in selbiges präsentiert wird.15 Al9 10 11 12 13 14 15

Vgl. hierzu IV.2.1.7 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu die Analysen zu The Man in the High Castle in IV.1.1 sowie IV.1.2 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu II.3.3.5 in dieser Arbeit. Vgl. ebd. Vgl. hierzu die Analysen zu The Man in the High Castle in IV.1.1.1, IV.1.2.1 sowie IV.2.2.1 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu die Analysen zu 3 % in IV.1.1.1, IV.1.2.1 sowie IV.2.2.1 in dieser Arbeit. Vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo: Cubos«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

lein die wenige Sekunden währende Darstellung des Innenraums, von dem aus der Rat des Processo dem Geschehen im Wettkampfgebäude beiwohnt (vgl. Grafik 4: 1. Staffel, 1. Episode), bricht mit der narrativen Linearität und erzeugt ein multipolares Muster, das jedoch nicht vergleichbar mit dem der anderen Serien ist. Insgesamt folgen alle fünf hier ausführlich untersuchten seriellen Dystopien spätestens ab der jeweils zweiten Episode dem Trend des polyzentrischen Erzählens. Das Raumerzählen der Serien, also die Auswahl von Handlungsräumen und -orten, ihre Kombination und audiovisuelle narrative Präsentation, lässt sich mithilfe der Darstellung von Dauer und Frequenz der Räumlichkeiten auf Ebene des filmischen discours nachvollziehen. Im Folgenden werden dafür Serienprotokolle, mit denen das zeitliche Auftreten der Handlungsräume erfasst wurde, ausgewertet. Die narrative Dauer eines Handlungsraums wird als prozentualer Anteil der Erzählzeit einer Folge definiert, in dem der jeweilige intradiegetische Handlungsraum präsentiert wird. Die Frequenz des Raumerzählens umfasst die Anzahl an Segmenten von direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen, in denen der jeweilige intradiegetische Handlungsraum audiovisuell ohne Unterbrechung dargestellt wird. Eine Auswertung grafischer Abbildungen des Erzählens von Handlungsorten wird aufgrund der enormen Anzahl und Schwierigkeiten in der genauen Abgrenzung einzelner Orte voneinander nicht vorgenommen. Dennoch wird insbesondere mit Blick auf raumnarrative Verdichtungen über diese zu sprechen sein. Die grafischen Darstellungen in den Abbildungen 43 bis 48 bedürfen einiger Voranmerkungen. Nicht immer kann eindeutig festgestellt werden, auf welchen Handlungsraum in welcher Einstellung oder Szene referiert wird: Mitunter sind Ausschnitte mehrerer Handlungsräume zu sehen, weil die Darstellung von Träumen von Figuren oder ihrer Erfahrung von Augmented Reality-Simulationen in die Darstellung der Räumlichkeiten übergehen,16 in denen sie sich physisch befinden. Deshalb werden nur die Räume erfasst, in denen intradiegetische Handlungen oder Zustände stattfinden. Split-Screen-Szenen werden den jeweils zeitgleich gezeigten Räumen zugeschlagen.17 Ein Nachteil der quantitativen Erfassung des Raumerzählens ist, dass sie auf Vereinheitlichung dringt, obgleich sich vor allem Grenzräume wie Wüste und Meer in 3 % nicht immer losgelöst von den umliegenden Territorien als eigenständige semantische Räume definieren lassen oder weil die Hörspiel-Staffel von Alpha 0.7 Segmente aufweist, in denen eine konkrete Verortung des Geschehens nicht zweifelsfrei möglich ist, weil auditive Marker wie stereotype Hintergrundgeräusche oder verbale Ortsangaben fehlen.18 Der Vorteil dieser Erfassung liegt wiederum in der Darstellung der erzählzeitlichen Organisation der Handlungsräume sowie ihrer Isolation von anderen Konstituenten der Serienerzählung (Figuren, Fokalisierung etc.). Aus der Auswahl und Kombination der Handlungsräume innerhalb von Episoden und über Staffeln hinweg ergeben sich narrativ-dramaturgische Muster, die Aufschluss über den Charakter des Raumerzählens einer Serie geben und im Vergleich erste Hypothesen zu dystopischseriellem Raumerzählen zulassen.

16 17 18

Vgl. ebd., S2E2, »Capítulo: Torradeira«. Vgl. ebd., S1E3, »Capítulo: Corredor«. Vgl. Alpha 0.7, S2E6, »Revolution«.

317

318

IV. Analyse der Serienräume

Die Auswertung beruht auf einigen Annahmen, die vorab transparent gemacht werden sollen: Je höher die Dauer der narrativen Präsentation eines Handlungsraums, desto relevanter ist der Raum für die jeweilige Episode oder Staffel. Wechsel von Handlungsräumen stiften Dynamik und können ein Symptom für Variation sein, durchgehend präsentierte Handlungsräume stiften Kohärenz über Erzählbrüche hinweg. Anstieg und Abfall von narrativer Dauer lassen Aussagen über die Relevanz von Handlungsverläufen sowie der Erzählung zu. Die Höhe der Frequenz gibt Aufschluss über Szenenwechsel: Hohe Frequenzen pro Episode weisen auf wechselvolles, niedrige auf kontinuierliches Raumerzählen hin. Liegen wenige Handlungsräume pro Episode, jedoch mit jeweils hoher Frequenz vor, weist dies auf viele Parallelmontagen hin. Dies kann wiederum ein Anzeichen einer sich zuspitzenden bzw. spannungsreichen Handlung sein. Die Deutung der quantitativen Erfassung des Raumerzählens beschränkt sich auf die Serien The Man in the High Castle, 3 % und Alpha 0.7, weil diese voneinander deutlich abweichende Muster seriellen Raumerzählens offenbaren und somit exemplarischen Charakter haben, und weil ihre Räume dynamischer inszeniert sind als die von Wayward Pines und Trepalium. Wayward Pines stellt bereits im cold opening der Pilotepisode die Kleinstadt als zentralen Handlungsraum vor und verbindet den Handlungsstrang um die Suche nach Ethan durch dessen Familie in der Vergangenheit in den ersten beiden Episoden mit Seattle. Spätestens ab der dritten Episode wird dieser Ort jedoch auf Ebene des discours-space aufgelöst. Stattdessen wird die Serienwelt in der vierten Folge mit der Wildnis außerhalb der Kleinstadt sowie um die Räumlichkeiten im Bergmassiv ergänzt. In der zweiten Staffel werden Stadt, Wildnis und Bergmassiv als Handlungsräume zwar um Orte der Vergangenheit erweitert, diese sind jedoch ebenso wie Seattle temporäre ›Ausflüge‹ in die diegetische Vergangenheit. Die zweite Staffel bietet eher zusätzliche Informationen zu den bekannten Räumen Stadt, Bergmassiv und Wildnis, als das in unbekanntes Terrain vorgedrungen würde und kann somit der Verdichtung als Strategie seriellen Raumerzählens zugeordnet werden. Trepalium wird ebenfalls permanent verdichtet und nicht expandiert: Bereits im cold opening wird die begrenzte Geographie aus Zone und Stadt skizziert und noch innerhalb der Pilotepisode um das unterirdische Versteck der Rebellen ergänzt. In den folgenden Episoden wird dieses Territorium horizontal innerhalb von Zone und Stadt sowie vertikal zwischen den Hochhäusern der Herrscher und den Tunneln der Rebellen ausgeleuchtet und mit zusätzlichen Rauminformationen aufgefüllt. Obgleich keine Erweiterung um neue Territorien vorliegt, wachsen die bekannten Räume von Episode zu Episode an: Dies wird u.a. anhand des Tunnelsystems der Rebellen deutlich, das durch weitere Gänge ergänzt wird und von dem die Zuschauer schließlich erfahren, dass es Stadt und Zone unterwandert und verbindet.19

19

Vgl. Trepalium, S1E3.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Grafik 2: Dauer der Handlungsräume von The Man in the High Castle auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: prozentualer Anteil der Einstellungen pro Episode, in denen intradiegetische Handlungen im jeweiligen Raum stattfinden)

319

320

IV. Analyse der Serienräume

Grafik 3: Frequenz von Handlungsräumen aus The Man in the High Castle auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: Anzahl an Segmenten von direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen, in denen der jeweilige intradiegetische Handlungsraum audiovisuell ohne Unterbrechung dargestellt wird)

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Grafik 4: Dauer der Handlungsräume von 3 % auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: prozentualer Anteil der Einstellungen pro Episode, in denen intradiegetische Handlungen im jeweiligen Raum stattfinden)

321

322

IV. Analyse der Serienräume

Grafik 5: Frequenz von Handlungsräumen aus 3 % auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: Anzahl an Segmenten von direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen, in denen der jeweilige intradiegetische Handlungsraum audiovisuell ohne Unterbrechung dargestellt wird)

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Grafik 6: Dauer der Handlungsräume von Alpha 0.7 auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: prozentualer Anteil der Einstellungen pro Episode, in denen intradiegetische Handlungen/Zustände im jeweiligen Raum stattfinden)

323

324

IV. Analyse der Serienräume

Grafik 7: Frequenz von Handlungsräumen aus Alpha 0.7 auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: Anzahl an Segmenten von direkt aufeinanderfolgenden Einstellungen, in denen der jeweilige intradiegetische Handlungsraum audiovisuell ohne Unterbrechung dargestellt wird)

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

The Man in the High Castle Die Untersuchung der Dauer der Handlungsräume von The Man in the High Castle auf Ebene des discours (vgl. Grafik 1) offenbart zunächst, dass die Serie sowohl die eingangs etablierten Räume des American Reich, der Pacific States und der Neutral Zone verdichtet, aber um das German bzw. Greater Nazi Reich sowie die Alternative Welt expandiert. Eine Besonderheit stellt das semantisch neu codierte Terrain im Westen der USA dar, das bis zur neunten Episode der vierten Staffel vom Japanischen Kaiserreich besetzt ist und ab der finalen Folge in der Hand der ansässigen Amerikaner bzw. des Widerstands ist und fortan die Western States bildet. Die Protokollierung der Dauer der Handlungsräume offenbart, dass die Serie ihr Universum räumlich sehr dicht vernetzt und somit den Eindruck einer kohärenten und statischen storyworld erweckt. Hierzu zählt zum einen, dass fast alle Handlungsräume bereits innerhalb der ersten Staffel vorgestellt werden, zum anderen, dass die Pacific States und das American Reich durchgehend filmisch-seriell präsentiert werden. Dennoch ist die Serie durch starke Raumvariation gekennzeichnet, lassen sich doch mindestens sechs voneinander unterscheidbare Handlungsräume feststellen (American Reich, Japanese Pacific States, Neutral Zone, German Reich, Alternative Welt und Western States). Die Auswahl und narrative Anordnung lässt trotz der Multipolarität Muster erkennen. Die kontinuierlichen Räume der Pacific States und des American Reich werden mit fast diametral zu einander stehender Erzählzeit präsentiert, da die Erzählzeit der Pacific States sukzessive ab- und die des American Reichs zunimmt. Diese Verteilung der staffelübergreifenden Erzählzeit korrespondiert mit dem diegetischen Geschehen, da sich das japanische Kaiserreich aus Nordamerika zurückzieht, wohingegen das American Reich einen Krieg gegen den Widerstand und die Western States führt und schließlich zum Schauplatz der finalen Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Rebellen wird. Die Darstellung von Alternativer Welt und Neutraler Zone akzentuiert jeweils verschiedene Staffeln (Neutrale Zone: erste und zweite Staffel; Alternative Welt: zweite und vierte Staffel) und schafft somit Variation. Allerdings erfolgt die Präsentation dieser Handlungsräume nicht im Takt serieller Segmente, sondern bahnt sich jeweils zum Ende einer Staffel an, bevor sie sukzessive mehr Erzählzeit in der folgenden beansprucht. Somit werden einerseits die Segmente von The Man in the High Castle und zugleich der prozesshafte Charakter der Serie betont, das Intervall als zentrales serielles Merkmal aber verdeckt und Kohärenz über Staffelgrenzen hinweg gestiftet. Weil die Handlungsräume von The Man in the High Castle flächenmäßig um ein Vielfaches größer sind als die von 3 % und Alpha 0.7, haben deren Verdichtungen ebenso variierende Funktionen. Beispielhaft für das American Reich sind der Umzug der Familie Smith aus Long Island nach Manhattan von Staffel zwei in Staffel drei, für die Neutrale Zone das Hinzufügen der Stadt Sabra in der dritten sowie der Farm von Helen Smiths Bruder in der vierten Staffel und für die Pacific States die Etablierung des Ghettos, in dem Afro-Amerikaner leben, in der vierten Staffel. Im serienübergreifenden Vergleich mit Alpha 0.7, 3 %, Wayward Pines und Trepalium sind die Verdichtungen von The Man in the High Castle häufig auch auf neue Orte und mit ihnen zusammenhängende soziale Subsysteme bezogen. Aufgrund dieser qualitativen Entwicklung der jeweiligen Handlungsräume durch ihnen zuzuordnende Orte sowie die große Menge dieser

325

326

IV. Analyse der Serienräume

Orte prägen Verdichtungen, aber auch die Auflösung von Handlungsräumen wie der Alternativen Welt und der Neutralen Zone über mehrere Episoden hinweg die Serie ebenso stark wie Expansionen. Diese Strategien verweisen auf das ausgeprägte polyzentrische und multiperspektivische Erzählen von The Man in the High Castle. Die Frequenz des Raumerzählens (vgl. Grafik 3) ist zu Beginn der Serie von wenigen Handlungsräumen bestimmt und für diese sehr hoch, verteilt sich aber im weiteren Verlauf der Serie über mehrere Räume pro Episode. Mit Blick auf die Staffeln eins bis drei ergibt sich ein Muster hoher Frequenzen ungefähr hinter der jeweiligen Staffelmitte. Dies deutet auf viele Szenenwechsel und eine besonders spannungsreiche Handlung hin. Gegen Ende der ersten bis dritten Staffel fällt die Frequenz jeweils ab, was darauf schließen lässt, dass Handlungsräume im Vergleich zu den jeweils vorhergehenden Episoden der Staffel häufiger ohne Unterbrechung gezeigt werden und somit kontinuierlicher sind bzw. statischer erscheinen. Zugleich nimmt in jenen Episoden aber die Zahl der präsentierten Handlungsräume zu, womit wieder episodeninterne Variationen vorliegen.

3% Das Raumerzählen von 3 % ist dominiert vom Rhythmus der Staffeln und fast idealtypisch seriell (vgl. Grafik 4). Die Staffelgrenzen sind klar durch die narrative Präsenz jeweils anderer Handlungsräume gekennzeichnet: Pro Staffel dominiert ein Raum bzw. ein Verbund an Räumen (Processo-Gebäude in der ersten, Maralto und Slum in der zweiten, Concha in der dritten Staffel). Für die finale Staffel können keine allzu deutlichen Unterschiede der Verteilung von Erzählzeit an die Handlungsräume konstatiert werden, was auf eine ausgeprägte Polyzentrik verweist und als Symptom der sich dem Ende zuneigenden Handlung gedeutet werden kann. Ähnlich wie The Man in the High Castle führt 3 % de facto drei der zentralen Handlungsorte bereits in der Pilotepisode ein (Slum, Processo-Gebäude, Maralto), wobei die Darstellung Maraltos nur acht Sekunden bzw. weit unter einem Prozent der Episode ausmacht und nur einmal zu sehen ist. Die Insel wird im weiteren Serienverlauf weiter verdichtet, vor allem in den Staffeln zwei und vier. Die Ergänzung des bereits etablierten Handlungsraums kommt jedoch im Gewand der Expansion daher, vor allem, wenn man die cold openings zu Beginn der zweiten und vierten Staffel vergleicht, die mit Reisen nach Maralto eröffnet werden und jeweils die Erkundung des Raums durch Figurengruppen darstellen.20 Auch in 3 % deutet die ab- und zunehmende Erzählzeit auf die Relevanz der jeweiligen Handlungsräume bzw. der durch sie repräsentierten Systeme hin. So nimmt der Anteil der audiovisuellen Darstellung des Processo-Gebäudes vom Anfang bis Ende der Serie kontinuierlich ab. Die Concha als Ort eines alternativen Gesellschaftsentwurfes nimmt in der dritten Staffel die meiste Erzählzeit ein, verliert dann aber an narrativer Dauer und löst sich auf Ebene des discours in der fünften Episode und der histoire in der dritten Episode der vierten Staffel auf. Die sinkende dramaturgische Relevanz der Concha zeichnet sich in der Grafik ab: Nimmt der Handlungsraum zu Beginn der dritten Staffel bis zu 90 Prozent der Erzählzeit ein, sind es in den ersten drei Folgen der vierten

20

Vgl. hierzu IV.4 in dieser Arbeit.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Staffel nur noch knapp über 20 Prozent der jeweiligen Episodendauer, womit das narrative und diegetische Ende dieses Raums in Episode vier antizipiert wird. Obgleich der Slum besonders präsent in Staffel zwei ist, ist er insgesamt kontinuierlich in der Serie auf discours-Ebene wahrnehmbar und nimmt, über die Staffeln hinweg gerechnet, kaum an Erzählzeit ab. Diese Entwicklung steht in Wechselbeziehung mit der Serienhandlung, da der Slum sowohl deren Ausgangspunkt als auch Ende ist und die Zerstörung von Concha und Insel die Botschaft vermitteln, dass sozial-politische Probleme nicht durch den Eskapismus einer Minderheit, sondern die Kooperation der gesamten Gemeinschaft bewältigt werden müssen. Die Frequenz einzelner Handlungsräume ist in der zweiten Staffel außergewöhnlich hoch, in den Staffeln eins und vier hingegen besonders niedrig (vgl. Grafik 5). Die Präsentation der Handlungsräume wird ab der zweiten Staffel jeweils seltener durch die Darstellung anderer Räume unterbrochen. Diese Fixierung auf einzelne Räume erzeugt den Eindruck von Kontinuität und ist Ausdruck einer zunehmenden Tendenz zur Verdichtung und Erkundung von Regionen. Neben dem Blick auf Handlungsräume offenbart sich die Prozesshaftigkeit von 3 % besonders deutlich im Erzählen von Handlungsorten. Von Episode eins bis fünf an müssen die Kandidaten jeweils verschiedene Prüfungen innerhalb neuer Räume im Processo-Gebäude bestehen (vgl. Tab. 6). Der Raum der Serie ist somit nicht nur von narrativem Wert, weil er als Nährboden die Konflikte symbolisiert, die die jeweilige Staffelhandlung auszeichnen,21 sondern auch, weil er die serielle Erzählung strukturiert und segmentiert. Der discourse-space verdichtet die Erzählzeit der Serie und hegt sie gewissermaßen ein, weil er ihre potentiell unendliche Laufzeit mit scheinbar statischen Räumen verknüpft.

Titel

»Capítulo 01: Cubos«

»Capítulo 02: Moedas«

»Capítulo 03: Corredor«

»Capítulo 04: Portão«

»Capítulo 05: Água«

Handlungsorte

Mehrere Zellen

Mehrere Escape Rooms

Dunkler langer Korridor

Geschlossenes System aus Räumen und Gängen

Individuelle Räume

Prüfung

Verbinden geometrischer Formen

Lösen von Escape Game

Durchqueren eines Gangs unter Einfluss von halluzinogenem Gas

Verlassen eines geschlossenen Raums

Entscheidung zwischen Leben auf der Insel oder im Slum

Tab. 6: Übersicht der Handlungsorte und Prüfungen einzelner Episoden der 1. Staffel von 3 %

21

Vgl. hierzu IV.2.2.1 in dieser Arbeit.

327

328

IV. Analyse der Serienräume

Alpha 0.7 Alpha 0.7 etabliert in der initialen Episode Stuttgart und dessen Umland als Handlungsräume (vgl. Grafik 6). Während dieses topographische Inventar in der ersten Staffel nicht erweitert wird, erfolgen in der zweiten und Hörspiel-Staffel Expansionen um Marseille als Fluchtort von Johanna, Ralph und Mila, der Amsterdamer Flughafen Schipol sowie die Bauruine Stuttgart 21. Zwar werden bekannte Orte des Stuttgarter Zentrums wie die Bauten des National Pre-Crime Center und der Protecta-Society in der Hörspielstaffel beibehalten und um ein Krankenhaus erweitert, vor allem der Wald und das Versteck der Aktivisten als Teil des Umlands entfallen aber auf Ebene der Erzählung. Anders als bei 3 % und The Man in the High Castle bleiben die eingangs dominanten Handlungsräume aber nicht gleichermaßen präsent: Das Stuttgarter Zentrum macht auch in der zweiten Staffel einen Großteil der Erzählzeit aus, während das Umland in den Hintergrund gerät. Dies kann interpretiert werden als Symptom der Übermacht von Konzernen wie der Protecta Society, die geographisch eher mit dem Zentrum Stuttgarts verbunden sind. Im pessimistisch stimmenden Serienfinale wird angedeutet, dass das Unternehmen den die Ermittlungen um Johanna und Prenzinger leitenden Kommissar besticht und somit eine Aufklärung der eigenen kriminellen Handlungen verhindert.22 Das Raumerzählen von Alpha 0.7 ist ebenso eng mit der regelhaften Einteilung in Erzähleinheiten verwoben, wie das der Serie 3 %, allerdings ist es in dieser Serie vor allem ein Handlungsraum, das Stuttgarter Zentrum, der topographische Kohärenz zwischen zwei Staffeln unterschiedlicher Medien stiftet.

Transmediales Raumerzählen Verdichtung und Expansion verlaufen nicht nur intraseriell, sondern für ausgewählte Serienräume auch transmedial. Dies wurde bereits anhand von Alpha 0.7 deutlich: Die Dichte an geographisch voneinander entfernten Handlungsräumen innerhalb der zweiten im Vergleich zur ersten Staffel ist wahrscheinlich auf die günstigeren Produktionsbedingungen des auditiven im Vergleich zum audiovisuellen Medium zurückzuführen. Die zweite Staffel von Alpha 0.7 dokumentiert vor allem die auditive Qualität des Serienraums und verstärkt den Eindruck räumlicher Dynamik, da sich die Serientopographie innerhalb des gleichen Universums in ein anderes Medium ausbreitet. Die Webserie Gone: A Wayward Pines Story, die als prequel die Serie Wayward Pines erweitert, verdichtet den Handlungsraum der zukünftigen Kleinstadt und den der Leitungsräume im Bergmassiv analeptisch: Sie werden präsentiert, vor bzw. während ihres Entstehens als Ort der letzten Menschen und Spielraum des totalitären Regimes.23 Die Webserie entfaltet ihren eigenen Raum eher linear von einer unbekannten US-amerikanischen Stadt bis hin zum Zielpunkt des Bergmassivs in Idaho und betreibt somit zugleich die Expansion anderer Territorien innerhalb der storyworld. Auch Trepalium wird transmedial ergänzt: Im interaktiven Hörspiel werden Stadt und Zone verdichtet, da deren Entstehung dokumentiert wird.24 Die prequels zu Wayward Pines und Trepalium liefern nicht nur ergänzende Informationen zu bekannten Räumen, sie verbreitern sie gewissermaßen 22 23 24

Vgl. Alpha 0.7, S2E6, »Revolution«. Vgl. u.a. Gone: A Wayward Pines Story, S1E7, »Finding the Mountain« bis S1E10, »Dedication«. Vgl. Cadène/Mardon 2016 [interaktives Hörspiel als prequel zu Trepalium].

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

und wirken an ihrer Mehrdimensionalität mit. Insbesondere Trepalium macht Zone und Stadt multimedial für die Rezipienten greifbar, da die eingesprochenen Tagebucheinträge von Hector, dem autodiegetischen Erzähler des Hörspiels, durch Zeichnungen, Flugblätter und Briefe ergänzt werden. Aus dieser Fülle von Informationen zur Semantik, Topologie und Topographie des sich entwickelnden Serienraums aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen medienspezifischen Darstellungen können die Rezipienten ein umfassendes mentales Modell von Stadt und Zone generieren. Als transmediale und zugleich extratextuelle Ausbreitung des Serienraums kann schließlich die Werbekampagne von Amazon Prime für die erste Staffel der Serie gedeutet werden, im Zuge derer ein Waggon der New Yorker U-Bahn mit fiktiven Flaggen der Japanese Pacific States sowie des American Reich gestaltet wurden.25 Die Modifikation der Serienräume im Rhythmus narrativer Einheiten lässt Vorhersagen über den weiteren Handlungsverlauf zu. Vom Ende der Serie aus betrachtet bzw. mit dem Wissen um ihr jeweiliges Finale lassen sich die Auswahl und Kombination von Handlungsräumen, wie sie für The Man in the High Castle, 3 % und Alpha 0.7 protokolliert wurden, auf den dramaturgischen Verlauf hin lesen, wie bereits aufgezeigt wurde. Zugleich erweckt die Etablierung erzählzeitlicher Muster räumlicher Verdichtung und Expansion vor dem Abschluss der Serie die Erwartung, die Handlung verliefe in immer neuen Etappen weiter, auch wenn die Erzählung bereits an ihr Ende gelangt ist. Diese Illusion wird selbst im Finale von The Man in the High Castle aufrechterhalten, wenn sich in der Lackawanna Kohlemine ein Portal zur alternativen Welt eröffnet, das beiderseitig betretbar ist. Auch 3 % endet mit der Illusion der fortbestehenden Diegese, kommuniziert aber deutlich das Ende der Narration.26 Und auch Wayward Pines weckt aufgrund des vorhergehenden Revivals der Kleinstadt die Hoffnung, die letzten Menschen würden sich auch diesmal vom Angriff der Abbies erholen. Im Gegensatz dazu suggeriert die Beschränkung auf wenige wiederkehrende Schauplätze auch die Endlichkeit serieller Erzählungen: Als mini series mit sechs Episoden ist die Handlung von Trepalium ohnehin beschränkt; die Werkhaftigkeit, die die Serie durch den engen Ausstrahlungszeitraum an zwei dicht aufeinanderfolgenden Terminen erhält, wird durch die Begrenzung der Handlungsräume jedoch weiter verstärkt.27 Adkins konstatiert, dass literarische und filmische Welten im Vergleich zu seriellen begrenzt sind: »A dystopian or post-apocalyptic novel or film might contain enough space to explore one or two potential political systems, but ultimately both are limited by the fact that they must come to an end«.28 Fernsehserien verfügten jedoch über eine höhere Offenheit und ermöglichten es, Geschichten und somit auch Universen auszuweiten.29 Diese Beobachtung leuchtet unmittelbar ein und findet auch in den hier vorgestellten Analysen des Raumerzählens serieller Dystopien Bestätigung. Die zweite These Adkins zur Ausbreitung von Serienwelten zeigt jedoch, worin der Unterschied

25 26 27 28 29

Vgl. hierzu IV.1.2.4 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu IV.4 in dieser Arbeit. Vgl. zur Ausstrahlung von Trepalium III.3 in dieser Arbeit. Adkins 2018, S. 90f. Ebd., S. 90f.

329

330

IV. Analyse der Serienräume

post-apokalyptischer und dystopischer Welten besteht und warum es sich lohnt, postapokalyptische und dystopische Erzählungen voneinander zu differenzieren: Its form [die Form der Serie, Anm. F.K.] demands that »resolutions« must always be undone. By necessity, the post-apocalyptic television series does this especially well, pushing deeply into the social and political questions it raises and at the same time pushing against the physical boundaries of its imagined reality.30 Die Annahme einer unendlichen seriellen Handlung – also eine bereits für die Erzählung isolierte Menge an Ereignissen, Akteuren, Konflikten etc. im Unterscheid zum Geschehen oder zur Diegese31 – mag vielleicht für post-apokalyptische Fiktionen wie The Walking Dead und Jericho zutreffen, also Serien, in denen Figuren auf der Suche nach lebenswerten Gesellschaften sind und um ihr Überleben kämpfen. Raum und Welt dieser Erzählungen bieten das Potential für die Verlängerung und unvermittelte Variation der Handlung, weil nach der Katastrophe alles unbekannt und potentiell gefährlich ist. Auch auf Serien, die dystopische Gesellschaften innerhalb post-apokalyptischer wastelands platzieren, wie Wayward Pines, mag die Unendlichkeits-These von Adkins zutreffen, was sich an dem wiederkehrenden Wiederaufbau der Handlungsräume vor Beginn der Basiserzählung von Wayward Pines und am Ende beider Staffeln deutlich zeigt. Die Minimalhandlung vieler kritischer Dystopien und insbesondere der hier untersuchten fünf Kernserien, die sich auf despotisch regierte Gesellschaften konzentrieren bzw. solche, die sich in diese Richtung entwickeln, besteht aber aus einem Konflikt zwischen oben und unten, zwischen einem despotischen Regime auf der einen und Rebellen, Aktivisten oder Widerständlern auf der anderen Seite. Dieser Konflikt kann pausiert oder temporär beendet werden und wiederaufleben, was einen zyklischen Wiedergang der seriellen Erzählung und räumlicher Muster zur Folge hätte.32 Anders als in post-apokalyptischen Serien gibt es in den kritisch-seriellen Dystopien, die die Möglichkeit der Systemveränderung und Revolution bewusst offenhalten, für diesen Konflikt aber sehr wohl ein erwartbares Ziel – womit nicht gemeint ist, dass die Serie nicht wieder aufgenommen und fortgesetzt werden kann. Eben weil die Handlung in Wayward Pines (mindestens) ein Ziel verfolgt, enden beide Staffeln jeweils mit dem Tod des Kleinstadtdiktators und der Hoffnung auf ein demokratischeres Zusammenleben, werden in den Erzählenden von The Man in the High Castle und Trepalium die jeweiligen totalitären Systeme zerstört oder zurückgedrängt und wird am Ende von Alpha 0.7 die Bestrebung der Protecta Society, Bürger weltweit zu kontrollieren, zumindest vorerst vereitelt. Serielle Dystopien des Post-TV haben also ein Handlungsende, das sie mitunter sogar schon zu Beginn der Serie kennen: Hierauf weist die Analyse der Erzählanfänge der fünf Kernserien hin, in denen sich der jeweilige Serienraum als Nährboden relevanter Handlungskonflikte erweist.33 Was nicht final ist, ist die Diegese serieller Dystopien inklusive des Serienraums – diesen muss die Serie auch

30 31 32 33

Ebd., S. 91. Zum Begriff der Handlung vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 25. Vgl. hierzu IV.3.3 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu IV.2.2.1 in dieser Arbeit.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

nicht in Gänze kennen, wenn sie am Anfang ihrer Entwicklung steht, wie im Folgenden aufgezeigt wird.34

3.2 Der unzuverlässige Raum 3.2.1 Suggestion der Statik Die Entfaltung und Entwicklung der Räume offenbaren die Unabgeschlossenheit des Serienraums sowie die Volatilität seriellen Erzählens. Anders als bei abgeschlossenen Texten ist der Serienraum nie vollständig, muss aber den Eindruck erwecken, als sei er kontinuierlich und homogen.35 Bei neuen Orten und Räumen muss die Serie also immer vorgeben, dass die unterschiedlichen Räumlichkeiten schon immer Teil der Diegese gewesen seien und dass sie ihre gesamte, im Verlauf der Narration zu entfaltende fiktive Topographie bereits zu Beginn der Narration kennte. Auch Dystopie-Serien des Post-TV müssen nach Lösungen für dieses Dilemma suchen. Einige serielle Dystopien spiegeln dieses narrative Problem auf diegetischer Ebene, da die jeweiligen Regime den Eindruck erwecken, als sei das Territorium der dystopischen Gesellschaft sich selbst genug, wobei die Außenwelt für die meisten Bewohner unbekanntes Terrain ist oder sie an dessen Erkundung nicht interessiert sind. Beispielhaft hierfür dürfte die Mehrzahl der Bewohner von Maralto in 3 %, der Stadt in Trepalium und der Kleinstadt in Wayward Pines sein. Die Regime anderer Dystopie-Serien zeigen wiederum einen deutlichen Expansions-Drang, wie die Militärs des japanischen Kaiserreichs und die Funktionäre der Nationalsozialisten in The Man in the High Castle. Die Instabilität und Prozesshaftigkeit von Serienräumen ist bei den Serien am höchsten, deren Produktion unabgeschlossen ist. Ungeachtet dessen bilden serielle Dystopien des Post-TV Strategien aus, mit denen sie den Eindruck der räumlichen Statik, Homogenität und Kohärenz beibehalten, während sie sich de facto aber auf unbekanntes Terrain begeben, das sie im Moment der fernseh-seriellen Präsentation erst entwickeln.36 An den Enden und Anfängen von Staffeln, den Bruchstellen seriellen Erzählens, werden Expansionsbedürfnis der Serien sowie die Suggestion einer kohärenten und homogenen Welt besonders deutlich. Wie bereits aufgezeigt wurde, eröffnen 3 %, The Man in the High Castle, Alpha 0.7 und Wayward Pines an den Enden von Staffeln rudimentäre oder deutliche Ausblicke auf neue Räume und legen damit das Fundament für die Schauplätze der weiteren Episoden. Sie überdecken damit die destruktive Kraft des Intervalls und die prekäre Situation, in der sich Serien als kommerzielle Produkte befinden, da sie sich der jeweiligen Verlängerung zum Zeitpunkt der Staffelproduktion oft nicht sicher sein können und von dem Wohlwollen von Zuschauern und Akteuren abhängen, die an der Produktion und Distribution beteiligt sind. Die Veröffentlichung

34 35 36

Vgl. hierzu IV.3.2 in dieser Arbeit. Damit teilt der Serienraum eine Gemeinsamkeit mit dem diegetischen Raum des Films; vgl. Schmidt 2013b, S. 117. Vgl. O’Sullivan 2019, der darauf hinweist, dass neben anderen Elementen das world-building im Verlauf der seriellen Erzählung verändert werde; ebd., S. 52. Vgl. hierzu auch II.1.1.1 in dieser Arbeit.

331

332

IV. Analyse der Serienräume

von Räumen als teaser auf die jeweils folgende Serienwelt einer potentiellen neuen Staffel vermittelt den Eindruck, als kennte die Serie ihren weiteren Verlauf und als würde der diegetische Raum unabhängig von der seriellen Erzählung und der Auswahl von Teilräumen existieren. Zugleich sind diese ›Vorabveröffentlichungen‹ des Serienraums dazu gedacht, Erwartungen und Neugierde bezüglich einzelner Schauplätze, Figuren und Ereignisse zu generieren und in Folge dessen die Bindung der Zuschauer an die Serie über die Wartezeit auf die Fortsetzung hinweg zu erhöhen. Ein weiteres narratives Werkzeug, mit dem der Illusionsbruch der Staffelpause überdeckt und die Stabilität des Serienraums suggeriert werden kann, ist die Karte. Sie wird besonders deutlich an den seriellen ›Bruchstellen‹ von 3 % eingesetzt. So werden jeweils eine zweidimensionale Darstellung der Insel Maralto in Relation zum Festland (Anfang der ersten Staffel, vgl. Abb. 31), ein dreidimensionaler Überblick der Insel, isoliert vom sie umgebenden Meer (Anfang der zweiten Staffel, vgl. Abb. 32) sowie eine dreidimensionale Abbildung des Territoriums um den Slum, das Processo-Gebäude und den geplanten Standort der Concha (Ende der zweiten Staffel, Abb. 33) gezeigt. Die kartographischen Erfassungen eint, dass sie elektronisch erstellt und gespeichert sind und mittels Lichts in den leeren Raum vor die jeweiligen Betrachter projiziert werden. Die mal mehr, mal weniger hoch über dem Boden schwebenden Darstellungen wirken flüchtig und zugleich, aufgrund klarer Linien oder geographischer Daten, wie zu Beginn der ersten Serienepisode, präzise. Diese intradiegetischen Raumdarstellungen weisen proleptische Funktionen auf, weil sie Räume zeigen, die erst im späteren Verlauf der Erzählung zu Schauplätzen der Handlung werden. Zugleich bezeugen sie die Existenz von Topographien, die bis zu diesen Darstellungen weder durch die Zuschauer noch die Mehrheit der Protagonisten erfahren werden konnten. Daran wird einerseits die supplementäre Funktion der Karte in Film und Fernsehserie deutlich, weil sie prägnant darstellen kann, wo die »eigene[] bildliche[n] Möglichkeiten« beider audiovisuellen Medien »an ihre Grenzen stoßen«.37 Andererseits ist an den beschriebenen Bruchstellen der Staffeln von 3 % zu erkennen, dass »der Bezugsgegenstand durch […] die Karte erst mit hergestellt wird«.38 Die jeweils repräsentierten Räume existieren zum Zeitpunkt ihrer Präsentation also überwiegend virtuell, auf der Karte, in sehr begrenzten Darstellungen und sicherlich in dem bislang nicht audiovisuell präsentierten Teil der Diegese – als Handlungsräume und -orte werden sie aber erst ausführlich später erfahrbar (Maralto) oder intradiegetisch konstruiert (Concha). Die Authentifizierungsfunktion der Karte wird am Ende der zweiten Staffel von 3 % herausgefordert. Zu sehen sind hier das Tal, in dem sich der Slum befindet, sowie die Gebäude des Processo und der Concha, die jeweils links und rechts des Tals auf dem Bergkamm stehen (vgl. Abb. 32).39 Bis zu diesem Zeitpunkt gab es innerhalb der Serie aber nicht mehr als Andeutungen für die massive Wüste, die sich in Panorama-Einstellungen der zweiten Staffel bis an den Horizont erstreckt. Allein durch das genaue Studium der ersten Karte der Serie (vgl. Abb. 31), establishing shots des Processo-Gebäudes40 oder einen

37 38 39 40

Vgl. Ernst 2014, S. 281 sowie II.2.5 in dieser Arbeit. Ernst 2014, S. 282. Der Screenshot der Abbildung wurde nachträglich aufgehellt. Vgl. 3 %, S1E6, »Capítulo 06: Vidro«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Verweis auf die Wasserknappheit in einer Analepse gegen Ende der zweiten Staffel lässt sich erahnen, dass das Festland weitestgehend verdorrt ist und kaum Vegetation bereithält.41 Darüber hinaus macht aber auch erst die Kartendarstellung am Ende der zweiten Staffel deutlich, dass das Terrain, auf dem die Concha angeordnet sein soll, dauerhaftes menschliches Leben und Wohnen zulässt.42

Abb. 31 (links): 3 %, S1E1, »Capítulo 1: Cubos«, 00:06:16; Abb. 32 (rechts): 3 %, S1E1, »Capítulo 10: Sangue«, 00:43:08.

Abb. 33: 3 %, S2E1, »Capítulo 1: Areia«, 00:01:28.

Abgesehen davon, wie gut die Serie den Raum der Wüste mit ihren anderen Handlungsräumen verzahnt und somit den Eindruck von Kohärenz erzielt, bleibt die Karte am Ende der zweiten Staffel aufschlussreich, weil sie die Zuschauer bewusst in den Aufbau des Serienraums einbezieht. Denn die abgebildete Concha ist ein intradiegetischer

41 42

Vgl. 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar«. Weitere Inkohärenzen hinsichtlich der unvermittelten Existenz der Wüstenlandschaft über dem Slum ergeben sich im Rückblick auf die Pilotepisode, in der Rinnsale mit Wasser von der Felswand laufen, über der, glaubt man der Darstellung in der dritten Staffel, nichts als Sand existieren soll; vgl. 3 %, S1E1, »Capítulo 01: Cubos«.

333

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IV. Analyse der Serienräume

architektonischer Entwurf des eutopischen Projektes, dokumentiert aber zugleich extradiegetisch die Planung eines pro-filmischen bzw. pro-seriellen Raums für die folgende Staffel und verweist somit auf die Offenheit der Serie und ihre Abhängigkeit von Faktoren der Produktion und Distribution. Die bereits an anderer Stelle beschriebene große Anzahl an Karten,43 die in den fiktiven Räume serieller Dystopien vorliegt, aber auch establishing shots sollen die Statik und Kontinuität der diegetischen Welt bekräftigen: So sind Schulen, Büros und öffentliche Orte in The Man in the High Castle mit Modellen der scheinbar objektiv vermessenen fiktiven Welt ausgeschmückt.44 Räumliche Überwachungstechniken, wie sie in Alpha 0.7, 3 % und Wayward Pines vorkommen, implizieren, dass die fiktive Welt ein kartographierbarer und unveränderlicher Ort sei. Auf Ebene des seriellen discours sind es establishing shots, die seriellen Dystopien eine genaue Ortskenntnis und Zuverlässigkeit bezüglich ihrer Schauplätze attestieren: Dies wird in den detaillierten Ortsangaben in The Man in the High Castle deutlich, in Ortseinführungen, die intradiegetische Toponyme auf Straßenschildern und Hausfassaden in den Blick nehmen, wie in Wayward Pines und Trepalium, aber auch im Wechsel zwischen verschiedensten Schauplätzen mit großen Distanzen durch eine scheinbar omnipräsente Erzählinstanz.45 Das Ausstellen von Karten und die genannten narrativen Darstellungstechniken erwecken den Eindruck, als kennten serielle Dystopien ihre jeweilige Geographie genau und als könnten sie die Rezipienten in sorgfältig ausgewählte und von der Narration unangetastete Orte führen. Raumkohärenz wird in den seriellen Dystopien darüber hinaus über die Mise en Scène generiert, die i.d.R. über mehrere Staffeln hinweg einen einheitlichen look ausbildet. Dieser ist in allen drei Serien mit mehr als einer Fernsehstaffel durchgehend erkennbar: In The Man in the High Castle wird Raumkohärenz u.a. durch die Kennzeichnung der Handlungsräume Pacific States, Neutrale Zone und American Reich durch wiederkehrende Farben,46 die Verwendung von Stellwänden in Innenräumen sowie die exzessive Anhäufung von Dekors-Elementen und scheinbar überflüssigen Artefakten generiert.47 3 % gestaltet den Slum weitestgehend wiedererkennbar durch leere und zerstörte Bauten und das Recycling verschiedenster Materialien. Wayward Pines’ Mise en Scène verfügt hingegen nicht über einen ebenso hohen Wiedererkennungswert, erzeugt aber – wie die beiden anderen Serien auch – durch die Auswahl weniger Handlungsräume und die Wiederholung intraserieller landmarks den Eindruck von Homogenität.48

3.2.2 Vorboten des Chaos Paradoxerweise markieren serielle Dystopien zugleich die Volatilität ihrer Raumentwürfe mit den Mitteln, mit denen sie die Statik ihrer Topographien suggerieren wollen. Be-

43 44 45 46 47 48

Vgl. IV.1.1.2 in dieser Arbeit. Vgl. u.a. The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave« sowie S2E6, »Kintsugi«. Vgl. hierzu IV.1.1 in dieser Arbeit. Vgl. Boughton zit. in Morgan 2016. Vgl. hierzu die Analyse zu The Man in the High Castle in IV.1.2.1 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu die Analysen zu Wayward Pines in IV.1.1.1 sowie IV.1.2.3 in dieser Arbeit.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

reits die Auswahl der Raumausblicke am Ende der ersten Staffeln von The Man in the High Castle, 3 %, Alpha 0.7 und Wayward Pines deutet die Fluidität der seriellen Topographie an. Es handelt sich hierbei um vage, flüchtige und begrenzte Darstellungen, die auf die Unsicherheit der Produktion und der Fortsetzung der seriellen Erzählung schließen lassen. In den letzten Sekunden des Finales der ersten Staffel von 3 % ist die Unterwasserfähre zu sehen, die sich im Meer auf die Insel zubewegt.49 Aus der Perspektive der Passagiere ist die Inselküste schemenhaft zu erkennen: Lichter scheinen aus der dunklen Umgebung hervor, die horizontal an der Küste angeordnet sind, und deuten auf eine dichte Bebauung hin. Dazwischen ragt ein hoher Körper empor, an dessen Spitze ebenfalls eine Lichtquelle angebracht ist, möglicherweise ein Leuchtturm. Genaue Informationen zur Gesellschaft der Insel, zu Baustilen oder dem Verhältnis zur Natur fehlen aber. The Man in the High Castle eröffnet zwei neue Räume, Berlin und das alternative San Francisco der 1960er Jahre, am Ende der ersten Staffel. Beide werden aber nur kurz und anhand weniger Orte eingeführt und bleiben somit vage. Wayward Pines erhebt gar nicht erst den Anspruch, einen neuen Raum etablieren zu wollen: Am Ende der ersten Staffel erscheint die Stadt vollkommen unberührt von dem Angriff der Abbies, die einzige Veränderung stellt eine Statue des Stadtgründers David Pilcher dar. Alpha 0.7 stellt unter den hier verhandelten Serien mit mehr als einer Staffel eine Ausnahme dar, da Fernsehund Hörspiel-Staffel im Abstand von nur drei Monaten veröffentlicht wurden und die Serie somit ihre Fortsetzung bereits während der Distribution der ersten Staffel kennt. Dennoch lässt sich hier die Vagheit des Raumausblicks als serielle Konvention nachvollziehen, wenn sich die Protagonisten am Ende der ersten Staffel an einem denkbar flüchtigen Ort befinden, nämlich einer Landstraße.50 Die Fluidität der seriellen Topographie wird weiterhin im Kontrast zwischen dem Ende der abgeschlossenen und dem Beginn der folgenden Staffel deutlich. Obgleich die Aufnahmen am Ende der dritten Staffel von 3 % äußerst schemenhaft sind, lässt sich erkennen, dass es sich um einen eher urbanen, dicht bebauten Raum handeln muss. Die filmischen Einstellungen, mit denen ab der zweiten Staffel die Insel präsentiert wird, zeigen aber die Koexistenz domestizierter Naturräume mit einer behutsamen Bebauung. Eine ähnliche Differenz ästhetischer Raumgestaltung zwischen verschiedenen Staffeln liegt bei den anderen seriellen Dystopien nicht vor. Die Platzierung und Struktur schriftlicher Ortsangaben in The Man in the High Castle ändert sich von Staffel zu Staffel und markiert so die Prozesshaftigkeit der Erzählung und des Raums, auf den sie verweisen. Während extradiegetische schriftliche Angaben in der ersten Staffel ausschließlich in der Bildmitte platziert werden und ihre Statik durch unbewegliche oder nur minimal mobile Kameraführungen unterstrichen wird,51 wird die Existenz von Aufnahmemedium und Bildschirm in Szeneneinführungen der dritten Staffel dadurch hervorgehoben, dass die Kamera merklich auf- und ab-

49 50 51

Vgl. 3 %, S1E8, »Capítulo 08: Botão«. Vgl. Alpha 0.7, S1E6, »Prenzinger«. Vgl. hierzu die Analysen zu The Man in the High Castle in IV.1.1.3 und IV.1.2.2 sowie IV.1.2.3 in dieser Arbeit.

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IV. Analyse der Serienräume

fährt, während die Schrift in der Bildmitte verbleibt.52 Weitere Änderungen der establishing shots ab dieser Staffel betreffen die Platzierung der Ortsangaben im Bildraum, die von da an wahlweise zentral oder im unteren Drittel stehen, sowie die Veränderung von Raumbezeichnungen wie z.B. »American Reich« statt »Greater Nazi Reich« für den Teil der ehemaligen USA, der von den Nationalsozialisten besetzt wurde.53 Die Dynamik von Räumen, die die hier untersuchten seriellen Dystopien zu verbergen suchen, wird durch Karten nicht nur verdeckt, sondern paradoxerweise auch markiert. Die Variation von Repräsentationsmodellen von Raum und ihre Überarbeitung in den opening credits sowie die serielle Erweiterung von Karten und plastischen Modellen von Raum innerhalb der Episoden macht erst auf die Prozesshaftigkeit des Serienraums aufmerksam. Die Veränderbarkeit von Raum wird in den opening credits von The Man in the High Castle auf mehrfache Weise ausgestellt.54 Die Überschreibung des Globus durch eine Kartenprojektion steht symbolisch für die Besatzung der USA durch die Achsenmächte und somit für den Wechsel politisch-gesellschaftlicher Systeme innerhalb eines geographischen Raums. Die feindliche Übernahme der US-amerikanischen Gesellschaft wird auch durch die Projektion von Kriegsbildern und der Ikonographie von Japanern und Deutschen auf Artefakte augenscheinlich, die für Regionen und die Nation stehen. Dadurch illustriert sie die diegetische Veränderbarkeit von Raumsemantiken und den Wechsel politischer Sphären. Der Akt der Überdeckung verschiedener medialer Räume – einer plastischen und einer zweidimensionalen Karte – sowie die doppelte Dynamisierung, die sich aus dem beweglichen Licht-Bild der Karte und der filmischen Inszenierung von Globus und militärischer Karte ergibt, referiert ebenfalls auf die Verformung und Bewegung des fiktiven Raums im Prozess des fernseh-seriellen Erzählens. In den opening credits der zweiten und dritten Staffel wird die Kartendarstellung um ein weiteres Repräsentationsmodell von Raum ergänzt, nämlich einen plastischen Entwurf von ›Germania‹ bzw. des Regierungsviertels im fiktiven Berlin.55 Die Erweiterung um das Modell korrespondiert mit der Expansion der Serienwelt in das German Reich und markiert somit die staffelbedingte Ausbreitung des Raums (vgl. Grafik 2, 3). Auffallend ist, dass dieses Modell einen doppelten Status hat: Es bezieht sich zum einen auf reale historische Entwürfe des Architekten Albert Speer über den Umbau Berlins, die ihrerseits aber nie konkretisiert wurden. Zum anderen referiert es auf einen innerhalb der Diegese realen Raum. Das Modell in den credits ist somit sowohl ein realer, aber nicht realisierter Entwurf als auch ein Abbild eines imaginären Raums. Die filmisch-seriell inszenierte Miniaturstadt verweist auf die Künstlichkeit des Serienraums sowie auf dessen Volatilität. Ein Miniaturmodell, dass auf den Handlungsraum referiert, wird auch in den opening credits beider Staffeln von Wayward Pines präsentiert. Während das Modell in den credits von The Man in the High Castle jedoch distanziert und mit langsamen Kamerabewegungen inszeniert wird, die es museal und erhaben erscheinen lassen, wird die Nachbildung der Kleinstadt in Wayward Pines dargestellt wie eine ›echte‹ Kleinstadt

52 53 54 55

Vgl. u.a. The Man in the High Castle, S3E1, »Now More Than Ever, We Care About You«. Vgl. ebd. Vgl. hierzu IV.2.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. The Man in the High Castle, S2E1, »The Tiger’s Cave«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

in Film und Fernsehserie, was vor allem auf die schnellen Wechsel zwischen kontrastierenden Einstellungsgrößen und – perspektiven zurückzuführen ist.56 Die Figuren in den Straßen und Häusern symbolisieren zentrale Charaktere wie Ethan oder Sheriff Pope und die ausgewählten Orte wie Hauptstraße, Holzbänke inmitten von Pinienbäumen oder Frontalansichten von Häusern mit Vorgarten und Veranda. Sie erinnern somit an die opening credits von Soaps und Familienserien, die selbst in Kleinstädten spielen,57 ohne, dass der unheimliche Charakter der Serie dabei verdeckt würde. Bei dieser Nachahmung von Kleinstadt-Darstellungen wird die Artifizialität der credits durch die inszenierte Haptik der Materialien des Miniaturmodells, die bedrohliche Musik und inszenierte ›Störungen‹ in der filmischen Aufnahme wie Unschärfen und Überblendungen hervorgehoben. Sie ergeben eine postmoderne Geste, mit der die Serie auf die Gemachtheit ihres Raums verweist,58 signalisieren aber auch, dass Miniaturbauten die serielle Ausdehnung von Raum aufgrund ihrer Begrenztheit und Statik nicht abbilden können. Dies wird nicht zuletzt in den geringfügigen Variationen der credits der ersten in der zweiten Staffel deutlich.59 Die opening credits der bisher erschienenen Staffeln von 3 % beinhalten immer eine Karte, die symbolisch für den zentralen oder neuen Handlungsraum der jeweiligen Staffel steht. Zudem sind alle kartographischen Darstellungen sowohl extradiegetisch als auch diegetisch, da sie in einer Episode der jeweiligen Staffel vorkommen. Die ersten credits zeigen die Karte aus dem cold opening der Pilotepisode; sie bleibt in allen Serienintros von 3 % erhalten. In den zweiten credits wird die Karte des Slums gezeigt, mit der Joanna und Silas nach einer Botschaft des ›Alten Mannes‹ suchen. Sie wird überschrieben mit einem weiteren Raumentwurf, nämlich mit dem Grundriss des unterirdischen Kontrollraums, in dem Michele verschiedene Entdeckungen zum Gründerpaar und ihrem Bruder macht.60 Die dritten credits zeigen schließlich eine dreidimensionale Karte, die Slum, Processo-Gebäude und Concha beinhaltet und der Karte aus der letzten Episode der zweiten Staffel ähnelt. Die Aneinanderreihung verschiedener Karten im Rhythmus von Staffeln bezeugt die Prozesshaftigkeit des Serienraums. Die Ergänzung der jeweiligen Karte durch eine folgende bestätigt zugleich, dass dieses Medium die sukzessive Anreicherung der Zeit im Serienraum und dessen Dynamik nicht abbilden kann. Ebenso wie in den credits von The Man in the High Castle als auch von Wayward Pines wird in den Serienintros von 3 % deutlich, dass Karten die Topographie serieller Dystopien, aber auch anderer Langzeitserien mit episodenüberspannenden Handlungsbögen nicht zuverlässig beschreiben. Sie kennen nicht den gesamten Raum der Serie von Beginn an und müssen ergänzt und überarbeitet werden, weil der Raum der nächsten Staffel eben nicht mehr der gleiche ist.

56 57 58 59 60

Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home«. Vgl. z.B. die opening credits von Nothern Exposure (1990–1995), USA: CBS, Creators: Joshua Brand/ John Falsey, die – neben einem Elch – ebenso die Stadt selbst ohne Menschen inszenieren. Vgl. Adkins 2018, S. 62ff. Vgl. hierzu Wayward Pines, S2E1, »Enemy Lines«. Vgl. 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar«.

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IV. Analyse der Serienräume

Abb. 34 (links): Plakat zur 1. Staffel von The Man in the High Castle;61 Abb. 35 (rechts): Plakat zur 4. Staffel von The Man in the High Castle.62

Abb. 36: Werbeplakate zu den Veröffentlichungen der jeweiligen Staffeln von 3 %.63

61 62 63

O.A. (o.A.): The Man in the High Castle Poster 2. In: goldposter.com. https://www.goldposter.com/8 0493/full/, aufgerufen am 20.10.2020. O.A. (o.A.): The Man in the High Castle – Pictures. In: imdb.com. https://www.imdb.com/title/tt174 0299/mediaviewer/rm398297089/, aufgerufen am 18.07.2020. Vgl. o.A. (o.A.): Date Announcement Banner 1. Staffel 3 %. In: Internet Movie Database. https://ww w.imdb.com/title/tt4922804/mediaviewer/rm2791260928, aufgerufen am 09.11.2020; o.A. (o.A.): Date Announcement Banner, 2. Staffel 3 %. In: Internet Movie Database. https:// www. imdb. com /title/tt4922804/mediaviewer/rm92884480, aufgerufen am 09.11.2020; sowie o.A. (o.A.): Date Announcement Banner 3. Staffel 3 %. In: In: Internet Movie Database. https://www.imdb.com/title /tt4922804/mediaviewer/rm3596785665, aufgerufen am 09.11.2020.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Neben den opening credits verraten auch andere Paratexte der Dystopie-Serien, dass der Serienraum keineswegs unabhängig vom Prozess der Erzählung als gleichsam vorgefertigte Fläche existiert, sondern vom Verlauf der Erzählung und der Erzählzeit abhängt. Plakate und andere Werbebildern, die die jeweils neue Staffel ankündigen, sind Symptome für die Fragmentierung dystopischer Räume auf narrativer und diegetischer Ebene und dokumentieren die Regeln, nach denen der Raum erzählt wird. Noch mehr als Karten, Ausblicke auf Räume an den Enden von Staffeln oder establishing shots sind sie Vorboten der unkontrollierbaren, chaotischen Raumentwicklung. So wird auf einem Werbeplakat für die erste Staffel von The Man in the High Castle beispielsweise im Hintergrund die Karte der geteilten USA aus den opening credits der Serie aufgerufen, ebenfalls mit den jeweiligen Emblemen der staatlichen Territorien sowie dem von schräg oben einfallenden Licht, dass die Darstellung aus den credits charakterisiert (vgl. Abb. 34). Plakate für die vierte und letzte Staffel zeigen u.a. John Smith, der mit einem beschädigten Union Jack in der Hand vor einer Kulisse zerstörter Wolkenkratzer mit Nazi-Emblemen kniet (vgl. Abb. 35). Beide Plakate stellen topologische Modelle bzw. Orte aus, die wiederum in Kombination mit der jeweiligen Figur und vor dem Hintergrund der jeweiligen Staffelhandlung bestimmte Ereignisse und Konflikte andeuten. Während die Karte im Plakat der ersten Staffel auf die Aneignung des geographischen und kulturellen Raums durch Japaner und Deutsche verweist, referiert das Plakat der vierten Staffel auf den Niedergang der faschistischen Diktatur und zugleich das Ende der seriellen Erzählung. Die Progression, die im Vergleich beider Plakate deutlich wird, indiziert wiederum die Kulmination der Handlung sowie die serielle Verformung der storyworld. Um einiges deutlicher referieren die Werbebilder von 3 % auf die Flexibilität des Serienraums, da sie explizit die Handlungsräume repräsentieren, die die Erzählzeit der jeweiligen Staffel dominieren (vgl. Grafik 4, 5) und als paratextueller Verbund selbst eine sich fortsetzende Topographie konstruieren (vgl. Abb. 36): In der Heterogenität der Räume einzelner Staffeln wird offenbar, dass Serienräume fragmentiert und fluide zugleich sind und es kann angenommen werden, dass sie einer Vielzahl ästhetischer, ökonomischer und produktionstechnischer Entscheidungen unterliegen. Die Variation der Räume zeigt, dass sich die Umstände der Produktion in die Ästhetik und Narration der Serien einschreibt.

3.3 Fundament und Fassade serieller Dynamik Die Flexibilität der Räume serieller Dystopien wird durch genretypische Raumgestaltungen begünstigt und zugleich gespiegelt. Dystopische Räume mögen zwar stereotype Gestaltungsmittel und Erscheinungsformen aufweisen. Doch insbesondere die Vielzahl an physischen und semantisch-topologischen Grenzen und Gegensätzen zwischen Systemvertretern und -befürwortern, zwischen Räumen hoch über und tief unter der Erde bieten das ›Material‹, das die Vervielfältigung von Räumen und Orten mit zunehmender Erzählzeit erst ermöglicht. Unter dem Einfluss der Level-Strukturen von Computerspielen werden neue Räume oder Orte innerhalb bekannter Regionen in der jeweils neuen Staffel und Episode platziert oder gar nach dem Schwierigkeitsgrad für Figuren ange-

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IV. Analyse der Serienräume

ordnet. Letzteres gilt für Juliana in The Man in the High Castle, Michele in 3 % und Johanna in Alpha 0.7. Alternativ wird die Räumlichkeit in der folgenden Staffel wiederholt, der Protagonist aber ausgetauscht, als solle die Endlichkeit menschlicher Akteure und die Unbezwingbarkeit des Spielraums bezeugt werden, wie anhand von Ethan und Theo in Wayward Pines zu sehen ist. Zugleich zeigt die Strukturierung des Raums durch die Rahmung mittels Episoden und Staffeln, dass die Topographie auf Ebene der histoire fragmentiert sein muss, um sich für ein Erzählen in Segmenten zu eignen. Nur, wenn die Räume der initialen Staffel Potential für Entfaltungen bereithalten, können Expansionen oder Verdichtungen in den folgenden Segmenten plausibel erscheinen. Diese Korrespondenz zwischen storyspace und discourse-space liegt in vergleichbarer Form z.B. in dokumentarischen Serien vor, die pro Episode einen anderen Handlungsraum auswählen und inszenieren. Damit beispielsweise in der kulinarischen Dokumentations-Serie Zu Tisch in jeder Folge eine andere Region Europas präsentiert werden kann, muss der in der Serie aufgespannte Raum überhaupt erst verschiedene Regionen bzw. Handlungsräume aufweisen.64 Insbesondere Dystopien mit ihren unzähligen physischen und semantischen Grenzen bieten hierfür einen ausgiebigen Fundus: Sowohl traditionelle Dystopien wie The Time Machine und Nineteen Eighty-Four als auch kritische Dystopien wie Logan’s Run, aber auch gegenwärtige Dystopie-Serien wie The Maze Runner und The Hunger Games erschaffen Peripherien und Zentren, die wiederum in weitere semantisch voneinander abweichende Teilräume untergliedert sind, und greifen somit auf ein Modell fragmentierter Topographien zurück und schreiben es fort.65 Dies gilt auch für die seriellen Dystopien dieser Arbeit: The Man in the High Castle differenziert die fiktive Welt in streng abgegrenzte politische Zonen, die sowohl mit Zentren der Macht als auch Orten des Widerstandes durchzogen sind. Zugleich bewahrt die Serie auch nach der finalen Staffel eine überwiegend unerzählte Fläche der fiktiven Welt sowie unzählige alternative Welten. 3 % nutzt die Ausschnitthaftigkeit der bislang präsentierten Topographie, die sich auf das Festland in Küstennähe sowie die Insel beschränkt und ebenso unentdecktes Territorium bereithält wie Wayward Pines. Diese Serie verharrt überwiegend in der Kleinstadt, dem Bergmassiv und in der unmittelbar an die Enklave angrenzenden Wildnis. Auch die Repeat-Strategie des Raums in Wayward Pines, also dessen Zerstörung und anschließender Wiederaufbau als Kopie, korrespondiert mit dem narrativen Segment der Staffel und ermöglicht erst die Ausbreitung der Erzählung und sukzessive Verdichtung von Raum. Dennoch ist das räumliche Material, aus dem serielle Dystopien zur Generierung ihrer Topographien schöpfen, endlich. Dies wird im Vergleich zu den elaborierten transmedialen Erzähluniversen der Science-Fiction und Fantasy deutlich. Die storyworld des Star Wars-Franchise und die storyworld, die sich aus The Hobbit, The Lord of the Rings von Tolkien und weiteren Erzählungen dieses Kosmos aufspannt, werden jeweils in verschie-

64 65

Ähnlich verhält es sich mit dokumentarischen Serien, die die Lebensräume einzelner Tiere erforschen oder Urlaubsorte vorstellen. Vgl. Wells 2003 [1895].

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

denen Medien weiterentwickelt und adaptiert,66 wodurch sie ihre sorgfältige und weitreichende Planung und ihre »encyclopedic capacity« unter Beweis stellen.67 Im Vergleich dazu ist die Mehrheit serieller Dystopien zu deutlich auf den Konflikt zwischen Gut und Böse sowie eine Handvoll größerer semantischer Sphären beschränkt. Zudem sind Dystopien stärker an fiktive Entwürfe des potentiell Möglichen gebunden und haben nicht die Freiheit der Science-Fiction oder Fantasy, Ausbrüche in bisher unbekannte Welten und Räume durch semi-wissenschaftliche Rhetorik oder Magie zu begründen. Ausnahmen bilden Dystopien, die starke Überschneidungen mit der Science-Fiction oder postapokalyptischen Narrationen aufweisen: So werden alternative Welten ab dem Ende der ersten Staffel von The Man in the High Castle immer weiter entfaltet und die Ausbreitung in verschiedene Zeit-Räume in Wayward Pines wäre ohne die technische Erfindung der Kammern zur Kryokonservierung nicht möglich. Die Eignung dystopischer Räume für ihre serielle Weiterentwicklung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie anschlussfähig für Expansionen und Verdichtungen sind. Sie müssen zugleich hinreichend vage, aber gut geplant sein. Ob dem so ist, stellt sich erst im Nachhinein heraus, kann aber bereits angebahnt werden. In der zweiten Staffel von The Man in the High Castle ersinnt John Smith den Plan, seinen an einer vererbten Krankheit leidenden Sohn vor dem eigenen Regime zu schützen, indem er ihn nach Buenos Aires schickt und durch einen inszenierten Angriff des jüdischen Widerstandes in den Anden in Sicherheit bringen lässt.68 Durch dieses – letztlich gescheiterte – Vorhaben Smiths wird Lateinamerika, dass überwiegend der Neutralen Zone zugerechnet wird, bereits als Raum etabliert, der kaum durch die Militärs und Spione des Nazi Reich kontrolliert wird. Folglich erscheint es auch plausibel, dass Smiths Konkurrent Rockwell in der dritten Staffel auf Kuba auf dessen Auftrag hin ermordet wird, ohne, dass Smith eine Untersuchung oder Repressionen fürchten muss.69 Selbst Serien, die nicht expandieren, bleiben mitunter offen für Erweiterungen um neue Regionen: Dies wird anhand der mini series Trepalium deutlich, in der immer wieder von einem vermeintlich besseren Leben im Süden die Rede ist, an den Lisbeth schließlich am Ende der Serie reisen will.70 Mit Blick auf eine mögliche Weiterentwicklung von Serienräumen erschließt sich auch, warum die Vorausdeutungen auf Räume am Ende vorheriger Staffeln so vage sind und warum eine detaillierte Ausgestaltung fiktiver Territorien in Karten meist ausbleibt (z.B. in The Man in the High Castle) oder immer nur begrenzte Ausschnitte zukünftiger Räume und Orte zu sehen sind (z.B. in 3 % und Wayward Pines). Die Fluidität des Raums serieller Dystopien korrespondiert mit Handlungsmustern und Weltentwürfen kritischer Dystopien. Der zyklisch-serielle Wechsel aus Statik und Dynamik bzw. Chaos und Ordnung ist der kritischen Dystopie eingeschrieben, in der

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Vgl. für Star Wars u.a. die jüngste Erweiterung der storyworld durch die Serie The Mandalorian (2019-), USA: Disney+, Creator: John Favreau; für The Lord of The Rings die angekündigte Serie The Rings of Power (2022-), USA: Amazon Prime Video, Creator: Patrick McKay/John D. Payne. Ryan 2013, S. 383. Vgl. The Man in the High Castle, S2E6, »Kintsugi«. Vgl. ebd., S3E5, »The New Colossus«. Vgl. Trepalium, S1E6.

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IV. Analyse der Serienräume

die dystopische Gesellschaft häufig auf einen politischen Umsturz oder eine Naturkatastrophe folgt, die dann aber wieder von innen heraus destabilisiert wird. Vielen kritischdystopischen Serien geht eine Form der Katastrophe voraus, zu Beginn der Basiserzählung sind die dystopischen Gesellschaften aber starr und totalitär. Im Laufe der seriellen Narration erfolgt wieder ein sozialer Dynamisierungsprozess, der sich entlädt. Dies ist bis auf Alpha 0.7 bei allen hier untersuchten Serien der Fall.71 Der sich wiederholende Prozess aus Katastrophe, Ordnung und Katastrophe bzw. Chaos, Statik und Chaos schlägt sich wiederum im Serienraum nieder, der sowohl vergangene Katastrophen als auch gegenwärtige Statik und Umwälzungen spiegelt. Gerade in der lustvollen Zerstörung der etablierten, aber erstarrten Räume, die die dystopische Macht repräsentieren, liegt eine weitere Gemeinsamkeit mit Computerspielen: Der Endgegner sowie sein materieller Besitz, die räumliche Umgebung, müssen als Ausdruck des epochalen Umsturzes demontiert werden. Dies wird sichtbar in den finalen Auseinandersetzungen von The Man in the High Castle, Trepalium und Wayward Pines und 3 %. Hierin liegt sowohl ein Höhepunkt räumlicher Überbietung, der mit der Zerstörung des Raums und somit einem besonderen Exempel für Ereignishaftigkeit daherkommt. Aus Perspektive der kritischen Dystopie ist dies aber wieder eine Art ›Stunde Null‹, in der für einige eine eutopische, für andere eine dystopische, neue Welt entsteht. Zugleich schlägt sich die Flexibilität des Serienraums in der Inszenierung von Landschaften und Städten nieder: Zu Beginn der Basiserzählungen wirken die Machtzentren architektonisch und aufgrund ihrer filmischen Inszenierung erstarrt, monumental, die Peripherien hingegen sind durch prekäre und poröse Bauten geprägt. Im Verlauf der seriellen Erzählung nimmt die Destabilisierung der diegetischen Räume immer weiter zu und kulminiert in der Zerstörung politisch repräsentativer Bauten.72 Sowohl kritische Dystopien als auch serielle Erzählungen sind auf Dynamik und Unabgeschlossenheit ausgerichtet: Die kritische Dystopie bricht mit der Statik traditioneller Dystopien, in dem sie durch Rebellen, eutopische Enklaven oder durch analeptische Erzählungen vormals besserer Welten alternative Gesellschaften als Kontrastfolien bereitstellt oder gesellschaftliche Umstürze präsentiert. Häufig endet sie offen und delegiert das Weiterdenken der dystopischen Erzählung, zugleich aber auch das Formulieren von Problemlösungen an die Rezipienten weiter. Serielle Erzählungen zeichnen sich wiederum durch Segmentierung und Unabgeschlossenheit aus. Die Prozesshaftigkeit als gemeinsames Merkmal von Serie und kritischer Dystopie beeinflusst einerseits die diegetischen Räume, wird andererseits aber auch durch die narrative Struktur des Raums begünstigt. Auf diegetischer Ebene müssen die Räume und Orte serieller Dystopien zu Beginn der Erzählung zwangsläufig die Statik des Systems widerspiegeln. Sie können dies pointiert tun, in dem ihre scheinbare Unangreifbarkeit und Monumentalität bereits den

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In The Man in the High Castle wird analeptisch vom erfolgreichen Angriff der Japaner und Deutschen erzählt, in Trepalium von Bürgerkrieg und Massenarbeitslosigkeit, wobei die Wasserknappheit auch das Schwinden von Ressourcen in der Vergangenheit impliziert, und der Kleinstadtgründung in Wayward Pines gehen Umweltschäden und genetische Mutationen der Menschen voraus. Vgl. hierzu IV.2.3.4 in dieser Arbeit.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Sturz des Systems vorausdeutet.73 Die Fragmentierung des diegetischen Raums kommt auch durch die poröse Materialität und die prekären Architekturen der Räume serieller Dystopien des Post-TV zum Ausdruck. Hierbei ist an die heruntergekommenen Ghettos in Trepalium und 3 %, die Überreste der menschlichen Zivilisation in Wayward Pines und schließlich an die dramatischen Zerstörungen in der gleichen Serie sowie in Trepalium zu denken. Auch geheime Gänge, Tunnel und unterirdische Verstecke kommen in allen fünf Serien vor, und destabilisieren die scheinbar statischen Räume auf Ebene der histoire von innen heraus. Zugleich deuten sie die Prozesshaftigkeit der Serienräume an. Dies kommt besonders in The Man in the High Castle durch die Minen in der dritten Staffel zum Ausdruck, die zum einen ein Ort geheimer und unmoralischer Handlungen, zum anderen aber ein Zugang zu parallelen Welten darstellen und somit die storyworld in Richtung anderer Entitäten aufbrechen. Diese Brüche innerhalb der jeweiligen fiktiven Welten sind zwar durch Genre und Handlung bedingt, können aber auch als Symptom der sukzessiven filmisch-seriellen Präsentation interpretiert werden, die Schauplätze für die Zuschauer temporär oder wiederholt audiovisuell erfahrbar macht und dafür andere scheinbar in Vergessenheit geraten lässt. Das Anwachsen bzw. die Dynamik des discourse-space geht mit der Verdichtung des story-space in extreme Richtungen einher: So werden unter- und oberhalb der bekannten Territorien serieller Dystopien zunehmend Tunnel und unterirdische Verstecke generiert, ebenso wie Wolkenkratzer in extremen Höhen. Selbst wenn diese Orte bereits am Anfang der seriellen Erzählung präsentiert werden und somit nicht die Ausbreitung des Serienraums belegen, markieren sie von Beginn an den Anspruch serieller Dystopien, sich bis in entlegenste Winkel der fiktiven Welt hinein auszudehnen. Ihre diegetischen Räume erstrecken sich in alle Richtungen, sind sowohl horizontal als auch vertikal und stehen somit für die intraserielle und transmediale Proliferation der Narration. Exemplarisch hierfür stehen die vielen unterirdischen Räume, die vor allem in der zweiten Staffel von 3 % vorkommen,74 der Wolkenkratzer des SS-Headquarters und die Minen in The Man in the High Castle,75 die Verstecke im Wald, die in drei aufeinanderfolgenden Episoden von Alpha 0.7 erkundet werden sowie die Schlupfwinkel der Verfolgten in der zweiten Staffel der selben Serie.76

3.4 Intra- und transserielle Überbietungen dystopischen Raumerzählens Sowohl in der zunehmenden Expansion und Verdichtung dystopischer Serienräume als auch in der finalen Zerstörung der jeweiligen Machtzentren spiegeln sich Selbstüberbietungsstrategien und Raummodelle von Computerspielen wider. Sudmann definiert Überbietung als »exponierte Steigerung (serien)ästhetischer Distinktionsmerkmale als 73 74 75 76

Vgl. hierzu IV.2.2.1 sowie IV.2.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu neben den Verstecken der Rebellen den Bunker in 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar« sowie den Datenspeicherraum in S2E10, »Sangue«. Vgl. The Man in the High Castle, S4. Vgl. Alpha 0.7, S1E2, »Schizophren« bis S1E4, »Auf der Flucht« sowie Büttner/Hohengarten 2010–2011 [Hörspiel-Staffel als Fortsetzung von Alpha 0.7], S1E1, »Neuanfang« sowie S1E2, »Vertrauen«.

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IV. Analyse der Serienräume

folgenreiches Zusammenspiel medialer Qualitäten und Quantitäten«, an der »nicht nur menschliche Akteure beteiligt [sind], sondern auch Paratexte, Institutionen, materielle Ressourcen, Archive, technische Infrastrukturen oder geographische Gegebenheiten«.77 Die Räume serieller Dystopien sind auf Ebene des discours nach Schwierigkeitsgraden teleologisch für zentrale, bewegliche Figuren angeordnet und bilden häufig eine LevelStruktur, wie sie in Computerspielen vorliegt. Während 3 % diese Struktur über die im Rhythmus neuer Staffeln hinzutretenden Handlungsräume selbst ausstellt, ist sie in den anderen Serien nur über die Pfade einzelner Figuren erkennbar. In The Man in the High Castle durchschreitet Juliana die dominanten Räume der Diegese von San Francisco in die Neutrale Zone, das American Reich, in die alternative Welt und schließlich wieder ins American Reich, um in Kooperation mit verschiedenen Rebellengruppen die Herrschaft von Japanern und Nazis zu brechen. Ähnliche Pfade bilden sich auch für andere bewegliche Figuren aus.78 Die räumliche Selbstüberbietung der jeweiligen seriellen Dystopie zeichnet sich bereits anhand der deutlichen Zunahme an Orten und Regionen ab. Die deutlichsten Formen der Überbietung liegen mit der Expansion des Serienraums in Korrespondenz mit je einer weiteren Staffel in 3 % (vgl. Grafik 4,5) und dem Auftreten und Verdichten der Alternativen Welt in The Man in the High Castle vor (vgl. Grafik 2, 3). Aber auch in den anderen Serien übertrifft die Wahl neuer Regionen oder unbekannter Orte innerhalb etablierter Handlungsräume qualitativ oder quantitativ zwangsläufig die vorherigen. So zeichnet sich die zweite Staffel von Alpha 0.7 durch mehrere Expansionen aus (vgl. Grafik 6, 7) während in der zweiten Staffel von Wayward Pines zunehmend Orte innerhalb der Begrenzung aus Zaun und Gebirge erkundet werden.79 Die finale Destruktion dystopischer Machtzentren durch Rebellen oder andere Systemfeinde geht mit dem Endgegner-Motiv von Computerspielen einher und bildet die Kulisse eines Showdowns zwischen widerstreitenden Ideologien und zentralen Akteuren. Neben der physischen Destruktion in The Man in the High Castle liegen die Zerstörungen des Raums und somit die Eskalation als höchste Form der Selbstüberbietung auch in Wayward Pines (Zerstörung der Stadt) und im Finale von Trepalium (Zerstörung von Mauer und Stadtteilen) vor. In ihr entladen sich die bis dato unterdrückte Freiheit und Selbstbestimmtheit der Bevölkerungen oder die Zerstörungswut anderer ausgegrenzter und mitunter dominierter Gruppen wie den Abbies in Wayward Pines, die letztlich eine Allegorie für marginalisierte Bevölkerungsgruppen sind. Zugleich deutet die Destruktion der Handlungsräume den Höhepunkt der Spannung sowie die Beendigung der Erzählung an und bedient somit konventionelle dramaturgische Muster. In den häufig binär strukturierten und durch semantische Gegensätze gekennzeichneten Serienwelten der Dystopien bedeutet die Zerstörung eines semantischen Raumes durch Vertreter eines anderen aber auch, dass dieser ein Vakuum hinterlässt, das entweder durch die siegreiche oder eine neue Gesellschaft gefüllt wird. Genau an diesem Punkt enden

77 78 79

Sudmann 2017, S. 3. Vgl. hierzu IV.2.1.7 in dieser Arbeit. Vgl. u.a. Wayward Pines, S2E2, »Blood Harvest«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

die seriell-kritischen Dystopien aber und überlassen den Rezipienten den ›Wiederaufbau‹ des Serienraums und das Fortschreiben der Handlung.80 Nicht immer muss die Zerstörung des Raums die Coda serieller Selbstüberbietung markieren, sondern kann, wie bei Wayward Pines, selbst zum narrativen Muster werden. Die Serie schließt beide Staffeln jeweils mit der Destruktion des zentralen Handlungsraums ab, diegetisch folgt darauf aber immer wieder der Triumph des Raums über die Akteure. Dennoch folgt auch die Wiederholung räumlicher Destruktion einer Steigerungslogik, da das Finale der zweiten Staffel den Wiederaufbau im Gegensatz zur ersten Staffel nicht vorwegnimmt. Auch die vielen seriellen Dystopien innewohnende Gamification wird in Wayward Pines deutlich, da die jeweiligen Protagonisten ähnlich wie Avatare nach dem Verlieren des Spiels ausscheiden (Ethan am Ende der ersten Staffel), aber mit der gleichen Funktion und in anderer Gestalt wieder an den Ausgangsort zurückkehren können (Theo am Anfang der zweiten Staffel). Die Wiederholung des Raums in der seriellen Erzählung bzw. der diegetisch bereits dreimalige Wiederaufbau von Wayward Pines und der Wechsel zwischen Avataren mit gleicher Figurenfunktion rekurrieren auf die Reset-Funktion digitaler Spiele. Ferner kann Selbstüberbietung auch durch Unterbietungen der Raumpräsentationen unterbrochen und hinausgezögert werden, indem Schauplätze exponiert werden, an denen sich die Helden abseits zentraler Kämpfe regenerieren können und die Handlung neue Schwungkraft gewinnen kann.81 Zu Beginn der dritten Staffel von The Man in the High Castle bietet das Haus der Abendsens Juliana einen solchen Rückzugsort, ebenso wie der Ort in den alternativen USA am Anfang der vierten Staffel. Ähnliches gilt für die Concha, in der Michele für sich und ihre Mitstreiter eine Utopie fernab der Verteilungskämpfe von Slum und Insel aufbaut. Doch auch die Unterbietung von Räumen ist in die jeweilige Steigerungslogik eingebettet, denn die Orte der Regeneration bilden zugleich auch den Ausgang zur Rückkehr der Protagonisten in die Auseinandersetzung mit den Vertretern dystopischer Systeme. Die Rückkehr von Juliana aus der Neutralen Zone in der dritten Staffel von The Man in the High Castle bedient die gleichen Handlungsmuster um Spionage und Widerstand, die vor ihrem Pausieren aktiv waren, findet aber vor ungleich spektakuläreren Kulissen statt. Zu diesen zählt die Stadt Sabra in der Neutralen Zone, ein als Katholiken-Gemeinde getarntes Versteck für Juden, und die PoconutMinen, in denen die Nationalsozialisten Experimente durchführen, um den Zugang zur ›Nebenwelt‹ zu finden.82 Betrachtet man Theo als Wiedergänger von Ethan in Wayward Pines, dann gilt der Schauplatz Hawaii, an dem die zweite Staffel beginnt, ebenso als Rückzugsort für die gleiche Figurenfunktion.83 In diesem Kontext kommt Hawaii ein metafiktionaler Charakter zu, da es scheint, als hätte die Hauptfigur in der Wartezeit zwischen beiden Staffeln an einem klassischen Urlaubsort der realen Welt pausiert, nur 80 81

82 83

Vgl. zur Selbstüberbietung seriellen Raumerzählens in 3 % IV.3.4 sowie IV.4 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu Sudmann 2017, demzufolge eine »Ästhetik der Steigerung […] ab einem bestimmten, aber unbestimmbaren Punkt in Strategien der Selbstparodie, der Reduktion und Abstraktion« umschlägt; vgl. ebd., S. 250. Das Phänomen der Unterbietung engt Sudmann jedoch auf eine Reduktion des Stils bzw. als ästhetische Wertung ein, wenn er sagt, dass er in intraserieller Perspektive nur in Form des Qualitätsverlusts vorliege; ebd., S. 268f. Vgl. u.a. The Man in the High Castle, S3E4, »Sabra«, S3E10, »Jahr Null«. Vgl. Wayward Pines, S2E1, »Enemy Lines«.

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IV. Analyse der Serienräume

um sich an den fiktiven Ort Wayward Pines rückversetzen zu lassen und in anderem Gewand die Handlungen der letzten Staffel zu wiederholen. Die seriellen Dystopien überbieten nicht nur ihre eigenen etablierten Räume und Figurenbewegungen, sondern treten in Konkurrenz zu anderen gegenwärtigen Serien, die sich durch expansive storyworlds auszeichnen. Sudmann zufolge werden »Medientechniken und ästhetische Formen erfolgreicher Serien […], sobald sie als innovativ oder distinktionstauglich in Erscheinung treten, häufig ohne großen zeitlichen Abstand von anderen Serien übernommen. Eben dieser Prozess lässt eine Überbietungslogik erwarten«.84 Obgleich sich synchron »laufende Fernsehserien […] in der Regel nicht wechselseitig« überbieten, »weil ein solcher Prozess als exponiertes Steigerungsgeschehen die ästhetische Integrität der jeweiligen Serie gefährden würde«,85 werden in gegenwärtigen Langzeitserien immer größere räumliche Distanzen erzählt. Unter anderem betonen Sense8, Game of Thrones und The OA die Ortsunabhängigkeit und ungebremste Mobilität von Figuren durch die Quantität an Schauplätzen sowie ihre erheblichen Distanzen, die durch Figuren und Erzählinstanzen mühelos und in hoher Geschwindigkeit überbrückt werden.86 Der Trend des polyzentrischen Erzählens, dem diese drei Serien folgen, wird jeweils um diegetische Phänomene räumlicher Vernetzung ergänzt: Die Serien negieren räumliche Grenzen und Distanzen, indem sie Verbindungen zwischen Akteuren durch neuronale Netze etablieren (Sense8), das Eindringen in den Geist eines anderen darstellen und auf übernatürliche Wesen wie Drachen zurückgreifen (Game of Thrones) oder ihre Figuren Teleportationen vornehmen lassen (The OA). Wie bereits dargestellt, fügen sich auch die hier untersuchten fünf Kernserien in den Trend des polyzentrischen Erzählens vor allem ›neuerer‹ Serien ein. In The Man in the High Castle und Wayward Pines liegen ähnliche Betonungen räumlicher Verknüpfungen auf Ebene der histoire vor, wie in Sense8, Game of Thrones und The OA. Durch die Etablierung paralleler Welten ab dem Ende der ersten Staffel suggeriert The Man in the High Castle die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Raum und ungebremste Mobilität auf Handlungsebene. Wayward Pines wird Teil dieses interseriellen Überbietungswettbewerbes mit Blick auf diegetische Entgrenzung, betont dabei aber stärker die zeitliche als die räumliche Dimension. Durch die Erfindung der Kryokonservierung können die zukünftigen Bewohner von Wayward Pines mehrere Zeiträume problemlos durchschreiten, ohne von der Progression der Zeit in Form von Alterungsprozessen oder den außerhalb des Bergmassivs stattfindenden zivilisatorischen Katastrophen betroffen zu sein. Der Einstieg beider serieller Dystopien in den Überbietungswettbewerb diegetischer Raumüberschreitung, der markanter Weise durch Serien der Fantasy und ScienceFiction geprägt ist (Sense8, Game of Thrones, The OA), wird erst durch ihre Science-

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Sudmann 2017, S. 113. Laut Sudmann muss »interserielle Überbietung […] als Steigerung eines virtuellen Niveaus der Verflechtung von Qualitäten und Quantitäten« gedacht werden, »das zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer größeren Anzahl von Serien konstituiert wird«, wobei zwischen diachroner und quasi-synchroner Überbietung zu unterscheiden ist. Ebd., S. 113f. Ebd., S. 249. Vgl. Sense8 (2015–2018), USA: Netflix, Creator: J. Michael Straczynski/Lana Wachowski/Lilly Wachowski; Game of Thrones, S1 bis S8; sowie The OA (2016–2019), USA: Netflix, Creator: Zal Batmanglij/Brit Marling.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Fiction-Elemente wie parallele Welten oder das ›Einfrieren‹ von Menschen durch lange Zeiträume hindurch ermöglicht.

3.5 Fazit und Diskussion Räume serieller Dystopien des Post-TV werden auf Ebene des discours bzw. im discourse space als multiple Regionen entwickelt, die sich ausbreiten und verdichten können, mal mehr, mal weniger Erzählzeit einnehmen, mit wechselnder Frequenz präsentiert werden und somit auch in unterschiedlichem Maße für die serielle Handlung relevant sind. Sie folgen damit dem Trend polyzentrischen Erzählens gegenwärtiger TV-Serien. Dies gilt auch für andere Dystopie-Serien. Westworld wechselt bereits innerhalb der Pilotepisode zwischen dem Mesa Hub inklusive der Räume, in denen die Hosts technisch überholt werden, und den zahlreichen Orten im gleichnamigen Themenpark. Die Expansion des Serienraums verläuft nicht in dem Sinne linear, dass verschiedene Räume nacheinander erschlossen werden, dennoch findet die Ausdehnung der fiktiven Topographie in Stufen statt, wobei jede neue ›Raum-Station‹ mit einer weiteren Staffel korrespondiert und eine Steigerung der vorherigen impliziert: So folgen auf den Themenpark mit der Kulisse des Westerns in Staffel eins der zerstörte Westernpark, in dem die Hosts nicht mehr den Befehlen der Menschen folgen sowie zwei weitere Parks, The Raj und Shogun World. In der dritten Staffel wird zum ersten Mal in größerem Ausmaß die Außenwelt außerhalb des Delos-Territoriums zum Handlungsraum. Die Verdichtung bekannter Regionen wird in der ersten Staffel handlungsleitend, wenn William als Man in Black nach dem Zentrum des Labyrinths sucht und immer weiter in den Park vordringt.87 Die Mehrzahl der hier untersuchten seriellen Dystopien zeigt eine Tendenz zur Entdeckung unbekannter Räumlichkeiten im Rhythmus jeweils neuer Staffeln und Episoden: Hierzu zählt die Expansion durch neue Territorien, die erst eingeführt werden müssen sowie die Verdichtung mit bisher unbekannten Orten innerhalb bekannter Territorien. Diese Expansionen und Verdichtungen können durch die Handlung motiviert oder darauf ausgerichtet sein, das Interesse der Zuschauer durch die Variation des bekannten Handlungs- und Erzählschemas sowie des Inventars bereits bekannter Räumlichkeiten aufrechtzuerhalten. Während diese Raumveränderungen auf Ebene des discourse space stattfinden, konzentriert sich Wayward Pines auch auf Raumänderungen auf Ebene der histoire bzw. des story space. Dies lässt sich auch durch die narrative Entfaltung der Räume im Rhythmus neuer Staffeln von The Handmaid’s Tale, Westworld, Altered Carbon und, ausgehend vom Staffelfinale, womöglich auch für Snowpiercer bestätigen. Figuren sowie Erzählinstanzen vieler serieller Dystopien des Post-TV sind in hohem Maße mobil und erlauben den Rezipienten die virtuelle Erkundung des Serienraums. Mit Blick auf einzelne Akteure, aber nie auf die Gesamtheit der Figuren und Handlungsorte, können sich Pfade ergeben, deren Entwicklung und sich verändernde Semantik mit 87

Weitere Verdichtungen liegen in der ersten Staffel von Westworld mit der Neukonstruktion von Räumen innerhalb bereits exponierten Terrains vor, wie anhand der neuen Erzählung Fords zu sehen ist.

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IV. Analyse der Serienräume

der physischen und psychischen Entwicklung der jeweiligen Figur korrespondiert. Die stärksten Motive von Figurenbewegung in den seriellen Dystopien sind Flucht, das Vordringen in feindliche Sphären sowie die Rückkehr zum Konflikt zwischen konträren politisch-gesellschaftlichen Ideologien. Dies lässt sich exemplarisch für die zentralen Protagonisten anderer serieller Dystopien bestätigen: So kann June im Finale der zweiten Staffel von The Handmaid’s Tale bis zur staatlichen Grenze Gileads vordringen und ihre jüngste Tochter außer Landes schaffen lassen.88 Allerdings kehrt sie in ihren Ausgangsraum zurück, um auch ihre älteste Tochter vor der ideologischen Erziehung und Frauenverachtung des Regimes zu schützen. Diese Choreographie aus Annäherung an die staatliche und semantische Grenze und die darauffolgende Rückkehr wird im Finale der dritten Staffel unter anderen Umständen wiederholt, wenn June Kinder und Marthas in den Grenzbereich schmuggelt, damit sie Gilead verlassen können, aber selbst zurückbleibt.89 Die Figurenbewegung in Westworld ist weniger einfach zu bewerten: Zwar verlassen die Androiden Dolores, Maeve und Bernhard ihre angestammten Orte und Räume in der ersten bzw. zweiten Staffel und insbesondere Dolores zeigt ein hohes Maß an Mobilität, da sie in der dritten Staffel ihre eigenen Ziele außerhalb des Parks in der realen Welt verfolgt. Es bleibt aber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unklar, inwiefern die Androiden über einen freien Willen verfügen und ihre Flucht sowie alle folgenden Handlungen nicht von Beginn an programmiert wurden, weshalb ein Vergleich mit fiktiven Menschen kaum möglich ist. Die Entwicklung des Serienraums offenbart seine Unabgeschlossenheit sowie die beschränkte Planbarkeit der seriellen Erzählung. Anders als der diegetische Raum abgeschlossener Texte ist der Serienraum nie vollständig, muss aber den Eindruck erwecken, als sei er kontinuierlich und homogen. Serielle Erzählungen stehen vor dem Dilemma, dass sie ihre Räume erweitern oder mit neuen Informationen verdichten, zugleich aber den Eindruck erwecken müssen, als seien die unterschiedlichen Räumlichkeiten schon immer Teil der Diegese gewesen. Dystopie-Serien des Post-TV versuchen diesen Eindruck mit Karten, establishing shots und durch die Anbahnung von Räumen an den Enden und Anfängen von Episode und Staffel zu erschaffen. Paradoxerweise stellen sie dadurch aber erst recht die Veränderbarkeit des Serienraums aus. Karten spiegeln, verneinen und bestätigen die Dynamik und Unabgeschlossenheit dystopischer Serienräume zugleich. Die exzessive Anordnung von Karten in seriellen Dystopien des Post-TV suggeriert, dass die Serie ihren Raum genau kennte. Zugleich weisen aber die Variation von Repräsentationsmodellen von Raum und ihre Überarbeitung in den opening credits sowie die serielle Erweiterung von Karten innerhalb der Episoden auf die Prozesshaftigkeit des Raums hin. Die kartographische Präsentation von Räumen, die audiovisuell noch nicht erfahren wurden, zeugt davon, dass diese (vorerst) nicht existieren. Karten füllen gleichsam im Vorfeld sich anschließender Episoden und Staffeln die weißen Flecken der Seriengeographie aus, die anschließend durch Figuren und Rezipienten virtuell betreten werden können.

88 89

Vgl. The Handmaid’s Tale, S2E13, »The Word«. Vgl. ebd., S3E13, »Mayday«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

Die Flexibilität der Räume serieller Dystopien wird auch durch genretypische Raumgestaltungen begünstigt: Dystopische Räume mögen zwar stereotype Gestaltungsmittel und Erscheinungsformen aufweisen, aber insbesondere die Vielzahl an physischen und semantisch-topologischen Grenzen, die Gegensätze zwischen den Räumen der Systemvertreter und -gegner, Räumen hoch über und tief unter der Erde sowie die Spannung zwischen den isolierten dystopischen Zentren und ihren Peripherien bieten eine Vielzahl möglicher Raumkonstellationen, aus denen geschöpft werden kann, um die fiktive Geographie beliebig zu erweitern und zu verdichten, und im Zuge dessen Handlung zu generieren. Auch die Reset-Strategie des Raums in Wayward Pines, also die Zerstörung der Kleinstadt und die sich anschließende Kopie ihrer Topographie korrespondiert mit der Prozesshaftigkeit seriellen Erzählens. Dieses Potential zur Entfaltung und Verdichtung des Serienraums nutzen vor allem Dystopie-Serien mit längerer Erzählzeit, wie The Handmaid’s Tale und Westworld. Anhand dieser Serien wird deutlich, dass sie aus einem bereits zu Beginn der Serie etablierten räumlichen Horizont schöpfen können. Deshalb sind sie weniger gefährdet, im Zuge räumlicher Expansion den Anschein der Kohärenz, Statik und Homogenität des Serienraums zu stören, wie dies anhand von 3 % aufgezeigt wurde. Die Neu-EnglandRegion, in der June in The Handmaid’s Tale lebt, wird von Beginn an als ein Teil einer größeren Topographie ausgewiesen, die sich in Gilead befindet, das wiederum an ein westlich geprägtes Kanada grenzt und inmitten einer zukünftigen Welt situiert ist, die trotz aller Probleme und Konflikte der extraseriellen Gegenwart nicht unähnlich ist. Folglich erscheint die audiovisuelle Präsentation von Junes Reise nach Washington plausibel und die Gestaltung der Hauptstadt trotz aller grotesker diegetischer Verfremdungen kohärent. Auch die Erweiterung des gleichnamigen Themenparks in der zweiten Staffel von Westworld um The Raj und Shogun World fügt sich in einen implizierten räumlichen Horizont ein, da bereits in der ersten Staffel von Umbauten des Parks Westworld die Rede ist und Shogun World angedeutet wird.90 Ebenso wie in The Handmaid’s Tale mit Washington in der zweiten Staffel ein immer wieder im Hintergrund stehender Raum konkret erfahrbar gemacht wird, erkundet Westworld in der dritten Staffel schließlich die bislang leere Fläche der Serientopographie, nämlich die urbane Welt außerhalb der Themenparks. Beide Serien beginnen bereits mit einem ›Vorrat‹ weiterer Räume, die so früh angedeutet oder impliziert werden, dass ihre Realisierung in den folgenden Episoden und Staffeln die Modifikation des bestehenden mentalen Modells des Serienraums auf Seiten der Rezipienten gestattet, ohne das zusätzlich Inkonsistenzen der Raumgestaltung dabei ›herausgerechnet‹ werden müssten, wie im Fall von 3 %. Dass The Handmaid’s Tale und Westworld über diesen Vorrat an Räumen und Orten verfügen, ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass es sich bei den Serien um Adaptionen früherer Texte handelt, in denen die gezeigten storyworlds bereits etabliert wurden.91

90 91

Vgl. Westworld, S1E10, »The Bicameral Mind«: Maeve und ihre Begleiter dringen in einen Bereich vor, in dem Samurai-Krieger bzw. die Androiden für Shogun World vorbereitet werden. Neben dem Roman The Handmaid’s Tale von Margaret Atwood existierten vor der Serienausstrahlung auch Adaptionen in Film, Oper, Ballett, Theater, Hörspiel und Graphic Novel; vgl. u.a. The Handmaid’s Tale (1990), USA/D, Regie: Volker Schlöndorf [Filmadaption]. Vgl. für einen interme-

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IV. Analyse der Serienräume

Die Fluidität des Raums serieller Dystopien des Post-TV korrespondiert mit Handlungsmustern und Weltentwürfen kritischer Dystopien: Der zyklisch-serielle Wechsel aus Statik und Dynamik bzw. Chaos und Ordnung ist der kritischen Dystopie eingeschrieben, in der das despotische Regime häufig auf einen politischen Umsturz oder eine Naturkatastrophe folgt, im Anschluss aber wieder von innen heraus destabilisiert wird. Dieses Muster ist auch in The Handmaid’s Tale zu erkennen: Ausgehend von den Problemen menschlicher Unfruchtbarkeit, Umweltzerstörung und nuklearer Katastrophen erwächst die Gründungsvereinigung Gileads namens The Sons of Jacob, die aufgrund inszenierter Terror-Angriffe, Einschüchterungen der Gesellschaft und schließlich brutaler Unterdrückung von Frauen, Mitgliedern der LGBTQI-Community und Widerständlern die Dystopie Gileads gründen kann.92 Der Handlung der Basiserzählung in Snowpiercer geht eine massive Erderwärmung voraus, die Wissenschaftler durch die Beeinflussung der Erdatmosphäre einzuhegen suchen.93 Weil dieser Versuch das gegenteilige Extrem hervorbringt, nämlich eine neue Eiszeit, sterben Menschen, Tiere und Pflanzen. Wenige Menschen bekommen einen Platz im Zug von Mr. Wilford zugesichert oder kapern einige Waggons vor Abfahrt der ›eternal engine‹. Die Mehrheit der Passagiere muss sich allerdings dem totalitären Regime der Zug-Gesellschaft unterwerfen. Während die Herrschenden der seriellen Dystopien jeglichen gesellschaftlichen Wandel auszuschließen versuchen, bricht sich der Unmut mit ihrer autoritären Politik in Revolutionen der Aufständigen Bahn und resultiert mitunter im Umsturz der Regierung. Somit schließen sich an die Statik und das Chaos der Vergangenheit die Statik der Dystopie und die Dynamik der Revolution an. Die Flexibilität des Serienraums serieller Dystopien des Post-TV schlägt sich in der Inszenierung urbaner Räume nieder. Zu Beginn der Basiserzählungen wirken die Machtzentren architektonisch und aufgrund ihrer filmischen Inszenierung erstarrt, monumental, die Peripherien hingegen sind durch prekäre und poröse Bauten geprägt. Im Verlauf der seriellen Erzählung nimmt die Destabilisierung der diegetischen Räume immer weiter zu und kulminiert in der Zerstörung politisch repräsentativer Bauten. In dieser symbolisch aufgeladenen Destruktion von Raum sowie der z.T. zunehmenden Expansion und Verdichtung offenbaren sich Selbstüberbietungsstrategien und Steigerungslogiken von Computerspielen. The Man in the High Castle, 3 % sowie Westworld verfolgen diese Steigerungslogik durch die Expansion ihres Serienraums mit jeder weiteren Staffel. Als Spektakel der Zerstörung von Raum tritt eine EndgegnerLogik im Finale von Trepalium, Wayward Pines und The Man in the High Castle zu Tage. Abseits davon kann die Selbstüberbietung auch durch Unterbietungen der Raumpräsentationen unterbrochen werden, indem Räume und Orte eingeführt werden, an

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dialen Vergleich von Roman und Fernsehserien-Adaption anhand des urbanen Raums der storyworld vgl. Moldovan 2020. Der Spielfilm Westworld (1973) wurde neben einem Computerspiel durch einen weiteren Film und insgesamt zwei Fernsehserien adaptiert; vgl. neben dem ursprünglichen Film und der im Fließtext zitierten Serie den Film Futureworld (1976), USA, Regisseur: Richard T. Heffron sowie die Fernsehserie Beyond Westworld (1980), USA: CBS, Creator: Michael Crichton/Lou Shaw. Zur Relevanz des Spielfilms Westworld für die gleichnamige Serie vgl. u.a. Kanzler 2018, S. 58ff. Vgl. zur Genese Gileads u.a. The Handmaid’s Tale S1E6, »A Woman’s Place«. Vgl. Snowpiercer, S1E1, »First, the Weather Changed«.

3. Statik und Chaos – Serielles Erzählen dystopischer Räume

denen sich die Helden abseits zentraler Kämpfe regenerieren können und die Handlung neue Schwungkraft gewinnen kann. Alle hier untersuchten Kernserien, aber auch Westworld, Snowpiercer, The Handmaid’s Tale, Altered Carbon, The City & The City, Electric City und Continuum dokumentieren ihre Zugehörigkeit zum polyzentrischen Erzählen sogenannter komplexer Fernsehserien, im Zuge dessen neben anderen Faktoren auch Räume und Orte der jeweiligen Narration vernetzt werden. Darüber hinaus treten The Man in the High Castle und Wayward Pines in einen weiteren interseriellen Überbietungswettbewerb ein, der darin besteht, auch diegetisch die Grenzen des Raums und immense Distanzen durch genetisch bedingte Fähigkeiten (Sense8), magische Wesen (Game of Thrones) oder andere im weitesten Sinne übernatürlichen Kräfte (The OA) zu überbrücken und zu negieren. Derartige Versuche liegen auch mit dem titelgebenden Zug in Snowpiercer vor, der unermüdlich mit Hochgeschwindigkeit die Erdoberfläche umfährt sowie mit den Themenparks und virtuellen Welten Westworlds, die verschiedenste Realitäten für Androiden und zahlende Kunden in konkreter räumlicher Nähe oder, im Sinne der Heterotopie, in ein- und demselben Raum vereinen.94 Ebenso wie Wayward Pines überschreiten einige Figuren in Altered Carbon Raum und Zeit, da ihr jeweiliges Bewusstsein in neue Körper versetzt wird und somit große Zeiträume überdauern kann.

94

Vgl. zur Heterotopie II.2.4.1 in dieser Arbeit.

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4. Auflösung und Wiederkehr – exemplarische Anwendung des Analysemodells anhand von Maralto in 3 %

Im analytischen Teil dieser Arbeit standen wiederholt Anfänge serieller Dystopien oder einzelner Serienszenen im Fokus. Doch auch die Enden serieller Dystopien geben Aufschluss über rezeptionsästhetische, semantische und narrative Charakteristika ihrer Räume. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelten und erläuterten Kategorien zur Analyse serieller Räume sollen abschließend anhand des Endes eines Handlungsraums, der Insel Maralto in 3 %, zusammengeführt werden, um ihr heuristisches Potential zu verdeutlichen. Diese Insel wird bereits zu Beginn von 3 % als Zielpunkt der Handlung und Kontrastraum zum Slum präsentiert und bestimmt somit durchgehend die Erzählung. Anders als in anderen Serien wird dieser Raum jedoch eigens verabschiedet, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Die Serie wird in Abgrenzung zum Werk häufig dadurch definiert, dass sie einen Anfang, aber kein Ende hat:1 Davon zeugen nicht nur besonders langlebige Formate wie die Daily Soap, sondern auch zahlreiche Wiederaufnahmen von Serien in Form von prequels und sequels sowie die transmedialen Erweiterungen um die Universen der Marvel-Helden oder The Lord of the Rings. Abgesehen von den in Forschung und Feuilleton überrepräsentierten Serien des Quality- und Complex TV bleiben closure und Finale bei der Mehrheit televisueller Serien aus, da diese meist und vor allem aus ökonomischen Gründen schlichtweg abbrechen.2 Gerade in dieser Unfertigkeit zeigt sich das Fragmentarische der Serie, das zwar immer auf das Ganze zustrebt, aber dadurch Vincent Fröhlich und Maren Scheuer zufolge »auch das Fehlen oder das Bruchstückhafte des Ganzen offenlegen« kann.3 Zugespitzt ließe sich sagen, dass sich Serien und Enden gegenseitig ausschließen. Dies gilt umso mehr für kritische Dystopien, die seriell erzählt werden: Denn 1 2 3

Vgl. Eco 2005 [1987], S. 11. Vgl. Kelleter 2012, S. 27; Grampp, Sven/Ruchatz, Jens (2014): Die Enden der Fernsehserien. In: Repositorium Medienkulturforschung 5. S. 1–30, hier S. 10. Vgl. Fröhlich, Vincent/Scheurer, Maren (2021): »And one fragment emerged to me …« Gedanken zur Einleitung. In: Fröhlich, Vincent et al. (Hg.): Serienfragmente. Wiesbaden: Springer, S. 1–28, hier S. 9.

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IV. Analyse der Serienräume

anders als konventionelle Dystopien zeichnen sie sich durch das Offenhalten sozial-politischer Entwicklungen aus4 und delegieren die Lösung gesellschaftlicher Konflikte und somit den Abschluss der Narration an die Rezipienten. Allerdings legen Sven Grampp und Jens Ruchatz dar, dass Serien sich gerade deshalb permanent mit ihren Enden auseinandersetzen, weil deren Bedrohung allgegenwärtig sei.5 Insbesondere Serien, die ihr Ende kennten, stellten dieses Wissen unweigerlich durch vermehrte Analepsen oder metafiktionale Signale aus. Insofern sie [Fernsehserien] eben nicht schlicht abbrechen, also aufhören, artikulieren sie ein Wissen um das Enden, auch wenn sie das jeweilige Ende als nur vorläufig ausflaggen und mit dem lockenden wie tröstenden Versprechen der Wiederkehr unterminieren. […] Regelrecht ein Gesetz der Serie scheint zu sein: Serien hören nicht einfach auf, vielmehr markieren sie deutlich ihr Ende am Ende bzw. als Problem des Endens.6 Beispielhaft für ein solches Wissen um das eigene Ende ist der Schluss der Sitcom The Nanny, in dem die Schauspieler vor das Studio-Publikum treten und sich unter Nennung der Rollen- und Personennamen verabschieden.7 Andere Serien wie zum Beispiel Queer as Folk hören sowohl mit Verweisen auf das Wissen um das eigene Finale als auch mit der Illusion auf, die fiktive storyworld bestehe immer weiter: So tanzen am Schluss der Dramedy drei der Protagonisten im Club Babylon, wodurch an den Beginn der Serie angeschlossen und der Eindruck von Zyklizität erzeugt wird.8 Eines der Serienenden, die am meisten diskutiert werden, ist sicherlich das der Sopranos, das mit seiner offensiven Verweigerung eines Abschlusses sowohl offen für Deutungen bleibt, sich zugleich aber unmissverständlich als Finale zu erkennen gibt.9 Auch 3 % behält die Illusion einer fortbestehenden Gesellschaft aufrecht, die die Trümmer vorheriger sozial-politischer Kämpfe beseitigen muss. Am Schluss der finalen Episode von 3 % kommen die verbleibenden Bewohner des Slums und der Insel zusammen, um in einem basisdemokratischen Verfahren über ihre gemeinsame Zukunft zu beraten. Der Ausgang dieses Prozesses mag ungewiss sein, weshalb nach Grampp und Ruchatz hier ein offenes Ende mit Blick auf die histoire konstatiert werden kann. Der Akt der Narration sowie der discours werden jedoch durch den Schriftzug »Fim«, zu Deutsch »Ende«, am Schluss der Episode unmissverständlich besiegelt.10 Der Abschluss der seriellen Narration in 3 % wird erst durch den lang angebahnten Showdown zwischen privilegierter Inselgesellschaft und verarmter Festland-Bevölkerung ermöglicht. Dieser entlädt sich in der materiellen Zerstörung der Insel-Utopie in der Mitte der finalen Staffel. In deren vierten Episode lässt die Gruppe um Rafael, Joana und Marco ein U-Boot im zentral gelegenen See der Insel explodieren. Durch die 4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Layh 2014, S. 195 sowie II.4.1.1 in dieser Arbeit. Grampp/Ruchatz 2014, S. 5. Ebd., S. 11, 16. Vgl. The Nanny (1993–1999), USA: CBS, Creator: Fran Drescher/Prudence Fraser/Peter Marc Jacobson, S6E22, »The Finale: Part 2«. Vgl. Queer as Folk (2000–2005), CDN/USA: Showcase/Showtime, Creator: Ron Cowen/Daniel Lipman, S5E13, »We Will Survive«. Vgl. The Sopranos, S6E21, »Made in America«. 3 %, S4E7, »Capítulo: Sol«.

4. Auflösung und Wiederkehr

Druckwelle werden die Stromgeneratoren des Eilands so beschädigt, dass radioaktive Substanzen austreten. Die Bürger Maraltos müssen sich in das Ghetto auf dem Festland retten, weil die Insel in wenigen Monaten unbewohnbar wird. In der fünften Episode der finalen Staffel wird Maralto verabschiedet. Zwar wird die Insel zwei Folgen später, in der letzten Episode der Serie, noch einmal zum Handlungsraum, dann allerdings als Teil einer Analepse. Die Schlusszene inklusive Abspann der fünften Episode, die den Titel »Pintura«, zu Deutsch »Gemälde«, trägt, widmet sich dem Abschied von der Insel sowie dem Ende des Rebellen Marco Alvarez.11 Sie ist zugleich die letzte Szene, in der Maralto als Schauplatz gegenwärtiger Handlung präsentiert wird. Diese Szene zeichnet sich durch eine melancholische Atmosphäre und omnipräsente Vergänglichkeitsmetaphorik sowie intraserielle Referenzen auf vorherige Episoden und Staffeln aus und wird im Folgenden zum Gegenstand der exemplarischen Analyse finalen Raumerzählens.

»Not with a bang, but with a whimper« Die gezeigte Szene zeichnet sich unter anderem durch eine apokalyptische Bildsprache aus. Unter dramatisch-düsteren Piano-Klängen wechseln sich Einstellungen ab, die symbolisch für das Ende der Zivilisation auf Maralto stehen: Blätter wehen über ein Smartphone hinweg, das auf einem rissigen Boden liegt; auf einer Wiese befindet sich inmitten welken Laubs ein gelber Damenschuh; und in der folgenden Einstellung sind zwei Wasserpflanzen mit vergilbten Rändern neben der Spiegelung von Palmen zu sehen, während wieder ein Blatt hinabfällt (vgl. Abb. 37–39). Im Gegensatz zur reichen Vegetation der Insel, die sie über mehrere Staffeln hinweg zum intradiegetischen und potentiellen extratextuellen Sehnsuchtsort gemacht hat (vgl. Abb. 40, 43, 44), zeigen diese Einstellungen einzelne Bestandteile von Pflanzen, die beschädigt oder abgestorben sind. In Kombination mit den Artefakten der Inselbewohner, deren Platzierung auf ihre hastige Flucht verweist, stehen die floralen Vanitas-Motive für das Scheitern des Traums von der Symbiose zwischen Technik, Mensch und domestizierter Natur, der auf Maralto zeitweise realisiert wurde. In der folgenden Parallelsequenz werden drei Figuren gezeigt, die ihrerseits für den Niedergang des meritokratischen Gesellschaftsentwurfes stehen: Nair, letzte Vorsitzende des Regierungsrates, befindet sich allein im Saal, in dem seit über hundert Jahren die Vertreter Maraltos über das Schicksal von Insel und Festland entschieden haben, und wartet auf den Tod in Folge atomarer Verstrahlung. Zu sehen ist auch Hector Alvarez, Oberhaupt einer Dynastie von auserwählten Inselbewohnern, der die Reste des finalen Mahls mit seiner Tochter und seinem Enkel Marco abdeckt. Eben jener Marco, der einzige Spross der Alvarez, der nicht als Gewinner eines Wettbewerbs, sondern als Rebell die Insel erreichte, schleppt sich an den Strand, um dort zu sterben. Erst mit den ending credits setzt der Vortrag der ersten Strophe des Songs Último desejo des brasilianischen Samba-Künstlers Noel Rosa in der Interpretation von Mônica Salmaso ein. In dem Lied, dessen Titel sich mit ›Letzter Wunsch‹ übersetzen lässt, wird das betont unspektakuläre Ende bzw. »Morrer«, das Sterben, einer Liebe besungen, deren Anfang auf ein Fest 11

Vgl. hier und im Folgenden 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«.

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IV. Analyse der Serienräume

des Heiligen Johannes datiert wird: »[s]em foguete/ […] Sem luar e sem violão« – ohne Feuerwerk, ohne Mondschein und ohne Gitarren. Diese von christlich-religiöser Symbolik12 und durch den melancholischen Song geprägte Szene wird sowohl visuell als auch auditiv als Finale der Insel markiert. Sie steht darüber hinaus in der Tradition von Katastrophen-Erzählungen wie der Johannesoffenbarung, aber auch der Darstellungen post-apokalyptischer wastelands aus gegenwärtigen seriellen Untergangsszenarien, die u.a. in The Walking Dead, The Rain und Wayward Pines präsentiert werden.13 Abgesehen von der Explosion in der vorherigen Episode, infolge derer die Insel radioaktiv verstrahlt wird, ist der Abgesang auf die Zivilisation in dieser Szene betont unaufgeregt und erinnert an T.S. Eliots Antizipation der Menschheitsdämmerung in The Hollow Man: »This is the way the world ends/Not with a bang, but with a whimper«.14 Die Abschiedsszene von Maralto zeigt eine »kupierte Apokalypse«, die sich laut Hans Richard Brittnacher vor allem auf den Untergang, nicht aber auf eine religiöse Reinigung oder die Hoffnung auf eine bessere Welt konzentriert.15 Dennoch hat der Abschied von Maralto mit der Apokalypse im engeren Sinne gemein, dass er die Entwicklung einer neuen Gesellschaft ermöglicht. Während der Untergang zumindest eines Teils der Menschheit in seriellen Dystopien erst das Fundament der vermeintlich besseren Gesellschaftsentwürfe bietet, wird Maralto als konkreter Schauplatz für unbestimmte Zeit versiegelt. Der Transfer der Inselbevölkerung auf das Festland schafft dann aber doch, durch die Auflösung des privilegierten Raums, eine vergleichbare Ausgangslage: Denn weil mit der Zerstörung der Insel der Untergang des Processo als repressives System eingeleitet ist, ergeben sich sowohl Notwendigkeit als auch Chance für einen sozial-politischen Paradigmenwechsel, wie er in der Schlussszene der finalen Staffel angedeutet wird, und in der sich die Slumbewohner zur Debatte über ihre gemeinsame Zukunft versammeln.16 Somit bewährt sich auch in 3 % ein Gesetz kritisch-serieller Dystopien: Die seriellen Basiserzählungen von The Man in the High Castle und The Handmaid’s Tale, von Wayward Pines, Trepalium und Snowpiercer sowie von The City & The City und 3 %17 setzen zu einem Zeitpunkt ein, an dem die jeweilige Gesellschaft bereits von autoritären oder totalitären Herrscher dominiert wird. Über externe Analepsen wird jedoch deutlich, dass der jeweiligen Dystopie eine liberale Demokratie vorausgeht, deren vermeintliche Hybris in Bürgerkriegen, atomaren oder ökologischen Katastrophen mündet. Das gegenwärtige, je nach Perspektive eutopische oder dystopische System überführt das Chaos der Vergangenheit in ein Korsett aus staatlichem Zwang, wird gegen

12

13 14 15 16 17

Zu dieser zählen neben den Referenzen auf die Johannesoffenbarung die Szene, in der Hector Alvarez die Spuren des ›letzten Abendmahls‹ mit seiner Familie beseitigt sowie die Anordnung Marcos am Strand, die einer Kreuzigung ähnelt. Vgl. The Rain; The Walking Dead. Eliot, Thomas Sterns (2004 [1925]): The Hollow Men. In: Ders.: The Complete Poems & Plays. London: Faber and Faber Limited, S. 81–86, hier S. 86. Brittnacher, Hans Richard (2013): Apokalypse/Weltuntergang. In: Ders./May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler, S. 336–343, hier S. 339. Vgl. 3 %, S4E7, »Capítulo 07: Sol« sowie IV.3.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. Snowpiercer; The Handmaid’s Tale.

4. Auflösung und Wiederkehr

Ende der seriellen Erzählung aber selbst gestürzt. Ähnlich wie in anderen seriellen Dystopien des Post-TV wird durch die Zerstörung Maraltos und die Negierung sozialer Unterschiede an eine vor-utopische Zeit angeknüpft, womit auf diegetischer Ebene eine zyklisch-serielle Struktur etabliert wird.

Zwischen Utopia und Avalon Die Insel ist ein überaus attraktiver Serienraum: Als Topos in Literatur, Film und Fernsehen erweist sie sich offen für unterschiedlichste Semantiken und infolgedessen anschlussfähig für verschiedenste Ereignisse, Konflikte und Handlungen.18 Utopia von Thomas More sowie H.G. Wells Dystopie The Island of Doctor Moreau19 dokumentieren exemplarisch, dass die Bedeutungen von Inseln auch in den Fiktionen des Utopismus von Idyllen bis zu Orten der Verzweiflung reichen. Im begrenzten Raumsystem der Serie 3 %, das neben Maralto nur aus dem Processo-Gebäude, dem Slum und der Concha besteht, werden Impulse für die Serienhandlung durch verlässliche Expansionen gegeben. Doch auch die Variation wiederkehrender Räume, z.B. durch einen Bedeutungswandel, können neue Handlungsstränge und Spannung erzeugen. Als Nährboden der Handlung weist Maralto diese semantische Polyvalenz auf und im Laufe der Serie häufen sich divergierende Bedeutungen im Chronotopos der Insel an: So ist das Eiland innerhalb der ersten Staffel vor allem eine eher unspezifische Projektionsfläche für Erwartungen eines sorgenfreien Lebens. Erst in der zweiten Staffel erfahren Zuschauer und Protagonisten aus nächster Nähe vom Überfluss an Nahrung und dem hedonistischen Lebenswandel, die auf der Insel herrschen. Zugleich wird Maralto zum Ausgangspunkt restriktiver Außenwirtschafts- und Geopolitik sowie zu einem Ort uniformen Sozialverhaltens. Mit dem Angriff der Rebellen in der vierten Staffel, der zur radioaktiven Kontamination des Eilands führt, wird schließlich deutlich, dass das imperiale System, das auf die Ausbeutung und Unterdrückung des Festlandes setzt und eine Ideologie der besseren Menschen propagiert, gescheitert ist. Die gezeigte Szene rückt Maralto deshalb nicht nur in die Tradition von Insel-Utopien, sondern referiert auch auf die Sagen von Atlantis und Vineta als Orte, die aufgrund der Hybris ihrer Bewohner zugrunde gehen.20 Schließlich wird Maralto durch die präsentierte Szene, in der sowohl die vermeintliche Eutopie als auch der tragische Held Marco verabschiedet werden, mit der laut Brittnacher »seit der Antike geläufige[n] Vorstellung von den Inseln als Jenseitsreich« verknüpft – beispielhaft hierfür steht Avalon als letzte Ruhestätte von König Artus.21 Als Ort des Todes wird Maralto allerdings in der finalen Episode reanimiert, und zwar gleich zwei Mal: Den letzten Auftritt hat die Insel in einer externen Analepse als Kulisse der Beerdigung des Gründerpaares des Processo-Systems, in der noch einmal die Vielfalt und Dichte ihrer

18 19 20 21

Vgl. Brittnacher, Hans Richard (2017): Die Insel: Idylle und Desaster. Ein Vorwort. In: Ders. (Hg.): Inseln. München: edition text + kritik, S. 7–17, hier S. 8. Vgl. Morus, Thomas (2014 [1516]): Utopia. Übers. v. Gerhard Ritter. Stuttgart: Reclam; Wells, Herbert George (2005 [1896]): The Island of Dr. Moreau. New York: Bantam Classic. Brittnacher 2017, S. 14. Ebd., S. 13f.

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IV. Analyse der Serienräume

Vegetation als Ausweis ihres eutopischen Charakters erfahrbar werden (vgl. Abb. 40).22 Obgleich die Gäste der Beerdigung sich explizit der zu bestattenden Urne zuwenden, sind sie zugleich an der gegenüberliegenden Uferwand ausgerichtet. Die dort angeordneten Palmen und andere Gewächse scheinen über der Trauergemeinde zu thronen, sind aber doch mit ihr verwoben: Einerseits, weil sich die Inselbewohner durch die akkurate Bepflanzung und den kurz gehaltenen Rasen in sie einschreiben, andererseits, weil diese durch die grünen, blauen und safrangelben Kleidungsstücke die Farben der Vegetation spiegeln (vgl. ebd.). Innerhalb der Gegenwart des Erzählens wird das Eiland schließlich nicht mehr filmisch präsentiert, sondern nur noch als Teil des off-space angedeutet: So begibt sich in der letzten Episode der gescheiterte Despot André per U-Boot auf seine letzte Reise zur mittlerweile kontaminierten Insel, wissend, dass der Sauerstoff an Bord nicht bis zur Ankunft ausreichen wird.23

Der lange Abschied vom Paradies Der Abschied von Maralto kommt nicht unvermittelt, sondern wird seit Beginn der finalen Staffel angebahnt. Am Anfang der vierten Staffel betreten Marco und andere Widerständler die Insel. Offiziell kommen sie als Vertreter der Concha auf diplomatischer Mission, tatsächlich planen sie aber einen Anschlag, der zum Sturz des Processo-Systems führen soll. Bei ihrer Ankunft wird Maralto als locus amoenus präsentiert, der sich durch Parkanlagen mit satten Farben und dichter Vegetation auszeichnet, zugleich werden aber, vor allem durch die in Verbindung mit Maralto ungewöhnliche aggressive Synthesizer-Musik, die bevorstehenden Konflikte zwischen den Systemkritikern und den Inselbewohnern vorausgedeutet. Dieser finale Versuch, die repressive Ordnung zu destabilisieren, ist jedoch der letzte einer ganzen Reihe von Angriffen auf das ProcessoSystem: Denn die Rebellengruppe La Causa schleust bereits in der ersten Staffel mit Michele und Rafael zwei ihrer Vertreter auf die Insel, um die Auswahl der drei Prozent von innen heraus zu destabilisieren, und in der zweiten Staffel streben die Widerständler vergeblich die Sabotage des jährlichen Wettbewerbs an. Die Zerstörung der Insel und ihre Auflösung auf Ebene des discours ergibt sich auch aus der Steigerungslogik, in die die wechselnde Präsentation Maraltos innerhalb der seriellen Erzählung eingebunden ist. Ebenso wie die Concha, die erst in der dritten Staffel als Handlungsraum eingeführt wird, ist Maralto seit seiner Exposition in der zweiten Staffel ein Mittel serieller Variation auf Ebene des Raumerzählens.24 Dieses Muster intraserieller Selbstüberbietung muss Sudmann zufolge jedoch »ab einem bestimmten, aber unbestimmbaren Punkt in Strategien der Selbstparodie, der Reduktion und Abstraktion« umschlagen.25 Vor dem Hintergrund dieser Gesetzmäßigkeit erscheint es konsequent, dass in der finalen Staffel das sukzessiv aufgebaute Rauminventar drastisch re-

22 23 24 25

Vgl. 3 %, S4E7, »Capítulo 07: Sol«. Vgl. ebd. Vgl. IV.3.1.2 in dieser Arbeit. Sudmann 2017, S. 250.

4. Auflösung und Wiederkehr

duziert wird – sowohl durch die Zerstörung der Concha als auch durch die ihres Gegenortes, der Insel Maralto. Eine weitere Steigerungsstrategie betrifft die Präsentation Maraltos als Handlungsraum auf Ebene des discourse space. Sowohl die Frequenz, mit der die Insel in zusammenhängenden Einstellungen als Schauplatz der Handlung vorkommt als auch die Dauer dieser Einstellungen steigen tendenziell mit zunehmender Erzählzeit an, wobei der Anteil der audiovisuellen Präsentation der Insel pro Episode in der finalen Staffel am höchsten ist (vgl. Grafik 4,5). Die zunehmende Präsenz der Insel auf Ebene des discours in der zweiten und vierten Staffel als Teil einer seriellen Selbstüberbietung wird jedoch nicht durch die Vereinnahmung von noch mehr Erzählzeit, sondern durch deren unvermittelte Reduktion überboten.

Archivierung der Dystopie als Eutopie Die finale Szene des präsentischen Maraltos kann schließlich auch als Ausdruck eines serieneigenen Gedächtnisses für den Raum und dessen Relevanz für die Handlung gelesen werden. Zu Beginn der Szene bewegen sich U-Boote von rechts nach links, mit denen die Bewohner zum Festland gebracht werden (vgl. Abb. 41). Es folgt eine PanoramaEinstellung, in der sich die Kamera langsam von der Küste wegbewegt, während die ersten Klänge des Songs Último desejo zu hören sind (Abb. 42). Beide Einstellungen dienen der Zuschauerorientierung und referieren intraseriell auf die zwei Expositionen Maraltos: Zum einen auf die analeptisch erzählte Besiedlung der Insel durch die Forscher zu Beginn der zweiten Staffel, in der zunächst aus der Aufsicht ein sich dicht unter der Wasseroberfläche bewegendes U-Boot vom unteren Bildrand zum oberen bzw. in Richtung der off screen liegenden Insel fährt.26 In der darauffolgenden Panoramaeinstellung ist ein Ausschnitt der Insel in leichter Aufsicht im oberen Bildraum zu sehen, darunter das Meer und darüber ein schmaler Streifen des Himmels.27 Zum anderen wird auf die wiederholte Exposition Maraltos am Anfang der finalen vierten Staffel referiert, in der die initiale Exposition durch die Reise der Widerständler parallelisiert wird: Auch hier ist zunächst das U-Boot zu sehen, allerdings unter Wasser und in Bewegung von links nach rechts, wobei die nächste Einstellung auch die Küste Maraltos zeigt, in leichter Aufsicht und überstrahlt von blendendem Sonnenlicht.28 In den beiden Expositionen wird durch die Bewegung der U-Boote in Richtung des Horizonts bzw. zur rechten Seite des Bildraums indiziert, dass Maralto durch die Figuren, virtuell aber auch durch die Zuschauer betreten, wohingegen in der Abschiedsszene um Maralto durch U-Boote und Kamera eine gegenteilige Bewegung angedeutet wird.29 Ferner sind in der hier ausgewerteten Szene die Reste der Statue des Gründerpaares zu sehen (vgl. Abb. 43), die durch die von Marco und seine Mitstreitern herbeigeführte Explosion zerstört wurde.30 Auch dadurch

26 27 28 29 30

Vgl. 3 %, S2E1, »Capítulo 01: Espelho«. Vgl. ebd. Vgl. 3 %, S4E1, »Capítulo 01: Lua«. Vgl. 3 %, S4E05, »Capítulo 05: Pintura«. Vgl. 3 %, S404, »Capítulo 04: Submarino«.

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IV. Analyse der Serienräume

wird das serieneigene Gedächtnis aktiviert, rekurriert die Statue doch auf den politisch inszenierten Mythos eines vermeintlich philanthropischen Paares. Mit der Einstellung der zerstörten Statue wird nicht zuletzt auch auf die eigene serielle Erzählung und den Akt der Narration zurückgeblickt, weil der Mythos in der zweiten Staffel entfaltet und zu Beginn der vierten Staffel durch die Darstellung eben jener Statue wieder aufgegriffen wird (Abb. 44).31 Diese intraseriellen Verweise funktionieren über den symbolischen und metonymischen Charakter einzelner Darstellungen und deuten bereits an, dass die Serie ein eigenes Gedächtnis besitzt. Die in die Szene eingebettete partielle interne Analepse hingegen, in der Marcos Bewerbungsprozess aus der Pilotepisode aufgerufen wird, ist eine deutliche Referenz auf ein virtuelles Archiv der Serie sowie auf ihr Bewusstsein um das Ende von Maralto als präsentischer Handlungsraum. Darin wird Marco präsentiert, der im Auswahlverfahren um einen Platz auf der Insel zu seinen Erwartungen im Hinblick auf Maralto befragt wird und diese wie folgt schildert: »Eu imagino … que eu vou ser feliz. Estar com a minha família, lá, tranquilo, seguro, realizado. Agora, como? Se tem um monte de árvores, se tem carro que voa, prédio de metal, essas coisas, eu não penso. Mas eu sei que o que tiver lá vai me surpreender«.32 Marcos Vorstellung der Insel als Sehnsuchtsort fällt optimistisch, aber auch vage aus. Seine bereits in der Pilotepisode formulierte Erwartung kann mit Genette als Vorhalt bezeichnet werden – als Allusion und Antizipation zukünftiger Ereignisse.33 Seine Hoffnungen werden jedoch enttäuscht: Keiner der Bewerber um einen Platz auf der Insel wird so gebeutelt wie Marco, der im Auswahlverfahren seine Beine verliert, den seine Mutter verstößt und für den der Sehnsuchtsort zur Todeszone wird. Die Wiederholung der bereits präsentierten Szene verstärkt die Tragik der Figur, setzt zugleich aber dem gescheiterten Gesellschaftsentwurf Maraltos eine eutopische Erzählung entgegen. Diese retrospektive Anknüpfung an die Antizipation des Eilands durch Marco ist Teil einer Konservierungsstrategie der Serie: Maralto, eben noch Ort des Todes, wird durch den vergangenen Vorausblick auf die Insel zu der Projektionsfläche für Hoffnungen auf ein besseres Leben, die das Eiland bereits in der ersten Staffel war. Vom Zentrum der Dystopie wird die Insel zu einem nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich hermetisch abgeriegelten Raum und folglich zur perfekten Eutopie. Diese Deutung wird durch die bereits erwähnte Wiederaufnahme Maraltos in der finalen Episode unterstützt. Im Anschluss an die Beerdigung des Gründerpaares wird dieses von den politischen Verantwortlichen aus allen historischen Dokumenten gelöscht und durch einen Mythos ersetzt. Die Begründung dafür lautet, dass das fehlbare Gründerpaar eine Idee werden müsse – »porque as ideias vivem pra sempre«, weil Ideen ewig leben.34 Ähnlich wie Maralto in der hier

31 32

33 34

Vgl. 3 %, S4E1, »Capítulo 01: Lua«. 3 %, S4E05, »Capítulo 05: Pintura«. Deutsche Übersetzung: »Ich glaube … ich werde dort glücklich sein. Ich werde bei meiner Familie sein, in Frieden, sicher, erfüllt. Aber wie? Ob es viele Bäume gibt oder fliegende Autos, Gebäude aus Metall, diese Dinge, glaube ich nicht. Aber ich weiß, dass mich alles, was da ist, überraschen wird«. Vgl. Genette 2010, S. 45f. 3 %, S4E7, »Capítulo 07: Sol«.

4. Auflösung und Wiederkehr

untersuchten Szene wird auch das Gründerpaar zu einer Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Slum- und Inselbewohner. Exemplarisch für diese Transformation steht die Statue des Paares, die aufgrund ihrer relativ abstrakten Gestaltung keine Rückschlüsse auf konkrete Personen zulässt und von der Administration der Insel nach dem Tod der letzten Mitglieder des eigentlichen Gründertrios aus Samira, Laís und Vítor am Ufer des zentralen Sees installiert wird.35 Analog dazu verfährt die Serie mit Maralto, wenn sie den Handlungsraum final als vergangenes, aber intaktes domestiziertes Paradies präsentiert (vgl. Abb. 40).36

Abb. 37 (links): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:36:08; Abb. 38 (rechts): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:36:12.

Abb. 39 (links): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:36:20; Abb. 40 (rechts): 3 %, S4E7, »Capítulo 07: Sol«, 00:32:43.

35 36

Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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IV. Analyse der Serienräume

Abb. 41 (links): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:35:55; Abb. 42 (rechts): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:36:03.

Abb. 43 (links): 3 %, S4E5, »Capítulo 05: Pintura«, 00:36:24; Abb. 44 (rechts): 3 %, S4E1, »Capítulo 01: Lua«, 00:05:32.

Ende und Anfang – Maralto als räumlicher Wiedergänger? In der hier analysierten Szene aus 3 % erfolgt nicht nur der Abschied Maraltos, sondern zugleich auch eine Reanimation des Handlungsraums. Paradoxerweise erzeugt die von der Serie betriebene Konservierung des Raums zugleich dessen Öffnung für weitere Handlungsstränge: Zwar werden durch die radioaktive Kontamination Handlungen auf Maralto in späteren Wiederaufnahmen durch den Streaming-Dienst Netflix, durch Texte der Fan Fiction oder andere theoretisch denkbare Erweiterungen eher unwahrscheinlich. Dennoch öffnet die Serie durch die Analepse um Marcos frühere Vorstellungen einer Insel-Eutopie Maralto gleichsam nach hinten für bereits abgeschlossene, aber unerzählte Handlungen. Mit der letzten präsentischen Darstellung Maraltos in der hier gezeigten Szene sowie der finalen Präsentation innerhalb der externen Analepse um die Beerdigung der Gründer deutet sich eine narrative zyklische Struktur an, weil die Insel innerhalb der Serie zuerst analeptisch erzählt wurde und sie zudem in einem beträchtlichen Umfang und immer wieder zum Schauplatz vergangener Handlungen wird (vgl. Grafik 8).

4. Auflösung und Wiederkehr

Grafik 8: Analeptische Darstellung Maraltos auf Ebene des ›discours‹ (Werte x-Achse: Episoden; Werte y-Achse: Reichweite externer und interner Analepsen von Maralto, Angaben in Jahren)

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364

IV. Analyse der Serienräume

Diese Szenenanalyse macht deutlich, dass auch abgeschlossene Räume serieller Dystopien ebenso wie beendete oder abgebrochene Serien in der Schwebe bleiben können. Für zukünftige Handlungen bleibt die Insel verschlossen, analeptische Erkundungen ihrer Historie oder auch eine Funktion der Insel als Grenzraum sind aber für potentielle Erweiterungen der Serie 3 % denkbar. Damit steht Maralto exemplarisch für die Räume serieller Dystopien, die nicht enden, sondern sich für Übergänge aller Art anbieten: Denn die jeweiligen letzten Kämpfe zwischen Freiheit und staatlicher Willkür in 3 %, Trepalium und The Man in the High Castle sowie zwischen Monstern und Menschen in Wayward Pines schreiben sich über Einschusslöcher in Häuserwänden, eingestürzte Mauern und Brücken, entgleiste Züge oder die bereits genannte radioaktive Kontamination in die jeweiligen Serienräume ein. Die porösen Bauten und zerfurchten Städte weisen sowohl in die Vergangenheit von Diegese und Narration als auch in die Zukunft der fiktiven Welt, fordern sie doch die Erschaffung einer neuen Gesellschaft ein. Sie markieren intradiegetisch das politische Vakuum, den Zustand zwischen einer gescheiterten und einer noch unbekannten Gesellschaftsform und bieten sich aufgrund ihrer materiellen Unbestimmtheit als Ausgangspunkt einer Vielzahl folgender Handlungen an, die jedoch nicht mehr durch die jeweilige Serie ausformuliert, sondern durch die Rezipienten weitergeführt werden müssen. Insofern markieren und öffnen sie in ihren Enden auch die narrativen Grenzen zwischen Diegese, seriellem Text und Zuschauer.

V. Zusammenfassung und Ausblick

Die Ergebnisse der vorangegangenen Raumanalyse sollen abschließend vertieft und innerhalb ihrer intertextuellen und -medialen Tradition sowie in ihrem historischen Kontext diskutiert werden. Sie erlauben die Zusammenfassung der Charakteristika des Serienraums im Kontrast zum diegetischen Raum abgeschlossener Erzählungen sowie eine Bewertung der Analyseinstrumente. Diese abschließende Zusammenfassung und Vertiefung orientieren sich an den eingangs formulierten Fragen: 1. Synchrone interserielle Perspektive: Welche Gemeinsamkeiten teilen Räume serieller Dystopien im Post-TV bezogen auf ihre audiovisuelle Wahrnehmung und Rezeption, ihre Semantik und ihre narrative Darstellung? 2. Diachrone transmediale Perspektive: Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Rauminszenierungen gegenwärtiger serieller Dystopien und denen dystopischer Hypotexte? 3. Historischer Kontext: Welche gegenwärtigen Raumdiskurse und gesellschaftliche Ängste sind den Rauminszenierungen serieller Dystopien eingeschrieben? 4. Charakteristika des Serienraums: Wie verhalten sich diegetische Räume serieller Erzählungen im Kontrast zu Räumen abgeschlossener Erzählungen? 5. Eignung der Analyseinstrumente: Inwiefern sind die gegenwärtigen Konzepte und Theorien aus Film- und Literaturwissenschaften sowie anderer Disziplinen zur Raumanalyse serieller Erzählungen geeignet?

Da die Charakteristika von Räumen serieller Dystopien des Post-TV bereits innerhalb des Analysekapitels zusammengefasst wurden,37 stehen im Folgenden vor allem die Fragen 2 bis 5 im Vordergrund. Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen bieten jedoch alle hier aufgeworfenen Themenbereiche. 1

Vgl. die jeweiligen Schlusskapitel zu den Themen Orientierung (IV.1.1.4), ästhetische Illusion (IV.1.2.4), Atmosphäre (IV.1.3.3), Raum und Figuren (IV.2.1.8), Raum und Handlung (IV.2.2.4), Raum und Zeit (IV.2.3.5) sowie serielles Erzählen dystopischer Räume (IV.3.5).

1. Räume serieller Dystopien im Post-TV – Rezeption, Semantik, Narration

Die Frage nach den gemeinsamen Merkmalen serieller Dystopien des Post-TV wurde in den zurückliegenden drei Analysekapiteln beantwortet. Einen Überblick über die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchungen sowie eine Überprüfung ihrer Aussagekraft anhand weiterer serieller Dystopien erfolgte im Anschluss an die einzelnen Themenkapitel. Da die ausgewählten Serien insgesamt der Dystopie-Definition im engeren Sinn folgen, wären die hier gewonnenen Ergebnisse in einer weiteren Studie mit den Rauminszenierungen von Dystopien im weiteren Sinn, darunter bspw. The Walking Dead oder The Rain, zu vergleichen. Denn in diesen bestimmen anstelle von gesellschaftlicher Unterdrückung und autoritärer Strukturen vor allem post-apokalyptische Szenarien sowie der Kampf mit dem bedrohlichen Umland selbst die Handlung.1 Insgesamt lässt sich die eingangs aufgestellte These der Entgrenzung durch die gewonnenen Ergebnisse weitestgehend bestätigen. Auf Ebene der Rezeption konnte festgestellt werden, dass die Serienräume vielfältige Immersionsangebote unterbreiten: Hierzu gehören die intra- und transserielle Wiederholung von landmarks, die Vertrautheit mit dem Serienraum erzeugen, die Referenz auf reale Räume sowie die Erzeugung eines räumlichen Wirklichkeitseffektes. Allerdings werden die Rezipienten durch verschriftlichte Ortsangaben, diegetische Verfremdungseffekte sowie die bisweilen selbstreferentielle Mise en Scène immer wieder auf die Gemachtheit der Räume und die Grenze zwischen Realität und Diegese aufmerksam gemacht. Obgleich im Rahmen dieser theoretischen Untersuchung keine Aussagen über die Gratifikation konkreter Rezipienten gemacht werden konnten, ist anzunehmen, dass der Kontrast verschiedener Raumdarstellungen, die Angst, aber auch kathartische Reinigung erzeugende Inszenierung katastrophaler und totalitärer Welten sowie die wiederkehrende Irritation, die durch den Wechsel aus Immersionserfahrungen und der Präsenz der medialen Darstellung zum Genuss bzw. zur Unterhaltung auf Seiten der Zuschauer beitragen können.

1

Zum Raum in The Walking Dead und anderen post-apokalyptischen TV-Serien vgl. Adkins 2018, S. 83–103.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Auf Ebene der Semantik fällt auf, dass die Figuren innerhalb der dystopischen Gesellschaften durch Architektur eingeengt, diszipliniert und kontrolliert werden. Im Gegensatz dazu stehen die semantischen Sphären der Widerständler und die Außenräume, in denen einzelne Akteure frei von den Vorgaben der jeweiligen Regierung oder wirtschaftlicher Unternehmen sind. Die Überschreitung der meist immateriellen Barrieren zwischen Räumen der Systemaffirmation und -gegnerschaft durch die Serienhelden treibt die Handlung voran und hält sie aufrecht. Diese Bewegungen können in der Aufhebung physischer Barrieren oder der Annäherung vormals getrennter Sphären resultieren. Serielle Dystopien isolieren sich temporal u.a. durch Architekturen, die die Ideologie eines politischen Regimes widerspiegeln. Viele dystopische Zentren inszenieren in ihren Bauten die ›neue‹ Zeit der vermeintlichen Eutopie und spalten sich somit sowohl von der diegetischen Vergangenheit als auch der Zukunft sowie alternativen sozial-politischen Entwürfen ab. In Gegenorten und den Peripherien der dystopischen Zentren zeichnen sich hingegen die Spuren des ›tatsächlichen‹ Zeitverlaufs der Diegese ab. In archivarischen Räumen sammelt sich Zeit in Form von Artefakten, analogen Schrift- und Bildmedien oder digitalen Daten. Diese Heterochronien sind für die dystopischen Systeme politisch hochbrisant, weil sie durch ihren historischen Wert von der Vergänglichkeit der Regime zeugen. Auf Ebene des seriellen Erzählens zeigt sich die Entgrenzung des Serienraums am deutlichsten. Durch Verdichtung und Expansion, die Zunahme von Orten und Räumen werden die Enden der fiktiven Topographie beständig nach außen verschoben und bereits verzeichnete Orte weiter konturiert. Serielle Dystopien streben danach, die eigene fiktive Welt weiter auszuleuchten und zu erfassen sowie bekannte Räume durch neue Territorien zu erweitern. Symptomatisch für die Tendenz serieller Dystopien, immer wieder neue Segmente der storyworld freizulegen und zu erschließen, sind die zahlreichen vertikalen Bewegungen, die u.a. in stillgelegte Minen (The Man in the High Castle), Tunnel und Bunker (3 %, Wayward Pines, Trepalium, Alpha 0.7), zu Ausgrabungsstätten (The City & The City), in einen Maschinenraum und tiefliegende Gänge (Snowpiercer) oder auf die Dächer futuristischer Metropolen (Altered Carbon, Westworld, Trepalium) führen. Die Dynamisierung und Offenheit der kritischen Dystopie findet Ausdruck in der meist horizontalen Expansion in außen liegende Regionen und parallele Welten oder aber in dem Anspruch, den gesamten Globus zu erkunden, wie anhand der erdumfassenden Zugfahrt in Snowpiercer deutlich wird. Die Erweiterung aktueller serieller Dystopien zeigt sich nicht zuletzt in der Migration ihrer Räume über Mediengrenzen hinweg, sowohl innerhalb der Kernserie als auch zwischen Kernserie und Paratexten, die die storyworld durch Verdichtung oder Expansion entfalten.2 Mit Blick auf die hohe Verbreitung serieller Dystopien in anderen Medien bliebe zu überprüfen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Merkmalen serieller Dystopien des Post-TV und denen in Serien der Literatur und Graphic Novel, des Films,

2

Zur Verdichtung des Serienraums mittels transmedialer Erweiterung der storyworld vgl. A l’ombre du mur – Journal d’un inutile/Im Schatten der Mauer. Tagebuch eines Nutzlosen als prequel von Trepalium (Cadène/Mardon 2016), zur Expansion vgl. die Hörspiel-Staffel Alpha 0.7 – Der Feind in dir als Fortsetzung der gleichnamigen Fernsehserie (Büttner/Hohengarten 2010–2011).

1. Räume serieller Dystopien im Post-TV – Rezeption, Semantik, Narration

Hörspiels und Computerspiels bestehen. Ein Vergleich bietet sich u.a. mit kinder- und jugendliterarischen Dystopie-Serien an, die z.B. Gemeinsamkeiten mit seriellen Dystopien des Post-TV im Hinblick auf das Raumerzählen, intertextuelle Referenzen auf tradierte dystopische Räume sowie die Gamification des Raums zeigen.3 Zu fragen wäre, ob die jeweiligen dystopischen Topographien stärker durch das Serielle als Formprinzip oder durch wirkmächtige Vorstellungen dystopischer Räume bzw. bestimmte Hypotexte beeinflusst sind. Da diese Texte z.T. deutlich literarische und filmische Dystopien zitieren4 und filmische Inszenierungsmuster imitieren,5 liegt der Verdacht nahe, dass sie geradezu eine intermediale und serienübergreifende Untersuchung verlangen, in der die hier erhobenen Ergebnisse produktiv gemacht werden können.

3

4 5

Vgl. hierzu Kröber, Franz (in Vorbereitung): Stadt, Spiel, Serie. Räume serieller Dystopien der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Dettmar, Ute/Kagelmann, Andre/Tomkowiak, Ingrid (Hg.): Urban! Städtische Kulturen in Kinder- und Jugendmedien. Stuttgart: Metzler. Vgl. für Die Scanner Anselm, Sabine (2015): Buch macht Bildung. Die Scanner von Robert M. Sonntag im Deutschunterricht der Mittelstufe. In: Literatur im Unterricht 2, S. 99–114, hier S. 105–107. Vgl. hierzu die variierende interne Fokalisierung und Multiperspektivität in der Ocean City-Trilogie: Zwar ist der Protagonist Jackson deutlich als dominante Fokalisationsinstanz zu erkennen, allerdings wird beständig zwischen den Wahrnehmungen verschiedenster Figuren gewechselt, wobei mit den Szenen- oft auch Ortswechsel einhergehen. So beginnt z.B. Kapitel 10 in Ocean City – im Versteck des Rebellen mit einer Nullfokalisierung, aus der der Handlungsort der »Ruinenstadt« analog zum filmischen establishing shot beschrieben wird, gefolgt von internen Fokalisierungen über Jackson, Silver, der sich an einem anderen Ort auf dem Festland befindet, und Ambrose di Gallo, der in der ›Burg‹ erwacht; vgl. u.a. Acron 2018b, S. 98–108. In Die Gescannten, dem zweiten Teil der Scanner-Serie, liegt durchgehend eine interne Fokalisierung über den Protagonisten Jaro vor, zu Beginn des Bandes wird die Informationsvergabe aber auch über Tomoko und Arne gesteuert (vgl. Sonntag 2019, S. 33–65) und im Folgenden fast zum gleichen Anteil durch die interne Fokalisation über Nana (vgl. ebd., S. 75ff.).

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2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

Anhand gegenwärtiger serieller Dystopien wird deutlich, dass sich einzelne Raummodelle innerhalb der dystopischen Tradition wiederholen und, in Anlehnung an Denson und Meyers Konzept der seriellen Figur, diachron durch verschiedene Medien und Erzählungen hinweg selbst migrieren.1 Durch intertextuelle Bezüge auf ausgewählte Raumparadigmen der Dystopie wird der Serienraum zum seriellen Raum. Allerdings lässt sich mit Blick auf die hier untersuchten Serien nicht ein einzelner vorherrschender Typus des dystopischen Raums feststellen, auf den sich die Handlungsräume und -orte serieller Dystopien des Post-TV beziehen. Vielmehr ist die Variation an Räumen in der dystopischen Tradition ebenso hoch wie die von Dystopien selbst, die auf die Vielfalt unterschiedlicher Ängste einer Zeit mit verschiedenen fiktionalen Entwürfen antworten.2 Geht man von der These Lathams und Hicks sowie Sobchacks aus, dass bestimmte dystopische Räume und Ausformungen der urbanen Dystopie immer wieder neu aktualisiert werden,3 wird es umso schwieriger, von einem gemeinsamen Genreraum zu sprechen.4 Bereits innerhalb einzelner serieller Dystopien wie The Man in the High Castle kann nicht von einem genrespezifischen Raum die Rede sein: Hier stehen faschistische Architekturen neben der Westernstadt, dem New York der Nachkriegszeit, einer Vorstadtkulisse und Minen, in denen geheime staatliche Experimente durchgeführt werden. Zudem treten Bezüge zu Raumentwürfen früherer Dystopien innerhalb der jeweiligen Serien auf verschiedenen Ebenen hervor, darunter Semantiken, narrative Anordnungen und Atmosphären von Räumen und Orten, bestimmte Architekturen und Baustoffe sowie ihnen eingeschriebene extratextuelle Diskurse. Am genauesten wäre eine Darstellung, die anhand der einzelnen Serien die verschiedenen Traditionen nachverfolgte. Diese liegt in Teilen bereits mit den Einzelanalysen dieser Arbeit vor. Stattdessen sollen in dem folgenden komprimierten Überblick Typen 1 2 3 4

Vgl. Denson/Meyer 2012, S. 185–190 sowie II.3.4 in dieser Arbeit. Darauf weisen die unterschiedlichen Räume in der diachronen Studie zu urbanen Dystopien von Latham/Hicks 2014 hin. Vgl. Latham/Hicks 2014, Sobchack 1999, S. 141f. sowie II.4.2 in dieser Arbeit. Zum Genreraum Schmidt 2013b, S. 309–313 sowie II.2.2 in dieser Arbeit.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

dystopischer Räume zusammengefasst werden, die in den gegenwärtigen seriellen Dystopien des Post-TV aktiviert werden und diachron und transmedial an existierende Entwürfe dystopischer Hypotexte anknüpfen. Für intertextuelle Bezüge kommen sowohl Dystopien im engeren als auch im weiteren Sinne in Frage. Diese Öffnung zu post-apokalyptischen Dystopien und science oriented Dystopien ist sinnvoll, weil diese Texte sich ungeachtet der Genre- und Mediengrenzen wechselseitig beeinflussen.5 Die Aufteilung der Typen orientiert sich an Semantiken, architektonischen Merkmalen und ästhetischen Erfahrungen, die die Rauminszenierungen anbieten. Die Art und Weise des seriellen Raumerzählens ist kein Kriterium für die Zusammenfassung der Raumtypen, weil die dystopischen Vorgänger, die in den untersuchten Serien aufgerufen werden, überwiegend in filmischen und literarischen Werken vorliegen. Allerdings wird erfasst, ob die seriellen Dystopien aus der dystopisch-räumlichen Tradition ein bestimmtes serielles Potential erkennen und nutzen. Eine detailliertere und umfassendere Analyse, die die ganze Breite der seit 2010 erschienenen dystopischen Fernsehserien sowie ihrer Vorgänger aufgreift und die Spuren ihrer Raumentwürfe zurückverfolgt, könnte sich an diese Typologie ebenso anschließen wie eine gezielte Untersuchung der intertextuellen und intermedialen Entwicklung eines spezifischen Typus des dystopischen Raums.

Soziale Segregation Trepalium, 3 % und Wayward Pines aktivieren Raumkonstruktionen der sozialen Segregation. Diese zeichnen sich durch die Abschottung von Gruppen in klar voneinander getrennte Räume aus, die mit unterschiedlichen Semantiken und Architekturen einhergehen. Kriterien der Isolation sind ökonomischer oder sozialer Art, sie können aber Aussehen und Verhaltensweisen betreffen wie z.B. in der Serie Wayward Pines, in der die Abbies, die ohnehin eine Allegorie für Migranten, Flüchtlinge, Arbeits- und Obdachlose und andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen darstellen, als deviant gekennzeichnet und aus der Stadt der letzten Menschen ausgegrenzt werden.6 Weitere aktuelle dystopische Serien, die sich dieser Kategorie zuordnen lassen, sind Altered Carbon aufgrund der konträren Stadteile von Licktown und dem Aerium-Viertel, The City & The City wegen der gegensätzlichen Lebensstandards der getrennten Städte Besźel und Ul Qoma sowie Snowpiercer aufgrund des im Zug vorherrschenden wortwörtlichen Klassensystems. Zurückverfolgen lässt sich dieser Typus des dystopischen Raums

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Während Latham und Hicks 2014 in ihrer diachronen Studie keine Unterscheidung nach der Qualität des Dystopischen vornehmen und abgesehen vom Kriterium der fiktiven Stadt die Auswahl ihrer literarischen Texte, Filme und Graphic Novels nicht erläutern, bezieht Claeys trotz seiner deutlichen Privilegierung der sozial-politischen Dystopie über andere Ausprägungen verschiedenste Sub-Genres in seinen historischen Überblick ein; vgl. hierzu u.a. Claeys 2016, S. 5 sowie den historischen Abriss ebd., S. 291–496. Vgl. Lavigne 2018, S. 153. Auch in District 9 wird die Angst vor dem Anderen, Armen, Flüchtlingen und Migranten durch die Figur des monströsen Aliens symbolisiert; vgl. District 9 (2009), ZA, Regisseur: Neill Blomkamp.

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

bis zu The Time Machine und Metropolis, ferner liegt er vor in Logan’s Run, Welcome to Gattaca und Snowpiercer.7 Das binäre System semantischer Oppositionen kann in den seriellen Dystopien beibehalten und zugleich modifiziert werden, z.B. durch die Erweiterung um Übergangsräume und eutopische Enklaven (3 %), durch die Überschneidung beider Sphären (The City & the City) sowie die Ausdifferenzierung sozialer Räume als sozio-ökonomische ›Stufen‹ zwischen den Räumen der Privilegierten und der Unterprivilegierten (Snowpiercer). Die bisweilen arg überzeichneten Gegensätze in Mise en Scène und Kameraführung in Trepalium, 3 %, Snowpiercer und The City & The City können als selbstreferentiell bezeichnet werden und offenbaren ein Bewusstsein der Serien für ihre Zugehörigkeit zu dieser dystopischen Raumtradition. Die Raumopposition birgt das Potential zur Strukturierung serieller Erzählung und zur sukzessiven Expansion, die bislang aber nur bei 3 % und The City & The City genutzt wird. Vor allem erleichtern die Gegensätze in der Gestaltung durch klar voneinander unterschiedene Farben, Materialien und Verhaltensweisen der jeweiligen Bewohner die Zuschauerorientierung, da sie die rasche Zuordnung einzelner Szenen zu Handlungssträngen ermöglichen.

Techno City Den Begriff der Techno City verwendet Abbott für Städte in Literatur und Film der Science-Fiction, in denen technologische Innovationen zur ›alltäglichen Zukunft‹ gehören: »Techno cities are places that work, where society and government have adopted and adapted to new technologies. […] Techno City is often simply background for a story whose plot interest is elsewhere«.8 Als filmische Beispiele nennt Abbott u.a. Alphaville und Minority Report sowie Just Imagine und Metropolis.9 Innerhalb serieller Dystopien des Post-TV schließt dieser Typ an die Kategorie der sozialen Segregation an und liegt häufig in den jeweils privilegierten Räumen vor. Die wuchernde Megacity ist eine technisch hochgerüstete Stadt mit Wolkenkratzern und einem futuristischen look. Zugleich deutet sich bereits im Stadtbild an, dass der urbane Raum die Bürger hierarchisiert und sie aufgrund zu dichter Bebauung und labyrinthischer Anordnung dominiert. Materialien wie Glas, Stahl, Beton, düstere Lichtverhältnisse und kühle Farben signalisieren emotionale Kälte und Entfremdung der Bewohner. Dieser dystopische Raum wird in Altered Carbon mit dem gesamten Stadtbild von Bay City, in der dritten Staffel von Westworld mit dem fiktiven Los Angeles sowie dem Zug in Snowpiercer aufgerufen, der scheinbar unermüdlich ohne weitere Energiezufuhr die vereiste Erde umrundet. Für weitere serielle Dystopien bildet dieser Stadt-Typ nicht das Fundament, sondern taucht allenfalls als blasses Zitat auf. Die Stadt in Trepalium ist lediglich eine Erinnerung an die Techno City, die anhand von Bildschirmen aktiviert wird, die in Wände und Tischplatten eingelassenen sind sowie von piependen Tastaturen an den Arbeitsplätzen von Aquaville und Fensterscheiben in der Regierungslimousine der Premierministerin, 7 8 9

Vgl. Gattaca (1997), USA, Regisseur: Andrew Niccol. Abbott 2016, S. 22. Vgl. ebd., S. 25, 31.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

die auf Berührung hin blickdicht werden. Aufgrund des geringen Nutzens dieser vermeintlichen Innovationen steht vor allem ihre diegetische Gemachtheit im Vordergrund, wodurch sie zu bloßen Symbolträgern der Science-Fiction werden. Die Insel Maralto in 3 % steht durchaus in der Tradition dieses Raumtypus, da sie eine Smart City entwirft, die sich durch ihre Art der Energiegewinnung vom Festland entkoppelt hat, ein ressourcenschonendes Leben ermöglicht und sich zur Datenspeicherung der biotechnologischen Neuerung tierischer DNA bedient. Auch hier werden technologische Innovationen aber eher zurückhaltend inszeniert.

Stadt des Future Noir Die Städte der Future Noir-Filme der 1980er und 1990er Jahre wie Blade Runner, Dark City, Brazil und Twelve Monkeys zeichnen sich durch Lichtmangel und zivilisatorischen Verfall, das Pastiche verschiedenster architektonischer Stile, Desorientierung und eine labyrinthische Anordnung aus.10 Diese Interpretation der futuristischen und dystopischen Stadt als Ort der Einengung, dem die Kritik an einer korrupten und dysfunktionalen Bürokratie sowie am Kapitalismus eingeschrieben ist,11 kommt in den seriellen Dystopien in unterschiedlichem Maße zum Vorschein. Besźel in The City & The City zeichnet sich durch heruntergewirtschaftete Bauten, wenig Licht, einen wolkenverhangenen Himmel und rückständige Technik aus. Der Serienraum von Trepalium rekurriert nur punktuell auf diesen Raumtyp, dessen Charakteristika vor allem in der Enge und Dunkelheit der Zone, den blassen Farben inner- und außerhalb der Mauer sowie anhand der überwiegend leeren Stadt und ihrer tristen Architektur deutlich werden.

Gefangene der post-apokalyptischen Ödnis In Wayward Pines, Electric City, Snowpiercer und 3 % sind die Überlebenden von Katastrophen Teil einer abgeschlossenen Gemeinschaft, die jeweils von einer Minderheit autoritär dominiert wird. Landschaft und Wildnis werden selbst zum Feind der letzten Menschen und sind die Ursache für ihre selbstverordnete Isolation. Die jeweiligen Außenräume bieten keine ausreichenden Güter und Energie, werden von Mutanten beherrscht oder zeichnen sich durch lebensfeindliche klimatische Bedingungen aus. Obgleich die Bewohner dieser urbanen Räume an sich keinen Grund hätten, sich in die jeweils unwirtliche Außenwelt zu begeben, sind die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse so einengend und bedrohlich, dass sie sich in Wayward Pines, Electric City und 3 % zu diesem Schritt gezwungen sehen. Die post-apokalyptischen Enklaven in Wayward Pines und Electric City können mit Abbott als Carceral Cities bezeichnet werden: Damit sind Städte gemeint, die ihre Bürger bewusst kasernieren und einschließen, wie in den Spielfilmen Logan’s Run und City of Ember.12 Die Vorstellung, dass die Zivi-

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Vgl. Staiger 1999, S. 100 sowie Sobchack 1999, S. 139–141. Vgl. Staiger 1999, S. 120. Vgl. Abbott 2016, S. 97–109.

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

lisation von der Natur bedroht oder gar zerstört wird, wird besonders prominent und bereits im 19. Jahrhundert in Richard Jefferies After London; Or, Wild England ausformuliert.13 Darüber hinaus werden durch die Imagination der letzten Menschen inmitten der bedrohlichen Natur sowie den Prozess der Auswahl, wie er in der diegetischen Vergangenheit von Wayward Pines stattfindet, Bezüge zur biblischen Erzählung um Noah und die Arche deutlich.14 Die baulich-architektonische Verbundenheit der einzelnen Räume lässt sich am ehesten in der Konstruktion eines Inselraums inmitten des post-apokalyptischen wasteland finden. Diese Räume sind in der Regel fest angeordnet, können sich aber auch, wie anhand von Snowpiercer deutlich wird, mobil durch die zerstörte Welt bewegen. Die räumliche Opposition zwischen dem zivilisierten Innen- und dem barbarischen Außenraum kann seriell in Form von Expeditionen entfaltet bzw. verdichtet werden, wie z.B. in Wayward Pines und Electric City.

Das Kollektiv der Vorstadt Wie bereits bemerkt wurde, wird die US-amerikanische Vorstadt in Literatur und Film der Gegenwart überwiegend als Raum interpretiert, der seinen Bewohnern feindlich gesonnen ist und sie einengt.15 Die Spielfilme The Truman Show, Pleasantville, American Beauty und Far From Heaven porträtieren Beuka zufolge »suburbia as an American dystopia« und reflektieren die Erwartungen und Ängste der US-amerikanischen Mittelklasse, die diesem Topos eingeschrieben sind.16 Diese Bewertung der Vorstadt, die noch in den 1950er und 1960er Jahren in Serien wie Father Knows Best, Leave It to Beaver und The Donna Reed Show als Stammsitz der harmonischen Kernfamilie und Nachbarschaftlichkeit präsentiert wurde,17 wandelte sich spätestens ab den 1970er Jahren u.a. mit The Stepford Wives und Over the Edge.18 Tatsächlich wird in den genannten Filmen wie Pleasantville sowie den Serien Twin Peaks, The Prisoner, Desperate Housewives und jüngst in Riverdale und Little Fires Everywhere das Klischee der Kleinstadt-Idylle reanimiert, zugleich aber auch der erwartbare Blick auf die Schattenseite der Perfektion mit jeder Wiederholung weiter konventionalisiert.19 Auf die einengende und angstbesetzte Vor- und Kleinstadt wird in den aktuellen seriellen Dystopien, Wayward Pines, Alpha 0.7, Persons Unknown sowie The Man in the High Castle durch entsprechende urbane Räume referiert. Ferner ist die suburbane Dystopie US-amerikanischer Prägung Referenzpunkt des Villenviertels der Com-

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Vgl. Jefferies 2017 [1885]. Die Kleinstadt und Noahs Arche werden von Meghan explizit miteinander verglichen; vgl. Wayward Pines, S1E5, »The Truth«. Parallelen zu Arche-Narrationen liegen auch in anderen post-apokalyptischen Dystopie-Serien vor, in denen eine Auswahl von Menschen und weiteren Lebewesen für einen geschützten Raum stattfindet; vgl. u.a. Snowpiercer, S1. Vgl. Beuka 2003, S. 154f. sowie IV.2.1.6 in dieser Arbeit. Beuka 2003, S. 155. Ebd., S. 157. Ebd., S. 159. Vgl. Friedman 1999 in ebd., S. 157. Vgl. Little Fires Everywhere (2020), USA: Hulu, Creator: Liz Tigelaar.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

mander in The Handmaid’s Tale. Diese Kategorie zeichnet sich zum einen durch die Lage abseits oder in der Peripherie der (Groß)Stadt, domestizierte Natur, die Architektur der Cottages oder des New Urbanism, aber auch durch Reihenhäuser, uniforme Einfamilienhäuser und Villen aus. Zum anderen ist es der durch die Architektur motivierte Panoptismus, der das Leben in der Nachbarschaft bestimmt. Die Vorstadt entpuppt sich als gated community und Gefängnis in einem, wie anhand von Wayward Pines nachgewiesen wurde.20 Ein besonderes serielles Potential der Vorstadt zeigt sich u.a. in Wayward Pines, da die Oberfläche aus Pastellfarben, akkurat geschnittenen Rasenflächen und weißen Zäunen nach jeder Zerstörung durch Mutanten oder Menschen identisch rekonstruiert wird und dadurch auf den televisuellen flow und die serielle Repetition referiert.21

Ludische Laboratorien Wie bereits festgestellt wurde, werden die Kleinstadt in Wayward Pines sowie das Processo-Gebäude in 3 % zu einem Umfeld, in dem die Figuren sich der omnipräsenten Beobachtung durch eine kleine Gruppe oder ein Publikum bewusst sind.22 Um die Beobachter zufriedenzustellen und zugleich ihr Überleben zu sichern oder ihren Lebensstandard zu verbessern, müssen die Bewohner an Wettkämpfen teilnehmen oder eine ihnen zugewiesene Rolle ausüben. In diesem Sinne müssen sich auch die Androiden in den ersten beiden Staffeln von Westworld verhalten. Diese Spiel-Räume, in denen die Akteure gleich Avataren von Dritten mobilisiert und platziert werden, ihre Bewegungen und Verhaltensweisen beobachtet oder gar zur Unterhaltung eines Massenpublikums werden, liegen weiterhin in den Dystopie-Serien The Prisoner, Persons Unknown und The I-Land vor und lassen sich weiter zurückverfolgen zu den literarischen Serien The Maze Runner und The Hunger Games sowie den Spielfilmen Gamer, Das Millionenspiel und Rollerball.

Faschistischer Staat Die gegenwärtigen seriellen Dystopien The Man in the High Castle und SS-GB zeichnen sich weniger durch einzelne Orte oder eine bestimmte Architektur aus, sondern durch ihre politische Identität als faschistischer Staat. Diese kann durch Bauten, aber auch durch Embleme der Nationalsozialisten oder Faschisten anderer Nationalitäten sowie durch Verhaltensweisen von Figuren im Raum generiert werden. So ist zwar in der alternate history-Serie SS-GB nach der deutschen Besatzung des Südens Großbritanniens der Buckingham Palace zum Teil zerstört, andere bekannte Bauten wie der Palace of Westminster sind aber intakt und Gebäude im faschistischen Stil werden nicht errichtet. Stattdessen wird der öffentliche Raum durch z.T. überdimensionale Flaggen mit

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Vgl. IV.2.1 in dieser Arbeit. Vgl. IV.3.1.1 und IV.3.4 in dieser Arbeit. Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung dieses Raumtyps IV.2.1.4 in dieser Arbeit.

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

Hakenkreuzen und anderen Emblemen ›verkleidet‹, die die Besatzung des physischen sowie des politischen Raums signalisieren. In The Man in the High Castle werden ebenfalls die bekannten Stadtbilder New Yorks mit Hakenkreuzen, Reichsadlern und Parolen überschrieben, allerdings auch tiefgreifende Änderungen vorgenommen, wie der Ersatz der Statue of Liberty durch ein Abbild zweier junger Menschen verdeutlicht.23 Zudem werden Bilder des realen Berlins in der Serie um historische Entwürfe zu Germania nach Albert Speer ergänzt. Auch für einzelne Räume und Orte in The Handmaid’s Tale und Westworld ist der faschistische Staat ein Referenzpunkt. In der dritten Staffel von Westworld wird der virtuelle Themenpark War World präsentiert, der den Zweiten Weltkrieg re-inszeniert. Einer der Schauplätze, eine Burg im von Nationalsozialisten besetzten Italien, ist mit Hakenkreuz-Flaggen gekennzeichnet.24 In der Episode »Household« in The Handmaid’s Tale erinnert eine Szene im fiktiven Washington an Bilder der Aufmärsche und Massenereignisse der Nationalsozialisten:25 Um die Regierung Kanadas zur Herausgabe eines in Gilead geborenen Babys zu drängen, versammelt Fred Waterford eine große Anzahl an Handmaids zwischen den mittlerweile stark veränderten Bauten des Washington Monument und Lincoln Memorials,26 wo diese öffentlich für die Rückkehr des Säuglings beten müssen. Diese Szene erinnert an eine Propaganda-Veranstaltung der Nationalsozialisten, nicht nur, weil das inszenierte Massen-Gebet audiovisuell übertragen wird, sondern auch aufgrund der symmetrischen Anordnung der Szenerie, der Ausrichtung der ›Mägde‹ auf die zentralen Akteure der Waterfords und June, die wie auf einer Bühne über den Betenden stehen sowie aufgrund der roten Flaggen und Uniformen der Betenden in Kombination mit den weißen Steinblöcken des Washington Monuments und des Lincoln Memorials. Obgleich für die jeweiligen Räume der Uchronien The Man in the High Castle und SS-GB zweifelsohne intertextuelle Anknüpfungspunkte vorliegen, sind diese weitaus schwieriger auszumachen als für die vorherigen Typen und wahrscheinlich auch vielfältiger. Hier könnte eine weitere vertiefende Untersuchung ansetzen. Ähnliche Räume liegen vor in der alternate history Fatherland sowie Dystopien aus dem englischsprachigen Raum, die eine militärische Besatzung durch deutsche Nationalsozialisten oder ihren Erfolg als düstere Zukunftsvision oder mögliches historisches Szenario ausformulieren, wie z.B. Katharine Burdekins Swastika Night.27 Ferner können auch fiktionale Texte herangezogen werden, die sich weniger auf die Darstellung der totalitären Struktur des faschistischen Systems konzentrieren, sondern das Dystopische über das Handeln einzelner Figuren aufzeigen, aber dennoch deutlich faschistische Architektur inszenieren, wie 23 24 25 26

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Vgl. IV.2.3.2 in dieser Arbeit. Vgl. Westworld, S3E1, »Parce Domine«. Vgl. The Handmaid’s Tale, S3E6, »Household«. Der Oberkörper der Skulptur Abraham Lincolns wurde weggesprengt und die Stehle des Washington Monuments wurde im oberen Viertel um einen horizontalen Balken ergänzt, sodass ein riesiges Kreuz über den Lincoln Memorial Reflecting Pool ragt; vgl. ebd. Vgl. Harris 1992 sowie Burdekin 1985 [1937]. Literarische Uchronien, die das Szenario eines militärischen Erfolges der Nationalsozialisten entwerfen, liegen ferner in den jeweils gleichnamigen Prätexten zu The Man in the High Castle von Philip K. Dick und zu SS-GB von Len Deighton vor; vgl. Dick 1962 sowie Deighton, Len (2015 [1978]): SS-GB. London: Harper Collins.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Il conformista.28 Bei diesem Film handelt es sich um einen wichtigen Referenzpunkt für die Ästhetik von The Man in the High Castle, da er laut Produzent Ridley Scott den »house style« der Serie beeinflusste.29 Darüber hinaus sind aber auch nicht-fiktionale Filme, Schrifttexte und Bilder, Dokumentationen sowie Dokudramen zum Faschismus und Nationalsozialismus zu nennen, die intendiert oder nicht intendiert Bezugspunkte zur Konstruktion der jeweiligen diegetischen Welt und der seriell-filmischen Inszenierung des faschistischen Staates werden und nicht zuletzt selbst nicht-fiktionale Dystopien sein können.30

Eutopische Enklaven Schließlich bestehen in den hier verhandelten seriellen Dystopien, die allesamt auch Bezüge zum Muster der kritischen Dystopie zeigen, Enklaven, in die sich Widerständler und Andersdenkende zurückziehen können, um Schutz zu suchen (z.B. die Kapelle in Wayward Pines), ein Leben zu führen, in dem sie die Repressionen des Systems weitestgehend ausblenden können (z.B. Sabra in The Man in the High Castle), Pläne zum Umsturz des Systems schmieden können (z.B. das Versteck von apollon in Alpha 0.7) oder in denen sie ihre gesellschaftspolitischen Entwürfe in Form einer intentional community ausleben können (z.B. die Concha in 3 %). Die eutopischen Enklaven innerhalb oder am Rand der dystopischen Zentren haben ihre Opposition zum despotischen System gemein, nicht aber eine bestimmte Anzahl an Individuen oder das Ausmaß des konkreten physischen Raums. Sie liegen nicht nur in kritischen Dystopien vor wie in The Hunger Games oder Equilibrium, sondern bereits in frühen kanonischen Texten: Das ›Alte Haus‹ in Wir, in dem sich D-503 und I-330 treffen, sowie die Wildnis außerhalb der grünen Mauer, in der die Rebellen leben, können diesem Raumtypus ebenso zugeordnet werden wie das Zimmer über dem Antiquariat und die Naturräume, die jeweils als Treffpunkte von Winston Smith und Julia in Nineteen Eighty-Four fungieren.31

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Il conformista (1970). I/F/D, Regisseur: Bernardo Bertolucci. Vgl. Li, Shirley (6.06.2015): Ridley Scott talks turning Philip K. Dick’s ›The Man in the High Castle‹ into 10-episode Amazon series. In: Entertainment Weekly. https://ew.com/comic-con/2015/07/06 /ridley-scott-man-in-the-high-castle-interview/, aufgerufen am 30.10.2020. Vgl. Claeys’ Gegenüberstellung dystopischer Filme mit Dokumentationen menschlicher Verbrechen im Nationalsozialismus, Stalinismus und unter den Roten Khmer in Kambodscha; Claeys 2016, S. 493f. Vgl. zum Alten Haus in Samjatin 2006 [1924], S. 27–32, 72f. sowie 88–95. Die Bedeutung des Alten Hauses für die emotionale und politische Wandlung des Protagonisten D-503 wird besonders deutlich in der folgenden Passage seiner fiktionalen Aufzeichnungen: »Der Punkt, von dem alle Koordinaten dieser Geschichte ausgehen, ist natürlich das Alte Haus, es ist der Ausgangspunkt der x-, y- und z-Achse, auf denen seit einiger Zeit meine ganze Welt ruht«; ebd., S. 88f. Zur Außenwelt hinter der Mauer vgl. ebd., S. 144–149. Vgl. zum Antiquitätenladen als Treffpunkt von Winston und Julia in Nineteen Eighty-Four Orwell 1989 [1949], S. 143–154, zur Natur als Treffpunkt beider vgl. ebd., S. 123–133. Als metaphorische Räume des Widerstands und der gedanklichen Freiheit sind natürlich auch die jeweiligen Tagebücher von D-503 und Winston zu nennen, obgleich die Selbstzensur von D-503 deutlich ausgeprägter ist als die Winstons.

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

Abseits dieser acht Raumtypen, die die unterschiedlichen intertextuellen Traditionen aufzeigen, die den jeweiligen dystopischen Serienräumen eingeschrieben sind, liegen auch Überschneidungen zwischen den Räumen in diachroner Perspektive vor. Dies mag durch die Auswahl der Serien und die genrebezogene Theoriebildung beeinflusst sein. Bestimmte Merkmale von Dystopien und Eutopien wie die Disziplinierung und Überwachung der Bürger dystopischer Gesellschaften durch Architektur und Abschottung32 sowie die temporale und lokale Isolation33 treten unabhängig vom historischen Zeitraum und dem Medium immer wieder zu Tage und liegen auch, wie in dieser Studie gezeigt wurde, in seriellen Dystopien des Post-TV vor. Die Etablierung von Räumen der Widerständler, von eutopischen Enklaven innerhalb der dystopischen Welt oder von alternativen Gesellschaften, das gezielte Aufbrechen der Raumbinarität sowie die Dekonstruktion repräsentativer Bauten als Zeichen des Systemsturzes scheinen jedoch eher auf kritische Dystopien und vor allem auf jüngere serielle Dystopien wie The Hunger Games und The Maze Runner zurückzugehen. Im Vergleich mit den dystopischen Städten des Future Noir-Films Ende des 20. Jahrhunderts wirken die urbanen Räume gegenwärtiger fernseh-serieller Dystopien steril und leblos. Die Städte in Blade Runner, Brazil und Dark City, aber auch schon in Metropolis zeichnen sich durch ihre labyrinthische Anordnung und Monstrosität als feindlicher Gegenspieler der Protagonisten aus. Bereits Metropolis ist eine maschinelle Stadt, die ihre Bewohner zu verschlingen droht, was anhand der Traumsequenz Freders in der Fabrik und der Überschwemmung der Stadt der Arbeiter sichtbar wird.34 Die Metropole in Brazil ist von pulsierenden Schläuchen und Rohren durchzogen, die den Eindruck eines moribunden Organismus oder verwesenden Kadavers erwecken. Das fiktive Los Angeles von Blade Runner ist ein lebensfeindlicher Raum, in dem »keine Pflanzen und Tiere mehr« existieren35 und wird von massiven pyramidalen Bauten dominiert, in deren Zwischenräumen sich Abfall und Smog ansammeln.36 Die Menschen irren dicht gedrängt durch enge Gassen und scheitern am »babylonische[n] Sprachgewirr«, während ohne Unterlass Regen durch die ewige Nacht fällt37 und Kabel zwischen den Gebäuden die Gassen wie ein Gitter nach oben hin abschließen. Zugleich stellen sich diese Räume, allen voran die Stadt in Dark City,38 aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit und Undurchdringlichkeit den Protagonisten entgegen. Diese Funktion als Gegenspieler erhalten die Räume in den hier thematisierten seriellen Dystopien kaum – sieht man von den post-apokalyptischen Außenwelten in Wayward Pines und Snowpiercer ab. Einzig das Processo-Gebäude in 3 %, in dem die Bewerber ihre Prüfungen durchlaufen, tritt als Raum in Aktion und zeigt Züge eines Akteurs, etwa wenn die Bewerber einen Ausweg aus einer labyrinthischen Ansammlung an Garagen finden müssen und Marco Álvares schließlich durch ein sich schließendes

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Vgl. Marks 2015, S. 104. Vgl. Hantsch 1975, S. 69–77. Zum maschinellen Charakter von Metropolis vgl. Friedmann 1993, S. 36. Vgl. Spiegel 2013b, S. 268. Vgl. hierzu auch Friedmann 1993, S. 40. Vgl. Spiegel 2013b, S. 268. Vgl. Sobchack 1999, S. 140.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Tor zerquetscht wird.39 Das Bedrohliche der Räume der Dystopie-Serien liegt vielmehr in ihrer Ähnlichkeit mit dem Alltag der Rezipienten. Die sterile Vorstadt, die sich als Großraumlabor entpuppt (Wayward Pines), das von Nationalsozialisten besetzte New York (The Man in the High Castle), die neo-kapitalistische Klassengesellschaft, die vor der Kulisse einer neuen Eiszeit in vertrautem Mobiliar ums Überleben kämpft (Snowpiercer), die europäische Metropole, deren Bevölkerung nach ökonomischen Nutzen aufgeteilt wird (Trepalium) sowie das Washington Square Monument, das zu einem überdimensionalen christlichen Kreuz umgebaut wird (The Handmaid’s Tale) sind Raumentwürfe, die sich auf unangenehme Weise mit der extratextuellen Welt verzahnen, weil sie Bilder bekannter Sehenswürdigkeiten zitieren oder alltägliche Architekturen präsentieren. Vor allem mit Blick auf Architektur und Baumaterialien, die sich immer wieder am Funktionalismus in der Tradition von Le Corbusier orientieren, fällt auf, dass diese Serien sich an realen Räumen der Gegenwart oder altbewährten Vorstellungen der Zukunft ausrichten, wie sie in Eutopien, Dystopien und der Science-Fiction seit Ende des 19. Jahrhunderts präsentiert werden.40 Innovationen liegen auf topologischer Ebene vor: Städte sind als kleinteiliges Netz verteilt (Electric City), haben keinen festen Ort (Snowpiercer), liegen zu zweit an einem identischen Ort vor (The City & The City) oder Grenzen zwischen voneinander isolierten ontologischen Welten werden durchlässig (The Man in the High Castle). Die konkrete Topographie der jeweiligen storyworlds ist aber eher konservativ. Die Architektur ist geprägt vom Funktionalismus und Brutalismus der Moderne (3 %, Trepalium, Wayward Pines) und vor allem die dystopischen Machtzentren, von denen aus die Gesellschaft dominiert wird, sind in Glas, Beton und Stahl gehüllt (Trepalium, 3 %, Wayward Pines, The Man in the High Castle, Altered Carbon, Alpha 0.7, ferner Westworld). Damit setzen die seriellen Dystopien einen Trend fort, der die audiovisuelle Inszenierung der futuristischen Stadt seit längerem bestimmt. Abbott konstatiert, dass sich die architektonischen Formen und Materialien, mit denen die Stadt der Zukunft im Film abgebildet wird, kaum verändert haben: Die futuristischen Städte von Alphaville bis Demolition Man zeigten den weitreichenden Einfluss der »art moderne and streamlined styles« aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.41 Zu den Bezugspunkten, die bis heute Inspiration für filmische und literarische Städte der Zukunft versprechen, zählen Wolkenkratzer, deren Siegeszug Ende des 19. Jahrhunderts begann, Stadtvisionen, wie sie in den Weltausstellungen von Chicago 1933 sowie von New York 1939 präsentiert wurden, Hugh Ferriss’ Ausstellung »Drawings of the Future City« von 1925 sowie Le Corbusiers Entwurf der Ville Radieuse.42 Abbott bemerkt, dass der Rückgriff auf Stadtbilder des 39 40

41 42

Vgl. 3 %, S1E4, »Capítulo 04: Portão«. Zum funktionalistischen Baustil in den seriellen Dystopien, allen voran Trepalium, vgl. IV.1.3.1, IV.2.1.6 und IV.2.3.2 in dieser Arbeit. Zum Funktionalismus und insbesondere den Entwürfen Le Corbusiers in Dystopien der Literatur und des Films vgl. u.a. Latham/Hicks 2014, S. 166f.; Staiger 1999, S. 106–111, S. 115; Abbott 2016, S. 30 sowie II.4.2 in dieser Arbeit. Abbott 2016, S. 25. Ebd., S. 25–34. So bezögen sich z.B. die Raumkonstruktionen von Blade Runner deutlich auf die fortschrittsgläubigen Entwürfe Hugh Ferriss’ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; vgl. ebd., S. 42.

2. Spuren im Raum – Traditionen dystopischer Topographien

20. Jahrhunderts zur Darstellung futuristischer Metropolen impliziert, dass sich Städte kaum verändert haben: »Urban areas changed drastically from 1840 to 1940, but perhaps not so much since then. […] Even implementation of ›big data‹ to create ›smart cities‹ is being applied to old functions like better traffic-light cycles and more efficient siting of firehouses«.43 Diese Beobachtung trifft auch auf die urbanen Räume der genannten seriellen Dystopien zu, deren Mehrzahl allenfalls durch technologische Zugaben wie Monitore und Kameras behutsam modifiziert wird. Auch die seriellen Dystopien des Post-TV orientieren sich bei der Inszenierung ihrer urbanen Räume an Vorstellungen zukünftiger Metropolen aus dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert, was exemplarisch an den zahlreichen Referenzen auf die Architektur des Funktionalismus deutlich wird. Sie setzen sich aber noch deutlicher vom industriellen Charakter futuristischer Städte und ihrer monströsen Ästhetik ab, die sowohl in frühen Dystopie-Filmen wie Metropolis als auch in Brazil, Blade Runner, Dark City und Equilibrium zu Tage tritt. Die industrielle Wucht, dichte Bebauung, die Dominanz der Wolkenkratzer und monolithischer Bauten, wie sie Abbott für die Techno City vom Beginn bis Ende des 20. Jahrhunderts beschreibt, ist in The Man in the High Castle, Trepalium, Wayward Pines, 3 % und Alpha 0.7 kaum vorhanden. Barbara Mennel bemerkt mit Blick auf dystopische Filme ebenfalls das Ausbleiben innovativer Raumentwürfe, vielmehr aber noch die Dominanz der futuristischen Stadt als Ort des Verfalls oder der Vergangenheit.44 Sie begründet diese Entwicklung mit der Transformation des Kinos »from analog to digital, from movie-going to streaming on mobile devices, from consumption to interactivity« sowie mit der Transformation der Arbeit, deren Sichtbarkeit im Stadtbild seit dem späten 20. Jahrhunderts immer weiter abnehme.45 Dies habe zur Folge, dass sich eutopische und dystopische Filme verstärkt auf den Konflikt zwischen »human subjectivity and virtual reality« konzentrierten statt auf den Schauplatz der Stadt: »Futurity can no longer be located in material technological development or in the built environment. Instead, postmodern science fiction narrates the difficulty of distinguishing reality from virtual representation«.46 Während Alphaville für seine in den 1990er Jahren angesiedelte Handlung auf das Paris der 1960er als Kulisse zurückgreife und damit die Gegenwart zum Referenzpunkt der Mise en Scène erhebe, referiere The Truman Show auf die US-amerikanische Vorstadt Mitte des 20. Jahrhunderts und Dark City auf die Film Noir-Metropole der 1940er Jahre.47 »These late 1990s films [– The Truman Show, Dark City und The Thirteenth Floor –] are set in decaying urban environments or rely on a mise-en-scène with a style from a bygone era«.48 Mennels These der rückwärtsgewandten futuristischen Stadt, die in filmischen Darstellungen der Dystopie zunehmend dem virtuellen Raum weiche, lässt sich zum Teil mit

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Abbott 2016, S. 27. Mennel, Barbara (2019): Cities and Cinema. London: Routledge, S. 130f. Ebd. Ebd. Ebd., S. 135. Ebd.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

den Befunden dieser Arbeit in Einklang bringen. Obwohl das Virtuelle in einzelnen Serien wie Westworld mindestens gleichbedeutend mit physischen diegetischen Räumen ist und sicherlich auch in der Metapher der Vorstadtkulisse in Wayward Pines sowie der vermeintlich traumhaften Insel von 3 % aufgerufen wird, findet der Großteil der jeweiligen Serienhandlung in konkreten Räumlichkeiten statt. Insgesamt unterscheiden sich die städtischen Architekturen der seriellen Dystopien aber kaum von der Gegenwart, wie am deutlichsten anhand von Alpha 0.7 zu sehen ist, oder sie greifen, wie anhand der Typen dystopischer Räume aufgezeigt, auf Konzepte früherer Dystopien und futuristischer Vorstellungen der Science-Fiction zurück. Dies gilt sowohl für das Pastiche aus Funktionalismus und Postmoderne sowie den »rétrofuturisme« von Trepalium49 als auch für die Uchronie von The Man in the High Castle, die sich vor allem an den Städten der Nachkriegszeit und historischen Entwürfen nationalsozialistischer Gebäude orientiert. Die Klärung der Frage, inwiefern die serielle Erzählform die räumliche Dynamik serieller Dystopien beeinflusst, bedarf einer genaueren Untersuchung. Ohne Zweifel sind es die jugendliterarischen seriellen Dystopien, allen voran The Hunger Games und The Maze Runner, die der Dystopie zu ihrem gegenwärtigen Revival und ihrer Weiterentwicklung verholfen haben. Es wäre zu erforschen, inwiefern sich die kritische Dystopie, die diegetisch-konkrete und narrative Verformung von Räumen in Dystopie und Serie sowie die Konventionen anderer Genres gegenseitig beeinflussen. Zeichnet sich die Mehrheit der hier untersuchten Serien durch ihre Raumänderungen aus, weil die Räume serialisiert werden und es der Variation zur Unterhaltung bedarf, damit der serielle Text auch in längeren Fortsetzungen sein Publikum befriedigt? Verselbstständigt sich die Form der kritischen Dystopie dank der Serialisierung, sodass bestimmte Formen der Raumdynamik auch in abgeschlossenen Dystopien der Gegenwart Einzug halten? Oder ist es der enge Bezug vieler Serien wie Westworld, Altered Carbon, The Man in the High Castle, Wayward Pines, Alpha 0.7 und Snowpiercer zur Science-Fiction, die sich Innerhofer zufolge durch Handlungsbezogenheit und Dynamik der erzählten Welt auszeichnet, der sowohl ihre fiktiven Welten als auch ihre Räume verändert?50

49 50

Ebd. Vgl. Innerhofer 2013, S. 319.

3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte

Die meisten hier verhandelten kritisch-seriellen Dystopien entwerfen Zukunftsvisionen, die in unterschiedlicher Distanz zur Gegenwart der Serienausstrahlung liegen. Eine Ausnahme bildet The Man in the High Castle, da in dieser Serie mehrere alternative Vergangenheiten angeboten werden, von denen überwiegend diejenige erzählt wird, in der die Achsenmächte den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Häufig wird angenommen, Dystopien und andere fiktionale Entwürfe der Zukunft würden Annahmen über bevorstehende Zeiträume ermöglichen. Tatsächlich lassen sich aus dystopischen Zukunftserzählungen jedoch eher Aussagen darüber ableiten, welche Probleme zu einem bestimmten Zeitpunkt als gesellschaftlich relevant angesehen werden und welche Prognosen vor dem jeweiligen historischen Kontext für wahrscheinlich gehalten werden. Dystopien sind vor allem Aussagen über die Gegenwart.1 So bilden z.B. die verschärfte Sicherheitsgesetzgebung und zunehmende Überwachung in vielen westlichen Staaten nach 9/11, Untersuchungen über die genetische Prädisposition für kriminelle Handlungen sowie wissenschaftliche Forschungen zur Steuerung von Gedanken durch Außenstehende mittels Technologie den Kontext, vor dem die düstere Zukunftsprognose in Alpha 0.7 verstanden werden kann.2 Zugleich erhält das Gedankenspiel von The Man in the High Castle besondere Brisanz vor dem Hintergrund der 1 2

Dies gilt Powell zufolge auch für dystopische Uchronien wie The Man in the High Castle; vgl. Powell 2018, S. 150. Vgl. Hanfeld 2010, der Alpha 0.7 als Warnung vor der Verfügbarkeit persönlicher Daten deutet. Auf die ›Lesart‹, Alpha 0.7 warne vor der Dekodierung von Gedanken mittels technologischer Innovationen, verweisen zwei Artikel, die aus Sicht von Sebastian Hünerfeld, einem der Autoren und Produzenten der Serie, deren Kosmos näher erläutern: Thompson, Mark (14.09.2008): The Army’s Totally Serious Mind-Control Project. In: Time. http://content.time.com/time/nation/artic le/0,8599,1841108,00.html, aufgerufen am 14.10.2020; sowie Biever, Celeste (12.12.2008): ›Mindreading‹ software could record your dreams. In: New Scientist. https://www.newscientist.com/art icle/dn16267-mind-reading-software-could-record-your-dreams/, aufgerufen am 14.10.2020. Ich danke Sebastian Hünerfeld für diesen Hinweis. Ryan 2013 verweist auf einen Wikipedia-Eintrag »about brain stimulation, another about paranoid schizophrenia, and an article from the famous German magazine Der Spiegel about human monsters and what to do with them«, die sie auf einer der Webseiten aufgerufen hatte, die die storyworld von Alpha 0.7 zum Zeitpunkt der Serienausstrahlung erweiterten und mittlerweile inaktiv sind; vgl. ebd., S. 374. Diese Beobachtung macht

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, dem zunehmenden Nationalismus und rechtspopulistischer Parteienerfolge in den USA und Europa, obgleich die Serie ihre Handlung in einer fiktiven Vergangenheit situiert.3 Die folgenden sozial-politischen Ängste schreiben sich in die Rauminszenierung von mehr als einer seriellen Dystopie ein: •









Ressourcenknappheit und Klimaveränderungen: Die letzten Menschen in Wayward Pines können ihre Nutzpflanzen nicht mehr innerhalb der Kleinstadt anbauen, da der Erde notwendige Nährstoffe entzogen sind.4 Wettbewerb um Wohlstand zwischen Arm und Reich,Staatsbürgern sowie Migranten und Flüchtlingen: Die Bewerber um einen Platz auf der Insel Maralto treten in 3 % gegeneinander im Processo-Gebäude an, um schließlich vom Slum auf dem Festland auf die Insel übertreten zu können.5 Technologische Überwachung: In Alpha 0.7 kann das Unternehmen Protecta Society dank der Ortung von Fahrzeugen, Smartphones, RFID-Chips in der Kleidung sowie Gehirn-Chips den Standort und die Bewegung von Personen an beliebigen Punkten im Raum nachvollziehen und kontrollieren.6 Autoritäre und totalitäre Herrschaft: Die Insignien der Nationalsozialisten im Stadtbild von New York sowie die Konstruktion einer faschistischen Abbildung des ›neuen Menschen‹ anstelle der Statue of Liberty offenbart die Dominanz von Einheitsstaat und Führerkult in The Man in the High Castle.7 Entfesselter Kapitalismus: Unter dem Primat des ökonomischen Nutzens einer Person können die Bürger der Stadt von Trepalium nur entweder auf der Innenseite der Mauer leben oder müssen in der ausgelagerten Zone hausen.8

Obgleich zahlreiche extratextuelle Raum-Diskurse durch die Anordnung von Gebäuden und ihre Architektur, das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Stadt oder die narrative Entfaltung in den seriellen Dystopien aufgegriffen werden, sollen im Folgenden nur drei ausgeführt werden, die sich in mehrere Serien einschreiben und zugleich einen Bezug zum dystopischen Weltentwurf zeigen. Hierzu gehören der Gegensatz zwischen räumlicher Be- und Entgrenzung in Gesellschaft, Politik und Medien, die Wahrnehmung der Stadt als Ort, den es zu kontrollieren und zu überwachen gilt, sowie die Tendenz, Raum als Inszenierung zu betrachten.

3

4 5 6 7 8

deutlich, dass die Serie zu steuern versucht, wie ihre Gesellschaftskritik von den Zuschauern gedeutet werden soll. Vgl. hierzu Powell 2018, der The Man in the High Castle als Reaktion auf die wachsende Alt Right-Bewegung und andere gesellschaftliche Phänomene liest, die zum politischen Erfolg Donald Trumps geführt haben. Vgl. zudem Trepalium, 3 %, Snowpiercer sowie Electric City. Vgl. zudem Trepalium, Wayward Pines sowie Snowpiercer. Vgl. zudem Wayward Pines, Trepalium, 3 %, The Man in the High Castle sowie Westworld. Vgl. zudem SS-GB, The Handmaid’s Tale, Westworld, 3 %, Trepalium, Wayward Pines, Alpha 0.7, The City & The City, Continuum, Snowpiercer sowie The City & The City. Vgl. zudem 3 %, Continuum sowie Snowpiercer.

3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte

Mit der Vielzahl an nationalen Grenzen, abgeschirmten Städten und gated communities greifen serielle Dystopien des Post-TV die zu Beginn dieser Arbeit skizzierten Ängste vor dem Verlust von nationalstaatlicher Souveränität und Wohlstand auf.9 Sie platzieren ihre geschlossenen Räume aber an das Ende eines intradiegetischen Prozesses, der vor dem Beginn der Basiserzählung stattfindet, und nutzen das Potential der Dystopie, mögliche Szenarien weiterzudenken und Konsequenzen für außertextuelle Handlungen auszuformulieren. Dieser fiktive Prozess lässt sich rekonstruieren, weil die Dystopie nicht nur einen Blick auf eine mögliche Zukunft vom Standpunkt der Gegenwart aus erlaubt, sondern auch den Blick auf die Zukunft aus der (fiktiven) Zukunft selbst. Den fiktionalen Szenarien zufolge liegen zwischen dem Zeitpunkt der Erstausstrahlung der jeweiligen Serie und dem Beginn ihrer Basiserzählung umfängliche Katastrophen, die intradiegetisch zum Anlass für das Leben in begrenzten und überwachten Räumen genommen werden. Die Gründe für diese Katastrophen sind unterschiedlich und im Einzelnen nicht immer ganz erfassbar. Der Zusammenbruch der Umwelt, Wassermangel, Arbeitslosigkeit oder Bürgerkriege scheinen aber, glaubt man den fiktionalen Zukunftsvisionen, unvermeidbar. Bereits hier wäre zu vermuten, dass diese Projektionen eine intradiegetische Absage an nationale und ideologische Egoismen zur Folge hätten. Statt aber den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zum Anlass für Kooperation zu nehmen, isolieren sich die jeweiligen fiktiven Gemeinschaften immer stärker oder versuchen, ihr Gesellschaftmodell gewaltsam anderen aufzuzwängen (The Man in the High Castle, SS-GB, The Handmaid’s Tale). Diese doppelte Dystopie aus Apokalypse und Unterdrückung ist wenig optimistisch, geht sie doch davon aus, dass Menschen in Krisenerfahrungen nach rigiden Organisationsformen suchen. Damit greifen die seriellen Dystopien des Post-TV die Sehnsucht nach dem Rückzug in eine Zeit vor der Globalisierung und gravierender Umweltschäden auf, deren Folgen sich weltweit auswirken. Die vielen externen Analepsen, in denen die Serien von den Entwicklungen erzählen, die letztlich zur dystopischen Gemeinschaft führen, zeigen, dass die Wahrnehmung des Raums als Netz miteinander verbundener Punkte und der internationalen Kooperation immer mehr zugunsten des Raums als Container und der Isolation an Zuspruch verliert. Darauf weisen nicht nur die Katastrophen selbst hin, sondern auch die frühzeitige Planung der zukünftigen isolierten Räume: Diese Prozesse werden dokumentiert im prequel von Trepalium durch den Bau der Mauer, dem architektonischen Entwurf für Wayward Pines sowie im ›Akquirieren‹ des Ingenieurs Eric Barlow in der Webeserie Gone: A Wayward Pines Story, im Entwurf der ›eternal engine‹ Snowpiercer in der gleichnamigen Serie, der Besiedlung der Insel Maralto in 3 % sowie in der Planung Gileads in The Handmaid’s Tale. Im Vorfeld der Krisen werden die jeweiligen ›Inselräume‹, an denen sich die vermeintlich bessere Gemeinschaft oder die letzten Menschen versammeln, konstruiert. Diese Planungen werden im Einzelnen dadurch begründet, dass schlimmere Konsequenzen wie das Sterben der gesamten Menschheit verhindert werden (Snowpiercer, Wayward Pines), zugleich führen sie durch ihren kollektivistischen Charakter zur Unterdrückung des Individuums, wie die untersuchten Serien anhand zentraler Figuren vorführen.

9

Vgl. I. in dieser Arbeit.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Obgleich die isolierten Städte in Wayward Pines und Trepalium, die abgeschottete Insel in 3 % und der Zug in Snowpiercer sowie die streng bewachten nationalen Grenzen in The Man in the High Castle und The Handmaid’s Tale aktuelle Tendenzen der Abschottung aufgreifen, sprechen sich die seriellen Dystopien des Post-TV gerade nicht für die Vorstellung des Raums als Container und Mauern als Lösung von Problemen in Umwelt, Wirtschaft sowie Migration und Flucht aus. Die Dominanz isolierter Räume in den seriellen Dystopien ist als Plädoyer für die Vernetzung und Entgrenzung realer Räume zu verstehen, vor allem mit Blick auf den didaktischen Charakter der Dystopie: Gezeigt wird vor allem eine schlechtere Welt, von der ausgehend die Rezipienten Alternativen entwickeln müssen, damit das negative Szenario in der Realität verhindert werden kann. Dafür stehen auf Ebene der histoire die konkrete Destruktion von Grenzen innerhalb und zwischen fiktiven Welten sowie der Misserfolg totalitärer und autoritärer Herrscher. Auf Ebene des discours ist es die Dynamisierung des Raums, der sich mit Episoden und Staffeln weiter in unbekanntes Terrain ausbreitet und dieses zugleich konstruiert und bisweilen auch in transmediale Erweiterungen wächst. Auch mit Blick auf Erzähl- und Rezeptionsprozesse liegt eine Entgrenzung dystopischer Serienräume vor, wenn verschiedene Adaptionen einer dystopischen Welt sowie ihre transmedialen Erweiterungen parallel rezipiert werden können und sich im Sinne Piepiorkas vervielfältigen.10 Hierin zeigt sich die Verknüpfung zum Post-TV: Serien mit expandierenden Topographien wie The Man in the High Castle, 3 %, Wayward Pines, The Handmaid’s Tale und Westworld fügen sich in einen Trend zunehmend entgrenzter Serienräume ein. Serielles Erzählen hat so gesehen ein Platzproblem: Das Konsumgut Serie zeigt immer häufiger kapitalistische Züge, da seltener eine feste Anzahl von Räumen wiederverwertet und insgesamt ›nachhaltig‹ verwendet werden, wie etwa in Sitcoms, Comic-Serien oder Daily Soaps. Obgleich noch immer eine große Anzahl erfolgreicher Fernsehserien mit einem festen Inventar an Räumen und Orten auskommen, tendieren die diegetischen Welten von Game of Thrones, Sense8, The Walking Dead, Homeland, American Horror Story und dem CSI-franchise zur intraseriellen Ausbreitung. In der Vervielfältigung von Räumen wird auch eine Abkehr von eher televisuellen Raumkonzepten deutlich, sie kann aber auch als Reflexion des im Rahmen der Globalisierung vereinfachten Zugangs zu Ländern und Regionen, ungebremster Mobilität von Menschen und Waren und ungehinderter Kommunikation gesehen werden. Insbesondere die Fernsehserie der jüngeren Vergangenheit, die von Abonnement-Sendern und Streaming-Plattformen für ein zahlungskräftiges Publikum und mit Blick auf dessen Interessen produziert wird, verfügt über die finanziellen Mittel für die Zunahme der Qualität der Rauminszenierung und die Quantität der Räume.11 10 11

Vgl. Piepiorka 2017, S. 120. Die diegetischen Räume der Serien breiten sich auch verstärkt extratextuell aus: Zum einen, weil über Streaming-Plattformen und DVDs Serien international leichter verfügbar werden und Produktionen aus Europa, Lateinamerika und Asien deutlich von US-amerikanischen und britischen Serien dominierten Markt teilhaben können. Zum anderen durch die ›Ausbreitung‹ der Drehorte: Serien wie Game of Thrones und Sense8 schaffen Authentizität durch den Dreh an Originalschauplätzen auf der ganzen Welt und schreiben sich in die realen Orte ein, wovon touristische Programme zeugen. Figuren und Handlungen dieser Serien dominieren und kolonialisieren diese

3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte

Zugleich lässt sich anhand der Rauminszenierungen einiger serieller Dystopien der Bezug zum stationären und immobilen Fernsehen nachvollziehen. Die Handlungsorte in 3 %, Trepalium, Wayward Pines und Alpha 0.7 sind überwiegend Innenräume, klar begrenzt und eng. The Man in the High Castle hingegen – ferner auch Westworld und in Ansätzen The Handmaid’s Tale – zeichnen sich (auch) durch Panorama- und Totale-Einstellungen von Landschaften und Städten aus und kreieren Räume, deren Weite und Tiefe audiovisuell erfahrbar werden. Paradoxerweise wird dieser Eindruck kontrastiert mit der Omnipräsenz von Mauern, Zäunen und anderen Grenzen. Auch das Verhältnis von Wiederholung und Verdichtung dieser Serien ist ambivalenter: The Man in the High Castle, 3 % und Alpha 0.7 nutzen die Möglichkeiten der Raumexpansion, während Trepalium und Wayward Pines mit ihrer Rückkehr zu den bekannten Schauplätzen Episode für Episode und Staffel für Staffel eher das ›klassische‹ Televisuelle betonen.12 Weiterhin porträtieren viele der hier verhandelten seriellen Dystopien die Stadt als Ort der Kontrolle. Staaten und Unternehmen stellen die Wahrung ihrer Interessen durch Überwachung sicher: in The Handmaid’s Tale und Electric City sowie den Uchronien von The Man in the High Castle und SS-GB durch Mikrophone, Kameras, telefonische Abhörung und Spitzel, in 3 %, Trepalium, Wayward Pines, Snowpiercer, Westworld und Alpha 0.7 vermehrt durch digitale Techniken wie Chips, die am oder im Körper angebracht sind. Diese Maßnahmen werden vor allem in Alpha 0.7 und Wayward Pines, ferner auch in The Handmaid’s Tale und der dritten Staffel von Westworld, mit dem Ziel der Kriminalprävention begründet. In den seriellen Dystopien, in denen sich die Bürger der Überwachung durch Wirtschaft oder Staat bewusst sind, greifen typische Mechanismen des Panoptismus nach Foucault: Weil die Individuen um ihre permanente Beobachtung wissen, disziplinieren sie sich selbst und unterwerfen sich – zumindest im öffentlichen Raum – den formulierten Normen.13 Die Technologien und Architekturen der hier untersuchten dystopischen Städte sind zunächst eine Referenz auf ein eher diffuses Überwachungsgefühl in der Stadt, da die Figuren in Wayward Pines, The Man in the High Castle, 3 %, Trepalium, Alpha 0.7, The Handmaid’s Tale und Electric City, anders als in Metropolis und Blade Runner eben nicht in einer anonymen Masse Schutz finden, sondern gezielt Orte des Widerstands aufsuchen müssen, um sich dem Regime zu entziehen. Ferner ist die vollkommene Durchleuchtung des urbanen Raums eine Reaktion auf die verschärften Sicherheitsgesetze nach 9/11 und weiteren terroristischen Angriffen in der westlichen Welt. Dies zeigt sich besonders deutlich in der folgenden Rede Dr. Pilchers an seine Mitarbeiter angesichts der Widerständler in Wayward Pines:

12 13

Räume gleichsam mit, da sie in den Alltag der jeweiligen Bevölkerung, wirtschaftliche Strukturen, Natur und bauliche Substanzen eingreifen. Die fiktiven Serienräume ragen in diesem Sinne ganz konkret und sensorisch erfassbar in die extratextuelle Welt hinein. Allerdings stellt die Webserie Gone: A Wayward Pines Story eine transmediale Erweiterung von storyworld und Serienraum von Wayward Pines dar. Vgl. Foucault, Michel (1995 [1975]): Discipline and Punish. The Birth of the Prison. New York: Vintage Books, S. 199–213.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

Pilcher: These are dangerous times, for all of us. Everything we’ve risked our lives for will be destroyed. We’re entering a time of war, where new rules must be applied. Security must be tightened, protocols reinforced. Everything we’ve achieved has been due to your hard work. But we’re battling terrorists. So, stay alert. Stay vigilant. Report anything suspicious.14 Die in der gegenwärtigen Realität kaum noch als problematisch empfundene Sichtbarkeit personenbezogener Daten über Fitnessarmbänder, Bewegungsprofile, Cookies etc. wird extrapoliert in die Vorstellung omnipräsenter Überwachung, die in Metropole und Vorstadt einfacher umzusetzen ist als in dünn besiedelten Gebieten. Der urbane Raum der Insel in 3 % kann zudem als Verweis auf die Smart City und den mit ihr assoziierten Überwachungs-Diskurs verstanden werden.15 Eine Vorstellung der ›klugen Stadt‹, die moderne Informations- und Kommunikationstechnologien und digitale Infrastruktur zur Optimierung verschiedener Lebensbereiche nutzt, wird durch die in der Episode »Capítulo 09: Colar« vorgestellten Innovationen evoziert: Hierzu gehört die nachhaltige Energiegewinnung, vor allem aber die umfangreiche Speicherung der Persönlichkeitsprofile aller Inselbewohner in der DNA einer Meeresschnecke.16 Algorithmen weisen die Bewohner der Insel aufgrund dieser Daten einander zu, damit sie bestmögliche Arbeitsergebnisse erzielen. Kritiker der Smart City warnen vor der Durchsetzung von Unternehmensinteressen zu Lasten der Bürger,17 bedenklich ist aber auch die soziale und ökonomische Kontrolle, die durch das Sammeln, Speichern sowie die Weiterverarbeitung von personenbezogenen Daten aus den Händen der Bürger geraten kann.18 Unter diesem Gesichtspunkt könnte sich die eutopische Vision, als die die Smart City häufig beworben wird,19 als Dystopie entpuppen. Mennel konstatiert, dass die Stadt der Zukunft im Film seit den 1980er Jahren zunehmend als Illusion enttarnt wird. Diese Beobachtung lässt sich auch auf einige urbane Räume serieller Dystopien übertragen. Die Kleinstadt in Wayward Pines ist nicht nur eine Metapher für die totalitär regierte Gesellschaft, sondern zugleich die konkrete Fassade des totalitären Stadt-Staates Wayward Pines. Ihre Künstlichkeit wird u.a. darin deutlich, dass die ›Kulissen‹ der Wohnhäuser nicht auf die einzelnen Bewohner abgestimmt sind, dass die Bürger Rollen in Beruf und Privatleben zugewiesen bekommen und den jeweils aktuellen Herrscher in öffentlichen Darbietungen von ihrer Regimetreue überzeugen müssen.20 Auf den Bühnencharakter der Kleinstadt verweisen nicht nur die

14 15 16 17

18

19 20

Vgl. Wayward Pines, S1E8, »The Friendliest Place on Earth«. Vgl. auch die sich selbst versorgende Kleinstadt in Wayward Pines bzw. den sich selbst versorgenden Zug von Snowpiercer. Vgl. 3 %, S2E9, »Capítulo 09: Colar«. Karvonen, Andrew/Cugurullo, Federico/Caprotti, Federico (2018): Introduction: Situating smart cities. In: Dies. (Hg.): Inside Smart Cities. Place, Politics and Urban Innovation. London: Routledge, S. 1–12, hier S. 4. Vgl. Figueiredo, Sergio M./Krishnamurthy, Sukanya/Schroeder, Torsten (2019): Introduction: Our brave new world. In: Dies. (Hg.): Architecture and the Smart City. London: Routledge, S. 1–14, hier S. 8. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. IV.2.1.1, 2, 4 und 6.

3. Seismographen rezenter Ängste und Raumkonzepte

Geräusche von Grillen, die auf in Blumenbeeten versteckten Tonbändern erklingen, sondern auch die metafiktionale Schulaufführung in der Episode »Exit Strategy«, die den Gründungsmythos von Wayward Pines reinszeniert.21 Ebenso ist die Ausstattung des Zuges in Snowpiercer eine Inszenierung einer bestimmten Vorstellung des prä-apokalyptischen Lebens, die besonders dann grotesk anmutet, wenn die Existenz der oberen Klassen auf dem Spiel steht. Der Kulissencharakter der ersten Klasse, aber auch der Insel Maralto in 3 %, der Stadt in Trepalium und der Villen der Commander-Familien in The Handmaid’s Tale treten insbesondere im Vergleich mit den Räumen hervor, die von den jeweiligen Besitzlosen und Unterdrückten bewohnt werden. Die parallelen Welten von The Man in the High Castle relativieren den Authentizitätsanspruch der eigenen fiktiven Realität für die wandernden Figuren Juliana, John und Tagomi. In Westworld ist die Referenz auf virtuelle Welten besonders auffällig. Aus intradiegetischer Perspektive sind die Themenparks räumliche Erzählungen anderer Realitäten, ebenso wie die virtuellen Räume, in die sich die Androiden begeben.22 Diese Rauminszenierungen reagieren einerseits auf die von Mennel skizzierte gestiegene Relevanz digitaler Filmerzeugung sowie der Verdrängung von Arbeit aus dem öffentlichen Raum der Stadt.23 Andererseits verweisen sie auf die verstärkt zur Geltung kommende Relevanz der subjektiven Raumwahrnehmung und -konstruktion zugunsten einer vermeintlich objektiven Raumwahrnehmung. Sie gehen zudem aber auch mit einem Vertrauensverlust in Staat, Wirtschaft und Medien einher, da sich deren Versprechen von Sicherheit und Wohlstand für einige als haltlos herausgestellt haben: In Wayward Pines und Snowpiercer schlägt der Vorsatz der Exekutive, den eigenen Bürgern ein störungsfreies Leben zu ermöglichen, in Totalitarismus um und anhand der Stadt in Trepalium zeigt sich, dass finanzielle Sicherheit nur für wenige möglich ist, ebenso wie ein Leben im Einklang mit der Umwelt auf der Insel von 3 %.

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Vgl. Wayward Pines, S1E1, »Where Paradise Is Home« sowie S2E4, »Exit Strategy«. Laut Elizabeth Mullen wird der Einfluss des Videospiels auf Westworld in den verwendeten Termini, in der Maskerade der Gäste bzw. Spieler und der Anpassung der Erzählungen des Parks an die Spieler und ihre Interaktionen deutlich; vgl. Mullen, Elizabeth (2018): »Not much of a rind on you«: (De)Constructing Genre and Gender in Westworld (Lisa Joy and Jonathan Nolan, HBO, 2016-). In: TV/Series 14. https://journals.openedition.org/tvseries/3304#quotation, Abs. 28, aufgerufen am 14.10.2020. Vgl. auch Bonner 2018, der Landschaftsgarten und Themenpark zu Vorgängern »digitaler Spielwelten« und Open-World-Computerspielen erklärt; ebd., S. 136–140. Zum Raumerzählen in Computerspielen vgl. II.2.4.3 in dieser Arbeit. Vgl. Mennel 2019, S. 130f.

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4. Raum in Serie und Werk

Zwischen den diegetischen bzw. erzählten Räumen abgeschlossener Texte wie Spielfilm, Roman oder Graphic Novel und denen serieller Texte bestehen eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Sie sind tendenziell bedeutungstragend und semantisieren Figuren, Zeit und Handlung, geben Aufschluss über die Regeln der diegetischen Welt, tragen extratextuelle Diskurse und stellen Bezüge zu Genres und anderen Texten und Medien her. Ihre Inszenierung beeinflusst den Grad an Immersion und Distanz, der während der individuellen Rezeption realisiert wird, die Orientierung und Navigation der Rezipienten in der fiktiven Welt und kreiert Atmosphären. Auch auf Ebene der narrativen Organisation treten Gemeinsamkeiten hervor. Die Raumdarstellung einer Fernsehserien-Episode sind zunächst genauso segmentiert wie die eines Spielfilmens, was auf die Auswahl von Raumausschnitten und ihre Kombination in der Montage zurückzuführen ist. Ebenso werden in abgeschlossenen literarischen Texten, Graphic Novels und Comics Ausschnitte von Räumen und Orten aneinandergereiht, sieht man einmal von Sonderfällen wie z.B. dem Split-Screen-Verfahren ab.1 Die in dieser Arbeit rekonstruierten Strategien seriellen Raumerzählens der Verdichtung und Expansion sind überwiegend auch in abgeschlossenen Texten zu beobachten. So wird in Wir das Territorium des One State immer weiter durch bekannte und neue Orte verdichtet und schließlich um den Außenraum hinter der Mauer expandiert. Im Vergleich zwischen Werk und Serie unterschiedlicher Medien treten vor allem das Intervall zwischen den Segmenten sowie die Unabgeschlossenheit und Offenheit der Serie hervor.2 Zwar lassen sich auch Serien letztlich als Werke ›lesen‹, wofür z.B. Claudia Stockinger plädiert:3 Abhängig vom Rezipienten können die Intervalle betont oder verdeckt werden, wie z.B. beim binge watching; abhängig von Fortsetzungsreichweite und -dichte kann die Rauminszenierung als kohärent oder inkohärent bewertet werden; und abhängig von den textuellen und paratextuellen Signalen kann ein Serienende als finaler Abschluss oder als verfrühter Abbruch wahrgenommen werden.

1 2 3

Vgl. hierzu Anm. 132 in II.3 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu II.1.1.1 in dieser Arbeit. Stockinger 2019, S. 292–297.

392

V. Zusammenfassung und Ausblick

Der entscheidende Unterschied von Serie und Werk scheint aber in der Produktion und Distribution zu liegen, die sich mitunter so deutlich in den diegetischen Raum einschreibt, dass der Serienraum sich auch (oder gerade) dann als solcher zu erkennen gibt, wenn eher werkhafte Rezeptionsmodi angewendet werden. Zum Beispiel kann der erzählte Raum eines Romans nach mehreren Überarbeitungsphasen und vor Veröffentlichung der Erzählung im Sinne eines antizipierten Ergebnisses modifiziert werden, sodass er schließlich im Rezeptionsprozess als kohärent und homogen wahrgenommen werden kann. Abgesehen von eher geschlossenen Serienformen wie z.B. dem FernsehMehrteiler wird der Serienraum aber in einzelnen Fragmenten veröffentlicht, ohne vorab seine weitere horizontale, diagonale und vertikale Ausgestaltung und die Regeln seiner medienabhängigen Inszenierungsmuster in umfassender Weise zu kennen. Der diegetische Raum von Roman, Graphic Novel und Spielfilm erhält nach der Veröffentlichung keine Vergleichsfolie in Form einer oder mehrerer Fortsetzungen, anhand derer seine Plausibilität und Kohärenz rückblickend bewertet wird. Für den Serienraum müssen aber bereits mit der Veröffentlichung des ersten Segmentes weitere potentielle Entwicklungen antizipiert werden, damit er auch in Serien mit langer Erzählzeit und einer hohen Anzahl an Fortsetzungen durchgehend homogen und kohärent erscheint. Generell kann davon ausgegangen werden, dass der diegetische Raum jeder Serie fragmentiert ist, und nur wenige Serien die Aufteilung des Raums auf Ebene von histoire und discours (unbewusst oder bewusst) ausstellen. Dies wird z.B. anhand von Inkohärenzen deutlich, die beim Vergleich mehrerer Episoden und Staffeln einer Serie auffallen. Allerdings werden solche Markierungen des fragmentierten Raums wiederum auch häufig erst wahrnehmbar, wenn die Serie als Werk gelesen wird – wenn also frühere Episoden von Gilmore Girls, Family Guy und 3 % mit jeweils späteren verglichen und textuelle Details mit dem Konstrukt der gesamten fiktiven Topographie kontrastiert werden. Die Verformung des Raums auf Ebene von histoire und discours im Zuge der seriellen Erzählung wird ferner durch die Rahmung immer neuer Räume durch das serielle Intervall markiert, sodass innerhalb von Episoden und Staffeln, Kapiteln, Heften oder Kassetten einzelne Raum-Stationen vorgestellt werden. Beispiele hierfür sind The Wire oder die Buch-Serie A Series of Unfortunate Events von Lemony Snicket.4 Aber auch Verdichtungen offenbaren die Fragmentierung von Serienräumen, da ihr Erzählen zugleich mit ihrer Erschaffung einhergeht. Das serielle Erzählen vom Raum greift viel tiefer in die Ebene der histoire ein und muss die diegetische Welt, von der in manchen Narratologien der Eindruck erweckt wird, sie bestünde unabhängig von der Erzählung, ständig umformen und korrigieren.5 Mit Blick auf die Prozessualität von Serienraum und -welt wird 4

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Snicket, Lemony [Daniel Handler] (1999): The Bad Beginning; (1999): The Reptile Room; (2000): The Wide Window; (2000): The Miserable Mill; (2000): The Austere Acadamy; (2001): The Ersatz Elevator; (2001): The Vile Village; (2001): The Hostile Hospital; (2002): The Carnivorous Carnival; (2003): The Slippery Slope; (2004): The Grim Grotto; (2005): The Penultimate Peril; (2006): The End. New York: HarperCollins [A Series of Unfortunate Events-Serie]. So konstatiert Schmid in seinem erzähltheoretischem Standardwerk Elemente der Narratologie, dass Geschehen und Geschichte eines Romans nicht unabhängig von der Erzählung bestehen könnten, hält aber fest, dass das fiktive Geschehen in »idealgenetischer Perspektive […] allen Akten der Auswahl vorausgeht«; vgl. Schmid, Wolf (2008): Elemente der Narratologie. 2., verbess. Aufl. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 258. Trotz dieser Einordnung erzeugen die folgenden Aussagen über

4. Raum in Serie und Werk

deutlich, dass statische und in der Narratologie gegenwärtig stark verbreitete histoireund Diegese-Modelle für die Untersuchung seriellen Erzählens weiterentwickelt werden müssen. In einigen Fällen machen sich Eingriffe in die Serientopographie parallel zu Narration und Distribution nicht bemerkbar, etwa wenn nur ein Autor Erzählung und Raum plant und gestaltet, der grobe Verlauf der Handlung und ihr Ende früh feststehen und die Länge relativ begrenzt bleibt. Als Beispiel hierfür ist die Harry Potter-Serie zu nennen, deren Handlungsverlauf und weitere Eckpunkte der Narration von der Autorin Joanne K. Rowling von Beginn an skizziert waren, inklusive des finalen Kapitels, lange vor der Beendigung des letzten Bandes.6 Dies mag verallgemeinerbar sein für andere eher werkhafte Serien wie Fernseh-Mehrteiler, mini series, serielle Adaptionen geschlossener Texte oder auch serials in Comic-Heften, die aber eine von Beginn an bestimmte und überschaubare Anzahl an Segmenten nicht überschreitet.7 Besonders viele und schwerwiegende Inkonsistenzen in der Inszenierung des Serienraums kommen zustande, wenn die Fortsetzungsreichweite hoch ist und zugleich verschiedene und wechselnde Akteure an der Produktion beteiligt sind.8 Ein besonders prominentes Beispiel hierfür sind die zahlreichen Versionen von Entenhausen bzw. Duckburg als Schauplatz unzähliger Episoden und einzelner Comic-Serien, der Animations-

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die Komposition der Erzählung den Eindruck, als gehe Schmid von einem beliebig verformbaren Geschehen innerhalb der Diegese aus, einer Ansammlung an vorgefertigten Ereignissen und Entitäten, aus denen Erzähler bzw. Autoren auswählen könnten: »Das Geschehen bildet jenes Material, auf das sich die Selektionen beziehen, die die Geschichte hervorgebracht haben. Die Ausgewähltheit der Momente aber ist auf Schritt und Tritt spürbar, vor allem in der Lückenhaftigkeit der Wirklichkeitsabbildung«; ebd., S. 259. Vgl. hierzu auch Schultz-Pernice 2016a, S. 47, inkl. Anm. 10. Vgl. Martin 2001, zit. in Schmittmann, Andrea (19.02.2017): Rowling, Joanne. In: Kinder- und Jugendmedien. https://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/autoren/1830-rowling-joanne, aufgerufen am 14.10.2020. Eine von Rowling selbst angefertigte Karte des zentralen Handlungsraums Hogwarts sowie der Vermerk spezieller Handlungsorte in den von ihr konzipierten Übersichten einzelner Kapitel und Handlungsstränge lässt darauf schließen, dass der Serienraum insgesamt mit dem Blick auf den gesamten Erzählverlauf und den Abschluss der seriellen Narration vor Erscheinen der einzelnen Bände zumindest in groben Zügen konzipiert wurde; Zur Karte von Hogwarts vgl. Eccleshare, Julia (2018): Die Reise. In: Harrison, Julian et al. (Hg.): Harry Potter: Eine Geschichte voller Magie. London: Bloomsbury, S. 16–35, hier S. 30f.; zur Auflistung der Handlungsorte Kloves, Steve (2018): Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. In: Harrison, Julian et al. (Hg.): Harry Potter: Eine Geschichte voller Magie. London: Bloomsbury, S. 232–247, hier S. 240f. Zugleich bestehen dynamische und inkonsistente Raumdarstellungen auch in Werken. Sie können auf das mangelnde Interesse der an der Produktion beteiligten Akteure an fiktiven Räumlichkeiten, auf handwerkliche Mängel zurückzuführen oder bewusst konstruiert sein. Frank 2017a konstatiert, dass die erzählten Räume in Franz Kafkas Texten generell eher »unübersichtlich und verschachtelt« sind: »In der Regel nehmen die Figuren plötzlich auftauchende Wege und seltsame Raumkonstellationen nach einem kurzen Überraschungsmoment einfach als gegeben hin, was die Irritation des Lesers noch vergrößert«; ebd., S. 105f. Obgleich weder Kafkas Schloss noch Der Process prototypische Beispiele für Werke sind, da die Romane als unvollendet gelten, so weisen sie laut Frank eben jene für den Autor typische Raumgestaltung auf (vgl. ebd., S. 103–107) und eignen sich zumindest zur Diskussion über kohärente Rauminszenierungen als Merkmale von Werken an. Vgl. Hißnauer 2014, S. 370, 381. Als Beispiele wurden bereits die Veränderungen der Räume im Vergleich einzelner Episoden einer Tatort-Serie innerhalb der gleichnamigen Reihe sowie zwischen der ersten und zweiten Staffel von Gilmore Girls genannt; vgl. II.3.3.3 in dieser Arbeit.

393

394

V. Zusammenfassung und Ausblick

serie DuckTales sowie deren gleichnamigem reboot.9 Es ließe sich keine Karte erstellen, in der die Handlungsräume und -orte der jeweiligen Figurengruppen um Donald und Dagobert, aus der Produktion von Carl Barks, Don Rosa und den vielen weniger namenhaften Zeichnern und Autoren so abgebildet werden, dass sie wiederum mit den unterschiedlichen Erzählungen übereinstimmen.10 Selbst einzelne und bekannte Bauten wie Dagoberts Geldspeicher unterscheiden sich stark je nach den produzierenden Akteuren.11 Der Serienraum ist immer fragmentiert auf diegetischer Ebene, ist prekär, weil er sich stets in Planung befindet. Seine Homogenität und Kohärenz ist nur eine Inszenierung, die durch die Wiederholung bekannter Schauplätze, konventionalisierter Raumeinstiege in filmischen Texten, Graphic Novels und Comics, Karten und ›Ausblicke‹ auf bislang auf Darstellungsebene noch unerschlossene Räume durch verbale bzw. visuelle Hinweise oder Cliffhanger hervorgebracht wird. Aufgrund seiner Offenheit ist der Serienraum aber potentiell unendlich erweiterbar, weshalb ein weiterer Unterschied zum diegetischen Raum des Werks in seiner (möglichen) Größe liegt. Umso wichtiger ist es, den Rezipienten bei langen Serien und wechselnden Räumen immer wieder Hinweise zur Lage der jeweiligen Schauplätze zu geben bzw. Kohärenz zwischen den Räumen zu schaffen. Das Orientierungsbedürfnis dürfte noch steigen, wenn zur Länge der Serie auch noch ihr Grad an Homoreferentialität steigt, sie sich also eher auf imaginäre und innovative als auf reale Raumkonzepte bezieht. Deshalb erscheint es nur folgerichtig, dass einige Ausgaben der Lord of the Rings-Trilogie und des Hobbit mit Karten der jeweiligen Handlungsräume beginnen, die die Navigation der Rezipienten durch die FantasyWelt erleichtern. Karten erfüllen bezogen auf den Serienraum aber nicht nur eine wichtige Orientierungsfunktion, sondern können auch den Eindruck von Kontinuität, Statik sowie vertikaler und horizontaler Ausdehnung des diegetischen Raumes erzeugen und bekräftigen. Vor allem in TV-Serien verweisen sie aber auf den prekären Zustand des Serienraums, wenn sie, wie anhand von 3 % aufgezeigt wurde, auf fiktive Territorien referieren, die audiovisuell noch nicht präsentiert wurden.12 Auf der Grundlage der in dieser Arbeit zusammengetragenen Erkenntnisse zum Serienraum sowie speziell der Ergebnisse zum Raum serieller Dystopien können Serien 9 10

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12

Vgl. Anm. 181 in II.3 in dieser Arbeit. Zur Kohärenz Duckburgs in den Comics Don Rosas vgl. Hagerup: »Rosa ist bestrebt, in dem wild wachsenden Universum, das Entenhausen repräsentiert, Systematik und Ordnung zu schaffen, aber er unterstreicht, dass es einzig und allein die Barks’sche Version von Entenhausen ist, auf die er sich bezieht«; Hagerup, Henning (2001): Don Rosa: Gründlichkeit und Begeisterung. In: Rosa, Don: Hall of Fame Band 19 – Don Rosa 7. Köln: Egmont, S. 4–8, hier S. 5. Vgl. z.B. die Mehrteiler zu den Abenteuern von Dagobert Duck von Don Rosa, in Deutschland im Mickey Maus-Heft erschienen, die jeweils auf maximal drei beschränkt sind, in sich aber auch einen hohen Grad an Kohärenz, auch mit Blick auf die räumliche Gestaltung, aufwiesen, eben weil sie von einem Autor und Zeichner konzipiert wurden; vgl. z.B. Rosa, Don (2010 [2001): Die Krone der Kreuzfahrerkönige. In: Ders.: Hall of Fame Band 19 – Don Rosa 7. Köln: Egmont, S. 90–121 [engl. The Crown of the Crusader Kings], in Deutschland veröffentlicht in Mickey Maus 3–5 (2002). Zur Variabilität des Geldspeichers vgl. u.a. dessen Versionen in DuckTales und dem gleichnamigen reboot sowie in Rosa, Don (2010 [2011]): Gauner gegen Geldspeicher. In: Ders.: Hall of Fame Band 19 – Don Rosa 7. Köln: Egmont, S. 68–86 [engl. The Beagle Boys vs. The Money Bin]. Vgl. IV.3.2.1 sowie IV.3.2.2 in dieser Arbeit.

4. Raum in Serie und Werk

anderer Medien hinsichtlich ihrer Generierung fiktiver Räume mit Werken verglichen werden, um einen umfassenden Überblick über die Charakteristika der Topographien serieller Erzählungen zu erhalten. In dieser Arbeit wurden Strategien serieller Raumdarstellung (Verdichtung versus Auflösung, Expansion versus Einengung) ausformuliert und Muster seriellen Raumerzählens (lineares, punktuelles, gestaffeltes und polyzentrisches Erzählen des Raums) dargestellt.13 Diese Analysewerkzeuge haben sich in Bezug auf serielle Dystopien des Post-TV und anderer Fernsehserien als produktiv erwiesen. Ihre Anwendung anhand serieller Erzählungen anderer Medien steht allerdings noch aus und könnte zu einer weiteren Ausdifferenzierung dieser Untersuchungsinstrumente führen.

13

Vgl. hierzu II.3.3.4 sowie II.3.3.5 in dieser Arbeit.

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5. Serienräume lesen – Potentiale und Probleme eines philologischen Zugriffs

Dass sich die Untersuchung filmischer Serienräume auf Theorien und Modelle unterschiedlicher Disziplinen berufen muss, liegt auf der Hand. Eine Analyse von Räumen der multimedial erzählenden Fernsehserie neuerer Prägung, die sich bewusst der Fortführung und Adaption in anderen Medien öffnet und bereits bestehende Narrationen adaptiert, muss neben der Serialitätsforschung nicht nur auf Architektur, Kartographie und die Game Studies, sondern auch auf Raumtheorien der Literatur- und Filmwissenschaft zugreifen. Trotz der bereits dargelegten Begründungen der philologischen Serienanalyse1 ist diese Herangehensweise nach wie vor eher selten und soll deshalb abschließend reflektiert werden. Literaturwissenschaftliche und -historische Kenntnisse sind zur Auswahl der seriellen Dystopien und zur Bewertung der Raumentwürfe in diachroner Perspektive unerlässlich. Dies ist in diesem Fall dadurch begründet, dass das Genre der Dystopie in der Filmwissenschaft kaum vorkommt, aber auch dadurch, dass die Dystopie als Genre der Literatur des 18. Jahrhunderts entspringt.2 Doch auch für die Untersuchung anderer Seriengenres, deren Ursprung in der Literatur verortet wird, erweisen sich literaturgeschichtliche Kenntnisse als produktiv.3 Der Blick auf gegenwärtige fernseh-serielle Dystopien vor allem vom Standpunkt literaturwissenschaftlicher Genretheorie aus hat den Vorteil, den Gegenstand in einer längeren intertextuellen und intermedialen Tradition zu sehen.4 Er deckt Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf, macht auf den Einfluss äl1 2 3

4

Vgl. hierzu II.1.2.3 sowie II.1.3 in dieser Arbeit. Vgl. Claeys 2016, S. 270. So vergleicht auch Stockinger den Topos des Dorfes anhand der »handlungsbestimmenden Bestandteile ›Lokal‹, ›Personal‹ und ›soziale Konflikte‹ sowie […] deren jeweilige Funktionen« in ausgewählten literarischen Serien der Zeitschrift Die Gartenlaube aus dem 19. Jahrhundert und der Tatort-Reihe; Stockinger, Claudia (2017): Dorf in Serie? Von der Gartenlaube zum Tatort. In: Marszalek, Magdalena/Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Bielefeld: transcript, S. 37–62, hier S. 53. Vgl. hierzu u.a. die diachrone Studie zur dystopischen Stadt in Latham/Hicks 2014, die deren Entwicklung von der Literatur des 19. Jahrhunderts bis hin zum Manga-Comic, der Graphic Novel und zum Film Ende des 20. Jahrhunderts nachvollziehen.

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V. Zusammenfassung und Ausblick

terer dystopischer Raumentwürfe aufmerksam und erhellt deren Modifikation und Dekonstruktion in aktuellen Serien des Post-TV. Zugleich verführt der Blick auf Dystopien in Film und TV-Serie aus Perspektive literaturwissenschaftlicher Genretheorien allerdings zur Glättung des stark handlungsbetonten Charakters und des Genresynkretismus dieser Gegenstände.5 Vor allem literaturwissenschaftlich geprägte Raumtheorien erweisen sich als gewinnbringend für die konkrete Analyse der Post-TV-Serien. Dies gilt sowohl mit Blick auf ihre narrative Struktur als auch auf ihre Semantik. Neben den gängigen Theorien von Bachtin und Lotman ist hierbei besonders das ausdifferenzierte Instrumentarium von Frank zur Untersuchung von Raumsemantiken und extratextuellen Diskursen erkenntnisfördernd, für das weder in der Filmwissenschaft noch in der Serialitätsforschung ein Pendant existiert, das Zugriffe verschiedener Disziplinen ähnlich kohärent miteinander verzahnt. Anders als die Raumsemantik Lotmans ist Franks Modell zudem aufgrund weniger übergeordneter Kategorien sowie der Konstruktion von Kontinuen zwischen gegensätzlichen Polen anstelle starrer Binarismen so offen, dass es auch wechselnde Semantiken, autoreferentielle und heteroreferentielle Raumentwürfe sowie Bezüge zu imaginären und realen Raumkonzepten erfasst. Diese Flexibilität erlaubt die Anwendung auf die offenen und dynamischen Serienräume.6 An eben jener Offenheit für die Vielzahl unterschiedlicher diegetischer Räume orientieren sich auch die in dieser Arbeit konstruierten Ebenen der Rezeption, Semantik und des seriellen Erzählens des Raums, die sich auch zur Analyse nicht-dystopischer Serien eignen. Zugleich bedarf es der Modifikation von Raumtheorien, die für abgeschlossene Texte in Schrift und Bewegtbildmedien entworfen wurden, oder für Serien, die überwiegend als Werke rezipiert werden. Zwar liegen Kategorien zur Erfassung von Raumsemantiken vor, doch anders als in Romanen und Spielfilmen verändern sich diese im Laufe einer mehrere Staffeln umfassenden Serie um ein Vielfaches mehr. So beginnen zwar Trepalium, Wayward Pines, The Man in the High Castle und 3 % mit einem oder mehreren klar lokalisierbaren Zentren, von denen aus die jeweiligen ›dystopischen‹ Gesellschaften regiert werden. Diese kollabieren jedoch im Verlauf der Serie zunehmend oder werden, im Fall von 3 %, durch die Etablierung alternativer Gesellschaften herausgefordert. Analyse und Deutung eines Segmentes können somit durch dessen Fortsetzung wieder in Zweifel gezogen werden. Darüber hinaus müssten die Entfaltung des Serienraums, seine wechselnden Bedeutungen, Atmosphären und Wirkungen in Grundlagen- und Einführungswerken der Narratologie stärker berücksichtigt werden.7 5

6 7

Diese Tendenzen zur spannungsgeladenen Handlung und zur Verknüpfung mit anderen Genres, die sich in den seriellen Dystopien des Post-TV abzeichnen, sind möglicherweise auf die Nähe zur Science-Fiction und den stark kommerziellen Charakter dystopischer Filme im Hollywood-Kino zurückzuführen, die wiederum Einfluss auf die Dystopie-Serien nehmen; vgl. Claeys 2016, S. 491. Auch auf Ebene des Erzählens von Raum bietet Frank nützliche Kategorien zur Beschreibung räumlicher Entwicklungen auf Ebene des discours an; vgl. Frank 2017a, S. 104–107. Die Veränderbarkeit der konkreten Gestalt des Raums, der Semantik des Raums sowie seiner dynamischen Generierung durch Auswahl und Kombination von Raumausschnitten im Laufe der Erzählung werden bislang bei Frank 2017a beachtet, nicht aber in erzähltheoretischen Standard- und Einführungswerken in der Literaturwissenschaft, die sich auch mit der Raumanalyse auseinandersetzen; vgl. u.a. das Kapitel »Raum« in Martínez/Scheffel 2020, S. 155–165; sowie Burghardt, Anja

5. Serienräume lesen – Potentiale und Probleme eines philologischen Zugriffs

Der Versuch, den diegetischen Raum von Serien des Post-TV zu ›lesen‹ bzw. allein mit philologischen Zugriffen wie der Hermeneutik und der Narratologie zu erforschen, läuft Gefahr, dessen Potential zur Ermöglichung filmisch-serieller Erfahrungen und Wahrnehmungen zu vernachlässigen, die in der Literatur nicht im gleichen Maße möglich sind wie in audiovisuellen Medien. Hierzu gehören die audiovisuell erzeugte quasi-leibliche Anwesenheit im Serienraum und das Erspüren von Atmosphären, die durch die Inszenierung von Architektur, Baumaterialien, Licht und Ton hervorgerufen werden. Aber auch die Frage, inwiefern Raumdarstellungen die Konstruktion einer konsistenten mental map erleichtern und den Rezipienten die Orientierung im fiktiven Raum gewährleisten, ist nur begrenzt mit narratologischen Kategorien zu beantworten. Film und Fernsehserie erzählen eben nicht nur, sondern stellen dar8 und evozieren Erfahrungen, die dem reflexiv zugänglichen Verstehen vorgelagert sind.9 Darüber hinaus sind Bildkomposition und Musik audiovisueller Serien allein mit narratologischen und hermeneutischen Methoden nicht zu erfassen.10 Doch gerade für ein so interdisziplinäres Feld, wie es durch die Erforschung der Räume serieller Dystopien im Post-TV eröffnet wird, bietet sich die Hermeneutik an, weil sie Anknüpfungspunkte zu genrespezifischen, narratologischen und sogar phänomenologischen Lesarten zulässt. Somit können je nach Ebene der Rezeption und Erfahrung, Semantik und Narration des Serienraums unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und jeweils leicht unterschiedliche Zugänge gewählt werden. Dieses bisweilen eklektisch anmutende Vorgehen erlaubt es, dem Gegenstand und seiner Vielfalt an Formen und Funktionen bezüglich Architektur und Baumaterialien, Atmosphäre, Semantik, filmästhetischer und fernseh-serieller Inszenierung gerecht zu werden.11 Der hermeneutische Zugang erlaubt auch die Auswertung textimmanenter Befunde mit Bezug zu Äußerungen der an der Produktion beteiligten Akteure und Rezipienten, zum Genre, zu Hypo- und Paratexten sowie zur Produktion, Distribution und Rezeption im Post-TV. Nach dem Vorbild von Jennifer Hayward, die die Wechselwirkungen zwischen den seriell veröffentlichten Romanen Charles Dickens’ und den Reaktionen seiner Leserschaft untersucht, könnten in weiteren Studien die Einflüsse von Zuschauern auf die Inszenierung und narrative Strukturierung des Serienraums analysiert werden, sofern relevante Äußerungen in Foren, Fan-Videos oder anderen Formaten vorliegen.12 Diese Arbeit soll mit zwei konträren Positionen zu hermeneutischen Lesarten serieller Erzählungen abschließen, die sich auf die Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen und somit gleichsam auf einen Kern der Hermeneutik und der Serie beziehen. Serien bieten immer nur beschränkte Einblicke in die Diegese in Form von portionierten und für das Segment komponierten Erzählungen an. Dabei kennt die Serie,

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(2016): Aspekte des Raums. In: Lahn, Silke/Meister, Jan Christop (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler, S. 249–254. Vgl. Paefgen, Elisabeth K. (2006): Einführung in die Literaturdidaktik. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 176. Vgl. Morsch 2010a, S. 57. Vgl. Lohmeier, Anke-Marie (1996): Hermeneutische Theorie des Films. Tübingen: Max Niemeyer, S. 50. Vgl. zu diesem »pragmatistische[n]« Verfahren Dellwing 2009, S. 250 bzw. II.1.2.2 in dieser Arbeit. Vgl. hierzu Hayward 1997, S. 52–71.

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400

V. Zusammenfassung und Ausblick

abgesehen von werknahen Formen wie bestimmten Roman-Trilogien und dem Fernseh-Mehrteiler, weder ihre unmittelbare Fortsetzung noch ihr Ende. Sie verharrt zwischen Fragment und Totalität.13 Darauf sind hermeneutische Herangehensweisen, die vom Ganzen auf das Einzelne und umgekehrt schließen, um eine einheitliche Bedeutung zu rekonstruieren, nicht ausgerichtet. Die Segmentierung der Erzählung und ihre reziproke Beziehung zum Serienraum lässt sich in der konkreten Analyse zwar beschreiben, in der Interpretation von Raumdarstellungen und der Formulierung von Bedeutungen mit Blick auf Figur, Handlung und Zeit innerhalb der gesamten Serie wird der Fragmentcharakter allerdings wieder vernachlässigt oder durch werkhafte Lesarten verdeckt. Gegenwärtig stehen Analyse und Deutung von Serien vor dem Problem, dass die schiere Masse einzelner Teile eine exemplarische Auseinandersetzung einfordert, der einzelne Ausschnitt aber genau die Veränderung, das Offene und Gebrochene als zentrale Charakteristika des Seriellen verstellt.14 Ein Ausweg aus diesem Dilemma läge darin, anhand des Exemplarischen die Entwicklung von Räumen auf Ebene der Semantik, der Erfahrung von Raum und dessen narrativen Darstellung durch Kontrastierung mit anderen Ausschnitten, Szenen, Episoden oder Staffeln zu verdeutlichen. Denkbar ist, dass die Fokussierung auf ein virtuelles Ganzes, auf das jede Serie implizit doch zusteuert, gerade den hier untersuchten fünf Kernserien gerecht wird. Trepalium und Alpha 0.7 sind vor allem durch ihre Segmentierung und transmediale Erweiterungen als Serien erkennbar. Die vergleichsweise geringe Anzahl an Episoden sowie der überschaubare Ausstrahlungszeitraum erlauben es jedoch, diese Serien auch als segmentierte Werke zu betrachten. Zudem sind in Trepalium, The Man in the High Castle und 3 % von Beginn an die Konfliktparteien der Systemgegner und der Systemvertreter so klar konturiert, der Unmut der Bevölkerung mit dem jeweiligen autoritären System so greifbar, dass der Handlungsverlauf und die wahrscheinlichsten Ausgänge – Sieg der Rebellen oder Sieg der Herrschenden – für Zuschauer mit Wissen zu Dystopien aus Literatur, Film und anderen Medien absehbar werden. Aufgrund dieser relativen Werknähe bieten sich die fünf Kernserien dieser Arbeit und sicherlich auch andere serielle Dystopien eher für hermeneutische Analysen an, als Serien mit einer jahrzehntelangen Laufzeit wie bspw. The Simpsons. Zugleich kann argumentiert werden, dass in der hermeneutischen Analyse gerade erst das Potential des Seriellen ernst genommen wird.15 Denn ebenso wie im Detail die ›Regelhaftigkeit‹ des Textes entdeckt wird, mag die Episode das Schema der Serie repräsentieren. In jeder Staffel von The Man in the High Castle kämpfen Vertreter des Widerstandes gegen die Vertreter der deutschen und japanischen Besatzung, auch wenn sich einzelne Figuren, Räume und Orte ändern mögen. Auch in Alpha 0.7, Wayward Pines und 3 % werden die immer gleichen Konflikte wiederholt. Hermeneutische Lesarten von Serien nehmen also das Serielle als stete Wiederholung eines Schemas beson-

13 14

15

Vgl. Fröhlich/Scheurer 2021. Vgl. Schultz-Pernice, Florian (2016b): Bausteine einer Didaktik narrativer Serialität am Beispiel der TV-Serie Emergency Room. In: Anders, Petra/Staiger, Michael (Hg.): Serialität in Literatur und Medien, Band 2: Modelle für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 120–127, hier S. 120. Vgl. ebd., S. 125.

5. Serienräume lesen – Potentiale und Probleme eines philologischen Zugriffs

ders ernst, wenn sie versuchen, den Einzelfall – Szene, Episode, Staffel – in Einklang mit dem Ganzen zu bringen. Auch sind der Prozess der hermeneutischen Analyse und der hermeneutische Zirkel selbst seriell: Immer wieder wird das gleiche Material (serielle Dystopien des Post-TV) rezipiert, aber immer wieder mit anderen Vorannahmen, im Vergleich mit anderen Para- und Hypotexten oder Befunden aus der Forschung. Eine Erprobung dieses Vorgehens anhand von Serienräumen des Post-TV bietet die vorliegende Arbeit.

401

VI. Quellenverzeichnisse

Primärquellen

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Medienwissenschaft Marco Abel, Jaimey Fisher (Hg.)

Die Berliner Schule im globalen Kontext Ein transnationales Arthouse-Kino 2022, 414 S., kart., 48 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-5248-2 E-Book: PDF: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5248-6

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Auf dem Weg zur Cyberpolis Neue Formen von Gemeinschaft, Selbst und Bildung 2022, 496 S., kart., 10 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5878-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5878-5 ISBN 978-3-7328-5878-1

Geert Lovink

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Medienwissenschaft Sven Quadflieg, Klaus Neuburg, Simon Nestler (eds.)

(Dis)Obedience in Digital Societies Perspectives on the Power of Algorithms and Data 2022, 380 p., pb., ill. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5763-0 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5763-4 ISBN 978-3-7328-5763-0

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Zeitschrift für Medienwissenschaft 27 Jg. 14, Heft 2/2022: Reparaturwissen DDR 2022, 180 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-5890-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5890-7 ISBN 978-3-7328-5890-3

Olga Moskatova, Anna Polze, Ramón Reichert (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 7, Issue 2/2021 – Networked Images in Surveillance Capitalism 2022, 336 p., pb., col. ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-5388-5 E-Book: PDF: 27,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5388-9

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