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German Pages 276 Year 2005
Lehr- und Handbücher zu Sprachen und Kulturen Herausgegeben von José Vera Morales und Martin M. Weigert Bisher erschienene Werke: Arabisch Waldmann, Wirtschaftswörterbuch ArabischDeutsch • Deutsch-Arabisch Chinesisch Kuhn • Ning • Hongxia Shi, Markt China. Grundwissen zur erfolgreichen Marktöffnung Liu • Siebenhandl, Einführung in die chinesische Wirtschaftssprache Zürl • Jinmei Huang, Wirtschaftshandbuch China Englisch Ehnes • Labriola • Schiffer, Politisches Wörterbuch zum Regierungssystem der USA • EnglischDeutsch, Deutsch-Englisch, 3. Auflage Fink, Wirtschaftssprache Englisch - Zweisprachiges Übersetzer-Kompendium Fink, EconoTerms. A Glossary of Economic Terms, 6. Auflage Fink, EconoTexts I, 3. Auflage Fink, EconoTexts II, 2. Auflage Guess, Professional English, 5. Auflage Königs, Ubersetzen Englisch - Deutsch, 2. Aufl. O'Neal, Banking and Financial English, 2. Aufl. O'Riordan • Lehniger, Business 21 - Modernes Wirtschaftsenglisch kompakt Pawelzik, Communication in Business Schäfer • Galster • Rupp, Wirtschaftsenglisch, 11. Auflage Wheaton • Schrott, Total Quality Management Zürl, English Training: Confidence in Dealing with Conferences, Discussions, and Speeches Französisch Jockel, Training Wirtschaftsfranzösisch, 3. Aufl. Lavric • Pichler, Wirtschaftsfranzösisch fehlerfrei - le français économique sans fautes, 3. Auflage Italienisch Haring, Wirtschaftsitalienisch, 2. Auflage Macedonia, Italienisch für Alle Macedonia, Wirtschaftsitalienisch, 2. Auflage Macedonia, Made in Italy Polnisch Miliriska, Übersetzungskurs Polnisch-Deutsch und Deutsch-Polnisch
Russisch Baumgart • Jänecke, Rußlandknigge, 3. Auflage Fijas • Tjulnina, Wirtschaftsrussisch - Wörterbuch Band I: Deutsch-Russisch Fijas • Tjulnina, Wirtschaftsrussisch - Wörterbuch Band II: Russisch-Deutsch Jänecke • Klemm, Verkehrslexikon, DeutschRussisch • Russisch-Deutsch Rathmayr • Dobrusina, Texte schreiben und präsentieren auf Russisch Saprykina • Pribyl, Wirtschaftsrussisch Spanisch Jockel, Wirtschaftsspanisch - Einfuhrung Padilla Gálvez, Wirtschaftsspanisch-Wörterbuch Spanisch-Deutsch • Deutsch-Spanisch Padilla Gálvez, Wirtschaftsspanisch-Lexikon Spanisch-Deutsch • Deutsch-Spanisch Padilla Gálvez • Figueroa de Wächter, Wirtschaftsspanisch: Textproduktion Padilla Gálvez,Wirtschaftsspanisch: Marketing Schnitzer • Marti, Wirtschaftsspanisch Terminologisches Handbuch, 4. Auflage Schnitzer u.a., Übungsbuch zu Wirtschaftsspanisch, 2. Auflage 1^era-Morales, Spanische Grammatik, 4. Auflage Weitzdörfer, Spanisch heute Tschechisch Schmidt, Deutsch-tschechisches Wörterbuch der Betriebswirtschaftslehre
Rußlandknigge Von
Dr. Annette Baumgart und
Dr. Bianca Jänecke
3., unwesentlich veränderte Auflage
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
© 2005 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: Grafik+Druck, München Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Binderei GmbH ISBN 3-486-57730-1
INHALT
VORWORT
9
EINLEITUNG
15
TEIL 1 ASPEKTE DER INTERKULTURELLEN (WIRTSCHAFTS-) KOMMUNIKATION ZWISCHEN DEUTSCHEN UND RUSSEN
19
Kapitel 1 Die kulturelle Barriere 19 Mit welcher Kultur haben wir es eigentlich zu tun? 19 Ist Rußland der „multikulturelle Schmelztiegel des Ostens"? 24 Das Verhältnis der Russen zu anderen Völkern 30 Die deutsch-russischen/russisch-deutschen Beziehungen 34 Das Bild Rußlands vom Westen. Die russische Interpretation der westlichen Auffassung von Demokratie 43 Die Hauptströmungen der russischen Philosophie und Religion 44 Die rätselhafte „russische Seele" 48 Kultur und Volkscharakter. Elemente des russischen Volkscharakters 50 Kultur und Sprache 82 Kultur und Etikette 85 Zu Geschichte und Wurzeln der russischen Etikette 85 Was Russen und Deutsche voneinander denken (Metabild) „Menschenkenntnis im Alltag" 88 Gesellschaftlicher Umgang und soziale Wertvorstellungen 100 Die Familie 101 Die Einstellung zu Behörden, Institutionen und zum Staat 102 Die Einstellung zu Gesetzen 103 Statussymbole 105 Kleidung 107 Humor 108 Geschenke 109 Kapitel 2 Kulturelle Unterschiede und ihre Auswirkungen auf die Geschäftsbeziehungen 111 Sprachbarrieren und Übersetzungsprobleme 111 Das Phänomen des Kulturschocks 115 Sozio-kulturelle Barrieren im Geschäftsleben - Wenn zwei dasselbe sagen, müssen sie noch lange nicht dasselbe meinen! 117 Akzeptanz von Ausländern 119 Die Wahl eines Geschäftspartners in Rußland 123
6
Inhalt Das „Eigene" und das „Fremde" im russischen Business Die kulturgebundene Anpassung von Produkten für den russischen Markt Die menschliche Komponente im Geschäftsverkehr Die Verhandlung als wichtigste Form der geschäftlichen Kommunikation Russen als Verhandlungspartner „Zeit ist Zeit und Geld ist Geld" - Zum Zeitverständnis im russischen Geschäftsleben
Kapitel 3 Die russische Geschäftsetikette Die nichtsprachliche (non-verbale) Etikette - die Körpersprache Die sprachliche Etikette Begrüßung und Verabschiedung Anrede Vorstellung Glückwunsch Einladung Entschuldigung
TEIL 2 WISSENSWERTE HINTERGRUNDINFORMATIONEN ÜBER RUßLAND Kapitel 1 Politische Rahmenbedingungen Rußland - eine Transformationsgesellschaft auf dem Weg von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft Projekte mit Rußland - der sicherste Weg zum Bankrott oder vielversprechende Option auf die Zukunft? Großbetriebe und neue Wirtschaftsstrukturen Der Arbeitsmarkt. Arbeitskräfte. Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen Kapitel 2 Aus der russischen Unternehmenspraxis Zur Lage der ehemaligen Staatsbetriebe Rechtsformen von Unternehmen in der Russischen Föderation Unternehmensstruktur. Organisation und Führung Kontrolle und Management-Informationssysteme (MIS) Problemlösung und Entscheidungsfindung Planung Delegation von Verantwortung Arbeitsbeziehungen. Einstellung zu Kooperation und Konkurrenz. Kritikverhalten Dienstbesprechungen Kommunikation Frauen im Unternehmen Rentner im Unternehmen Beruflicher Aufstieg Qualifikation und Fortbildung Akzeptanz ausländischer Partner in russischen Unternehmen Die Einstellung zu Gemeinschaftsunternehmen mit Ausländern
124 125 126 132 148 151 151 153 153 156 159 161 163 167
169 169 169 198 198 202 207 207 208 214 217 218 220 222 222 224 225 225 227 227 228 229 231
Inhalt
ANHANG
7
234
Tendenzen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung in Rußland seit 1997
234
Wichtige Adressen
253
Verzeichnis der umbenannten Städte
256
Neue Bezeichnungen der national-staatlichen und national-territorialen Gebiete der Russischen Föderation und deren Hauptstädte
256
Quellenverzeichnis
258
Literaturverzeichnis
263
Stichwortregister
271
Vorwort „Im alltäglichen ungezwungenen Beisammensein sind wir einander sympathisch. Die Probleme beginnen, wenn wir uns gemeinsam an die Arbeit machen. Früher oder später stellen wir fest, daß wir unterschiedlich denken und handeln.1" So wollte ein russisches Unternehmen elektronische Geräte produzieren und suchte einen Zulieferer für bestimmte Baugruppen. Man fand einen amerikanischen Vermittler, der diese Baugruppen aus Asien importieren wollte. Am Verhandlungstisch fand folgender Dialog zwischen einem Amerikaner und seinem russischen Partner statt: A: „Was ist am wichtigsten für die Markteinführung des neuen Produkts, über welche Gebrauchseigenschaften soll Ihr Produkt verfügen?" R: „Das wichtigste ist, die Baugruppen zum Billigpreis zu bekommen." A: „Gibt es für Ihr Produkt einen Absatzmarkt?" R: „Den Markt haben wir im einzelnen noch nicht untersucht, aber in den Geschäften ist das Angebot sehr begrenzt (es ging um eine Ural-Region), das garantiert uns den Absatz." A: „Können Sie wirklich verkaufen, haben Sie bereits Aufträge akquiriert?" R: „Wir reden doch über die Zulieferung der Baugruppen und nicht über das Marketing. Damit werden wir uns zu gegebener Zeit beschäftigen." A: „Haben Sie einen Absatzplan? Von ihm hängt doch der Lieferplan für die Baugruppen ab." R: „Den Lieferplan werden wir davon abhängig machen, wieviel Baugruppen ein Container faßt." A: „Wieviel können die Geschäfte abnehmen? Wie ist der aktuelle Preis?" R: „Die Geschäfte kaufen die Erzeugnisse nicht auf, sie nehmen sie in Kommission und sind am Umsatz beteiligt. Was die Preise angeht, so sind sie von Fall zu Fall unterschiedlich." A: „Vielleicht würde es Sinn machen, sich bei der Preisbildung auf einen akzeptablen Preis zu konzentrieren." R: „Verzeihen Sie, wir haben den Eindruck, daß Sie in erster Linie an Informationen interessiert sind, und weniger an Ihrer Geschäftsprovision ,.."2. So wie diesem amerikanischen Geschäftsmann erging es wohl auch schon anderen, die mit russischen Partnern Verhandlungen führten. Nur zu oft kommt es zu Mißverständnissen, redet man aneinander vorbei...
10
Vorwort
Die fortschreitende Entwicklung der Ost-West-Beziehungen stellt immer höhere Anforderungen an die in diesem Bereich Tätigen. Das vorliegende Buch richtet sich an all jene, die in ihrer täglichen Arbeit Umgang mit Vertretern anderer Kulturen haben, die im direkten Kontakt zu russischen Geschäftspartnern stehen bzw. stehen werden. Es soll einstimmen auf ein riesiges, faszinierendes, zugleich jedoch auch verwirrendes, von extremen Widersprüchen geprägtes Land und seine Menschen. Der Rußlandknigge richtet sich an Leser, die das Interesse und die Bereitschaft aufbringen, sich in die Denkweise einer anderen Kultur hineinzuversetzen. Da „das Begreifen einer Kultur mehr ist, als ein paar Benimm-Regeln anzuwenden 3 ", versteht sich dieses Buch als Beitrag zur Differenzierung bestimmter, beiderseitig bestehender nationaler Klischeevorstellungen. Das Hauptanliegen besteht in der Sensibilisierung der Leser für kulturell gebundene Verhaltensweisen, in der Vermittlung von Ratschlägen zur angemessenen Wertung solcher Verhaltensweisen und zur Vermeidung von "Fettnäpfchen" (dabei soll nicht nach "Oberlehrermanier" in einen für "reine" Leitfaden und Arbeitsbücher zuweilen charakteristischen didaktisch-belehrenden Stil verfallen werden). Mit der Beschreibung konkreter Situationen sollen Anstöße aus der Praxis für die Praxis gegeben werden. Insofern versteht sich das Buch vorrangig als Beitrag zu einer praxisorientierten Kommunikationsberatung für Geschäftsleute. Angesprochen werden sollen neben Geschäftsleuten auch Dolmetscher, Übersetzer, Fremdsprachensekretärinnen und Lehrkräfte, die Wirtschaftsspezialisten für den russischsprachigen Raum ausbilden. Es muß allerdings ganz deutlich klargestellt werden, daß es, wenn es um kulturelle Interferenzen geht, keine „objektive" Darstellung oder Bewertung von „außen" geben kann. Jede Darstellung ist vielmehr geprägt durch Kultur und Sprache des Darstellenden. Alles über die russische Kultur, den russischen Volkscharakter und seinen Einfluß auf die Gestaltung von Geschäftsbeziehungen zwischen Russen und Westeuropäern Gesagte erfolgt immer auch unter dem Blickwinkel der eigenen - der deutschen - Kultur und Mentalität, also mit den Augen derer, die mit diesem Buch angesprochen werden sollen. Das ist eigentlich das Thema dieses Buches: der interkulturelle Aspekt im (geschäftlichen) Umgang miteinander. Bei jeder noch so einfachen Unterhaltung ist das Risiko, von Gesprächspartner mißverstanden zu werden, gegeben, selbst wenn die
seinem
Vorwort
11
Gesprächspartner dieselbe Sprache sprechen, durch dieselbe Kultur, Ideologie, Wirtschaftsphilosophie (oder gar durch familiäre Bande) miteinander verbunden sind. Treffen sich Geschäftspartner verschiedener Kulturen, so kann sich dieses Risiko, wie das einführende Beispiel verdeutlicht, beträchtlich erhöhen. Soziokulturelle Unterschiede stellen eine ernstzunehmende Barriere in der internationalen Wirtschaftskommunikation dar. In vielen Fällen sind sie der Grund für den Mißerfolg von Verhandlungen, auch wenn sich die Verhandlungspartner dieser eigentlichen Ursache ihres Scheiterns bei weitem nicht immer bewußt sind. Da jede Verzögerung (ganz zu schweigen vom Scheitern) einer Verhandlung letztlich Kosten verursacht, sind Geschäftsleute gewöhnlich bestrebt, mögliche Mißerfolgsfaktoren bereits im Vorfeld der Verhandlung zu identifizieren und Vermeidungsstrategien zu entwickeln. Was sich für die finanzielle, logistische oder gesetzliche Seite eines geplanten Geschäftes auf Grund eines breiten internationalen Erfahrungsschatzes gewöhnlich recht erfolgreich bewältigen läßt, bereitet im sozio-kulturellen Bereich oft Schwierigkeiten. Aus diesem Grund werden Fachbereiche, wie die Interkulturelle Wirtschaftskommunikation und das Interkulturelle Management mehr und mehr zu anerkannten Bereichen der Managementwissenschaften. Durch den Vergleich von Kulturunterschieden untersuchen sie jene Faktoren, die die grenzüberschreitende Kommunikation in den Handlungsfeldern der Wirtschaft negativ oder auch positiv beeinflussen. Obwohl es sich bei der interkulturellen Wirtschaftskommunikation um eine noch relativ junge Forschungsrichtung handelt, existiert bereits ein gewisses Spektrum einschlägiger Literatur. Publikationen zu diesem Thema umfassen didaktische Literatur, Lehrbücher, Arbeitsbücher, wissenschaftliche Monographien und Kommunikationskurse zur Sprachetikette ebenso wie populärwissenschaftlich bis publizistisch verfaßte "Mentalitätsschnellkurse". Gegenstand von Publikationen zu diesem Thema sind in den meisten Fällen sozio-kulturelle Aspekte der Wirtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen westeuropäischen Ländern (beispielsweise England-Frankreich) bzw. zwischen einem westeuropäischen Land und den USA. Trotz der zunehmenden Bedeutung der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen und dem schrittweisen Ausbau der Geschäftskontakte zwischen den Ländern der EU und den GUS-Staaten wurde Rußland in diesem Kontext bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet. Da neben einem rein "sprachlichen Nachholbedarf' auf beiden Seiten auch kulturhistorisch und mentalitätsbedingte Unterschiede
12
Vorwort
zwischen der deutschen und der russischen Kultur stärker ausgeprägt sind als etwa zwischen der deutschen und der französischen, ist es an der Zeit, einige Aspekte interethnischer Beziehungen eingehender zu beleuchten. Im Unterschied zu den wenigen bereits existierenden Publikationen dieser Art, die Rußland zum Gegenstand haben und die gewöhnlich einen sprachkontrastiven Ansatz verfolgen (also die Gegenüberstellung sprachlicher Ausdrucksmittel im Deutschen und im Russischen zum Ausdruck bestimmter Kommunikationsabsichten), zielen die Autorinnen auf die Schaffung einer Synthese aus sozio-kulturellen Aspekten der Wirtschaftskommunikation und der Schilderung der russischen Unternehmenspraxis, ausgehend von einem primär verhaltenskontrastiven Ansatz. Dabei ist zu beachten, daß nicht alle Besonderheiten des russischen Volkscharakters und (daraus abgeleitet) Geschäftsgebarens sozio-kulturell bedingte Ursachen haben, sondern zum Teil auch systembedingt sind. Im Text sind bestimmte Wörter und Wendungen, die typische, kulturspezifische Begriffe und Erscheinungen bezeichnen, in Klammern mit ihrer russischen Entsprechung angegeben. Damit soll größere Lebensnähe erreicht und denen, die bereits über gewisse Sprachkenntnisse verfugen, Genüge getan werden. Umfassende Kenntnisse des Russischen werden beim Nutzer jedoch nicht vorausgesetzt. Ergänzend wird eine Zusammenstellung grundlegender sprachlicher Mittel zum Ausdruck bestimmter Kommunikationsabsichten angeboten. Die Idee für dieses Buch entstand nach Sichtung der Ergebnisse einer Umfrage zu konkreten Erfahrungen verschiedener, auf dem russischen Markt agierender deutscher Firmen. Auf der Basis direkter persönlicher Kontakte der Autorinnen zu deutschen Firmenvertretungen in Rußland wurden diese Ergebnisse verifiziert und verallgemeinert. Um eine einseitige Betrachtungsweise zu vermeiden (denn auch Wirtschaftskommunikation ist schließlich keine "Einbahnstraße"), wurden in verallgemeinerter Form auch die Erfahrungen einiger russischer Firmen im Umgang mit ausländischen Geschäftspartnern berücksichtigt. Die aus den Gesprächen gewonnenen Antworten sind aufbereitet und in das Buch einbezogen worden. Das vorliegende Buch läßt sich in zwei Hauptteile gliedern. Der erste, umfassendere Teil behandelt Aspekte der interkulturellen (Wirtschafts-)
Vorwort
13
Kommunikation zwischen Deutschen und Russen. Im ersten Kapitel („Die kulturelle Barriere") werden bestimmte sozio-kulturelle Merkmale des russischen Volkscharakters, Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs und des sozialen Wertesystems der russischen Gesellschaft der Gegenwart beschrieben und etwas eingehender in ihren historischen und religiösen Wurzeln beleuchtet. Im zweiten Kapitel („Kulturelle Unterschiede und ihre Auswirkungen auf die Geschäftsbeziehungen") wird auf ausgewählte Unterschiede zwischen der russischen und der westeuropäischen (vorzugsweise deutschen) Kultur in ihren Auswirkungen auf die Gestaltung von Geschäftsbeziehungen eingegangen. Das abschließende dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Besonderheiten der russischen Geschäftsetikette. Zur Erhöhung des praktischen Wertes für den Nutzer wurden die gebräuchlichsten sprachlichen Mittel zum Ausdruck der einzelnen zuvor beschriebenen Kommunikationsabsichten in knapper Form in russischer Sprache mit ihren jeweiligen deutschen Entsprechungen aufgenommen. Im Mittelpunkt des zweiten Teils stehen einige ausgewählte und für eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit mit russischen Partnern durchaus wissenswerte Hintergrundinformationen über Rußland, seine gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen, den russischen Arbeitsmarkt, die Umfeldbedingungen russischer Unternehmen. Den Schwerpunkt bildet hier das Kapitel 2 ( „ A u s der russischen Unternehmenspraxis"), bei dem die Beschreibung typischer Gepflogenheiten und Verhaltensweisen im innerbetrieblichen Leben großer Unternehmen im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Der Rußlandknigge ist das Produkt der im Rahmen einer mehrjährigen beruflichen Tätigkeit in Rußland gewonnenen praktischen Erfahrungen der Autorinnen. Um ein objektiveres Bild zu vermitteln, wurde die aktuelle wissenschaftliche Literatur zum Thema „interkulturelle Wirtschaftskommunikation" hinzugezogen. Es wurden Artikel und Monographien aus der internationalen Wirtschaftspraxis sowie Publikationen zu Kultur, Geschichte und Philosophie Rußlands ausgewertet. Zur Abrundung des Gesagten wurden Russen befragt, die selbst tagtäglich mit westlichen Geschäftsleuten zu tun haben. Die Autorinnen Dr. Annette Baumgart und Dr. Bianca Jänecke verfügen über eine abgeschlossene Russistikausbildung sowie über einschlägige praktische Erfahrungen sowohl im Bereich der Fremd- und Fachsprachenvermittlung als auch im direkten Umgang mit russischen Geschäftspartnern.
14
Vorwort
A. Baumgart (geb. 1960) studierte nach Abschluß einer russischen Schule fünf Jahre an der Kuban-Universität Krasnodar (Rußland) Russische Sprache und Literatur und ist seit 15 Jahren in der universitären Russistikausbildung an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Sie spezialisierte sich in ihrer Forschungsund Lehrtätigkeit zunehmend auf Fragen der interkulturellen Sprachkompetenz sowie auf landeskundliche Aspekte des Fremdsprachenerwerbs. B. Jänecke (geb. 1964) absolvierte ein dreijähriges postgraduales Studium an der Philologischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität. Sie arbeitet seit mehreren Jahren in der Firmenrepräsentanz eines Berliner Bildungs- und Beratungsunternehmens in Moskau und leitet diese Repräsentanz seit 2 Jahren als Niederlassungsleiterin. Sie verfugt über praktische Erfahrungen bei der Konzipierung und Realisierung von Restrukturierungs- und Bildungsprojekten in verschiedenen Unternehmen Rußlands. A. Baumgart und B. Jänecke publizierten 1993 in der Reihe "Wirtschaftsrussisch" ("Volk & Wissen") gemeinsam ein deutsch-russisches/russisch-deutsches Fachwörterbuch mit erklärendem Teil. B. Jänecke ist zudem Mitautorin am bislang letzten Band dieser Reihe - "Vertragsentwürfe" (erschienen 1994).
Vorwort zur zweiten Auflage Seit Erscheinen der ersten Auflage sind mehr als zwei Jahre vergangen. Da es sich beim "Rußlandknigge" um ein Buch über das heutige Rußland handelt, wäre nach dieser langen Zeit eine gründliche Neubearbeitung wünschenwert. Aus drucktechnischen Gründen gestattete es die vorliegende zweite Auflage jedoch lediglich, partielle Aktualisierungen vorzunehmen. Die Autorinnen weisen darauf hin, daß das erste Kapitel des zweiten Teils (Politische Rahmenbedingungen) den Zeitraum vom Beginn des Transformationsprozesses bis Ende 1996 umfaßte. Die Ereignisse der letzten Monate haben jedoch einschneidende Veränderungen in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung gebracht, die dem Leser nicht vorenthalten werden dürfen. Aus diesem Grunde ist eine Ananlyse der aktuellen Tendenzen in der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung Rußlands seit 1997 in den Anhang aufgenommen worden. Gleichzeitig erfolgte eine Aktualisierung der wichtigen Adressen. Für Hinweise, Meinungsäußerungen Autorinnen dankbar.
und
Ergänzungsvorschläge
sind
die
Einleitung B nyjtcoü Monacmbipb
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Man bringt nicht die eigenen Regeln in ein fremdes Kloster.
„Rußland zieht Geschäftsleute aus dem Westen an - und gleichzeitig schreckt es sie durch seine Unwägbarkeiten ab. Tausende von westlichen Geschäftsleuten geraten früher oder später in Verzweiflung, aber nicht weil sie eine Niederlage erleiden mußten - Niederlagen kann man in jedem Land erleiden - sondern weil sie nichts von den geheimen Gesetzen des russischen Geschäftslebens verstehen. Eigentlich kann man in Rußland viel leichter zu Erfolg kommen als in jedem westlichen Land. Dafür muß man jedoch begreifen, daß Business „po-russki" stark abweicht vom üblichen Geschäft, so wie auch Rußland selbst sich stark von anderen Ländern unterscheidet. Business ist nur ein kleiner Teil des russischen Lebens, und nur derjenige wird seine Besonderheiten verstehen, der Rußland versteht"4. In den letzten Jahren, spätestens seit dem Fall des „eisernen Vorhangs", kommt es immer häufiger zu privaten und geschäftlichen Kontakten mit Vertretern aus den Ländern Osteuropas. Ein besonderes Interesse stellt hierbei zweifellos das territorial riesige Rußland dar. Viele Bürger Westeuropas haben nur ungefähre, oftmals unklare Vorstellungen von Rußland und seinen Menschen. Auch tragen viele Presseveröffentlichungen nicht gerade dazu bei, diese Unsicherheiten abzubauen. Wer privat für kurze Zeit nach Rußland fahrt, hat meistens keine Probleme sich zurechtzufinden. Wer allerdings mit Russen ins Geschäft kommen will, sollte sich nicht unvorbereitet in dieses oft abenteuerlich anmutende Unterfangen stürzen. Es zeigt sich, daß in der Geschäftskommunikation insgesamt die sprachlichen Probleme geringerer Art zu sein scheinen als die kulturellen. Selbst wenn zwei Menschen eine Sprache sprechen, denken sie beiderseits in den ihnen eigenen kulturspezifischen Kategorien und passen entsprechend die eigenen, kulturgebundenen Verhaltensweisen an. Die semiotische und pragmatische Übereinstimmung mit dem fremden Partner kann dabei in bestimmten Situationen wichtiger sein als die Befolgung von grammatischen und semantischen Regeln.
16
Einleitung
Wenn nämlich Bedeutungsdivergenzen vorliegen, werden ihre Ursachen oftmals nicht in anderen Kommunikationsgewohnheiten oder fremden Kulturstandards, sondern in "Fehlern" der betreffenden Person bzw. Personengruppe gesucht. Häufig wird auf unterschiedliche Verhaltensweisen mit Vorurteilen und Überheblichkeit („typisch deutsch/typisch russisch") reagiert. In der Regel werten wir das Verhalten anderer, ausgehend von unseren Wertvorstellungen, ohne daß uns auch nur in den Sinn kommt, daß der andere ja ebenfalls seine Wertvorstellungen hat und vielleicht unser Verhalten als „unmöglich" wertet. Diese Gefahr des „Aneinander-Vorbei-Redens" kann schnell zum Alptraum werden, wenn man geschäftliche Kontakte anzubahnen bzw. zu pflegen hat, bei denen man auf gute Beziehungen zum Geschäftspartner angewiesen ist. Fast jedes Unternehmen unterhält heute internationale Wirtschaftsbeziehungen, die in erster Linie auf unmittelbarer Kommunikation in einer zumindest für einen der Partner fremden Sprache basieren. Vielfaches Scheitern internationaler Kooperationsbemühungen
und
ständig
zunehmender
Wettbewerbsdruck
veranlassen beispielsweise die im Exportgeschäft tätigen Firmen zunehmend, kulturell bedingte Einflußfaktoren auf die Geschäftstätigkeit rechtzeitig zu identifizieren und in ihren Aktivitäten zu berücksichtigen. Deshalb wird diesem Aspekt eine wachsende Bedeutung beigemessen. Diese
Bedeutung
wächst
um
so
mehr,
sollten
andere,
über
reine
Handelsbeziehungen hinausgehende Formen einer Zusammenarbeit, etwa im Rahmen eines Joint-venture angestrebt werden, bei denen es zu langanhaltenden, direkten Kontakten
zwischen Mitarbeitern verschiedener
Führungsebenen
kommt, die zugleich einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund in die Zusammenarbeit
einbringen.
Die
direkte
Zusammenarbeit
in
einem
Unternehmen erfordert ein vertieftes Verständnis dafür, warum sich Menschen unterschiedlicher Kulturen auf die eine oder andere Weise verhalten und entscheiden. Jedes
Volk
ordnet
seine
Werte
zu
einem
bestimmten
Weltbild.
Die
Wertvorstellungen sind in den einzelnen Kulturen sehr unterschiedlich und werden von zahlreichen Faktoren bestimmt. Neben Religion, Wirtschafts- und Sozialstruktur prägen auch Geschichte, Geographie, individuelle Erwartungen u.a. die Werteskala eines Volkes, deren Kenntnis für das Verständnis dieses Volkes und seiner Kultur wichtig ist.
Einleitung
17
Die zugrunde liegenden Wertvorstellungen variieren von Land zu Land. Einstellungen zu Regierung, Familie, Gemeinde, Arbeitgebern und Beschäftigten sind sehr unterschiedlich. Deutsche fühlen sich beispielsweise nicht selten unbehaglich angesichts von Ungewißheit, Unklarheiten und nicht abschätzbaren Risiken. Erfahrung und Veranlagung haben die Furcht vor Unsicherheit verstärkt. Bei einer Wahl neigen viele Deutsche dazu, sich für die „sicherste" und damit konservativste Alternative zu entscheiden. Ebenso gehen die Meinungen darüber auseinander, was „anstößig" und als Vergehen zu werten ist. Was illegal ist, muß nicht unmoralisch sein und umgekehrt. Die Unterscheidung zwischen absoluten moralischen Normen und individuellen Gewissensbissen variiert, weil Worte und Handlungen erst in einem konkreten kulturellen Kontext eine bestimmte Wertung erfahren. So gilt es aus westeuropäischer Sicht z.B. als zumindest suspekt (um nicht zu sagen „unmöglich"), wenn russische Gesprächspartner > mit einer Einkaufstüte in der Hand bei einem Informationsgespräch in einem der führenden deutschen Kreditinstitute erscheinen; > bei
Informationsgesprächen
mit
deutschen
Unternehmen
oder
Kreditinstituten, die in relativ großem Kreise stattfinden und damit öffentlichen Charakter tragen, den deutschen Vertreter in Anwesenheit seiner Mitarbeiter fragen, wieviel er denn so im Monat verdiene; > bei Geschäftsessen oder gemütlichen Zusammenkünften in Deutschland, die in einem Restaurant stattfinden, unbedingt die eigenen alkoholischen Getränke mitbringen wollen; > bei Gruppenbesuchen in deutschen Unternehmen lediglich interessiert zuhören, nicken, ein bis zwei Höflichkeitsfragen stellen und zum Schluß dankend ein Souvenir überreichen, ohne daß auch nur der Anschein erweckt wird, man sei ein potentieller Partner oder Kunde; > in Verhandlungen über die Durchführung eines Qualifizierungskurses für die eigenen Führungskräfte ernsthaft vorschlagen, dem deutschen Partner diese Leistung in Naturalien (im konkreten Falle handelte es sich um KetschupLieferungen) zu bezahlen.
18
Einleitung
Unangebrachte, mißbilligende Kritik kann ferner die von Ausländern als unhöflich erachtete Antwort „He cica>Ky" („Das kann ich nicht sagen") hervorrufen, die üblicherweise auf die Frage, wo sich dieses oder jenes befinde, gegeben wird und die wörtlich übersetzt auch mit „Das werde ich nicht sagen" wiedergegeben werden kann5. Bei Besuchen in Rußland „wundern sich" Westeuropäer zuweilen, wenn sie vor dem Essen aufgefordert werden, sich die Hände zu waschen, oder wenn der Gastgeber sie direkt bis zur Toilette begleitet. Aus russischer Sicht jedoch wird dies als normale Sorge um den Gast empfunden. Diese Liste ließe sich sicher beliebig fortsetzen. Anzumerken bleibt nur, daß all diese Dinge aus russischer Sicht als „völlig normal" und kein bißchen verwerflich angesehen werden. Umgekehrt gilt es in den Augen der Russen als völlig „unmöglich", sich beispielsweise in Anwesenheit anderer die Nase zu schnauben (selbst wenn man sich dabei abwendet), zu niesen oder in sportlichlässiger Kleidung (selbst wenn es sich um die teuerste Markenware handeln sollte!) irgendwelche ernsthaften geschäftlichen Angelegeheiten besprechen zu wollen. Häufig ist die Auffassung anzutreffen, daß in einigen Kulturen härter gearbeitet werde als in anderen, was zweifellos ebenfalls ein subjektives Werturteil ist: „Sicher bestehen (meßbare) Unterschiede zwischen produktiven und weniger produktiven Volkswirtschaften, Ursache dafür ist aber nicht, wie hart die Leute arbeiten, sondern wie effizient. Das Problem ist das Management, nicht die Motivation"6. Werden fremde Kulturen in unsere eigenen Kategorien gezwängt und nach unseren Vorstellungen beurteilt ... und nicht in ihrem eigenen Wert betrachtet, so werden Werte und Inhalte, die die Träger dieser Kulturen den Institutionen selbst beimessen, mißachtet. Bei der Beschreibung fremder Kulturen ... ist deshalb nicht so sehr die Ansicht der Interpreten als vielmehr die Vorstellung der Vertreter dieser Kulturen wichtig7.
Teil 1 Aspekte der interkulturellen (Wirtschafts-) Kommunikation zwischen Deutschen und Russen Kapitel 1
Die kulturelle Barriere
Mit welcher Kultur haben wir es eigentlich zu tun? Die Geschichte des Kulturbegriffs, die Vielfalt seiner Auslegungen lassen die Frage aufkommen, ob es überhaupt eine wissenschaftliche und universelle Definition dieses Begriffs geben kann. Ursprünglich bezeichnete der Begriff Kultur die Bearbeitung des Bodens, seine Kultivierung, also Veränderungen der Natur unter dem Einfluß des Menschen. Wichtig erscheint also die Einheit von Kultur, Mensch und seiner Tätigkeit. Die Autorinnen des vorliegenden Buches verstehen unter Kultur „die gesellschaftlich vermittelten Überzeugungen, Verhaltensmuster, Wertvorstellungen und Normen einer bestimmten Gemeinschaft. Sie besteht aus Regeln, Begriffen, Kategorien und Annahmen, die die Angehörigen dieser Gemeinschaft benutzen, um ihre Umgebung zu interpretieren und ihre Interaktion mit anderen Angehörigen derselben Gemeinschaft zu steuern'"8. Zugleich ist Kultur „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, besonders der Werteinstellungen"9. Kultur bedeutet die Fähigkeiten und Sitten, welche der Mensch als Mitglied einer Gesellschaft erworben hat. Sie ist der geistige Inhalt, der dem Menschen durch die Gesellschaft, in der er lebt, zuteil wird. Die Kultur ist in ihrer Gesamtheit kein individueller, sondern sozialer Inhalt, d.h. sie realisiert sich nicht in einem Individuum, sondern in der ganzen Gesellschaft10. Diese
Interpretation
des
Kulturbegriffs
verdeutlicht,
daß
Kulturen
unterschiedlicher Gemeinschaften erheblich voneinander divergieren können. Jede Kultur hat also ihre Spezifik. Der Westen strebte jahrhundertelang danach, die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins und der Rolle des Menschen darin zu finden, während der Osten die Welt aus seinen inneren Empfindungen heraus reproduzierte.
20
Teil /: Interkulturelle Aspekte
Wo die Kultur des Westens und die Kultur des Ostens aufeinandertreffen, an dieser Schnittstelle zwischen Okzident und Orient, liegt die russische Kultur. Damit hat sie einen bedeutenden Platz zwischen zwei großen Weltkulturen: Sie ist die Brücke zwischen ihnen, sie wird gleichzeitig sowohl von der einen als auch von der anderen befruchtet, sie kann nur aus dieser Stellung heraus erklärt werden. Der russische Kulturforscher E.W. Popow bezeichnet sie aus diesem Grund als „synthetische Kultur" 11 . Nicht unwichtig für die weitere Behandlung unseres Themas ist die Feststellung, daß die russische Kultur auf Grund ihrer religiösen und philosophischen Wurzeln
keine „Macher-Kultur"
ist.
Im
Westen Europas
konnten
sich
Wirtschaft, Religion und Kunst als relativ eigenständige Säulen entwickeln. Durch den Zerfall der Gemeinde gewann die soziale Aktivität des einzelnen an Bedeutung. Die persönliche Freiheit der Menschen und ihre damit verbundene Schutzlosigkeit zwangen sie, sich um ihr eigenes Wohlergehen aus eigenen Kräften zu bemühen. Im Westen gilt deshalb als Grundsatz die Autonomie der Persönlichkeit und ihre Unabhängigkeit vom Staat. Rußland hat im Gegensatz dazu entscheidende Elemente der asiatischen Produktionsweise übernommen, was sich in einem unbestimmten Freiheitsbegriff manifestiert
und
zu
einer
indifferenten
Einstellung
zum
Leben
der
Einzelpersönlichkeit geführt hat. (In Rußland kam diese Einstellung deutlich in der
Leibeigenschaft
und
der
jahrhundertelangen
absolutistischen
Alleinherrschaft der Zaren zum Tragen). Diese traditionellen Einschränkungen durch
das absolutistische
Regime,
die keine
persönliche
Initiative
zur
Bestimmung der eigenen Geschichte zuließen, bewirkten nach Meinung des russischen
Kulturwissenschaftlers
Popow
eine
„Anhäufung
ungenutzter,
überschüssiger Energien" 12 , die nur durch kulturelle Transformation, durch Höherentwicklung im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Eine wichtige Mission übte dabei der Staat aus, indem er diesen Transformationsprozeß reglementierte und stimulierte. Der Entwicklungsprozeß der russischen Kultur ist also im wesentlichen vom Staat gesteuert worden. Viele Westeuropäer neigen dazu, alle Bewohner der ehemaligen Sowjetunion als Russen zu bezeichnen, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß für Letten, Litauer oder Esten eine solche Bezeichnung geradezu ein Schimpfwort sein kann. Aber auch Ukrainer oder Weißrussen möchten mit Russen trotz verwandter Kulturen nicht in einen Topf geworfen werden. Auch wenn die slawischen
Völker
eine
sehr
lange
gemeinsame
Geschichte
und
damit
Kapitel 1 : Die kulturelle
Barriere
21
einhergehend bestimmte kulturelle Merkmale verbindet, sind Kategorisierungen dieser
Art
(ähnlich
wie
beim
Mentalitätsbegriff)
eine
unzulässige
Verallgemeinerung und Vereinfachung. Ein undifferenzierter Umgang mit der „osteuropäischen" Kultur kann auch im Geschäftsleben fatale Folgen haben. So erlitt ein deutsches Beratungs- und Bildungsunternehmen eine geschäftliche Niederlage, weil es litauische Partner noch 1992 so behandelte, als wären sie Russen. Da die russisch-litauischen Beziehungen nie die allerbesten waren und die Litauer sehr stolz auf ihre nationale Unabhängigkeit sind, haben sie den Fauxpas der deutschen Seite, sie als „Russen" zu sehen - der zudem ebenfalls von den typischen Klischeevorstellungen begleitet war - sehr übel genommen. Generell ist richtig, daß man so viel wie möglich über die Geschichte und Kultur der Leute wissen sollte, mit denen man Geschäfte zu tätigen beabsichtigt. Allerdings sollte man sich dabei auch vor Klischeevorstellungen, sogenannten interethnischen Stereotypen, in acht nehmen. Solche Vorstellungen können infolge von Mißverständnissen auftreten oder das Ergebnis einer Fehlinterpretation der Verhaltensweisen in einer fremden Kultur aus der Sicht der eigenen Kultur sein. So sind selbstverständlich längst nicht alle Russen unpünktlich, gefühlsstark oder autoritär - so wie auch nicht alle Deutschen zuverlässig oder arbeitsam, nicht alle Italiener temperamentvoll und musikalisch, nicht alle Schotten geizig sind. Selbst wenn das Verhalten eines russischen Gesprächspartners voll den „gängigen Vorstellungen" zu entsprechen scheint, sollte man sich davor hüten, ihm das zu verstehen zu geben. Wem gefällt es schon, in eine Schablone gepreßt und als „typisch russisch" oder „typisch deutsch" bezeichnet zu werden, anstatt als individuelle Persönlichkeit behandelt zu werden? Zweifellos ist es für einen Ausländer ein sehr mühseliges, um nicht zu sagen aussichtsloses
Unterfangen,
Traditionen
und
beherrschen
zu
sämtliche
Gewohnheiten wollen.
sprachlichen
seiner
Wünschenswert
Nuancen,
ausländischen ist
jedoch
kulturellen
Geschäftspartner eine
vorsichtige
Zurückhaltung beim Umgang mit Vertretern einer anderen Kultur. Klischees werden von denen, denen gegenüber sie geäußert werden, nicht nur als Beleidigung empfunden, sie können zudem auch irreführend sein, wenn man im direkten Kontakt mit Vertretern einer anderen Kultur feststellen muß, daß diese
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Teil I: Interkulturelle Aspekte
„so gar nicht (oder nur bedingt) in das Bild passen", das man sich vom Hörensagen, aus dem Fernsehen oder aus der Literatur von ihnen gemacht hat. Zu den wohl hartnäckigsten und verbreitetsten Klischeevorstellungen, die Westeuropäer über die Russen haben, gehört die Überzeugung von der übermäßigen Liebe der Russen zum Alkohol. Um diese Auffassung zu relativieren, soll an dieser Stelle kurz auf den kulturhistorischen Hintergrund eingegangen werden, den der Alkohol in der russischen Gesellschaft hat. Viele glauben, daß Trinken schon immer ein Laster der Russen gewesen sei, daß ihre Vorfahren bereits getrunken hätten und daß gegen dieses Laster wohl kein Kraut gewachsen sei. Nur wenige wissen, daß das russische Volk bis ins Mittelalter hinein keine Ahnung von hochprozentigen Getränken hatte und ausschließlich Met und Bier in verschiedener Zubereitung trank. Bier war auf dem Territorium des heutigen Rußlands bereits vor Gründung des ersten Russischen Staates, der Rus, bekannt und verbreitet. Im 15. Jahrhundert lernte man Traubenwein trinken. Die ersten Branntweinbrennereien entstanden im 16. Jahrhundert. Den Wodka selbst, eine scheinbar „urrussische" Erfindung, verdankt Rußland Westeuropa, wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, ob er zuerst von genuesischen oder von deutschen Kaufleuten nach Rußland importiert wurde. Man versuchte (erfolgreich, wie sich herausstellte), den neuartigen „Getreidewein" nachzubrauen. Er bekam die Bezeichnung „ropnjiKa", was soviel wie „Branntwein" bedeutet. Böse Zungen behaupten, daß der Wodka für die ausländischen Kaufleute ein willkommenes Mittel war, die verwehrten Handelsbeziehungen mit der damaligen Rus auf eigene Weise zu erzwingen. Anfangs tranken ihn nur die Bojaren, aber bald schon erkannte die Krone, daß der Wodka auch zum Auffüllen des Staatssäckels überaus willkommen war. Als der deutsche Weltreisende und Chronist Olearius im Mittelalter Moskau besuchte, hat er Trinken beim Volk ebenso wenig gesehen wie eine durch Alkoholismus bedingt verkrüppelte Nachkommenschaft. Allmählich verbreitete sich das neue Getränk in Südrußland, von dort wanderte es nach Nordrußland und wurde zum Fluch eines ganzen Volkes. Der Alkoholkonsum erfaßte immer breitere Teile der Gesellschaft, das Trinken wurde von oben her verbreitet. Für das Volk stellte der Wodka - und stellt teilweise noch heute - die oft einzige Möglichkeit dar, dem Elend und den Problemen des Alltags zu entfliehen und sein Schicksal - wenn auch vorübergehend - erträglich zu gestalten. Mit dem wachsenden Alkoholkonsum wuchs jedoch auch der Widerstand im Volk gegen das Trinken. So wurden in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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Dorfversammlungen ca. 40.000 „Verbotsentscheidungen'", d.h. Verbote für die Kneipenbesitzer, im Dorf Spirituosen zu verkaufen, verhängt. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde das staatliche Spirituosenmonopol eingeführt, das es dem Zarismus erlauben sollte, die Einkünfte aus dem Spirituosenhandel zu einer festen Größe in der Finanzpolitik zu machen. Noch vor der Jahrhundertwende bestanden ca. 200 Vereinigungen in Rußland (die sogenannten Temperenzlervereinigungen), die sich den Kampf gegen Alkoholmißbrauch zum Ziel setzten, die billige und alkoholfreie Kantinen, Teestuben und Asyle eröffneten und die ersten Trinkerheilstätten einrichteten. Die größten Geister Rußlands erkannten die Gefahr des sich ausbreitenden Alkoholismus und taten alles, um das Trinken zu bekämpfen. In seiner Dichtung „Woher Böses in Rußland kommt" schreibt der russische Verfasser Peter Iwa: „Nicht Trinker haben das große Land aufgebaut und so erhöht" und er erwähnt folgende historische Tatsache: „Über ihr Schicksal besorgt, haben die Soldaten vor der Schlacht von Borodino (1812 gegen Napoleon - d. Autorinnen) auf die obligatorische Portion Wodka verzichtet"13. Übermäßiger Alkoholkorisum wurde in der öffentlichen Meinung Rußlands stets negativ bewertet und verurteilt, was nicht ausschließt, daß man Trinkern gegenüber nicht selten Nachsicht übt und ihnen auch Verständnis entgegenbringt. Kulturhistorisch gesehen gab es im russischen Alltagsleben stets Perioden, in denen überhaupt nicht getrunken wurde, z.B. während der Fastenzeiten oder in der Erntezeit, wo es wirklich auf jeden Tag ankam (vgl. das russische Sprichwort „JCHB r o j KOPMHT", was bedeutet: „Ein Tag nährt das ganze Jahr") und es gab andere Zeitabschnitte, beispielsweise nach Einbringung der Ernte, in denen geradezu maßlos, sozusagen in Unmengen, gebechert wurde. Generell waren diese Perioden jedoch strikt voneinander getrennt. Erst später wurde der Alkohol (neben der Religion) zum „Opium fürs Volk", um der Tristesse des Alltags zu entrinnen. Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, daß Alkohol im Geschäftsleben keinen Platz hätte. Allerdings spielt er längst nicht die Rolle, die Westeuropäer ihm schlußfolgernd aus der Alltagskultur - gern zuschreiben. Es ist durchaus üblich, einen erfolgreichen Vertragsabschluß oder den Abschluß eines gemeinsamen Projektes am Abend im Rahmen eines Geschäftsessens mit einem Gläschen Wodka „zu begießen" (auf russisch nennt man das allerdings
von
der
Vorstellung
leiten
zu
„OÖMMTB
lassen,
es
caejiKy"). Sich
genüge,
bei
Verhandlungsbeginn eine Flasche Wodka auf den Tisch zu stellen und „alles sei
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
gelaufen", kann sich als folgenschwerer Irrtum erweisen. Der leitende Angestellte eines westdeutschen Maschinenbauunternehmens, der in einem Zeitungsinterview behauptete, „die Flasche Wodka im Kühlschrank garantiere für den Verhandlungserfolg", dürfte die langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen diesem Unternehmen und seinen russischen Partnern zumindest leichtsinnig einer ernsthaften Belastungsprobe ausgesetzt haben, sollte der russische Partner zufällig dieses Interview in die Hände bekommen.
Ist Rußland der „multikulturelle Schmelztiegel des Ostens"?Wo also liegen die Wurzeln der russischen Kultur? Welche geschichtlichen Ereignisse und Einflüsse anderer Kulturen haben die russische Kultur maßgeblich geprägt und zu dem gemacht, was sie heute ist? Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Ursprünge der russischen Kultur in einem kurzen Überblick etwas näher zu beleuchten, da bestimmte Merkmale des russischen Volkscharakters nur vor diesem Hintergrund erklärbar und für Nichtrussen verständlich sind. Der altrussische Staat, die Rus. wurde im Ergebnis ständig wechselnder Einflüsse durch benachbarte Stämme geboren, denn er lag an der Kreuzung wichtiger Handelswege „von den Warägern zu den Griechen". Über die Wolga und das Kaspische Meer gelangte man nach Mittelasien und China. Bereits im 10.-12. Jahrhundert unterhielt die Rus durch Eheschließungen mit anderen Dynastien enge Beziehungen zu den berühmtesten Höfen der damaligen Welt zu Byzanz, Deutschland, Frankreich, England, ganz zu schweigen von den Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn Polen, Ungarn und Norwegen. Die Wiege der ostslawischen und damit der späteren russischen Kultur stand am Dnepr. An diesem Fluß entstand im 9. Jahrhundert die „Mutter aller russischen Städte", wie Kiew, das heute Hauptstadt eines von Rußland unabhängigen
Nachbarstaates,
der
Ukraine,
ist,
in
der
politisch russischen
Geschichtsschreibung genannt wird. Allein aus diesem Grunde ist eine vollständige Loslösung der Ukraine von Rußland für die meisten Russen nur schwer vorstellbar - schließlich würde sie für Rußland einen Verlust der eigenen historischen und kulturellen Wurzeln bedeuten.
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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Mit der Annahme des Christentums (in seiner byzantinisch-orthodoxen Ausprägung) im 10. Jahrhundert konnte sich die Rus endgültig in eine Reihe mit den europäischen Staaten stellen. Allerdings existierten vielerorts noch lange Zeit - insbesondere in den unendlichen Weiten des Landes - heidnische und christliche Sitten parallel. Nach und nach fielen die urslawischen Kulturstätten mit ihren heidnischen Götzen jedoch der Vergessenheit anheim. Das Wichtigste, was das Christentum Rußland brachte, war die Schriftkultur. Die ersten Bücher der Rus waren kirchliche Bücher. Besonders bekannt war das Psalterium. Die Bibel entstand in ihrer russischen Gesamtfassung erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Im Unterschied zu anderen slawischen Völkern gab es in der Rus zwei gleichbedeutende Literatursprachen: die Kirchensprache (Altkirchenslawisch, aus dem Bulgarischen entwickelt) und die weltliche Staatssprache (aus der Umgangssprache hervorgegangen). In letzterer wurden die Abkommen der Kiewer Fürsten mit ihren Nachbarn und die Chroniken abgefaßt. In der russischen Kultur kam dem gedruckten Wort stets eine besondere Bedeutung zu. Das gedruckte Wort verkörperte sozusagen die „absolute Wahrheit". Die berühmten „dicken Literaturzeitungen", die sich bis in die jüngste Vergangenheit einer ungebrochenen Popularität erfreuten und für jedermann erschwinglich waren, haben das Weltbild ganzer Generationen geprägt. Nur mit der geradezu ehrfürchtigen Achtung vor der Macht des gedruckten Wortes ist zu erklären, warum Schriftsteller und Poeten stets mehr als alle anderen Künstler aufrichtig und hingebungsvoll vom Volk verehrt wurden. Mit der Bekehrung zum Christentum wurde eine unlösbare Verbindung zwischen Rußland und dem byzantinisch-oströmischen Kulturerbe geschaffen. Von Byzanz übernahm Rußland in fertiger Form die wichtigsten Ideen und Prinzipien der feudalistischen Weltanschauung. Einen großen Einfluß hatte hierbei die aus dem Griechischen übersetzte Literatur, die in vielem antiken Traditionen folgte. Einen besonderen Stellenwert für die Herausbildung der russischen Kultur hatte der Einfluß der altbulgarischen Kultur, die sich dadurch auszeichnete, anderen Kulturen gegenüber offen und tolerant zu sein. Bulgarien war im Mittelalter durch diese Fähigkeit ein Land hoher Kulturen geworden, denn es war mit den
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
aufgeklärtesten Völkern des damaligen Europas benachbart. Die Predigten der bulgarischen Aposteln Kyrill und Method waren von Anfang an gesamtslawisch und nie eng nationalistisch. Durch sie wurde in der russischen Kultur der Gedanke geprägt, daß die russische Geschichte Teil der Weltgeschichte sei, daß jedes Land auch gleichzeitig die Verantwortung für die gesamte Weltordnung trage. Dieser Gedanke einer länderübergreifenden Verantwortung konnte sich auf Grund günstiger Bedingungen bis in die heutige Zeit durchsetzen. Es war dieser Gedanke, der die Reformen Peter des Großen beseelte und zu einer Hinwendung der russischen Kultur im 18. Jahrhundert gen Westeuropa führte. Die geringsten Spuren in der Geschichte der russischen Kultur hinterließen die Skandinavier. Trotz enger und häufiger Kontakte (das Zarengeschlecht der Rurikiden ist schwedischer Abstammung) konnte die Forschung kaum einen skandinavischen Einfluß auf die russische Kultur feststellen. Wenn also den Warägern wirklich die große Rolle bei der Entstehung des altrussischen Staates und der Herausbildung des russischen Volkes zuzuschreiben ist, so stellt sich die Frage, warum das Russische kaum über Wörter skandinavischer Herkunft verfügt, während es nur so von Wörtern griechischer und östlicher Herkunft wimmelt. Dagegen übte der Osten besonders in den Anfangszeiten der Herausbildung der russischen Kultur einen bedeutsamen Einfluß auf sie aus. In ferner Vergangenheit waren beispielsweise arabische Kaufleute auf dem Territorium der späteren Rus keine Seltenheit, wovon unzählige Fundstätten arabischen Geldes zeugen. Die Beziehungen zu arabischen und persischen Handelszentren wurden allerdings mit der Vorherrschaft der Petschenegen und Polowzer im Schwarzmeergebiet schwächer. Mit dem Einfall der Tataren und Mongolen in Rußland im 13. Jahrhundert beginnt eine Zeit komplizierter und widersprüchlicher Beziehungen zum Osten. Mehr als 200 Jahre befand sich Rußland unter dem Joch der aus Asien einfallenden tatarisch-mongolischen Reiterheere, die der Hochkultur der Kiewer Rus durch Raub. Mord, Brandschatzung und Versklavung ihrer Bevölkerung ein Ende bereiteten. Die sich bald mehrheitlich zum Islam bekennenden Tataren und Mongolen und die christlichen Russen standen sich in einem unversöhnlichen Gegensatz gegenüber. Auch wenn es Dmitrij Donskoj 1380 mit dem Sieg über die asiatischen Reiterheere auf dem Schnepfenfeld (KyjiHKOBO none) schließlich gelang, die endgültige Befreiung Rußlands einzuleiten, hat die längste
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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Fremdherrschaft in der russischen Geschichte bleibende Spuren in der Kultur und Philosophie des russischen Volkes hinterlassen. Die mit der Fremdherrschaft einhergehende Demütigung hat sich tief in das kollektive Gedächtnis des russischen Volkes eingegraben (man denke beispielsweise an ein Sprichwort, wie „He3BaHbifi rocTb xyace TaTapnHa", was ins Deutsche etwa zu übersetzen ist mit „Ein ungebetener Gast ist schlimmer als ein Tatare") und ist als eine Wurzel für den in späterer Zeit stark ausgeprägten Nationalstolz der Russen zu werten. Die Einflüsse aus der Zeit des Tatarenjochs manifestieren sich nicht nur in einer Vielzahl turksprachiger Entlehnungen im Russischen, sondern auch in der schrittweisen Integration von Tataren in die russische Gesellschaft. Weit über die Landesgrenzen bekannte Vertreter der russischen Geschichte und Kultur, wie der russische Zar Boris Godunow, der Komponist Rachmaninow, ja selbst Wladimir Iljitsch Lenin, hatten tatarische Vorfahren. Die Stadt Kasan an der Wolga ist heute die Hauptstadt der autonomen Republik Tartastan, das bereits Mitte des 16. Jahrhunderts von Iwan dem Schrecklichen an das Großrussische Reich angeschlossen worden war. Weiteren prägenden Einflüssen war die russische Kultur durch die Schweden, Deutschen, Polen und Franzosen unterworfen, mit denen es im Laufe der folgenden Jahrhunderte, insbesondere in der Zeit der „Sammlung russischer Erde" - wie die Herausbildung des russischen Nationalstaates bezeichnet wurde immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam. Zur selben Zeit, als Rußland noch unter dem Tatarenjoch litt, kämpfte Alexander Newskij im Nordwesten des Landes mit dem deutschen Kreuzritterorden, dem er schließlich 1242 auf dem Eise des Peipussee eine empfindliche Niederlage beibringen konnte. Iwan der Schreckliche (1547-1584) - Selbstherrscher nach byzantinischem Vorbild - und seine Nachfolger setzten die Sammlung russischer Erde fort - die Eroberung Sibiriens durch die Kosaken im 17. Jahrhundert, die Vereinigung Rußlands mit der Ukraine unter Bogdan Chmelnitzkij, die schrittweise Kolonialisierung Mittelasiens und die „Befriedung" des Kaukasus im 19. Jahrhundert sind Zeugnisse dieser Entwicklung. Auf Grund seiner geographischen Lage an der Grenze zwischen Europa und Asien hatte Rußland vom Beginn seiner historischen Entwicklung an permanente Kontakte zum Westen. Diese westeuropäischen Einflüsse erstreckten
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
sich auf alle Ebenen - auf die politische, (beispielsweise durch dynastische Ehen), die wirtschaftliche, die Kunst und Kultur und nicht zuletzt auf die Wissenschaft. Bereits seit dem Mittelalter bestanden enge Handelsbeziehungen zwischen Rußland und dem Westen; die Stadt Nowgorod im Nordwesten des Landes wurde von den deutschen Kauffahrern der Hanse als wichtiger Umschlagplatz genutzt. Italienische Architekten errichteten die berühmten Kathedralen im Moskauer Kreml. Die russischen Wissenschaften erlebten mit Peter I. (Peter der Große) ihre erste Blüte. Nach Gründung der Petersburger Akademie der
Wissenschaften im
Jahre
1724 kamen viele
bedeutende
Wissenschaftler, aber auch Handwerker und Gewerbetreibende auf Einladung der russischen Zaren ins Land. Der Einfluß des Westens und seiner Kultur erlebte unter der Regierungszeit Peter I. (1689-1725) seinen Höhepunkt. Peter der Große war ein glühender Anhänger modernen westlichen Gedankengutes und des westlichen Fortschritts. Er ordnete europäische Kleidung an, schnitt den Bojaren selbst ihre würdigen Bärte ab und schaffte kurzerhand alle altangestammten Bräuche ab - was selbstverständlich nicht ohne Widerspruch bei Adel und Volk blieb. Peters vornehmliches Ziel war die Öffnung Rußlands nach Westen, die Erringung eines Zugangs zum Meer. Dieser Zugang zur Ostsee wurde mit dem Großen Nordischen Krieg gegen die damals stärkste Militärmacht Europas, gegen Schweden, errungen. Rußland entwickelte sich zu einer europäischen Großmacht. Peter 1. orientierte Rußland am wirtschaftlichen Modell des Merkantilismus. Unter seiner Führung wurde nicht nur die russische Flotte geschaffen, sondern auch Manufakturen errichtet. Äußeres Zeichen für das sich entwickelnde Nationalbewußtsein war die Änderung des Titels „Zar" in den Titel „Imperator". Mit der Grundsteinlegung für eine neue, nach seinem Namen benannte Stadt an der Newa-Mündung schuf Peter I. die Grundlage für die Entwicklung der „Zweiten Hauptstadt" Rußlands. Mehr als zweihundert Jahre (von 1712 bis 1918) war St. Petersburg Hauptstadt des Russischen Zarenreiches. Und auch heute noch gilt die Stadt in den Augen der Petersburger als „heimliche Hauptstadt" Rußlands. Bemerkenswert ist das Bestreben der Russen, ihre Hauptstädte stets möglichst nahe an der Westgrenze des Reiches, ja überhaupt in Grenznähe zu gründen. So befanden sich Kiew und Nowgorod am wichtigsten europäischen Handelsweg des 9. bis 11. Jahrhunderts.
Kapitel 1 : Die kulturelle Barriere
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Auf Grund seiner weltoffenen" Lage und des unmittelbaren Kontaktes mit Vertretern anderer Kulturen war St. Petersburg immer schon aufgeklärter als die russische Provinz, stand es neuem Gedankengut aufgeschlossener gegenüber. Es ist sicher kein Zufall, daß die revolutionären Erhebungen, die Rußland im 20. Jahrhundert erschütterten (sei es die Revolution von 1905, die Februarrevolution oder der Beginn der Oktoberrevolution 1917), in Sankt Petersburg ihren Anfang nahmen. Und es dürfte auch kein Zufall sein, daß der gegenwärtige Übergang Rußlands zur Marktwirtschaft, der Privatisierungs- und Restrukturierungsprozeß in der Wirtschaft bei all seiner Komplexität, Widersprüchlichkeit und Problemhaftigkeit in Sankt Petersburg weiter fortgeschritten ist als in anderen Landesteilen. Das Gedankengut der Aufklärung gelangte über russische Offiziere aus dem Adelsstand, die im Feldzug gegen Napoleon 1812 bis Paris gekommen waren, nach Rußland. Auch wenn es in der Folge weitgehend auf die höfischen Kreise beschränkt blieb (was die Hauptursache für die Niederschlagung des Dekabristenaufstands im Dezember 1825 war), so hatte es dennoch einen enormen Einfluß auf die russische Kultur und Philosophie. Die Expansionspolitik Rußlands in den vergangenen Jahrhunderten sowie die durch Migrationsprozesse und Zwangsdeportationen im 20. Jahrhundert zum Teil erzwungene „Durchmischung" der Kulturen hat dazu gefuhrt, daß die russische Kultur von einer ungeheuren Vielzahl verschiedenster kultureller Einflüsse geprägt wurde, so daß Rußland wohl zu Recht als „kultureller Schmelztiegel des Ostens" bezeichnet werden kann. So multikulturell die russische Gesellschaft heute einerseits ist, so isoliert und abgeschieden existierte sie andererseits jahrhundertelang bis in die jüngste Vergangenheit. Die Größe des Landes, seine geographische Lage und die selbstgewählte Isolation in den letzten Jahrzehnten haben dazu geführt, daß bei der Mehrheit der Bevölkerung eine elementare Unkenntnis über andere, insbesondere über die westeuropäischen Kulturen bestand. Das Wenige, was man wußte, war zumeist ideologisch verfälscht. Nur so ist zu erklären, warum Rußland nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs" und der Öffnung der Grenzen eine so rasante und in ihren Ausmaßen wohl einmalige Hinwendung zur westlichen Kultur und Lebensweise erlebte, die bislang zumeist noch weitgehend unkritisch kopiert wird und die von national gesinnten Russen besorgt als verhängnisvoller
Einfluß
westlicher
Dekadenz
und
als
bedrohliche
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Überfremdung durch das westliche Ausland empfunden wird. Der „Hunger" nach allem, was „westlich" ist, manifestiert sich in der begeisterten Annahme westlicher Mode, Musik und Eßgewohnheiten („MacDonalds") ebenso wie in der Vorliebe für amerikanische Action-Filme (oft übelster Machart). Fehlende persönliche Erfahrungen vieler Russen im Umgang mit Vertretern westlicher Kulturen, elementare Unkenntnis dieser Kulturen und unzureichende Möglichkeiten für einen Vergleich mit der eigenen Kultur dürften sicher als eine Ursache für den ausgeprägten Stolz der Russen auf das „Eigene" angesehen werden, der Ausländern nicht selten unbegründet und deshalb befremdlich erscheint und von ihnen als übersteigertes Selbstbewußtsein gewertet wird.
Das Verhältnis der Russen zu anderen Völkern Durch die ständige Expansionspolitik der russischen Zaren (die immer auch ein Ausweg aus inneren Krisen, die der eigenen Reformunfähigkeit geschuldet waren, zu sein schien) wurde ein riesiges Imperium geschaffen, das ein Konglomerat der unterschiedlichsten Nationalitäten darstellt. Heute leben auf dem Territorium der Russischen Föderation fast 100 Nationalitäten und Minderheiten. Die mit dem Zerfall der UdSSR und der Entstehung neuer unabhängiger Republiken einhergehende politische Krise wächst sich in der Gegenwart zunehmend zu einer Krise der nationalen Gefühle aus. Der gefährlichste Faktor der Instabilität des Landes ist der gekränkte Nationalstolz. Insbesondere die Russen fühlten sich in ihrem Nationalstolz gekränkt, als die kleineren Völker mit dem Zerfall der Sowjetunion endlich von
ihrem
(verfassungsmäßig schon längst zugestandenen) Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen konnten und sich für unabhängig erklärten. Als besonders schwer für den russischen Nationalstolz zu verkraften war dabei die Tatsache, daß die plötzlich allerorts laut werdenden Separationsbestrebungen einhergingen mit dem Verlust der Rolle Rußlands als militärische Großmacht und dem Zusammenbruch des wirtschaftlichen Systems. Hinzu kam eine von Arroganz geprägte Auffassung von der Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen („Schließlich verdanken uns, den Russen, diese Völker ja sehr viel. Ohne uns würden sie heute noch in der Jurte leben, wären Analphabeten, hätten nicht mal eine Glühlampe usw."). Die heute als Wunschdenken entlarvte Losung von der in Freundschaft und Achtung zusammenlebenden Völkerfamilie wurde mit der Gründung der
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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Sowjetunion proklamiert. Offiziell spielte die Unterscheidung von Russen, Ukrainern oder Aserbaidshanern keine Rolle, es gab einen neuen „historischen Persönlichkeitstyp" - den des „Sowjetmenschen". In der Realität war es jedoch so, daß es kaum einen Ukrainer gab, der in seinem Leben nicht schon einmal abfällig als „Chochol" bezeichnet worden wäre, keinen Juden, den man nicht mit „Jid" beschimpft hätte, keinen Bewohner Mittelasiens, der nicht mit „schielendet. Holzkopf' betitelt worden wäre. Besonders markant war der übersteigerte Antisemitismus und Nationalismus, der in internen Instruktionen von Behörden, besonders von Personalabteilungen der Unternehmen, den Juden und anderen ungelittenen Nationalitäten das Leben schwer machte. Der Antisemitismus (die These von der „Verschwörung des Weltjudentums") mußte nicht zuletzt auch als eine ideologische Grundlage für die Rechtfertigung der Stalinschen Massenrepressalien herhalten. Auch wenn heute offiziell kein Judenhaß geschürt wird, so ist doch eine schleichende Zunahme antisemitischer Tendenzen in fast allen Bereichen der Gesellschaft zu verzeichnen. Folge ist eine andauernde Emigration. Man war sich auch zu Sowjetzeiten der kulturell-ethnischen Unterschiede der Bevölkerung durchaus bewußt. Doch obwohl diese beliebter Gegenstand von Hänseleien, Witzen, Spott und abfalligen Bemerkungen gegenüber Vertretern anderer Nationalitäten waren, gab es dennoch kein festgefügtes Feindbild. Die im Westen verbreitete Annahme, Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Nationalitäten, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausbrachen, hätte es früher nur deshalb nicht gegeben, weil sie vom Staat unterdrückt wurden oder weil sie einfach nicht ins offizielle Bild paßten und es sie deshalb nicht zu geben hatte, stellt eine unzulässige
Vereinfachung des Problems dar.
So ist
beispielsweise bei Peter Scholl-Latour zu lesen, daß „die Feindschaft zwischen Kasachen und Russen, zwischen Türken und Slawen, zwischen Muslimen und Christen
...
in
Kasachstan
wie andernorts
durch
die
bolschewistische
Gewaltherrschaft künstlich niedergehalten" worden sei14. Die Völker haben bei ihrer überwiegend unfreiwilligen Integration in das russische Reich unterschiedliche Erfahrungen durchlebt, die bis heute in ihrem historischen Gedächtnis gespeichert sind. Trotz oft bereits
Jahrhunderte
dauernder russischer Herrschaft wurden diese Völker jedoch nicht assimiliert ihre nichtrussische Identität blieb weitgehend erhalten. Konnte auch von einer wirklichen Selbstbestimmung keine Rede sein, so spielten die begrenzten
32
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Autonomierechte dennoch eine nicht zu unterschätzende Rolle für die nationale Entwicklung der nichtrussischen Völker. Keinesfalls darf man sich das Verhältnis der Nationalitäten untereinander als einen simplen Gegensatz zwischen Russen und „Nichtrussen" vorstellen. Sicher gab es eine Reihe von Nationalitäten, deren Beziehungen zu den Russen vordergründig von Konfrontation und Feindschaft geprägt waren. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Kaukasus. Der Versuch des russischen Zarenreiches, den Kaukasus im 19. Jahrhundert zu „befrieden" und ihn Großrußland anzugliedern, mündete in einen Jahrzehnte währenden Guerillakrieg und hat, obwohl er formal mit der Unterwerfung der kaukasischen Bergvölker endete, nie wirklichen Erfolg gehabt. Die Kaukasus-Politik Rußlands und später auch der Sowjetunion war stets von selbstherrlichem Kolonisatorengehabe geprägt (man denke nur an die von Stalin angeordneten Zwangsdeportationen der Tschetschenen 1944). Der Tschetschenien-Krieg unserer Tage war die folgerichtige Fortsetzung dieser Politik. Und wenn die Vertreter der vielen verschiedenen kaukasischen Nationalitäten im offiziellen russischen Sprachgebrauch summarisch als „Personen kaukasischer Nationalität" (jiHua KaBKa'iCKoii HaimoHajibHocra) und in der Umgangssprache ihrer dunklen Hautfarbe wegen nicht selten abfallig als „Schwarze" (nepHbie) tituliert werden, so ist dies zweifellos mehr als eine harmlose Verspottung, manifestiert sich doch darin großrussischer Dünkel und Chauvinismus. Betrachten wir aber demgegenüber die Beziehungen zwischen (Groß)Russen und Weißrussen oder die Beziehungen zwischen Russen und Ukrainern, also zwischen Vertretern der historisch und kulturell sehr eng
miteinander
verwandten Ostslawen, dann erhalten wir ein völlig anderes Bild. Mischehen zwischen Vertretern dieser Kulturen waren weit verbreitet und die Bezeichnung eines Ukrainers durch einen Russen als „Chochol" war sicher nicht ernster gemeint als die ein wenig abfällig-ironische Bezeichnung eines Mecklenburgers als „Fischkopp" oder eines Bayern als „Weißwurst". Zwischen Rußland und Weißrußland bestehen auch nach dem Zerfall der UdSSR sehr enge Kontakte, beide Staaten leben in einer Art Wirtschafts- und Zollunion. So ist beispielsweise die Grenze zwischen beiden Ländern offen. Wenn die Separationsbestrebungen der
Ukraine
ungleich
stärker
sind,
so ist
dies
nicht
einfach
darauf
zurückzuführen, daß „unüberwindbare" ethnische oder religiöse Gegensätze zwischen Russen und Ukrainern bestehen, sondern wohl eher darauf, daß die Ukraine - selbst ein Vielvölkerstaat - politisch gespalten ist und mit eigenen
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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inneren Separationsbestrebungen, insbesondere durch die Kosaken und in der stark von westslawischen
(polnischen) Einflüssen geprägten
Westukraine
(Galizien) zu kämpfen hat. Während aber zu Zeiten der Sowjetunion die Menschen in Frieden miteinander lebten, auch wenn sie nicht viel füreinander übrig hatten, es häufig sogar, wie erwähnt, zu Mischehen kam, haben sich die Gefühle der Menschen heute auf äußerst negative Weise verändert. Es ist erschreckend, daß plötzlich für Millionen Bürger das Gebot „Du sollst nicht töten!" nicht mehr zu gelten scheint,
sobald es um
einen
Aserbaidshaner,
Armenier,
Usbeken
oder
Tschetschenen geht. Das neugewonnene Nationalbewußtsein der früheren Sowjetbürger muß auf Grund der instabilen Situation und einer für alle ungewissen Zukunft immer wieder und immer deutlicher unter Beweis gestellt werden. Der Eintrag im Paß ist dafür offensichtlich eine nur unzureichende Grundlage. Der Publizist Leonid Gosman bemerkt dazu sehr treffend: „Eine instabile Gesellschaft wie die russische gibt jedem von uns noch zusätzliche Möglichkeiten, die nationale Identität auch negativ in Haßgefühlen gegenüber jenen zu artikulieren, die als traditionelle Feinde des eigenen Volkes gelten. Dieses Gefühl der Feindseligkeit liefert
schließlich
den
endgültigen
Beweis
für
die
eigene
nationale
Zugehörigkeit: Ich bin Russe (Georgier, Aserbaidshaner), weil ich den Juden (Osseten, Armenier), meinen Feind, hasse. Wie traurig das auch sein mag, der Haß ist heute die Grundlage der nationalen Identität und hilft Millionen Menschen, die in dieser sich katastrophal schnell verändernden Welt die Orientierung verloren haben, ihre Selbstachtung zu wahren und sich als Lette oder Tadshike, als Weißrusse oder Moldawier - sich als überhaupt jemand zu fühlen." 15 Nach dem Zerfall der Sowjetunion hält der Desintegrationsprozeß
auch
innerhalb der Russischen Föderation weiter an, da Rußland keine monolithische Gesellschaft darstellt, sondern eine pluralistische Ansammlung wirtschaftlicher, regionaler und politischer Interessengruppen ist. Die Zentralisierung basiert auf der Vorherrschaft einer mächtigen Region gegenüber den anderen. Die meisten Regionen sind ländlich, isoliert, landwirtschaftlich orientiert und traditionell. Nur die großstädtischen Ballungszentren, wie Moskau und Sankt Petersburg, Jekaterinburg oder Wladiwostok sind merkantil, liberal, innovativ mit einer nach
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Teil I: Interkulturelle Aspekte
außen gerichteten Kultur, die äußeren Einflüssen und Wandlungen ausgesetzt ist. Die Einstellung der Russen in autonomen Republiken oder Gebieten gegenüber dem nichtrussischen Bevölkerungsteil wird jedoch vorrangig von sozialen Interessen bestimmt. Aus diesem Grunde wird die Souveränität nichtrussischer Republiken und ihrer lokalen Führungen vom russischen Bevölkerungsteil oftmals unterstützt. Insofern bilden Nationalismus und Regionalismus eine Einheit, die nur da gefährdet ist, wo Veränderungen in den nationalen Beziehungen den Status und die Rechte der Russen zu beeinträchtigen drohen. Die verstärkte Rolle der nationalen Komponente „fuhrt zu einem Nationalbewußtsein, das insbesondere bei politischer Mobilisierung in Krisensituationen eine extreme Freund-/Feind-Abgrenzung hervorbringen kann. Dabei sind auf Seiten des russischen Nationalismus drei extremistische Ausprägungen zu beobachten: die Orientierung an Slawentum und Orthodoxie, der großrussische Imperialismus und die Identifikation des russischen mit dem Sowjetreich"16.
Die deutsch-russischen/russisch-deutschen Beziehungen Die deutsch-russischen/russisch-deutschen Beziehungen blicken auf eine jahrhundertelange, überaus wechselhafte Geschichte zurück, die reich an jähen Wendungen ist. Perioden fruchtbringender Zusammenarbeit zum Nutzen beider Seiten wechselten mit Etappen finsterster Barbarei und scheinbar nicht wiedergutzumachenden Unrechts. Bereits im 13. Jahrhundert zog es die Mönchsritter des Deutschen Ordens als Verkünder
der
römisch-katholischen
Geistlichkeit
gegen
die
russische
Orthodoxie nach Osten. Groß war auch die Verlockung des Reichtums der Handelsstadt Nowgorod, in der sich im 12./13. Jahrhundert unter dem Einfluß der deutschen Hanse eine freie und selbstbewußte Bürgerschaft herausbilden konnte, die sich ihre Macht und Unabhängigkeit auch in der Zeit des Tatarenjochs weitgehend zu erhalten verstand. Erst der Kreuzzug Iwan III. (1478) machte dem ein Ende. Das Ritterheer des Deutschen Ordens jedenfalls wurde 1242 von Alexander Newskij auf dem Eise des Peipussees geschlagen, womit eine frühe Etappe der deutsch-russischen Beziehungen ihr Ende fand.
Kapitel I: Die kulturelle
Barriere
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Es ist wohl dem mehr als zwei Jahrhunderte andauernden Tatarenjoch geschuldet, daß Rußland im Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten des Westens bis ins 16. Jahrhundert hinein so gut wie keine Rolle spielte. Erst Baron Sigismund von Herberstein, ein österreichischer Diplomat, Reisender und Rußlandschriftsteller, der Rußland in den Jahren 1517/18 und 1526/27 an der Spitze kaiserlicher Gesandtschaften besuchte, sollte den Deutschen detailliertere Kenntnis über die Moscoviter und ihre Lebensweise bringen. War auch die diplomatische Mission Herbersteins nicht von Erfolg gekrönt, so leistete er als Rußlandschriftsteller geradezu Bahnbrechendes. Sein Werk „Rerum Moscoviticarum commentarii" (1549), dessen deutschsprachige Ausgabe 1557 unter dem Titel „Moscovia" erschien, war eine ausführliche Schilderung und Beschreibung von Land und Leuten, Wirtschaft, Handel und Gewerbe, Sitten, Bräuchen und Religion. Die „Moscovia" enthielt eine Vielzahl von Karten und Illustrationen. Das Rußlandwerk Herbersteins stellt eine erstrangige Quelle zur Geschichte Rußlands bis ins 16. Jahrhundert dar. Es hatte bereits zu Lebzeiten des Verfassers einen ungewöhnlichen literarischen Erfolg und wurde zu einem Bestseller des 16. Jahrhunderts, wieder und wieder nachgedruckt und übersetzt, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil Herberstein detailliert seine eigenen Erfahrungen im Umgang mit den Russen schilderte und die Verhaltensetikette im Rußland der Bojaren eingehend beschrieb. Kaiserliche Gesandte, die in diplomatischer Mission nach Rußland reisten, und Kaufleute gehörten
zu
den
Ersten,
die
die
engen
jahrhundertelangen
Beziehungen zwischen beiden Ländern begründeten. Zu ihnen zählte ein Jahrhundert nach Herberstein auch der deutsche Diplomat, Gelehrte und Schriftsteller Olearius, der zwischen
1633 und 1635 als Gesandter des
holsteinischen Herzogs Friedrich III. in Rußland weilte und eine Gruppe holsteinischer Kaufleute auf einer Handelsexpedition von Nowgorod über Moskau entlang der Wolga bis zum Kaspischen Meer und schließlich nach Persien begleitete. Die Erlebnisse der Reise legte Olearius in seiner „Vermehrten Moscovitischen und Persianischen Reisebeschreibung" in deutscher Sprache nieder, die erstmals 1647 erschien und fortan in andere Sprachen übersetzt und bis ins 18. Jahrhundert hinein wiederholt nachgedruckt wurde. Neben einer detaillierten Beschreibung der wichtigsten Städte des Zarenreiches schildert Olearius ausführlich das nissische Volksleben und das religiöse Brauchtum. Profane Szenen mit Musikanten, Puppenspielern, Tänzern und betrunkenen Zechern haben darin ebenso ihren Platz wie die Darstellungen aus den vornehmen Schichten und die Beschreibung des Handels auf der Wolga.
36
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Die weitaus meisten Deutschen kamen jedoch durch Einwanderung ins russische Reich. Waren es anfangs Militärfachleute, Handwerker und Techniker, die sich ab dem 16. Jahrhundert in größeren Gruppen in Rußland niederließen (verstärkt unter Peter I. ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts), so kamen später vor allem Bauern, die dem Einladungsmanifest von Katharina II. (1762) folgten. Die ersten deutschen Siedler lebten in der deutschen Vorstadt von Moskau (der .,HcMemKneHHe").
Schon
bald jedoch
führten
interne
Streitigkeiten
zur
Aufsplitterung dieser Organisation. Ergebnis der separatistischen Bestrebungen eines Teils der Deutschen war die Gründung des „Verbandes der Deutschen der Sowjetunion" (heute: „Verband der Deutschen der GUS") im Juni 1991. Während die „Wiedergeburt" Wiederherstellung
der
zunächst sehr militant die Forderung nach
Wolgarepublik
vertrat,
propagiert
sie
heute
die
uneingeschränkte Auswanderung nach Deutschland.
Von den noch in der GUS verbliebenen Deutschen leben viele mit dem Gefühl, ihnen laufe die Zeit davon. Sie befürchten, ihre nationale und kulturelle Identität bald endgültig zu verlieren. Ihre materiellen Lebensverhältnisse stellen viele Deutsche
als
eher
zufriedenstellend,
zumindest
jedoch
besser
als
im
Landesdurchschnitt dar. Auch wenn die Hoffnung auf eine Verbesserung der eigenen materiellen Lebenssituation in Deutschland sicher nicht von der Hand zu weisen ist, so ist es doch in bedeutendem Maße die Sorge um den Verlust der eigenen ethnisch-kulturellen Wurzeln, die Sorge, in einer von Europäern unbewohnten
oder
verlassenen
Gegend
zurückzubleiben,
die
sie
zur
Auswanderung und zum Aufbruch in eine ungewisse Zukunft treibt.
Auch wenn dem einzelnen seine Zukunft in Deutschland ungewiß erscheinen mag, so wird ihm die Integration dennoch durch eine große Zahl hier lebender Russen erleichtert. Seit dem Mittelalter gab es mehrere Wellen russischer Einwanderer. Nach der letzten Welle
der Emigration von Russen nach
Deutschland in den Jahren 1919 bis 1921 erlebt Deutschland gegenwärtig einen neuen Ansturm ungeahnten Ausmaßes. Damals flohen sie vor Hunger, Elend und Revolution in Rußland. Berlin war dabei die Hochburg der russischen Emigration. Hierher kamen etwa zwei Millionen Russen. In erster Linie waren es Adlige, aber es flohen auch arme Studenten, Künstler und Intellektuelle. Die Russen bevölkerten den Berliner Westen rund um die Gedächtniskirche. Die Straßenbahn, die den Kurfxirstendamm hinunter zum Grunewald fuhr, wurde von
42
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
den Berlinern „Russenschaukel" genannt, und die Russen selbst bezeichneten ihr Viertel als „Charlottengrad", „Petersburg am Wittenbergplatz". Es gab russische Restaurants, russische Theater und Kabaretts, Ballettschulen, russische Kirchen, Verlage
und
Bibliotheken,
Kunstgalerien
und
Antiquitätenhandlungen,
Lebensmittel- und Tabakläden. Vielerorts rühmte man den hohen Anteil, den die Russen am Kulturleben Deutschlands hatten. Zahlreiche berühmte Persönlichkeiten Rußlands kamen nach Deutschland. Dazu gehörten der Konstruktivist El Lissitzkij, der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, die Dichterin Marina Zwetajewa, der Schriftsteller Wladimir Schklowskij, der Maler Leonid Pasternak, der Philosoph Nikolaj Berdjajew die Komponisten Artur Lourie und Iwan Wyschegradskij. 1923 gab es allein in Berlin 86 Buchverlage; es wurden 39 russische Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben. Damals nannte man Berlin die dritte Hauptstadt des russischen geistigen Lebens nach Moskau und Petrograd. Die
Situation
änderte
sich
schlagartig
mit
der
Machtübernahme
der
Nationalsozialisten. Viele Russen emigrierten nach Frankreich oder Amerika. Einige kehrten in die Sowjetunion zurück. Damit endete diese Welle der Emigration, um sechzig Jahre später mit noch größerer Wucht auf Deutschland überzuschwappen. Gegenwärtig leben in Deutschland 1,6 Millionen Menschen, deren Muttersprache Russisch ist. Davon leben etwa 100.000 in Berlin. Wie damals schafft sich die russische Bevölkerung ihre eigene kleine Stadt. Man kann zum Friseur gehen oder zum Schuhmacher, ins Lebensmittelgeschäft oder ins Restaurant - überall wird man auf russisch bedient. Es gibt sogar einen russischen Kindergarten und eine Privatschule. Auch Zeitung, Radio- und Fernsehsender haben sich die russischen Berliner geschaffen. Man hofft auf eine Wiedergeburt des russischen Berlins der 20er Jahre. Die Motive sind heute jedoch andere. Die meisten der russischen Immigranten kommen aus der Mittelschicht, sie sind voller Erwartung, wollen im Westen besser leben, effizienter studieren und mehr verdienen. Viele sind aber auch nach Deutschland gekommen, um ihren Kindern eine gute Bildung zukommen zu lassen. Während der größte Teil der Russen sich vom Zauberwort „Business" verfuhren läßt, zeichnet sich im bunten Bild der russischen Kolonie eine neue Generation von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern ab. Während im Geschäft
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
43
der Firma Mercedes Benz 90% der Autos von Russen (meistens mit Bargeld) gekauft werden oder im KaDeWe am ersten Ausverkaufstag sämtliche Pelzbestände von „Russinnen mit Dolmetscher" aufgekauft werden, versammeln sich im Wohnzimmer einer ehemaligen Physikerin auch wieder Russen, um Konzerte zu hören. Buchlesungen zu lauschen und Kunstausstellungen zu organisieren. Der russische Einfluß in Deutschland ist unübersehbar. Es bleibt zu hoffen, daß der Glanz der russischen Kultur in Deutschland ein positives Echo findet.
Das Bild Rußlands vom Westen. Die russische Interpretation der westlichen Auffassung von Demokratie Auf Grund der Tatsache, daß die Demokratie in Rußland nie staatstragendes Prinzip war und demokratische Rechte des einzelnen Bürgers bis auf den heutigen Tag kein Allgemeingut der russischen Gesellschaft sind, verfugt die Mehrheit der Bürger bislang nur über sehr begrenzte eigene Demokratieerfahrungen. Die Öffnung der Grenzen und der parallel dazu einsetzende radikale Umbruch der russischen Gesellschaft in den letzten 6-7 Jahren hat dazu geführt, daß das russische Demokratieverständnis schrittweise von der westlichen Auffassung von Demokratie geprägt wird - jedoch nicht, ohne dabei eine spezifisch russische Interpretation zu erfahren. Nach russischer Lesart wird die westliche Demokratie nicht selten gleichgesetzt mit einem „AllesErlaubtsein" (Bce403B0JieHH0cn>): so gibt es „eine bestimmte Gruppe von Bürgern, die Demokratie offensichtlich als Möglichkeit verstehen, zu tun und zu lassen, was man will"17. Da man dem eigenen Staat traditionell mehr als mißtrauisch gegenübersteht (vgl. Die Einstellung zu Behörden, Institutionen und zum Staat), wird die Auffassung vertreten, daß der Staat sich am besten so wenig wie möglich einmischen möge und ruhig jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle - „ich mache, was mir gefallt und du machst, was dir gefällt". Der russische Exilschriftsteller Maximow charakterisiert den gegenwärtigen Zustand der Demokratie in Rußland wie folgt: „Hier aber, in unserem unseligen Rußland, darf man buchstäblich alles. Aber das ist... keine Demokratie. Das ist die übelste Diktatur, nur in anderem Gewand"18. Mindestens genauso verbreitet ist jedoch die Auffassung (sie wird übrigens nicht selten von ein und denselben Leuten vertreten, die sich des Widerspruchs nicht
44
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
einmal bewußt sind), daß der Staat sich gefälligst um den einzelnen zu kümmern habe. Es ist dieser Widerspruch zwischen dem Ruf nach unbegrenzter Freiheit für den einzelnen einerseits und der nostalgischen Konservierung der althergebrachten Versorgungsmentalität andererseits, der das gesellschaftliche Bewußtsein der modernen russischen Gesellschaft maßgeblich prägt. Dabei ist man von der Einsicht, daß funktionierende Demokratie immer auch etwas mit Kompromißfahigkeit, Interessenausgleich zwischen verschiedenen sozialen Schichten und Gruppen und mit Selbstbeschränkung des einzelnen zu tun hat, noch weit entfernt. Der regulierende Einfluß des Staates und der Öffentlichkeit im Westen werden in Rußland zumeist unterschätzt. Umgekehrt werden die Erscheinungsformen der „Demokratie russischer Prägung" von vielen Russen (insbesondere von Vertretern der mittleren und älteren Generation) mit westlicher Demokratie schlechthin gleichgesetzt, woraus dann der voreilige Schluß gezogen wird, eine solche Demokratie brauche Rußland nicht. Von da ist es nur ein kleiner Schritt bis zu der Überzeugung, daß demokratische Prinzipien in Rußland sowieso keinen Platz hätten und nur ein autoritäres Herrschaftssystem die Einheit des Riesenlandes und seine Zukunft sichern könnten (vgl. Der Hang zum Autoritären).
Die Hauptströmungen der russischen Philosophie und Religion „Bce Hacmoxmue pyccKue juodn - tpunocotpu. " (0.M. JJocmoeecKUÜj „Alle richtigen Russen sind Philosophen " (F.M.Dostojewskij)
Die russische Frühgeschichte ist von der Macht des oströmischen Kaisertums und dem Glanz des christlichen Byzanz geprägt. Im 10. Jahrhundert begann die Hinwendung der auf dem Territorium des heutigen Rußland siedelnden slawischen Stämme zum byzantinisch-orthodoxen Christentum. Mit der Verbreitung der altslawischen Kirchensprache und der Schaffung einer eigenen Autorität nahm der griechische Einfluß nach und nach ab - eine eigenständige russische Kirche bildete sich heraus. Äußeres Zeichen dieser gewonnenen Unabhängigkeit war die Berufung eines Metropoliten von Kiew im 11. Jahrhundert.
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
45
Die byzantinisch-orthodoxe Kirche zeichnet sich durch märchenhaften Prunk und Glanz aus. Prunkvolle Meßgewänder, eine prachtvolle Innenausstattung der Kirchen, goldene Ikonostase, majestätisch wirkende orthodoxe Sakralbauten mit ihren goldenen Kuppeln - all das strahlte grenzenlosen Reichtum aus, kündete von der Macht und dem Selbstbewußtsein der russisch-orthodoxen Kirche. Blendender Reichtum, mystische Verzauberung und die Verheißung, nach einem demutsvollen, gottgefälligen Erdenleben dieses Reichtums im Himmel teilhaftig werden zu dürfen, liefern sicher eine Erklärung für die ausgeprägte Leidensfahigkeit und Leidensbereitschaft des russischen Volkes. Nachdem Konstantinopel im 15. Jahrhundert von den Türken erobert worden war und damit für die Christenheit verloren war, entstand in Rußland der Mythos von „Moskau als dem Dritten Rom". Damit verband sich der Glaube an die göttliche Berufung Rußlands als Träger der einzig wahren welterlösenden Heilslehre. Die orthodoxe Kirche byzantinischer Prägung hielt stets auf eine strikte Abgrenzung zum Katholizismus der weströmischen Kirche: „Von Byzanz, nicht von Rom, vom Patriarchen von Konstantinopel, nicht vom Papst ging die allmähliche Christianisierung der slawischen Stämme und ihrer warägischen Herrscherkaste aus"19. Gegenwärtig ist erneut eine verstärkte Hinwendung zur Kirche zu verzeichnen. In der für die russisch-orthodoxe Kirche typischen Mystik werden geistige Zuflucht und Trost nach dem Zusammenbruch der bisherigen Weltanschauung gesucht. Mit der Hervorhebung nationalistisch gefärbter und chauvinistischer Züge dient die orthodoxe Kirche Befürwortern separatistischer Bestrebungen und großrussischer Ambitionen gleichermaßen dabei nur zu oft als geistige Heimstatt. Die Gedanken der Aufklärung hatten für Rußland stets einen anderen Stellenwert als für Westeuropa. Die Aufklärung wurde in Rußland, im Gegensatz zu Westeuropa, nie zu einer staatsbildenden und staatstragenden Idee und beschränkte sich auf einige wenige fortschrittliche Kreise des Adels. Die von der Aufklärung propagierte Volkssouveränität, der mündige Bürger - all das hatte in Rußland, das noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein de facto eine Sklavenhaltergesellschaft
war,
keine
Chance,
zum
Allgemeingut
des
Volksbewußtseins zu werden. Das Erbe des byzantinischen Gottesgnadentums, die willkürliche Selbstherrschaft des Zaren und die scheinbar gottgewollte Herrschaft des dekadenten Adels waren stärker. Auch nach der formalen
46
Teil I: Interkulturelle Aspekte
Aufhebung der Leibeigenschaft (1861) bestand ein „kollektivistischer Zwang" zum Verbleib in der urslawischen Dorfgemeinschaft, der „oömiiHa". Innerhalb der intellektuellen Elite Rußlands erlangte der Panslawismus, eine Bewegung im 19. Jahrhundert, die auf die Vereinigung aller slawischen Völker abzielte, zunehmend an Bedeutung: „Seit der Niederlage im Krimkrieg hatten das panslawistische Gedankengut, der großrussische Chauvinismus über alle halbwegs liberalen, westlich orientierten Tendenzen gesiegt"20. Der wohl bedeutendste Konflikt philosophischer Strömungen im Rußland des 19. Jahrhunderts war jedoch der zwischen den sogenannten „Westlern" (3ana/jHHKn), den Anhängern der Aufklärung, der Verwestlichung Rußlands, und den „Slawophilen" (cjiaBawxJwjibi), den Nostalgikern altslawischer mystischer Denkart. Dieser Konflikt, der bereits seit Peter dem Großen mit der Auseinandersetzung zwischen der traditionellen russischen Lebensweise und der europäischen, westlichen Welt auf russischem Boden ausgetragen wurde, lebt bis in unsere Tage fort. Im 19. Jahrhundert sahen die Slawophilen im Nihilismus und im revolutionären Aufruhr die größte Gefahr für den Fortbestand Rußlands. Mit christlich-orthodoxer Mystik und unverrückbarem Glauben an die segensreiche Existenz der russischen Selbstherrschaft als einzig wahre Ordnung für das russische Volk und seine slawischen Brüder versuchten sie, der fortschreitenden westlichen Dekadenz slawische Tugenden, wie Gottesfürchtigkeit, Demut und Unterwerfung entgegenzusetzen. Anhänger der Slawophilen sind davon überzeugt, daß allein Rußland mit seiner traditionellen Kultur und Lebensweise den Maßstab humaner Geschichte liefere, während die Westler diese Modellwirkung ausschließlich Europa zusprechen. In der detaillierten Einteilung von Strömungen und Vertretern sind die neuesten Forschungen vorsichtiger geworden. Man weist auf die Komplexität und Ungleichartigkeit hin, durch die sich die Konzeptionen der Westler bzw. Slawophilen auszeichnen. Auch die Bezeichnungen selbst sind äußerst dehnbar, was ihre begriffliche Verfestigung erschwert.21 Angesichts der „Verwestlichung" der russischen Gesellschaft zum heutigen Zeitpunkt flammen immer wieder Diskussionen über den Weg Rußlands in die Zukunft auf, in denen sich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstehen: die Nachkommen der Slawophilen und der Westler.
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
47
Im Zusammenhang mit dem Aufflammen der Diskussionen über den „Russischen Weg", über die Eigenständigkeit (russ. caMOÖbiTHOCTb) Rußlands wird unter den Philosophen gerade heute die ewige Frage, ob die russische Philosophie ein eigenständiges Gebilde innerhalb der Weltphilosophie sei, wieder verstärkt in den Mittelpunkt gerückt. Während Leontij Saweljew meint, die russische Philosophie existiere eigens dazu, die eigentümlichen Züge des russischen Nationaldenkens, das durch die ostslawische Herkunft einerseits und die Christianisierung im orthodoxen Sinne andererseits geprägt ist, zum Ausdruck zu bringen, hält der Berater der bekannten russischen Zeitschrift „Fragen der Philosophie" („Bonpocbi 4)hjioco(})hh"), J.B. Barabanow, solche Einschätzungen für gefährlich und vertritt den Standpunkt, daß die russische Philosophie keinerlei eigene Ideen entwickelt hätte. Vom 10. Jahrhundert an bis in die Neuzeit sei sie der Gesamtlinie der europäischen Philosophie gefolgt. Allerdings räumt Barabanow eine gewisse Eigentümlichkeit der russischen Philosophie ein: Diese hat ihren eigenen Problemkreis, einen besonderen Blickwinkel auf die Dinge, einen eigenen Stil des Philosophierens, eine eigene Interpretation der Rolle der Philosophie im Leben. Trotzdem fuhrt Barabanow alle Appelle an die „russische Idee", den „Sonderweg", die „Urtümlichkeit" usw. auf die „überholte Eigenständigkeitsneurose" zurück, deren Symptome Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und nationaler Größenwahn sind. Diese widersprüchlichen Meinungen zeigen den Charakter der Polemik in der russischen Philosophie sehr plastisch - einer Polemik, die nicht im engen Kreise der Philosophen ausgetragen wird, sondern - und das ist eine Besonderheit Rußlands - in bedeutendem Maße auch Schriftsteller und Dichter einbezieht. Das Ergebnis ist eine von russischen Denkern geschaffene „nationale Metaphysik"22. Die Unklarheit über den weiteren Weg Rußlands, die Unsicherheit der gegenwärtigen Situation nehmen einige Forscher und Autoren zum Anlaß, sie mit der „Zeit der Wirren" zu Beginn des
(CMyra)
zu vergleichen - einer Zeit Ende des 16. und
17. Jahrhunderts,
in der Rußland unter
verschiedenen
Interimsregenten, polnischer Fremdherrschaft und blutigem Chaos zu leiden hatte. Es war eine Zeit, die von Willkür gekennzeichnet war. Nach diesem für Rußland furchtbaren Abschnitt seiner Geschichte hatte sich das Land erstaunlich schnell wieder erholt und war unter Peter I. innerhalb einer geschichtlich kurzen Zeitspanne zur europäischen Großmacht herangereift. Nicht zuletzt deshalb meinen viele Russen, daß die Voraussetzungen für eine erneute patriotische und nationale Renaissance nach den Wirren der Übergangsperiode durchaus gegeben seien.
48
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Die rätselhafte „russische Seele" y.MOM Poecuto ApiUUHOM
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Mit dem Verstand ist Rußland nicht zu begreifen, Es ist nicht mit einer Elle zu messen, Es hat etwas ganz Eigenes An Rußland muß man einfach glauben. (F.I. Tjutschew)
„KTO MM? MTO TaKoe pyccKaa ayma?" - „Wer sind wir? Was hat es mit der russischen Seele auf sich?" - Diese Fragen stehen heute häufiger denn je im Mittelpunkt
von
öffentlichen
Diskussionen
und
wissenschaftlichen
Untersuchungen; sie prangen auf den Titelseiten bekannter und weniger bekannter Zeitungen, sie sind Gegenstand von Streitgesprächen in weiten Kreisen
der
Bevölkerung.
Die
Antworten
prallen
in
unversöhnlicher
Widersprüchlichkeit aufeinander. Rußland wird entweder als etwas absolut Negatives
gesehen
(„Sklavenhaltergesellschaft",
„Imperium",
„Staatsvolk",
„Weltmacht", „Totalitarismus", „unnormale Gesellschaft", „Antizivilisation", „wildes Asien") oder als ewig existierendes Wesen, das die Fähigkeit besitzt, allen verunstaltenden Einflüssen standzuhalten und seine Eigenständigkeit zu bewahren. Es ist schwer, Rußland zu verstehen. Die Weite und Vielfalt des Landes tragen möglicherweise mit dazu bei. Wie wir bereits gesehen haben, stand das riesige Territorium jahrhundertelang sowohl unter westlichem als auch östlichem Einfluß. Diese Strömungen hinterließen ihre Spuren und schufen nicht nur deutliche Kontraste, sondern sogar unversöhnliche Widersprüche im geistigen und sozialen Leben der Russen, in ihrem Volkscharakter und ihrer Lebensweise. Trotzdem kann die russische Zivilisation nicht definiert werden als einfache Mischung von widersprüchlichen Einflüssen. Sie ist vielmehr als Spezifikum zu betrachten,
das
die Fähigkeit
hat,
unterschiedliche
ethno-nationale
und
konfessionelle Ansätze in sich aufzunehmen. Der durch gegensätzliche Einflüsse geprägte nationale russische Volkscharakter weist entsprechend eine gewisse Instabilität auf, die Tjutschew „YMOHenoeTHraeMoeTb" nannte, (in etwa „mit dem
49
Kapitel I: Die kulturelle Barriere
Verstand nicht zu erklären") und die eine variationsreiche und verzweigte Kultur vorprogrammiert. Die bipolare Mentalität der Russen erzeugt aber auch ständig die Bestrebung, sich aus den dualen Widersprüchen zu befreien, die Struktur des inneren Konflikts mit einem „Sprung" zu überwinden. Dadurch
erklärt
sich
der
füir
die
russische
Geschichte
typische
„Katastrophismus" in Tempo und Rhythmus der nationalen Entwicklung 23 und der Hang zu Extremen. Die Gegenwart wird stets als unzulänglich empfunden. Der russische Schriftsteller A.P.Tschechow schreibt deshalb wohl nicht zufällig, daß „der russische Mensch gern in Erinnerungen lebt, weniger jedoch in der Gegenwart".24 Es scheint für ihn keine Gegenwart zu geben, sondern nur Vergangenheit und Zukunft - das ist „der wichtigste nationale Charakterzug der Russen"25. Diese extreme Bipolarität äußert sich auch in den Titeln literarischer Werke, die von epochaler Bedeutung waren: „Die toten Seelen" (Gogol), „Väter und Söhne" (Turgenjew). „Schuld und Sühne" (Dostojewskij), „Krieg und Frieden" (Tolstoj), „Christus und Antichrist" (Mereshkowskij). Sie offenbaren die Vorliebe vieler russischer Schriftsteller für Titel, die auf einem sogenannten Oxymoron, also der Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe, beruhen. Es wäre kurzsichtig, den inneren Konflikt der russischen Seele nur auf den Widerspruch zwischen Ost und West, Individuum und Gesellschaft, Macht und Freiheit, rot und weiß zurückzuführen. Vielmehr ist es notwendig, den Sinn dieser für Rußland typischen widersprüchlichen Charakteristika sowie ihrer Komponenten zu erfassen, wenngleich dies dem Versuch einer Quadratur des Kreises (oöiatb HcoötHTHoe) gleichkommt. Die Widersprüchlichkeit der russischen Seele, die Polarisierung der russischen Kultur und Rußlands selbst erhitzten immer wieder die Gemüter russischer Philosophen. Doch keiner von ihnen hat jemals auch nur angedeutet, ein Rezept dagegen
anzubieten.
Das
bedeutet,
daß
die
Widersprüchlichkeit
und
Zerrissenheit Rußlands und der russischen Kultur ganz offensichtlich ein immerwährendes und grundlegendes Merkmal der Mentalität der russischen Kultur sind mit ihrer Grenzenlosigkeit und Weite, mit der Eigenschaft, absolute Extreme in sich zu vereinen, mit ihrem Streben nach dem absolut Äußersten und gleichzeitig dem Ausweichen vor einer „goldenen Mitte", mit ihrer Bereitschaft,
50
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
sich stetig entweder nach der einen Seite oder plötzlich, ganz spontan, in die entgegengesetzte Richtung zu wenden. Anschauliches Beispiel ist die künstlerische Idee Sankt Petersburgs,
des
Mittelpunktes der russischen Kultur. Das modernste und progressivste Produkt wurde auf barbarische Weise, durch den uralten asiatischen Despotismus geschaffen. Vielleicht war es gerade die Polarität, das Bestreben, aus der Anziehungskraft zweier Kraftzentren auszubrechen, das die russische Kultur und den russischen Menschen anpassungsfähig und flexibel gemacht hat. Die Rätselhaftigkeit der russischen Seele ist mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen, daß sie mit unseren gewohnten, logischen Kategorien nicht zu erfassen ist. Verstehen kann man sie nur mit dem Herzen; nicht rational, sondern emotional. Durch die Lage Rußlands an der Grenze zwischen der westlichen und der östlichen Zivilisation kommt es also zu einer „Sonderstellung" der russischen Kultur, die weder eindeutig der einen noch der anderen zuzurechnen ist, die aber im Verhältnis zu beiden Kulturen zweifellos eine gewisse „Vermittler-Funktion" innehat.
Kultur und Volkscharakter. Elemente des russischen Volkscharakters Der Charakter eines Volkes (seine Mentalität) wird in erster Linie durch seine kulturellen Wurzeln geprägt und wird wie diese selbst durch eine Vielzahl von Faktoren (geographische Lage, Klima, historische Entwicklung etc.) beeinflußt. Kultur und Volkscharakter sind somit auf das engste miteinander verbunden. Im folgenden sollen einige Elemente
des russischen
Volkscharakters
näher
beleuchtet werden. Dazu seien einige einleitende Bemerkungen gestattet. Die Autorinnen sind sich durchaus bewußt, daß die Beschreibung von Elementen eines Volkscharakters generell nicht unproblematisch ist, birgt sie doch die Gefahr unzulässiger Verallgemeinerung und Vereinfachung in sich. Das Risiko, in die bereits erwähnten Klischeevorstellungen zu verfallen und individuelle Züge einer Persönlichkeit in bestimmte vorgefertigte Schablonen pressen zu wollen, ist sicher relativ groß. Um dieses Risiko zu minimieren und die nachstehenden Ausführungen in einem möglichst hohen Maße zu objektivieren,
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
51
wurden die von den Autorinnen beschriebenen Charakterzüge selbstverständlich mit Russen diskutiert, wurde deren Meinung zu dem Dargestellten eingeholt. Die im folgenden diskutierten Elemente des russischen Volkscharakters sind sowohl aus der Sicht der Autorinnen als auch nach Meinung der von ihnen befragten Russen kennzeichnend für viele Vertreter des russischen Volkes und können in diesem Sinne als durchaus typisch betrachtet werden. Zunächst sei erklärt, was die Autorinnen unter den Begriffen „Mentalität" und „Volkscharakter" verstehen und warum im weiteren der Begriff „Volkscharakter" verwendet wird. Mentalität kommt von dem lateinischen Wort „mens", was soviel wie „Geist", „Verstand", „Gefühl", „Leidenschaft", „Haltung", „Verhalten" bedeuten kann. Mit Mentalität wird die Geisteshaltung, Einstellung des Denkens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen bezeichnet. Diese Einstellung bestimmt das Verhältnis zur Wirklichkeit bzw. das individuelle oder kollektive Verhalten26. Mentalität (Denkungsart) ist die allgemeine Einstellung eines Menschen zu seiner Lebenswelt, insbesondere die für eine soziale Gruppe (Stand, Berufsschicht) typische. Im Unterschied zur Ideologie bezeichnet Mentalität nicht die Denkformen und Wertbegriffe, durch die eine soziale Schicht sich deutet oder ihre Aktionen rechtfertigt, sondern die Haltung, die sie einnimmt, und bestimmt daher auch die Motivation ihrer Handlungsweisen. Mentalität und Ideologie stehen in Wechselwirkung. Mentalität bezeichnet nach Geiger die geistig-seelische Disposition, die durch die Einwirkung von Lebenserfahrungen und Milieueindrücken entsteht, denen die Mitglieder einer sozialen Schicht unterworfen sind27. Eng mit dem Mentalitätsbegriff ist auch der Begriff der Völkerpsychologie verbunden. Völkerpsychologie ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit den „seelischen Kulturzuständen, vornehmlich Sprachen, Sitten, Mythos, Kunst und religiösen Vorstellungen der Völker. Urheber des Begriffs Völkerpsychologie ist W.v. Humboldt, der einen Vergleich der „Volkscharaktere" vorgenommen hat. Gegenstand der Völkerpsychologie ist die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen
Persönlichkeit
und
Kultur.
Ein
Anwendungsgebiet
der
28
Völkerpsychologie ist die interkulturelle Kommunikation" . Sowohl der Begriff Völkerpsychologie als auch der Begriff des Volkscharakters sind heute ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Ungeachtet dessen erscheint uns der Begriff Volkscharakter auf Grund seiner geringeren Gebräuchlichkeit weniger mit bestimmten Stereotypen behaftet als der Begriff Mentalität. Hinzu
52 kommt
Teil 1: Interkulturelle Aspekte daß
der
Mentalitätsbegriff,
wie
die
oben
aufgeführten
Begriffsdefinitionen zeigen, immer auch individualisierend gebraucht wird. Deshalb soll im folgenden mit dem Begriff Volkscharakter operiert werden, um bestimmte häufig anzutreffende und für viele Vertreter des russischen Volkes chrakteristische Eigenschaften und Verhaltenszüge näher zu beschreiben. Die Autorinnen folgen damit auch den Traditionen der russischen Kulturgeschichte, die diesen Begriff immer schon bevorzugte. Der russische Kulturforscher N.A. Berdjajew versteht unter Volkscharakter „ständige Eigenschaften, die die Vertreter einer Nation auszeichnen und die sich unter dem Einfluß von Natur und Geschichte herausbilden; Eigenschaften, die sich nicht nur in der Moral, im Verhalten und in der Lebensweise äußern, sondern auch im Schicksal der Nation, des Staates" 29 . Als ureigene Besonderheit des russischen Volkscharakters nennt Berdjajew die Neigung zum „Hin- und - Herschleudern" von einem Extrem ins andere. Er spricht vom Kontrastreichtum (KOHTpacTHOcn>) im Verhalten der Russen. Gleichzeitig weist er auf das Fehlen eines Ruhepols hin und - daraus resultierend - auf die fehlende Bereitschaft, Kompromisse einzugehen. Wichtig dabei ist scheinbar aber nicht die Kompromißlosigkeit an sich, sondern ihr Verhältnis zu prinzipiell andersartigen Einstellungen. So gibt es sicherlich bei allen Völkern den Widerspruch zwischen Güte und Haß, zwischen Armut und Reichtum, Gottesfiirchtigkeit und Atheismus, doch nirgendwo sind diese Widersprüche so kraß, wie in Rußland;
nirgendwo prallen die Extreme so unvermittelt
aufeinander, wie beim russischen Volkscharakter. Schicksalsergebenheit yenoeeK npednonazaem, a Eoz pacnojiazaem., Der Mensch denkt, und Gott lenkt. ,, KCIKCI'A smo cmapasi pyccmx 6one3Hb, imo moMJienue, oma cxyxa, >ma pa36anoeanHocmb - eeHHaa Haöewda, umo npudem Kama-mornzyiuxac eonuieÖHbiM KOJibifOM u ece 3a meöa cdemem: cmoum monbKO ebiümu na KpuneuKO u nepeKuuymb pyxu na pyxy Koneim!" (Meau Eymm)
Kapitel 1 : Die kulturelle Barriere
53
„ Welch alte russische Krankheit, dieses Schmachten, dieses Gelangweiltsein, dieser Müßiggang - die ewige Hoffnung, daß irgendein Wesen mit einem Zauberring erscheint und alle Wünsche erfüllt: Man muß nur vor die Tür treten und den Ring von einer Hand an die andere stecken!" (Iwan Bunin)
Einer der herausragenden Charakterzüge des russischen Volkes ist sicher der sehr ausgeprägte Hang zum Fatalismus (lat. „fatalis" - vom Schicksal bestimmt). Fatalismus
ist
Notwendigkeit
die eines
„Überzeugung,
der
unentrinnbaren
Geschehensablaufes
unterworfen
zu
gesetzmäßigen sein" 30 .
Die
Vorstellung von der schicksalhaften Vorherbestimmtheit und Unabwendbarkeit bestimmter Ereignisse ist tief im Bewußtsein des russischen Volkes verwurzelt und spielt deshalb wohl nicht zufällig auch in der russischen Literatur (man denke z.B. an Lew Tolstojs „Krieg und Frieden") eine große Rolle. Diese Schicksalsergebenheit hilft den Russen in schweren Zeiten zu überleben, das Unvermeidliche zu ertragen und sich auch an widrigste
Umstände
anzupassen. Zugleich führt sie aber auch zu einer übermäßigen Duldsamkeit gegenüber
Menschenverachtung,
sozialen
Mißständen
und
bürokratischer
Schikane, die sich zuweilen in Passivität, ja Apathie äußert. Die Überzeugung, als einzelner keinen oder wenig Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft und auf die Gestaltung der eigenen Lebensumstände nehmen zu können, das Fehlen
bzw.
die
elementare
Unkenntnis
rechtsstaatlicher
Mittel
zur
Durchsetzung von Recht und Gesetz und das Gefühl, „Entscheidungen von oben" hilflos ausgeliefert zu sein, haben dazu geführt, daß viele Russen über eine unglaubliche Improvisationsgabe verfügen und wahre „Lebenskünstler" sind ohne jedoch jemals eine Kultur des organisierten zivilen Widerstandes gegen bestimmte soziale Mißstände oder staatliche Entscheidungen entwickelt zu haben.
Es
ist
kein
Zufall,
daß
Begriffe, wie
„Bürgerbewegung"
oder
„Selbsthilfegruppe" in Rußland bis heute weitgehend Fremdworte geblieben sind. Das Schicksal des einzelnen spielte in der gesamten russischen Geschichte (nicht nur in den Jahren der Sowjetmacht) stets eine untergeordnete Rolle gegenüber dem „Schicksal der Gemeinschaft" (was auch immer dafür gehalten wurde). Ob Krieg in Tschetschenien, Flugzeugkatastrophen wegen elementarer Schlamperei oder bettelnde Rentner vor der Moskauer Metro - die jüngste Entwicklung des Landes zeigt, daß ein Menschenleben in Rußland bis heute wenig zählt. Es gibt so gut wie keine demokratische Kultur, und wenn wirklich einmal Widerstand geleistet wird, dann entlädt er sich nur allzu oft - und auch dies hat historische
54
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Tradition - in blinder Wut und Verbitterung. Der russische Nationaldichter Puschkin schrieb in seiner „Hauptmannstochter", die den Pugatschow-Aufstand zum Gegenstand hat, der russische Aufruhr sei „sinnlos und erbarmungslos" („pyCCKHH ÖyHT - ÖCCCMbIC.ICHHblH H OCCnOUiajHblH''). Selbst einem Ausländer, der jahrelang in diesem Land gelebt hat, mag sich die Frage
aufdrängen,
ob
die
Russen
wohl
deshalb
diese
ausgeprägte
Schicksalsergebenheit haben, weil die Lebensumstände übermäßig kompliziert (ja oft genug für den einzelnen geradezu unerträglich und hoffnungslos) sind, oder ob diese Lebensumstände vielleicht anders aussehen könnten, wenn die Russen sich nicht gar so ergeben in ihr Schicksal fügten. Der ausgeprägte Hang zur Geduld - Gabe oder Fluch ? Tepnu, Ka3aK, amaMüHOM öydeuib. Geduld, Kosak - dann wirst du Ataman. IloaKueeM -
yeuduM.
Kommt Zeit - kommt Rat.
Mit der Schicksalsergebenheit einher geht der ausgeprägte Hang zur Geduld in fast allen Lebenslagen. Auch wenn das wohl prägnanteste Symbol russischen Langmuts - die schier endlosen Schlangen vor den Geschäften - inzwischen verschwunden ist, sind starke Nerven, stoische Geduld und Gleichmut für die absolute Mehrzahl der Bevölkerung auch heute noch eine der wichtigsten Tugenden, um das Leben zu meistern. Ganz gleich, worum es geht - einen Klempner für den Rohrbruch im Bad, einen qualifizierten und wirklich zuverlässigen Kfz-Mechaniker fürs Auto, die Beantragung eines Reisepasses, der „Kampf um eine eigene Wohnung oder die Wahl einer Vertrauen verdienenden Geschäftsbank - all dies erfordert entweder horrende Summen oder aber zumindest eine unglaubliche Ausdauer, Geduld und gute Beziehungen. Ob jahrelanges Warten auf eine Wohnung oder tagelanges Herumsitzen auf einem Flughafen, weil der Abflug einer Maschine wieder und wieder ohne Angabe von Gründen verschoben wird - die Mehrzahl der Russen erträgt solche Situationen mit stoischer Geduld. Auch im Geschäfts- und Arbeitsleben wird oft mehr „Geduld", ja Langmut, an den Tag gelegt, als es einer Sache aus der Sicht eines Außenstehenden förderlich ist. Um so mehr verwundert es Ausländer da zu beobachten, mit welcher Ungeduld (um nicht zu sagen Rücksichtslosigkeit) sich
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
55
beispielsweise die wartende Menge unter vollem körperlichen Einsatz auf einen Bus oder eine Straßenbahn stürzt (die freilich im Berufsverkehr in Moskau meist überfüllt sind), oder wie viele Autofahrer russische Straßen zu ihrem „Jagdrevier" erklären und ein so unglaublich egoistisches, verantwortungsloses Verhalten an den Tag legen, als wollten sie sich auf der Straße für alle im Alltag erlittene Unbill und Erniedrigung rächen. Geduld und Ungeduld liegen oft dicht beieinander und sind - wie so viele Eigenschaften des russischen Volkscharakters - nicht selten von Extremen geprägt. Während die schier grenzenlose Geduld eines Teils der Bevölkerung heute wohl richtiger mit dem Wort Resignation zu beschreiben wäre, ist bei einem anderen Teil von Geduld nicht viel zu verspüren. Es ist jener (zugegeben zahlenmäßig eher geringe) Teil, der von dem fieberhaften Bestreben nach schnellem Erfolg und Wohlstand getrieben ist und dafür alle nur möglichen und unmöglichen Mittel und Wege nutzt. Die rasante Verschlechterung des Lebensniveaus in den letzten Jahren, das immer wieder enttäuschte Vertrauen zum Staat und seinen Versprechungen und das vergebliche Warten auf die mit schöner Regelmäßigkeit proklamierte „Wende zum Besseren" haben dazu geführt, daß Unzufriedenheit und Ungeduld beträchtlich zugenommen haben. Dabei wird man auch als Ausländer nicht selten mit unrealistischen Erwartungshaltungen konfrontiert. Wenn beispielsweise bestimmte Vorschläge und Empfehlungen westlicher Berater nicht unmittelbare, in irgendeiner Form konkret meßbare Resultate zeitigen, sind Frustration und Enttäuschung beträchtlich. Der mangelnde Glaube an die Zukunft führt dazu, daß jeder ausschließlich für das Hier und Heute lebt und bemüht ist, die „schnelle Mark" zu machen. Im Rußland der Gründerzeit erscheint vielen Russen der Aufbau langfristiger Geschäftsbeziehungen, eine langfristige Planung oder Investition unmöglich und zudem auch unsinnig, weil ja „morgen alles schon wieder ganz anders sein kann". Die Neigung zum Aberglauben und zur Mystik Ilocyda öbemcx K ciacnibto. Scherben bringen Glück.
Die ausgeprägte Schicksalsergebenheit vieler Russen geht einher mit einer gewissen Neigung zu Aberglauben und Mystik, die tief in der russischen Seele verwurzelt sind. Besonders markant sind sie bei den Bewohnern ländlicher Gegenden. So kann ein Traum, eine gelegte Karte oder eine bestimmte Form des
56
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Mondes ausschlaggebend für das weitere Schicksal sein. Mauzt der Kater auf dem Ofen und kratzt dabei mit der Pfote, so bedeutet das, daß Gäste kommen. Beim Anblick einer Sternschnuppe kann man, während der Stern fallt, einen geheimen Herzenswunsch flüstern, und er wird in Erfüllung gehen. Bleibt im Feld ein Hase stehen und versperrt er einem (vor Angst) den Weg, so braucht man nur noch auf sein Unglück warten. Dem Aberglauben verdankt das russische Volk auch viele Neujahrsbräuche. Man gießt Wachs und versucht mit der so entstandenen Figur sein Schicksal zu deuten. Junge Mädchen werfen in der Neujahrsnacht ihren Stiefel über das Tor. Wohin die Stiefelspitze zeigt, von dort kommt der Bräutigam. Aber auch die Menschen in den Städten sind bestimmten
Vorzeichen
gegenüber nicht ganz gleichgültig.
Sie weichen
schwarzen Katzen aus, geben sich nicht die Hand über die Türschwelle und deuten einen zerbrochenen Spiegel als Vorboten des Unglücks. Bei den Russen gilt Montag, der 13. als Unglückstag. Der Glaube an übernatürliche Kräfte und Erscheinungen ist bei einem Großteil der Bevölkerung (darunter auch bei hochgebildeten Menschen) bis auf den heutigen Tag nicht nur ungebrochen, er erlebt in dieser Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung vielmehr eine wahre Renaissance. „3KCTpaceHci>i" - wie Hellseher, Wunderheiler, Wahrsager und Magier heute oft summarisch im Russischen bezeichnet werden - genießen das Vertrauen und die Achtung weiter Kreise der Bevölkerung. Die Zeitungen sind voll von Anzeigen, in denen durch Aktivierung übernatürlicher
Kräfte eine Lösung für fast jedes
Problem
versprochen wird - egal ob es sich um den drohenden Verlust des Arbeitsplatzes, den Alkoholismus des Ehemanns oder den Bankrott eines Unternehmens handelt. Astrologische Zentren, Okkultismus-Schulen und andere schillernde Gebilde schössen wie Pilze aus dem Boden und buhlen inzwischen zu Hunderten um
die
Gunst
der
Kunden.
In
einer
Zeit
der
Instabilität
und
Orientierungslosigkeit suchen immer mehr Menschen nach einem neuen Halt nicht wenige glauben, ihn im Überirdischen, Übernatürlichen zu finden. Generell
ist
der
Glaube
an
das
Übernatürliche
tief
im
russischen
Volksbewußtsein verwurzelt. Nur so ist beispielsweise zu erklären, warum Parapsychologen, wie Kaschpirowskij, der mit einer Fernseh-Therapie Millionen in seinen Bann zog, sich ungebrochener Popularität erfreuen.
57
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere Das Ertragen von Leid und die große Bereitschaft zum Leiden
Ha nozocme xcumb ecex ue otuianeuib. Selbst wenn man auf dem Friedhof lebt, kann man nicht alle beweinen. 3a6ombi cepeönm öopody. Sorgen versilbern den Bart.
Die Fähigkeit, Leid zu ertragen, nicht daran zu zerbrechen und nicht zu verzweifeln ist ebenfalls eine herausragende Volkscharakters.
Diese
Fähigkeit
hat
sich
Eigenschaft des im
Laufe
einer
russischen mehr
als
tausendjährigen, von unglaublichen Entbehrungen und Leiden gekennzeichneten Geschichte entwickelt. Allein ein knapper Blick auf die Geschichte Rußlands im 20. Jahrhundert (mit zwei Weltkriegen, der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg, den Stalinschen Massenrepressalien mit Millionen von Opfern bis hin zum Reformprozeß unserer Tage und dem von Verarmung und begleiteten
Übergang
zur
Marktwirtschaft)
macht
Unsicherheit
deutlich,
daß
die
Leidensfahigkeit des russischen Volkes bereits mehr als einmal auf eine harte Probe gestellt worden ist. Das rassische Volk lebte sein Leid stets expressiv aus. In ländlichen Gegenden ist es heute noch üblich, gemeinschaftlich lautstarke Klagelieder
(russ.
npHHHTaHHe ynoKoeHHbix) anzustimmen, wenn jemand im Dorf verstorben ist. Weitverbreitet ist der Glaube, daß es Unglück bringt, wenn man sein Leid und seine Trauer „in sich hineinfrißt". Die Fähigkeit zu einem sehr gefühlsbetonten, expressiven Ausleben von Leid, das Teilen des Leids mit anderen (nicht selten sogar Fremden) hat dem russischen Volk stets die Kraft gegeben, wiederholt mit furchtbaren Schicksalsschlägen fertig zu werden (PyccKHH
HCHOBCK
yMeeT He
3aayMbiBaTBCfl ). Vielleicht ist sie aber zugleich auch eine Ursache dafür, daß sich die russische Geschichte in vielen Punkten mit geradezu erschreckender Kontinuität zu wiederholen scheint, daß Geschichtsbewältigung rein emotional und nicht rational erfolgt. Bestimmten religiösen Auffassungen zufolge wird das gesamte Leben eines Menschen als leidvolle Last verstanden, die es mit Anstand zu tragen gilt. Andererseits ist nicht zu verleugnen, daß die Fähigkeit zu leiden bei vielen Russen auch einen beträchtlichen Stolz auf eben diese Fähigkeit hervorbringt ist doch die ungebrochene Leidensfähigkeit eines der wenigen Momente, die dem rapiden Werteverfall noch nicht zum Opfer gefallen sind. Es ist eine durchaus
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
verbreitete Haltung, sich in der Opferrolle zu gefallen und für alle Mißstände und Unbill einen imaginären Schuldigen zu suchen (sei es der deutsche Faschist, der jüdische Nachbar oder die „schwarzen Visagen" aus dem Kaukasus). In der öffentlichen Meinung wird die Fähigkeit, Leid zu ertragen und sich mit seinem Schicksal abzufinden, traditionell als positiv angesehen. Je härter das Leben, desto größer die Bereitschaft vieler Russen, sich ins Unvermeidliche zu fügen und zu leiden. Man leidet mit Hingabe - und blockiert damit nicht selten eine vorwärtsgerichtete Sicht auf die Dinge, schränkt Möglichkeiten zur Suche von Auswegen aus der Situation ein und rechtfertigt unter Umständen die eigene Passivität und den Hang zum „In-den-Tag-Hineinleben". Außerdem gilt zu berücksichtigen, daß nicht alles, was bei Westeuropäern Entsetzen und Mitgefühl hervorrufen mag, in den Augen der Russen als wirkliches Leid angesehen wird. Weitverbreitet ist vielmehr die Auffassung, daß sich der Mensch so ziemlich an alles gewöhnen könne (HHMcro. MOJI, MC.IOBCK KO Bceiuy npHBbiKaer) - wenn er nur will, und daß letztlich jeder das bekommt, was er verdient. Mitunter mag der Eindruck entstehen, daß Russen erst dann fähig und willens sind, das Letzte aus sich herauszuholen, bis an die Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit zu gehen und scheinbar Unmögliches zu vollbringen, wenn ihnen das Wasser bis zum Halse steht und der Leidensdruck schier unerträglich wird. Für alle großen Taten in der russischen Geschichte (man denke nur an den Aufbau Sankt Petersburgs unter Peter I., die Industrialisierung des Landes in den 30er Jahren oder die Befreiung vom Hitlerfaschismus) mußte das einfache Volk stets unglaubliche Entbehrungen auf sich nehmen und einen immensen Blutzoll entrichten. Waren die Bereitschaft und die Fähigkeit zu leiden in der russischen Geschichte wiederholt ein Motor, der Millionen dazu brachte, buchstäblich über sich hinauszuwachsen und Unglaubliches zu vollbringen, so ist den Problemen der Gegenwart damit allein nicht mehr beizukommen, auch wenn diese herausragende Eigenschaft der Russen sicher die Chance birgt, die mit dem Übergang zur Marktwirtschaft für den einzelnen verbundenen Härten besser zu verkraften. Die Leidensfahigkeit des russischen Volkes und seine Bereitschaft zu leiden sollten jedoch auch nicht verabsolutiert werden. Immer wieder kam es in der Geschichte zu Volksrebellionen und Bauernaufständen, in denen sich die Ohnmacht des Volkes in zügelloser Gewalt und blinder Wut entluden.
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
59
Die Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Solidarität JJoöpoMy tejioBexy u tyjKaft 6one3Hb K cepdyy. Ein guter Mensch nimmt sich auch fremdes Leid zu Herzen.
Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Leiden sind auf das engste mit der Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Solidarität verbunden. Zwingen auch die veränderten Lebensbedingungen, akute wirtschaftliche Nöte und der Mangel an sozialer Verantwortung von seiten des Staates die Russen dazu, sich gegenwärtig vor allem um das tagtägliche eigene Überleben und das der Familie zu kümmern, so haben sie sich dennoch ein bemerkenswertes Solidaritätsgefühl bewahrt. Die Fähigkeit zum Mitleid, ein starkes Solidaritätsgefühl und ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn entspringen dem traditionell ländlichen, egalitären Grundcharakter der russischen Gesellschaft. Auch eine zunehmende Anonymisierung in den Großstädten und eine Individualisierung der Menschen nach dem Zusammenbruch eines großen Teils der früheren sozialen Beziehungen konnten diesen herausragenden Eigenschaften des russischen Volkscharakters bislang keinen Abbruch tun. Mitgefühl und Solidarität kommen überwiegend spontan und sehr persönlich zum Tragen. Es ist üblich, über den Familien- und Freundeskreis hinaus Bekannten, Nachbarn und Kollegen zu helfen, sich in schwierigen Zeiten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und nicht selten auch empfindliche materielle Opfer auf sich zu nehmen. Auf der Straße ist es selbstverständlich, älteren Menschen ohne Aufforderung behilflich zu sein. Man nimmt Anteil am Unglück anderer. Ob Bettler am Straßenrand, aus den nichtrussischen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion geflohene obdachlose Russen, ob Krüppel oder Behinderte, die die Metrogänge belagern - sie alle erreicht die Solidarität der Vorübergehenden. Mal ein Zweihundertrubelschein, mal ein Tausender. Jeder gibt etwas, obwohl man vielleicht selbst nicht genug hat. Andererseits hat eine „anonyme Solidarität", ein unpersönliches Mitgefühl, wie es
sich
etwa
im
Westen
in
Form
von
Wohltätigkeitsverbänden
und
Spendenkonten für Hilfsbedürftige manifestiert, in Rußland keine Tradition. Die Ursachen hierfür sind vielfaltig. Zum einen war es bis in die jüngste Vergangenheit nicht üblich, die Probleme sozialer Randgruppen und Härtefälle in der Öffentlichkeit zu diskutieren - es hatte sie im Sozialismus einfach nicht zu geben. Dadurch ist das öffentliche Bewußtsein für diese Problematik bislang nur mangelhaft sensibilisiert. Zum anderen wird auch heute nicht selten die Meinung
60
Teil I: Interkulturelle
Aspekte
vertreten, daß es schließlich Sache des Staates sei, sich um alle sozialen Probleme zu kümmern. So kann man z.B. die Auffassung hören, daß für die oft erbärmlichen Bedingungen in russischen Kinderheimen schließlich einzig der Staat die Verantwortung trage oder aber die Eltern, die es soweit haben kommen lassen, daß ihr Kind ins Heim gekommen ist. Hinzu kommt das - auf Grund mangelnder Kontrollmechanismen sicher nicht unberechtigte - Mißtrauen, daß Hilfsgelder und Spendenmittel ihren Empfänger nicht erreichen und irgendwo versickern könnten. Oft spielen auch elementare Wissensdefizite und Mangel an Aufklärung (z.B. im Falle Aids- oder Alkoholkranker) eine nicht unwesentliche Rolle. Ein gewisser Hang zur Grausamkeit He MOÜ eo3, ne MHe ezo u ee3mu. Es ist nicht meine Karre - nicht ich muß sie ziehen. 3a uyjicoü ufeKoü 3y6 ne öojium. Ein fremder Zahn tut mir nicht weh. So sehr der russische Volkscharakter durch die Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Solidarität geprägt ist, so eigen ist ihm ein gewisser - auf den ersten Blick paradox erscheinender - Hang zur Grausamkeit, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer. Die historisch verwurzelte Mißachtung des einzelnen, die bis heute währende Geringschätzung des menschlichen Lebens und seine durch die eigene Regierung wiederholt sanktionierte Vernichtung haben dazu geführt, daß das Gefühl für den Preis des eigenen Lebens und das anderer oft verlorengeht. Am bezeichnendsten sind in diesem Zusammenhang die Zustände in den Gefängnissen und Straflagern des Landes oder die Tatsache, daß sich immer noch gut 70% der Russen vehement für den Erhalt der Todesstrafe aussprechen. Der Glaube, die Gebrechen der Gesellschaft heilen oder zumindest lindern zu können, indem man Gesetzesbrecher möglichst für lange weit weg „schließt" und sie so hart wie möglich bestraft, ist nach wie vor weit verbreitet. Auch wenn die russische Gesellschaft heute nicht mehr als totalitär bezeichnet werden kann, so ist sie immer noch (oder schon wieder?) weit davon entfernt, eine nach demokratischen Prinzipien funktionierende rechtsstaatliche Ordnung zu
sein.
Menschenrechte
nach
westlichem
Demokratieverständnis
sind
weitgehend unbekannt. Aus einer die soziale Gleichheit aller postulierenden Kollektivgesellschaft ist sozusagen über Nacht eine Ellenbogengesellschaft
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
61
geworden, in der einzig das Gesetz des Stärkeren zu gelten scheint. Da übermäßige Härte, ja Grausamkeit im öffentlichen Bewußtsein nicht als barbarisch geächtet sind, erscheinen sie da so manchem als zumindest legitimes Mittel im Kampf ums Überleben in der „Wolfsgesellschaft". So stark das Mitgefühl, so aufopfernd die Hilfe einerseits sind, so erschreckend können Grausamkeit und Ignoranz sein, wenn es um soziale Außenseiter, um „Fremde", um „andere" geht. Ein und derselbe Mensch kann einem frierenden alten Bettler Geld oder ein Brötchen aus der eigenen Tasche geben, jedoch gleichzeitig seelenruhig beobachten, wie ein dürftig bekleideter Betrunkener mitten auf einer befahrenen Straße liegt und mit ziemlicher Sicherheit bald überfahren wird. Möglicherweise manifestiert sich in diesem scheinbaren Widerspruch aber auch ein gewisses Maß an Selbstschutz gegen die tagtäglichen großen und kleinen Erniedrigungen und Schikanen der Gesellschaft dem einzelnen gegenüber. Heimatverbundenheit Ha uyMcoü cmopcme u nee Ha He Kpacna, ua lyjicoü emopoue u open - eopoua. In der Fremde ist auch der Frühling nicht schön, in der Fremde ist auch der Adler ein Rabe. 3a MopeM mewiee, a y uac ceermee. Hinter dem Meer ist es wärmer, aber bei uns ist es schöner.
Der russische Volkscharakter zeichnet sich durch einen hohen Grad an „Bodenständigkeit" und Heimatverbundenheit (die mitunter auch Ursache für eine begrenzte Mobilitätsbereitschaft sind) aus. Auch wenn es bisher in Rußland durchaus üblich (bzw. oftmals einfach unumgänglich) war, außerhalb seiner Heimatstadt zu studieren oder seinen Beruf auszuüben, so bestand doch zeitlebens eine enge emotionale Bindung an die Heimatstadt oder -region. In ungezwungenen, nicht offiziellen Gesprächen erzählen Russen gern über ihren Heimatort, über dessen kulturelle Besonderheiten und landschaftliche Schönheit. Im Geschäftsleben erweist es sich immer wieder als nützlich, wenn die Gesprächspartner feststellen, daß sie aus derselben Gegend stammen, oder wenn ein ausländischer Partner darauf verweisen kann, daß er die Gegend, aus der sein russischer Gesprächspartner stammt, selbst schon bereist hat.
62
Teil I: Interkulturelle Aspekte
Neid und Mißgunst V coceda cdoxna Kopoea. Ka3anocb öbi, mKoe Moe deno - a npufmino! Dem Nachbarn ist die Kuh verreckt. Es geht mich ja nichts an - aber es ist erfreulich! He Kynu deopa, a vynu coceda. Kaufe nicht den Hof sondern den Nachbarn.
Der traditionell egalitäre Grundcharakter der russischen Gesellschaft hat das bereits erwähnte starke Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl hervorgebracht. Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Teilen - wenn es sein muß auch den letzten Rubel oder das letzte Stück Brot - gehört zu den wohl herausragendsten Eigenschaften des russischen Volkscharakters. Der Gedanke von der Gleichheit aller, der im Sozialismus zur Gleichmacherei verkam, die jede Art tatsächlicher individueller Leistungsbewertung unmöglich machte, ist zugleich jedoch Ursache für einen tiefen Abscheu gegen jede Art sozialer Differenzierung, unabhängig davon, ob sie auf individueller Leistung, auf Protektion oder Geld beruht. Damit ist der Nährboden für sozialen Neid und Mißgunst gegeben, die auch in früheren Zeiten ihren Platz hatten (man denke nur an die Vertreibung der Großbauern der Kulaken - zu Beginn der 30er Jahre). So wie es einerseits üblich ist, ziemlich offen Bekannten, Kollegen und Freunden gegenüber über seine Einkommensverhältnisse zu sprechen, so sind es andererseits durchaus keine Einzelfälle, wenn Bauern einer dahinsiechenden Kolchose ihrem selbständig wirtschaftenden Nachbarn (russ. epMep) das Vieh vergiften oder die Scheune anzünden oder wenn Geschäftsleute und Bankiers von mißgünstigen Konkurrenten mit einer Bombe ins Jenseits befördert werden. Besonders erschreckend ist in diesem Zusammenhang, daß solcherart „Konkurrenzkampf durch die Öffentlichkeit mit der Bemerkung „der war sowieso ein Bandit, geschieht dem völlig recht" zumindest toleriert, nicht selten sogar gebilligt wird. Die rapide soziale Polarisierung in der Gegenwart - grenzenloser, offen zur Schau gestellter Reichtum, dessen Quellen oft im Dunkeln liegen, einerseits und die Verslumung und Verelendung großer Teile der Bevölkerung andererseits sowie das Fehlen einer breiten Mittelschicht - all das verstärkt, insbesondere in der jüngeren Generation, auch solch negative Tendenzen, wie Neid und Mißgunst.
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere Der Hang zur Maßlosigkeit (die
63
„Alles-oder-nichts-Mentalität") Jluöo nan, nu6o tiponan. Alles oder nichts. Jluöo e empe.MH H020ü,
JIUÖO
e neub zojioeoü.
Entweder den Fuß im Steigbügel oder den Kopf auf dem Hackklotz.
Der Hang zur Maßlosigkeit ist eine wichtige Facette des russischen Volkscharakters. Ist einmal Geld im Hause, so muß es sofort ausgegeben werden, egal wofür. Maßhalten, sparsamer Umgang mit Ressourcen und Selbstbeschränkung sind nicht eben typische Eigenschaften vieler Russen. Maßlosigkeit, ja Verschwendungssucht, dürften nicht zuletzt in der Überzeugung begründet liegen, in einem riesigen Land mit schier unerschöpflichen Ressourcen zu leben, die zudem für den einzelnen jahrzehntelang so gut wie zum „Nulltarif zu haben waren. Auch die staatliche Wirtschaftspolitik zielte auf eine extensive Ausbeutung von Ressourcen (einschließlich der Ressource Mensch) und war darauf orientiert, „aus dem Vollen" zu schöpfen - Quantität ging stets über Qualität. Verschwenderischer Umgang mit Ressourcen ist jedoch nur ein Aspekt russischer Maßlosigkeit. Sie kann sich auch in einer wenig flexiblen oder ablehnenden Haltung gegenüber Kompromissen, im Festhalten an maximalen Zielstellungen und Forderungen, in einer „Alles-oder-Nichts-Strategie" bei Verhandlungen äußern. Großzügigkeit im Verhalten - im Positiven wie im Negativen Kmo Jitoöum doöpue dena, moMy u :xaniib Mwta. Wer Gutes tut, dem Gutes
widerfährt.
Ein weiterer wichtiger „russischer" Charakterzug ist eine gewisse Großzügigkeit im Verhalten. Engstirniges, ausschließlich von egoistischen Interessen geleitetes Kleinlichkeitsdenken ist dem russischen Charakter weitgehend fremd. Diese Großzügigkeit im Verhalten trägt sowohl positive als auch negative Züge. Positiv sind die auf Großzügigkeit basierende Bereitschaft zu teilen, Offenheit und Toleranz gegenüber Ausländern, die Fähigkeit, „über den eigenen Tellerrand hinwegzusehen". Negative Kehrseite russischer „Großzügigkeit" ist der oben beschriebene Hang zur Maßlosigkeit, eine zuweilen sehr lockere Haltung zu
64
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Qualitätsnormen und Sicherheitsstandards und zu Begriffen, wie „Zeit" und „Pünktlichkeit". Die Fähigkeit zu großen, ungebändigtett
Gefühlen
Dem russischen Volkscharakter ist die Fähigkeit zu großen, ungebändigten Gefühlen, zu starker Emotionalität
eigen. Gefühle, wie Freude,
Trauer,
Zustimmung oder Ablehnung werden offener und direkter gezeigt als in den meisten westeuropäischen Kulturen, was Ausländer nicht selten irritiert. Das Zeigen von Gefühlen in der Öffentlichkeit gilt nicht automatisch als Verstoß gegen die gesellschaftliche Etikette, man schämt
sich ihrer nicht
(was
selbstverständlich nicht bedeuten soll, daß beispielsweise offene Unmuts- oder Zornesausbrüche
auf Russen
nicht
ebenso befremdlich wirken
wie
auf
Westeuropäer und deshalb unbedingt zu vermeiden sind). Russen haben (und zwar weitgehend unabhängig von Alter und Bildungsniveau) eine überaus enge, gefühlsmäßige Bindung an ihre Kultur. Menschen, die aus dem Kopf seitenweise die Werke von Puschkin, Lermontow oder Gogol rezitieren können, sind eher die Regel als die Ausnahme. Beim Aufbau von Beziehungen ist meist der erste Eindruck, den man voneinander gewinnt, für die weitere Beziehung entscheidend. Für persönliche und auch geschäftliche Beziehungen ist wichtig, daß man „gefühlsmäßig dieselbe Wellenlänge" hat. Menschliche, emotionale Momente einer Beziehung werden - auch im Geschäftsleben - mindestens als ebenso wesentlich erachtet wie rein rationale. Der Hang zum Autoritären Rußland ist historisch eine patriarchalische Gesellschaft, die praktisch keine demokratische Tradition besitzt. Das Land wurde jahrhundertelang im Rahmen einer Monarchie von den Zaren weitgehend
absolutistisch regiert,
eine
Volksvertretung in Form eines Parlaments existierte bis zum Jahre 1905 (Gründung der ersten Staatsduma) ebenfalls nicht. Demokratie war in der Geschichte des Landes so gut wie nie staatstragend und ist eigentlich erst seit Annahme
der jetzt
geltenden
Grundprinzip der Staatsordnung.
Verfassung im Dezember
1993
erklärtes
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
65
Historisch existierte ein tief im Volksbewußtsein verwurzelter Glaube an den Herrscher. Für soziale Nöte und Mißstände aller Art wurde nicht etwa der Zar persönlich verantwortlich gemacht, noch weniger wurde die herrschende Ordnung in Frage gestellt, man ging vielmehr davon aus, daß der Zar einfach nicht wisse, wie es in seinem Reich aussehe, weil er von gewissenlosen und habgierigen Adligen und Beamten belogen und betrogen werde oder eben nicht die „richtigen" Berater hätte. Dieser Mythos hielt sich hartnäckig bis ins 20. Jahrhundert. Der jahrhundertealte Glaube an Väterchen Zar (russ. „uapi> öanoniKa") wich später dem Glauben an die Größe der Genossen Lenin und Stalin und an die Unfehlbarkeit der Kommunistischen Partei. Auch wenn die Obrigkeitshörigkeit und der Autoritätsglaube des Volkes mehr als einmal schwer enttäuscht wurden und heute sicher die meisten Russen, würden sie denn zu ihren Erwartungen an den Staat und zur Glaubwürdigkeit ihrer (immerhin demokratisch gewählten) Regierung befragt, ohne Zögern antworten würden, sie seien diesbezüglich weitgehend desillusioniert, so sind die Verlockung einfacher Erklärungsmodelle für die jetzige komplizierte Situation und der Wunsch nach eindeutigen „Schuldzuweisungen" insbesondere bei der mittleren und älteren Generation dennoch groß. Der Ruf nach der „starken Hand", die die Schuldigen an der jetzigen Misere bestrafen, „Ordnung schaffen" und die soziale Gerechtigkeit wiederherstellen soll, hat Tradition und wird sicher nicht von heute auf morgen verstummen. Er bildet den ideologischen Nährboden für nationalkonservative und linksextremistische Politiker und Parteien. So berufen sich etwa die Anhänger der rechts-nationalistischen Organisation „riaMHTb" (was soviel wie „Gedächtnis" oder „Gedenken" bedeutet) ganz offen auf die berühmt berüchtigte Ordnungstruppe Iwans des Schrecklichen im 16. Jahrhundert, die sogenannten Opritschniki (russ. onpniiHHiuo\i" (fast nebenan), „HeaajieKo" (nicht weit/unweit). Der Versuch, den Partner durch Rückfragen zu einer genaueren Aussage zu bewegen und einen Zeitpunkt bzw. eine Entfernungsangabe zu konkretisieren, ist nicht selten zwecklos. Nur aus der genauen Kenntnis seines Partners und aus der konkreten Situation heraus kann man einschätzen, ob der Gesprächspartner einen weniger verbindlichen Ausdruck gewählt hat. weil er selbst in Unkenntnis über den genauen Zeitpunkt/die genaue Entfernung ist, oder ob eine böse Absicht (Verzögerungstaktik)
dahintersteckt.
Solche
„Ausdrücke
mit
dehnbarer
Bedeutung", wie sie ein österreichisches Forscherteam bezeichnet 37 gibt es selbstverständlich
in
fast
jeder
Sprache.
Das
Problem
für
einen
Nichtmuttersprachler besteht nur darin, daß die situativen und sprachlichen Kontexte, durch die sie präzisiert werden können, sozio-kulturell geprägt sind, wodurch das adäquate Verständnis erschwert wird. Der Hang vieler Russen zur Verwendung dehnbarer Ausdrücke, der Ausländern vielleicht besonders stark ausgeprägt erscheint, dürfte seine Ursachen zum einen in der bereits diskutierten
Furcht
vor
Verantwortung
und
dem
damit
verbundenen Aufschub von Entscheidungen (Unentschlossenheit) haben. Zum anderen dürfte das Streben nach Vermeidung eines Gesichtsverlustes eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Dieser Gesichtsverlust kann entweder für die eigene Person drohen (nämlich immer dann, wenn eine allzu verbindlich getroffene Aussage nicht eintritt und man selbst in Erklärungszwang gegenüber dem ausländischen Verhandlungspartner gerät) oder aber für den Gesprächspartner (immer dann, wenn es darum geht, eine Absage oder Ablehnung diplomatisch verschlüsselt ausdrücken zu wollen). Wie bald ein Ereignis wirklich eintritt, das mit einem der obengenannten Zeitausdrücke bezeichnet wird, wie nah denn nun ein Ort ist, dessen Entfernung mit einem etwas dehnbaren Ausdruck charakterisiert wird, hängt letztlich immer von der Bedeutsamkeit Größenordnung
der konkreten Kommunikationssituation, von der
des bezeichneten
Ereignisses
ab:
„Wenn
sich
in
einer
bestimmten Situation Leute darauf freuen, daß Tee serviert werden soll, und es erfolgt die verheißungsvolle Mitteilung ..Maii cKopo oyjeT nocraBjieH" (Gleich kommt der Tee), so wird das Eintreten dieses Ereignisses wohl (hoffentlich) in Minuten zu bemessen sein. Derselbe Satz kann jedoch auch in einem ganz anderen Sinn und Zusammenhang verwendet werden: Eine Lieferung Tee steht
84
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
bevor (Tee wird bald geliefert); das aber kann vielleicht erst in einigen Wochen der Fall sein"38. Zahlreiche Sprichwörter und Redensarten sind Zeugnis der russischen Kultur, des russischen Volkscharakters. Sie vermitteln Volksweisheiten und geben Einblick in das Leben der Russen, ihre Bräuche. Traditionen und Vorstellungen. Interessant ist, daß gerade die Sprichwörter und Redensarten der Alltagssprache meist keine direkten Entsprechungen in anderen Sprachen haben, was deutlich macht, daß sie auf einzigartige Weise das Leben eines Volkes, seine über Jahrhunderte gesammelte Weisheit, seine guten und schlechten Seiten widerspiegeln. So wird im Russischen Wert auf Freundschaft, Zusammenhalt und fleißige Arbeit gelegt („Hab' nicht hundert Rubel, habe hundert Freunde", „Gemeinsam werden wir auch mit dem Teufel fertig", „Ohne Fleiß fangt man keine Fische"). Gleichzeitig werden Geiz, Neid, Faulheit und Trunkenheit angeprangert („Dem Geizigen ist alles zu wenig", „Wer trinkt und faulenzt, dem bleibt das Gute fern"). Gegenwärtig durchlebt die russische Sprache einen Prozeß der Demokratisierung und Liberalisierung. Eine ähnliche Situation gab es bereits in den 20er Jahren, als der nachrevolutionäre Optimismus den Wunsch erweckte, nicht nur die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse zu verändern, sondern auch die Kultur und die Normen der Literatursprache. Für die jetzigen Veränderungen der Sprache ist typisch, daß sämtliche Sprachschichten davon erfaßt sind. Die Grenzen zwischen Literatur- und Alltagssprache sind kaum noch wahrnehmbar, immer mehr Elemente aus dem Jargon und der Gaunersprache dringen in den allgemeinen
Sprachgebrauch
ein. Die Sprachträger brechen bewußt
die
Sprachnormen und streben danach, Normen ganz abzuschaffen. Das hängt sicherlich
damit
zusammen,
daß
die
gesamte
vorhergehende
Gesellschaftsordnung von der Mehrzahl der Bevölkerung als veraltet angesehen wird. Das betrifft nicht nur die Ideologie, sondern auch solche Dinge wie Kleidung, Ernährung, Freizeitverhalten etc. und natürlich die Art und Weise der Kommunikation und des Umgangs miteinander. Es hat sich ein neuer Geschmack herausgebildet, der sich an die veränderte Lebensweise anpaßt. Die neue Gesellschaft verlangt nach Tempo, Effizienz und Ruhelosigkeit. Genau diese Eigenschaften spiegelt die „reformierte" russische Sprache wider. Sie ist gnadenlos frisch, ausdrucksstark, strotzt vor Wortschöpfungen und stilistischen Kreationen und nimmt allzu bereitwillig Fremdwörter, besonders amerikanischer Herkunft, in sich auf. Die „neue" Sprache (sie ist vor allem auch die Sprache der
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
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Massenmedien) beherrscht den größten Teil der Gesellschaft und hat wiederum Einfluß sowohl auf die Alltagskultur der Menschen als auch auf die Kultur der gesamten Gesellschaft.
Kultur und Etikette Zu Geschichte und Wurzeln der russischen Etikette In einer Zeit, in der der internationale Wettbewerb von Tag zu Tag wächst und der Erfolg gegenüber den Konkurrenten immer weniger nur durch das Produkt, seinen Preis oder bestimmte Serviceleistungen gesichert wird, kann der richtige Umgang mit dem ausländischen Partner den Gang der Geschäfte maßgeblich beeinflussen. Erwiesenermaßen hängt der geschäftliche Erfolg eines Menschen nur zu 15% von seinem Fachwissen, zu 85% jedoch davon ab, wie er mit anderen umgehen kann. Auch wenn es bislang wenig gesicherte Angaben darüber gibt, wieviel Geld Unternehmen jährlich verlieren und wieviel vielversprechende Geschäftsideen nie realisiert werden, weil elementare Regeln des Umgangs miteinander mißachtet werden, sind Stil und Etikette von vielen Unternehmen inzwischen als relevanter Wettbewerbsfaktor erkannt worden. Angemessene gesellschaftliche Umgangsformen sowie die Regeln, die solche Umgangsformen vorschreiben, werden immer wichtiger. Der Begriff Etikette stammt aus dem Französischen (etiquette) und wurde im 17./18. Jahrhundert geprägt. Er stand ursprünglich für die geregelten Gesellschaftsformen am französischen Hof und bezeichnete die höfischen Umgangssitten (benannt nach den Zetteln, auf denen die am Königshof Zugelassenen dem Range nach verzeichnet waren)39. Nach und nach prägten die einst auf den Hof beschränkten Vorschriften und Verhaltensregeln den gesellschaftlichen Umgang immer breiterer Kreise, sie durchdrangen alle Lebensbereiche, darunter auch die Handelsund Geschäftsbeziehungen. Durch die zunehmende Internationalisierung dieser Beziehungen kam es auch zur teilweisen Angleichung von Umgangsformen. Heutzutage existieren einerseits international gültige Verhaltensnormen und Geschäftspraktiken, deren Befolgung auf einem breiten Konsens beruht, und andererseits national geprägte Umgangsformen. Es ist gerade die Kenntnis dieser nationalen Besonderheiten und ihrer historischen Wurzeln, die zum bewußten „Zünglein an der Waage" werden kann. Unter
86
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
diesem Blickwinkel soll im folgenden etwas näher auf den Ursprung der russischen Etikette eingegangen werden. Die russische Verhaltensetikette hat eine sehr lange Geschichte. Die ältesten, bis in unsere Tage überlieferten Sammlungen festgeschriebener Verhaltensnormen und Kodizes gehen auf das 16. Jahrhundert zurück, sie sind typisch für die Zeit Iwan des Schrecklichen (1547-1584). Werke, wie der „OrorjiaB" (das „Hundertkapitelbuch"), der .,A'!6vkobhhk" (das „ABC-Buch") u.a. stellten das bis dahin überlieferte Kulturgut und seine Normen dar und schrieben sie maßgeblich fest. Das Domostroj (floMoerpofi) ist wohl das kulturhistorisch aufschlußreichste und sprachlich bedeutsamste Werk jener Zeit. Es ist im Deutschen unter dem Titel „Altrussisches Hausbuch" bekannt, wörtlich bedeutet „Domostroj" so viel wie „Hausordnung". Sein Verfasser steht bis heute nicht sicher fest. Das Domostroj ist der patriarchalische Sittenkodex einer idealen Haus- und Verhaltensordnung für jedermann, er stellt eine detaillierte Festlegung der Verhaltensnormen des einzelnen im religiösen, öffentlichen und familiären Bereich dar, wobei dem Zaren und auch dem Familienoberhaupt fast unbegrenzte Befugnisse zugestanden werden. Auch wenn die Regeln des Domostroj wahrscheinlich schon im 15. Jahrhundert von den reichen Nowgoroder Bojaren und Händlern aufgestellt wurden und ursprünglich eine Festschreibung der sich formierenden Selbstherrschaft und Rechtgläubigkeit des Moskauer Zentralstaates zur Zeit der Sammlung russischer Erde darstellten, so dienten sie Adligen, reichen Kaufleuten und Bürgern noch bis ins 19. Jahrhundert hinein als Ratgeber und „Haushaltsbuch". Einige Wissenschaftler bezeichnen das Domostroj deshalb sicher nicht zu unrecht als „Knigge des späten Mittelalters"40. Neben einem religiösen Teil besteht das Domostroj aus einem Teil, der die weltliche Ordnung (Familienbeziehungen) beschreibt und einem Teil, der Fragen der Hauswirtschaft und häuslichen Ordnung gewidmet ist. Es finden sich jedoch nicht nur Unterweisungen und Verhaltensmaßregeln für den religiösen und familiären Bereich der altrussischen Gesellschaft, sondern auch Ausführungen zum Empfang von Gästen, zum Umgang mit dem „Personal", zur Abwicklung von Handelsgeschäften und zum Umgang mit Geschäftspartnern und „Kunden", wie die folgenden Auszüge anschaulich illustrieren:
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
87
„...Wer sparsam ist, an alles denkt, sich seiner Arbeit befleißigt, stets Rechenschaft ablegt, ohne Arg ist und Gewinn einbringt, den behandle freundlich, bewirte ihn mit Speis und Trank und befriedige alle seine Nöte, und für gute Wirtschaftsführung beschenke ihn mit Kleidern. Wer jedoch aus Torheit etwas anstellt, wer faul ist. spät in den Laden kommt oder lange schläft, wer nicht mit der Ware die Kunden aufsucht oder sich sonst eine Nachlässigkeit oder ein Versäumnis zuschulden kommen läßt, der soll vermahnt werden und gescholten und gemäß seiner Schuld bestraft ,.."41. „Wenn ich jemandem etwas abgekauft habe, war ich zuvorkommend gegen ihn und habe ohne Verzug bezahlt, und überdies habe ich ihn mit Brot und Salz bewirtet, so hatte ich Freundschaft für immer und man wird mich im Verkauf nie übergehen, mir keine schlechte Ware geben und keinen Aulpreis verlangen. Wenn ich etwas verkaufte, geschah es in Liebe und ohne Betrug. Wenn meine Ware nicht gefiel, nahm ich sie wieder und gab das Geld zurück. Nie hatte ich wegen eines Kaufs oder Verkaufs Zank oder Streit, so vertrauten mir ehrbare Leute in allem, sowohl Einheimische als auch Fremdländer. Niemals habe ich jemanden belogen oder betrogen oder eine Frist versäumt, weder im Handwerk noch beim Handel. Schuldscheine und Pfandbriefe habe ich nicht ausgestellt und ich habe niemandem eine Lüge gesagt ,.."42. Die Etikette der russischen Oberschicht wurde mit der unter Peter I. im 17./18. Jahrhundert einsetzenden Öffnung des Landes nach Westen zunehmend auch von westeuropäischen Einflüssen (maßgeblich von französischen) geprägt. Diese Einflüsse verstärkten sich erheblich nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon von 1812. Nachdem Fragen von Stil und Etikette mehr als 70 Jahre so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wird der russische Büchermarkt heute geradezu mit einschlägiger Literatur überschwemmt. Zumeist handelt es sich dabei um Übersetzungen amerikanischer Standardwerke zu diesem Thema, die zwar von einer breiten Leserschaft mit Interesse zur Kenntnis genommen werden, aber nur selten zu einem kritischen Vergleich mit der eigenen Realität Anstoß geben.
88
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Was Russen und Deutsche voneinander denken (Metabild) - „Menschenkenntnis im Alltag " Ein weit verbreitetes Problem gegenwärtiger interkultureller Kontakte stellen Aberrationen (lat. „Verirrungen", „Abweichungen") beim Blick auf fremde Kulturen dar, die häufig in sogenannten Stereotypen ihren Niederschlag finden. Stereotype werden im Verlauf von Jahrhunderten als Fragment eines verallgemeinernden Bildes über ein Land bzw. Volk, eine Kultur bzw. Sprache geprägt. Sie entstehen bei einer Betrachtungsweise durch das Prisma einer fremden Kultur. Solche „Mythen" begleiteten die Menschheit während ihrer gesamten Geschichte. Der westliche Mythos Rußlands entstand in erster Linie durch die Berichte Rußlandreisender, durch russische Emigranten (vgl. deutschrussische/russisch-deutsche Beziehungen) und nicht zuletzt durch das Fernsehen und die Presse. Man pflegt Rußland eine gewisse Exotik nachzusagen, was sich bis in die heutige Zeit - in Reportagen westlicher Berichterstatter über das riesige Reich - fortsetzt. Um jedoch die Alltagskultur eines Volkes zu verstehen, muß man sie „er-leben", in ihr „leben". Da der Ablauf des russischen Alltagslebens von vielen Deutschen (wie auch Westeuropäern allgemein) nach westlichen Maßstäben als reichlich unterentwickelt und kompliziert eingestuft wird, sind sie häufig nicht bereit, sich auf diese Stufe zu begeben. Der Deutsche bevorzugt die Beobachtung der Russen unter für ihn geschaffenen Sonderbedingungen. Er wohnt in Hotels und nimmt die Position eines eher passiven Beobachters ein, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß viele Dinge durch die Betrachtungsweise aus der Distanz verzerrt werden und zur Entstehung von weiteren Mythen beitragen. Hinzu kommt, daß das Studium Rußlands - aus vielen Gründen - weitgehend auf Moskau und Sankt Petersburg und die Kommunikation auf die Schicht der Intelligenz beschränkt bleibt. In einer Untersuchung zu westlichen Vorstellungen über den russischen Nationalcharakter kommt die russische Kulturologin A. Pawlowskaja43 zu dem Schluß, daß bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die gleichen Eigenschaften der Russen als herausragend genannt wurden wie heute. Dazu gehörten: > Gastfreundschaft; > eine nach innen gekehrte Religiosität, die nicht mit kirchlichen Dogmen behaftet ist;
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
89
> Ehrlichkeit und Offenheit, die jedoch häufig unter Verschlossenheit und Verdrießlichkeit verborgen sind; > Güte und gleichzeitig Mißtrauen; > > > > > > > > >
das Gefühl der Brüderlichkeit und Solidarität; das Fehlen von Individualismus; Geduld und Ausdauer; Gewandtheit; Schurkerei („Man sollte keinem Russen vertrauen..."); angeborene Faulheit; Gleichgültigkeit gegenüber politischer Freiheit; angeborener Konservatismus und Fatalismus; Unbekümmertheit und Leichtsinn (besonders im Umgang mit der Zeit);
> die Fähigkeit, sich vollständig einem Gefühl, einer Idee hinzugeben, auch wenn diese Idee oder dieses Gefühl nichts als Ärger und zuweilen sogar den Tod bringen können; > Gleichgültigkeit gegenüber Privatbesitz; > eine Vorliebe für die angenehmen Seiten des Lebens; > Geschäftigkeit. Der deutsche Gelehrte August von Haxthausen (1792 - 1866) beschrieb in seinen „Studien über die inneren Zustände des Volkslebens und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands" folgende Beobachtungen über die Russen. Er bemerkte, daß sie kein Verständnis für Regeln und Gesetze hätten; sich überall wohl fühlten - ganz gleich ob zu Hause oder in der Fremde; keinen Sinn für Ordnung und Sparsamkeit besäßen und auf keinen Rat hörten. Wie auch immer man zu diesen Stereotypen stehen mag, sie helfen, neues Licht in die Diskussion über den russischen Nationalcharakter zu bringen. Gleichzeitig geben sie aber auch Auskunft über westliche Denkweisen. Um Klarheit über typische nationale Eigenschaften zu bekommen, wurden in den letzten fiinfundfunfzig Jahren eine Reihe von Befragungen durchgeführt. So stellte man im Jahre 1942 fest, daß nur 9% der befragten Amerikaner die mit ihnen verbündeten Russen für „grausam" hielten. Aber schon 1948 galt dies für 50% der Amerikaner! Das bedeutet, daß politische Verschiebungen, wie in den vierziger Jahren, sehr schnell das Bild über einen Volkscharakter verändern können.
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Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Eine UNESCO-Umfrage aus dem Jahre 1948/49 gestattet interessante Einblicke in die sogenannte Volksseele. In acht Ländern wurden etwa 1000 Personen darüber befragt, welche Eigenschaften sie beim eigenen Volk und welche sie bei anderen Völkern zu finden glauben. Die folgende Tabelle gibt einen Auszug aus den Ergebnissen dieser Befragung44. Tabelle 1 Beurteilte Eigenschaft
Fremdbeurteilung
Selbstbeurteilung Wie sie sich selbst sehen:
Wie die Deutschen
die anderen
sehen: Deutsche
Holländer
.Amerika-
Amerika-
ner
ner
Russen
Franzosen
1. Arbeitsamkeit
90
62
68
19
12
4
2. Intelligenz
64
49
72
34
4
22
3. Fortschrittlichkeit
39
43
70
58
2
7
4. Friedfertigkeit
37
68
82
23
5
12
5. Grausamkeit
1
0
2
2
48
10
Selbstverständlich möchte sich jedes Volk positiv darstellen, aber ganz offensichtlich gehen die Deutschen in ihrer Selbsteinschätzung etwas zu weit. Stellt man die Einschätzung der Deutschen über die Deutschen der Beurteilung über die Russen von 1948/49 gegenüber, zeichnet sich ganz deutlich eine gewisse Selbstherrlichkeit der Deutschen ab sowie die Tendenz, andere Völker als minderwertig zu betrachten. Dieses besondere Selbstbewußtsein der Deutschen im Kontrast zum Selbstbewußtsein anderer Völker, ihre Intoleranz gegenüber der russischen Kultur und dem russischen Volk ist bereits im 19. Jahrhundert in der russischen Literatur treffend beschrieben worden. So schreibt L. Tolstoj in seinem Werk „Krieg und Frieden" über den Deutschen Pfuhl: „Pfuhl war einer der hoffnungslos, ewig und bis zum Martyrium selbstbewußten Menschen, die es nur unter den Deutschen gibt, aus dem Grunde, weil nur die Deutschen auf Grund einer abstrakten Idee, einer Wissenschaft, einer vorgegaukelten Kenntnis der absoluten Wahrheit selbstbewußt sind. Der Franzose ist selbstbewußt, weil er sich selbst achtet, mit dem ganzen Verstand, mit dem ganzen Körper, unwiderstehlich, bezaubernd für Männer wie für Frauen. Der Engländer ist selbstbewußt aus dem Grunde, weil er Staatsbürger des in der Welt wohlgeordnetsten Staates ist, und weil er immer weiß, was er zu tun hat, und weiß, daß alles, was er als Engländer tut, zweifellos gut ist. Der Italiener ist selbstbewußt, weil er aufgeregt ist, schnell sich selbst und die anderen vergißt.
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
91
Der Russe ist deshalb selbstbewußt, weil er nichts weiß und auch nichts wissen will, weil er nicht daran glaubt, daß man irgend etwas vollständig wissen kann. Das Selbstbewußtsein des Deutschen ist das schlechteste und das unerschütterlichste und das widerw ärtigste von allen, weil er meint, nur er kenne die Wahrheit, die Wissenschaft, die er sich selbst ausgedacht hat, die aber für ihn die absolute Wahrheit ist.**45. Es besteht ein weitgehender Konsens innerhalb der russischen Gesellschaft über eine besondere Rolle Rußlands. Nach dem Selbstverständnis vieler Russen ist ihr Land kein europäischer Nationalstaat wie etwa die westeuropäischen oder die anderen osteuropäischen Staaten, sondern ein Staat, der imperialen russischen und sowjetischen Traditionen verpflichtet bleibt: „Wenn das aus dem Untergang der Sowjetunion hervorgegangene ... Rußland zur überlieferten Größe, zur Weltgeltung zurückfinden soll, so meinen viele russische Bürger, so bedarf es nicht eines wirren demokratischen Pluralismus, eines aus dem Westen entliehenen parlamentarischen Systems, für das in Moskau alle historischen und psychologischen Voraussetzungen fehlen"46. Wie bereits an anderer Stelle dargelegt, kann die mangelhafte Kenntnis und ungenügende Berücksichtigung sozio-kultureller Unterschiede zu Reibungsverlusten in der Zusammenarbeit und zu Konflikten im Umgang miteinander fuhren. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen bilden hierbei keine Ausnahme. Durch die Erfassung und Interpretation von Stereotypen, die sich, ausgehend von den als typisch erachteten Eigenschaften des russischen bzw. deutschen Volkscharakters (Mentalitätsstereotypen), im Wertesystem, Arbeitsverhalten und in den konkreten Kooperationserfahrungen äußern, soll im folgenden der Einfluß sozio-kultureller Unterschiede auf die geschäftliche Kommunikation näher beleuchtet werden. Zu diesem Zweck wertete eine süddeutsche Unternehmensberatung47 Befragung
von
insgesamt
100
deutschen
und
russischen
Fach-
die und
Führungskräften verschiedener Branchen aus, deren Unternehmen alle entweder bereits konkrete Kooperationsbeziehungen zu einem russischen bzw. deutschen Unternehmen unterhalten oder fiir die nächste Zukunft eine solche Kooperation anstreben. Die Befragungen wurden mit Unterstützung der Handelsförderstelle der Deutschen Botschaft in Moskau in der 2. Hälfte des Jahres 1994
92
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
durchgeführt. Bei den befragten Unternehmen handelte es sich von russischer Seite um Moskauer und Sankt Petersburger Unternehmen sowie von deutscher Seite um Firmenrepräsentanzen deutscher Unternehmen in Moskau. Alle Befragten erhielten Fragebögen mit denselben Fragen, die sich aber jeweils auf die Kooperation mit Partnern aus dem anderen Land bezogen. Mit der Auswertung der Fragebögen sollte zunächst eine Antwort auf zwei Fragen gefunden werden: > Was verstehen die Deutschen unter „typisch russisch" und die Russen unter „typisch deutsch", d.h. welche typischen, den Volkscharakter prägenden Eigenschaften werden der jeweils anderen Seite zugeschrieben? > Welche Spekulationen stellen die Deutschen (Russen) über das Bild an, das die jeweils andere Seite von ihnen hat (Metabild)? Wie die Untersuchung zeigte, unterscheidet sich das Bild der Deutschen vom „typischen Russen" - wie nicht anders zu erwarten - sehr stark von dem Bild, das die Russen vom „typischen Deutschen" haben. In einigen Punkten scheint es sich um ein geradezu diametrales Bild zu handeln. Das Bild, das die Russen vom „typischen Deutschen" haben, ist geprägt von solchen Eigenschaften, wie Genauigkeit/Pedanterie, Geschäftstüchtigkeit (bis hin zum Geiz), Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, die Fähigkeit zu arbeiten, Verschlossenheit und Reserviertheit im zwischenmenschlichen Bereich. Als positivste Eigenschaft ist aus der Sicht der Russen die Genauigkeit zu bewerten. Arroganz, der ständige Drang nach Überlegenheit und Inflexibilität werden demgegenüber
als
negativste
Eigenschaften
des
„typischen
Deutschen"
angesehen. Der russische Schriftsteller Wjatscheslaw Pjezuch beschreibt die Deutschen beispielsweise wie folgt: „... jedes Volk hat seine Bestimmung. Die Bestimmung des deutschen Volkes würde ich so beschreiben - das Land zu kultivieren und es für ein bequemes Leben nutzbar zu machen. Alles ist sauber, gemütlich und befindet sich am richtigen Platz ,..48 Aus
deutscher
Sicht
zwischenmenschlichen
sind
Herzlichkeit,
Umgang
sowie
Wärme die
und
Offenheit
sprichwörtliche
im
russische
Gastfreundschaft die positivsten Eigenschaften des „typischen Russen". Am negativsten
bewertet
werden
dagegen
Passivität,
Duldungsbereitschaft,
Kapitel 1: Die kulturelle
Barriere
93
Resignation, Maßlosigkeit, Faulheit und Arroganz/Stolz. Der eben erwähnte Wjatscheslaw Pjezuch beschreibt seine eigenen Landsleute mit folgenden Worten: „ ...die Bestimmung des russischen Volkes ist es, Bücher zu lesen. Es besteht ein Widerspruch zwischen der reinen europäischen Denkweise und der rein asiatischen Lebensweise. Der Russe kann ein hochgebildeter intelligenter Mensch sein und jahrelang mit ungeputzten Schuhen und zerrissenen Hosen herumlaufen. Welch ausgeprägte Disharmonie! Sie ist ärgerlich, sie ist seltsam, aber Realität. Man kann sie ebenso wenig bekämpfen, wie man den Donnerstag oder den Regen bekämpfen kann" 49 . Interessanterweise werden die beiden herausragenden Eigenschaften (also „Genauigkeit" bei den Deutschen und „Herzlichkeit/Wärme" bei den Russen) von jeweils allen Befragten geteilt, unabhängig davon, ob sie tatsächlich im direkten Kontakt mit Vertretern der jeweils anderen Kultur stehen oder nicht und ob konkrete Erfahrungen in der Zusammenarbeit bestehen oder nicht. Was die zweite Frage - die nach dem Metabild - betrifft, so sind die Vorstellungen darüber, wie Deutsche bzw. Russen vom jeweils anderen Land gesehen werden, sehr breit gefächert und unterscheiden sich (analog zum Bild vom „typischen Deutschen/Russen") signifikant. Die befragten Russen glauben, daß viele Deutsche Rußland für ein zurückgebliebenes, vorsintflutliches Land halten, in dem Mißwirtschaft, Korruption und Vetternwirtschaft regieren, ein Land, das weitgehend vom Chaos beherrscht wird, in dem es jedoch - ganz im Stile einer Kolonisatorenideologie durchaus „etwas zu holen gibt", man müsse es sich nur zu nutze machen. Sicherlich trifft der russische Exilschriftsteller W. Maksimow den Nerv vieler seiner Landsleute, wenn er sagt: „Für die Leute aus dem Westen sind wir ein Territorium, ein Objekt politischer, religiöser, ökonomischer Begierde"50. Vor dem Hintergrund dieses Metabildes über das eigene Land dürften Mißtrauen, Verärgerung, Abweisung, Trotz und Ausländern oft unbegründet erscheinender Stolz verständlicher - ja zumindest nachvollziehbar - werden, denn mal ganz ehrlich, wie würden Sie sich einem Menschen gegenüber verhalten, von dem Sie meinen, er hielte Ihr Land für verschlafen und unwirtschaftlich und Sie selbst für etwas hinter dem Mond lebend, der jedoch zugleich
den Eindruck
erweckt,
daß dieses Land
überaus
interessante
94
Teil I: Interkulturelle Aspekte
Möglichkeiten birgt, von denen er sich gern ein Stück unter den Nagel reißen würde? Die in der Untersuchung befragten Deutschen glauben demgegenüber, daß die Russen Deutschland für ein Land mit hochmotivierten, pflichtbewußten und arbeitsamen Menschen halten, für ein Land, das sehr reich und international erfolgreich ist, das einen sehr hohen Lebensstandard und ein hohes technischtechnologisches Niveau aufweist und das es demzufolge zu bewundern gilt. Die beiden hier sehr kurz skizzierten Metabilder verweisen bereits auf eine Problematik, die bei der Beantwortung der Frage nach dem Einfluß soziokultureller Aspekte auf die Gestaltung von Geschäftsund Kooperationsbeziehungen von wesentlicher Bedeutung ist: Während das russische Metabild tendenziell passiver, von innerer Verunsicherung und teilweiser Resignation geprägt ist, „strotzt" das deutsche Metabild geradezu vor Selbstsicherheit. Daraus erwächst ein gewisses Konfliktpotential für eine Zusammenarbeit. In
der
erwähnten
Führungskräfte/Firmenvertreter
Untersuchung auch
um
wurden eine
die
befragten
Einschätzung
ihrer
Zusammenarbeit mit der jeweils anderen Seite gebeten. 34% der Russen und 44% der Deutschen bewerteten die Erfahrungen in der Zusammenarbeit als durchweg positiv, ca. 40% haben gemischte Erfahrungen mit der anderen Seite gemacht und nur etwa 10% schätzten ihre Erfahrungen als überwiegend negativ ein. Die deutsch-russischen Kooperationserfahrungen werden von den Befragten also überwiegend als positiv bewertet. Die Frage, ob Deutsche und Russen ihrer Meinung nach gut zusammenarbeiten können, wurde von der absoluten Mehrzahl (73% der Russen und 68% der Deutschen) bejaht. Als Begründung wird angeführt, daß eine Kooperation schließlich für beide Länder nutzbringend sei. Bei denen, die der Auffassung sind, daß Deutsche und Russen nicht unbedingt ein gutes Team abgeben, überwiegen die Deutschen mit 15% beträchtlich gegenüber den Russen, von denen lediglich 2% diese Meinung vertreten. Sie begründen ihre Meinung mit dem aus der gemeinsamen Geschichte erwachsenen Mißtrauen und den sehr verschiedenen - um nicht zu sagen entgegengesetzten - Eigenschaften der jeweils anderen Seite.
Kapitel 1: Die kulturelle
95
Barriere
Die Hauptursache füir die Entstehung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten im Rahmen einer konkreten Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen sind aus russischer und deutscher Sicht Unterschiede im Arbeitsstil und in den Einstellungen (51% der Russen und 34% der Deutschen vertreten diese Auffassung). Die Russen benennen darüber hinaus Unterschiede in den Spielregeln im zwischenmenschlichen Bereich (31%) sowie unterschiedliche Vorstellungen über Macht und Unterwerfung (13%) als wesentliche Ursachen für Reibungen. Aus deutscher Sicht werden ferner vor allem Divergenzen in bestimmten ethisch-moralischen Wertvorstellungen (24%) sowie Unterschiede im Zeitverständnis bei Deutschen und Russen (22%) als Hauptreibungspunkte und mögliche Konfliktursache betrachtet. Die russische Bewertung enthält den versteckten Vorwurf, daß es den Deutschen an
zwischenmenschlicher
Wärme
und
Herzlichkeit
(zumindest
in
den
Arbeitsbeziehungen) mangele. Darüber hinaus wird ihre Arroganz als überaus störend empfunden. Die Deutschen geben ihrerseits zu verstehen, daß es Russen mit der Moral nicht so genau nehmen und mit einem für deutsches Verständnis viel zu großzügigen Zeitbegriff operieren. Nach den Ursachen für die Entstehung
von Reibungspunkten
in
der
Zusammenarbeit befragt, suchen 28% der Russen (aber nur 8% der Deutschen!) diese bei sich; 13% der Russen (und 10% der Deutschen) schreiben die Ursachen der jeweils anderen Seite zu, während der weitaus größere Teil der Befragten (53% der Russen und 78% der Deutschen) die Ursachen auf beiden Seiten sucht. Die russische Seite schreibt sich Mißerfolge in der Zusammenarbeit viel häufiger selbst zu als die deutsche. Die Stereotype vom „verunsicherten, resignativen, passiven" Russen und vom „selbstsicheren, ja arroganten" Deutschen scheinen sich hier bestätigt zu finden. Nach
Auffassung
der
Russen
verhalten
sich
die
Deutschen
in
der
Zusammenarbeit höflich (52%), aber arrogant (31%), während die Russen von den Deutschen als herzlich und warm (57%), höflich, jedoch häufig verhalten abwartend (35%) charakterisiert werden. Daraus ergibt sich die Frage, worin der Unterschied
zwischen
Freundlichkeit/Herzlichkeit
deutscher besteht.
Höflichkeit
Deutsche
sind
und stets
russischer bemüht,
ihre
Individualität, ihre Intimsphäre am Arbeitsplatz mit höflicher Distanz und formal korrektem Umgang zu sichern - oftmals mit dem Resultat, daß sie sich am Arbeitsplatz nicht gerade heimisch fühlen. Russen suchen auch am
96
Teil 1: ¡nterkulturelle
Aspekte
Arbeitsplatz Nähe und Gemeinschaftssinn - was den Arbeitsplatz nicht selten zu einem „Kaffeekränzchen" macht, das von Unproduktivität, Klüngelei und Klatsch über Kollegen und Vorgesetzte beherrscht wird. Bei bestimmten Arbeitssituationen (z.B. Kritik am Arbeitsplatz oder die Reaktion auf Alkoholmißbrauch am Arbeitsplatz durch einen Kollegen/Vorgesetzten) bestehen wesentliche Verhaltensunterschiede zwischen Deutschen und Russen. Zu ihrem Kritikverhalten am Arbeitsplatz befragt, gaben 87% der Deutschen an, in einer Situation, in der sie am Arbeitsplatz kritisiert werden (passives Kritikverhalten), aktiv mit Nachfragen, Gegenwehr oder Verhaltensänderung zu reagieren. Die überwiegende Zahl der befragten Russen bevorzugt auch im Falle offener Kritik den inneren Rückzug, d.h. ein äußerlich passives Verhalten. Geht es um die Frage, ob man selbst Kritik üben soll,_ wenn man sich über jemanden/etwas geärgert hat oder mit etwas nicht einverstanden ist (aktives Kritikverhalten), so bevorzugen alle befragten Deutschen nach eigener Aussage die offene (offensive) Variante, wohingegen 20% der Russen „sich ihren Teil denken würden" und äußerlich keine Reaktion erkennen ließen. Es bedarf sicher keiner besonderen Phantasie, um sich vor diesem Hintergrund die Kommunikation eines „typischen" Deutschen und eines „typischen" Russen vorzustellen, wenn es in den gemeinsamen Arbeitsbeziehungen zu einer Konfliktsituation kommen sollte. Eine Verallgemeinerung der Antworten auf die zur Diskussion gestellten Situationen aus dem Arbeitsalltag läßt die Annahme begründet erscheinen, daß die russische Reaktionsweise tendenziell passiver und nach innen gekehrter ist als die deutsche, was teilweise auf bestimmte generelle Merkmale des russischen Volkscharakters, teilweise aber auch auf die konkrete Lebenserfahrung der letzten 70 Jahre zurückzuführen ist, in denen Eigeninitiative und erst recht Kritik höchst unerwünscht waren und nach Kräften unterbunden wurden. Ähnlich unterschiedlich ist die Reaktion auf die Frage, wie man sich einem Kollegen/Vorgesetzen gegenüber verhielte, der am Arbeitsplatz Alkohol trinkt. Über 50% der befragten Deutschen würde in dieser Situation etwas unternehmen - also den Betroffenen zur Rede stellen, den Betriebsrat oder Vorgesetzte einschalten usw. Die überwiegende Zahl der befragten Russen (74%) gibt dagegen an, daß sie ein solches Verhalten tolerieren und schweigend zusehen würde. Zwar wird der Fakt des Alkoholmißbrauchs am Arbeitsplatz selbst von der Mehrzahl der Befragten negativ bewertet, es gab aber auch Auffassungen, die
Kapitel 1 : Die kulturelle Barriere
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heimliche Akzeptanz, ja sogar Solidarität mit dem Trinkenden zum Ausdruck brachten. Das Thema Alkohol am Arbeitsplatz hat also noch nicht an Aktualität eingebüßt und dürfte auch bei der konkreten Ausgestaltung deutsch-russischer Kooperationsbeziehungen eine Rolle spielen. In der beschriebenen Untersuchung ging es neben Fragen zu den konkreten Arbeits- und Kooperationbeziehungen zwischen Russen und Deutschen auch um eine Betrachtung des jeweiligen Wertesystems, ohne das keine kulturvergleichende Untersuchung auskommt. Um tief verwurzelten, zum Teil unbewußten Kulturunterschieden auf die Spur zu kommen und Verfälschungen durch soziale Erwünschtheit vorzubeugen, wurde deshalb versucht, eine Auswahl, Interpretation und Wichtung bestimmter, für die russische bzw. deutsche Kultur typischer Sprichwörter vornehmen zu lassen. Dabei wurde von der Annahme ausgegangen, daß Sprichwörter, die ja meist sehr alt sind, das Wertesystem einer kulturellen Gruppe weit unverfälschter wiedergeben als eine direkte Werteabfrage. Die Befragten gaben 2-3 Sprichwörter ihrer Kultur an, die entsprechend ihrer Aussage einer von zehn begrifflichen Kategorien zugeordnet wurden. Es wurden solche Kategorien vorgegeben, wie „Fleiß, Anstrengung und Initiative lohnen sich", „Lebensgenuß und Liebe sind mehr wert als Geld und Macht", „Moral und Ehrlichkeit zahlen sich aus", „Androhung von Strafe im Falle unmoralischen Verhaltens" u.a. Bei diesen 10 Kategorien ergaben sich 6 Fälle von Übereinstimmung, d.h. die von den befragten Russen bzw. Deutschen zugeordneten Sprichwörter bezeichneten denselben sozialen Wert. Zu den sozialen Werten mit der häufigsten Übereinstimmung in beiden Kulturen gehörte die Aussage „Fleiß, Anstrengung und Initiative lohnen sich". Für die Untersuchung sozio-kultureller Unterschiede und ihrer Einflüsse auf die geschäftliche Kommunikation sind dagegen die signifikant unterschiedlich besetzten Kategorien im sozialen Wertesystem weitaus interessanter. Zu den relevantesten Unterschieden gehören wohl die in der Kategorie „Einstellung zum Lebens- und Arbeitstempo". Während lediglich 20% der befragten Deutschen Sprichwörter anführten, die sich gegen Übereifer, hohes Tempo, Voreiligkeit und Hast und für Gemächlichkeit in allen Lebenslagen aussprachen, wählten immerhin 52% der befragten Russen solche Sprichwörter, wie „nocneuimm, .TKxacii HHCMCujHb". („Wenn du eilst, machst du die Leute lachen") „Turne eaeiiib - flajiwne oyjemt"'. (..Wer ruhiger fährt, kommt weiter")
„MOCKBÜ
HC
cpa:JY
cipoHjiacb", („Moskau wurde nicht an einem Tag erbaut") He roBopii ron, noxa He nepenphiraeuib", („Schrei nicht „Hopp", bevor du nicht gesprungen bist")
98
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
„ceMt pa3 OTMepb - ojhh pa3 orpe>Kb" („Miß lieber siebenmal, bevor du einmal schneidest") und ordneten sie dieser Kategorie zu. Dieser erhebliche Unterschied in der deutschen und russischen Werteskala bedient das deutsche Klischee vom (positiv betrachtet) gemütlichen und (negativ betrachtet) etwas trägen und nicht gerade arbeitswütigen Russen. Überträgt man die mit diesen Sprichwörtern transportierten Aussagen auf die Arbeitswelt, dann wird deutlich, daß einem potentiellen deutschen Kooperationspartner oder Investor wahrscheinlich die Haare zu Berge stünden bei der Vorstellung, ernsthaft mit russischen Partnern (russischem Personal) zu arbeiten, die eine solche Lebenseinstellung auch im Arbeitsbereich favorisieren. Umgekehrt erscheinen die Deutschen, aus der Sicht der Russen betrachtet, oft als übermäßig arbeitswütig, ja ein wenig verbiestert, wenn sie angespannt und beflissen von Termin zu Termin hetzen und den Geschäftsalltag minutiös bis ins Kleinste zu planen versuchen. In der sich stark unterscheidenden Einstellung zum Lebens- und Arbeitstempo dürfte eine der Hauptursachen für sozio-kulturell bedingte Mißverständnisse zwischen Deutschen und Russen zu sehen sein. Weitere Unterschiede im sozialen Wertesystem betreffen die Einstellung zu „unmoralischem" Verhalten und Regelverstößen, die Haltung zu Optimismus bzw. Pessimismus und die Frage nach den Prioritäten von Lebensgenuß, Liebe, Freude am Leben bzw. Geld, materiellen Werten und Macht. Während 30% der befragten Deutschen Sprichwörter auswählten, in denen moralisches Verhalten und Ehrlichkeit
propagiert bzw.
Strafe im Falle
unmoralischen Verhaltens angedroht wird, wählten nur 4% der befragten Russen Sprichwörter, die diese Werte im Russischen transportieren. Es wäre zweifellos falsch und auch gefährlich, aus diesem Ergebnis den Schluß zu ziehen, Russen neigen dazu zu lügen oder sich sonst irgendwie unmoralisch zu verhalten. Deutsche Führungskräfite, die zu diesem Punkt befragt wurden, gaben an, daß die absolute Mehrzahl der Russen, mit denen sie arbeiteten, ein sehr offenes Verhalten zeigte, in dem Regelverstöße die Ausnahme bildeten. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß sich die Auffassungen darüber, was „unmoralisch" und „anstößig" ist, in den einzelnen Kulturen unterscheiden. Als typische russische Sprichwörter, die eine - in deutschen Augen - etwas „moderatere" Einstellung zu Ehrlichkeit, Moral und Gesetzestreue bezeichnen, wurden solche, wie „Bce MM JBOAH,
Bce
HC.IOBCKH
", (Wir sind alle nur Menschen) „H3jmniHHe n o p a i n - Te Xi ne je.iaeT", „Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling"; „He 3Haa opoay. He cyöca B BO,ny", „Stürze dich nicht ins Wasser, wenn du die Furt nicht kennst"; HE nonuweB B CBHTUH m 6yx öojibiuoft KOJIOKOJI", „nicht die große Glocke läuten, ohne vorher im Kirchenkalender nachgesehen zu haben"). Was die Frage nach den Prioritäten von Lebensgenuß, Liebe, Freude am Leben bzw. Geld, materiellen Werten und Macht im sozialen Wertesystem betrifft, so machte die Untersuchung deutlich, daß der Rolle der Arbeit, des sozialen Status und des Geldes in beiden Kulturen (noch?) wesentliche Unterschiede zukommen. Während 24% der befragten Russen Sprichwörter aufführten, in denen die Priorität zwischenmenschlicher Beziehungen gegenüber materiellen Werten zum Ausdruck kommt (z.B. „He HMeii CTO pyo.ICH. HMCH CTO jpvieii'" „Hab' nicht hundert Rubel, sondern hundert Freunde"), ergab die Auswertung der von den befragten Deutschen aufgeführten Sprichwörter (z.B. „Man lebt nur einmal", „Ohne Moos nichts los" u.a.), daß lediglich 6 % der Meinung sind, Lebensgenuß und Spaß seien höher als Geld und Macht zu bewerten. Aus deutscher Sicht haben die Russen eine unangenehm gleichgültige Arbeitseinstellung, aus russischer Sicht entsteht dagegen der Eindruck einer unangemessenen Arbeitswut bei den Deutschen. Die Schwäche der in dieser Untersuchung verwendeten Methode, Wertvorstellungen mittels Sprichwörter zu erfragen, besteht darin, daß die Sprichwörter von den Befragten kontextfrei genannt wurden. Da sie jedoch wie alle sprachlichen Ausdrucksmittel situativ (kontext)gebunden sind, können sie selbstverständlich immer auch verschieden interpretiert werden. Was beispielsweise von den Verfassern der RUSSLAND-STUDIE als (Zweck)Pessimismus interpretiert und damit negativ bewertet wurde, kann in
100
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
bestimmten Situationen durchaus als Zeichen von Besonnenheit und zur Vermeidung unnötiger Risiken ausgelegt werden.
Gesellschaftlicher Umgang und soziale Wertvorstellungen
Co.\'iacno,'o cmada
BOJIK
ne öepem.
Die Herde, die sich einig ist, wird nicht vom Wolf gerissen. OÖUH e none He eoun.
Ein einzelner ist kein Krieger im Felde.
Die russische Gesellschaft ist eine traditionell egalitär geprägte Gesellschaft. Der tief
verwurzelte
Gedanke
von
der
Gleichheit
aller,
der
zu
früheren,
sozialistischen Zeiten zur Gleichmacherei (russ. ypaBH&noBKa) pervertierte, hat dazu geführt, daß eine natürliche Abneigung gegen „Aus-der-Reihe-Tanzende" und gegen das Ausbrechen aus der vorgeschriebenen Rolle besteht.
Im
Mittelpunkt des Interesses steht nicht das Individuum, der Bürger, sondern eine bestimmte Gemeinschaft - das Kollektiv. Viele Russen haben eine ausgeprägte Vorliebe für das
„Sich-Irgendwie-
Durchwursteln", die sich in solchen sprachlichen Wendungen,
„n0CM0TpnM",
(„erst mal sehen"), „Bce 6y.neT xoporao" („alles wird gut") und „jia^Ho" („na gut, dann soll es so sein") manifestiert. Sie sind stolz auf ihren Einfallsreichtum, ihr Improvisationstalent und die Fähigkeit, in schweren Zeiten zusammenzuhalten, um gemeinsam zu überleben. Daß dies nicht erst seit sozialistischen Zeiten so ist, zeigen unzählige Sprichwörter. Redensarten, Lieder, Märchen. So gelingt es in vielen Märchen dem dummen Iwanuschka immer wieder, weniger durch Tapferkeit und Klugheit als vielmehr durch Ausdauer, naiven Mut und List, das Böse zu besiegen. Der Volksmund umschreibt diesen Einfallsreichtum mit der Redensart „3HaTb Bce xo^bi h Bbixo^w". was im Deutschen soviel bedeutet, wie „alle Wege, Schlichen und Tricks kennen". Es charakterisiert einen Menschen, der weiß, was wann wo bei wem zu welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen zu haben ist. Man kann davon ausgehen, daß die Menschen in Rußland auf Grund vieler Schwierigkeiten, mit denen sie im täglichen Leben konfrontiert werden, auf meisterliche Art dieses Sprichwort verkörpern.
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
101
Die Familie Die grandlegende soziale Einheit ist die Familie. Das Privatleben ist stark familienorientiert. Die meisten Russen sind in der Privatsphäre äußerst redlich und loyal. Moral gilt in erster Linie für persönliche und familiäre Beziehungen. Die überaus wichtige Rolle der Familie hat eine lange historische und kulturelle Tradition. Der heute noch überwiegend ländliche Charakter weiter Teile des Landes, die tiefe Bindung an die Heimatregion, das aus wirtschaftlicher Not und akutem Wohnungsmangel geborene Zusammenleben mehrerer Generationen auf engstem Raum haben oft zu sehr engen Familienbanden geführt. Auch wenn diese engen familiären Beziehungen in der sowjetischen Vergangenheit mitunter großen „Zerreißproben" ausgesetzt waren (Hunderttausende wurden ohne große Vorrede in bis dahin wenig erschlossene Gebiete und in andere Sowjetrepubliken „versetzt", sei es um Bodenschätze zu erkunden, Industrieobjekte zu errichten oder Neuland für die Landwirtschaft zu erschließen), so sind sie in ihrem Kern doch erhalten geblieben. Die meisten rassischen Eltern lieben ihre Kinder über alles, sie verwöhnen sie, wo sie nur können. Es ist durchaus keine Seltenheit, daß die ganze Familie spart, um dem Sohn oder der Tochter ein teures Importkleidungsstück, einen CDPlayer oder einen Markentennisschläger zu kaufen. Die Eltern sind bemüht, ihren Kindern möglichst lange zur Seite zu stehen (und das nicht nur in finanzieller Hinsicht)
und
sie in einer
von
allgemeiner
Unsicherheit,
Werteverlust und Orientierungslosigkeit geprägten Zeit so lange nur irgend möglich vor den „Fährnissen des Lebens" abzuschirmen. Viele Eltern haben heutzutage sogar Angst, ihre bereits erwachsenen Kinder für fünf Jahre zum Studium nach Moskau oder für längere Zeit ins Ausland zu lassen. Der Drang nach Selbständigkeit, der Wunsch, „mit 18 von zu Hause abzuhauen", sind in Rußland weit weniger ausgeprägt als im Westen - wohl nicht zuletzt auch auf Grund mangelnder Möglichkeiten, sich früh von der Familie „abzunabeln". Haben die Kinder dann eine eigene Familie gegründet und verfügen sie irgendwann einmal auch über eine eigene Wohnung, dann nehmen sie ihre Eltern im Alter wieder bei sich auf, um sie zu versorgen, da der Staat nicht in der Lage ist, eine halbwegs menschenwürdige Altersversorgung zu garantieren. All dies schränkt Mobilitätswillen und -möglichkeiten der Russen erheblich ein.
102
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Im Unterschied zu westeuropäischen (Ehe)Frauen hat fast jede russische Frau eine sehr enge Freundin, der sie so ziemlich alle ihre Probleme und Sorgen anvertraut, egal ob sie die Kinder, den Mann oder die Kollegen auf Arbeit betreffen. Selbst in normal funktionierenden Ehen ist es oft nicht üblich, bestimmte Probleme, darunter auch intime, mit dem eigenen Ehemann zu erörtern. Die „beste Freundin" ist der nächste Vertraute der Frau, sie steht ihr nicht selten viel näher als der eigene Ehemann. Daß man trotz so inniger Frauenfreundschaften nicht immer mit der bedingungslosen Loyalität der Freundin rechnen kann, belegt das folgende russische Sprichwort: „JlyHine paccKa>KH RIOAYUIKC, HCM noflpyaoce" (was bedeutet „Erzähle es lieber deinem Kopfkissen als deiner Freundin"). Die Russen lieben es, „in ihrer Seele zu graben" („KONATBCA B ayine") - am liebsten im vertrauten Zwiegespräch mit der besten Freundin, dem besten Kumpel, oder einfach mit den Nachbarn - bei einem Fläschchen Wein, spätabends in der Küche (Die Küche ist in russischen Familien der Raum, in dem sich so gut wie alles abspielt - hier stehen der Fernseher und oft auch das Telefon, hier machen die Kinder ihre Hausaufgaben, und die Frau hat ihren Platz am Abend ohnehin in der Küche. Diesen Platz läßt sie sich auch von niemandem streitig machen).
Die Einstellung zu Behörden, Institutionen und zum Staat JJo Eoza ebicoxo, do ifapfi danexo. Der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit.
Parallel zu den von Loyalität geprägten Familienbeziehungen existiert nicht selten eine Beziehung zu Institutionen und Behörden, die von Außenstehenden vielleicht als unmoralisch gewertet werden könnte. Der Grad der Identifikation mit dem Staat ist gering. Es herrscht ein tiefes Mißtrauen gegenüber allem, „was von oben kommt". Man denkt in der Regel nur daran, wie man den Staat überlisten kann, insbesondere in Steuerangelegenheiten. Die Zahlung von Steuern wird weniger als Pflicht gegenüber der Gemeinschaft angesehen, als eine Forderung, die es zu umgehen gilt. Eine ähnliche Einstellung trifft man auch bei vielen Unternehmen an.
Kapitel 1 : Die kulturelle Barriere
103
Die einst übermächtige Rolle des Staates und die durchgängige Zentralisierung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens (alles wurde aus Moskau entschieden und gelenkt), hat einerseits zu der auch heute von vielen noch hartnäckig vertretenen Überzeugung gefuhrt, daß der Staat für alles verantwortlich und wenn etwas nicht funktionierte - an allem schuld sei. Nicht selten muß diese Überzeugung als Begründung für den Mangel an Eigeninitiative, Bequemlichkeit und Veränderungswillen (darunter auch bei vielen Unternehmen) herhalten. Andererseits haben aber die Unmöglichkeit, ein so riesiges Land wie Rußland ausschließlich zentralistisch regieren zu wollen, und die mit diesem Versuch verbundene Ineffizienz bewirkt, daß Selbständigkeit, Eigeninitiative und der Mut zu Neuem oft um so größer waren, je weiter man von Moskau entfernt war. Gemeinhin gilt der Satz „Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit", was heißen soll, daß „in diesem außergewöhnlich ausgedehnten Reich ... die Zentrale relativ schwach sein (muß) und einzelne Landesteile ... besonders stark (sind)"51.
Die Einstellung zu Gesetzen
3ÜKOH, nmo dbirn.no - Kyda noeepHyn, myda u ebiuuio.
Das Gesetz ist wie eine Deichsel: wohin man es dreht, dahin weist es. l'hmmume nopxdm - me :»ce öecnopndm. Zuviel Ordnung bringt auch nur Chaos. He oÖMüHeuib - He npodauib. Wer nicht betrügt, der nicht verkauft.
Die Einstellung zu Gesetzen ist sehr ambivalent. Wird eine Gesetzeslücke entdeckt, wird sie gewöhnlich solange wie möglich ausgenutzt. Gesetze werden recht „kreativ" ausgelegt, was durch allgemeinen Gesetzeswirrwarr und einander widersprechende Bestimmungen oftmals durchaus gefördert wird: „Gesetze und Verbote sind etwas sehr Relatives in Rußland. Je mehr es von ihnen gibt, um so findiger vermag der Russe sie zu umgehen. Er weiß: Diese Staatsgewalt, die ihm einerseits immer wieder erdrückende, mitunter einander völlig widersprechende Lebensregeln auferlegt, ist andererseits zu schwerfällig und zu korrupt, als daß sie zu ernsthaften Sanktionen in der Lage wäre"52.
104
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Selbst die peinlich genaue Befolgung aller Gesetze, Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und eine Konsultation bei einschlägigen Spezialisten, Steuerberatern etc. ist noch lange keine Erfolgsgarantie, da die Auslegung von Gesetzen und die Entscheidung, welche konkrete gesetzliche Bestimmung einer Entscheidung zugrunde gelegt wird, letztlich immer eine Ermessensfrage ist und von der Sachkenntnis, der Einstellung und der „Tagesform" des jeweiligen Beamten abhängt, wie die nachfolgende Schilderung anschaulich belegt: „Wenn ein ausländischer Geschäftsmann vor einer beabsichtigten Reise nach Rußland die russischen Gesetze genauestens studiert, dann bringt ihm das zweifellos bestimmte Vorteile. Es gibt jedoch viele Gesetze, ständig werden neue verabschiedet und dessen nicht genug werden darüber hinaus unzählige, zuweilen auch widersprüchliche Erlasse und Verordnungen unters Volk gebracht. Welchem Buchstaben des Gesetzes man im Einzelfall zu folgen hat, entscheidet ohnehin der konkrete Beamte. Mehr noch, einer alten Tradition folgend, trifft er gewöhnlich erst irgendeine Entscheidung und erst danach sucht er nach einem passenden Punkt und Paragraphen. Im äußersten Fall gibt es immer noch die rettende Formel „Ausnahmsweise..." (B nopjiznce HCKjnoHeHHii). Da sich niemand in einer bestimmten Frage besser auskennt, als eben jener Beamte, den man „passieren" muß, ist er zugleich auch der qualifizierteste Berater"53. Besonders als Ausländer verzweifelt man nicht selten an einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, das einen befallt, wenn man mit bestimmten bürokratischen Entscheidungen oder (was noch schlimmer ist!) mit der Lethargie und Handlungsunwilligkeit russischer „Apparatschiks" konfrontiert wird. Man fühlt sich ihnen hilflos ausgeliefert, weil es oftmals keine nennenswerten Rechtsmittel gibt, um gegen eine Entscheidung (gegen Untätigkeit) vorzugehen, oder aber wenn Rechtsmittel zwar vom Gesetzgeber vorgesehen sind, sich jedoch niemand bemüßigt sieht, die Gesetze einzuhalten. Generell sind gewisse Bestrebungen zur Demokratisierung des russischen Rechts durchaus erkennbar (beispielsweise auf dem Gebiet des Verbraucherrechts). Da diese jedoch erst seit jüngster Zeit zum Tragen kommen (und damit entsprechende Erfahrungen aus der Rechtspraxis bislang weitgehend fehlen) und einige Rechtsbereiche (z.B. das Verwaltungsrecht) etwaigen Reformbestrebungen bis heute überhaupt widerstanden zu haben scheinen, sind die Chancen, im Streitfall von einem russischen Gericht recht zu bekommen, nur schwer abzuschätzen.
Kapitel I: Die kulturelle
Barriere
105
Statussymbole
M3 ZpH3U
e
KHH3U.
Gesindel sein und als Herr erscheinen. M e HoeoM
manne,
da e cmapoM
pa3yMe.
Neues Gewand - alter Geist. Auch
wenn
Rußland
traditionell
keine
Erfolgskultur
ist,
wird
durch
Konsumwünsche, die während der Zeit der Stagnation nicht zu befriedigen waren,
inzwischen
ein
entsprechendes
Anreizsystem
für
die
Leistungsstimulierung des einzelnen geschaffen. Die Öffnung der Grenzen und der „lawinenartige Einfall" westlicher Konsum- und Luxusgüter hat bis dahin unbekannte
Bedürfnisse
geweckt
und
dazu
gefuhrt,
daß
Statussymbole
inzwischen eine immens große Rolle spielen. Dies gilt jedoch nur für die sich langsam entwickelnden kleinen Unternehmen, nicht jedoch für die ehemaligen Staatsbetriebe oder gar den öffentlichen Dienst, wo eine miserable und zudem höchst sporadische Entlohnung die Realisierung solcher Konsumwünsche in unerreichbare Ferne rücken ließ. Um so mehr lieben es junge dynamische Geschäftsleute, die von ihren Landsleuten nicht selten sehr abwertend als „neue Russen" („HOBbie pyccicne") bezeichnet werden, Erreichtes offen zur Schau zu stellen. Es ist durchaus erwünscht, allen zu demonstrieren, wie erfolgreich man ist - ein ausländisches Auto, ein großes Wochenendhaus, teure Kleidung, die Ausbildung der Kinder an privaten Colleges und Universitäten im In- und Ausland - auch wenn man damit Neid und Mißgunst „weniger erfolgreicher" Landsleute und Konkurrenten auf sich zieht, die sich dann nicht selten in physischen Gewaltakten entladen. Eine der höchsten Auszeichnungen ist es, in einem der neuen Wirtschaftsmagazine vorgestellt zu werden oder im Fernsehen zu erscheinen. Es ist weit verbreitet, aufwendig gestaltete Visitenkarten mit zum Teil etwas abenteuerlich klingenden Titeln und Dienststellungen
zu überreichen.
Erfolg im beruflichen und
geschäftlichen Leben wird im allgemeinen eher als eine Frage von Glück, Beziehungen und Durchsetzungswillen
angesehen als von Fähigkeit oder
Leistung. Widersprüchlich
erscheint
einerseits
negative
eine
in
diesem
Zusammenhang
Grundtendenz
in
der
die
Tatsache,
Bevölkerung
daß
gegenüber
einheimischen Unternehmern besteht, während andererseits die Rolle von
106
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Unternehmertum in der Gesellschaft an sich als durchaus positiv bewertet wird. Die Tätigkeit russischer Unternehmer wird von der eigenen Bevölkerung nur zu oft gleichgesetzt mit Rücksichtslosigkeit, Egoismus und Raffsucht auf Kosten der Gemeinschaft. Zugleich ist der Anteil derer, die sich vorstellen könnten, selbst Unternehmer zu werden, bestimmten Umfragen zufolge zumindest in den Großstädten Moskau und Sankt Petersburg nicht niedriger als im Westen. Die öffentliche Zurschaustellung von Reichtum trifft bei der breiten Mehrheit der Bevölkerung, deren Lebensstandard sich in den letzten Jahren katastrophal verschlechtert hat, auf Unverständnis und Ablehnung, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil dieser Reichtum in den Augen der Öffentlichkeit größtenteils nicht auf legalem Wege erworben wurde. Zudem verbietet es eine gute Erziehung, die zu Bescheidenheit verpflichtet, seinen Reichtum öffentlich vorzuführen. Die Auffassung, daß Bescheidenheit eine sehr erstrebenswerte Tugend sei, und daß es besser sei, „sein Licht unter den Scheffel zu stellen" als seinen Erfolg zu zeigen, geht nicht zuletzt auf die Angst vor dem Neid der anderen und auf einen gewissen Aberglauben zurück: Es bringt Unglück, wenn man von seinen Erfolgen und persönlichem Wohlergehen spricht. Ausländer (zumindest Westeuropäer und Amerikaner) gelten in den Augen der meisten Russen ungeachtet ihrer individuellen sozialen Stellung als reich. Nicht selten wird man mit so abenteuerlichen Vorstellungen konfrontiert, wie der, daß jeder Deutsche einen „Mercedes" fahrt oder ein eigenes Haus besitzt. Versucht man, seinem Gesprächspartner eine etwas differenziertere Sicht auf die Dinge zu vermitteln, stößt man gewöhnlich auf Unglauben, oder - schlimmer noch - man wird bezichtigt, ausländerfeindlich zu sein bzw. „nicht teilen" zu wollen. Es sind diese Vorstellungen über „reiche" Ausländer, die letztlich die Ansprüche und Erwartungen an das eigene Leben prägen: "... was erwartet man von einer guten Gesellschaft? Vor allem Aufstiegschancen, eine eigene Wohnung, ein reichliches Angebot an guten, importierten Waren. Reisen ins Ausland"54. Als Geschäftsmann/Geschäftsfrau aus dem Westen sollte man sich einerseits davor hüten, zu übertreiben und seinen Wohlstand zu öffentlich zur Schau zu stellen
(nicht
zuletzt
auch
aus
Gründen
der persönlichen
Sicherheit).
Andererseits sollte man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, den eigenen Status nicht herunterspielen, da übertriebene Bescheidenheit eher zu Zweifeln am Renommee und an der Solidität des von Ihnen vertretenen Unternehmens
Kapitel I: Die kulturelle Barriere
107
führen, als daß sie Ihnen die Achtung Ihres russischen Gesprächspartners einbringt.
Kleidung IIo ruiambw ecmpenatom - noyMy npoeootcatom. Man empfängt nach dem Gewand und scheidet nach dem Verstand. Im öffentlichen Leben Rußlands - und ganz besonders in den Metropolen - wird Wert auf eine korrekte Kleidung gelegt, wobei moderne westliche Kleidung (insbesondere teure Designerkleidung) als Statussymbol gilt und zunehmend an Bedeutung gewinnt. Es gibt kaum eine Unterscheidung zwischen der Kleidung fürs Büro und der für bestimmte gesellschaftliche Anlässe. Man legt Wert auf Eleganz und eine gewisse Förmlichkeit. Mitunter mag einem Westeuropäer die von weiblichen Angestellten im Büro getragene Kleidung vielleicht eine Note zu elegant und nicht nüchtern genug erscheinen. In Rußland würde man eine diesbezügliche Bemerkung wahrscheinlich mit dem noch aus sowjetischen Zeiten stammenden Ausspruch kontern, daß „die Arbeit schließlich ein Feiertag" sei („paöoTa ecn> npa34HHK"). Auch wenn es heute nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, als „Unding" angesehen wird, wenn eine Frau im Geschäftsleben Hosen trägt, so ist doch die allgemein anerkannte Norm der Rock oder das Kostüm. Frauen in führenden Positionen (beispielsweise in den neuen kommerziellen Strukturen) sind in den Augen westeuropäischer Verhandlungspartner vielleicht eine Spur zu streng gekleidet und erwecken damit ein wenig den Eindruck der Unnahbarkeit, wohl nicht zuletzt auch deshalb, um das eigene Selbstbewußtsein zu stärken und sich durch eine unpersönliche, bisweilen etwas abweisende Haltung ihre männlichen Kollegen und Geschäftspartner zu einem respektvollen und sachlichen Umgang mit ihnen zu zwingen. Ein sportlich-lässiger Stil ist allgemein wenig verbreitet (abgesehen von einer ganz spezifischen Gattung von „Geschäftsleuten", die es vorzieht, ihren sozialen Status mit Reebok-Sportschuhen, Lederjacken u.ä. zu unterstreichen).
Jogginganzügen,
108
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Humor Humor spielt eine wichtige Rolle in der russischen Gesellschaft. Es ist der Humor einer Kultur, in der das Äußern von Gefühlen auch in der Öffentlichkeit nicht unterdrückt wird. Gilt es auch bei geschäftlichen Begegnungen als unseriös, Witze (russ.: aHCiyxoT) zu erzählen oder Scherze zur Auflockerung der Atmosphäre einzustreuen, so ist doch keine abendliche Tischgesellschaft (sei es in der Familie oder mit Geschäftsfreunden) denkbar, auf der nicht irgendwann (spätestens nachdem auch der letzte Anwesende einen Toast ausgesprochen hat) Witze und Anekdoten zum Besten gegeben würden. Die besondere Stärke des russischen Humors sind politische Witze. Auch wenn der russische Humor zuweilen sehr sarkastisch sein kann, so ist er jedoch in der Regel nicht selbstabwertend oder verletzend - Selbstabwertung widerspräche dem starken Gefühl der Russen für persönliche Würde. Auch Zynismus und zynische Witze sind wenig verbreitet und können, wenn sie im Geschäfitsleben auftreten, zum Einfrieren der Gesprächsatmosphäre fuhren. Allerdings scheint die moderne russische Gesellschaft nicht sonderlich reich an Witzen zu sein, was sicher darauf zurückzuführen ist, daß durch die Demokratisierung der Gesellschaft und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung eine wesentliche Funktion der Witze, Ventil für Frustration und Andersdenken zu sein, nicht mehr gegeben ist. Neuerdings kann man an jeder Metrostation für wenige Rubel Witzsammlungen erstehen - allerdings handelt es sich zumeist um altbekannte Witze, die früher nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden. Das Spektrum russischer Witze ist breit. Dabei spannt sich der Bogen von politischen Witzen über Armeewitze, Arztwitze, Trinker- und Idiotenwitze bis hin zu national geprägten Witzen (Tschuktschen-Witze und Sender Eriwan). Im Kommen sind Witze über die „neuen Russen", deren Käuflichkeit, Prunksucht und Primitivität „auf die Schippe genommen werden": In Paris treffen sich zwei „neue Russen". Sagt der eine: „Du hast aber eine tolle Krawatte! Wo hast du die denn gekauft, was hast du dafür bezahlt?" Darauf antwortet der andere: „Die gab es hier um die Ecke. Die hat mich 1000 Dollar gekostet."- „Mensch, bist du dumm: Zwei Straßen weiter hättest du die gleiche Krawatte für 2000 Dollar bekommen können!"
Kapitel 1: Die kulturelle Barriere
109
Die Amerikaner haben das Lenin-Mausoleum gekauft und es auf einen Wolkenkratzer gestellt. Da wacht Lenin auf, schaut hinunter und sagt: „Genau so habe ich mir das immer vorgestellt".
Geschenke Der Austausch von Geschenken ist auch im geschäftlichen Bereich sehr verbreitet. Generell ist zwischen Geschenken zu unterscheiden, die eine bestimmte Beziehung zum Schenkenden, seinem Unternehmen, seinem Land oder seiner Heimatstadt ausdrücken und Geschenken, die zu den Prestige- oder Luxusartikeln zu rechnen sind55. Wenn Russen ihren Geschäftspartnern etwas schenken, dann handelt es sich meistens um Geschenke der ersten Gruppe, insbesondere um landeskundlichkulturell geprägte Gegenstände, wie Souvenirs (Matrjoschkas, Samoware, kunstgewerbliche Arbeiten aus Holz oder Porzellan, Geschirr im folkloristischen Stil, Bildbände, Abzeichen, Gedenkmünzen u.a.). Die zweite Art von Geschenken ist bislang wenig üblich. Dementsprechend sollte man als Ausländer, wenn man seinen Geschäftsfreunden ein Geschenk überreichen möchte, Artikel wählen, die der ersten Gruppe zuzurechnen sind. Artikel, wie Süßigkeiten, Kaffee, andere Lebensmittel und Kosmetika, die noch vor wenigen Jahren die „Liste der Top-Tcn" unter den Geschenken anführten und stets sehr positiv aufgenommen wurden, sind heute nicht mehr zu empfehlen, da diese Artikel längst auch auf dem russischen Markt angeboten werden und ein solches Geschenk vom Geschäftspartner als „milde Gabe" mißverstanden werden könnte. Im privaten Bereich ist selbstverständlich nichts gegen diese Art von Geschenken einzuwenden. Mit großem Interesse werden Geschenke aufgenommen, die typisch sind für die Heimatstadt oder Region des Schenkenden, die seinen „persönlichen Stempel" tragen. Geschenke sollten sich in Grenzen halten und an ganz bestimmte Anlässe gebunden
sein.
Ein
solcher
Anlaß
kann
der
gemeinsam
begangene
Jahreswechsel, ein bestimmter Feiertag, oder ein informelles Geschäftsessen sein, bei dem Sie erstmals beim Partner oder er erstmals bei Ihnen zu Gast ist. Es kann aber auch der erfolgreiche Abschluß eines gemeinsamen Projektes oder die Erreichung eines Etappenziels sein. Der Wert eines Geschenks sollte den Wert
110
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
der Geschäftsbeziehung widerspiegeln, die der Schenkende ihr beimißt. Allzu teure Geschenke sollten vermieden werden, da sie leicht den Eindruck eines Bestechungsversuchs oder überzogener Großzügigkeit und Wohlgefalligkeit erwecken können. Auch kann es geschehen, daß der wahre Wert eines teuren Geschenks nicht gebührend geschätzt wird, weil er einfach nicht erkannt wird. Zudem besteht die Gefahr, daß durch deplazierte Geschenke bestehenden Klischeevorstellungen über die Mentalität und Kultur des Schenkenden Vorschub geleistet wird. So ist es aus psychologischer Sicht wenig sinnvoll (und aus kaufmännischer Sicht nicht immer vernünftig), wenn westeuropäische Unternehmen versuchen, durch teure Geschenke an ihre russischen Partner ein „günstiges Verhandlungsklima" zu schaffen und sozusagen „in Vorleistung" zu gehen. Bei weitem nicht immer wird die erwartete Gegenleistung dann auch wirklich erbracht. Hält die deutsche Seite sich auf Grund ihrer enttäuschten Erwartungen dann erst einmal von weiteren „Vorleistungen" dieser Art zurück, kann unter Umständen auch das Interesse der russischen Seite rasch erlöschen entweder ist sie vom deutschen Partner enttäuscht, weil sie das „Begrüßungsgeschenk" als das durchschaut, als was es gedacht war, nämlich als Bestechungsversuch, oder, und auch so etwas gibt es, weil sie zu dem Schluß gelangt, daß „die Kuh abgemolken ist" und mehr wohl nicht zu erwarten ist. In beiden Fällen sind die Voraussetzungen für den Aufbau solider Geschäftsbeziehungen alles andere als günstig.
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
Kapitel 2
111
Kulturelle Unterschiede und ihre Auswirkungen auf
die Geschäftsbeziehungen
Sprachbarrieren und Übersetzungsprobleme Es ist in jedem Falle hilfreich, wenn derjenige, der im Ausland tätig wird, die Landessprache beherrscht, auch wenn viele der ausländischen Partner eine zweite Sprache sprechen. Sprachbarrieren stellen die Hauptquelle für Kommunikationsprobleme dar. Sicher ist das Russische eine hinreichend komplizierte Sprache, ist es doch viel entfernter mit dem Deutschen verwandt als beispielsweise das Englische, Französische oder Spanische. Nichtsdestotrotz sollte jeder, der an langfristigen Geschäftsbeziehungen interessiert ist, bemüht sein, sich zumindest einige Höflichkeitsfloskeln und allgemeine Redewendungen anzueignen. Die Bereitschaft westlicher Geschäftsleute, die Sprache ihrer Partner zu verwenden, wird von russischer Seite hoch anerkannt, zeugt sie doch davon, daß der westliche Partner ein wirkliches Interesse daran hat, Kultur und Menschen des Landes, in dem er Geschäfte machen will, näher kennenzulernen und daß er bereit ist, dafür auch gewisse Anstrengungen auf sich zu nehmen. Unvermeidliche Fehler werden toleriert, es zählt allein der gute Wille. Die Kenntnis und Verwendung einiger russischer Standardwendungen (z.B. zur Begrüßung, Entschuldigung, Vorstellung, Einladung etc.) sind ein sehr zuverlässiges Mittel, um ein günstiges, von Offenheit und Aufgeschlossenheit geprägtes Verhandlungsklima herzustellen. Das Russische ist eine weitgehend direkte, verbindliche Sprache, die natürlich, wie jede Sprache, ihre eigene situative Kontextbezogenheit aufweist. Sogenannte „verhüllte Botschaften" haben einen weitaus geringeren Stellenwert als beispielsweise in einigen asiatischen Sprachen, was einem russischsprechenden Ausländer ihren adäquaten Gebrauch durchaus erleichtert. Im geschäftlichen Bereich ist es allerdings mitunter üblich, ein gewisses Maß an sprachlicher Unverbindlichkeit an den Tag zu legen, sei es, um den Partner nicht mit einer direkten Absage zu kränken, um die eigene Unsicherheit bezüglich einer anstehenden Entscheidung zu verbergen, oder um sich nicht eher als unbedingt nötig festzulegen. Sprachliche Indikatoren einer solch ausweichenden bzw. eher verneinenden als bejahenden Einstellung sind Wendungen, wie „co3bohhmch" (etwa: Wir rufen uns an.), ..aaBaÜTC. noj\Mae\i" (Lassen Sie uns nachdenken.), „nocMQTpHM, KaK nojiyHHTCfl" (Erst mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.),
112
Teil I: Interkulturelle
Aspekte
„nepe3B0HHTe MHe Ha cjieayiomeñ Heaejie" (Rufen Sie mich in der nächsten Woche noch einmal an.) - in der stillen Hoffnung, daß sich der Gesprächspartner nicht wieder melden möge - , „b npuHunne 3to bo3mo>kho, ho..." (Prinzipiell ist das möglich, aber...) u.a. Sollte nach Ankündigungen, wie ,.» BaM KaK-HHÖyat no3Bomo" (Ich werde Sie irgendwann anrufen.) oder „a Tor.ua BaM caM n03B0HK)" (Ich rufe Sie dann selbst an.) in absehbarer Frist keine weitere Reaktion des russischen Partners erfolgen, so kann man getrost davon ausgehen, daß diese auch nicht mehr zu erwarten ist und daß es sich um eine verhüllte Form der Absage handelt. Auch wenn ein Russe seinem Gesprächspartner auf eine Anfrage oder einen Vorschlag hin erklärt, daß das „kompliziert" sei (russ. 3to cjio>kho), ohne auf alternative Lösungen einzugehen, so bedeutet dies, daß diese Anfrage oder dieser Vorschlag eigentlich unrealistisch und/oder unannehmbar für ihn sind, während sich sein westlicher Gesprächspartner eventuell noch der Hoffnung hingibt, daß „kompliziert" ja nicht „unmöglich" heißt und man sicher eine gemeinsame Lösung finden werde. Als Ausländer genießt man hier gewisse Freiheiten. Kein Russe kann schließlich erwarten, daß ein Ausländer mit allen Bedeutungsnuancen und Feinheiten der russischen Sprache vertraut ist. Sollten
ein
Projekt
oder
ein
Vorschlag
außerordentlich
attraktiv
und
perspektivreich erscheinen, ist es durchaus akzeptabel, seinen russischen Verhandlungspartner durch Beharrlichkeit und mehrmaliges „Nachhaken" aus der Reserve zu locken, ihn zu einer eindeutigen Stellungnahme zu bewegen, oder ihn zumindest dazu zu bringen, diesen Vorschlag ernsthaft mit Ihnen zu diskutieren und Argumente auf den Tisch zu legen. Sicher wird dabei ein gehöriges Maß an Fingerspitzengefühl verlangt, handelt es sich doch oft um eine Gratwanderung
zwischen einem konkreten
Vertragsabschluß
(also
einem
kurzfristigen, dafür aber meßbaren Ergebnis) und dem generellen Bild, das man durch sein Auftreten von seinem Unternehmen vermittelt. Ohne Beharrlichkeit und ständiges Insistieren, wird es sicher außerordentlich schwierig sein, Erfolge auf dem russischen Markt zu erzielen. In den Augen vieler Russen ist die Beharrlichkeit, mit der ein Partner für eine Idee oder einen Vorschlag eintritt, mit der er bereit ist, bürokratische Hürden zu überwinden, auch ein Gradmesser für die Seriosität des Partners, für die Ernsthaftigkeit seiner Absichten. Außerdem gilt zu berücksichtigen, daß es sozusagen eine alte russische „Tradition" ist, einen Vorschlag erst einmal abzulehnen oder „auf Eis
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
113
zu legen" und abzuwarten, wie „sich die Dinge weiterentwickeln". Bei allem Engagement sollte man jedoch den Eindruck aggressiver Ungeduld unbedingt vermeiden. Sollte der Partner nämlich durch ein zu beharrliches Nachhaken Ihrerseits zu dem Eindruck kommen, Sie brauchten ein bestimmtes gemeinsam geplantes Projekt viel dringlicher als er oder für Sie hänge die Zukunft ihrer Firma von dem Auftrag ab, den Sie von ihm erteilt haben wollen - dann wird er dies zu seinem Vorteil auszunutzen wissen und von einer gleichberechtigten Partnerschaft wird für lange Zeit keine Rede mehr sein. Ist der russische Entscheidungsfindungsprozeß auch oft sehr langwierig und zäh, so empfiehlt es sich dennoch, Zurückhaltung zu üben und ultimative Zwänge wenn irgend möglich zu vermeiden. Auf Vorschläge, die von russischer Seite unterbreitet werden, sei es zur Gründung eines Joint-ventures, zur Abwicklung eines Export-Import-Geschäftes oder zur Realisierung irgendeines anderen Projektes, wird oft mit großer Ungeduld eine schnelle (nach Möglichkeit natürlich positive) Antwort erwartet. Dabei wird die Bitte nach zusätzlichen, detaillierteren Informationen bzw. der Verweis, daß bestimmte Entscheidungen sehr gründlich durchdacht und erst dem entsprechenden Entscheidungsgremium zur Vorlage gebracht werden müssen, auf Grund mangelhafter Kenntnis westlicher Geschäftspraktiken nicht selten als Ausweichmanöver oder als Versuch gewertet, den Partner unberechtigterweise „zappeln zu lassen" und sich somit eine günstigere Verhandlungsbasis zu schaffen. Was den Gebrauch einer für beide Seiten fremden Sprache (meistens des Englischen) als Geschäftssprache betrifft, so ist zu berücksichtigen, daß Mißverständnisse, die ihre Ursachen in sozio-kulturellen Besonderheiten haben, dadurch noch lange nicht vermieden werden können. Außerdem gilt es zu bedenken, daß das Führen einer Geschäftsverhandlung in einer Fremdsprache neben einer überdurchschnittlichen allgemeinen Sprachkompetenz vor allem auch
eine
sattelfeste
Beherrschung
fachsprachlicher
(also
juristischer,
kaufmännischer, technischer u.a.) Termini und Begriffe voraussetzt. Und obwohl Englisch als erste Fremdsprache in den letzten Jahren in Rußland einen wahren Boom
erlebt
und
Hochschulabsolventen
die
allgemeine
oft sehr gut
fachsprachlicher Termini
ist,
Sprachkompetenz
bei
ist eine korrekte
Beherrschung
und Begriffe gerade
jungen
im kaufmännischen und
finanzwirtschaftlichen Bereich eigentlich nur von denjenigen zu erwarten, die erst vor kurzem eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung an einer der
114
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
führenden Universitäten abgeschlossen haben oder die eine Zusatzausbildung im Ausland bzw. an einer der neu entstehenden Business-Schools durchlaufen haben. Sofern nicht beide Seiten einen gleich hohen Grad an (fach)sprachlicher Kompetenz in der Fremdsprache aufweisen, ist es sicher besser, wichtige Unterredungen und Verhandlungen mit Hilfe eines Dolmetschers zu führen. Das Problem der fachsprachlichen Kompetenz (insbesondere im kaufmännischen und finanzwirtschaftlichen Bereich) steht sicher auch, wenn man mit russischen Dolmetschern und Übersetzern arbeitet. Da die meisten von ihnen von ihrer Ausbildung her „reine" Philologen (mit oftmals exzellenten allgemeinsprachlichen Kenntnissen) sind, demzufolge jedoch nicht über juristische oder ökonomische Fachkenntnisse und über die erforderliche Sachkunde in den genannten Bereichen verfügen, kann man als nicht russischsprechender Ausländer schnell zu der Auffassung gelangen, mit der Wahl des Dolmetschers/Übersetzers einen guten Griff getan zu haben, während bestimmte fachsprachliche Nuancen (die mitunter jedoch einen gravierenden Bedeutungsunterschied ausmachen können) einfach „auf der Strecke bleiben". Da Dolmetscher und Übersetzer oft der Meinung sind, zu häufiges Rückfragen könnte sie in den Augen der ausländischen Gesprächspartner diskreditieren und inkompetent erscheinen lassen, wird aus Angst vor Gesichtsverlust mitunter „recht frei" mit Passagen und Begriffen umgegangen, die dem Dolmetscher/Übersetzer unverständlich sind. Aus Übersetzungsfehlern resultierende Mißverständnisse und Unstimmigkeiten werden dann nicht selten als mangelnde Kooperationsbereitschaft oder Begriffsstutzigkeit des russischen Partners interpretiert und diesem angelastet. Es soll hier jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, daß man es also besser vermeiden sollte, mit russischen Dolmetschern und Übersetzern zu arbeiten (um so mehr, als die Autorinnen von ihrer Ausbildung her selbst Philologen sind und oft
in
diesem
sehr
schwierigen
Metier
arbeiten).
Vielmehr
gilt
zu
berücksichtigen, daß die Herausbildung begrifflich adäquater fachsprachlicher Termini auf vielen Gebieten noch weitgehend in den Kinderschuhen steckt, da die durch sie bezeichneten Realien bis in die jüngste sowjetisch/russische Vergangenheit einfach nicht existierten. Andererseits kann es auch vorkommen, daß bestimmte heute üblicherweise verwendete russische Entsprechungen (beispielsweise
„TexHHK0-3K0H0MmecK0e
0Ö0CH0BaHHe
(npoeicra)"
für:
„Machbarkeitsstudie (eines Projektes)") zwar auch in der Vergangenheit existierten, dort jedoch mit einem anderen begrifflichen Inhalt belegt waren, so
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede daß
die
unkritische
Verwendung
dieses
Terminus
heute
115
unerwünschte
Assoziationen (und damit ein nicht adäquates Verständnis) beim russischen Gesprächspartner hervorrufen kann. Um Verhandlungsziele nicht zu gefährden, ist es unbedingt erforderlich, offizielle schriftliche Unterlagen, die für den russischen Geschäftspartner bestimmt sind, sehr genau und sorgfältig zu übersetzen. Wenn beispielsweise aus Zeitgründen
mehrere
Vetragsentwurfes,
Übersetzer
eines
Berichtes
parallel oder
an
die
einer
Übersetzung
Präsentation
gehen,
eines die
Übersetzung sozusagen über Nacht im Akkord zu erstellen ist, und keine Möglichkeit besteht, die sprachlichen Äquivalente für bestimmte Termini und Eigennamen (z.B. der korrekten Wiedergabe eines Firmennamens) vorher abzustimmen,
ist
bei
der
anschließenden
mündlichen
Präsentation
und
Diskussion dieser Unterlagen das „kollektive Aneinander-Vorbeireden" geradezu vorprogrammiert.
Der
Dolmetscher/Übersetzer
sollte
im
Vorfeld
einer
Verhandlung oder Präsentation in wichtige inhaltliche Aspekte sowie in bestimmte
taktische und
strategische Überlegungen
seines
Auftraggebers
eingeweiht werden, um übersetzungsbedingten Mißverständnissen vorzubeugen und bestimmte Nuancen besser berücksichtigen zu können.
Das Phänomen des Kulturschocks Wenn man in ein fremdes Land kommt, ist nicht nur die Sprache anders. Eigentlich ist alles anders. Bekanntes trifft man nur gelegentlich. Überschreitet man die deutschen Grenzen, wird man mit einer anderen Weltordnung, einem anderen Weltbild konfrontiert. Schnell entsteht die Gefahr, die Orientierung zu verlieren. Auf diese Unterschiede in Sprache und Weltbild kann man auf verschiedene Weise reagieren. Man kann sich einerseits anpassen, seine eigene Sichtweise relativieren bzw. erweitern, was als sine qua non die Bereitschaft voraussetzt, sich von dem, was man als Kind gelernt hat, zu distanzieren. In seltenen Fällen kann dieser Weg sogar zur Aufgabe eigener Sichtweisen führen. Viel häufiger jedoch fallt die Reaktion völlig anders aus. So ist beobachtet worden, daß es bei Konfrontation mit einer völlig fremden Kultur ohne ausreichende
interkulturelle
Konditionierung
auf
Grund
von
ständigen
116
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Fehlinterpretationen zu sehr negativen Emotionen kommen kann, zum sogenannten Kulturschock. Ein Kulturschock ist weniger „ein psychologisches Phänomen, (als) vielmehr Folge des Mangels an erlernten Kompetenzen, die zum erfolgreichen Umgang mit einer neuen und fremden Umgebung nötig sind"56. Die Situation des Nichtverstehens, des Nichtgeltens internalisierter Verhaltensmuster, der Desorientierung kann zu Verhaltensunsicherheit, Angst, schließlich Ablehnung und Aggression und eventuell Rückzug und Isolation fuhren 57 : „Es gibt genug Beispiele, da kehrt ein Auslandsmitarbeiter als veritabler Rassist heim!"58 In Frankreich wurde folgendes Experiment durchgeführt: Auf dem Weg von Frankreich nach Großbritannien sind französische Schulklassen befragt worden, welche Vorstellungen sie von Großbritannien hätten und was sie vom Besuch eines fremden Landes erwarteten. Es zeigte sich, daß bei den Schülern, die auf den Kontakt mit einer fremden Kultur vorbereitet waren, nicht so viele Vorurteile über die Engländer herrschten, wie bei weniger und überhaupt nicht vorbereiteten. Nach ihrem Besuch in Großbritannien, auf dem Rückweg nach Frankreich, wurden dieselben Gruppen nach ihren Eindrücken befragt. Diejenigen, die auf einen Fremdkontakt vorbereitet waren, konnten viele ihrer Vorurteile abbauen bzw. brachten Verständnis für nationale Unterschiede auf. Die unvorbereiteten Schülergruppen waren meist enttäuscht, sie sahen ihre Vorurteile bestätigt und konnten eine Menge negativer Eigenschaften der Engländer aufzählen. Die Ergebnisse der Untersuchung machen deutlich, daß man vor dem Besuch eines fremden Landes möglichst umfassend auf kulturelle Unterschiede vorbereitet sein sollte. Studenten, die bisher nur den Westen kannten und sich nach Rußland aufmachten, um „mal eben ein Semester unter Russen zu sein",, erlebten zuerst einen Schock über das Ausmaß des Fremden, das sie umgab. Manch einer konnte sich bis zum Schluß nicht mit den Gegebenheiten abfinden und warf das Handtuch. Je besser man also auf Fremdes eingestellt ist, desto positiver wird der Kontakt mit fremden Menschen und fremden Sitten erlebt. Bedingung ist aber immer die Bereitschaft zur Akzeptanz andersartiger Kulturen. Auch Geschäftsleute werden bei Reisen ins Ausland mit dem Phänomen des Kulturschocks konfrontiert. Auslöser sind in der Regel kulturelle Unterschiede, auf die der Fremde mehr oder weniger vorbereitet trifft. Für Geschäftsleute ist der erlebte Schock um so nachhaltiger, je größer die Unterschiede, insbesondere
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
117
in der Dienstleistungssphäre, sind. Die Anpassung an fremde Gegebenheiten kann
in
Ländern
mit
einer
völlig
anderen
Kultur
unter
Umständen
unproblematischer verlaufen als in Rußland, da nicht wenige dieser Länder über ein historisch gewachsenes Netz von Dienstleistungen verfügen, die - zumindest im geschäftlichen Bereich - dem europäischen Standard nicht nachstehen. Hauptursachen für persönliches Unbehagen und mögliche Aversionen bei Rußlandreisen können die bislang individuelle
Verpflegung,
ungenügenden Möglichkeiten
die
mangelhafte
für die
Einhaltung
von
Hygienebestimmungen, die begrenzte individuelle Mobilität sowie alltägliche Umgangsformen, die Westeuropäer nicht unbedingt als freundlich empfinden, sein.
Sozio-kulturelle Barrieren im Geschäftsleben - Wenn zwei dasselbe sagen, müssen sie noch lange nicht dasselbe meinen! „Sprachliche Mißverständnisse", die auf den ersten Blick der „schlechten Arbeit" eines Dolmetschers/Übersetzers oder der mangelnden Konstruktivität
und
Kooperationsbereitschaft des ausländischen Geschäftspartners anzulasten sind, haben
ihre
eigentlichen
Wurzeln
nur
zu
oft
in
unterschiedlichen
Verständnishorizonten (geistigen Barrieren) zwischen den Kulturen. Das heißt, daß man sprachlich absolut dasselbe sagen kann - und doch in verschiedenen Kulturen etwas völlig anderes meint. Was im Westen unter dem Begriff „allgemeine Unternehmensdaten" verstanden wird, fallt in Rußland - falls vorhanden - nicht selten unter die Kategorie der streng vertraulichen Betriebsinterna. So wird zum Beispiel der Wunsch eines potentiellen
Geschäftspartners,
vor
Abschluß
eines
Investitions-
oder
Kooperationsabkommens so viel wie möglich über seinen zukünftigen Partner zu erfahren
und
auch
Einblicke
in
bestimmte
Unternehmensdaten,
wie
Umsatzentwicklung, Mitarbeiterzahl, Jahresabschlüsse u.a. zu bekommen, in Westeuropa
üblicherweise
als „normal"
empfunden, dient er doch
der
Risikoabschätzung. Die Erfüllung dieses Wunsches kostet den Geschäftsführer einer Gesellschaft gewöhnlich nicht viel mehr als ein paar Minuten Arbeit am Computer, um die gewünschten Daten auszudrucken und dem Interessenten in handhabbarer Form zur Verfügung zu stellen. In Rußland nimmt derselbe Vorgang nicht selten Tage, ja Wochen in Anspruch (ganz zu schweigen von den Fällen, in denen ein solches Anliegen überhaupt im Sande verläuft oder offen
118
Teil 1: interkulturelle
Aspekte
abschlägig beschieden wird). Die Gründe dafür sind sowohl in objektiven Ursachen (z.B. der Tatsache, daß die gewünschten Angaben einfach nicht vorhanden sind, oder daß ein Unternehmen mit über 10.000 Mitarbeitern einen einzigen Rechner besitzt, der, wollte man die gewünschten Informationen ausdrucken, einige Tage beschäftigt wäre und somit den ganzen Betrieb lahmlegen würde) als auch im sozio-kulturellen Bereich zu suchen. Das, was aus russischer Sicht nichts anderes als ein gerechtfertigtes Sicherheitsbedürfnis (aus Angst vor der unkontrollierten Preisgabe sensibler Informationen) ist, wird von einem potentiellen ausländischen Geschäftspartner unter Umständen als dreister Versuch gewertet, ihn „über den Tisch ziehen" zu wollen und ihm „die Katze im Sack zu anzudrehen". Zudem vertritt man in Rußland nicht selten die Meinung, daß Zahlen sowieso „relativ" und „zurechtbiegbar" seien, so daß man sich bei einer geschäftlichen Entscheidung doch lieber auf seinen gesunden Menschenverstand und auf den persönlichen Eindruck, den man von seinem Partner gewonnen hat, verlassen sollte. Darüber hinaus können die in einem Land gängigen Geschäftspraktiken ebenfalls Mißtrauen erzeugen. So ist beispielsweise die Einstellung zu Abmachungen und Verträgen unterschiedlich. In einigen Kulturen ist der Geist eines Abkommens entscheidend, in anderen werden Abkommen und Verträge buchstabengetreu behandelt. Das kann zu Mißverständnissen und Beziehungskrisen führen. Ein westlicher Geschäftsmann ist möglicherweise gekränkt, wenn sein russischer Partner eine erneute Verhandlung über die Bedingungen eines Vertrages verweigert, obwohl sich bestimmte Umstände geändert haben. Auch die russische Seite kann empört sein, weil sie denkt, daß die andere Seite über die Hintertür der Nachverhandlung günstigere Konditionen für sich durchsetzen will: „Das russische Geschäftsleben ist berühmt für seine Unverbindlichkeit. Verträge werden nicht eingehalten, Lieferungen platzen, Geld wird nicht ordnungsgemäß ausgezahlt. Und trotzdem - Tausende kooperieren schon seit Jahrzehnten erfolgreich miteinander, manchmal, ohne diese Zusammenarbeit vertraglich geregelt zu haben"59. Eine mögliche und zugleich weit verbreitete Ursache für Mißverständnisse und „Fettnäpfchen" Verhaltensnormen
besteht ihres
darin, Gastlandes
daß nur
westliche
Geschäftsleute
unzureichend
kennen
und
die sie
demzufolge unbewußt verletzen: „So kann es sein, daß sie, sei es aus momentaner Unbedachtheit, sei es aus Unkenntnis der Verhältnisse - Worte an ihren Verhandlungspartner richten, derer sie sich besser enthalten hätten"60. An
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
119
die Möglichkeit einer absichtlichen Provokation soll dabei gar nicht gedacht sein. Wenn ein deutscher Geschäftsmann sagt, er unternimmt einen Business-Trip von Berlin nach Paris, und sein russischer Kollege sagt, daß er eine Geschäftsreise von Moskau nach München vorhat, so besteht der Unterschied zwischen beiden Aussagen nicht nur in der Entfernung zwischen den jeweiligen Städten. Während der deutsche Geschäftsmann sein am Frühstückstisch beschlossenes Vorhaben wenn nötig innerhalb weniger Stunden in die Tat umsetzen und seinen französischen Partner spätestens am Nachmittag in Paris treffen kann, liegt bei seinem
russischen
Kollegen
zwischen
Vorhaben
und
Realisierung
im
ungünstigsten Fall eine Zeitspanne von einigen Wochen. Der Wunsch, nach München zu reisen, setzt zunächst das Vorhandensein eines gültigen Reisepasses voraus (russische Reisepässe werden mit schöner Regelmäßigkeit ausgetauscht und die Beantragung eines Passes zieht sich nicht selten bis zu zwei Monate hin). Anschließend muß sich der Geschäftsmann eine Einladung von deutscher Seite besorgen, um ein Geschäftsvisum für Deutschland beantragen zu können. Hat er alle damit verbundenen bürokratischen Hürden erfolgreich überwunden, und hält er dieses Visum schließlich in den Händen, kann er sich um ein Flugticket kümmern. Wie man sieht, ist eine Geschäftsreise ins Ausland in Rußland ohne eine „langfristige" , gründliche Planung schlichtweg unmöglich (vgl. russ. Sprichwort „e^ernt Ha aem. - xjieöa 6epn Ha Heaemo", „Auch wenn du nur für einen Tag wegfährst, nimm Brot für eine Woche mit").
Akzeptanz von Ausländern Allgemein lassen sich zwei Gruppen westlicher Geschäftspartner unterscheiden: diejenigen, die neu auf dem russischen Markt sind und bisher keinerlei Erfahrung mit Rußland und seiner Kultur sammeln konnten, und jene, die schon längere Zeit in Rußland tätig sind und auch früher mit der Sowjetunion Geschäfte abwickelten. Neben der meistens vorhandenen Sprachkenntnis ist die Mehrzahl dieser Geschäftsleute mit der russischen Kultur, Geschichte und Mentalität
vertraut;
oft
bestehen
auch
private
Freundschaften
oder
Bekanntschaften. In der ersten Gruppe sind wiederum jene zu unterscheiden, die sich selbst als „Osteuropaexperten" betrachten und trotz Fehlens jeglicher
Sprach- und
1 20
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Landeskenntnis davon ausgehen, daß kulturelle Besonderheiten und Geschäftsgebaren in den einzelnen osteuropäischen Ländern so unterschiedlich schon nicht sein werden, und daß allein die Tatsache, daß man weiß (oder zu wissen vorgibt), wie in Westeuropa erfolgreich Geschäfte abzuwickeln sind, über kurz oder lang auch der Schlüssel zum Erfolg auf dem russischen Markt sei. Diese von maßloser Ignoranz und Arroganz geprägte Einstellung wird nicht selten von der Auffassung begleitet, den Russen erst mal zeigen zu müssen, was in „zivilisierten" Ländern üblich ist und wie dort an ein Projekt oder einen Geschäftsabschluß herangegangen wird. Es versteht sich von selbst, daß ein solches Verhandlungsgebaren eine gleichberechtigte Partnerschaft und eine langfristige Zusammenarbeit ausschließt. Einer der leitenden Manager des Raumfahrtkonzerns Deutsche Aerospace AG (DASA), B. Koerber, bemerkt auf die Frage, warum viele westliche Unternehmen in Rußland scheitern, daß die Unternehmen ihren Mißerfolg oft selbst provozieren: „Westliche Manager treten hier teilweise mit einer Arroganz auf, die erschreckend ist. Mit der Attitüde, alles besser zu wissen und zu können, wird man sicherlich nicht auf die Goldadern stoßen"61. Außerdem gehören zur ersten Gruppe jene, die offen eingestehen, daß Rußland für sie noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt ist und daß sie bislang wenig über Land und Leute wissen. Im Gegensatz zu ihren zuvor beschriebenen Kollegen sind sie jedoch aufgeschlossen und vorurteilsfrei gegenüber der fremden Kultur und neuen potentiellen Geschäftspartnern. Auch wenn der feste Vorsatz, sozio-kulturelle und mentalitätsbedingte Unterschiede zu tolerieren und das eigentliche Ziel einer angestrebten Geschäftsbeziehung nicht aus den Augen zu verlieren, vor Ort nicht selten auf eine harte Probe gestellt wird, so ist doch eine nüchterne, sachliche und möglichst emotionslose Einstellung zu allen Widerständen und Hürden im Alltags- und Geschäftsleben die beste Basis für eine tragfähige Geschäftsbeziehung. Voraussetzung für die Akzeptanz Fremder sind Professionalität, Zuverlässigkeit und Vertrauen. Generell werden Offenheit, Höflichkeit, Bescheidenheit und gutes Benehmen sehr geschätzt, während Arroganz und Angeberei verpönt sind. Grundlage für Geschäftsbeziehungen ist eine gegenseitige Abhängigkeit und ein Gefühl für gegenseitige Verpflichtungen, die es einzulösen gilt. Akzeptiert wird man letztlich erst dann, wenn man die Ernsthaftigkeit seiner Absichten, seine Ausdauer und sein Durchsetzungsvermögen unter Beweis gestellt hat. Es ist wichtig, zu seinen Verpflichtungen zu stehen, egal wie unbedeutend sie einem
Kapitel 2: Kulturelle
Unterschiede
121
erscheinen, und damit den Eindruck eines unzuverlässigen Geschäftspartners zu vermeiden. Ernsthaft hüten sollte man sich auch vor einem „protzigen, allzu sehr von den eigenen Besitztümern eingenommenen Auftreten, (vor einem) offenen Mokieren über die im Gastland herrschenden Zustände. Verhaltensweisen und Statements, die den Rückschluß erlauben, daß die betreffende Person ihrem Verhandlungspartner oder der von ihm vertretenen Sache, aus welchen Gründen auch immer, mit Geringschätzung begegnet, sind eine ... schwere Fehlleistung und absolut zu unterlassen"62. Auch wenn dem Geist von Vereinbarungen und mündlichen Abmachungen oft nicht so viel Bedeutung beigemessen wird wie den Buchstaben eines schriftlich fixierten Vertrages, heißt das noch nicht, daß Verträge nicht oft ungenau und unvollständig formuliert wären. Zumeist bedarf es erheblicher kraft- und zeitraubender gemeinsamer Anstrengungen, um eine Vereinbarung entstehen zu lassen, die letztlich von beiden Seiten voll getragen wird. Auslandsinvestitionen spielen für die Wirtschaft eine lebenswichtige Rolle, da sie nicht nur Geld und Technologie, sondern vor allem auch Know-how im Managementbereich transferieren, das besonders dringend benötigt Ausländer
sind
deshalb
als
Quelle
neuer
Ideen
und
wird.
Fachkenntnisse,
internationaler Kontakte und Einflüsse in der Regel willkommen; man steht ihnen jedoch nicht kritiklos gegenüber, was ein russisches Sprichwort treffend beschreibt: „(Importierte) Stiefeletten sind zwar schön, aber nicht für unsere Füße gemacht." (Xopomn nojiycano>KKN, fla HE
HA
Hanra
HOJKKH).
Auch wenn die Mehrheit der Russen entgegenkommend und offen gegenüber Ausländern ist, schwindet dieses Entgegenkommen sofort, wenn sie spüren, daß sie von ihnen in Kolonisatorenmanier von oben herab behandelt werden. Sie wollen eine gleichberechtigte Partnerschaft und keine auf Wohltätigkeitsdenken basierende Beziehung zwischen Leistungsgeber und Leistungsempfänger. Jedes Anzeichen, daß ein ausländischer Partner versucht, eine Beziehung zu seinem alleinigen
Vorteil
auszunutzen
oder
zu
beherrschen,
fugt
einer
Geschäftsbeziehung schweren, oft nur mühsam wiedergutzumachenden Schaden zu. Die außerordentlich angespannte wirtschaftliche und soziale Lage, in die Rußland nach dem Zusammenbruch der Zentralverwaltungswirtschaft und dem Untergang der Sowjetunion geraten ist, der Verlust der ehemaligen Rolle als
122
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Großmacht, der schier unaufhaltsame Niedergang in fast allen Bereichen, Chaos und Gesetzlosigkeit im Alltagsleben - all das hat dazu gefuhrt, daß das ehemals starke nationale Selbstwertgefühl empfindlich erschüttert wurde und daß eine besondere Sensibilität in bezug auf ein von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägtes Miteinander besteht. Nicht selten trifft man deshalb auch auf Menschen (vorzugsweise auf Führungskräfte ehemaliger Staatsbetriebe, leitende Angestellte des öffentlichen Dienstes und Wissenschaftler- vgl. Tabelle 2 „Typen russischer Verhandlungsführer"), die potentiellen ausländischen Partnern mit einer gewissen Distanz begegnen. Diese Distanz kann in einigen Fällen bis zu offener Ablehnung und fehlender Bereitschaft, ein Verhandlungsangebot auch nur zu prüfen, gehen. Da man sich seine Verhandlungspartner meist nicht aussuchen kann, ist hier das besondere Geschick und Einfühlungsvermögen des westlichen Verhandlungspartners gefordert, um solche psychologischen und soziokulturellen Barrieren abzubauen und eine offene, konstruktive Verhandlungsbasis zu schaffen. In jedem Falle ist es jedoch unklug, sich in die Politik einzumischen, auch wenn Gruppen oder Einzelpersonen versuchen, ausländische Partner auf ihre Seite zu ziehen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Ob und wie schnell Ausländer akzeptiert werden, hängt letztlich von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, so z.B. von den Erwartungen, die beide Seiten in eine Beziehung setzen, und von den konkreten Einzelumständen, unter denen die Beziehung angebahnt wurde. Eine gewisse Rolle dürfte aus unserer Erfahrung hierbei auch spielen, in welchem Bereich eine Zusammenarbeit angestrebt wird. Eine geplante Produktionskooperation, die Errichtung eines Industrieobjektes, der Export/Import von Maschinen und Anlagen - also alles, was in einem fest umrissenen Zeitraum ein „konkretes", meßbares Resultat hervorzubringen verspricht,
wird oft schneller von
der russischen
Seite akzeptiert
als
beispielsweise Angebote im Bildungs- und Beratungsbereich, deren Ergebnisse oft nur schwer meßbar sind. Hinzu kommt, daß sich die Erkenntnis, daß Bildung und Beratung eine Ware wie andere auch sind, die ihren Preis hat und für die man folglich bezahlen muß, erst schrittweise durchzusetzen beginnt. Der Generaldirektor eines großen Unternehmens, der vor der Entscheidung steht, mit einem ausländischen Partner ein gemeinsames Projekt zur Finanzierung zu beantragen, bei dem am Ende ein paar Computer für sein Unternehmen
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
123
„rausspringen" werden, oder aber ein Projekt, daß ausschließlich auf die Vermittlung von Know-how (ohne Sachhilfe) abzielt, wird sich selbstverständlich, wenn nur irgend möglich, für die erste Variante entscheiden. Die Computer bleiben im Unternehmen, während die ausländischen Berater und Trainer nach getaner Arbeit abziehen - wobei das Ergebnis ihrer Tätigkeit zumindest im Vorfeld des Projektes ziemlich ungewiß ist.
Die Wahl eines Geschäftspartners in Rußland Während man sich bei der Suche nach potentiellen Kooperations- und Geschäftspartnern in anderen Teilen der Welt auf eine Vielzahl verschiedener Informationsquellen und Wege stützen kann, sind diese Möglichkeiten was Rußland betrifft, bislang nur ungenügend entwickelt. Zwar gibt es mittlerweile nach Branchen, Regionen, Rechtsformen usw. strukturierte Datenbanken und Nachschlagewerke (so verfugen Moskau und St. Petersburg über ein Branchenbuch, vergleichbar mit unseren Gelben Seiten), es gibt Industrie- und Handelskammern in allen großen Städten des Landes. Darüber hinaus existiert eine ganze Reihe einschlägiger Periodika und Wirtschaftszeitungen, wie z.B. die „Finanzzeitung" („OnHaHCOBaa ra3era"), der „Kommersant" („KoMMepcam-b"), „Geschäftsleute" („/Ic.iOBbie jnoan"), die „Wirtschaftszeitung" („3K0H0MKHecKaji ra3era") u.a., in denen russische und ausländische Unternehmen ihre Werbung plazieren. Erstens ist jedoch der Zugriff auf diese Informationsquellen von Westeuropa aus nicht immer schnell und kundenfreundlich möglich, zweitens sind die in englischer oder deutscher Sprache vorhandenen Informationen über die Wirtschaft oder über einzelne Unternehmen oft schon nicht mehr auf dem aktuellsten Stand wenn sie endlich in übersetzter Fassung vorliegen und drittens, und das dürfte wohl das schwerwiegendste Handicap sein, sind die Möglichkeiten, eine einmal erhaltene Information durch einen Vergleich mit anderen Informationsquellen (z.B. offizielle Statistiken, Referenzlisten von Unternehmen, publizierte Jahresberichte u.a.) auf ihre Aktualität und ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen, oft mehr als beschränkt. Die
solideste
Grundlage
für die
Wahl
eines
strategischen
russischen
Geschäftspartners dürfte zweifellos der direkte Kontakt vom frühestmöglichen Zeitpunkt
an
sein,
z.B.
Unternehmenspräsentationen
im u.a..
Rahmen Für
von
deutsche
Messen, Leser
ist
öffentlichen in
diesem
Zusammenhang sicherlich ein Ratschlag interessant, den Dozenten der in
1 24
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Moskau ansässigen Russisch-Amerikanischen Universität Westeuropäern, die potentielle russische Geschäftspartner suchen, mit auf den Weg geben: „Häufig sind Menschen aus dem Westen bestrebt, Kontakte mit jenen Russen zu knüpfen, mit denen sich am schnellsten ein gegenseitiges Verständnis erreichen läßt, d.h. mit denjenigen, die ihnen selbst ähnlich sind. Allerdings eignen sich für (west)europäische und amerikanische Geschäftsleute weniger diejenigen ihrer russischen Kollegen als Geschäftspartner, die am sachkundigsten und erfolgreichsten im Geschäft sind, sondern jene, die auch früher schon regelmäßige Kontakte mit Ausländern unterhielten. Wenn es dabei um Leute jüngeren Alters gehen soll, so handelt es sich in erster Linie um Diplomatenund Funktionärskinder, die mit ihren Eltern im Ausland gelebt und westliche Bildungseinrichtungen besucht haben"63.
Das „Eigene" und das „Fremde" im russischen Business Unter den neuen Bedingungen sind auch russische Firmen gezwungen, sich selbst um ihre Überlebensmöglichkeiten zu kümmern. Eine weit verbreitete Praxis ist hierbei, nahe Verwandte bzw. gute Bekannte als Mitarbeiter zu wählen. Man geht von der allzeit gültigen Prämisse aus, daß die Menschen um nichts mehr besorgt sind, als um den Schutz, die Mehrung und das Aufblühen des „Eigenen". Der Schutz des „Eigenen" und der „Seinen" war bereits in der Urgesellschaft die Voraussetzung für das individuelle Überleben. Doch es gab auch das „Fremde", was anfanglich mit dem Bösen (dem Feind) gleichgesetzt wurde. Nach und nach machte man jedoch die Erfahrung, daß der Umgang mit dem Fremden sogar vorteilhaft sein konnte. Hatte man Streit, konnte man jederzeit auseinandergehen, während es vor den „Eigenen" kein Entrinnen gab. Aus dem „Feind" (lat. „hostis") wird allmählich der „Gast" (russ. rocrb), für dessen Bewirtung die Russen, wie schon erwähnt, das letzte Stück Brot zu geben bereit sind. Auf diese Weise soll letztlich auch das „Eigene" wirksam geschützt werden. Wenn ein potentieller Geschäftspartner übermäßig bewirtet wird, könnte es jedoch auch sein, daß man von ihm mehr möchte, als man selbst zu geben bereit ist.
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
125
Die kulturgebundene Anpassung von Produkten für den russischen Markt Sozio-kulturelle Unterschiede zwischen Geschäftspartnern beeinflussen nicht nur in direkter Weise die geschäftliche Kommunikation, sie wirken sich auch auf den Inhalt und die Form eines beabsichtigten Geschäftes aus. Produkte und Leistungen müssen dem jeweiligen ausländischen Markt angepaßt werden - eine Feststellung die manchem sicher trivial erscheinen mag. Wenn eine ausländische Firma ihre Produkte auf dem russischen Markt langfristig erfolgreich verkaufen will, so muß sie diese auf die spezifischen Bedürfnisse des russischen Verbrauchers ausrichten, die nicht nur durch den reinen Verbrauchernutzen definiert werden, sondern auch von bestimmten kulturellen Wertvorstellungen und Erwartungen mitgeprägt sind. So ist ein deutsches Mittelstandsunternehmen, das bereits seit Jahren Maschinen und Anlagen nach Rußland liefert, auf Bitte seiner russischen Kunden dazu übergangen, die früher in Russisch verfaßten Kennmarken mit den technischen Parametern und dem Namen des Herstellers, die an den Maschinen angebracht werden, in lateinischen Buchstaben zu fertigen. Für den russischen Partner ist es eine Frage des Images, wenn jedermann, der sein Unternehmen besucht, sofort sieht, daß der Betrieb mit moderner Importtechnik arbeitet. Üblich ist auch, daß russische Führungskräfte, die zur Qualifikation nach Deutschland kommen, darum bitten, das Zertifikat, das ihnen die erfolgreiche Teilnahme an der Bildungsmaßnahme bescheinigt, außer in Russisch auch in Englisch ausgestellt zu bekommen, ausgehend von der Annahme, daß in Rußland mehr Leute Englisch als Deutsch beherrschen und man so einen stärkeren Eindruck auf seine Landsleute hinterlassen kann als wenn man lediglich ein in Russisch bzw. Russisch und Deutsch abgefaßtes Zertifikat vorzuweisen hat. Eine Anpassung an die spezifischen Gegebenheiten des russischen Marktes betrifft unter Umständen aber nicht nur das Produkt selbst. Sie kann auch für bestimmte Vertragsmodalitäten erforderlich sein. Ein besonders sensibler Punkt in Verhandlungen mit russischen Geschäftspartnern sind gewöhnlich die Zahlungsbedingungen. Und zwar beiderseits. Da bei sehr vielen russischen Unternehmen
chronischer
Kapitalmangel
herrscht,
ergibt
sich für
den
ausländischen Partner die Notwendigkeit, diesem Umstand Rechnung zu tragen und solche Zahlungsmodalitäten zu vereinbaren, die sowohl seinem eigenen
126
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Bedürfnis nach Kalkulierbarkeit des Risikos als auch den realen Möglichkeiten seines rassischen Partners gerecht werden. Der Phantasie der Partner sind hierbei keine Grenzen gesetzt: eine Finanzierung ohne Anzahlung und/oder über einen langfristigen zinslosen Kredit, der unter Umständen durch eine Bankbürgschaft zu sichern ist, kommt als Variante ebenso in Frage wie die Vereinbarung eines Bartergeschäfts. Wenn auch die eingangs erwähnte Ketschup-Lieferung als von russischer Seite vorgeschlagene Vergütung für eine kommerzielle Qualifizierungsmaßnahme, die man von einem deutschen Bildungsträger erhalten wollte, durchaus etwas ungewöhnlich sein dürfte, so verdient sie doch zumindest eine Prüfung. Für die russische Seite besteht ein Problem bei der Aushandlung der Zahlungsmodalitäten (neben dem Kapitalmangel) zumeist darin, daß sie entsprechend der geltenden Gesetzgebung der Russischen Föderation verpflichtet ist, von ihrem Partner 100% Vorauskasse zu verlangen, was bei westlichen Partnern verständlicherweise nicht eben auf Entgegenkommen stößt.
Die menschliche Komponente im Geschäftsverkehr Generell spielt die menschliche Komponente im Geschäftsverkehr eine weitaus größere Rolle als in den meisten westeuropäischen Ländern. Rußland gleicht in dieser Beziehung stärker den asiatischen Kulturen. Der persönliche Eindruck, den man von einem Geschäftspartner hat, ist immens wichtig. Auch werden Emotionen und Gefühle stärker in eine Geschäftsbeziehung eingebracht, als dies üblicherweise in Westeuropa der Fall ist. Das kann sich förderlich, aber auch hemmend auf eine Geschäftsbeziehung auswirken. Hat man erst einmal „einen Draht" zu seinem Partner gefunden und beruht die Beziehung auf einer echten Vertrauensbasis, so kann der direkte, oft auch etwas emotional gefärbte Ton den Umgang miteinander erleichtern. Hemmend wirkt sich Emotionalität dann aus, wenn durch sie die sachliche und nüchterne Erörterung bestimmter Fragen unmöglich wird. Ist eine Beziehung, aus welchen Gründen auch immer, jedoch einmal gestört, ist es oft sehr schwierig, wieder auf eine rein geschäftsmäßige, emotionsfreie Basis zurückzufinden. Geschäftsbeziehungen sind in einem geringeren Maße versachlicht als in den meisten westeuropäischen Kulturen. Der direkte persönliche Kontakt - und zwar bereits ganz am Anfang einer möglichen zukünftigen Geschäftsbeziehung - wird einer weitaus anonymeren Kontaktanbahnung per Telefon, Fax oder Post
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
127
vorgezogen und dies nicht nur wegen des mitunter sehr zu wünschen übrig lassenden
Kommunikationsnetzes
oder
nur
begrenzt
existierender
Telefonbücher. Nicht zuletzt deshalb ist es manchmal wohl so schwierig, telefonisch einen Kontakt zu einer noch unbekannten Einrichtung oder einem Unternehmen
herzustellen.
Oft sind nicht
nur viel Zeit und wahrhaft
detektivisches Gespür erforderlich, um überhaupt erst einmal Telefon- bzw. Faxnummer und den Namen eines kompetenten Ansprechpartners zu ermitteln. Hat man diesen dann endlich an der Leitung, wird man nicht selten mit der in westlichen Ohren nicht gerade ermutigenden Frage konfrontiert, wo man denn die Telefonnummer her habe, wer man eigentlich sei, wozu man dieses oder jenes wissen möchte usw. Alles weitere hängt dann vom kommunikativen und psychologischen Geschick des Anrufers und wohl auch von der „Tagesform" des Angerufenen ab. Aus dem
Gesagten
wird
bereits
deutlich,
daß
offizielle Einführungen,
Empfehlungen und die direkte Fürsprache (russ. xojaTaücTBO) eines anderen russischen Partners eine sehr große Bedeutung haben. Wenn ein russischer Partner Ihnen die Türen zu allen möglichen Behörden, Institutionen und Unternehmen öffnet, sollte dies auf keinen Fall gering geschätzt werden, da er damit seine eigene Autorität und sein Ansehen in die Waagschale wirft und Ihnen beweist, daß er Ihnen Vertrauen entgegenbringt. Sollte sich dieses Vertrauen später aus irgendeinem Grunde als nicht gerechtfertigt erweisen (oder auf der anderen Seite zumindest dieser Eindruck entstehen), so ist ein möglicher persönlicher Gesichtsverlust oft mehr gefürchtet als die Gefahr eines eventuellen Imageschadens für das Unternehmen/die Organisation, das/die seinerzeit die Fürsprache vorgenommen haben. Für ausländische Geschäftsleute, die Kontakte zu russischen Partnern herstellen wollen, bedeutet dies, daß sie viel Zeit einplanen müssen, um die nötigen Beziehungen zu knüpfen und sich an den für sie passendsten
Partner
„heranzutasten". Es lohnt sich, möglichst viele Informationen über die den Kontakt vermittelnde Person und die Organisation, die sie vertritt, einzuholen, auch wenn dies nicht immer sehr einfach sein dürfte. Das Ansehen der Person oder Organisation, die Ihnen einen Kontakt vermittelt oder sich anderweitig für Sie einsetzt, überträgt sich automatisch auch auf Sie. Um Zeitvergeudung zu vermeiden, ist es wichtig, sich möglichst frühzeitig davon
zu
überzeugen,
daß
die
Person/Organisation,
die
Ihnen
ein
1 28
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Vermittlungsangebot unterbreitet, letztlich auch in der Lage und willens ist, dies zu tun, Ist eine erfolgversprechende Beziehung erst einmal geknüpft, tut man gut daran, ihr eine gewisse Stabilität zu verleihen, wozu auch gehört, einen nicht unbedingt
erforderlichen
Austausch
von
Mitgliedern
des
eigenen
Verhandlungsteams zu vermeiden. Gute persönliche Beziehungen sind einfach zu wertvoll, um sie so ohne weiteres wieder aufzugeben. Das wirkt sich auch auf andere Seiten des Geschäftslebens, z.B. auf die Verhandlungsfiihrung aus. Führt man Verhandlungen vor Ort, also in Rußland durch, muß man sich darauf gefaßt machen, daß die Verhandlungen alles andere als „störungsfrei"
ablaufen werden.
Der
russische
Gesprächspartner
wird
gewöhnlich mehr als einmal um Entschuldigung bitten, um „unaufschiebbare" Telefonate zu fuhren, seinen Mitarbeitern irgendwelche Anweisungen zu erteilen oder seine Unterschrift unter irgendwelche Papiere zu setzen. Was westliche, an eine ungestörte, konzentrierte Verhandlungsfiihrung hinter verschlossenen Türen gewöhnte Geschäftsleute nicht selten irritiert, ja sie mitunter an dem aufrichtigen Interesse oder, an der Höflichkeit ihres Gegenübers zweifeln läßt, ist in den Augen des russischen Verhandlungspartners nichts weiter als die Erledigung keinen Aufschub duldender Tagesaufgaben und die Pflege „lebensnotwendiger" Kontakte und Beziehungen.
Es sei hier mal dahingestellt, daß diese Art von Verhandlungsfiihrung mitunter dem Unvermögen des russischen Partners zuzuschreiben ist, die eigene Arbeit und die seiner Mitarbeiter entsprechend zu organisieren bzw. dem Bestreben, dem westlichen Partner demonstrieren zu wollen, wie „ausgelastet" man ist und welch wichtige Rolle man in der Organisation einnimmt. Aus der weitaus größeren Bedeutung, die die menschliche Komponente im Geschäftsverkehr
mit
Russen
spielt,
können
für den
westlichen
Partner
zusätzliche Anforderungen erwachsen, derer er sich nicht immer vom Beginn einer Geschäftsbeziehung an voll bewußt ist und die ihn recht schnell in eine heikle Lage bringen können. Einerseits kann er sich Bitten um „kleine" Gefälligkeiten (z.B. Herstellung von Kontakten, Weiterleitung irgendwelcher Angebote, Suche von Abnehmern russischer Produkte im Westen etc.) nicht einfach so entziehen. Erteilt er seinem russischen Partner eine höfliche, aber direkte Absage mit der Bemerkung, daß diese Bitten ja schließlich nichts mit dem gemeinsamen Geschäft oder gerade laufenden Projekt zu tun hätten, wird er sicher
auf
Unverständnis
stoßen,
weil
es
für
den
russischen
Partner
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
1 29
selbstverständlich ist, daß man sich hilft, wo man kann und auch, weil die russische Seite den mit dieserart „Hilfe" verbundenen Aufwand nicht immer im vollen Maße überblickt. Läßt sich der westliche Partner andererseits jedoch allzusehr auf die Wünsche seiner russischen Kollegen ein, kann er sehr schnell an den Punkt gelangen, an dem Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr stehen. Eine deutsche Firmenrepräsentanz in Moskau oder St. Petersburg kann sich dann unmerklich in ein Vermittlungs- und Kontaktanbahnungsbüro verwandeln, das den Charme eines Gemischtwarenladens ausstrahlt und in dem die eigentliche ertragsorientierte Tätigkeit zu kurz kommt. In einer deutschen Firma mit Handelskontakten nach Rußland passierte beispielsweise folgendes: Der russische Handelspartner wollte in Deutschland Fahrstühle kaufen. Also bekam eine Angestellte der Firma den Auftrag, sich um die Sache zu kümmern. Da den Russen keine genaueren Angaben zu entlocken waren, recherchierte die Mitarbeiterin eine ganze Woche lang, welche Arten von Fahrstühlen (und das sind unzählige!) von wem und zu welchem Preis angeboten werden. Die Recherche war nicht zuletzt auch deshalb so arbeitsintensiv, weil die deutsche Firma gewöhnlich mit Lebensmitteln handelte und mit Fahrstühlen nicht das geringste zu tun hatte. Als nach einer Woche die Angebotsliste fertig war, konnte sich von den russischen Partnern niemand mehr erinnern, wer den Fahrstuhl überhaupt bestellt hatte und zu welchem Zweck. Derselben deutschen Firma passierte es, daß ein russischer Vertreter eines Tages eine riesige schwarze behaarte Moschusdrüse als Muster mit nach Deutschland brachte, mit der Bitte, diese gut aufzuheben, da damit ein großes Geschäft mit einem anderen Partner angebahnt werden solle. Die sehr geruchsstarke Drüse harrte im Kühlschrank der Firma etwa vier Monate der Dinge, die da kommen sollten - vergeblich, wie sich zeigen sollte: Der russische Partner hatte sie schlicht und ergreifend vergessen... Wenn hier die menschliche Komponente im Geschäftsverkehr und die Auswirkungen, die kulturelle Unterschiede auf die geschäftliche Kommunikation haben, diskutiert werden, dann verdient noch ein weiterer Punkt unsere Beachtung. Es geht um die Frage, ob es für ein westeuropäisches Unternehmen von Vorteil ist, Führungspositionen im eigenen Unternehmen mit Vertretern der anderen Kultur (also in unserem Fall mit „echten" Russen) zu besetzen, oder nicht. Eigene Erfahrungen und eine Vielzahl von Gesprächen mit russischen Kollegen, die in der überwiegenden Zahl der Fälle als offizielle Repräsentanten
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Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
westlicher Unternehmen in Rußland tätig sind oder in Einzelfallen in Deutschland Führungspositionen in Unternehmen innehaben, die mit Rußland kooperieren, haben gezeigt, daß diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist. Die Vorteile, eine Firmenrepräsentanz in Rußland mit einheimischem Personal zu besetzen, liegen (und zwar nicht nur aus Kostengründen) auf der Hand. Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Entscheidung ist jedoch, daß die ausgewählten Mitarbeiter wirklich selbständig arbeiten können, Fremdsprachen beherrschen, vertraut sind im Unigang mit dem Computer und, was wohl am entscheidendsten ist, daß sie, obwohl oder gerade weil sie in Rußland „sitzen", eine Vorstellung davon haben, wie „im Westen" Geschäfte gemacht werden und auf welche Nuancen es dabei ankommt. Kandidaten, die ihre Eignung damit begründen, daß sie schließlich wissen, wie „business po-russki" funktioniere und alles übrige ja Sache des Stammhauses im Westen sei, sollten (selbst bei Erfüllung der übrigen Kriterien) gar nicht erst in die engere Wahl gezogen werden. Die Nachteile, die daraus erwachsen können, daß man als westliches Unternehmen Fühnxngspositionen mit Russen besetzt, liegen nicht so klar auf der Hand, da sie in nicht unwesentlichem Maße auf sozio-kulturelle Ursachen zurückzufuhren
sind.
Die
Hauptgefahr
besteht
darin,
daß
russische
Führungskräfte auf Grund ihrer Herkunft, ihrer nationalen, kulturellen und sprachlichen Wurzeln in ihrer Denk- und Handlungsweise für die russische Seite nicht nur „verständlicher" (und somit durchschaubarer) sind - was ja durchaus auch positiv zu werten ist -, sondern zugleich auch Angriffspunkte für eine mögliche
Erpressung
im
Falle
stagnierender
Verhandlungen
oder
Meinungsverschiedenheiten bieten. Die russische Seite wird die Tatsache, daß ihr Gegenüber am Verhandlungstisch ebenfalls Russe ist, unter Umständen sehr brutal auszunutzen verstehen, um Druck auf ihn auszuüben und gewisse Zugeständnisse zu erzwingen. Das Spektrum der Einflußnahme ist breit und reicht von „Sie als Russe/in müßten doch verstehen, daß ..." , über: „Man merkt, Sie sind schon lange aus Rußland weg, sonst wüßten Sie, daß man so etwas unter Russen nicht macht" bis hin zu sehr persönlichen verletzenden Angriffen, die man sich Ausländern gegenüber nie herausnehmen würde und die zudem noch dadurch erleichtert werden (und durch Dritte weitgehend unbemerkt bleiben), daß beide Seiten ohne Dolmetscher auskommen und sich in ihrer Muttersprache verständigen. Das Ergebnis einer solchen Art der Verhandlungsführung ist, daß der russische Mitarbeiter, der die Interessen seines deutschen Arbeitgebers in der
Kapitel 2: Kulturelle
Verhandlung
zu vertreten
131
Unterschiede
hat, in eine überaus unangenehme
Situation
manövriert wird, aus der er nur sehr schwer wieder herauskommt, ohne Schaden für
sich
und/oder
das
Unternehmen
zu
verursachen.
Gibt
er
den
Erpressungsversuchen und Sticheleien auch nur ein einziges mal nach, schafft er damit einen Präzedenzfall, der künftige Verhandlungen mit dem Unternehmen beeinflussen wird, unabhängig davon, ob derselbe russische Mitarbeiter oder ein anderer Vertreter des Unternehmens am Verhandlungstisch sitzt. Gibt er nicht nach, wird es in Zukunft überaus schwierig ftir ihn, ein aufgeschlossenes produktives Verhandlungsklima zu schaffen, da die persönlichen Beziehungen zur anderen Seite erst einmal getrübt sind. Sollte ein solcher Fall eintreten, so kann man dem betreffenden russischen Mitarbeiter nur empfehlen, sich bereits bei den allerersten Anzeichen eines solchen Erpressungsversuchs vertrauensvoll an die Geschäftsführung zu wenden und die Sache nicht aus Scham oder Angst vor Gesichtsverlust auf sich beruhen zu lassen. Die Geschäftsführung sollte ihrerseits, ehe sie zum letzten Mittel greift und ihren Verhandlungsführer auswechselt, versuchen, Beteiligten
unter
den Kreis der an der Verhandlung
irgendeinem
Vorwand
etwas
zu
erweitern
unmittelbar und
die
Verhandlungen mit einem Dolmetscher ablaufen zu lassen, wodurch der offizielle Charakter unterstrichen und ein gewisser Grad an Distanz geschaffen wird. Die sozio-kulturell Prägung eines solchen Erpressungsversuchs besteht darin, daß es nach russischer Wertvorstellung ungehörig ist, einen Landsmann, der um eine „Gefälligkeit" bittet, zurückzuweisen („0Tica>KH ceöe, totom apyroMy" „Versage zuerst dir selbst etwas, bevor du einem Bittenden etwas versagst"). Einem Deutschen wird man eine Absage oder Zurückweisung eher abnehmen, man wird sie - wenngleich nicht ohne einen bedauernden Seufzer - als etwas Natürliches aufnehmen. Einem Russen verzeiht man sie nicht, vielmehr hält man ihm vor, überheblich zu sein ("oh MApaa hoc") oder gar zum Deutschen „mutiert" zu sein („oh noAuejibmajiCH noa He\ma"). Mit derselben Problematik werden übrigens - wenn auch in abgeschwächter Form - zuweilen westliche Firmenrepräsentanten konfrontiert, die bereits viele Jahre in Rußland tätig sind und die von der rassischen Seite auf Grund ihrer exzellenten Sprach- und Landeskenntnis respektvoll als „einer der ihren" („cboh HejiOBeic")
behandelt
werden.
Was
eigentlich
ein
unschätzbarer
Wettbewerbsvorteil ist. kann durchaus auch eine unerwünschte Kehrseite haben.
132
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Die Verhandlung als wichtigste Form der geschäftlichen Kommunikation Russen als Verhandlungspartner Die Verhandlung, speziell die Kauf-Verkaufs-Verhandlung, stellt die wichtigste Form der geschäftlichen Kommunikation - nämlich den „klassischen Fall eines Ausgleichs einander widersprechender Interessen zweier Parteien (Maximierung des Gewinns gegen Minimierung der Ausgaben) durch ein Gespräch"64 dar. Die Vorstellungen von den Russen als Verhandlungspartner sind im Westen nur zu oft mit einem Negativimage behaftet: „...Vorstellungen, die man sich landläufig von den Russen und russischen Kaufleuten im besonderen macht - es handele sich um trinkfeste und harte, auf ihren Vorteil
wohlbedachte
65
Verhandler" . „Was den historischen Typ (des russischen Kaufmanns) besonders auszeichnete, war - abgesehen von unbestreitbar positiven Zügen, wie z.B. die großzügige Förderung von Künstlern -, Hartnäckigkeit, die an Starrsinn grenzte, eine gewisse Unkontrolliertheit in der Handlungsweise und das Bestreben, repräsentativ zu wirken, anerkannt zu sein. Solche Leute stellten sich und ihren Reichtum gern zur Schau; sie waren in der Regel sehr gastfreundlich. Die Sowjetmacht aber hat einen anderen Typ des Geschäftsmanns geprägt, der wegen ständiger Verbote, mangelnder Freiheit des Unternehmertums, mangelnder internationaler Kontakte und materieller Not verunsichert war"66. Man sollte sich davor hüten, sich in der Einschätzung des russischen Geschäftslebens im allgemeinen und der russischen Verhandlungspartner im besonderen von Klischees und Extremen leiten lassen. So ist es falsch (unter westlichen Geschäftsleuten leider aber nicht selten anzutreffen), die Russen entweder fiir total rückständig, „hinter dem Mond lebend" und unzivilisiert zu halten oder aber mit „westlicher" Selbstverständlichkeit anzunehmen, daß man Verhandlungen ohne Dolmetscher fuhren oder die Geschäftskorrepondenz in Englisch abwickeln könne. Zu den „typisch westlichen" Stereotypen über die Russen gehört auch die Auffassung, sie seien zuweilen etwas unhöflich, ja grob oder die Meinung, daß es sich bei den russischen Geschäftsleuten der jüngeren Generation so gut wie ausschließlich um Mafiosi handele. Grundsätzlich
können
zwei
Haupttypen
russischer
Verhandlungspartner
unterschieden werden. Da sind zunächst die Vertreter der älteren Generation (ab
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
133
Mitte 40). Diese lassen sich wiederum in zwei Gruppen unterteilen - solche, die bereits im alten System mit westlichen Partnern Geschäfte abwickelten; die, was die eigentliche Verhandlungserfahrung betrifft, oft sehr versiert sind und denen westliche Geschäftspraktiken durchaus bekannt sind, und jene, die noch keinen oder nur geringen Kontakt mit westlichen Verhandlungspartnern hatten und keinerlei Auslandserfahrung besitzen. Während zur ersten Gruppe vor allem Vertreter
der
zuzurechnen
ehemaligen
sind,
Führungskräfte
sind
die
ehemaliger
sowjetischen „typischen" Staatsbetriebe
Außenhandelsorganisationen
Vertreter (oder
der
zweiten
ehemals
Gruppe
staatlicher
Einrichtungen), die früher keinerlei Auslandsbeziehungen unterhielten. Beiden Gruppen gemeinsam ist häufig die Unkenntnis und auch ein gewisses Desinteresse
am
marktorientierten
Wirtschaften.
In
der
Zusammenarbeit
zwischen westlichen Geschäftsleuten und russischen Partnern, die zu dieser Gruppe gehören, treten häufig Probleme auf, die auf die subjektive Einstellung der russischen Seite zu prinzipiellen Aspekten der Marktwirtschaft sowie auf einen Mangel an fachlicher (kaufmännischer) Kompetenz zurückzuführen sind. Bei den Vertretern der jüngeren Generation handelt es sich zum einen um Leute, die über eine solide wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung verfügen (die sie teilweise im westlichen Ausland oder aber in einer der in Rußland tätigen westlichen Business-Schools erworben haben). Viele von ihnen haben zudem bereits gewisse praktische Auslandserfahrungen. Oftmals handelt es sich bei diesen Geschäftsleuten um Kinder ehemaliger Funktionäre und Diplomaten, die auf Grund ihrer Privilegien sehr früh die Möglichkeit hatten, ins westliche Ausland zu reisen und eigene geschäftliche Aktivitäten zu entfalten. Die Beherrschung von Fremdsprachen (in der Regel Englisch, seltener Deutsch) und Computerkenntnisse sind in dieser Gruppe ungleich besser entwickelt als in der ersten Gruppe. Zum anderen handelt es sich bei den Geschäftsleuten der jüngeren Generation um solche, die auf Grund äußerer Umstände gezwungen waren, sich dem „Kommerz" zuzuwenden. In der Regel haben wir es hier mit ehemaligen Akademikern, Wissenschaftlern oder auch Offizieren zu tun, die versuchen, sich auf Grund ihres Hungerlohns und/oder mangels Aufträgen in den ehemals staatlichen Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen unter Einbringung ihres Know-hows und ihrer wissenschaftlichen Leistungen ein eigenes Geschäft aufzubauen.
Dieser
Gruppe
mangelt
es jedoch
nicht
nur
eklatant
an
134
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Managementerfahrungen und kaufmännischem Wissen, sie betrachtet darüber hinaus jede Art von Geschäftstätigkeit als etwas „Anrüchiges". Der Gedanke, eine eigene Erfindung oder Entwicklung „vermarkten zu müssen", ruft bei nicht wenigen dieser Leute einen tiefen Abscheu hervor. Es erfordert viel psychologisches Fingerspitzengefühl auf westlicher Seite, um das Vertrauen dieser, in ihrem Fach sehr fähigen, kreativen Leute zu gewinnen und mit ihnen ins Geschäft zu kommen (vgl. Tabelle 2). Neben den beschriebenen Typen russischer Verhandlungsführer ist noch eine weitere Gruppe zu erwähnen. Es handelt sich dabei um Vertreter von Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen, die in Rußland stärker als in anderen Ländern direkt oder indirekt mit am Verhandlungstisch sitzen. Auf Grund des historisch gewachsenen Wirtschaftssystems gibt es bis heute keine klare Trennung zwischen dem staatlichen (öffentlichen) und dem privaten Sektor. Auch wenn die ehemaligen Branchenministerien nicht mehr existieren, sind die meisten großen Unternehmen in irgendeiner Form einer staatlichen Behörde (z.B. der russischen Treuhandgesellschaft, dem Staatskomitee für Industriepolitik oder dem Komitee für Antimonopolpolitik u.a.) unterstellt. Bestimmte Geschäftsabschlüsse oder Projekte bedürfen unter Umständen der Zustimmungspflicht der übergeordneten Behörde oder sie können anderen Vorschriften und Restriktionen unterliegen. Aber selbst kleinere, neu gegründete Unternehmen agieren nicht im luftleeren Raum. Deshalb ist es wichtig, bereits im Vorfeld von Verhandlungen einen direkten Kontakt zu all jenen Behörden und Entscheidungsinstanzen herzustellen, die auf das geplante Projekt in irgendeiner Weise Einfluß haben könnten und deren Interessenlage zu sondieren, um die Gefahr späterer unangenehmer Überraschungen zu minimieren. Dies ist zweifellos für alle Arten von Kooperationsprojekten zutreffend, im besonderen Maße gilt jedoch für Beratungsprojekte, daß man die von staatlicher Seite erklärten Prioritäten möglichst genau kennen sollte. Aus psychologischer Sicht ist anzumerken, daß es Vertreter staatlicher Einrichtungen zuweilen als etwas „unter ihrer Würde" ansehen, mit privaten Geschäftsleuten zu verhandeln und dies den westlichen Geschäftspartner durch ein arrogantes, wenig kooperatives und unnachgiebiges Auftreten dann durchaus auch spüren lassen können. In der folgenden Tabelle wurde der Versuch einer kurzen Charakteristik der Typen russischer Verhandlungsführer nach bestimmten Bewertungskriterien unternommen, wobei an dieser Stelle wiederholt die Einschränkung gestattet sei, daß es sich hierbei um eine Form der Verallgemeinerung handelt, bei der die
Kapitel 2: Kulturelle
Unterschiede
135
Gefahr, bestimmte Stereotype über- oder unterzubetonen nie ganz auszuschließen ist.
Charakteristik des „russischen Verhandlungstyps" Typen
russischer
Verhandlungsführer
Tabelle 2 Kriterium
Erfahrungen in der
jüngere Generation
ältere Generation leitende Mitarbeiter früherer Außenhandelsbetriebe
leitende Mitarbeiter ehemaliger Staatsbetriebe
Absolventen von Elitebildungseinrichtungen im Inund Ausland
Wissenschaftler und Akademiker
meist vorhanden
selten vorhanden
mitunter, jedoch
nicht vorhanden
westlichen
nicht immer vorhanden
Wirtschaftspraxis Auslandserfahrung
meist vorhanden
selten vorhanden
häufig vorhanden
selten vorhanden
kaufmännische
beschränkt
selten vorhanden
meist vorhanden
nicht vorhanden
Kompetenz
vorhanden
westliche Manage-
nicht vorhanden
nicht vorhanden
nicht oder nur
nicht vorhanden
menterfahrung Einstellung zum westlichen
begrenzt vorhanden eher skeptisch bis negativ
negativ
eher skeptisch bis
eher positiv
eher skeptisch bis negativ
Erwartungshaltung
eher realistisch
eher realistisch
eher unrealistisch
eher unrealistisch
gegenüber dem
bis pessimistisch
bis pessimistisch
bis optimistisch
bis pessimistisch
Verhandlungserfahrungen mit westlichen Partnern
vorhanden
selten vorhanden
in Ansätzen
nicht vorhanden
Fremdsprachen-
meist vorhanden
selten vorhanden
meist vorhanden
Interesse an einem
indifferent bzw.
indifferent bis
sehr stark
indifferent bzw.
erfolgreichen
weniger stark
stark ausgeprägt
ausgeprägt
weniger stark
Wirtschaftssystem
Westen vorhanden selten vorhanden
kenntnis
ausgeprägt
Geschäftsabschluß
ausgeprägt
Interesse an lang-
eher an
eher an
indifferent bzw.
indifferent bzw.
fristiger
kurzfristigen
kurzfristigen
eher an lang-
eher an lang-
Zusammenarbeit
Verhandlungs-
Verhandlungs-
fristigen
fristigen
zielen orientiert
zielen orientiert
Verhandlungs-
Verhandlungs-
zielen orientiert
zielen orientiert
Fähigkeit, die eigenen Verhandlungsziele genau zu definieren
eher ausgeprägt
weniger ausgeprägt
eher stark ausgeprägt
wenig ausgeprägt
Kompromiß-
eher gering
eher gering
eher stärker
eher gering
bereitschaft
1 36
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Kriterium
jüngere Generation
ältere Generation
Auftreten/ äußeres Erscheinungsbild
eher autoritär, dominierend, konservativ „graue Eminenz", Selbstsicherheit
eher autoritär, dominierend, konservativ „graue Eminenz", oft innere Verunsicherung
eher kollegialkooperativ bzw. dominierend „Zurschaustellung von Status und Macht", Selbstsicherheit
eher kollegialkooperativ „bescheidenes, unscheinbares Äußeres", oft innere Verunsicherung
In Tabelle 3 wurden mit Fettschrift jene Merkmale hervorgehoben, die nach Meinung der Autorinnen für den „russischen Verhandlungstyp" zutreffen. Charakteristik des „russischen Verhandlungstyps" Tabelle 3 Aspekte des Einflusses von Kultur auf die Verhandlungsführung
Verhandlungsführer Typ „A" (westeuropäische und amerikanische Kultur)
Verhandlungsführer Typ „B" (östliche Kulturen)
Verhandlungsziel
Vertrag
Beziehung
Einstellung zu den
„Gewinner"-,, Verlierer"
„Gewinner"-„Gewinner"
(eher Konfrontation)
(eher Kooperation)
eher emotional
eher nüchtern und sachlich
vorherrschend informell
vorherrschend formell
vorherrschend direkt
vorherrschend indirekt
(„geradeheraus")
(„diplomatisch")
stark ausgeprägt
weniger stark ausgeprägt, „polychrones" Zeitverständnis
spezifisch/detailliert
allgemein/prinzipiell
Verhandlungen sozio-kulturell geprägter Verhandlungsstil persönlicher Stil des Verhandlungsfiihrers Stil der Kommunikation
Zeitbewußtsein/Pünktlichkeit
Form des zu treffenden Abkommens
Herangehensweise zur Erzielung des Abkommens
Zusammensetzung des/
induktiv
deduktiv
(von Einzelfragen zu
(von allgemeinen Prinzipien
allgemeinen Prinzipien)
zu Einzelfragen)
weniger konsensorientiert
stärker konsensorientiert
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede Aspekte des Einflusses von Kultur auf die Verhandlungsfiihrung
1 37
Verhandlungsfiihrer Typ „A" Verhandlungsfiihrer Typ „B" (östliche Kulturen) (westeuropäische und amerikanische Kultur)
Kompetenzverteilung im Verhandlungsteam
(ein Leiter, der als Verhandlungsfiihrer fungiert)
(Leiter des Teams fungiert nicht
eher größer
eher geringer
quasiologischer Typ
Präsentationstyp und Analogietyp
eher hoch
eher weniger hoch
Risikobereitschaft
vorzugsweise angewandter Argumentationstyp
Grad der Rechtsverbindlichkeit
unbedingt als Verhandlungsfiihrer)
von schriftlichen Verträgen
/Tabelle in Anlehnung an: SALACUSE „International erfolgreich verhandeln", S. 85/
Ein österreichisches Forscherteam um Frau Professor Rathmayr von der Wirtschaftsuniversität Wien hat in einer Untersuchung acht österreichische und ein deutsches Unternehmen, die Kooperationsbeziehungen mit Rußland pflegten, nach ihren Erfahrungen mit russischen Verhandlungspartnern befragt. Zu diesem Zweck wurden den Befragten Thesen vorgelegt, deren Zutreffen oder Nichtzutreffen zu bewerten war. Im folgenden haben die Autorinnen diese Thesen und den Grad der Zustimmung der Befragten tabellarisch erfaßt, „wobei als Zustimmungskoeffizient der arithmetische Mittelwert der von den Befragten vergebenen Skalenwerte (also z.B. 7 für „Stimme voll zu") verwendet wird"67. Bewertung russischer Verhandlungspartner durch acht österreichische und ein deutsches Unternehmen Tabelle 4 THESE
Grad
geringer Grad
völlige
an Zustimmung
an Zustimmung
Zustimmung 6,8
Personen unumgänglich". „Es ist üblich und wichtig, durch Einladungen, kleine Geschenke und sonstige Aufmerksamkeiten die russischen Geschäftspartner günstig zu stimmen".
Zustimmung
hoher Grad
„Um ein Geschäft mit einer russischen Firma abwickeln zu können, sind gute persönliche Beziehungen zu den ausschlaggebenden
der
Einmütigkeit,
6,6
1 38
Teil 1: Interkulturelle Aspekte THESE
Grad
der
Zustimmung
Einmütigkeit,
hoher Grad
geringer Grad
völlige
an Zustimmung
an Zustimmung
Zustimmung „Gute persönliche Beziehungen erleichtern und beschleunigen bürokratische Prozesse".
6,2
„Es gibt einen typisch russischen Geschäftsstil". 5,7 „Die europäischen Geschäftspartner müssen sich an diesen russischen Geschäftsstil
5,8
anpassen". „Ein russischsprechender Mitarbeiter im Verhandlungsteam weist bestimmte Vorteile gegenüber einem von außen hinzugezogenen Dolmetscher a u f . „Die Personen, die von russischer Seite an den Verhandlungen teilnehmen, sind oft überhaupt nicht entscheidungsbefugt".
5,7
5,2
„Das russische Verhandlungsteam besteht nicht selten teilweise aus Personen, deren Identität und/oder Funktion nicht bekannt ist". „Verhandlungsergebnisse sind oft nicht eindeutig zu beurteilen, da Entscheidungen erst nach den Verhandlungen getroffen werden, wobei man eigentlich nicht weiß, von wem".
5,0
4,8
„Finden Verhandlungen in Rußland statt, so können die russischen Geschäftspartner einen
4,3
Heimvorteil verbuchen". „Der russische Geschäftspartner setzt ein gewisses Allgemeinwissen über Geschichte,
4,3
Kultur, Politik etc. seines Landes beim westlichen Partner voraus" „Auf Grund technischer Mängel im Kommunikationsbereich (Fax, Post, Telefonverkehr) kann es zu extremen Verzögerungen und infolgedessen sogar zum Abbruch von
4,2
Geschäftsverbindungen kommen, obwohl ein Geschäft für beide Seiten gewinnbringend gewesen wäre". „Wenn man mit einer russischen Firma länger im geschäftlichen Kontakt steht, braucht man sich weniger auf die Form und kann sich mehr
4,1
auf den Inhalt von Geschäften konzentrieren". „Wenn man mit einer russischen Firma länger im Kontakt steht, nimmt die Dauer der Verhandlungen ab".
3,3
1 39
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede THESE
Grad
der
Zustimmung
Einmütigkeit,
hoher Grad
geringer Grad
völlige
an Zustimmung
an Zustimmung
Zustimmung „Während der Verhandlungen bezieht das russische Verhandlungsteam relativ rasch eine eindeutige Position und man weiß, woran man ist". „Frauen sollte man besser nicht in Verhandlungsteams aufnehmen, diesbezüglich gibt es Autoritätsprobleme".
3,2
2,9
/nach: VERHANDELN MIT RUSSEN, S. 44-49/ Verhandlungen mit russischen Geschäftspartnern erfordern einen hohen Grad an Flexibilität - eine nicht besonders stark ausgeprägte Eigenschaft vieler Russen. Mangelnde Flexibilität und Unnachgiebigkeit können jedoch auch Ausdruck mangelnden Verständnisses für die Vorschläge der anderen Seite sein und auf den Wunsch zurückgehen, diese Unkenntnis möglichst nicht zu zeigen (Angst vor Gesichtsverlust!). Westliche Geschäftsleute sollten in der Verhandlung mit russischen Partnern die ausgeprägte Fähigkeit zur schnellen Anpassung an ungewohnte und unvorhergesehene Situationen sowie Einfallsreichtum und Kreativität bei der Entwicklung von Lösungskonzepten besitzen. Die Notwendigkeit, zu Beginn einer Verhandlung bzw. bereits im Vorfeld ein möglichst günstiges Verhandlungsklima zu schaffen, trifft zwar auf beliebige Verhandlungen zu, - in Rußland ist sie jedoch von besonderer Bedeutung, da, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, die persönlichen Beziehungen zwischen den Verhandlungspartnern („die Chemie") einen ungleich größeren Einfluß auf den Gang der Verhandlungen haben als im Westen, wobei auch hier zwischen russischen Geschäftsleuten der jüngeren Generation und denen der älteren Generation zu unterscheiden ist. Erstere sind zunehmend bemüht, private oder andere geschäftlich belanglose Themen aus den Verhandlungen auszuklammern und diese zu versachlichen. Andererseits bieten einige Bemerkungen zu unverfänglichen Alltagsthemen (Urlaub, Wetter, bevorstehende Feiertage etc.) oder über das eigene Privatleben durchaus eine Möglichkeit, ein günstiges Verhandlungsklima zu schaffen. Im russischen Geschäftsleben ist es nach wie vor weit verbreitet, auf diese Weise eine ungezwungene und neutrale Gesprächsatmosphäre zu schaffen (oder wiederherzustellen). Deshalb wird auch vom westlichen Gesprächspartner eine Reaktion (persönliches Interesse. Anteilnahme) auf diese Art von Äußerungen
140
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
erwartet. Es wäre unhöflich, einfach darüber hinwegzugehen und gleich „zur Sache kommen zu wollen". Elementare Voraussetzung für ein entspanntes Verhandlungsklima ist selbstverständlich ein ruhiges, selbstbewußtes (jedoch nicht arrogantes!), freundliches Auftreten. Dieses ist nicht zu verwechseln mit einem im anglophilen Sprachraum besonders häufig anzutreffenden betont lässigen scherzhaft-humorvollen Stil, der in Rußland auf wenig Akzeptanz stößt. Zu den einfachsten Methoden, seinem Verhandlungspartner gegenüber besondere Achtung oder Wertschätzung zu bekunden, ein positives Verhandlungsklima zu sichern und das Image des russischen Verhandlungspartners gegenüber seinen Kollegen und Mitarbeitern zu festigen, gehört es, bestimmte positive Seiten des Partners (Fachkompetenz, schnelles operatives Handeln, Kreativität bei der Suche nach gemeinsamen Lösungen, unbürokratische Entscheidungen etc.) besonders herauszustellen. Gerade uns Deutschen steht diese Art der Verhandlungstaktik durchaus gut zu Gesicht, da uns ja nicht selten der Ruf anhaftet, besserwisserisch und arrogant zu sein. Es erübrigt sich selbstverständlich zu sagen, daß Lob und Komplimente an die Adresse des russischen Partners wohldosiert einzusetzen sind und nur da ihren Platz haben, wo sie auch ernst gemeint sind. Von Verhandlungspartnern aus früheren Staatsbetrieben wird normalerweise sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, wenn sich potentielle ausländische Partner dafür interessieren, wie es ihnen gelingt, unter den gegenwärtigen Krisenbedingungen wirtschaftlich zu überleben, „das Schiff sozusagen über Wasser zu halten". Ähnliches gilt auch für Vertreter vieler Institutionen und wissenschaftlicher Einrichtungen. Diesbezügliche Fragen werden meist sehr gern und umfassend beantwortet, auch wenn es gewöhnlich nicht ohne ein gewisses Wehklagen und harsche Kritik an der Unfähigkeit der eigenen Regierung abgeht. Verhandlungspartner aus den neu gegründeten Wirtschaftsstrukturen sind dagegen recht empfänglich für anerkennende Bemerkungen über die Arbeit ihrer Firma, die Ausstattung des Büros, die Qualifikation und neue („westliche") Arbeitseinstellung ihrer Mitarbeiter und natürlich für Lob über bereits erzielte Erfolge in der kurzen Zeit ihres geschäftlichen Bestehens. Westliche Geschäftsleute sind, wenn sie mit Russen verhandeln, nicht selten der Auffassung, daß die russische Seite zu unentschlossen und zögernd agiert und
Kapitel 2: Kulturelle
Unterschiede
141
daß man anständig Druck ausüben müsse, um die Verhandlungen voranzutreiben. Erschwerend wirkt zudem eine gewisse Scheu vor Verantwortung, die zum Teil eine Folge des früheren Wirtschaftssystems (systembedingte Verhaltensweise), zum Teil aber auch eine Folge der Mentalität (sozio-kulturell bedingte Verhaltensweise) darstellt. Einfache, erprobte und schnellen Erfolg verheißende Lösungsansätze werden nicht selten komplexeren, innovativen, aber auch risikoreicheren Ansätzen gegenüber favorisiert. Da die Angst vor einem möglichen Gesichtsverlust auch am Verhandlungstisch eine wesentliche Rolle spielt, kommt es darauf an, Zweifel an den russischen Vorschlägen, eine eingeschränkte Zustimmung oder gar Ablehnung des von russischer Seite Geäußerten sehr überlegt und diplomatisch zu formulieren. Mögliche Reaktionen bestehen darin, einer Äußerung des Gesprächspartners erst einmal lobend zuzustimmen - um anschließend einen Einwand vorzubringen oder bestimmte Umstände zu nennen, unter denen eine Annahme des Vorschlages vielleicht doch akzeptabel wäre. Durch die einleitende persönliche Anrede seines Gesprächspartners kann die Schärfe nachfolgender „unangenehmer Wahrheiten" ebenfalls abgeschwächt werden. In jedem Fall empfiehlt es sich, übermäßige Direktheit zu vermeiden und mit einem Einwand oder einer Ablehnung nicht „mit der Tür ins Haus zu fallen". Erst wenn man seinen Partner wirklich lange kennt und eine gute persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut hat, kann es unter Umständen schon mal Wunder wirken, wenn man die Diplomatie beiseite läßt und „Tacheles redet". Im Kapitel „Elemente des russischen Volkscharakters" wurde bereits darauf verwiesen, daß Kompromißbereitschaft nicht eben zu den herausragendsten Eigenschaften der Russen gehört. Das spiegelt sich selbstverständlich auch in der geschäftlichen Kommunikation - im Verhalten am Verhandlungstisch - wider. Während eine konstruktive Einstellung zu Verhandlungen immer von einer Zwei-Gewinner-Lösung ausgehen sollte, betrachten viele Russen nach eigenem Bekunden eine Verhandlung (zumindest unbewußt) nur allzu oft als eine Art Boxkampf, bei dem nur einer gewinnen könne, wobei der Gewinn so auszusehen habe, wie man ihn sich selbst vorstellt. Diese Gewinner-Verlierer-Einstellung kann bewirken, daß man wenig bereit ist, sich mit dem Standpunkt des „Gegners" auch
nur
auseinanderzusetzen,
daß
man
diesen
als falsch,
unvernünftig oder einfach unannehmbar (nicht den „unikalen" russischen Bedingungen entsprechend!) abqualifiziert und den eigenen Standpunkt „um jeden Preis" verteidigt. Ein Eingehen auf die Vorschläge der Gegenseite wird da
142
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
von einigen Hardlinern nicht selten schon als unzumutbarer Kompromiß, der einer Niederlage gleichkommt, angesehen. Die Angst vor einem möglichen Gesichtsverlust gegenüber den eigenen Vorgesetzten und Kollegen, ein gekränktes Selbstwertgefuhl und ein ausgeprägter Nationalstolz dürften in Verhandlungen mit westlichen Partnern eine maßgebliche Rolle spielen: „Wenn eine Seite über eine größere Verhandlungsmacht verfügt als die andere, hat die schwächere Seite die Tendenz, die Verhandlung als eine Gewinn-Verlust-Situation anzusehen: jeder Vorteil für die mächtige Partei ist automatisch ein Nachteil für die schwächere Seite"68. Nur zu oft drehen sich die Verhandlungen dann vorrangig darum, den Gewinn, den der westliche Partner aus einem gemeinsamen Projekt haben könnte, „nicht zu groß" werden zu lassen. So ist es sicher kein Zufall, daß sich viele russische Verhandlungspartner bei Preisverhandlungen sehr detailliert dafür interessieren, welche Gewinnspanne der westliche Partner ansetzt und wie er diese berechnet. Ein wesentliches Moment bei Verhandlungen mit russischen Partnern ist der Zeitfaktor (die Strategie des Zeitgewinns), die von russischer Seite nicht selten bewußt oder unbewußt als Instrument der Verhandlungstaktik eingesetzt wird, sei es auf Grund > äußerer Umstände (z.B. „unvermittelt" verkündeter Feiertage oder neuer, rückwirkend in Kraft tretender gesetzlicher Bestimmungen), > elementarer Unfähigkeit der russischen
Seite, einen Aufenthalt ihres
westlichen Geschäftspartners organisatorisch optimal abzusichern, > der eigenen Unentschlossenheit, wie man selbst reagieren und weiter verfahren solle, > der Notwendigkeit, erst irgendwelche Entscheidungen oder Genehmigungen „von oben" abwarten zu müssen, oder sei es > aus der Absicht heraus, auf diese Weise Druck auf den westlichen Partner auszuüben und ihm so vielleicht doch noch weitere Zugeständnisse abzuringen.
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
143
Immer wieder kommen westliche Geschäftspartner in die Situation, tatenlos im Hotel
sitzen
und
auf
„irgend
etwas"
warten
zu
müssen
oder
gar
unverrichteterdinge wieder abreisen zu müssen, ohne die wirklichen Gründe der russischen Seite bis ins letzte durchschaut zu haben: „Der Wunsch, nach Hause zu kommen, und die Kosten an Zeit und Geld können die Besucher unter Druck setzen, ein Geschäft rascher abzuschließen (oder Gespräche abzubrechen), als sie es vielleicht tun würden, wenn sie im eigenen Land verhandelten.
Die
Gegenseite nützt diese Situation manchmal aus, indem sie mit oder ohne Absicht Verzögerungen hervorruft, die die Kosten für die Besucher und damit den Druck auf sie erhöhen" 69 . Mitunter sind „Zeitprobleme" bei Verhandlungen jedoch auch nur darauf zurückzuführen, daß die russische Seite einfach in Unkenntnis über die genauen Zeitpläne und -Vorstellungen ihres westlichen Verhandlungspartners ist oder auf Grund des eigenen kulturellen Hintergrundes der Zeit weniger Bedeutung beimißt. Es erfordert ein hohes Niveau an Kommunikationskultur und bestimmte individuelle Eigenschaften der Verhandlungspartner, um Konfliktsituationen zu vermeiden und das Durchsetzen der eigenen Interessenpositionen nicht mit einer Verschlechterung der persönlichen Beziehungen zum Verhandlungspartner zu bezahlen.
Es
kommt
leider
immer
wieder
vor,
daß
einer
der
Verhandlungspartner „im Eifer des Gefechts" die Ebene der Sachfragen verläßt und auf die Beziehungsebene wechselt. Da die Ursachen für Verstöße gegen Regeln einer fairen Verhandlungsfuhrung hauptsächlich Charakter
der
Verhandelnden
begründet
liegen,
im
ist
persönlichen
es
schwierig,
verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen. Ein von westlicher Seite oft provozierter Anlaß für eine Abkühlung oder offene Verschlechterung des Verhandlungsklimas ist der Ausdruck von Gereiztheit und Ungeduld
über
einen
ausbleibenden
oder
schleppenden
Fortschritt
der
Verhandlungen sowie der versteckte oder offene Vorwurf an die russische Seite, nicht aktiv und engagiert genug zu verhandeln und zu inflexibel zu sein. Schlecht verhohlene Zweifel an der fachlichen Kompetenz des russischen Verhandlungspartners bzw. an seinen Entscheidungsvollmachten sind ebenfalls dazu angetan, das Verhandlungsklima zu belasten. Es soll hier nicht darüber geurteilt werden, inwieweit diese Vorwürfe und Zweifel begründet sind. Da es die gegenwärtige Umbruchsituation in Rußland mit sich bringt,, daß einem westlichen
Geschäftsmann
Verhandlungspartner
zuweilen
gegenübersitzen
auch
können,
weniger kann
sich
kompetente durchaus
die
144
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Notwendigkeit ergeben, die Frage der Kompetenzen und Vollmachten kritisch anzusprechen. Fest steht jedoch, daß es in einem solchen Falle besser ist, die Verhandlungen zu unterbrechen bis die Mißverständnisse beigelegt und die Zweifel ausgeräumt sind. Erst dann ist es möglich, zu einer sachbezogenen Verhandlungsführung zurückzukehren. Keinesfalls sollte man mit Verärgerung und Ungeduld reagieren, wenn sich Verhandlungsfortschritte nicht zügig genug einstellen. Von russischer Seite sind es dagegen nicht selten die in westlichen Augen befremdlich erscheinende Emotionalität und ein verletztes Selbstwertgefuhl der Russen (geboren aus dem Gefühl der Unterlegenheit und Ohnmacht gegenüber dem stärkeren westlichen Partner), die zu Unhöflichkeit und Aggressivität am Verhandlungstisch führen können. Eine weitere Ursache für die Störung des Verhandlungsklimas kann jedoch auch die aus bewußter Ignoranz
oder
schlichter Unkenntnis geborene Überzeugung sein, daß das eigene Angebot absolut konkurrenzlos, unikal und grandios sei und man demzufolge dem westlichen Interessenten seine Bedingungen diktieren könne. Verhandlungen zwischen westlichen und russischen Partnern können darüber hinaus durch eine Reihe von Fragen belastet werden, die - wenngleich obligatorischer Bestandteil jeder Verhandlung - bei der russischen Seite nicht selten negative emotionale Reaktionen hervorrufen. Solche
„Reizthemen"
können neben der Preisfrage und den Zahlungsbedingungen vor allem die Frage nach der Absicherung des Vertrages durch bestimmte Garantien sowie Fragen nach Referenzen, Termin- und Liefertreue und eventuellen Serviceleistungen sein. Selbstverständlich sind diese Themen weder auszuklammern noch können Zugeständnisse und Rücksichtnahme gegenüber der anderen Seite grenzenlos sein. Es soll hier lediglich eine Sensibilisierung der westlichen Seite für bestimmte „kritische Themen", die besonderes Fingerspitzengefühl und einen vorsichtigen Einstieg erfordern, erreicht werden. Da
den
eigentlichen
ausgedehnte
Verhandlungen
Vorbereitungsphase
mit
vorausgeht,
russischen in
der
Partnern ein
reger
oft
eine
(mitunter
widersprüchlicher oder sich zeitlich überschneidender) Briefwechsel stattfindet, empfiehlt es sich, diesen in Vorbereitung auf die Verhandlung noch einmal gründlich zu sichten, chronologisch zu ordnen und unbedingt während der Verhandlungen bei der Hand zu haben. Die russische Seite beruft sich nicht selten auf bestimmte Aussagen aus diesem Briefwechsel, die dann für
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
145
Verwirrung und Mißverständnisse sorgen können. Es ist jedoch noch aus einem anderen Grunde erforderlich, den gesamten Briefwechsel möglichst bei jeder Verhandlung komplett da zu haben. Bei Verhandlungen mit russischen Partnern wird die westliche Seite nur zu oft mit der Tatsache konfrontiert, daß sie es wiederholt mit wechselnden Verhandlungspartnern zu tun hat und nicht selten wieder von vorn beginnen muß. Der vorangegangene Briefwechsel und die Akten werden dann unentbehrlich, um neuen Verhandlungspartnern einen kurzen chronologischen Überblick über die Vorgeschichte und den aktuellen Stand der Verhandlungen zu geben. An dieser Stelle sei noch ein Wort zum Vertragsentwurf gestattet. Diejenige Seite, die zuerst einen Vertragsentwurf unterbreitet, hat entscheidenden Einfluß auf den Ablauf der Verhandlungen. Allerdings sollte man sich in Verhandlungen mit russischen Partnern davor hüten, zu früh einen Entwurf zu präsentieren oder zu fordern. Der Entwurf ist die detaillierte Darstellung des Standpunktes einer der beiden verhandelnden Parteien. Nur zu schnell kann ein von westlicher Seite detailliert ausgearbeiteter Vertragsentwurf den russischen Partner dazu verleiten, diesen Standpunkt in allen Einzelheiten zu „zerpflücken", ohne sich vorher ausreichend über die allgemeinen Prinzipien der Zusammenarbeit geeinigt und die zugrundeliegende Gesamtkonzeption verstanden zu haben. Darüber hinaus besteht die Gefahr., daß die russische Seite die Präsentation eines westlichen Vertragsentwurfes in einem frühen Verhandlungsstadium als Zeichen von Arroganz und als den Versuch einer Bevormundung wertet, da gewöhnlich derjenige,
der
einen
Entwurf
präsentiert,
in
der
überlegenen
Verhandlungsposition ist. Bittet man die russische Seite, selbst einen Entwurf vorzulegen (etwa mit dem Verweis, daß der Ort der Leistungserbringung ja Rußland sei und der angestrebte Vertrag den russischen Rechtsnormen genügen muß),
so erhält
Absichtserklärung.
man
häufig nicht
Auch
wird
der
viel
mehr
Bitte
als
nach
den Entwurf Unterbreitung
einer eines
Gegenentwurfes mitunter überhaupt nicht entsprochen, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil die Unterbreitung eines qualifizierten Gegenentwurfes ein hohes Maß an Sachkenntnis und Erfahrung erfordert und sich längst nicht alle russischen Verhandlungspartner diesen Anforderungen gewachsen fühlen. Ein praktikabler Ausweg aus der Situation ist, die Entwürfe beider Seiten zu nehmen (wie weit sie sich auch inhaltlich und formal voneinander unterscheiden mögen) und gemeinsam ein einheitliches Dokument auszuarbeiten, wobei zuerst die Hauptfragen herauszulösen sind. Ist in diesen Fragen ein Konsens erzielt, kann
146
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
an die Klärung der Detailfragen gegangen werden. Andernfalls drohen die Verhandlungen in endlosen Diskussionen um Einzelfragen zu ersticken. Ein sehr kompliziertes Feld in der geschäftlichen Kommunikation sind die Preisverhandlungen, die geradezu unbegrenzte Möglichkeiten frir - auch kulturell bedingte - Mißverständnisse bieten. Sie sind das Kernstück jeder Verhandlung: „Ganz besonders gilt dies für Wirtschaftsverhandlungen mit russischsprachigen Partnern, mit denen, eigentlich „traditionell", am härtesten und längsten eben über den Preis verhandelt werden muß"70. Viele unerfahrene russische Geschäftsleute, die mit westeuropäischen Partnern ins Geschäft kommen wollen, verhalten sich bei Gesprächen über Preise taktisch mehr als unklug, wenn sie: > sofort darauf verweisen, wieviel Preisangebote ähnlicher Produkte sie bereits verglichen hätten und daß ihr Produkt dabei sehr gut abschneidet (statt den Vergleich dem potentiellen Kunden zu überlassen); > dem potentiellen westlichen Partner „vorrechnen" wie sie den Preis für ihr Produkt
kalkulieren
(oftmals ausschließlich
über
die
Kosten,
also:
„Produktionsselbstkosten + soundso viel Prozent Gewinn = Preis"), um zu verdeutlichen, wie preiswert ihr Produkt ist; > anstelle von Preis-Leistungs-Vergleichen reine Preis-Preis-Vergleiche (zwischen ihrer Meinung nach analogen Produkten) anstellen („Unser Produkt ist viel billiger und damit zwangsläufig konkurrenzfähiger als das amerikanische!" Dabei werden häufig Preise genannt, die aus westlicher Sicht abenteuerlich niedrig klingen, und die die berechtigte Frage aufkommen lassen, ob das Produkt vielleicht doch nicht über die Qualität und Eigenschaften verfügt, die man erwartet, oder ob der Preis nicht am Ende doch viel höher liegen wird, weil wesentliche Komponenten, wie z.B. die Transportkosten außer acht gelassen wurden); > der umgekehrte Fall - vom Gewinnstreben beseelt, dem westlichen Partner einen Preis nennen, der dem Weltmarktpreis nur geringfügig nachsteht, ohne jedoch plausibel darlegen zu können, was diesen Preis rechtfertigt und warum der potentielle Kunde dann das rassische Produkt erwerben soll, bei dem er selbst im positivsten Falle zumindest mit Imageproblemen rechnen muß;
Kapitel 2: Kulturelle
Unterschiede
147
> sich von der irrigen Annahme leiten lassen, der Preis sei, ausgehend von der eigenen Situation, auch bei potentiellen westlichen Kunden der primäre Faktor für eine Kaufentscheidung (Damit werden nicht selten andere, aus westlicher Sicht oftmals viel relevantere Faktoren, wie Wartungs- und Serviceleistungen,
Lieferzuverlässigkeit,
Produktionskapazitäten
u.a.
weitgehend unbeachtet gelassen.); > von westlichen Anbietern eine bis ins letzte aufgeschlüsselte Preiskalkulation für ihre Produkte/Leistungen fordern, in der alles, einschließlich Gewinn, Verwaltungsauiwand u.a. explizit ausgewiesen wird (Es ist unüblich mit Pauschalangeboten oder Komplettpreisen zu arbeiten, wodurch der westliche Partner nicht selten irritiert ist. da er annimmt, daß ihn die russische Seite mit ihren beharrlichen Forderungen nach detaillierter Aufschlüsselung indirekt der Unredlichkeit bezichtigt.); > sich in bezug auf Wünsche potentieller westlicher Kunden nach bestimmten Preisnachlässen (Rabatten) wenig flexibel zeigen bzw. diese nicht selten rundweg ablehnen. Auf die Notwendigkeit, sich bei Verhandlungen mit russischen Partnern flexibel zu zeigen, wurde bereits eingegangen. Dies trifft in besonderem Maße für die Preisverhandlung zu. Um zu vermeiden, daß die russische Seite den Eindruck gewinnt, nur sie mache in der Verhandlung Zugeständnisse, empfiehlt es sich, den als Verhandlungsbasis vorgeschlagenen Preis etwas höher anzusetzen. Dem russischen Partner sollte immer die Möglichkeit eingeräumt werden, den Preis mit „auszuhandeln". Verhandlungsspielräume können geschaffen werden, indem man die Preisfrage mit anderen Aspekten des geplanten Geschäftes (z.B. Lieferund Garantiebedingungen) koppelt. Zur Verhandlungstaktik russischer Geschäftspartner kann es auch gehören, angeblich vorteilhaftere Preisangebote der Konkurrenz vorzubringen, um so Druck auszuüben. Es sei dahingestellt, ob es sich um ein tatsächliches oder ein fiktives Preisangebot handelt und ob dieses angeblich günstigere Angebot, sollte es denn wirklich existieren, auch mit dem eigenen Preis vergleichbar ist. Nur durch einen detaillierten Preis-Leistungs-Vergleich lassen sich diese Preisunterschiede relativieren. Westliche Geschäftsleute sollten sich bewußt sein, daß dies von russischer Seite - wie bereits erwähnt - nicht immer klar gesehen wird.
148
Teil 1: Inter kulturelle
Aspekte
„Zeit ist Zeit und Geld ist Geld" - Zum Zeitverständnis im russischen Geschäftsleben nocneuwwh - .niodeü HacMeiuuiub. Wer eilt, macht sich zum Gespött der Leute. Turne edeuib - danuie
öydeuib.
Wer langsam fährt, kommt weiter.
In Rußland sind Begriffe, wie „Zeit" und „Pünktlichkeit" recht dehnbar. Verzögerungen und Verspätungen sind an der Tagesordnung. Kaum eine Theatervorstellung, kaum ein Meeting im Betrieb beginnen pünktlich und kaum ein Flugzeug startet wirklich auf die Minute genau. Wenn eine geschäftliche Unterredung zu einem festgesetzten Zeitpunkt stattfinden soll, so dient dieser als „Orientierungswert" für alle Beteiligten. Ein für westeuropäisches Empfinden „unpünktlicher" Verhandlungsbeginn ist zu erwarten. Was Russen mit stoischer Ruhe hinzunehmen gewohnt sind, kostet gestreßten ausländischen Geschäftsleuten oft die letzten Nerven. Wenn ein Inlandflug von Moskau nach Samara nicht startet, weil die Maschine keinen Treibstoff hat, die Crew „ganz plötzlich erkrankt" ist. oder zu wenig Passagiere für diesen Flug gebucht haben, bleibt nur, sich entweder mit Geduld zu wappnen oder besser gleich eine Zugfahrt einzuplanen. Zeit wird nicht selten als „ein künstlicher Rahmen" aufgefaßt, der dazu gedacht ist, „Leute mehr oder weniger zur selben Zeit an denselben Ort zu bekommen"71. Nicht ganz zu unrecht wird den Russen oftmals, und zwar nicht nur von den Deutschen, ein „polychrones" Zeitverständnis nachgesagt. Selbst im Geschäftsleben ist die Maxime „Zeit ist Geld" nicht als unumstößliche Wahrheit anerkannt. In Rußland gilt nicht selten vielmehr „Geld ist Geld und Zeit ist Zeit", nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil Arbeitskräfte mehr als billig sind, Arbeitszeit so gut wie nichts zu kosten scheint und damit nicht als Kapital angesehen wird. Die etwas lockere Einstellung zum Faktor Zeit macht es mitunter kompliziert, eine geschäftliche Verabredung zu treffen und diese dann auch wirklich zum vorher vereinbarten Zeitpunkt in die Tat umzusetzen. Sekretärinnen kennen den Terminkalender ihres Chefs gewöhnlich nicht, ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, dem Chef mitzuteilen, daß jemand ihn zu sprechen wünscht. Mit der
Kapitel 2: Kulturelle Unterschiede
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Sekretärin eine Terminabsprache in Abwesenheit ihres Vorgesetzten - und sei es unter Vorbehalt - zu treffen, gleicht damit schon einem echten Glückstreffer. Nicht selten ist man gezwungen das „noch-nicht-im-Hause-schon-wieder-wegSpiel" zu spielen - man sollte es nicht persönlich nehmen. Rückrufe durch den russischen Partner oder seine Sekretärin sind durchaus nicht die Regel; sollte es dazu kommen, so kann man dies als mehr als eine bloße Höflichkeitsgeste werten - der Rückruf ist Indiz für ein ernsthaftes geschäftliches Interesse. Ist eine Terminabsprache einmal getroffen, so bedeutet dies noch lange nicht, daß man der Verabredung in Ruhe entgegensehen und sich darauf verlassen kann, daß sie denn auch wirklich stattfindet. Auf Grund vieler nicht vorhersehbarer Unwägbarkeiten ist es in Rußland absolut üblich, eine Terminabsprache kurz vor der eigentlichen Verabredung (am Tag davor oder noch besser am selben Tag) noch einmal telefonisch zu bestätigen, wobei derjenige anruft, der um den Termin gebeten hat, nicht etwa umgekehrt. Ferner gilt zu berücksichtigen, daß es Zeiten gibt, in denen die Abwicklung geschäftlicher Angelegenheiten auf besondere Komplikationen stößt. Dazu gehören Ferienzeiten und Feiertage. So ist es in Rußland so gut wie unmöglich, während der Sommermonate Juli und August kontinuierliche Verhandlungen mit russischen Geschäftspartnern zu führen, da diese Monate Ferien- und damit Haupturlaubszeit sind. Während es früher jedoch ein Leichtes war, nationale Feiertage und Ferienzeiten in der Geschäftsplanung zu berücksichtigen - es genügte ein Blick in den Kalender - ist dies heute mitunter selbst für den sorgfältigsten Planer schlichtweg unmöglich. Zu den ehemaligen Staatsfeiertagen der früheren Sowjetunion (z.B. dem 7./8. November als Tag der Oktoberrevolution), die heute offiziell zwar keine Feiertage mehr, wohl aber (arbeits)freie Tage sind, gesellen sich mit schöner Unvorhersagbarkeit neue offizielle Staatsfeiertage. So fiel der russischen Regierung am Sonntag, dem 10. Dezember 1995 ein, Dienstag, den 12. Dezember (den Jahrestag der Verabschiedung der neuen russischen Verfassung) kurzerhand zum arbeitsfreien Feiertag zu erklären. Als „Saure-Gurken-Zeit" fürs Geschäft sind ferner „die Zeit um das russische Neujahrsfest" (vom
31.12.
Nachdem die Russen am
bis zum
13.01.)
31.12./01.01.
und die erste Maidekade zu nennen.
im Kreise der Familie mit Väterchen
Frost das Neue Jahr begrüßt haben, folgt am 06./07. Januar das russische Weihnachtsfest und am
13.
Januar wird noch einmal Neujahr („CTapwÄ
HOBHH
1 50
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
Foif) gefeiert - nach dem bis zum Jahre 1917 geltenden Kalender alten Stils. Zwischen dem Ol. Mai, dem Tag der Arbeit, und dem 09. Mai, dem Tag des Sieges, tut sich erfahrungsgemäß ebenfalls nicht allzuviel. Die meisten Unternehmen und Behörden machen Betriebsferien, die Menschen sind damit beschäftigt, ihre Datschen für den Sommer vorzubereiten, da gewöhnlich Anfang Mai die ersten warmen Tage des Jahres zu verzeichnen sind. Da es ist nicht nur alles andere als angenehm, sondern zudem auch sehr kostspielig ist, aus geschäftlichen Gründen in ein Land zu kommen, das gerade mit der Vorbereitung unmittelbar bevorstehender Feiertage befaßt ist und in dem niemand ein Ohr für geschäftliche Belange zu haben scheint, sollte man alles daran setzen, Feiertage - soweit möglich - frühzeitig in die Planung einzubeziehen. Eine Besonderheit Rußlands besteht im Zusammenhang mit Feiertagen darin, daß es ziemlich verbreitet ist. bestimmte Feiertage (wie z.B. den 8. März, den Internationalen Frauentag) einen Tag vorher gemeinsam am Arbeitsplatz zu begehen (das Russische kennt dafür sogar ein spezielles Wort „npeflnpa3aHHHHwfi aem>". das etwa so viel wie „Vorfeiertag" bedeutet). Man sollte es also nach Möglichkeit vermeiden, wichtige Verhandlungstermine auf Tage zu legen, die unmittelbar vor einem Feiertag liegen.
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
Kapitel 3
151
Die russische Geschäftsetikette
Die Geschäftsetikette ist Teil der allgemeinen Kultur der Völker und ihrer Beziehungen zueinander; man könnte sie als die spezifische Kultur von Geschäftsbeziehungen bezeichnen. Sie stellt die Gesamtheit von Regeln, Prinzipien, konkreten Kommunikationsformen und sprachlichen Ausdrucksmitteln zur Gestaltung wirtschaftlicher (geschäftlicher) Beziehungen dar. Die geschäftliche Etikette wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflußt, die um so wesentlicher zum Tragen kommen, wenn von einer Geschäftsbeziehung zwischen Vertretern verschiedener Kulturen (interkulturelle geschäftliche Kommunikation) die Rede ist. Solche Faktoren sind: die Persönlichkeiten der in einer geschäftlichen Beziehung agierenden Personen, die Umfeldbedingungen, Charakter und Qualität der konkreten Geschäftsbeziehung u.a. Zu den Hauptprinzipien, die jeglicher Geschäftsetikette unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit zugrunde liegen, gehören Pragmatismus, Zweckmäßigkeit und vor allem Ehrlichkeit und Achtung gegenüber dem Kommunikationspartner. Die Geschäftsetikette durchdringt alle Bereiche des Geschäftslebens. Sie schließt die Befolgung bestimmter kanonisierter Rituale, Kooperations- und Subordinationsverhältnisse - also die dienstliche Etikette im engeren Sinne ebenso ein, wie das Führen geschäftlicher Telefongespräche, Terminabsprachen, die Abwicklung der Geschäftskorrespondenz, die sprachliche Gestaltung von Werbungs-, PR-Maßnahmen und Präsentationen, bis hin zur Verhandlungsfiihrung und Vertragsgestaltung. Zu den Hauptforderungen, denen die geschäftliche Kommunikation zu genügen hat, gehören Sach- und Ergebnisorientiertheit, das Bemühen um Konfliktvermeidung und -lösung u.a.
Die nichtsprachliche (non-verbale) Etikette - die Körpersprache Wer mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu tun hat, kann unerwartete Probleme haben - hervorgerufen durch vermeintlich nichtanaloge Körpersignale, die der andere sendet. Meistens ist es nur ein ärgerliches Gefühl im Unterbewußtsein, das aus unerklärlichen Gründen empfunden wird. In fast allen Fällen liegt die Ursache darin, daß wir körpersprachliche
Signale als
universalgültige Symbole ansehen. Nach B. Birdwhistell gibt es jedoch keinen
152
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
einzigen mimischen Gesichtsausdruck, keine Haltung oder Körperbewegung, die in allen Gesellschaften ein und dieselbe Nachricht übermittelt würden.
2
Nun kann man sicher nicht behaupten, daß Russen in ihrer Körpersprache grundlegend andere Signale aussenden als Deutsche. Gewisse Unterschiede sollten jedoch berücksichtigt werden, da ihre Fehlinterpretation manch gute Beziehung in Frage stellen kann. Am deutlichsten unterscheidet sich offensichtlich das Abstand-Verhalten von Russen und Deutschen. Sie gehen unterschiedlich mit dem Raum, der sie umgibt, um. Diesen Raum unterteilt man in vier Zonen: die Intimzone, die persönliche, die soziale und die öffentliche Zone. Die Intimzone liegt beim Deutschen etwa eine halbe Armlänge vom Körper entfernt. Tritt jemand unerlaubt in diese Zone eines Menschen ein, rückt er ihm „auf die Pelle", wird diese Mißachtung der Intimzone gleichzeitig als Mißachtung der Person betrachtet. Bei der „eingenommenen" Person entstehen Unlustgefühle, innerlich schaltet der Körper auf Abwehr. In anderen Kulturkreisen ist der „erträgliche" Abstand dagegen geringer. Auch in Rußland kann beobachtet werden, daß Menschen oftmals sehr nahe beieinander stehen. Beim Vergleich einer Menschenschlange in Deutschland und in Rußland kann festgestellt werden, daß in Rußland die Leute viel dichter beieinander stehen, ohne sich gestört zu fühlen. Das fuhrt zu der Annahme, daß eine räumliche Annäherung bzw. Berührung nicht unbedingt als Verletzung der Intimzone gewertet wird. Wenn man mit seinem Gesprächs- oder Verhandlungspartner schon gut bekannt ist und man festgestellt hat, daß es Gemeinsamkeiten gibt, wenn sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, kann es durchaus vorkommen, daß der russische Partner beim Abschied seinen Gegenüber (und zwar üblicherweise, jedoch nicht ausschließlich, Männer bei Männern, Frauen bei Frauen) abwechselnd auf die Wangen küßt bzw. seine Wange dreimal an die des Partners drückt. Darüber hinaus gibt es Unterschiede in der Art, Zahlen mit den Fingern anzuzeigen. Will man signalisieren, daß man beispielsweise drei Piroggen haben möchte und das wie gewohnt mit Daumen. Zeigefinger und Mittelfinger anzeigt, kann es passieren, daß man nur zwei Piroggen bekommt, da der Russe grundsätzlich mit dem Zeigefinger zu zählen beginnt. Der Daumen kommt erst bei der Fünf zum Einsatz. Bei Aufzählungen hält der Russe die Hand so, daß die Handfläche zu ihm zeigt. Nun greift er mit der anderen Hand an den kleinen Finger und knickt ihn in die Handfläche, was soviel bedeutet wie „erstens". Bei „zweitens" werden der kleine und der Ringfinger eingeknickt usw. Weitere
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
153
körpersprachliche Besonderheiten betreffen Kleinigkeiten, so z.B. die charakteristische Geste, mit der man anzeigt, daß jemand ein alkoholisches Getränk trinkt oder getrunken hat. Während man im Deutschen das Führen einer Flasche zum Mund imitiert, bildet der Russe einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger, fuhrt diesen seitlich zum Hals und deutet mit einem Wegschnippen des Zeigefingers zur Wangenkante hin die Öffnung des Kreises an. Insgesamt kann man jedoch feststellen, daß es keine ernsthaften Unterschiede in der Körpersprache gibt. Auf gewisse Dinge - wie zum Beispiel den Abschieds(bruder)kuß - sollte man jedoch vorbereitet sein, da eine Ablehnung sehr schroff wirken würde. Üblich ist es im Unterschied zum Deutschen auch, daß Frauen, sofern sie gute Bekannte oder Freundinnen sind, sich zur Begrüßung auf die Wange küssen und auf der Straße eingehakt gehen.
Die sprachliche Etikette Wichtiger Teil der Geschäftsetikette ist die sprachliche Etikette im Geschäftsleben. Sie umfaßt die Einhaltung allgemein-kultureller und kommunikativer Normen, den stilsicheren Gebrauch bestimmter sprachlicher und nicht sprachlicher Ausdrucksmittel, das Vermögen, seine Gedanken klar und logisch in Form von Annahmen, Vorschlägen, Behauptungen, Fragen etc. darzulegen, rhetorische Fähigkeiten und Fertigkeiten u.a. Die Befolgung sprachlicher Etikette im Geschäftsleben basiert auf einer loyalen, von Achtung gegenüber dem Gesprächspartner geprägten Einstellung, auf Höflichkeit, Zurückhaltung und professionell begründeter Selbstsicherheit. Wesentliche Bestandteile der sprachlichen Etikette im allgemeinen und der Geschäftsetikette im besonderen sind verbale und nonverbale Mittel zum Ausdruck von Begrüßung/ Verabschiedung, Anrede, Vorstellung, Glückwunsch, Einladung, Entschuldigung.
Begrüßung und Verabschiedung Die russische Begrüßungs- und Verabschiedungsetikette gehorcht grundsätzlich denselben Regeln, wie die der westeuropäischen Kulturen. „Benimm-Regeln" des Typs „bei der Begrüßung und Verabschiedung nimmt man die Hände aus der
154
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Tasche und die Zigarette aus dem Mund", „derjenige, der den Partner zuerst entdeckt, grüßt zuerst", „der Jüngere grüßt den Älteren, der Mann die Frau, der Rangniedere den Ranghöheren zuerst" usw. haben auch für Rußland volle Gültigkeit. Auch wenn sich verbale und nonverbale Mittel zum Ausdruck der Begrüßung in den einzelnen Kulturen erheblich voneinander unterscheiden können, ist doch allen gemeinsam, daß der zuerst Grüßende durch Form und Charakter der Begrüßung seine Einstellung zum Gesprächspartner ausdrücken und dessen Aufmerksamkeit erlangen will und die Begrüßung somit den Beginn eines konkreten Kommunikationsaktes darstellt. Mit der Begrüßung wird der Boden für die nachfolgende Kommunikation bereitet, schon hier wird „der Geist" eines Gespräches oder einer Verhandlung maßgeblich geprägt. Zu erwähnen wäre, daß eine Begrüßung in Rußland auch heute üblicherweise von einem Handschlag begleitet wird, galt doch der Handschlag schon in grauer Vorzeit als Zeichen von Friedfertigkeit und Freundschaft. Bei einer Begrüßung per Handschlag gebietet es die Höflichkeit, alle in einem Raum Anwesenden in dieser Form zu begrüßen. Auch dem in Westeuropa inzwischen etwas antiquiert geltenden und - wenn überhaupt - so nur noch auf Abendgesellschaften praktizierten Handkuß kann man als Frau im russischen Geschäftsleben bei Begrüßung und Verabschiedung durchaus noch begegnen. An dieser Stelle sei noch ein Wort zum Thema „Bruderküsse" gestattet. Diese im Ausland als „sehr russisch" angesehene, in Filmen, auf Plakaten und anderswo verewigte Gewohnheit ist ein typisches Beispiel für Klischees. Zwar ist es im privaten Umgang miteinander durchaus üblich, Gefühle zu zeigen - so ist der Austausch von Küssen bei der Begrüßung und Verabschiedung von Freunden und guten Bekannten etwas absolut Normales - im Geschäftsleben hat er jedoch keinen Platz. Interessant dürfte in diesem Zusammenhang vielleicht auch sein, daß das Russische, entgegen einer verbreiteten Annahme, keine eigene Entsprechung für die Wendung „mit jemanden Bruderschaft trinken" KCM-JIHÖO
(Ha) 6pyßepmaKacMaa/-biH... + Vor- und Vatersname") zu verwenden. Die gebräuchlichsten sprachlichen Wendungen zum Ausdruck der Anrede sind: IlpocTHTe - Entschuldigen Sie, Verzeihen Sie H'3BHHHTe - Entschuldigen Sie, Verzeihen Sie Eym>Te joöpbi... - Ob Sie wohl so freundlich wären, ... ByflbTe jnoöe3Hbi... - Ob Sie wohl so liebenswürdig wären, ... CKa>KHTC. no/KajiyiicTa. ... - Sagen Sie bitte. ... rocnoflHH ... ! rocno>Ka ... - Herr ... I Frau ... yBavKaevibiH rocnoanH ../ YBa>Kae\ra>r roenoaea .. - Sehr geehrter Herr .. / Sehr geehrte Frau..
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
159
YBaacaeMbie Kojijiera - Sehr geehrte Kollegen ,3,AMBI H rocncwa - Meine Damen und Herren floporae apy3bH - Liebe Freunde
Vorstellung Allgemein gilt für die Vorstellung wie auch für Begrüßung und Verabschiedung, daß die damit verbundene Etikette und deren Ausdrucksmittel weitgehend denen in anderen westeuropäischen Kulturen entsprechen. Die russische Etikette beantwortet Fragen, wie, „wer wird wem zuerst vorgestellt?" oder „wer stellt wen zuerst vor?" genauso wie etwa die deutsche oder englische Etikette. Deshalb soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Uns interessieren vielmehr Aspekte der Vorstellung, die sich beispielsweise vom Deutschen unterscheiden. So werden Frauen bei der Vorstellung, unabhängig von ihrem Alter, wie „höher Gestellte" und „Ältere" behandelt - d.h. man stellt ihr zuerst die Anwesenden vor, danach wird sie vorgestellt. Eine Frau und ein älterer Mann sind dagegen rangmäßig gleichgestellt - das Prinzip kann hier durchbrochen werden. Ist es in Deutschland üblich, sich bei der Entgegennahme eines Telefongespräches namentlich zu melden (also mit der Firmenbezeichnung und/oder dem Familiennamen), so ist dies in Rußland nicht unbedingt der Fall. Anstelle einer Vorstellung bekommt man lediglich ein kurzes „amio?" (Hallo?), „Aa?" (Ja?) oder bestenfalls ein „cjiymaio Bac?" (Ich höre?) zu hören. Ruft man umgekehrt selbst jemanden an. und handelt es sich dabei nicht um das erste Mal, also um jemanden, den man bereits gut kennt, so wird es durchaus nicht als unhöflich gewertet, denjenigen sofort zu verlangen, ohne sich selbst erst ausführlich vorzustellen - also z.B. „Annpea AjieKcannpoBHna MOJKHO, no5Kaji>'Hcra?", (Könnte ich bitte Andrej Alexandrowitsch sprechen?) oder „CßeTjiaHy HnKOJiacBH\. oyjbTe floöpw!" (Ich hätte gern Swetlana Nikolajewna gesprochen). Die „mangelnde Vorstellungsbereitschaft" am Telefon, macht es jedoch mitunter schwer, einen gewünschten Gesprächspartner „an die Leitung" zu bekommen, oder Nachrichten an Dritte zu übermitteln. Eine Vorstellung im Geschäftsleben verfolgt den Zweck, dem Gesprächspartner einen kurzen und knappen Eindruck von der Person des Vorgestellten zu vermitteln, darunter auch solche, über die bloße Nennung des Namens
1 60
Teil 1: Interkulturelle Aspekte
hinausgehende Informationen, wie Dienststellung und beruflichen Hintergrund. Neben der Übermittlung direkter Informationen können durch eine Vorstellung auch indirekte Informationen vermittelt werden. Eine ausführliche direkte Vorstellung kann z.B. Rückschlüsse auf Ziele und Handlungsmotive des Sicherstellenden erlauben; eine indirekte Vorstellung - auf die Beziehung zwischen Vorstellendem und Vorgestelltem. Üblicherweise werden bei einer offiziellen Vorstellung der Name und die Dienststellung des Vorgestellten genannt. Die
gebräuchlichsten
sprachlichen
Wendungen
zum
Ausdruck
der
Vorstellung sind: Pa3peniHTe npeacTaBHTbc«. Mosi {JjaMHjma .... - Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist... Pa3peniHTe BaM npeacTaBHTi» rocnoacy .... I rocnojHna .... - Gestatten Sie mir. Ihnen Frau ... I Herrn ... vorzustellen Pa3peniHTe mmaKOMHTb Bac c rocno>Koii.... I rocnojHHOM .... - Gestatten Sie mir, Sie mit Frau ... I Herrn ... bekannt zu machen. /JaBairre, n03HaK0MHMca. moh (jjaMHjma .... (mch>i 30Byr ....) - Machen wir uns bekannt! Mein Name ist... (Ich heiße ...) 5i xoTeji(a) 6w c BaMH n03HaK0MHTbca. Mo» (JiaMHjina .... - Ich würde mich gern mit Ihnen bekanntmachen. Mein Name ist... MHe
XOTejIOCb 6b[ C BaMH n03HaK0MHTbCJI.
MOH
(J)aMHJlHH ....
- Ich würde mich gern mit Ihnen bekanntmachen. Mein Name ist... npeflCTaBjiaio BaM ..... moio ceicpeTapb / . . . , \ioero ceKpcTap» - Hiermit möchte ich Ihnen ... vorstellen, meine Sekretärin / .... meinen Sekretär. 3 t o ...- moh / mo« Kojuiera - Das ist... - mein Kollege /meine Kollegin. IIpocTHTe,
KaK Barna
(J)aMHJiHa?
Kaie Bac
30ByT?
- Entschuldigen Sie, wie war Ihr (Familien)Name? Wie heißen Sie? IIpocTHTe, KaK Bame hmsi h otmcctbo'' - Entschuldigen Sie, wie war Ihr (Vor)Name und Vatersname? IlpOCTHTe, C K e M fl TOBOpIO?
- Entschuldigen Sie, mit wem spreche ich bitte? Ein geschäftliches Telefongespräch könnte man mit den Worten einleiten: HiBHHHTe, Bac oecnoKOur KOMnaHux
roBopm ....
- Entschuldigen Sie. hier ist die Firma ..., Frau ... / Herr ... am Apparat.
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
161
Glückwunsch Der Glückwunsch ist ein Bestandteil der sprachlichen Etikette, der entweder Elemente eines Kompliments, eines Lobes, der Anerkennung persönlicher Verdienste/Qualitäten des Beglückwünschten oder der Erwähnung eines für ihn wichtigen Ereignisses oder Datums beinhaltet. Der Glückwunsch ist immer an ein konkretes Ereignis oder Datum gebunden. Für den Beglückwünschten ist er ein Indiz für Achtung, persönliches Interesse und eine positive Einstellung des Gratulanten wichtigen
ihm gegenüber. Ereignisses
oder
Umgekehrt Datums
als
kann
das „Verschwitzen"
mangelnde
eines
Aufmerksamkeit, ja
Gleichgültigkeit einer Person gegenüber gewertet werden. In Rußland ist es üblich, daß sich Familienangehörige, Verwandte und Freunde zum Neuen Jahr, zum Geburtstag und zu anderen Ereignissen und Jubiläen im persönlichen Leben, wie Hochzeit, Umzug in eine andere Wohnung, Geburt eines Kindes,
Aufnahme/Beendigung eines
Studiums usw.
untereinander
beglückwünschen. Früher war es zudem üblich, sich auch zu nationalen und internationalen Feiertagen, wie z.B. zum 08. März (Internationaler Frauentag), 01. Mai (Tag der Arbeit), 09. Mai (Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus), 07. November (Tag der Oktoberrevolution) untereinander (z.B. im Betrieb) zu beglückwünschen. Auf Grund der Umbruchsituation, in der sich Rußland gegenwärtig befindet, ist nicht eindeutig zu sagen, wer wem zu welchen Feiertagen noch gratuliert und zu welchen nicht. Zumindest sind der 08. März und auch der 09. Mai Feiertage, an denen man sich auch heute noch gratuliert. Üblich ist es außerdem, den Männern am 23. Februar (ehemals Tag der Sowjetarmee, jetzt Tag der Verteidiger des Vaterlandes und eigentlich „Pendant" zum Vatertag in Deutschland)
zu
gratulieren, auch wenn dieser Tag kein arbeitsfreier Tag ist. Was die „neuen" staatlichen Feiertage, wie den Tag der Verfassung im Dezember oder den Tag der Russischen Föderation im Juni, anbetrifft, so sind sie bislang noch zu wenig ins Bewußtsein eingedrungen, als daß sie bestimmte Gefühle, wie Stolz oder nationale Identität hervorzurufen vermochten, die die Grundlage für allgemeine Akzeptanz bilden und damit für den Wunsch, sich gegenseitig zu beglückwünschen.
162
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
Es ist ferner nicht üblich, sich an religiösen Feiertagen, wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten zu gratulieren. Auch wenn diese Feiertage vor ca. drei Jahren „wiederbelebt" wurden und heute auch begangen werden, so doch ausschließlich als kirchliche Feiertage und nicht als nationale Feiertage, wie beispielsweise in Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern. Auch wenn es bislang in Rußland unüblich ist. als Unternehmen Neujahrskarten an seine Geschäftspartner und an bestimmte Kunden zu versenden, so werden Glückwünsche, die etwa eine ausländische Firma oder eine Niederlassung an ihre Partner und Kunden in Rußland richtet, durchaus positiv aufgenommen. Wenn man als Ausländer seinen Geschäfitspartner(inne)n zu Anlässen, wie Neujahr, dem 23. Februar oder dem 08. März gratuliert, trifft das auf Wohlwollen, zeigt es doch der russischen Seite, daß ihre ausländischen Partner ihnen Interesse entgegenbringen und mit einigen Aspekten ihrer Kultur vertraut sind. In Rußland ist es zudem im Gegensatz zu Deutschland nicht üblich, jemandem nachträglich zu einem Feiertag oder einem Jubiläum zu gratulieren, dafür ist es aber durchaus verbreitet, im vorhinein (also sozusagen „vorträglich") zu gratulieren. Man tut dies mit der Wendung „C HacTvnafomHM npa3,HHHKOM (/¡.hcm po>khchhh. Hobmm rxwxw ...)" also etwa „Zum bevorstehenden Feiertag (Geburtstag, Neuen Jahr ...)". Außerdem ist es unter Russen üblich, jemanden bei der Begrüßung zur Ankunft mit den Worten „C npHcviOM" zu beglückwünschen (unabhängig davon, ob es sich um eine private oder eine geschäftliche Reise handelt). Die
gebräuchlichsten
sprachlichen
Wendungen
zum
Ausdruck
Glückwunsches sind: Mbi ot Bceii avium rroupaBJWCM Bac c HoBbiM Foaom ! / c /Jhcm po>ftacHna! - Wir gratulieren Ihnen herzlich zum Neuen Jahr! / zum Geburtstag! Ilo3flpaBjiaeM Bac c (HacrynaromHM) FIpauHHKOM! - Wir gratulieren Ihnen zum (bevorstehenden) Feiertag! IIo3zipaBJiHeM Bac c ycnexoM! - Wir beglückwünschen Sie zum Erfolg! il xony noijpaBHTb Bac c ... - Ich möchte Ihnen zum ...! zur ... gratulieren - Ich möchte Sie zum . . . ! zur ... beglückwünschen
des
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
1 63
Mhc xoicrcfl noijpaBHTb Bac c ... - Ich möchte Ihnen zum ... / zur ... gratulieren - Ich möchte Sie zum . . . ! zur ... beglückwünschen Pa3peuiHTe noupaBHTt Bac c ... - Gestatten Sie mir, Ihnen zum ... / zur ... zu gratulieren. Il03B0JibTe noupaBHTb Bac c ... - Gestatten Sie mir, Ihnen zum ... I zur ... zu gratulieren. ripHMHTe HaiUH nO'UpaB.lCHH« c ...
- Nehmen Sie unsere Glückwünsche zum ... I zur ... entgegen. oder einfach: C npa'UHHKO.u! -
Zum Feiertag!
C' npHC'SAONf!
Zur Ankunft!
-
>KejiaeM BaM Bcero caMoro .lymicro - Wir wünschen Ihnen das Allerbeste! >Kejiac\i BaM ycnexoB, uopoBta. cnacrba! - Wir wünschen Ihnen Erfolge, Gesundheit und Glück! YcnexoB BaM! - Viel Erfolg! y^a i in!
- Viel Glück!
Einladung Die Einladung ist ein Element sprachlicher Etikette, das dazu verwendet wird, dem Kommunikationspartner einen Vorschlag (sei es zu einem Treffen, zur Aufnahme persönlicher Beziehungen, zwecks Schlichtung eines Konfliktes oder Erzielung einer Vereinbarung) in einer Form zu unterbreiten, die es ihm gestatten soll, diesen anzunehmen oder abzulehnen, ohne Gesichtsverlust zu riskieren. Im Russischen werden geschäftliche Einladungen direkt und offen formuliert und man erwartet eine ebenso direkte Annahme oder Ablehnung einer Einladung. Es empfiehlt sich, in der Einladung neben Ort, Datum und Uhrzeit den Grund oder Vorwand explizit zu formulieren (da es in Rußland nicht üblich ist, beispielsweise mit Kollegen spontan „auf ein Bier" in eine Kneipe zu gehen,
164
Teil 1: ¡nterkulturelle
Aspekte
sind auch kurzfristige Einladungen ohne ausdrückliche Angabe eines Grundes Einladungen des Typs „Wir sollten uns heute abend mal zusammensetzen und sehen, was sich machen läßt" - nicht üblich). Mit dem Aussprechen einer Einladung ist es auch üblich, mitzuteilen, wer noch eingeladen ist. Selbstverständlich gebietet es die Achtung gegenüber einem Geschäftspartner, Einladungen nicht zu kurzfristig auszusprechen und sich zuerst nach dem Terminkalender des Partners zu erkundigen. Auch ist es nicht üblich, solche Zusammenkünfte unter Teilnahme der Ehefrauen abzuhalten (zumindest dann nicht, wenn die Einladung von russischer Seite ausgesprochen wird). Die im Westen häufig vertretene Auffassung, „...daß es für einen russischsprachigen Geschäftspartner eine zusätzliche Motivation bedeuten kann, wenn er dank seiner Position über die Möglichkeit verfugt, die Welt zu sehen und eingeladen zu werden ..,'"73, dürfte mittlerweile nicht mehr den Stellenwert besitzen, der ihr noch immer gern zugeschrieben wird, wie Salacuse sehr treffend beschreibt: „Unterhändler haben sowohl persönliche wie unternehmensrelevante Bedürfnisse. Ein Betriebsleiter aus ... Osteuropa oder Rußland hat auf einer Reise nach Westeuropa Gelegenheit, beides zu befriedigen. Während sie ihm einerseits einen Vertrag für sein Unternehmen einbringen kann, ist sie andererseits auch ein Prestigegewinn, der ihn persönlich aufmöbelt. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Wirksamkeit Ihrer Gastfreundschaft im direkten Verhältnis zum Erfahrungsmangel Ihrer Gäste oder deren Status in ihrer Organisation stehen kann. Eine Einladung nach Westeuropa mag zwar einen russischen Betriebsleiter beeindrucken, sie wird jedoch einen stellvertretenden Minister kaum beeinflussen können" 4. In dem Maße, wie Rußland sich mehr und mehr öffnet und der erwähnte Erfahrungsmangel schrittweise abgebaut wird, werden Einladungen durch westliche Geschäftspartner in Zukunft nicht mehr Bedeutung besitzen als in der internationalen Geschäftswelt üblich. In Rußland ist es ferner nicht eben verbreitet, ernsthafte geschäftliche Belange im Rahmen eines Abend- oder Mittagessens mit Geschäftspartnern im Restaurant zu besprechen. Dies erfolgt vorzugsweise in dienstlichen Räumen. Man sollte auch nicht versuchen, ernsthaft geschäftliche Probleme bei einem Geschäftsessen behandeln zu wollen (schon weil es meistens nicht ohne Alkohol abgeht). Der russische Partner wird sich möglicherweise unter Druck gesetzt fühlen, zumindest aber nicht begeistert davon sein, sich beim Essen mit
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette
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dienstlichen Belangen „herumschlagen" zu müssen. Wenn es sich dennoch empfiehlt, seine russischen Geschäftspartner von Zeit zu Zeit zum Abendessen einzuladen, dann deshalb, weil solche Zusammenkünfte eine gute Gelegenheit bieten, einander näher zu kommen, eine persönliche Beziehung aufzubauen und einen besseren Einblick in ansonsten nicht eben transparente russische Unternehmen und Organisationen zu gewinnen. Wenn man ständig und sehr intensiv mit russischen Partnern vor Ort arbeitet, gilt zu berücksichtigen, daß häufige Einladungen für die russische Seite mitunter nicht unproblematisch sein können, fühlt sie sich doch verpflichtet, die Einladung mit einer Gegeneinladung zu beantworten, die sich dann auf Grund des Mangels an guten und gleichzeitig bezahlbaren Restaurants nicht immer leicht in die Tat umsetzen läßt. Ein besonderer Vertrauensbeweis ist es deshalb, von rassischen Geschäftspartnern zu sich nach Hause eingeladen zu werden. Einen guten Grund für eine Einladung russischer Geschäftspartner bieten neben den üblichen geschäftlichen Anlässen, wie eine Vertragsunterzeichnung, ein Projektstart oder -abschluß oder ein Firmenjubiläum auch die oben genannten Feiertage 23. Februar und 08. März. Für private Einladungen gilt, daß sie absolut zwanglos ausgesprochen werden. Einladungen des Typs: „Komm/Kommen Sie doch mal (auf ein Täßchen Tee) vorbei!" (3axo^n/TC (Ha Hanucy naa)) oder „Schau(en Sie) doch mal rein!" (3anwHH/Te
KO MHC)
sind durchaus ernst gemeint, auch wenn sie vielleicht im
Vorbeigehen oder auf der Treppe ausgesprochen wurden. Sie bedürfen nicht erst der Wiederholung, bevor es sich schickt, sie anzunehmen. Ist man als Westeuropäer (und wohl insbesondere als Deutscher) kein Freund von „unverhofftem" Besuch,
dann
sollte
man
solche
in
deutschen
Ohren
unverbindlich gemeinten Einladungen meiden und lieber einen ganz konkreten Besuchstermin verabreden. Andernfalls muß man davon ausgehen, daß eine mal so eben hingeworfene Äußerung dieser Art von russischer Seite als ernsthafte Einladung aufgefaßt und erfreut angenommen wird, da Russen sich generell sehr gern besuchen und Neuigkeiten austauschen und die ihnen scheinbar von deutscher Seite gebotene Gelegenheit zum näheren Kennenlernen nutzen werden. So hat eine Befragung von insgesamt 100 deutschen und russischen Fach- und Führungskräften verschiedener Branchen7"1 gezeigt, daß 75% der befragten
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Teil 1: ¡nterkulturelle
Aspekte
Russen auf die vielleicht achtlos hingeworfene Aufforderung ihres deutschen Partners „Sie müssen mich unbedingt einmal besuchen kommen!" auch wirklich kämen. Daß es sich hierbei um eine wenig konkrete Höflichkeitsfloskel handeln könnte, wird von 3A der befragten Russen nicht angenommen. Sie sind eher positiv überrascht, daß ein als reserviert und ein wenig unnahbar geltender Deutscher den Wunsch verspürt, einen näheren Kontakt zu ihnen aufzubauen. Die häufige Reaktion auf eine solche „unverbindliche" Einladung ist deshalb: „Vielen Dank! Ich freue mich und komme so bald wie möglich". Dagegen wäre mehr als Vs der befragten Deutschen zunächst sehr skeptisch und würde abwarten, bis die Einladung wiederholt und konkretisiert würde. Diese Skepsis kann durchaus unberechtigt sein, denn Russen nehmen Einladungen dieses Typs durchaus ernst. Sollte der Deutsche eine solche Einladung aus reiner Höflichkeit annehmen, ohne sie jedoch ernst zu nehmen, so kann er seinen russischen Partner damit unter Umständen kränken und sich damit völlig unbeabsichtigt den Ruf einhandeln, oberflächlich, reserviert, ja arrogant (eben „typisch deutsch") zu sein, wobei die eigentliche Ursache für die Trübung der Beziehung ein kulturell bedingtes Mißverständnis ist. Generell gilt für die Einladung, wie auch für den Glückwunsch, daß sie ein besonderes Maß an Taktgefühl verlangt, um die vom Absender angestrebte Kommunikationsabsicht zu realisieren. Die
gebräuchlichsten
sprachlichen
Wendungen
zum
Ausdruck
von
(offiziellen) Einladungen sind: npHrjiamaio Bac B ... / HA ... / KO MHE. - Ich lade Sie in(s)... ein / zu mir ein. Xony npuriiacHTb Bac B ... / Ha ... - Ich möchte Sie zu(m)... einladen. Pa3peinirre MHe npHr.iacmb Bac. - Gestatten Sie mir, Sie einzuladen. ri03B0jibTe MHe npHrnacHTb Bac. - Gestatten Sie mir, Sie einzuladen, Ü NO3BOJNO
ceöe npnrjiacHTb Bac
B ... /
Ha
...
- Ich gestatte mir, Sie in(s)... / zu(m)... einzuladen. He corjiacHTecb JIH
B M ITOHTH C
HaMH ccrojHii BcnepoM
B
pecropaH?
- Wären Sie wohl damit einverstanden, wenn wir Sie einladen, heute mit uns in einem Restaurant zu Abend zu essen?
1 67
Kapitel 3: Die russische Geschäftsetikette He CMO/KeTC jih Bbi npHirra k HaM b tocth? Könnten Sie uns nicht besuchen kommen? He coraacHjiHCb 6 h Bw noirra c h3mh b pecropaH? - Wären Sie damit einverstanden, mit uns ins Restaurant zu gehen?
Pa3peuiHTe npiir;iacHTb Bac ccrojH» BenepoM (b riOHCjenbHHK, Ha cjiCAVfomcii HeACJic) Ha aejiOBOH y>KHH (oöea). Gestatten Sie, Sie für heute abend (Montag, nächste Woche) zu einem geschäftlichen Abendessen (Mittagessen) einzuladen.
Entschuldigung Die Entschuldigung, als Bestandteil der sprachlichen Etikette, dient dazu, einen durch ein Mißverständnis, eine unterbliebene oder nicht adäquate Handlung bzw. Reaktion
gestörten
oder
gefährdeten
Kommunikationsakt
auf
der
Beziehungsebene zu objektivieren. Sie ist ein Ausdruck von Achtung dem Empfanger der Entschuldigung gegenüber und sie bedeutet ein Eingeständnis von Fehlern, Versäumnissen oder Unzulänglichkeiten desjenigen, der sie ausspricht.
Ausdruck
einer
gleichberechtigten
Geschäftspartnern ist nicht zuletzt auch,
Beziehung
zwischen
inwieweit man bereit ist, die
Entschuldigung als Mittel der geschäftlichen Kommunikation zu akzeptieren. Entschuldigungen werden im Russischen in etwa denselben kommunikativsituativen Kontexten gebraucht wie in den westeuropäischen Sprachen, auch wenn sie auf Grund der ziemlich ausgeprägten Angst vor Gesichts- und Autoritätsverlust
einen
geringeren
Stellenwert
im
geschäftlichen
Leben
aufweisen dürften (In einem Lehrbuch über russische Schreibetikette kann man z.B. lesen, daß „Entschuldigungen in Geschäftsbriefen nicht üblich" seien76). Es ist jedoch ein Gebot der geschäftlichen Etikette, sich in Fällen von Terminverzug bei der Realisierung bestimmter Zusagen oder Leistungen dem Geschäftspartner gegenüber zu entschuldigen. Unbedingt entschuldigen sollte man sich auch bei verspätetem Erscheinen (selbst wenn es sich nur um eine minimale Verspätung handeln sollte). Auch wenn Pünktlichkeit in Rußland, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, ein etwas relativer Begriff ist, wird von Ausländern (zumindest aus westeuropäischen Ländern, und da insbesondere von den Deutschen) einfach vorausgesetzt, daß sie
1 68
Teil 1: Interkulturelle
Aspekte
„von Hause aus" pünktlich sind. Bei einer eventuellen Verspätung kann es einem dann schon passieren, daß man erstaunt gefragt wird, wieso man sich verspäte, wo doch „die Deutschen immer so pünktlich" seien. Eine offene und direkte Entschuldigung ist auch angebracht, wenn man aus Unkenntnis der landesüblichen Verhaltensnormen einmal unbeabsichtigt in ein „Fettnäpfchen getreten" sein sollte. Wendungen, wie „5T Hazteiocb, hto bm He OHCHb paccepaiijmcb Ha mchä" (Ich hoffe, Sie sind mir deswegen nicht sehr böse.), „il coßceM hc xotcji Bac ooitaeiV" (Ich wollte Sie nicht beleidigen.) oder: „ripomy H3BHHeHHa 3a 3to aocanHoe HejopaiyMCHHe" (Verzeihen Sie mir das ärgerliche Mißverständnis.) können da durchaus sehr hilfreich sein. Die
gebräuchlichsten
sprachlichen
Wendungen
zum
Ausdruck
Entschuldigungen sind: M iBHHHTC. no>KajiyHCTa. - Entschuldigen Sie bitte, n p o c w r e , no>Ka.iyHCTa
- Ich bitte um Entschuldigung /Verzeihung. Ilpoiiiy npomCHHii 3a ... / 3a to, hto ... - Ich bitte um Entschuldigung / Verzeihung dafür, daß ich ... IIpHHOmy CBOH
HiBHHCHHfl
3a
...
/3a
TO. HTO ...
- Ich bitte um Entschuldigung / Verzeihung dafür, daß ich ... -H aoji/kch /flOJDKHaHiBHHHTbcsi nepe/i BaMH 3a ... - Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen für ... ü JO.T/KCH / JO.T/KHa npHHeCTH BaM H3BHHCHH>[ 3a ...
- Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen für ... rioiBOJibTc / Pa'ipcaiHTc H'SBHHHTbcsi ncpc.-! BaMH 3a ... - Gestatten Sie, daß ich mich bei Ihnen für ... entschuldige. Il03B0JibTe nonpocHTb npoiHCHna y Bac 3a ... - Ich möchte Sie um Entschuldigung / Verzeihung für ... bitten Im Geschäftsbrief sind folgende Wendungen denkbar: IIpHHOCHM H'JBHHCHRH 3a TO, HTO ... - Wir bitten Sie ... zu entschuldigen. IlpHMHTe HaniH H3BHHCHHH 3a ... / 3a TO. HTO ...
- Nehmen Sie bitte unsere Entschuldigung für /wegen ... entgegen.
von
Teil 2 Wissenswerte Hintergrundinformationen über Rußland
Kapitel 1
Politische Rahmenbedingungen
Rußland - eine Transformationsgesellschaft auf dem Weg von der Zentralverwaltungs- zur Marktwirtschaft Die von Gorbatschow eingeleitete Perestrojka-Politik (ab April 1985) zeichnete sich dadurch aus, daß sie die zahllosen Probleme, Schwierigkeiten und Mißstände in der ehemaligen Sowjetunion, die das Leben der Menschen zunehmend erschwerten, und die Ideale, unter denen die Revolutionäre einst angetreten waren, einer kritischen Bewertung unterzog und darüber hinaus den gesamten Staat - ungewollt - einer inneren Zerreißprobe zutrieb, der er schließlich nicht standhalten konnte. Die Perestrojka führte zur Befreiung aus einer Tabuisierung durch die unfähige, von Machtmißbrauch und Korruption gekennzeichnete politische Führung des Landes und zur offenen Thematisierung seiner Probleme. Tragfähige Lösungen konnte allerdings auch sie nicht bieten, da sie das bestehende politische und wirtschaftliche System selbst nicht in Frage stellte. Der mit dem Ende der Perestrojka und dem Zerfall der Sowjetunion (1991) einsetzende Transformationsprozeß von der Zentralverwaltungszur Marktwirtschaft wird von russischen wie westeuropäischen Wissenschaftlern und Publizisten, die nach Parallelen der gegenwärtigen Entwicklung in der russischen Geschichte suchen, wiederholt mit der „Zeit der Wirren" verglichen, einer von Chaos, inneren Machtkämpfen und blutigem Bürgerkrieg gekennzeichneten Periode am Ende des 16./zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Es scheint jedoch weniger eine „Zeit der Wirren" zu sein, die Rußland gegenwärtig durchläuft, als eine Zeit der Ungewißheit, Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit. Auch wenn heute bereits jeder zweite Russe die Marktwirtschaft befürwortet, so sind doch mehr als 80% mit der bisherigen Politik der Regierung unzufrieden. Die in den letzten 70 Jahren gewachsenen Besitzstrukturen wandeln sich drastisch, die soziale Polarisierung dieser jahrzehntelang egalitären Gesellschaft nimmt rapide zu. So betragen die Einkommen der oberen 10% der Einkommensskala heute bereits das Vierzehnfache der Einkommen der untersten 10%7 . Während sich auf der einen
1 70
Teil 2: Hintergrundinformation
Seite eine neue Schicht Wohlhabender und Besitzender herausbildet, wächst auf der anderen Seite der Anteil jener, die zu den Ärmsten der Gesellschaft zu rechnen sind (Rentner, alleinerziehende Frauen, kinderreiche Familien), mit beängstigender Geschwindigkeit. Rußland verfugt einerseits über günstige Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung, - „Rußland hat alle Chancen, sich sozialökonomisch zu stabilisieren und eine moderne Gesellschaft mit angemessenem Lebensstandard zu werden"78 weist jedoch zugleich eine Reihe von Faktoren auf, die diesen Aufschwung bremsen bzw. ernsthaft gefährden können (siehe Tabelle 5). Täuschen die Werbeplakate westlicher Finnen in Großstädten, wie Moskau und Sankt Petersburg auch eine kommerzielle Wiederbelebung, ja einen Aufschwung vor, so drängt sich dem Beobachter doch die Frage auf, ob es sich nicht in Wirklichkeit nur um eine gigantische Entwicklung des Schwarzmarktes handelt. Auch wenn die endlosen Schlangen nach heißbegehrter Mangelware endgültig der Vergangenheit angehören, und die Läden mit Konsumgütern aus aller Herren Länder vollgestopft sind, so hat dieser „Konsumsegen" durchaus seine Schattenseiten: Zum einen fehlt es der Mehrheit der Bevölkerung an der notwendigen Kaufkraft, um diese Waren zu erwerben, zum anderen finden einheimische Produkte nur sehr schwer oder überhaupt keinen Absatz mehr. Die russische Verbrauchsgüterindustrie liegt am Boden, dringend notwendige Investitionen werden so lange auf sich warten lassen, wie Inflation und Rechtsunsicherheit herrschen und allein der Außenhandel riesige Extraprofite verheißt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß der „russische" Wodka zu einem guten Teil aus Deutschland, die Butter aus Neuseeland, die Milch aus Italien und Kleidung aus der Türkei und dem Fernen Osten kommen. Es dürfte wohl kaum eine Analyse der modernen russischen Wirtschaft geben, in welcher der Begriff der „Schattenwirtschaft" nicht eine zentrale Rolle spielt. In der Literatur gibt es eine sehr differenzierte begriffliche Auslegung dieses Terminus. Im folgenden soll unter „Schattenwirtschaft" die „gesamte, nicht durch die offizielle Statistik eines Landes berücksichtigte Wirtschaftstätigkeit verstanden
werden,
deren
Ergebnis
sich
nicht
im
Bruttosozialprodukt
79
widerspiegelt" . Die Unvollkommenheit des Steuersystems, die ungeregelten Eigentumsrechte, das im großen und ganzen unternehmerfeindliche Klima in Rußland oder einfach auch der „rudimentäre" Zustand der Buchhaltung und des Systems der
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Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
Rechnungslegung - all dies hat zur Folge, daß ein großer Teil unternehmerischer Aktivitäten im „Schattenbereich" angesiedelt ist. Einigen Schätzungen zufolge wurden 1994 zwischen 30% und 40%8U der in Rußland produzierten Güter und Leistungen nicht durch die offizielle Statistik erfaßt und demzufolge auch nicht versteuert. Die Schattenwirtschafit weist eine bestimmte Struktur auf, die zum einen jene legale Wirtschaftstätigkeit umfaßt, bei der die erzeugten Güter und Leistungen nicht durch die offizielle Statistik erfaßt werden (z.B. Steuerflucht). Dabei handelt es sich um die sogenannte inoffizielle Wirtschaft. Darüber hinaus sind die fiktive Wirtschaft (also Wirtschaftstätigkeit im spekulativen Bereich, Bestechungen aller Art. illegale Finanztransaktionen usw.) und die illegale (kriminelle) Wirtschaft zu unterscheiden, die alle durch den Gesetzgeber verbotenen Arten von Wirtschaftstätigkeit umfaßt (z.B. Drogen- und Waffenhandel, bestimmte „Dienstleistungen" bzw. jene Wirtschaftstätigkeiten, auf die der Staat das ausschließliche Monopol besitzt oder die ohne Vorhandensein einer erforderlichen Lizenz ausgeübt werden - z.B. die Alkoholoder Arzneimittelproduktion). Ihre Ausmaße sind selbstverständlich sehr schwer zu schätzen. Merkmale der Schattenwirtschaft sind u.a. Steuerhinterziehung, Umgehung von Zollbestimmungen. Schwarzarbeit (illegale Beschäftigung), der Bezug zusätzlicher Zweiteinnahmen aus dem staatlichen Sektor, die Ausübung verbotener Arten von Wirtschaftstätigkeit, Korruption sowie die Geldwäsche illegal erwirtschafteter Gelder. Selbstverständlich handelt es sich bei der Schattenwirtschaft nicht um eine „typisch russische Erfindung". In vielen Volkswirtschaften der Welt hat die Schattenwirtschaft
einen
bedeutenden
(oft
wachsenden)
Anteil
an
der
Wirtschaftstätigkeit. Allerdings bestehen gravierende Unterschiede bezüglich ihrer Ursachen und Folgen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, für Wirtschaftssubjekte und Verbraucher unter den Bedingungen einer entwickelten Marktwirtschaft und einer Transformationsgesellschaft. Während sich in Ländern mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung alle illegalen Formen von Wirtschaftstätigkeit um Finanztransaktionen drehen, die vom Gesetzgeber verboten sind, und sich die „klassische Schattenwirtschaft" vor allem in der Steuerhinterziehung sowie in einer ungesetzlichen Produktions- und Handelstätigkeit manifestiert, lebte die Schattenwirtschaft im Sozialismus vom
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Teil 2:
Hintergrundinformation
Defizit an Waren und Dienstleistungen und gedieh durch die allmächtige Rolle der Bürokratie. Die Schattenwirtschaft unter den Bedingungen der Zentralverwaltungswirtschaft war vor allem eine fiktive Wirtschaft, die sich dadurch auszeichnete, daß > fiktive (d.h. nicht existierende) Waren und Leistungen als real existierendes Bruttosozialprodukt ausgewiesen wurden; > qualitativ minderwertige Waren und Leistungen für hochwertig ausgegeben wurden; > real existierende Waren- und Geldströme sich nicht in der offiziellen Buchhaltung widerspiegelten (Diebstahl öffentlichen Eigentums, „Parallelproduktion". Konsumentenbetrug, illegale Produktion von Waren und Leistungen, Steuerhinterziehung); > ein Umsatz realer Waren (Leistungen) zu maßlos überteuerten Preisen (Spekulation) zu verzeichnen war bzw. > dieser Umsatz innerhalb eines künstlich geschaffenen Kreises privilegierter Konsumenten für eine entsprechende Gegenleistung erfolgte (das „eineHand-wäscht-die-andere-Prinzip", Bestechung, Amtsmißbrauch). Bereits in den 80er Jahren zeigten Untersuchungen westlicher und sowjetischer Ökonomen, daß der „marktfremde" Charakter der Volkswirtschaft der UdSSR und die damit verbundene fehlende Möglichkeit, die natürlichen Konsumentenbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, zur Herausbildung des mächtigsten Netzes illegaler Wirtschaftsbeziehungen in der Welt führte, eines Netzes, das alle Lebensbereiche durchdrang. Eine wesentliche Rolle spielte die Schattenwirtschaft nach Meinung von Experten bereits damals in solchen Bereichen der Volkswirtschaft, wie der Landwirtschaft, dem Handel sowie im Bauwesen und in der verarbeitenden Industrie. Das „Erblühen" der Schattenwirtschaft in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe Rußlands dürfte auf eine Reihe sehr komplexer Ursachen zurückzuführen sein. Eine dieser Ursachen ist zweifellos im Zusammenbruch der traditionellen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Unternehmen und
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
173
Regionen zu suchen, der als eine Begleiterscheinung der Liquidierung des Staatseigentums anzusehen ist. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt auch der halbherzig geführte Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität - nicht selten mit der Begründung legitimiert, auf diese Weise Kapital aus der Schattenwirtschaft für die Fortführung der Wirtschaftsreformen aktivieren zu wollen. Von wesentlicher Bedeutung sind in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe der Reformen auch die sich neu formierenden Mechanismen der Ressourcen- und Machtverteilung sowie die neuen Distributionsbeziehungen. Grundlage der Schattenwirtschaft ist der Finanzsektor, der eine Schlüsselposition einnimmt. Der erste Anstoß für die Entwicklung der Schattenwirtschaft wurde lange vor den Reformen J. Gaidars gegeben. In der administrativen Kommandowirtschaft existierte eine praktisch unüberwindliche Barriere zwischen dem Bargeldumlauf und dem bargeldlosen Zahlungskreislauf. Bargeldlose Mittel „flüssig zu machen" war nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen, nach strengen Vorschriften und unter hoher Besteuerung möglich. Der umgekehrte Weg - der Transfer von Bargeld auf Konten - war noch strenger reguliert, was die Geldwäsche hinreichend kompliziert machte. Mit der Entwicklung der Kooperative und der kleinen Unternehmen als neue Form des Unternehmertums und mit der Annahme des Gesetzes über den Betrieb im Jahre 1987 wurden die Barrieren zwischen Bargeldumlauf und bargeldlosem Zahlungsverkehr liquidiert. Damit war erstmals eine direkte Möglichkeit gegeben, nahezu unbegrenzte Summen von Unternehmenskonten und Institutionen „in den Schatten" zu überführen und unkontrolliert zweckgebundene Investitionsmittel „abzuzwacken". Rußland
dürfte
wohl
einmalig
in
der
Welt
sein,
was
die
„Akquisitionsaktivitäten" einschlägiger Strukturen betrifft, die in der Presse „interessierte Kunden" mit
Anzeigen
des Typs „Bieten
Bargeldtransfer
unbegrenzter Rubel- und Valutasummen gegen minimale Gebühr auf beliebiger vertraglicher Grundlage" nur so umwerben. Anfangs beschäftigten sich mit derlei
Operationen
nur
Strukturen,
die
einen
schwer
kontrollierbaren
Bargeldumlauf hatten (hauptsächlich der Straßenhandel). Danach nahmen sich zunehmend auch die Banken dieser lukrativen Geschäftstätigkeit an, indem sie Mittel auf Unternehmenskonten „flüssig" machten. Es ist sicher kein Zufall, daß der Beginn dieser Finanztransaktionen zeitlich mit einer sprungartigen Zunahme
174
Teil 2: Hintergrundinformation
der Inflation einhergeht - unter den Bedingungen fester Preise, leerer Regale in den Geschäften und einem Aufblühen des Schwarzmarktes. Parallel dazu entwickelten sich die Möglichkeiten für den Transfer von Bargeld in bargeldlose Aktiva. Bargeld beliebiger Herkunft konnte für ein bestimmtes Entgelt in respektable Kontobestände verwandelt werden. Dies war eine direkte Möglichkeit,
auch
die
„schmutzigsten"
Einkünfte
reinzuwaschen.
Verständlicherweise verschwand in den sich auftuenden Schlupflöchern so gut wie alles: zweckgebundene Kredite und Anleihen ebenso, wie Bargeldbestände beliebiger Herkunft und in beliebiger Höhe. Die anschließend geschaffene Möglichkeit, legal, ohne offiziellen Herkunftsnachweis, und in unbegrenzter Höhe Rubel in Valuta zu konvertieren, „vollendete" die finanzielle Konstruktion und
schuf leicht zugängliche und
zudem völlig
legale Wege für den
unbegrenzten Kapitalexport. Wiederholte Versuche, dem beispiellosen Chaos im Finanzsektor Einhalt zu gebieten (etwa durch das Verbot zur Führung mehrerer Parallelkonten,
durch
die
Beschränkung
des
maximal
zulässigen
Kassenbestandes in Unternehmen und Organisation, durch die Einführung der Pflicht zur Arbeit mit Registrierkassen im Handel oder durch die Verschärfung der Bestimmungen über die Rechnungslegung bei Valutaoperationen) blieben absolut ergebnislos. In den letzten fünf bis sechs Jahren haben sich mächtige Gruppierungen herausgebildet, die über immensen Einfluß verfügen und deren unmittelbare Interessen in der Sphäre des Geldumlaufs selbst lokalisiert sind oder aber über den Geldumlauf realisiert werden. So ist es schlichtweg unmöglich, „den Geist, den man rief, in die Flasche zurück zu jagen", - und es wird auch von niemandem
ernsthaft
angestrebt.
Im
Gegenteil,
unter
dem
Deckmantel
dringender Investitionserfordernisse und der Notwendigkeit zur Unterstützung traditionell schwach entwickelter Bereiche (typisches Beispiel hierfür ist der Agrarsektor), werden Konstruktionen geschaffen, die ihrer Form nach staatliche Investmentgesellschaften sind (Fonds. Konsortien, Projekte etc.), über die in Wirklichkeit
jedoch
Haushaltsmittel produzierende
die
weitere
Überführung
staatlicher
Kredite
„ins Abseits" abgewickelt wird. Bereits heute kann Teil
der
Schattenwirtschaft
nicht
mehr
ohne
die
und der oben
beschriebenen Finanzkonstruktionen existieren. Ein weiterer Faktor, der die Zunahme und Festigung von Schattenstrukturen in der russischen Wirtschaft durchaus förderte, war die Privatisierung, bei der - wie
175
Kapitel I: Politische Rahmenbedingungen
viele Beispiele verdeutlichen - mit zweierlei Maß gemessen wurde, da neben den allgemeingültigen
Gesetzesvorschriften,
wie
dem
„Gesetz
über
die
Privatisierung" (1991) und verschiedenen Präsidentenerlassen, eine ganze Reihe lokaler Sonderregelungen für einzelne Bereiche galten. Ein typisches Beispiel hierfür ist der Bereich für Wärme- und Energieerzeugung, der TEK (Tenjio3HEPRETHHECKHH KOMTUICKC),
insbesondere der Öl-Gas-Komplex. Die in diesem
Bereich geltenden Sondervorschriften für die Privatisierung schufen geradezu ideale Voraussetzungen für die Formierung des mächtigsten (und profitabelsten) Monopolbereichs in der russischen Wirtschaft. Es mangelt nicht an Erklärungsversuchen und Schuldzuweisungen für die in der gegenwärtigen
Transformationsperiode
real
auftretenden
wirtschaftlichen
Schwierigkeiten des Landes. Sie werden von den verschiedenen politischen Strömungen unterschiedlich interpretiert und entweder mit dem „Überleben unverbesserlicher
Elemente"
des
früheren
Systems
(„Sabotageakt
der
Kommunisten!") oder aber mit dem „Unglück", das der „kapitalistische" Markt über Rußland hereinbrechen ließ, erklärt. Eine der wichtigsten Ursachen für die Entfaltung der Schattenwirtschaft in der Transformationsperiode ist jedoch in den sich herausbildenden Mechanismen der Ressourcen- und Machtverteilung zu suchen. In dieser Beziehung haben beide Parteien recht, sowohl diejenigen, die für die krisenhafte Entwicklung den Markt verantwortlich
machen
(da die Marktmechanismen
der Regulierung
der
Wirtschaft bislang nur unzureichend funktionieren), als auch jene, die auf die „Muttermale" des Sozialismus verweisen (die Überwindung des alten Systems ist besonders im Bereich des Humankapitals ein langwieriger Prozeß). Jedoch existiert bereits heute ein grundlegend neuer Zustand der Gesellschaft und der Wirtschaft,
bei
dem
die
unternehmensgebundenen
Mechanismen
(monopolistischen)
einer
lokalen
Regulierung
und
eine
einer
qualitativ
größere Rolle spielen als im früheren System der Dominanz bürokratischer Planung und auch als im modernen, vom Markt dominierten Kapitalismus. Gewöhnlich wird dieser Zustand als Übergangszustand gewertet, wobei sowohl eine forcierte Fortsetzung des Weges zu einer funktionierenden Marktwirtschaft als auch ein „Hängenbleiben" am gegenwärtig erreichten Punkt erscheinen
(eine
Umkehr
des
Reformprozesses
scheint
dagegen
möglich wenig
wahrscheinlich). Im Falle eines Hängenbleibens, eines „Weiterwursteln(s) in einem demoralisierten, instabilen Umfeld könnte allerdings ein Nährboden für extremistische, autoritäre Tendenzen entstehen" 81 .
1 76
Teil 2: Hintergrundinformation
Der gegenwärtige Entwicklungszustand der russischen Wirtschaft unterscheidet sich qualitativ (hinsichtlich seiner Subjekte, Objekte, Ziele und Inhalte) sowohl von der Zentralverwaltungswirtschaft als auch von der Marktwirtschaft mit ihrer weitreichenden Selbstregulierung. Das Wesen dieses spezifischen Regulierungsmechanismus besteht darin, daß einzelne Subjekte des Wirtschaftssystems die Möglichkeit erhalten, bewußt monopolistischen Einfluß auf das wirtschaftliche und (letztlich auch soziale) Leben ganzer Regionen zu nehmen. Die Haupterscheinungsform dieses Mechanismus in der Transformationsperiode der Wirtschaft ist der beherrschende Einfluß pseudo-staatlicher und pseudoprivater Strukturen, unter dem sich das System der Proportionen (z.B. die Dominanz des Superkonzerns TEK und der Zusammenbruch der einheimischen Leichtindustrie), die Preisdynamik (z.B. die Preisschere zwischen den Produktionsselbstkosten in der Landwirtschaft und den Endverbraucherpreisen) aber auch das Finanzsystem (z.B. die allgemeine Zahlungskrise) erweisen. Im Ergebnis dessen entsteht eine Wirtschaft, die in entscheidendem Maße durch den nichtökonomischen Wettbewerb monopolisierter bürokratischer Strukturen (Clans) reguliert wird. Zu den wichtigsten Folgen der neuen Ressourcen- und Machtverteilung gehört die Polarisierung der Volkswirtschaft in Bereiche mit starker und schwacher Monopolisierung. Bereiche mit starker Monopolisierung zeichnen sich aus durch: > eine Konzentration von Monopol-Unternehmen, (Monopolisten bezüglich der Stellung am Markt, des technologischen Niveaus und des „institutionellen" Charakters ihrer Organisationsstruktur); > eine Konzentration der wichtigsten Umlaufmittel sowie durch eine > bürokratische Machtkonzentration. Zu diesem Bereich gehören der TEK, der Handels-und Finanzsektor und Teile der Industrie. Diese Branchen erwirtschaften enorme Extraprofite. Dank der Machtposition des jetzigen russischen Premiers kann beispielsweise der Erdgaskonzern GASPROM, dessen Generaldirektor Tschernomyrdin früher war, sein Gas so gut wie zollfrei exportieren und damit phantastische Gewinne
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
177
erwirtschaften. Ähnlich ist die Situation beim Export von Erdöl, bei Walzaluminium, Stahl, Zement, Kupfer und Düngemitteln, die - seitdem 1993 ca. 40 Firmen 82 illegale Exportlizenzen erhielten - in Rußland absolute Mangelware sind. Auch wenn die Exportlizenzen 1994 auf Drängen des Weltwährungsfonds abgeschafft wurden, so wird der Export der strategischen Rohstoffe heute durch „autorisierte Spezialexporteure" abgewickelt, die eigens von der Regierung damit beauftragt wurden. Der Exporterlös aus dem Rohstoffhandel betrug 1995 rund 75 Milliarden Dollar83 - bei gleichzeitig leeren Staatskassen. Die Gewinne fließen heute Privatfirmen und Privatleuten zu, die früher Außenhandelsfunktionäre oder Direktoren der Staatsbetriebe waren, cleveren Jungkaufleuten, Mafiosi oder Personen mit guten Beziehungen. Die Steuerbelastung für gesetzestreue Unternehmen ist horrend und kann jedem Unternehmer die Lust auf ein geschäftliches Engagement gründlich vergehen lassen, - gleichzeitig läßt der Staat es zu, daß Milliarden aus Zolleinnahmen unterschlagen werden können. Der zweite, der nichtmonopolisierte Bereich der Volkswirtschaft, zeichnet sich durch ein niedriges Konzentrationsniveau in den oben beschriebenen Parametern aus. Dazu gehören große Teile der Verbrauchsgüterindustrie, der Landwirtschaft, des Dienstleistungssektors u.a. In der Praxis ist bei der Preisbildung, Finanzierung, Kreditierung u.a ein beharrlicher Drang in Wirtschaftszweige mit starker Monopolisierung zu verzeichnen. Ursache dafür ist zum einen der Monopolismus an sich (bestimmte Vorteile
am
Markt),
zum
anderen
jedoch
eine
Verschiebung
der
Machtkonzentration in diesen Bereich und damit eine „Institutionalisierung" der Überlegenheit gegenüber den nichtmonopolisierten Bereichen. Im Ergebnis der beschriebenen Polarisierung entstehen: > hyperprofitable Bereiche, wie sie in einer funktionierenden Marktwirtschaft kaum zu finden sein dürften; > bürokratische Clan-Strukturen, deren Machtkämpfe anstelle der staatlichen Regulierung; > Wettbewerbsstrukturen, die wesentlich auf politischer Macht (und nicht auf wirtschaftlicher Stärke) basieren;
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Teil 2: Hintergrundinformation
> Tendenzen zur Spaltung der Gesellschaft in zwei ungleiche Teile (diejenigen, die im privilegierten, stark monopolisierten Sektor arbeiten und jene, die im krisengeschüttelten nichtmonopolisierten Sektor der Wirtschaft tätig sind); > Verteilungskämpfe (Kämpfe um die Umverteilung der extrem divergierenden Einkommen); > Tendenzen zunehmender Umverteilungsprozesse.
sozialer
Instabilität
infolge
dieser
aktiven
Der öffentliche und private Sektor sind in Rußland auf das engste miteinander verflochten. Durch direkte und indirekte Subventionen, die weitaus häufiger auf persönlichen Beziehungen als auf einer gezielten Strukturpolitik des Staates basieren, greift der Staat auf mannigfaltige Weise in den sich entwickelnden Wettbewerb ein. Es ist durchaus keine Ausnahme, wenn Gesellschafter und Mitarbeiter neu gegründeter privater Firmen zugleich Angestellte in staatlichen Behörden oder Instituten sind, wenn sie Gebäude, Rohstoffe, Materialien, Ausrüstungen und Anlagen, ja die gesamte Infrastruktur dieser staatlichen Einrichtungen (bis hin zur Wasser- und Energieversorgung) zu „Sondertarifen" oder gänzlich kostenlos - nutzen können, ohne daß auch nur eine formale vertragliche Regelung bestünde. Zu einer völligen Verwischung des realen Bildes bestehender Eigentumsrechte, zur faktischen Verschmelzung der Eigentumsformen, kam es im Zuge der Privatisierung. Nach gut fünf Reformjahren ist es unmöglich, eine klare Abgrenzung zwischen staatlichem und privatem Sektor der Wirtschaft vorzunehmen. Für die fließenden Grenzen zwischen beiden gibt es mindestens zwei Ursachen. Bis in die allerjüngste Vergangenheit spielten „organisierte" Formen der Privatisierung eine untergeordnete Rolle. Entweder wurde eine bereits vorher vorgenommene Umverteilung nachträglich legalisiert oder es wurde auf dem Wege der Massenprivatisierung der Boden für eine nachfolgende sekundäre Eigentumsumverteilung bereitet. Darüber hinaus existierte ein mannigfaltiges Spektrum „spezifischer" Formen zur Herausbildung des privaten Sektors, die von offenem Raub (Bereicherung eines Teils der Bevölkerung durch illegale Umverteilung staatlichen Eigentums) bis hin zu legalen Transaktionen (wie der Schaffung von Finanzholdings, Konglomeraten, halbstaatlicher Banken und anderer Finanzstrukturen, die die Entstehung paralleler Geld- und Kapitalmärkte förderten) reichten.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
179
Wie bekannt, wurde 1991 der Versuch unternommen, das Parteivermögen der KPdSU ausfindig zu machen. Dieses Unterfangen verlief ergebnislos. Die Hauptursache dürfte darin zu suchen sein, daß mit dem Parteivermögen bereits die
leistungsfähigsten
kommerziellen
Strukturen,
darunter
eine
Reihe
renommierter Banken und Joint-venture, geschaffen worden waren. Allem Anschein nach haben die neue Wirtschaftselite und die politische Führung eine entsprechende „Übereinkunft" getroffen. Die völlig offene Verfilzung von Wirtschaft und Staat („K0pn0parnBH0CTi>") ist zugleich das Hauptmerkmal dieser neuen, durch Entscheidungen „von oben" geschaffenen Strukturen. Alle weiteren, die Privatisierung innerhalb dieser Strukturen betreffenden Vorgänge, liefen hinter verschlossenen Türen ab und entzogen
sich
vollständig
einer
hypermonopolistische
Strukturen
(Aktiengesellschaften
mit
öffentlichen
geschaffen, die
Holdingcharakter,
wie
Kontrolle. aus
Es
wurden
Muttergesellschaften
RAO
GASPROM,
AO
ROSGASIFIKAZIJA, AO ROSNEFT. insgesamt 12 großen Ölgesellschafiten) und einer Reihe von Tochterunternehmen bestehen, die nach dem territorialen und produktionstechnologischen Prinzip auf der Basis einer administrativen Koordination vereint sind, wobei die Aktienmehrheit (38-51%) 84 in der Holding konzentriert
ist.
Nach
Abschluß
der
primären,
mit
Hilfe
der
Privatisierungsschecks vollzogenen. Aktienemission begann eine sehr intensive Umverteilung, bei der diese monopolistischen Strukturen unter Verletzung aller allgemeinen gesetzlichen Grundlagen der Privatisierung das Recht erhielten, die eigenen Aktien aufzukaufen (Trustbildung). Der Beginn der Registrierung und der öffentliche Verkauf der Aktien verzögerten sich, wobei der Anschein von Börsennotierungen auf jede nur erdenkliche Weise aufrechterhalten wurde. Wenn man berücksichtigt, daß der Gesamtwert von GASPROM mit 200 - 700 Mrd. $ 85 geschätzt wird (genaue Angaben sind nicht bekannt), so wird klar, welch enormes lobbyistisches Interesse Beamte und Management daran hatten, eine Öffnung dieser monopolistischen Strukturen um jeden Preis zu verhindern. Die einfachste und zugleich am weitesten verbreitete Methode der Privatisierung staatlicher Aktiva und sozialer Fonds war das sogenannte „Melken der Kreditkuh". Diese Methode funktionierte in etwa so. daß die Zentralbank Rußlands
einem
notleidenden
Unternehmen
einen
Liquiditätskredit
zu
Vorzugskonditionen gewährte (zu einem für Rußland extrem günstigen Zinssatz von 25%), meistens, damit das Unternehmen ausstehende Löhne und Gehälter auszahlen konnte. Das Geld wurde sofort nach Eingang bei einer der
180
Teil 2: Hintergrundinformation
Geschäftsbanken, die mit dem Unternehmen „besondere Beziehungen" unterhielt, zu Marktbedingungen angelegt (zu Beginn des Jahres 1994 konnte die so angelegte Summe mit 250% p.a. verzinst werden, zum Ende des Jahres 1994 mit immerhin noch 120-130% p.a.)86. Der bei solcherart Transaktionen „erwirtschaftete" Gewinn wurde von der Leitung des Unternehmens und den beteiligten Bankangestellten auf Konten in Offshore-Banken überwiesen. Zu einer der Hauptrichtungen der „Wirtschaftstätigkeit" wurde die Gewährung ungesetzlicher Vergünstigungen für „nahestehende" kommerzielle Strukturen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1993 wurden Vorzugskredite in Höhe von 6,5 Trillionen Rubel (bezogen auf das Gesamtjahr 1993) eingeräumt, 1994 noch einmal 4,4 Trillionen Rubel - während gleichzeitig der Staatshaushalt ein Defizit von über 30% gegenüber der geplanten Größe aufwies*7. Damit wird deutlich, warum die wieder und wieder von der Zentralbank Rußlands gewährten Kredite weder zur Stabilisierung der Finanzlage beitrugen noch zu einer Effizienzsteigerang der russischen Unternehmen führten. Der Privatisierungsprozeß begann in Rußland nicht im Juli 1992, wie in den meisten offiziellen Materialien angegeben, sondern viel früher, nämlich bereits 1987 mit der Gründung der sogenannten kleinen Kooperative, die sich in der Mehrzahl in den staatlichen Industriebetrieben und unter direkter Beteiligung dieser Betriebe gründeten. Die Schaffung kleiner Kooperative war eine juristisch sehr bequeme Form zur „Überleitung" staatlicher Mittel in private Hände. Eines der populärsten Modelle bestand darin, innerhalb eines Unternehmens ein Kooperativ zu gründen, zu dessen Gesellschaftern sowohl das Unternehmen selbst als auch eine Reihe natürlicher Personen gehörte. Das Unternehmen brachte als Stammeinlage in der Regel seine Produktionsflächen, Anlagen und Ausrüstungen etc. ein. Nach einiger Zeit trat das Unternehmen als Gesellschafter aus, wobei es das Recht hatte, die dem Kooperativ zur Verfugung gestellten Maschinen und Anlagen entsprechend ihrem Restwert zu verkaufen oder sie ihm gar durch Schenkung zu übereignen, die Produktionsflächen konnten zu „Vorzugskonditionen" weiter angemietet werden. Gesellschafter der Kooperative waren von nun an ausschließlich natürliche Personen, zu denen in der Regel leitende Angestellte des Unternehmens selbst oder aber von ihm ausgewählte Vertrauenspersonen zählten. Ein Teil der Mitarbeiter des Unternehmens kündigte auf eigenen Wunsch und wechselte in das Kooperativ. In bestimmten Bereichen des Unternehmens entstand Personalmangel. Um eingehende Aufträge
Kapitel 1: Politische
Rahmenbedingungen
181
abwickeln zu können, war das Unternehmen von nun an nicht selten gezwungen, Subaufiragnehmer zu betrauen - was lag näher, als diese Aufträge an das im Unternehmen ansässige Kooperativ zu vergeben? So geschah es, daß die Unternehmen fiir die Erfüllung von Aufträgen nicht selten doppelt löhnen durften - einmal den „eigenen" Angestellten und zum zweiten (teilweise denselben) Personen als Mitarbeiter oder Gesellschafter des Koopcrativs, wobei die Produktion für die Kooperative weitgehend „kostenfrei" war - sie wickelten diese Aufträge in der Arbeitszeit, mit dem Material und den Maschinen des Unternehmens (also des Auftraggebers!), in seinen Räumlichkeiten, mit seiner Energie und - selbstverständlich -steuerfrei ab. Die
Massenprivatisierung
wurde
in
Rußland
in
einem
Rekordtempo
durchgeführt. Bereits Anfang Juli 1994 waren im Land ca. 70% aller Industrieund Dienstleistungsunternehmen privatisiert 88 . Viele Anhänger der Reformen werten das wahnwitzige Privatisierungstempo als Indiz für den Sieg der Reformen in Rußland. Es ist allerdings notwendig, neben den quantitativen Kennzahlen auch einige qualitative Aspekte näher zu beleuchten. Bestimmten Angaben zufolge tendieren die Einnahmen aus der Privatisierung ungefähr der Hälfte aller staatlichen Strukturen annähernd gegen Null. Zugleich ist in den Jahren der Privatisierung die Industrieproduktion Rußlands ungefähr um das Zweifache zurückgegangen (wobei es sich zum großen Teil um die Rüstungsindustrie sowie um nahe mit ihr verwandte Bereiche, wie z.B. den (Schwer)Maschinenbau handelte). Die notwendige Entflechtung des staatlichen Eigentums wurde zugleich zu einer Quelle für die Kriminalisierung der Wirtschaft. In der Anfangsetappe herrschte die verbreitete Vorstellung, daß eine einfache Liberalisierung
der
Wirtschaftstätigkeit
hinreichend
wäre,
um
staatliche
Unternehmen in vollwertige Wirtschaftssubjekte unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu verwandeln und somit auch die Hauptprobleme der sozialökonomischen Transformation zu lösen. Die Umsetzung dieser Idee in Gestalt der Einführung der „völligen wirtschaftlichen Selbständigkeit" (xo3pacneT) hat dazu geführt, daß ihrem Umfange nach kolossale Aktiva, die formal noch dem Staat gehörten, sich plötzlich faktisch über Nacht als „herrenlos" erwiesen. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß geradezu ideale und darüber hinaus legale Bedingungen für eine Verschleuderung des staatlichen Eigentums durch die
verschiedenen
Wirtschaftssubjekte
geschaffen
wurden
-
durch
182
Teil 2: Hintergrundinformation
Unternehmensleitungen. Belegschaften, den sich herauskristallisierenden privaten Sektor. Gemäß dem Prinzip, daß „Gelegenheit Diebe mache", wäre es mehr als seltsam, hätte eine solche Situation nicht zur Freisetzung einer enormen kriminellen Energie geführt. Das „marktfeindliche" Verhalten der „freigelassenen" Unternehmen lieferte wiederholt den Beleg dafür, daß ein effektiver Marktmechanismus nicht auf der Grundlage staatlicher Unternehmen geschaffen werden kann. Also wurde Kurs genommen auf eine Massenprivatisierung über die Privatisierungsschecks (Voucher), wobei eine Reihe von Mechanismen zur Anwendung kam, die eine gleichmäßige Verteilung der Eigentumsrechte auf die Bevölkerung (und damit eine Verteilung des Volkseigentums nach dem Gießkannenprinzip) möglichst verhindern sollten. Dazu zählte die Liquidität des Vouchers selbst, aber auch weitgehende Unklarheit über die überhaupt zur Privatisierung anstehenden staatlichen Aktiva. Auf diese Weise sollten die Voraussetzungen für die Akkumulierung des für die zweite Etappe der Privatisierung erforderlichen Kapitals geschaffen werden. Es entstand eine Situation, die es den (im Ergebnis der ersten Etappe der Privatisierung) „frisch gebackenen" Kapitaleigentümern ermöglichen sollte, anschließend jenen Teil des gesellschaftlichen Eigentums zu „erwerben", der bei der mehr oder weniger willkürlichen Umverteilung im Zuge der ersten Etappe „übriggeblieben" war. Es ist demzufolge nicht verwunderlich, daß die Wirtschaftskriminalität in Rußland
im
Zuge
der
Voucher-Privatisierung
erheblich
zunahm.
Nichtsdestotrotz ist ein bedeutender Teil der betrieblichen Anlagevermögen (einigen Schätzungen zufolge bis zu 60%)89 formaljuristisch noch immer staatliches Eigentum. Dieses Eigentum im „herrenlosen" Zustand zu belassen bedeutet, eine mächtige Basis für die weitere Kriminalisierung der Wirtschaft zu schaffen und das Verhalten aller Wirtschaftssubjekte zu deformieren. Das Fehlen eines wirklichen Eigentümers für dieses Eigentum führt dazu, daß die konstruktive Basis der wirtschaftlichen Prozesse vollends verloren zu gehen droht. Die Kriminalisierung ist dabei nur eine - wenn auch die offensichtlichste Erscheinung. Die gegenwärtige Situation mit dem Staatseigentum ist zugleich Hauptfaktor für die fortschreitende Kriminalisierung des Wirtschaftslebens und Haupthindernis auf dem Weg zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. Daraus ergibt
sich
genügenden
die
Notwendigkeit,
einen
Regulierungsmechanismus
staatlichen Eigentums zu entwickeln.
marktwirtschaftlichen
für einen
großen
Teil
Prinzipien des
noch
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
183
Schwerwiegende Folgen hat der Verlust der staatlichen Kontrolle über den Energie- und Rohstoffsektor. Im Prinzip wurde zugelassen, daß ein riesiges Vermögen (welches zu großen Teilen rein formal auch heute noch dem Staat gehört) völlig unkontrolliert von einem sehr engen Personenkreis verwaltet wird, der an der Spitze der jeweiligen Gesellschaften steht. Besonders negativ wirkt sich dabei aus, daß diese Personen, da sie nicht formale Eigentümer dieser Aktiva sind, an einer langfristigen Entwicklungsperspektive für den genannten Bereich nicht
sonderlich
interessiert
sind und vorrangig
ihren
eigenen
kurzfristigen Vorteil im Auge haben. Kennzeichnend für die Massenprivatisierung war zudem die Verschleuderung staatlichen Eigentums zu „Schnäppchen-Preisen". Nach Angaben der Bank „C.S.
First
Boston"
veräußern
russische
Ölgesellschaften
erschlossene
Vorkommen beispielsweise für nur 4 Cent je Barrel des aus der jeweiligen Lagerstätte
förderbaren
Öls,
was
um
ein
Vielfaches
unter
dem
nordamerikanischen Preis von 7.06 $ je Barrel liegt. Telefongesellschaften werden für 116,62 $ je Leitung „veräußert" - ein Bruchteil der in Nordamerika üblichen 637 $ oder der 2083 $ in Ungarn. Nach Aussagen eines Mr. Jordans, seines Zeichens Vertreter der genannten Bank, kostet eine Gesellschaft des Typs „Energieverbundnetze", mit einer vergleichbaren Leistungskapazität, in den USA ungefähr 49 Mrd. $ und in Mitteleuropa mehr als 30 Mrd. $. In Rußland wurde sie für ganze 200 Mio. $ verkauft - d.h. für weniger als 1 % ihres realen Wertes 90 . Ähnlich stellt sich die Situation beim Verkauf von Unternehmen an einheimische Investoren dar. Zum selben Preis, nämlich für 3 Millionen $, waren beispielsweise das Motel „Olgino" in St. Petersburg und die Murmansker Hochseetrawler-Flotte „zu haben" 91 . Völlig bewußt wurde ein freier Handel mit den Privatisierungsschecks (Voucher) zugelassen, der ihre schnelle Konzentration in den Händen einiger weniger ermöglichte. Die Privatisierung begann ohne eine vorherige Wertberichtigung des staatlichen Eigentums. In den letzten Tagen der „Voucher-Privatisierung" warf der Fonds für föderales Eigentum im Austausch gegen die zu dieser Zeit bereits in wenigen Händen konzentrierten Privatisierungsschecks die Aktien einiger hundert der größten und wertvollsten Unternehmen auf den Markt. Infolge eines künstlich geschaffenen Angebotsüberhangs kam es zu einer rasanten Entwertung der zur Privatisierung anstehenden Unternehmen, die sofort zum Spielball großangelegter Spekulationen wurden. Ein bedeutender Teil dieser Aktien wurde von spekulierenden Strukturen mit kolossalem Gewinn ins
1 84
Teil 2: Hintergrundinformation
Ausland weiterveräußert - einem Gewinn, der von der russischen Treuhand auf diese Art dem Staatshaushalt entzogen wurde. Ein ähnliches Schicksal scheint auch die übrigen noch zur Privatisierung anstehenden Unternehmen zu erwarten, deren Gesamtwert ca. 300 Trillionen Rubel92 beträgt. Die Massenprivatisierung war von Anfang bis Ende eine Transaktion mit ausgeprägt spekulativem Charakter, die zur Kriminalisierung der Wirtschaft und zur Spaltung der Gesellschaft in sich bekämpfende soziale Gruppen geführt hat. Die Kriminalisierung der Privatisierung ist zum einen Folge der allgemeinen sozial-ökonomischen und politischen Situation im Lande. Zum anderen ist sie aufs engste mit dem russischen Privatisierungsmodell selbst verbunden. Entsprechend den Vorstellungen der „Architekten" der Reformen, sollte die Privatisierung in Rußland in extrem kurzer Zeit durchgeführt werden. Die Bevölkerung durfte keine Zeit haben, „zu sich zu kommen" und die Ergebnisse der ersten Etappe der Reformen, der Preisliberalisierung - die zu einer Explosion der Verbraucherpreise und zu einem katastrophalen Rückgang der Produktion führte -, in Frage zu stellen. Bei einer schrittweisen Transformation der Eigentumsverhältnisse hätte die Reaktion der Bevölkerung auf die sich herauskristallisierende sozial-ökonomische Situation den Fortgang der Reformen überhaupt gefährden können. Hauptaufgabe einer schnellen Privatisierung war es, die begonnenen Umwälzungen unumkehrbar zu machen, eine neue Klasse von Eigentümern zu schaffen, die bereit war, das gerade erworbene Eigentum bis zum letzten zu verteidigen. Selbstverständlich dürfte es der Führung des Landes nicht unbekannt geblieben sein, daß der statistische Durchschnittsbewohner Rußlands, der bereits früher so gut wie keine
nennenswerten
Ersparnisse besaß und
diese durch
die
Preisliberalisierung fast völlig einbüßte, nicht in der Lage sein würde, als aktiver Teilnehmer in den neuen Marktbeziehungen zu fungieren. Der überwiegende Teil
des wirklich
großen
Kapitals
wurde
und
wird
im Bereich
der
Schattenwirtschaft, durch Spekulation. Bestechung, Veruntreuung akkumuliert. Deshalb traten objektiv Personen ins Rampenlicht des wirtschaftlichen Lebens, die aufs engste mit der Schattenwirtschaft liiert sind - die Vertreter eines korrumpierten Staatsapparates. Die Aktivität der „Schattenwirtschaftler" und krimineller Elemente bei der Privatisierung hing nicht zuletzt auch von der Qualität des zu privatisierenden Eigentums ab: Da, wo es um eine rentable Produktion oder um hochwertige
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
185
Anlagen und Ausrüstungen ging, gewannen den Kampf um das Besitzrecht auf diese „Filetstücke" in der Regel die „Herren des Schattenkapitals", also korrumpierte Beamte, die Nomenklatura. Nach Angaben des russischen Innenministeriums befanden sich Mitte 1993 ca. 40.000 Unternehmen entweder unter der Kontrolle krimineller Strukturen oder waren von diesen geschaffen worden. Denselben Angaben zufolge waren 70-80% der privatisierten und neu gegründeten privaten Unternehmen und Geschäftsbanken gezwungen, „Abgaben" an kriminelle Gruppierungen, Schutzgelderpresser oder korrumpierte Beamte zu entrichten93. Eine bedeutende Position erlangten im Zuge der Privatisierung die Direktoren der Unternehmen und die Vertreter der Nomenklatura, die im Ergebnis verschiedener Transaktionen die Aktienkontrollpakete der Unternehmen aufkauften und dafür liquide Mittel, beispielsweise großzügig gewährte Überbrückungskredite, nutzten. Ein sehr verworrenes Bild bieten auch die unter dem Einfluß der Privatisierung entstandenen Eigentumsverhältnisse im Bereich der Spareinlagen der Bevölkerung. Hunderte von Voucher- und Investmentfonds akkumulierten die Spareinlagen vertrauensseliger Bürger, obwohl die Mehrzahl dieser Fonds nicht die leiseste Ahnung vom Finanzmanagement und von den Gesetzen des Geldund Kapitalmarktes hatte. Wie sich im nachhinein herausstellte, war eine Vielzahl dieser Fonds von kriminellen und halbkriminiellen Elementen gegründet worden, die sich den Umstand zu nutze machten, daß eine effektive Kontrolle des Finanzsektors von seilen des Staates fehlte. Von großen Skandalen war die Tätigkeit solcher Finanzgesellschaften, wie „MMM", der „Unabhängigen ÖlgesellschafT, des „Technischen Fortschritts", des „Handelsund Finanzkonsortiums L.E.N.I.N.". der Geschäftsbank „Tschara" u.a. begleitet. Nach vorliegenden Informationen wurden allein im Jahre 1994 ca. 1 Million Moskauer Kleinsparer Opfer „aufgeblasener" Pyramiden und Investmentgesellschaften, die wie Seifenblasen zerplatzten94. Neben den bereits diskutierten wirtschaftlichen und politischen Aspekten der Transformationsperiode ist noch ein weiteres - ideologisches - Moment zu erwähnen. Seit einigen Jahren wird der „pseudokapitalistische" Geist - der Geist der Umverteilung
- durch die russischen Massenmedien
aktiv in
das
gesellschaftliche Bewußtsein getragen. Anstelle eines dem Kapitalismus eigenen, auf
Wertschöpfung
und
Erweiterung
des
Angebotes
von
Waren
und
1 86
Teil 2: Hintergrundinformation
Dienstleistungen für den Markt abzielenden Postulats wird jedoch nicht selten ein Loblied auf Raffgier und Habsucht - auf die Umverteilung bereits bestehender Werte - gesungen. Es sei dahingestellt, ob die chaotische, raffsüchtige Umverteilung von Werten besser ist als die frühere planwirtschaftliche Ressourcenverteilung. Aus sozialer und politischer Sicht scheint sie zweifellos die gefahrlichere zu sein. Bislang verläuft die Umverteilung eines Teils des Bruttosozialproduktes nach Prinzipien, die von denen in zivilisierten Volkswirtschaften weit entfernt sind. Nach dem Gesetz des Stärkeren und der Nähe zu einflußreichen Kreisen erfolgt die Privatisierung von Haushaltsmitteln, Unternehmensaktiva und Spareinlagen der Bevölkerung. Die Stellung einzelner sozialer Gruppen in diesen Prozessen, ihre tatsächliche materielle Lage ist dabei von extremen Gegensätzen geprägt. Entsprechend der offiziellen Statistik betrug das Durchschnittseinkommen in Rußland Mitte 1995 ca. 70 $, lediglich bei 0,1% der erwerbstätigen Bevölkerung betrug es mehr als 700 $. Nach Angaben des Staatskomitees für Statistik sind 1% der Bevölkerung (nach Angaben des Allrussischen Zentrums zur Analyse des Lebensniveaus - 15%) zu den Allerärmsten zu rechnen. (Dazu gehören entsprechend der Methodologie der Weltbank Personen, deren Gesamteinkommen um das Zweifache unter dem offiziellen Existenzminimum liegt95. Angaben darüber, wie groß der Anteil der Russen ist, die gegenwärtig unterhalb der Armutsgrenze leben, schwanken um ca. 40 Mio. - nach Angaben des Staatskomitees für Statistik beträgt dieser Anteil 14% der Bevölkerung, nach Angaben des Allrussischen Zentrums - 40%96. In Befragungen des Institutes für sozialpolitische Forschungen der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation geben % der Befragten an, daß ihre Einkünfte gerade mal für Lebensmittel bzw. nicht einmal dafür ausreichten. Bemerkenswerte Divergenzen weisen auch die Angaben über den Anteil der wohlhabenden Bevölkerung Rußlands auf (d.h. Personen, die mehr als 600.000 Rubel verdienen - die obere offizielle Einkommensgrenze): das Staatskomitee für Statistik schätzt ihren Anteil auf 0,1%. das Allrussische Zentrum - auf 4,6%, einige Wissenschaftler sogar auf 10%. Die Angaben gehen somit fast um das Hundertfache auseinander. Zur Gruppe der „Reichen" werden in Rußland all jene Bürger gerechnet, die mehr als 5 Millionen Rubel Monatseinkommen97 haben.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
1 87
Auf eine Reihe von Fragen gibt die offizielle Statistik jedoch überhaupt keine Antwort, so z.B. auf die Frage, wie die russische Bevölkerung überhaupt existiert, wenn das offizielle Durchschnittseinkommen im Sommer 1996 724.800 Rubel pro Monat beträgt. Dieser Durchschnittswert ist nur sehr bedingt aussagefähig, da zwischen den einzelnen Regionen eine starke Einkommenspolarisierung zu verzeichnen ist. Während die .,reichen" Hauptstädter durchschnittlich 2.251.600 Rubel monatlich verdienen, müssen die Einwohner Dagestans (als ärmste Region Rußlands) mit 182.200 Rubeln auskommen98. Trotz einer starken Einkommenspolarisierung ist es bislang noch nicht zu einer sozialen Eruption gekommen. Nur mit der Existenz illegaler Einkommensquellen der Bevölkerung lassen sich eine Reihe von Erscheinungen im öffentlichen Leben, die einem unbeteiligten Beobachter irreal oder zumindest extrem widersprüchlich erscheinen mögen, rational erklären. Nachdem die Preise im Lande seit 1991 stets beträchtlich schneller wuchsen als das offizielle Einkommen; gelang es im August 1996 erstmalig, die Preisentwicklung zu stabilisieren. Das Mindesteinkommen beträgt seit dem 01.01.1996 63.250 Rubel. Die Spareinlagen der Bevölkerung wachsen. Die Anzahl neu gegründeter kommerzieller Strukturen nimmt zu - ungeachtet der Tatsache, daß im Jahre 1994 1/3 dieser Existenzgründungen mit Verlust wirtschafteten". So gibt es allen Grund zu der Annahme, daß das Überleben eines Großteils der Bevölkerung und die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals in Rußland gegenwärtig durch eine aktive Einbeziehung der Bevölkerung in verschiedene, im Rahmen der Schattenwirtschaft ablaufende Prozesse gesichert wird. Dabei sind die Motive, Mechanismen und Ergebnisse einer solchen Einbeziehung bei den verschiedenen Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich. Die moderne russische Gesellschaft kann in folgende 3 grundlegende soziale Gruppen unterteilt werden, von denen sich jede wiederum in mehrere Untergruppen gliedern läßt: > Beschäftigte im stark monopolisierten Bereich der Wirtschaft; > Vertreter der Bürokratie, kriminelle Elemente, Vertreter „assoziierter" Wirt schaftsbereiche:
188
Teil 2: Hintergrundinformation
> Beschäftigte in den nicht-monopolisierten Bereichen der Wirtschaft (überwiegender Teil der Bevölkerung). Da sind zum einen die Beschäftigten im stark monopolisierten Sektor der Wirtschaft zu nennen, einem Sektor, in dem riesige Extragewinne erwirtschaftet werden
(Rohstoffexport, vor
allem
Öl,
Gas.
Buntmetalle;
Kredit-
und
Finanzgewerbe; Maklertätigkeiten verschiedener Art u.a.). Charakteristisch für diese Gruppe ist ein extremes Streben nach unversteuerten Gewinnen realisierbar nur durch direkte Gesetzesverletzungen und durch den Aufbau besonderer, „vertrauensvoller" Beziehungen zu zwei anderen sozialen Gruppen: zur Bürokratie, die die Bedingungen für eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit definiert, also die „Spielregeln" festlegt, und zu kriminellen Elementen, an die eine bestimmte „Zwangssteuer" für den „störungsfreien Ablauf der Geschäfte" zu entrichten ist. Auf dieser Basis bilden sich die modernen Clans als neue Subjekte von Machtbeziehungen heraus. Jede dieser Strukturen versucht, sich ein möglichst großes Stück vom Profitkuchen einzuverleiben und schafft sich dafür eigene
Finanzinstitute,
Sicherheitsstrukturen
u.a.
Die
sich
im
Lande
ausbreitenden Clans (dazu gehört auch die Elite der einzelnen Regionen) sind zweifellos nicht gerade eine Zierde der russischen Wirtschaftslandschaft, aber sie sind eine Realität, mit der man vorerst leben muß. Ein Teil dieser Clans dürfte im Laufe der Zeit selbst dahinter kommen, daß Rechtsstaatlichkeit und Stabilität in der Gesellschaft auch ihnen zum Vorteil gereicht: „Die Räuberbarone von heute ..., die mit schmutzigen Mitteln reich werden, mögen später noch zu Stützen der Gesellschaft werden und dann Recht und Ordnung verlangen, um ihre eigene Beute zu schützen und die Zukunft ihrer Familien zu sichern" 100 . Desweiteren ist die Gruppe all jener zu unterscheiden, die über
reale
Möglichkeiten verfügen, um an der Umverteilung der Extragewinne teilzuhaben - dazu gehören die oben erwähnte Bürokratie und kriminelle Elemente, möglicherweise aber auch einige „Auserwählte", die für die Monopolisten als Zulieferer und Dienstleister tätig und damit unentbehrlich sind (Vertreter „assoziierter" Wirtschaftsbereiche). An dieser Stelle soll auf eine kurze Charakteristik der russischen Bürokratie eingegangen werden. Gegenwärtig gibt es in Rußland mehr als 1 Million Beamte in deren Macht es liegt, etwas zu bewilligen - oder auch nicht, etwas zu entscheiden - oder es zu lassen. Im Kontext der Dominanz von Mechanismen der lokalen monopolistischen Regulierung der Wirtschaft, erhält die Bürokratie
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
1 89
besondere Möglichkeiten, die Bedingungen für die Tätigkeit kommerzieller Strukturen zu diktieren. Der Preis, den die Bürokratie für die „Sicherung günstiger Rahmenbedingungen'" der Geschäftstätigkeit fordert, ist das Bestechungsgeld, das sich mehr und mehr zum grundlegenden Stimulierungsinstrument für die Tätigkeit der Beamten wandelt. Es gibt Schätzungen (untermauert von soziologischen Untersuchungen), denen zufolge mindestens 70% der russischen Beamten in der einen oder anderen Form bestechlich seien. Bei Befragungen gab mehr als die Hälfte der Befragten an, in bestimmten Situationen entweder selbst schon einmal gezwungen gewesen zu sein, an jemanden Schmiergeld zu zahlen, oder aber von Freunden, Verwandten und Bekannten mit ähnlichen Erfahrungen zu wissen. Unter den befragten Geschäftsleuten beträgt dieser Anteil sogar mehr als 75%101. Unterschiedlichen Angaben zufolge verwenden kommerzielle Strukturen zwischen 30% und 50% ihres Gewinns dafür, mit Vertretern des Staates „vertrauensvolle" Beziehungen herzustellen102. Jeder Beamte hat seinen Preis. Ein Mitarbeiter bei der Wohnungsverwaltung ist für 500$ „anzuzapfen" 103 - dafür erteilt er kriminellen Elementen Auskünfte über alleinlebende ältere Menschen, deren Wohnungen auf dem Immobilienmarkt ein sattes Geschäft versprechen. Bedeutend kostspieliger ist es dagegen, „seinen" Vertrauten im Bank- und Finanzsektor zu haben, besteht doch eines der profitabelsten Geschäfte darin, einen Kredit zu Vorzugsbedingungen bewilligt zu bekommen. Im russischen Innenministerium geht man davon aus, daß bis zu 40% der bewilligten Kreditsummen als Bargeld in die Taschen der „wohltätigen" Bankangestellten zurückkehren1 '. Am wertvollsten ist jedoch ein Spitzenbeamter vom Olymp der Bürokratie. Diese Beamten sind äußerst rar, man kann sie an den Fingern abzählen - dafür verfügen sie jedoch über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Auf dieser Ebene werden Transaktionen globalen Charakters geplant und durchgeführt, wie z.B. bis vor kurzem der Verkauf von Lizenzen für den Öl-, Gas- oder Buntmetallexport u.a. Die „Vergütung" der erwiesenen Dienste erfolgt über Auslandskonten, auf denen schon erkleckliche Dollarsummen liegen, mit „Präsenten", wie einer Villa irgendwo an der Cote d'Azur, mit hoffnungsvollen Garantien für ein „warmes Plätzchen" nach Beendigung des Staatsdienstes u.a. Hochgestellte Beamte solchen Formats werden nicht nur „gekauft" - sie werden „gemacht", indem man „seinen Mann" mit allen erdenklichen Mitteln vorwärts und nach oben lanciert. Auch die
1 90
Teil 2: Hintergrundinformation
Vertreter krimineller Strukturen beginnen, „ihre Leute" zu kaufen und zu protegieren. Bisher ungeahnte Ausmaße hat die Korruption im Zusammenhang mit der Privatisierung angenommen. Dem wird - neben den bereits erwähnten Ursachen - vor allem auch durch eine unzureichende gesetzliche Basis Vorschub geleistet: Wegen Korruption können von Gesetzes wegen nur Amtspersonen belangt werden, also Gesetzesvertreter oder Personen, die eine bestimmte Funktion im staatlichen oder öffentlichen Dienst bekleiden. Das Top-Management
der
früheren Staatsbetriebe und jetzigen Aktiengesellschaften ist nicht zu diesem Personenkreis zu rechnen. Eine mindestens ebenso einflußreiche soziale Gruppe wie die Beamten sind kriminelle
Gruppierungen, von denen es nach Angaben des
russischen
Innenministeriums mehr als 200.000 (davon 5.500 große) gibt. In praktisch jeder siebenten kriminellen Bande besteht eine enge Zusammenarbeit
zwischen
kriminellen Elementen und korrumpierten Beamten, die diesen behilflich sind 105 . Das russische Business befindet sich an der Grenze zur Welt des Verbrechens. Laut einer Befragung von 350 Unternehmern im Gebiet Tscheljabinsk vom Januar 1993 sind 30 von 40 wohlhabenden Geschäftsleuten mit
florierendem
Geschäft der Auffassung, daß es unmöglich ist, erfolgreich geschäftlich tätig zu sein, ohne die bestehenden Gesetze zu verletzen; gar 90% der Befragten sind davon überzeugt, daß es unmöglich ist, seinen Geschäften nachzugehen, ohne Schmiergelder an die verschiedenen staatlichen Entscheidungsträger zu zahlen. Und
so
zahlten
Bestechungsgelder
denn an
nach
Mitarbeiter
eigener der
Aussage
65%
der
Finanzkontrollorgane,
Befragten 55%
-
an
Abgeordnete verschiedener Ebenen, 32% - an Mitarbeiter der Miliz, 27 % - an Vertreter von Gerichten und Staatsanwaltschaften 106 . Die Mehrzahl der jungen russischen Geschäftsleute dürfte jedoch an einem gesunden Geschäftsklima und einer normalen Entwicklung des
Marktes
interessiert sein. Es gibt keinen Anlaß, an der Aufrichtigkeit einer in der Zeitschrift „flenoBofi \mp" („Geschäftswelt") am 29. März 1995 veröffentlichen Erklärung des „Runden Tisches der Geschäftsleute Rußlands" zu zweifeln, in der es heißt: „Den Geschäftsleuten dieses Landes ist es bei weitem nicht gleichgültig, unter welchen Bedingungen sie ihre Zukunft und die ihres Landes bauen. Und wenn
dem
einen
oder
anderen
die
mit
der
korrumpierten
Bürokratie
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
191
unterhaltenen Beziehungen auch sehr zupaß kommen, so lehnt es die absolute Mehrheit der Unternehmer entschieden ab, weiter in einer Gesellschaft zu leben, in der das beängstigende Ausmaß der Kriminalität und der Willkür der Beamten der Entfaltung unternehmerischer Initiative keine Chance einräumt". Nach operativen Angaben werden gegenwärtig zwischen 30.000 und 40.000 russische Unternehmen von den verschiedensten Verbrechersyndikaten kontrolliert. Darunter sind mehr als 400 Banken und 47 Börsen107. Zuweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Land habe sich in eine „Zone mit Meistbegünstigungsstatus für Verbrecher" verwandelt. In einer Reihe von Wirtschaftsbereichen ist eine Vereinigung der drei oben beschriebenen sozialen Gruppen - der Produzenten mit Monopolstatus, der korrumpierten Beamten und krimineller Elemente - offensichtlich. Zu diesen Bereichen wirtschaftlicher Tätigkeit gehören vor allem die Export-ImportGeschäfte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete für Rußland als Rechtsnachfolger auch einen völlig neuen Grenzverlauf. Die Staatsgrenze erwies sich plötzlich als praktisch offen für eine unkontrollierte Ausfuhr von Rohstoffen und anderen Ressourcen. In den letzten vier Jahren hat die illegale Ausfuhr von Öl, Gas. Gaskondensaten, radioaktiven Materialien, Holz, Metallen u.a. drastisch zugenommen. Zu den am stärksten nachgefragten Metallen gehören Nickel, Kupfer und Kobalt, die nicht selten zu subventionierten Preisen angekauft und dann im Ausland bedeutend teurer wieder verkauft werden. In den Jahren 19921993 wurden aus Rußland mindestens 20% des geförderten Öls und Vs der zu Tage geförderten Metalle illegal ausgeführt. 10% des Schmuggelgutes wird in Richtung Baltikum transportiert. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 1993 „verschwanden" Buntmetalle im Wert von mehr als 35 Millionen $ über die Westgrenze Estlands gen Westen. Im Ergebnis dessen wurde das winzige Estland, das selbst keine Buntmetalle fördert, der Welt größter Exporteur auf diesem Gebiet108. Bis zu 70% der über Litauen aus Rußland exportierten Rohstoffe erreichen niemals ihren Bestimmungsort - die russische Exklave Kaliningrad. Angaben des russischen Innenministeriums zufolge agieren in Litauen vier große Verbrechersyndikate, die sich auf die „Umwidmung" russischer Warenströme spezialisiert haben. Tagtäglich verschwand 1993 auf dem Territorium Litauens Eisenbahnfrachtgut im Umfange von 7350 Barrel Öl. An diesen Operationen waren sowohl Mitarbeiter der Eisenbahn als auch Zollbeamte und Vertreter einschlägig spezialisierter Außenhandelsorganisationen
beteiligt1"9.
Auf dem Territorium
der
Stadt
192
Teil 2: Hintergrundinformation
Kaliningrad wurden aktiv Briefkastenfirmen mit dem Ziel der Abwicklung einmaliger, wirklich lohnender Export-Import-Transaktionen mit subventionierten Rohstoffen aus Rußland gegründet. Ein wichtiger Kanal für die ursprüngliche Akkumulation von Kapital ist der Kapitalexport aus Rußland und die Anlage dieses Kapitals auf Banken im Westen. Dafür existieren Dutzende von Verfahren. Ein gegenwärtig sehr beliebtes Szenario ist der Abschluß von Lieferverträgen für bestimmte Waren mit chinesischen Firmen. Einige Wochen nach Vertragsabschluß erklärt der russische Partner, daß das Geschäft von der chinesischen Seite nicht bezahlt wurde. Der Vertrag wird aufgelöst, die chinesische Seite bezahlt die gelieferten Waren indes viel später auf ein von der russischen Seite angegebenes Auslandskonto. Ein anderes Verfahren, Kapital ins Ausland zu transferieren, ist die Bezahlung von Dienstleistungen im Ausland. Beispielsweise schuldet eine russische Firma einem ausländischen Partner für fiktive Beratungsleistungen 100.000 $. In Wirklichkeit überweist die russische Firma dieses Geld einer von ihr gewonnenen ausländischen Firma, die für eine bestimmte Provision - 5-7% der Vertragssumme - diese Gelder auf das Auslandskonto der russischen Firma transferiert. Nach Schätzungen von Experten der Weltbank werden jährlich ca. 15-20 Mrd. $ aus Rußland ins Ausland transferiert, - ungefähr die Hälfte davon auf illegalen Wegen110. Allerdings bleibt zu erwarten, daß ein Großteil dieses Fluchtkapitals bei Einsetzen eines wirklichen wirtschaftlichen Aufschwungs nach Rußland zurückfließt. Ungeachtet der Tatsache, daß das rassische Geschäftsbankensystem gerade mal sechs Jahre existiert, hat es sich bereits zu einem der weltgrößten Zentren der Geldwäsche etabliert. Dies wird durch mehrere Faktoren begünstigt: Erstens hängt das günstige Klima für Geldwäsche-Transaktionen in Rußland mit den gesetzlichen
Besonderheiten
des
Depositengeschäfts
zusammen,
die
im
Unterschied zu westlichen Staaten selbst ein Minimum an Kontrolle über die Herkunft des Geldes missen lassen. Zweitens bietet der allgemein verbreitete Zahlungsverkehr auf Bargeldbasis ungeahnte Möglichkeiten für die Geldwäsche. Die Geldwäsche findet nicht zuletzt auch deswegen zunehmende Verbreitung, weil kriminelle Strukturen ihre Kontrolle über die Geschäftsbanken ausweiten (nach Angaben der Moskauer Miliz befinden sich 25 Geschäftsbanken der Region unter der Kontrolle solcher kriminellen Gruppierungen)111.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
193
Heute ist bereits offensichtlich, daß das gravierende Anwachsen der Schattenwirtschaft, allem voran der fiktiven uua kriminellen Schattenwirtschaft, Rußland nicht zu einem zivilisierten Markt, zu Demokratie und Gesetzlichkeit führt, sondern zu einer Herrschaft monopolistisch-bürokratischer Clans, die, wie die Geschichte bereits gezeigt hat. von langer Dauer sein und sich sogar als fähig erweisen kann, eine gewisse soziale Stabilisierung herbeizuführen. Hauptproblem für Rußland ist der eindeutig kriminelle, mit der Schattenwirtschaft aufs engste verwobene Anstrich dieser sich herausbildenden Clans. Als nicht ganz unbegründet mögen sich hier die Befürchtungen des russischen Regisseurs Stanislaw Goworuchin erweisen, der meinte, daß den Ausgang der nächsten Wahlen kriminelle Elemente entscheiden werden und Rußland im Ergebnis dieser Wahlen anstelle eines schlechten Parlamentes ein Parlament erhalten wird, das nur aus Dieben besteht112. Im Ergebnis all dessen wird in Rußland - nach Angaben des Ministeriums des Innern der Russischen Föderation alle vier Minuten ein Wirtschaftsverbrechen begangen. Von diesen Wirtschaftsverbrechen geschieht alle vierzehn Minuten ein Diebstahl, alle neunzehn Minuten geschieht ein Verbrechen, das in irgendeiner Form mit der Privatisierung im Zusammenhang steht, alle fünfunddreißig Minuten wird ein Käufer oder Auftraggeber betrogen und durchschnittlich einmal pro Stunde werden die Bestimmungen der Valutagesetzgebung verletzt... 113 Diese Situation wird durch einige Besonderheiten des sozial-psychologischen Klimas der russischen Gesellschaft der Gegenwart zusätzlich aufgeheizt. So haben soziologische Untersuchungen gezeigt, daß „Rußland bislang so gut wie keine
Unterschiede
in
den
Verbrauchergewohnheiten
der
einzelnen
Bevölkerungsgruppen entsprechend ihren unterschiedlichen Einkommen kennt. Vielmehr dominiert ein einheitlicher Standard von einem gesicherten Leben, dessen Erlangung das Vorhandensein impliziert"
114
eines relativ hohen
Einkommens
. Die Mehrzahl der Befragten reflektiert das Existenzminimum
nicht als eine physiologische, sondern als eine soziale Größe, die es dem einzelnen gestattet, genauso wie die Mehrheit in seiner sozialen Umgebung zu leben - ein beredtes Zeugnis für einen Hang zur Gleichmacherei in der Mentalität vieler Russen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung bildet die Gruppe all jener, die „außen vor" d.h. ohne Zugangsberechtigung zum Kreis der Privilegierten und seiner
1 94
Teil 2: Hintergrundinformation
Einkommensmöglichkeiten sind. Dieser Teil der Bevölkerung, dessen Einkünfte aus der Arbeit in der offiziellen Wirtschaft nicht einmal das absolute Existenzminimum erreichen, paßt sich den neuen Bedingungen durch eine Teilnahme an den verschiedenen Formen der Schattenwirtschaft („Trittbrettfahrerei", Vermittlungsdienste, Spekulation, kleines Unternehmertum) an. Die Ergebnisse einer vom Institut iiür Soziologie der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation durchgefühlten soziologischen Untersuchung haben gezeigt, daß ca. 17% der Befragten einen Zweitjob besitzen, sich weitere 11-18% mit spekulativen Warenauf- und Weiterverkäufen befassen, 13-22% ihre persönliche Habe verkaufen, um ihre schmalen offiziellen Einkünfte in irgendeiner Form aufzubessern. Diese zusätzlichen Einkünfte stellen eine spürbare Verbesserung der Einkommen der Bevölkerung dar. Sie betragen bei Arbeitern von Pachtbetrieben immerhin 76,9% des gesamten Familieneinkommens und bei Arbeitern privater Unternehmen bis zu 88,9%' 15 . Zweitjobs und Nebenbeschäftigungen sind für 25% der Befragten aus armen Familien und für 29% der Befragten aus Familien mit mittleren Einkommen charakteristisch116. Die Gründe für den geringeren Anteil der Allerärmsten an einer Nebentätigkeit sind vor allem in der Spezifik des Qualifikationspotentials dieser Bevölkerungsgruppe, im selektiven Charakter staatlicher Hilfsangebote für bestimmte soziale Randgruppen und in der Situation auf dem Arbeitsmarkt zu suchen, der immer noch eine relativ große Zahl freier Stellen mit sehr geringen Qualifikationsanforderungen und gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen bietet, so daß es gering qualifizierten Arbeitskräften möglich ist, ihre Beschäftigungs- und damit Einkommensprobleme zu einem gewissen Grade relativ schnell zu lösen. Zugleich verliert in einer Situation der wirtschaftlichen Regression jener Teil der Bevölkerung verstärkt seine Beschäftigung und Einkommensquelle und gerät als soziale Schicht massenhaft in einen Zustand der Dauerarbeitslosigkeit, der in anderen Ländern eigentlich die Mittelschicht ausmacht - beispielsweise Vertreter der Intelligenz, des Verwaltungsapparates oder der Armee. Typisch für diese Gruppe sind Erscheinungen einer professionellen Degeneration und einer materiellen
Verelendung,
einhergehend
mit
dem
Bestreben,
frühere
Kulturstandards zu bewahren. Sie zählen zu den Verlierern des Umbruchs: „Die meisten haben ihren früheren Status verloren, fühlen sich degradiert als Arbeiter mit Universitätsabschluß und sind auf die neue Situation unvorbereitet"117.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
195
Aus dem Gesagten wird deutlich, daß bei der Mehrheit der Bevölkerung objektiv begründetes Interesse bzw. eine begründete Notwendigkeit besteht, eigene Engagement in der Schattenwirtschaft zu aktivieren, womit Grundlagen für deren Anwachsen und für eine weitere Verbreitung Korruption und kriminellen Aktivitäten gegeben zu sein scheint.
ein das die von
Auf die Frage nach dem Ausweg aus der gegenwärtigen Situation und nach den Entwicklungsperspektiven für die russische Wirtschaft kann es keine einfache und allgemeingültige Antwort geben. Sicher kann die Antwort auf diese Frage nicht in der Umsetzung von Einzelmaßnahmen oder in der Rückkehr zur sogenannten „Normalisierung" des Umgangs mit staatlichen Aktiva zu suchen sein, sondern nur in der Formierung eines modernen, ertragsorientierten Geldund Finanzsystems. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Prozeß die beschleunigte Verabschiedung einiger bereits lang erwarteter Gesetze, wie des Gesetzes über die Tätigkeit der Aktiengesellschaften
(verabschiedet
im
Dezember
1995),
eines
Wertpapiergesetzes (In Rußland existiert beispielsweise nicht einmal eine Registrierungspflicht für nachträglich emittierte Aktien.), des Gesetzes über den Boden, eines Gesetzes, das die Tätigkeit der Finanzorgane regelt (und beispielsweise windige Pyramidenkonstruktionen vom Typ „MMM" unter eine stärkere Kontrolle stellt) u.a. und die Schaffimg der dringend erforderlichen Rechtssicherheit. Keinerlei ernsthafte Bemühungen sind bislang zu verzeichnen, um das die Warenproduzenten erdrückende Steuersystem zu reformieren. Es sind jedoch gerade die Fragen der Rechtssicherheit und des Steuersystems, von denen potentielle westliche Investoren ein geschäftliches Engagement in Rußland abhängig machen (siehe Tabelle 5). Voraussetzung für einen wirklichen wirtschaftlichen Aufschwung sind solide Rechtsgrundlagen zur Klärung der Besitzverhältnisse,
Vertragssicherheit.
ein
zuverlässiges,
unternehmerfreundliches Steuersystem, ein gewisses Vertrauen in die Stabilität der Landeswährung und ein funktionierendes Banksystem. Solange man beispielsweise als Unternehmer nicht sicher sein kann, ob man über die auf einem russischen Geschäftskonto befindlichen Gelder auch wirklich zu jedem beliebigen Zeitpunkt frei verfugen kann, werden es viele Geschäftsleute vermeiden, ihr Geld länger als unbedingt nötig in Rußland zu belassen. Die gegenwärtig gängige Praxis vieler Banken, daß der Geschäftskunde, wenn er zu einer anderen Bank wechseln oder sein Konto bei einer nicht mehr sicher erscheinenden Bank auflösen will, erst -zig Anträge und Begründungen
196
Teil 2: Hintergrundinformation
schreiben und von Pontius zu Pilatus laufen muß, trägt nicht gerade dazu bei, das Vertrauen in die russischen Geschäftsbanken zu stärken. Herzstück der weiteren Reformen dürfte auch in Zukunft der Kampf gegen die Inflation und die Stabilisierung des Rubels sein. Lange Zeit war man daran gewöhnt, Haushaltsdefizite durch die Erhöhung der Geldmasse (Druck von Rubelnoten) zu kompensieren. Das Ergebnis war eine Hyperinflation von 2000 bis 3000% im Jahr. Auch wenn man mittlerweile bemüht ist, die Inflationsrate auf 2% pro Monat zu drücken (das ist die Voraussetzung, von der der Internationale Währungsfonds die Gewährung neuer Kredite abhängig macht), so ist man noch weit davon entfernt, das Problem endgültig zu lösen118. Im Juni 1996 betrug die Inflationsrate 1,4%. im Juli sogar nur 0,7%. Gegenwärtig liegt sie jedoch deutlich darüber. Wenn der Kampf gegen die Inflation auch in Zukunft so geführt wird, wie bisher, d.h. vorrangig durch eine künstliche Senkung des Haushaltsdefizits und weniger durch strukturelle Veränderungen, die zu einer radikalen Verbesserung des Investitionsklimas im Lande fuhren, dann ist schwerlich auf eine Verlangsamung der Einkommenspolarisierung und damit auf eine schrittweise Überwindung der Schattenwirtschaft zu hoffen. Oftmals werden die Chancen für die weitere Entwicklung Rußlands im Westen optimistischer beurteilt, als in Rußland selbst. Besonders im anglophilen Raum sind viele Wissenschaftler, Journalisten und Publizisten diesbezüglich recht zuversichtlich und sehen in Rußland das Aufsteigerland der Zukunft schlechthin. Ob Rußland sich jedoch zu einem modernen kapitalistischen Staat mit einer demokratischen Rechtsordnung oder zu einem, zwar marktwirtschaftlich orientierten, aber vorrangig autoritären Staat entwickelt, bleibt abzuwarten. Bislang sind ausländische Investoren in ihrem Rußlandengagement zurückhaltend,
wovon
die
eher
unbedeutende
Summe von
eher
3 Mrd.
$
Direktinvestitionen für das Jahr 1995 zeugt. Entsprechend dem Umfang der Investitionen nimmt Deutschland den dritten Platz nach den USA und der Schweiz ein:
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
197
Tabelles 1 1 9 Land
Investitions-
Anteil am
Anteil der
Anteilder
sonstige
volumen
Gesamt-
Direkt-
Portfolio-
Investitionen
(in Mio $)
volumen (in %)
investitionen
Investitionen
(in Mio $)
(in Mio. $) 889,8
GESAMT
2797
100
177
30
USA
812,9
29.1
622
12,7
178,1
Schweiz
419,8
15
195,2
1,3
223,2
Deutschland
293,4
10.5
186,2
0,7
106,5
Großbritannien
161,4
5.8
55,4
14
91,9
Belgien
105,3
3,8
86,4
0
18,8
Diese
Investitionen
verteilen
sich
wie
folgt
auf
die
einzelnen
Wirtschaftsbereiche: Tabelle 6 120 Branche
Branche
Anteil am Gesamtinvestitionsvolumen (in%)
Handel und
16,9
Anteil am Gesamtinvestitionsvolumen (in%)
Beratungsleistungen
4,9
Forschung und
4,8
Gastronomie Finanz-/Banksektor,
14,2
Versicherungsbranche Lebensmittelindustrie
Entwicklung 10,1
Verkehr und
3,3
Kommunikation Öl- und Gasindustrie
9,3
Buntmetallurgie
1,3
Bauwesen
7,15
Außenhandel
1,21
Maschinenbau
5.93
Schwarzmetallurgie
0,7
chemische und petrol-
5,87
sonstige
8,64
chemische Industrie holzverarbeitende und Papierindustrie
5,7
198
Teil 2:
Hintergrundinformation
Projekte mit Rußland - der sicherste Weg zum Bankrott oder vielversprechende Option auf die Zukunft? Rußlandengagement - pro & kontra Tabelle 7 „pro" >
„kontra" >
riesige Produktivitätsreserven (Bodenschätze, Erdöl- und Erdgasreserven)
>
Rahmenbedingungen*
>
unausgeschöpftes Arbeitskräftepotential (hohes Bildungsniveau, vor allem im
Fehlen einklagbarer Garantien für private Investoren (fehlende Rechtsordnung)*
naturwissenschaftlich-technischen Bereich; große Anzahl junger, hochmotivierter
> >
Arbeitskräfte)
>
Instabilität der gesetzlichen
Korruption* Steuerunsicherheit (erdrückendes und undurchsichtiges Steuersystem)*
> > >
überdurchschnittlich hohes intellektuelles Potential in bestimmten Zweigen (HighTech-Bereich, ehemaliger militärisch-
Chaos im Bereich der Handelslizenzen* Mißachtung geistigen Eigentums* Fehlen einer funktionierenden Infrastruktur
industrieller Komplex)
(starkes Gefälle zwischen den Großstädten,
>
großes Spektrum an Möglichkeiten für
wie Moskau und Sankt Petersburg und den
> >
bislang weitgehend unerschlossener Markt
Forschung und Entwicklung
Regionen)
>
im Vergleich zu den entwickelten
Wissen und an Managementerfahrung,
westeuropäischen Ländern niedrige
„Erblast" des homo sovieticus
y
Lohnstückkosten
>
eklatanter Mangel an kaufmännischem
Umbruchsituation - vielfällige Möglichkeiten
Relativierung des Vorteils niedriger Lohnstückkosten durch hohe Unternehmens-
für die Realisierung geschäftlicher
besteuerung und Export-/Importzölle
>
Intentionen (zuweilen nicht zuletzt auch dank offener Rechtsfragen)
weitgehendes Fehlen eines funktionierenden russischen Binnenmarktes (Mangel an zahlungsfähiger Nachfrage)
>
geringes Potential an qualifiziertem Fachpersonal in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungsbereich)
* Gründe, die die US-Handelskammer in Moskau für die Zurückhaltung westlicher Investoren nennt
Großbetriebe und neue Wirtschaftsstrukturen Die
Wirtschaftsreform in Rußland
hat
im
Laufe weniger
Jahre
eine
Führungsschicht hervorgebracht, die sich in bedeutendem Umfang aus den früheren
Kombinatsdirektoren.
Spitzenbeamten
und
Parteifunktionären
rekrutierte. Damit wandelte sich „die politische Nomenklatura über Nacht zu einem wichtigen Teil der neuen Wirtschaftselite"121. Parallel dazu bildete sich
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
1 99
ein anderer Führungstyp heraus - der des jungen, erfolgsorientierten Aufsteigers, der sich von westlichen Wertvorstellungen und Vorbildern leiten läßt. Im folgenden soll ein kurzer Vergleich zwischen russischen Großbetrieben (den ehemaligen Staatsbetrieben) und den sogenannten neuen Wirtschafitsstrukturen (im weiteren kurz NWS genannt, russ. HOBbie (3KOHOMHHecKHe) crrpyicrypti) hinsichtlich der bestehenden Unterschiede im psychologischen Profil von Führungskräften und Untergebenen, in der Personalauswahl und in den Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen vorgenommen werden. Das Führungsparadigma in den NWS läßt einen Wandel gegenüber dem der Großbetriebe erkennen, der sich hauptsächlich in einem Übergang vom Vorgesetzten rein funktionalen Typs zu einem charismatischen Vorgesetzten äußert. Während sich die Führungsriege ehemaliger Staatsbetriebe üblicherweise als „Soldaten an der Wirtschaftsfront", als Befehlsempfanger und Ausführende betrachtet, die nur aus reinem Patriotismus noch nicht in die „Schattenwirtschaft" abgewandert sind, und die deshalb nicht selten in ständiger Erwartung von Mißerfolg und „Katastrophen" aller Art leben, denken die Chefs vieler NWS weniger in Schablonen, sie nivellieren ihre individuellen Züge nicht und weisen bei sonst gleichen Rahmenbedingungen eine erfolgsorientiertere innere Einstellung auf. Charakteristisch für viele Großbetriebe ist eine verminderte Selbsteinschätzung ihrer Führungskräfte, ein hoher Grad an persönlicher Unzufriedenheit und ein vermindertes Motivationspotential. Im Unterschied zu vielen ihrer Kollegen in den Großbetrieben operieren die Gründer von NWS mit einer größeren Bandbreite von Möglichkeiten, um geschäftlichen Erfolg zu erzielen. Sie sind zudem gezwungen, die Fähigkeit „mehrgleisig" zu fahren und in parallelen Strukturen zu arbeiten, zu entwickeln. Auch wenn die strategische Planung, wie an anderer Stelle noch auszufuhren sein wird, in Rußland bislang weitgehend in den Kinderschuhen steckt, so stehen ihr die Führungskräfte der meisten NWS jedoch aufgeschlossener gegenüber als ihre Kollegen in den Großbetrieben, die sich ausschließlich dem „täglichen Kampf ums eigene Überleben" widmen zu können glauben. Bezüglich des Verhältnisses zwischen innerbetrieblichen (internen) Beziehungen und Außenbeziehungen unterscheiden sich die Großbetriebe von den NWS primär darin, daß in den Erstgenannten eine recht strikte personelle Abgrenzung zwischen Außen- und Innenbeziehungen besteht: Während für die Außenbeziehungen des Unternehmens so gut wie ausschließlich der
200
Teil 2: Hintergrundinformation
Generaldirektor zuständig ist. werden alle internen Entscheidungen weitgehend durch den ihm unterstellten Leitungsapparat getroffen. In den NWS sind auf Grund einer viel geringeren Personalausstattung oft dieselben Führungskräfte für die Außenbeziehungen und für die Gestaltung der innerbetrieblichen Beziehungen verantwortlich, was den kleinen Unternehmen eine höhere Flexibilität ermöglicht. Grundlegend unterscheiden sich Großbetriebe und NWS auch hinsichtlich des in ihnen dominierenden Führungstypus. Während in den Großbetrieben - dem patriarchalischen Charakter der Gesellschaft entlehnt - der „Vatertyp" ( „ j i H A e p O T e u " ) dominiert (Der Generaldirektor hat, einem Familienoberhaupt gleich, stets das letzte Wort, das es unbedingt zu respektieren gilt; zum Generaldirektor kann man aber auch gehen, wenn man für sein Kind einen Platz in einer Kindertagesstätte braucht oder wenn es gilt, einen Ehemann wieder auf den rechten Weg zu bringen), werden die NWS zunehmend von Führungskräften beherrscht, die sich an einem partizipativ-kooperativen Führungsstil („Jinnepnapraep") zu orientieren versuchen. Damit einher geht die schrittweise Abwendung vom funktional-hierarchischen Organisationsprinzip, das so typisch für die ehemaligen Staatsbetriebe ist. Während sich diese bei der Personalauswahl primär von der funktionalen Eignung eines Kandidaten leiten lassen, suchen sich die Gründer der NWS ihr Team meist nach dem Prinzip der „Ergänzung zum Chef. Der Chef kennt seine Schwächen und Stärken meist ziemlich genau und sucht sich Mitarbeiter, die diese Schwächen optimal kompensieren können. Unterschiede zwischen den Führungskräften von Großbetrieben und NWS bestehen ferner hinsichtlich der Delegation und Wahrnehmung von Verantwortung. In den Großbetrieben hat die ausgeprägte innerbetriebliche Verflechtung nicht selten eine unklare Abgrenzung von Kompetenzbereichen und damit von Verantwortung zur Folge. Verantwortung wird deshalb als kollektive Verantwortung aufgefaßt, die man nach Belieben „hin und her schieben" und der man sich auch entziehen kann. Die alleinige Verantwortung trägt letztlich immer der Generaldirektor. In den kleineren NWS, die sich zudem oft durch einen relativ hohen Grad an gegenseitigem Vertrauen und an Achtung füreinander auszeichnen, wird die Verantwortung zunehmend individualisiert. Fehler einzelner werden eher toleriert (jedoch nicht ignoriert) als in einem Großbetrieb.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
201
Ausgehend von der unterschiedlichen Rolle der Verantwortung in den NWS und in den Großbetrieben unterscheidet sich auch die Einstellung der Mitarbeiter zum Erfolg/Mißerfolg ihres Unternehmens. Während „Flops" und Mißerfolge in den ehemaligen Staatsbetrieben überall und von allen offen diskutiert werden (wobei die „Schuld" dafür immer den „anderen" zugeschoben wird), verbieten es die ungeschriebenen Normen des Geschäftslebens den NWS, „schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen". Die Erörterung von Mißerfolgen erfolgt weitgehend hinter verschlossenen Türen. Informationen haben in den Großbetrieben mehrere Ebenen zu passieren, wobei es schon mal geschehen kann, daß sie „unterwegs hängenbleiben" (vgl. Teil 2, Kapitel 2 Mangement-Informationssysteme). Demgegenüber ist in den NWS der direkte Kontakt zwischen der Leitung des Unternehmens und den Angestellten auf den unteren Ebenen gegeben (was selbstverständlich noch keine Garantie für das reibungslose Funktionieren von Informationsfluß und Rückkopplung ist). Im Unterschied zu den meisten Großbetrieben, deren innere Einstellung nicht selten immer noch von der Auffassung geprägt ist, der Kunde solle doch zu ihnen kommen, wenn er etwas wolle, sind solide NWS zunehmend bemüht, eine eigene Geschäftsmaxime zu formulieren, die schrittweise an die übrigen Mitglieder des Teams vermittelt wird. Dies trägt nicht zuletzt auch zur Konsolidierung des Teams und zur Erhöhung seiner Leistungsbereitschaft und Effizienz bei. Von russischen Wissenschaftlern durchgeführte Untersuchungen122 zu den Motivationsfaktoren, die leitende Mitarbeiter von Großbetrieben einerseits und von NWS andererseits als ausschlaggebend für ihre Tätigkeit in dem jeweiligen Unternehmen ansahen, wurde von den Führungskräften der Großbetriebe vor allem Betriebstreue, eine enge Identifikation mit dem eigenen Unternehmen genannt, während den Führungskräften der NWS (neben der ungleich höheren Bezahlung) vor allem das Interesse an der Sache, die Möglichkeit, in einem Team von Fachleuten desselben Niveaus zu arbeiten und die Befriedigung, die sie aus dem Umgang mit ihren Kollegen gewannen, wichtig erschienen. Der ausschlaggebende Faktor bei der Entscheidung, weiter in einem ehemaligen Staatsbetrieb zu arbeiten, oder aber in ein Unternehmen der NWS zu wechseln ist jedoch zweifellos in der Entlohnung zu suchen. Vier von fünf neugegründeten russischen Unternehmen sind heute bereits bemüht, ein an westlichen Maßstäben
202
Teil 2: Hintergrundinformation
orientiertes
Stimulierungs-
und
Entlohnungssystem
anzuwenden.
Neue
Mitarbeiter werden gewöhnlich auf der Basis befristeter Verträge (meistens EinJahres-Verträge) nach einer vorherigen Probezeit von anderthalb bis drei Monaten eingestellt. Die Bezahlung wird individuell ausgehandelt; viele der neu gegründeten Firmen arbeiten bereits mit einem Prämien- und Bonussystem.
Der Arbeitsmarkt. Arbeitskräfte. Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen Es gibt zwei Arbeitsmärkte. Der offizielle Arbeitsmarkt ist stark reguliert. Der übliche Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage ist auf dem russischen Arbeitsmarkt dadurch charakterisiert, daß im Unterschied zum westlichen Arbeitsmarkt bislang kein Heer hochqualifizierter Arbeitsloser
vor
den
Unternehmen Schlange steht, wodurch ein entsprechender Leistungsdruck erzeugt würde. Eine
miserable,
nicht
auf
individuelle
Leistungsstimulierung
abzielende
Bezahlung, die durch eine rigide Steuerpolitik und andere staatliche Eingriffe (das Ministerium für Arbeit und Beschäftigung der RF kontrolliert die Lohn- und Gehaltsstruktur
aktiv
durch
Verordnungen)
zudem
noch
weitgehend
reglementiert ist, führen zu einem akuten Mangel an qualifizierten und motivierten Arbeitskräften in den Unternehmen bei gleichzeitiger quantitativer Überbeschäftigung. Eine noch aus den Zeiten der Zentralverwaltungswirtschaft
stammende
Arbeitsgesetzgebung (das heute geltende Arbeitsgesetz stammt von 1977) und eine Verfassung, in der das Recht auf Arbeit als Verfassungsanspruch verankert ist, machen betriebs- und leistungsbedingte Kündigungen von Arbeitnehmern nahezu unmöglich. Der offene Rausschmiß eines Arbeitnehmers ist zwar kein absolutes Tabu, jedoch bildet er nach wie vor die seltene Ausnahme, die im Prinzip nur dann praktiziert werden kann, wenn sich der Arbeitnehmer ernste Disziplinverstöße gegen die Arbeitsordnung zuschulden kommen lassen hat. Die Unternehmen haben damit oftmals nur sehr begrenzte legale Möglichkeiten, um die Leistungen der Mitarbeiter zu honorieren und sie vom Weggang abzuhalten bzw., um sie loszuwerden, nicht selten müssen sie dabei zu Tricks greifen.
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
203
Ein Großteil der Bevölkerung hat - zumindest in den Städten - zwei oder sogar drei Jobs. Diese weitverbreitete Praxis ist der katastrophalen sozialen Lage der Mehrheit der Bevölkerung geschuldet und dient zumeist mehr der Sicherung des unmittelbaren Lebensunterhaltes als dem perspektivischen Aufbau einer eigenen Existenz. Nach Angaben des russischen Arbeitsministeriums waren Mitte 1996 6,4 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet123. Das ist für westeuropäische Verhältnisse durchaus erträglich. Die offizielle Arbeitslosenrate betrug nicht mehr als 8% der erwerbsfähigen Bevölkerung. Sie widerspiegelt damit jedoch in keiner Weise den dramatischen Produktionsrückgang der russischen Industrie in den letzten Jahren. Dieser Trend hielt auch im Jahr 1996 an: Das Bruttoinlandsprodukt ging im ersten Halbjahr 1996 um 5% gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück, die Industrieproduktion - uin 4% und die Agrarproduktion sogar um 7%. Der Einzelhandelsumsatz verminderte sich im selben Zeitraum um 2%, und die Dienstleistungssphäre hatte gar einen Rückgang von 15% zu verzeichnen. De facto verläuft ein langsamer aber stetiger Prozeß des freiwilligen Verlassens der Unternehmen durch die Arbeitnehmer. Hauptgrund für die Abwanderung ist neben der mehr als schlechten Entlohnung vor allem die fehlende Zukunftsperspektive, die die Mitarbeiter für sich und ihre Unternehmen sehen. Es versteht sich von selbst, daß es gerade junge, aktive, gut ausgebildete Mitarbeiter sind, die die Unternehmen als erste verlassen, was für die Unternehmen einem oftmals lebensgefahrlichen Aderlaß gleichkommt, der nach Aussagen des Top-Managements verschiedener Unternehmen in vielen Fällen bereits irreversible Züge trägt. Zurück bleiben zumeist ältere, wenig flexible und nur unzureichend qualifizierte Arbeitnehmer. Nicht selten liegt das Durchschnittsalter der Beschäftigten jenseits der 50. Wer heute in den noch staatlichen oder bereits privatisierten Großunternehmen verbleibt, tut dies entweder aus „Patriotismus" und einem sehr ausgeprägten Gefühl für Betriebszugehörigkeit, oder aber, weil er auf dem Arbeitsmarkt und den
sich
entwickelnden
neuen
ökonomischen
Strukturen
aus
Alters-,
Qualifikations- und mentalen Gründen keine Chancen hat. Dabei gilt zu berücksichtigen, daß Rußland traditionell keine Erfolgskultur war. Die bereits erwähnte egalitäre Grundmentalität der Gesellschaft bewirkte, daß
204
Teil 2: Hintergrundinformation
die Mehrheit der Menschen mit ihrer sozialen Stellung, dem Rang oder Arbeitsplatz zufrieden war, den sie innehatte und gut erledigen zu können meinte. Häufiger Stellenwechsel, um Erfahrungen zu sammeln oder „aufzusteigen" war nicht nur auf Grund der historisch gewachsenen politischen und ökonomischen Gegebenheiten unmöglich, er ist auch heute noch absolut unüblich. Migration ist in erster Linie ein Synonym für Hoffnungslosigkeit, und nicht für Ehrgeiz und Aufstiegschancen. Die durch „freiwilligen Abgang" freigesetzten Arbeitskräfte landen nicht automatisch auf dem offiziellen Arbeitsmarkt, sondern gehen teilweise ins Ausland (was allerdings eher die Ausnahme als die Regel ist) oder finden sich in der Mehrzahl der Fälle in den sich entwickelnden neuen Strukturen der legalen Wirtschaft und - zu einem weitaus größeren Teil - der Schattenwirtschaft wieder, wo das Lohnniveau für Tätigkeiten, die keine spezielle Qualifikation erfordern, nicht selten über dem Vier- bis Fünffachen des offiziellen Gehaltes eines Generaldirektors in einem Großunternehmen liegt. Diese Art Tätigkeit ist oftmals ebenfalls von mangelnder Zukunftsperspektive geprägt, und viele der in dieser Sphäre Beschäftigten würde lieber heute als morgen in ihre früheren Unternehmen zurückkehren - wenn nur die Bezahlung einigermaßen angemessen wäre. Besonders beklagt wird, daß es ich bei dem neuen Job um eine weitgehend unqualifizierte Tätigkeit handelt, in der die spezifischen, in langjähriger beruflicher Tätigkeit erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen in keiner Weise gefragt sind. Viele Menschen, darunter auch solche, die selbst in diesem Bereich tätig sind, sprechen mit einem gewissen Scham, ja sogar mit Verachtung über die Tätigkeit der Kioskbesitzer und Händler, die in der breiten öffentlichen Meinung das Stigma des Anrüchigen trägt. Auch aus makroökonomischer Sicht ist diese Entwicklung überaus gefährlich, da sie zu einem unkontrollierten und irreversiblen Verlust an hochqualifizierten Arbeitskräften führt.
Selbst
eine
eventuelle
Wiedereingliederung
dieser
Arbeitskräfte infolge sich ändernder Rahmenbedingungen erscheint angesichts des rasanten Qualifikationsverlustes in innovativen Bereichen mit hohem Erneuerungsgrad,
wie dem ehemaligen
militärisch-industriellen
(MIK), der High-Tech- und Elektronikindustrie überaus fraglich.
Komplex
Kapitel 1: Politische Rahmenbedingungen
205
Der inoffizielle Arbeitsmarkt ist unregulierte Nach Angaben des Komitees für Beschäftigung der Stadt Sankt Petersburg dürfte ca. Vä der erwerbsfähigen Bevölkerung von versteckter Arbeitslosigkeit betroffen sein. Hierbei handelt es sich zu einem bedeutenden Teil um Arbeitnehmer, die von den Unternehmen mit schöner Regelmäßigkeit und in direkter Abhängigkeit von der aktuellen Auftragslage in unbezahlten „Zwangsurlaub" geschickt werden. In der offiziellen Arbeitslosenstatistik tauchen diese Arbeitnehmer nicht auf, da sie offiziell weiter als Angestellte ihres Unternehmens geführt werden. Die Institutionalisierung des Zwangsurlaubs als reaktives Arbeitsmarktinstrument ist kurzfristig gesehen sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer durchaus vorteilhaft. Die Arbeitnehmer wahren dadurch den Schein eines „ordentlichen Beschäftigungsverhältnisses", sie sind weiterhin versichert und bewahren sich ihre Betriebszugehörigkeit, die Arbeitgeber senken durch eine möglichst große Zahl „toter Seelen" ihre Steuerbelastung. Allerdings bleibt zu vermerken, daß häufiger und länger anhaltender Zwangsurlaub durchaus imageschädingend für das betreffende Unternehmen ist. Zudem beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß eine kontinuierliche Unternehmensplanung und -entwicklung unvereinbar ist mit einer Betrachtung der Arbeitskräfte als „Verschiebemasse'', mit der man frei jonglieren kann. Besonders von Entlassungen und Zwangsurlaub betroffen sind Frauen. Gegenwärtig sind ca. 70% der Arbeitslosen Frauen, wobei einer Einschätzung des russischen Arbeitsministers zufolge diese Zahl in den „typischen" Frauenbranchen, wie Textilindustrie, Wissenschaft und Forschung, Gesundheitswesen u.a. schon bald 85%-90% betragen könnte. 67% der arbeitslosen Frauen besitzen einen Hochschulabschluß. Die überwiegende Zahl der Frauen hat eine abgeschlossenen Facharbeiterausbildung, nicht wenige im technischen Bereich. Diese Zahlen verdeutlichen die Gefahr, die für die Stellung der russischen Frauen in der Transformationsgesellschaft erwächst. Zum einen bleibt ein beträchtliches (für die Fortführung des Reformprozesses eigentlich dringend benötigtes) Ressourcenpotential weitgehend ungenutzt, zum anderen werden mit dem drastischen Anstieg der Frauenarbeitslosigkeit ernste Konsequenzen für den sozialen Frieden im Lande heraufbeschworen - sind doch immerhin 4,1 Millionen Frauen in Rußland Alleinverdienende. Darüber hinaus ist die Mehrzahl der russischen Familien, insbesondere die 2,3 Millionen Familien mit mehr als 3 Kindern, auf ein zweites Einkommen angewiesen. Die
206
Teil 2: Hintergrundinforrnation
offizielle (und zudem zeitlich begrenzte) Arbeitslosenunterstützung liegt oftmals nur unbedeutend über dem Existenzminimum und kann nicht Schritt halten mit der Inflation. Zudem waren russische Frauen stets gewohnt, eine feste Stellung im Arbeitsleben einzunehmen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Heute gehören die Frauen wegen des größeren Risikos, das sie für die Arbeitgeber darstellen, zu den ersten, die entlassen werden. Die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind überwiegend von Kooperation geprägt. Den Gewerkschaften, die nach Industriezweigen organisiert sind, fehlt bis zum heutigen Tag ein organisierter, branchenübergreifender Verhandlungspartner auf nationaler Ebene - ein nationaler Arbeitgeberverband existiert nicht. Das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und den einzelnen Arbeitgebern - den Unternehmensvorständen - ist nicht selten in einem Maße kooperativ, das nur aus der ehemals staatstragenden Funktion der Gewerkschaften und dem bislang mangelhaft ausgeprägten Selbstverständnis ihrer Funktion in der Marktwirtschaft als Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu erklären ist. Traditionell bedingt beträgt der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Belegschaft nahezu 100% und schließt auch den Generaldirektor und die Vorstandsmitglieder ein.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
Kapitel 2
207
Aus der russischen Unternehmenspraxis
Nachdem im ersten Teil des Buches auf sozio-kulturelle Aspekte des russischen Volkscharakters, auf Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs und des sozialen Wertesystems der russischen Gesellschaft der Gegenwart sowie deren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Kooperation zwischen russischen und westlichen Unternehmen eingegangen wurde, sollen im folgenden einige typische Gepflogenheiten und Verhaltensweisen im innerbetrieblichen Leben großer russischer Unternehmen näher beschrieben werden. Unsere Ausfuhrungen stützen sich auf die von J. Mole in seiner Monographie „Der Euro-Knigge für Manager. Gemeinsamer Markt - verschiedene Sitten" vorgeschlagenen Kriterien zur Beschreibung interkultureller Aspekte in westeuropäischen Unternehmen.
Zur Lage der ehemaligen Staatsbetriebe Die meisten Unternehmen kämpfen unter Bedingungen, die als extrem instabil und unprognostizierbar zu charakterisieren sind, ums nackte Überleben. Bei der absoluten Mehrzahl der Unternehmen ist ein eklatanter Mangel an modernen Managementkenntnissen und -verfahren zu verzeichnen, der auch eine dringend erforderliche Neuausrichtung der Unternehmen, verbunden mit einer Neusegmentierung und Konzentration der Aktivitäten, unmöglich macht. Der Ballast der heimischen Managementkultur lastet noch immer schwer auf den ehemaligen Staatsbetrieben. Nichtmarktfähige, perspektivlose Geschäftsaktivitäten werden in den seltensten Fällen durch eine radikale Entscheidung des Top-Managements eingestellt, man läßt sie vielmehr durch eine passive Abwartehaltung eines langsamen - doch für die unmittelbar Betroffenen dadurch nicht minder schmerzhaften - Todes sterben. Dies geht einher mit der oben beschriebenen Form der undifferenzierten, reaktiven Personalanpassung. Durch noch unattraktivere Arbeitsbedingungen und -gehälter als ohnehin üblich, werden überflüssige Beschäftigte dazu „motiviert", die Unternehmen auf eigenen Wunsch zu verlassen. Nicht wenigen Großbetrieben ist es auf diese Art gelungen, in den letzten 3-4 Jahren mehr als die Hälfte ihrer
ehemals
mehrere Zehntausende
Mitarbeiter
zählenden
208
Teil 2: Hintergrundinformation
Belegschaft zu kürzen, ohne den sozial nicht ungefährlichen Weg der Massenentlassung gehen zu müssen. Die folgenden Ausfuhrungen zur russischen Unternehmenspraxis beziehen sich vorrangig auf diese ehemals staatlichen und inzwischen privatisierten Großbetriebe. Einleitend seien jedoch einige allgemeine Bemerkungen zu den Rechtsformen von Unternehmen in der Russischen Föderation gestattet.
Rechtsformen von Unternehmen in der Russischen Föderation Die Rechtsgrundlage für die Gründung von Unternehmen in der Russischen Föderation bildet das „Gesetz über Unternehmen und unternehmerische Tätigkeit" vom 25. Dezember 1990. das „Gesetz über die Aktiengesellschaften" vom 26.12.1995 sowie die im Zivilgeselzbuch der Russischen Föderation vom 30.11.1994 geregelten Rahmenbedingungen zum Gesellschaftsrecht. Darüber hinaus existiert eine Reihe von Sonderregelungen für Gründung und Rechtsstellung von Aktiengesellschaften in bestimmten Bereichen, wie im Bankoder Versicherungswesen oder für Unternehmen, die aus der Privatisierung hervorgegangen sind. Es sind folgende Rechtsformen von Unternehmen in Rußland zu unterscheiden: > Familienunternehmen; > > > >
Volle Gesellschaften; Gemischte Gesellschaften; Aktiengesellschaften offenen Typs (AGoT); Aktiengesellschaften geschlossenen Typs (AGgT).
Volle Gesellschaften und Gemischte Gesellschaften werden auch als vertragliche Gesellschaften oder Personengesellschaften bezeichnet, die jedoch für ausländische Investoren keine Bedeutung erlangten, weswegen sie im weiteren nicht detaillierter behandelt werden sollen. Die verbreitetsten Rechtsformen sind die Aktiengesellschaft offenen Typs (AGoT) und die Aktiengesellschaft geschlossenen Typs (AGgT). Rechtsgrundlage für beide Formen der Kapitalgesellschaft ist das oben genannte neue „Gesetz über die Aktiengesellschaften". Beide Formen von AG weisen eine
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
209
Reihe von Gemeinsamkeiten auf. So müssen sie (gleich welchen Typs) einen Direktorenrat
(COBCT
¿wpeicropoB) - analog dem Vorstand in der deutschen AG
und der Geschäftsführung in der GmbH - bilden. Die Gesellschaft wird von einem Vorsitzenden,
oder Präsidenten,
geleitet. Höchstes Organ ist die
L
Gesellschafterversammlung (coopaHne y ipejHTC.7ctt). die mindestens ein Mal im Jahr zusammentreten muß. Das Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung und der Anteil an der Gewinnausschüttung hängen vom Beteiligungsprozentsatz des einzelnen Gesellschafters (Aktionärs) ab. Der Direktorenrat wird für zwei Jahre
gewählt.
hinsichtlich
Beide Rechtsformen unterscheiden
der
Verkehrsfähigkeit
der
sich
Aktien
in erster
(Anteile)
und
Linie der
Verftigungsbefugnis der Aktionäre über ihre Aktien (Anteile). Das Stammkapital kann als Bar- oder Sacheinlage in Form von Vermögen, Landnutzungsrechten, Know-how, Grundstücken und Patenten
Sicherheiten, eingebracht
werden. Der Beschluß der Gründungsversammlung über die Einbringung von Wertpapieren, Sachwerten, Vermögensrechten und geldwerten Rechten als Einzahlung auf Aktien muß einstimmig gefaßt werden. Aktiengesellschaften sind als juristische Personen zur Eröffnung von Bankkonten sowohl in Rußland als auch im Ausland berechtigt. Sie müssen ein Rundsiegel fuhren, das die volle Firma mit Angabe der Rechtsform in russischer Sprache und den Geschäftssitz ausweist. Die Gesellschaften haben das Recht, zusätzlich auf dem Siegel ihren Firmennamen
in
einer
anderen
Sprache
anzugeben
und
individuelle
Kennzeichen (z.B. Firmenlogo, eingetragene Warenzeichen u.ä.) zu verwenden. Die Registrierung einer Aktiengesellschaft muß innerhalb von 30 Tagen nach der Einberufung der Gründungsversammlung beim Finanzministerium erfolgen. Dazu sind folgende Dokumente vorzulegen: > Antrag des Gründers auf Registrierung; > ausgefülltes
Registrierungsformular
mit
Angaben
zum
Unternehmen; > notariell beglaubigte Kopie der Satzung in zweifacher Ausfertigung; > notariell beglaubigter Gesellschaftsvertrag; > Protokoll der Gründungsversammlung; > Einverständnis der örtlichen Behörden zur Bereitstellung von Räumlichkeiten; > Bankgarantie über die Zahlungsfähigkeit des InvestorsL > Nachweis über die Rechtmäßigkeit des Besitzes des eingebrachten Vermögens.
210
Teil 2:
Hintergrundinformation
Alle Dokumente sind in rassischer Sprache (bei ausländischen Gesellschaftern in beglaubigten
Übersetzungen)
einzureichen.
Die
gesellschaftsrechtliche
Registrierung erfolgt mit der Eintragung in das zuständige Handelsregister. Sie wird von der sogenannten Registrierungskammer (PerHCTpaujtOHHaa nanaTa) vorgenommen. Die Aktiengesellschaft offenen Typs (AGoT) (russ.
AKUNOHEPHOE
OÖIUCCTBO
OTicpHToro rana - AOOT) ist vergleichbar mit der Aktiengesellschaft im deutschen Gesellschaftsrecht. Das Stammkapital der AG wird durch das Angebot verkehrsfähiger Aktien zur öffentlichen Subskription und über die Ausgabe neuer Aktien gebildet. Eine Besonderheit der russischen AGoT besteht darin, daß nur Namensaktien, jedoch keine Inhaberaktien emittiert werden. Die Kapitaleinlage ist bei Gründung sofort in voller Höhe zu erbringen. Die Mindestkapitalhöhe einer AGoT beträgt das Tausendfache des gesetzlichen Mindestlohns (der ab dem 01.01.1996 bei 63.250 Rubel festgesetzt wurde). Der Direktorenrat
muß
aus
mindestens
7
Mitgliedern
bestehen.
Die
Verfiigungsbefugnis der Aktionäre über ihre Aktien unterliegt im Unterschied zur Aktiengesellschaft geschlossenen Typs keiner Beschränkung. Nach russischem Gesellschaftsrecht wird die Aktiengesellschaft geschlossenen Typs (AGgT) (russ. aKUHOHepHoe oömecTßo 3aicpi>iToro rana - A03T) der GmbH gleichgestellt. Die Verordnung über die Aktiengesellschaften macht jedoch deutlich, daß die AGgT und die GmbH deutschen Rechts nicht ein und dasselbe sind.
Das
Stammkapital
der
AGgT
sind
nicht
verkehrsfähige
Aktien
(Gesellschafteranteile), von denen 50% innerhalb der ersten dreißig Tage nach Gründung und die übrigen 50% innerhalb des ersten Jahres einzuzahlen sind. Die Mindestkapitalhöhe beträgt das Hundertfache des Mindestlohns (also von 63.250 Rubel). Um das Stammkapital geschäftsfähig zu machen, bedarf es einer von der Zentralbank Rußlands einzuholenden Lizenz. Gesellschafter einer AGgT können ihre Anteile nur mit dem Einverständnis der Mehrheit der übrigen Gesellschafter an Dritte übertragen. Die Zahl der Gesellschafter wurde im neuen Aktiengesetz auf maximal 50 begrenzt. Bei mehr als 50 Gesellschaftern muß sich die Gesellschaft innerhalb eines Jahres in eine Aktiengesellschaft offenen Typs umwandeln. Das Verhältnis der Gesellschafter einer AGgT wird durch eine Vereinbarung der Gesellschafter in der Satzung (russ. ycraB), die neben dem Gesellschaftsvertrag
(russ.
yHpeAHTejiBHHH
aoroBop)
das
wichtigste
Gründungsdokument darstellt, geregelt. Damit wird den Gesellschaftern eine größere Flexibilität in der Regelung ihres Verhältnisses zueinander eingeräumt,
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
211
als denen der AGoT. In der Gesellschafterversammlung wird ein Geschäftsführer (reHepajiBHwii jHpeKTop) ernannt, der für die laufende Geschäftstätigkeit verantwortlich ist. Der Direktorenrat muß aus mindestens 3 Mitgliedern bestehen (eine Ausnahme bilden Gesellschaften, bei denen nur 1 Aktionär existiert vergleichbar mit der Ein-Personen-GmbH). Die grundlegenden rechtlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung wurden bereits im „Gesetz über ausländische Investitionen auf dem Territorium der RSFSR" vom 4. Juli 1991 festgeschrieben. Gemäß Artikel 12 dieses Gesetzes können Unternehmen mit ausländischer Beteiligung
auf
dem
Territorium
der
Russischen
Föderation
folgende
Rechtsformen haben: > Gemeinschaftsunternehmen (Joint-venture - coBMecraoe npeAnpKarae); > Unternehmen mit 100%-iger ausländischer Kapitalbeteiligung, deren Tochterunternehmen und Filialen (npe,nnpHaTHJi co 100%HLIM
HHoerpaHHBIM
KANHTAJIOM. HX
jOHcpHHC npe^npuiiTHii.
(JmjraajiM); > Filialen (Niederlassungen/Firmenrepräsentanzen) ausländischer juristischer Personen (npejCTaBUTCJibCTBa schriftlicher Antrag der Gründer; > notariell beglaubigte Kopien der Gründungsunterlagen der Gesellschaft in zwei Exemplaren; > Bankauskunft über die Zahlungsfähigkeit des ausländischen Partners; > notariell beglaubigte Kopie der Übersetzung der Bankauskunft ins Russische mit Unterschrift und Siegel des verantwortlich zeichnenden Übersetzungsbüros russischen Partner;
sowie mit
Unterschrift und
Siegel eines
der
212
Teil 2: Hintergrundinformation > notariell beglaubigter Handelsregisterauszug im Original, der Auskunft über den juristischen Status des ausländischen Partners gibt; > Kopie des Überweisungsauftrages über die Gebühr für die Eintragung bei der Registrierungskammer (Diese Gebühr ist an das Finanzministerium der RF zu überweisen).
Ob die investitionsrechtliche Registrierung eines Unternehmens mit ausländischer Kapitalbeteiligung durch die Organe der Gebietskörperschaften (also die Exekutivorgane der Bezirke, Kreise und Gebiete) erfolgt oder durch die Abteilung für internationale Zusammenarbeit und Entwicklung beim Finanzministerium der RF hängt zum einen von der Höhe der ausländischen Kapitalbeteiligung und zum anderen von der Zugehörigkeit zu bestimmten Branchen, die der direkten staatlichen Regulierung unterliegen (wie z.B. die Erdöl-Erdgas- und Kohleindustrie), ab. Ist ein Unternehmen in einer der genannten Branchen tätig, so ist die Registrierung beim Finanzministerium obligatorisch und zwar unabhängig von der Höhe der ausländischen Kapitalbeteiligung. Um der Gründung fiktiver Unternehmen vorzubeugen, ist jeder der Gesellschafter verpflichtet, 50% seiner Stammeinlage innerhalb des ersten Monats, die übrigen 50% innerhalb des ersten Geschäftsjahres einzubringen. Mit der Registrierung erhält das Unternehmen das Recht, sich außenwirtschaftlich zu betätigen. Ferner gilt für Unternehmen mit ausländischer Kapitalbeteiligung, daß: > die als Sacheinlage des ausländischen Investors nach Rußland eingeführten Waren von Zöllen und der Importsteuer befreit sind (unter der Voraussetzung, daß die Einfuhr innerhalb der in den Gründungsunterlagen genannten Fristen erfolgte); > kein Zoll auf die für Eigenproduktion bzw. Eigenbedarf eingeführten Waren erhoben wird; > Gemeinschaftsunternehmen
mit
mehr
als
30%
ausländischer
Kapitalbeteiligung und ausländische Tochterunternehmen berechtigt
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
21 3
sind, ohne Lizenz Erzeugnisse aus der eigenen Produktion auszuführen und entsprechende Erzeugnisse für die eigene Produktion einzuführen; > die Entscheidung, ob eine Lizenz- und quotenfreie Ausfuhr von Waren aus der eigenen Produktion möglich ist oder nicht vom Staatlichen Zollkomitee der Grundlage eines Zertifikates getroffen wird, welches das für Exportquoten zuständige Wirtschaftsministerium ausstellt. Zusätzliche
Vergünstigungen
erhalten
Unternehmen
mit
ausländischer
Kapitalbeteiligung, wenn sie in den sogenannten Freien Wirtschaftszonen angesiedelt sind. Zu den Vergünstigungen, die diesen Unternehmen gewährt werden,
zählen
eine
vereinfachte
Form
der
Registrierung,
niedrigere
Bodennutzungsgebühren und Abgaben für die Nutzung natürlicher Ressourcen, langfristige Pachtrechte mit dem Recht auf Unterpacht u.a. Im Präsidentenerlaß vom 21. September 1993 „Über die Vervollkommnung der Arbeit mit ausländischen Investitionen" wurde festgelegt, daß die Tätigkeit ausländischer Investoren ausschließlich auf Grund von Gesetzen der Russischen Föderation oder von Erlassen des Präsidenten eingeschränkt werden kann. Ferner gilt, daß Neuregelungen bestimmter Gesetze für einen Zeitraum von 3 Jahren nicht auf bestehende Unternehmen angewendet werden dürfen, wenn sie für das Unternehmen ungünstiger sind als die zuvor bestehende Regelung. Auch ist das am 13. Juni 1989 zwischen Deutschland und der UdSSR unterzeichnete Kapitalschutzabkommen fortgeltendes Recht der Russischen Föderation. Abschließend sei noch ein Wort zu den Firmenrepräsentanzen (Niederlassungen ausländischer Firmen) gestattet. Ein Unternehmen, das sich mit dem Gedanken trägt, „nach Rußland zu gehen", wird die Entscheidung zu treffen haben, welche der genannten Rechtsformen die für sie günstigste ist. Von einer Entscheidung, zunächst
einmal
(aus
welchen
Überlegungen
auch
immer)
eine
Firmenrepräsentanz zu gründen, abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln, und diese im Falle einer positiven Geschäftsentwicklung in eine Tochtergesellschaft oder ein Joint-venture umzuregistrieren, ist unbedingt abzuraten. Einerseits haben Firmenrepräsentanzen nach russischem Gesellschaftsrecht stark eingeschränkte Rechte (so darf eine Firmenrepäsentanz keine Geschäfte im eigentlichen Sinne auf dem russischen Markt abwickeln, sondern lediglich anbahnen, sie darf keine Verträge unterzeichnen, es dürfen keine Gewinne
214
Teil 2:
Hintergrundinformation
erwirtschaftet werden usw.). Sie eignen sich prinzipiell nur für eine Markterkundung, zur Partnersuche und als Kontaktbüro vor Ort. Andererseits hat die Firmenrepräsentanz/Niederlassung alle Verpflichtungen eines juristisch vollberechtigten Unternehmens zu erfüllen (z.B. Erstellung einer Eröffnungsbilanz und eines Jahresabschlusses). Die Repräsentanz unterliegt wie jedes andere Unternehmen der Prüfung durch die russische Steuerinspektion und durch eine unabhängige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Der mit der Rechnungslegung gegenüber den prüfungsberechtigten Behörden verbundene Verwaltungsaufwand ist damit bei der Firmenrepräsentanz ebenso gegeben, wie beim Tochterunternehmen. Er ist sogar größer, da die Repräsentanz entsprechend dem deutschen Gesellschaftsrecht der Wirtschaftsprüfung in Deutschland unterliegt. Um unnötige Kosten und den mit einer Neuregistrierung in Rußland verbundenen immensen Zeit- und Verwaltungsaufwand zu vermeiden, empfiehlt es sich, im Falle der ernsthaften Absicht, auf dem russischen Markt tätig werden zu wollen und nach eingehender Prüfung der Notwendigkeit, eine eigene juristischen Person in Rußland zu unterhalten, sofort ein Tochterunternehmen mit 100% deutscher Kapitalbeteiligung zu gründen und nicht den Weg über die Registrierung einer Firmenrepräsentanz zu wählen.
Unternehmensstruktur. Organisation und Führung Der Wegfall des angestammten Marktes/Marktsystems hat zum Zusammenbruch einer ehemals auf rein produktionsorientierter, zentraler Kommandoorganisation basierenden Unternehmensstruktur der früheren Staatsbetriebe und ihrer streng hierarchischen Kontrollsysteme geführt. Gegenwärtig vollzieht sich ein schrittweiser Übergang zu mehr oder weniger systematischen
marktorientierten
Strukturen,
gekennzeichnet
allmähliche Umstellung auf eine Bereichsorganisation,
durch
die auf
die
interner
vertragsgebundener Leistungsverrechnung basiert. Damit einher geht ein harter interner Wettbewerb um Konstruktionswissen und Produktideen, der eine produktionsorientierte Bereichsabgrenzung zunehmend erschwert. Diese derzeit weitgehend losgelöste dezentrale Bereichsorganisation ist für viele Produktionsbetriebe mit einer stark diversifizierten Angebotspalette charakteristisch. Sie ist mit einer zentralistischen strategischen Top-Down-
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
215
Führung gekoppelt, die nicht zuletzt Ausdruck impliziter Verhaltensweisen aus einer über viele Jahrzehnte gewachsenen Führungstradition ist. Es wird zumeist keine Matrixverbindung des Zentrums zu den operativen Bereichen angestrebt. Die Bereiche sollen vielmehr „aus eigener Kraft" eine eigene, von der Zentrale unabhängige Stabsstellenstruktur aufbauen, um so die Basis für eigenständiges unternehmerisches Handeln zu schaffen. Entsprechend existiert keine einheitliche Organisationsstruktur der Bereiche untereinander. Der „unternehmerische" Aspekt einer selbständigen Bereichsfuhrung beschränkt sich
weitgehend
auf
Entwicklung
und
Umsetzung
operativer
Pläne.
Dementsprechend wird von den Direktoren der operativen Abteilungen ein gewisses Maß an Analyse, Kontrolle, vor allem aber an technischen Kenntnissen der Betriebsabläufe erwartet. Die auf der Ebene des Top-Managements vorhandenen Kenntnisdefizite in modernen Managementmethoden und -techniken sind auf den untergeordneten Hierarchieebenen von besonderer Relevanz, hängt doch von der Umsetzung einmal getroffener Entscheidungen letztlich der Gesamterfolg des Unternehmens ab. Damit besteht die unmittelbare Notwendigkeit des Wissenstransfers und aufbaus in den einzelnen Bereichen durch die Zentrale. Russische Großunternehmen Organisationen
sind vielschichtige,
hierarchisch
mit einem vertikalen Weisungsstrang.
strukturierte
Hauptzweck
dieser
Struktur ist die Übermittlung von Anweisungen von oben nach unten. Änderungen in der Organisation mögen Außenstehenden oft halbherzig und schwerfallig
erscheinen
und
lassen
die
erforderliche
Radikalität
und
Durchsetzungskraft in der Umsetzung missen. Nichtsdestotrotz tendieren sie nicht selten dazu, willkürlich und von extremen Auffassungen geprägt zu sein. Unter den Bedingungen der zentralen Kommandowirtschaft funktionierte die beschriebene Struktur zufriedenstellend. Probleme treten jedoch unweigerlich dann auf, wenn es zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten kommt, die eine schnelle Reaktion auf die sich verändernden Bedingungen erforderlich machen. Die traditionellen Autoritätsstrukturen sind nicht in der Lage, flexibel auf die sich ändernden Bedingungen zu reagieren. Die übliche Reaktion besteht darin, ein Problem einfach nach oben weiterzuleiten bzw. seine Lösung per Anweisung nach unten zu delegieren.
216
Teil 2: Hintergrunginformation
In rassischen Unternehmen dominiert traditionell ein äußerst direktiver, bürokratischer Führungsstil, mit einer starken Machtkonzentration an der Spitze, die wenig Freiräume für partizipative Elemente auf den unteren Führungsebenen läßt. Dieser Führungsstil basiert auf einem autoritären, westlichen Managern bisweilen sicher diktatorisch anmutenden, Verhalten der Vorgesetzten gegenüber ihren Untergebenen. Besonders ausgeprägt ist dieser Führungsstil in den Großunternehmen und da vor allem in jenen, die früher dem militärischindustriellen Komplex zuzurechnen waren. (Nicht von ungefähr werden solche Unternehmen im Russischen auch heute noch als „ P O K H M H W C N P E A N P I W T H A " bezeichnet.) Die
Unternehmen
werden
durch
Anweisungen,
die
eine
anerkannte
Weisungskette passieren (und die im Russischen wohl nicht zufallig mit demselben Wort bezeichnet werden, das auch „Befehl" bedeutet - „npHica3") von der Spitze geleitet. Durch die Abgrenzung von Zuständigkeiten soll in erster Linie nicht die Arbeitsteilung und damit die operative Effizienz erhöht, sondern die Kontrolle durch das übergeordnete Management verbessert werden. Der eigentliche „Chef' des Unternehmens, der letztlich auch die alleinige Verantwortung für alle Entscheidungen trägt, ist der Generaldirektor (GD). Der GD muß eine starke Autoritätsfigur mit einem hohen Maß an fachlicher Kompetenz sein, der das Unternehmen bis ins kleinste von innen heraus kennt, mit ihm möglichst seit der eigenen Ausbildungszeit verbunden ist und sich Schritt für Schritt von unten hochgearbeitet hat. Auf Grund des Fehlens einer breiten mittleren Führungsebene beschäftigt sich der GD eines russischen Unternehmens mit einer ungleich größeren Zahl operativer Einzelfragen als es die meisten seiner westlichen Kollegen gewohnt sein werden. Da ein karrierebedingter Stellenwechsel in den meisten russischen Unternehmen wie oben beschrieben bislang weitgehend unbekannt ist, haben es neue Führungskräfte sehr schwer, im Unternehmen „Fuß zu fassen" und bei ihren Mitarbeitern und Kollegen Autorität und Ansehen zu erwerben. Mitunter werden selbst Mitarbeiter, die 10 Jahre und länger im Unternehmen tätig sind, noch als „Von-Draußen-Gekommene" betrachtet. Neben Fachkompetenz und der Stärke der Persönlichkeit beruht die Autorität eines russischen GD und seines TopManagements deshalb in nicht geringem Maße auch auf der Dauer seiner Betriebszugehörigkeit.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
217
In Staatsunternehmen und in großen privatisierten Unternehmen existiert ein ausgefeilter bürokratischer Apparat mit bis ins kleinste verästelten dokumentarischen Verfahren und Abläufen, deren ursprünglicher Zweck jedoch nicht selten in Vergessenheit geraten ist.
Kontrolle und Management-Informationssysteme (MIS) Umsetzung von Entscheidungen und Kontrolle sind die wichtigsten Management-Funktionen in nissischen Unternehmen. Planung und Entscheidungsfindung spielen demgegenüber im Führungsprozeß eine weniger bedeutsame Rolle. Wie in den meisten direktiven Kulturen liegt das Problem nicht im Treffen von Entscheidungen, sondern in der Verpflichtung und Bereitschaft der Mitarbeiter, diese auch umzusetzen. Die Autoritätslinien sind gewöhnlich klar, und Entscheidungen passieren die Hierarchie von oben nach unten - bis sie irgendwo hängenbleiben. Überzeugungsarbeit, Hartnäckigkeit und beständiges Nachhaken sind deshalb außerordentlich wichtig. Wenn Zustimmung und Identifikation einmal erreicht sind, wird nicht selten mit besonderem Einsatz, Talent und Einfallsreichtum an die Umsetzung einer Entscheidung gegangen. In Rußland als einer kollektivistischen Gesellschaft dominiert die Loyalitat zur Gruppe gegenüber der Loyalität zum einzelnen oder zum Betrieb. Formale Kontrollsysteme konzentrieren sich auf pragmatische Indikatoren, wie Umsatz und Bruttogewinn. Raffiniertere Management-Informationssysteme mit ausgeklügelten betriebswirtschaftlichen Kennziffern, sind entweder gänzlich unbekannt oder werden als Zeitverschwendung angesehen und sind bisher, wenn überhaupt, so nur in Ansätzen vorhanden. Management-Informationssysteme, reduzieren
sich
überwiegend
vor
allem
in
auf Mengenangaben
Produktionsbetrieben, - Kilo,
Stückzahlen,
Liefermengen („Tonnenideologie"). Seltener erfassen sie jedoch finanzielle Kennzahlen. Bereits im Jahre 1918 schrieb I P. Pawlow, als er die russische Denkweise charakterisierte: „Wir operieren mit durch und durch allgemeinen Feststellungen, wir wollen nichts wissen von Maßen und Zahlen. Es gilt als
218
Teil 2:
Hintergrundinformation
erstrebenswert, das Blatt bis zum äußersten auszureizen, ohne sich um irgendwelche Bedingungen zu scheren"124. Einmal festgelegte Verfahren werden selten offen unterlaufen, häufig aber gestört, „abgewandelt", oder stillschweigend ignoriert - unter Berufung auf Sonderfälle und Ausnahmen. Mit der Buchhaltung wird durchaus „schöpferisch" umgegangen. Unternehmensabschlüsse sollten mit Vorsicht behandelt werden, wobei man bedenken sollte, daß ihr Hauptzweck nicht darin besteht, den Gesellschaftern ein volles und genaues Bild zu geben, sondern als Grundlage für Verhandlungen mit Banken und Steuerbehörden zu dienen. Bilanzen und andere Finanzinformationen sollten deshalb unbedingt verifiziert werden. Eine gewisse Hürde besteht in diesem Zusammenhang darin, daß sich Struktur und Darstellung von Finanzinformationen in der Regel wesentlich von der in westeuropäischen Unternehmen unterscheiden und zunächst der „Übersetzung" in eine vergleichbare Form bedürfen. Bis vor kurzem hat es effektiv nur eine Steuerbuchhaltung und keine Finanzbuchhaltung gegeben. Das neue „Gesetz über die Aktiengesellschaften" schreibt nun Aktiengesellschaften die Publikationspflicht von Jahresabschluß, Bilanz sowie von Gewinn- und Verlustrechnung vor. Man sollte jedoch nicht annehmen, daß die offiziellen Kennzahlen explizit die wahre finanzielle Situation und die echten Betriebsergebnisse widerspiegeln, nur weil sie den Anforderungen der russischen Steuergesetzgebung genüge tun. Auf Grund einer sehr komplexen, durch einen enorm hohen Verflechtungsgrad gekennzeichneten Unternehmen
innerbetrieblichen
bislang
nicht
oder
Kooperation erst
in
und
der
Ansätzen
in
vielen
vorhandenen
Bereichsorganisation, ist eine bereichsindividuelle Unternehmensbewertung so gut wie unmöglich.
Problemlösung und Entscheidungsfindung Russen bevorzugen traditionell den kollektiven Weg der Entscheidungsfindung über Konsenssuche und Ausgleich. So kommt es äußerst selten vor, daß ein
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
219
russischer Partner allein eine sofortige Entscheidung trifft, ohne sich vorher mit einem Stab von Kollegen beraten zu haben. Bis heute wird nicht selten ein Großteil des Arbeitstages damit verbracht, vor einer anstehenden Entscheidung den Willen seiner Kollegen auszuloten. Wird dieser Prozeß auf „natürliche Weise" zu Ende gebracht (und nicht - wie oftmals üblich - durch einen Prikas des GD), dann besteht der große Vorteil einer solchen Herangehensweise zweifellos darin, daß sich hinterher alle mehr oder weniger an einen Beschluß halten, wenn sie ihm zuvor zugestimmt haben. Der Entscheidungsfmdungsprozeß könnte als deduktiv pragmatischer Ansatz charakterisiert werden. Der Versuch einer offenen Entscheidungsfindung dürfte zumindest in mittleren und großen Organisationen - weitgehend illusorisch sein. Auch Entscheidungen, die in formellen Meetings getroffen, protokollarisch festgehalten und zur Umsetzung mit einem Zeitplan versehen wurden, bleiben nicht selten auf dem Papier stehen, weil die Akzeptanz der getroffenen Entscheidung auf den unteren Hierarchieebenen nicht vorhanden ist oder weil inzwischen von jemandem anderen eine andere Entscheidung getroffen wurde. Studien und Berichte sind ein bedeutendes Element im Entscheidungsfmdungsprozeß. Mündliche Präsentationen und Diskussionen für die Verbreitung von Informationen oder zwecks Schaffung einer Entscheidungsgrundlage sind bislang nur in solchen Unternehmen bekannt, die mit westeuropäischen Beratern oder mit Personal arbeiten, das in amerikanischen Managementmethoden ausgebildet ist. Generell wird jedoch vorgezogen, auf die Meinung von Leuten zu hören, denen man vertraut. Das Sammeln von Informationen zur Schaffung einer Entscheidungsgrundlage bedeutet, mit möglichst vielen Leuten zu sprechen, ohne zu sagen, um welche Entscheidung es geht. In einer Unternehmensumwelt, in der Kennzahlen entweder nicht vorhanden, in jedem Falle jedoch mit einer gesunden Skepsis zu behandeln sind, ist dies wahrscheinlich der einzig gangbare Weg. Viele Entscheidungen werden in der Regel jedoch letztlich durch ein Mehrheitsvotum ratifiziert. Auf Grund der oben beschriebenen vertikal organisierten, hierarchischen Struktur russischer Unternehmen ist es meistens nicht allzu schwierig, die
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Teil 2: Hintergrundinformation
Person zu finden, die für eine bestimmte Entscheidung zuständig ist. Bei Verhandlungen mit größeren Teams kann es allerdings vorkommen, daß Kompetenzbereiche und Entscheidungsbefugnisse nicht immer klar zu erkennen sind. Generell gilt - je relevanter eine Entscheidung ist, desto höher angebunden ist der Entscheidungsträger; was jedoch nicht bedeutet, daß mitunter so lapidar anmutende Fragen operativen Charakters, wie die Beantragung eines Dauervisums für westeuropäische Geschäftspartner durch die russische Seite, nicht ausschließlich durch den Generaldirektor des Unternehmens persönlich zu entscheiden wären. Um Zeitverluste zu vermeiden, sollte man in jedem Falle versuchen, so schnell wie möglich, mit der ihrer Funktion nach hochrangigsten Person in Kontakt zu treten und sich bereits zu Beginn einer Geschäftsbeziehung eingehend von den Handlungs- und Entscheidungsvollmachten seines Verhandlungspartners informieren. Dies gilt natürlich um so mehr, wenn man es infolge des sich rasant drehenden Kader-Karussels mit wechselnden Verhandlungspartnern, Stellvertretern und stellvertretenden Stellvertretern zu tun bekommen sollte.
Planung Die Planung erfolgt gewöhnlich induktiv und trägt kurz- bzw. mittelfristigen Charakter. Ein deduktiver Planungsprozeß, bei dem Ideen und Daten von Bereichsdirektoren und Abteilungsleitern gesammelt werden - die somit unmittelbar am Planungsprozeß beteiligt wären - ist wenig ausgeprägt, da er nicht zu der oben beschriebenen Autoritätsstruktur paßt. Das Ergebnis ist häufig, daß die Manager auf den untergeordneten Hierarchieebenen den Plan nicht anerkennen und sich zu seiner Umsetzung nicht verpflichtet fühlen. Eine langfristige strategische Unternehmensplanung fehlt in russischen Unternehmen so gut wie völlig - einmal auf Grund des extrem instabilen makroökonomischen Umfeldes, zum anderen auf Grund mangelnder Marktausrichtung der Unternehmen und fehlenden Know-hows des TopManagements auf diesem Gebiet. Schriftliche strategische Pläne gibt es somit nur in Ausnahmefallen. Die bis dato rudimentäre strategische Planung und Führung war und ist ausschließlich Sache der Zentrale.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
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Wenn ein solcher strategischer Plan existiert, ist er nicht selten von Beratern für strategische Unternehmensführung für das Top-Management erstellt worden. Diesen Plan dann in spezifische operative Aktionspläne umzusetzen dürfte über die Erfahrungen und Neigungen des Managements auf den untergeordneten Hierarchieebenen hinausgehen. Viele Manager meinen, keine Zeit für eine langfristige Planung zu haben, da sie voll mit dem „Kampf ums tägliche Überleben" beschäftigt seien. Negative Erfahrungen mit „von oben vorgegebenen", grandiosen, oft jedoch wenig erfolgreichen Plänen in der Vergangenheit, Unsicherheit gegenüber den neuen Bedingungen,
gepaart
mit
Orientierungslosigkeit
und
einer
gewissen
Abwartehaltung dürften hierbei ebenfalls eine Rolle spielen. Anstelle längerfristiger, auf konkreten Ausgangsdaten basierender, begründeter Entwicklungsprognosen für das Unternehmen gibt es bestenfalls intuitive Zukunftsvisionen des Top-Managements. Über die generelle Richtung der weiteren Entwicklung entscheidet der GD. Es existiert eine Vorliebe für eine opportunistische, reagierende Politik. Oft ist der Geschäftsplan eher ein Werkzeug für Verhandlungen, das man auf Forderung von Banken und Gesellschaftern erstellen muß, als ein echtes Managementinstrument. In diesem Kontext ist auch die derzeitige Leidenschaft für Business-Pläne aller Art zu sehen, die nicht selten nach formalisierten Computerprogrammen erstellt werden. In der Regel handelt es sich dabei nicht um
eine
Geschäftsfeldplanung
im
Sinne
einer
strategischen
Unternehmenskonzeption für einen größeren Planungszeitraum, sondern um Machbarkeitsstudien für bestimmte Einzelaktivitäten und Produktideen, die größtenteils technisch-technologisch dominiert sind und in denen die Frage des Marktes nur zu oft eine untergeordnete Rolle spielt. Noch ist die Sensibilität für das Betriebsergebnis des Unternehmens - also den Nettogewinn - nicht besonders ausgeprägt. Die meisten Unternehmen verfügen weder
über
die
erforderlichen
Finanzinformationssysteme,
um
das
Betriebsergebnis aussagekräftig auszuweisen, noch ist die Bereitschaft des TopManagements gegeben, eventuell vorhandene Informationen weiterzuleiten. Aufgabe des Rechnungswesens ist es weniger, die aktuelle Finanzsituation des Unternehmens transparent und jederzeit abrufbar darzustellen, als diese vor der Steuerinspektion zu verschleiern.
222
Teil 2: Hintergrundinformation
Delegation von Verantwortung Die individuelle Verantwortung überwiegt gegenüber der Gruppenverantwortung. Gleichzeitig besteht eine Vorliebe für kollektives Handeln. Das Management ist oftmals nicht bereit, Entscheidungsbefugnisse zu delegieren; es greift direkt in operative Abläufe ein. Umgekehrt ist bei den Mitarbeitern die Skepsis weit verbreitet, daß eine an Leistungszielen orientierte Führung eher ein Aufbürden zusätzlicher Verantwortung als eine Erweiterung der eigenen Entscheidungskompetenzen darstellt. Der Versuch, Verantwortung zu delegieren und Entscheidungsbefugnisse zu erweitern, birgt häufig die Gefahr, daß die im Rahmen eines solchen Vorgehens zu führenden Diskussions-, Kritik- und Abstimmungsprozesse zu Konflikten in den VorgesetztenMitarbeiter-Beziehungen führen.
Arbeitsbeziehungen. Einstellung zu Kooperation und Konkurrenz. Kritikverhalten Entsprechend der hierarchischen Struktur russischer Unternehmen sind die Arbeitsbeziehungen in erster Linie vertikal organisiert. Es gibt wenig Querkommunikation zwischen den einzelnen Bereichen. Die Bildung von Adhoc-Gruppen quer über alle hierarchischen Ebenen, wie sie etwa bei der Bearbeitung von Projekten üblich ist, stellt bislang eher die Ausnahme dar. Die beruflichen Beziehungen zwischen Kollegen beruhen mehr auf Zusammenarbeit als auf Rivalität. Das Konkurrenzdenken ist bisher wenig ausgeprägt. Solidarität unter Kollegen gilt noch immer als „normal" und wird nicht als „Luxus" angesehen, den man nicht unbedingt haben muß. Kooperation und Vertrauen werden höher geschätzt als die Leistung des einzelnen; man identifiziert sich mit seinem Betrieb und seiner Gruppe. Daher wird individuelles Vorausstürmen eher negativ gewertet und findet wenig Anerkennung. Formale persönliche Kritik von Vorgesetzten gegenüber ihren Untergebenen ist sehr direkt, für westeuropäische Auffassungen nicht selten sogar verletzend. Kritik unter Kollegen ist meist für beide Seiten recht schwierig, wenn sie nicht im Rahmen einer engen persönlichen Beziehung geschieht. Zugleich ist das in westlichen Unternehmen zunehmend zum Problem werdende Mobbing von Mitarbeitern in Rußland noch immer weitgehend ein Fremdwort. Es existiert
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
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noch keine anerkannte Praxis regelmäßiger individueller Leistungsbewertung der Mitarbeiter. Kritik wird leicht auf die Person bezogen, selbst wenn nur die Sache gemeint war. Der Umgang mit den Mitarbeitern ist direktiv. Die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sind überwiegend distanziert. Ein Vorgesetzter wird seine Gedanken oder Ansichten nur mit Kollegen auf derselben Hierarchieebene oder den ihm unmittelbar Unterstellten diskutieren. In vielen Unternehmen existieren getrennte Kantinen für das Top-Management und die einfachen Mitarbeiter. Die Mittagspause dient vorrangig der Erholung, was aber dienstliche Gespräche unter Kollegen nicht ausschließt. Hat die Belegschaft früher fast ausnahmslos das Mittagessen in der Kantine eingenommen, so bringen heute immer mehr Mitarbeiter Verpflegung von zu Hause mit, da sie es sich finanziell nicht leisten können, im Betrieb zu essen. Die Beziehungen zwischen Unternehmen und Mitarbeitern werden in erster Linie nicht als vertragsgemäß angesehen. Trotz der oben erwähnten großen Zahl freiwilliger Abgänge aus den Unternehmen weist die Mehrzahl der Beschäftigten und ehemaligen Mitarbeiter ein hohes Maß an Loyalität gegenüber ihrem Unternehmen, gepaart mit einem aufrichtigen - mitunter ein wenig nostalgisch anmutenden - Stolz auf frühere Erfolge auf. Diese Erfolge manifestierten sich für die Beschäftigten in erster Linie in einem sehr umfassenden, von den Unternehmen unterhaltenen Netz sozialer Einrichtungen, das von der Betriebspoliklinik über Sanatorien, Kinderferienlager und Geschäfte bis hin zur betriebseigenen Landwirtschaft reichte und den Beschäftigten eine stabile Grundversorgung mit Waren und Dienstleistungen garantierte, die außerhalb des Unternehmens in der von Mangelwirtschaft geprägten Gesellschaft oft unerreichbar waren. Russische Unternehmen sind bis heute sehr paternalistisch eingestellt. Sie übernahmen stets auch eine soziale Funktion. Die veränderte Marktsituation und die geringe Produktivität zwingt die Unternehmen heute, einen rigiden Konzentrationsprozeß zu durchlaufen und sich - um den Preis des eigenen Untergangs - zunehmend von ihrem sozialen Sektor zu trennen. Da der Staat seiner sozialen Verantwortung nicht im erforderlichen Maße gerecht werden kann und will, und ein Netz nichtstaatlicher sozialer Einrichtungen bislang
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Teil 2: Hintergrundinformation
ebenfalls noch nicht existiert, ist hier in den letzten Jahren ein gefahrliches Vakuum entstanden.
Dienstbesp rechungen Meetings und Dienstbesprechungen aller Art finden in großer Zahl statt und dienen in erster Linie der Koordination von Arbeitsabläufen und der Instruktion der Mitarbeiter und weniger der kollektiven Erörterung alternativer Lösungen oder der direkten Delegation von Verantwortung. Ziel von Meetings ist es, Autorität geltend zu machen, die Zustimmung zu anstehenden Entscheidungen zu sichern sowie diese formal zu ratifizieren. Die Entscheidungsfindung selbst ist selten ein offener Prozeß, sie erfolgt vielmehr in individuellen Konsultationen zwischen den unmittelbaren Entscheidungsträgern. Es ist nicht üblich, auf Dienstbesprechungen „Versuchsballons steigen zu lassen", oder gemeinsam ein Problem zu lösen. Meetings sollen diejenigen, die die Entscheidungen treffen, in die Lage versetzen, die Einstellung von Kollegen und Mitarbeitern zu einer anstehenden Entscheidung zu prüfen. Dienstbesprechungen werden als Bestandteil der eigentlichen Arbeit angesehen. Es ist nicht akzeptabel, mitten in einem Meeting wegzugehen, zu telefonieren oder Schreibarbeiten zu erledigen (zumindest solange der Vorgesetzte noch anwesend ist). Meetings sind oftmals nur begrenzt durchfiihrungsorientiert. Ein Meeting ohne ein konkretes Ergebnis irgendeiner Art wird jedoch als Mißerfolg gewertet. Zuweilen kann dieses Ergebnis auch nur in der Vereinbarung bestehen, eine weitere Zusammenkunft anzuberaumen. Eine Dienstbesprechung läuft in der Regel nach einem bestimmten Plan (Tagesordnung) ab; wie die meisten Verabredungen beginnen und enden auch Meetings selten pünktlich. Der Grad der Vorbereitung auf Dienstbesprechungen ist unterschiedlich. Auch wenn vorher Unterlagen verteilt wurden, werden sie nicht immer gelesen, was die Teilnehmer oft jedoch nicht daran hindert, ihre Meinung trotzdem zu äußern. In seinen Vorlesungen „Über die russische Denkart" schreibt der berühmte russische Wissenschaftler I. Pawlow zum Thema Versammlung: „Nehmen wir unsere Versammlungen. Was sind sie lang, wortreich und in den meisten Fällen ergebnislos und widersprüchlich! Wir verbringen viele Stunden in fruchtlosen Gesprächen"125.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
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Kommunikation Entsprechend der vertikalen hierarchischen Organisationsstruktur erfolgt die Kommunikation vorrangig von oben nach unten und nur bei konkretem Informationsbedarf. Gleichzeitig spielen informelle Kontakte eine wichtige Rolle. Für Großunternehmen mit einem aufgeblähten Verwaltungsapparat sind oft sehr umständliche, wenig effektive Kommunikationsstrukturen, charakteristisch, die infolge vielfältiger Restrukturierungsbemühungen der letzten Jahre eher noch verworrener geworden sind. Die kommunikative Interaktion der Beschäftigten erfolgt hauptsächlich über den Vorgesetzten. Da die meisten russischen Unternehmen nicht transparent sind und wenig Wert darauf gelegt wird. Ziele breitenwirksam zu verdeutlichen, besteht zwar ein permanenter Mangel an Fakten und Informationen - nicht aber an Meinungen und Spekulationen. So werden bestimmte Entscheidungen eben umgesetzt, andere dagegen bleiben ohne ersichtlichen Grund auf der Strecke. Es gibt eine klare Abgrenzung zwischen Privatleben und Arbeit. Es ist wenig üblich, Arbeit mit nach Hause zu nehmen oder am Abend noch geschäftliche Angelegenheiten zu behandeln. Persönliche Beziehungen werden um ihrer selbst willen als sehr wichtig erachtet. Russen glauben, daß es im Leben mehr gibt als Arbeit. Harte Arbeit wird geschätzt - Arbeitstiere (russ. paöoTarn) werden eher belächelt. Außerhalb der Arbeitszeit wird der Umgang unter Kollegen von deren sozialer Stellung bestimmt, wobei die einzelnen Hierarchieebenen weitgehend unter sich bleiben.
Frauen im Unternehmen In
den
Großunternehmen
gleichen
Frauen
in
verantwortlichen
Führungspositionen der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Obwohl der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Beschäftigten ungleich größer ist als in allen westeuropäischen Ländern, sind die Frauen größtenteils in untergeordneten Positionen beschäftigt. Angaben des Staatskomitees für Statistik zufolge, waren zum Zeitpunkt des Zerfalls der Sowjetunion (1991) lediglich 5,6% der TopManagement-Stellen rassischer Unternehmen von Frauen besetzt (wobei diese Zahl in Moskau und Leningrad mit 4,2% bzw. 3,5% noch unter dem Landesdurchschnitt lag!). Trotz gleicher Ausbildung verrichten Frauen oft
226
Teil 2: Hintergrundinformation
Tätigkeiten, die nicht nur weit unter ihrer Qualifikation liegen, sondern zudem noch extrem gesundheitsgefährdend sind und die in Westeuropa für Frauen verboten sind. Frauen arbeiten wie Männer im 3-Schicht-System, verrichten schwere körperliche Arbeit und bekommen nicht selten weniger Geld für die gleiche Arbeit. Ungeachtet dessen verfügen sehr viele Frauen über eine fündierte Ausbildung. So sind 60% aller Hochschulabsolventen in Rußland Frauen. Auch in der früheren Sowjetunion konnte von einer beruflichen Chancengleichheit für Frauen trotz eines breiten sozialen Netzes (Kindergärten, Schulhort, Ferienlager etc.) keine Rede sein. Auch damals konnte man Frauen in Häfen und Hüttenkombinaten genauso begegnen, wie im Straßenbau oder in der Lackiererei/Galvanik-Abteilung eines Betriebes. Mit wachsendem Konkurrenzdruck, dem die Unternehmen ausgesetzt sind, und der immer akuteren Notwendigkeit, Personal abzubauen, werden die Frauen gegenwärtig massenhaft vom Arbeitsmarkt verdrängt. Daran änderte bislang auch die Tatsache nichts, daß in den neu entstehenden wirtschaftlichen Strukturen, beispielsweise im Banken- und Dienstleistungssektor, ungleich mehr Frauen in mittleren und höheren Führungspositionen beschäftigt sind als in den ehemaligen Staatsbetrieben. Die gegenwärtige katastrophale soziale Lage und Altersrenten, die zum Leben zu gering und zum Sterben zu hoch sind, zwingen viele Frauen aller Altersgruppen, fast jede beliebige Tätigkeit
anzunehmen,
um
das
Familieneinkommen
aufzubessern. Der Hauptgrund für die Chancenungleichheit der russischen Frauen dürfte jedoch darin zu sehen sein, daß die Frau in der russischen Gesellschaft auf ihre traditionelle Rolle als Mutter und Hausfrau festgelegt ist. Die Ursache dafür ist sicher nicht allein in der chauvinistischen Einstellung der Männer zu suchen; sie liegt
vielmehr
in
jahrhundertealten
philosophischen
und
religiösen
Überzeugungen begründet. Daran haben auch 70 Jahre Sowjetmacht nichts wirklich
geändert
und
weitgehend
unwidersprochene
Forderungen
nach
Rückkehr der Frauen an den häuslichen Herd sowie das fast völlige Fehlen einer feministischen Bewegung scheinen dies nur zu bestätigen.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
227
Rentner im Unternehmen Ein verbreitetes Problem russischer (ehemals staatlicher) Unternehmen stellen die Rentner unter den Beschäftigten dar. Auf Grund der immer schon geringen Löhne und Gehälter in russischen Betrieben und infolge der Inflation der letzten Jahre, erhalten viele Rentner eine so geringe Altersrente, daß sie gezwungen sind, auch im Rentenalter weiterhin berufstätig zu bleiben. Andererseits erlaubt es die russische Arbeitsgesetzgebung einem Unternehmen nicht, einen Beschäftigten aus Altersgründen (Erreichen des Rentenalters) zu entlassen. Da in Rußland das gesetzliche Rentenalter für Männer bei 60 Jahren und für Frauen bei 55 Jahren liegt, machen die Rentner einen beträchtlichen Anteil an der Bevölkerung (ca. 25%) aus. Noch größer - nämlich fast 40% - ist ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung. Allein diese Zahlen machen deutlich, daß es sich viele Unternehmen, selbst bei Vorhandensein einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, gar nicht leisten könnten, ihre Rentner zu entlassen. Viele Großunternehmen sind deshalb hoffnungslos überaltert: das Durchschnittsalter der Beschäftigten beträgt nicht selten 40, 45 oder gar 50 Jahre. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind es zumeist die Rentner (also jene, die auf dem Arbeitsmarkt sehr „schlechte Karten" haben), die bereit sind, viele körperlich schwere, schmutzige und schlecht bezahlte Tätigkeiten zu verrichten.
Beruflicher Aufstieg Wurden früher als wichtigste Faktoren für das Vorwärtskommen im Leben vor allem eine gute Ausbildung, harte Arbeit und Ehrgeiz angesehen, so scheinen heute neben den beiden erstgenannten Faktoren vorrangig Beziehungen eine wesentliche Rolle zu spielen. Da Stellen mit guten Verdienstmöglichkeiten und realen Aufstiegschancen, bei denen Talent und Wissen gefragt sind und die all dies noch auf einer legalen Basis ermöglichen, nicht eben reich gesät sind, ist es notwendiger denn je, über persönliche Beziehungen und Kontakte (russ.
ÖJiaT)
zu
verfügen, die in der russischen Gesellschaft immer schon einen großen Stellenwert besaßen (vgl. Beziehungen hinter den Kulissen). Viele Hochschulabsolventen, insbesondere die geisteswissenschaftlicher und (finanz)wirtschaftlicher Fachrichtungen wandern wegen besserer Bezahlung und Arbeitsbedingungen in Beratungs- oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ab,
228
Teil 2: Hintergrundinformation
arbeiten in Niederlassungen ausländischer Firmen oder in Joint-ventures. Die am meisten geschätzten Disziplinen sind Rechnungswesen und Bilanzbuchhaltung. Traditionell haben Buchhalter in russischen Unternehmen einen recht engen Verantwortungsbereich
und
damit
einen
geringeren
Stellenwert
als
in
Westeuropa. Die Basis für Beförderung bilden neben beruflicher Kompetenz und Leistung auch die Ausbildungsqualifikation und die Dauer der Betriebszugehörigkeit. In einem großen Unternehmen ist es jedoch sehr schwierig, von der Werkbank an die Spitze aufzusteigen. Nicht selten wird Beförderung eher mit bestimmten Privilegien und einem besseren Leben als mit mehr Arbeit und größerer Verantwortung assoziiert. Ein schneller, „kometenhafter" Aufstieg dürfte zumindest in großen Unternehmen - die Ausnahme sein, gewöhnlich beruht er auf Vetternwirtschaft. Noch immer wird Leistung nicht als wichtigstes Kriterium für Karriere angesehen. Öffentlich anerkannter Indikator für eine erfolgreiche berufliche Karriere ist weniger der Zuwachs an Verantwortung, die Erweiterung des eigenen Aufgabenbereiches, als vielmehr Reichtum und persönlicher Einfluß.
Qualifikation und Fortbildung Es gibt einige führende Bildungseinrichtungen, die wissenschaftliche Institutionen und die öffentliche Verwaltung bzw. die Wirtschaft mit hochqualifizierten Fachleuten versorgen. Die Konkurrenz um die Aufnahme in eine solche Einrichtung ist sehr hart. Von einer eigentlichen Bildungselite kann jedoch nicht gesprochen werden. Absolventen solcher Hochschulen und Institute - nach wie vor sind es vorrangig Kinder von Diplomaten und Politikern wandern dann in den privatwirtschaftlichen Sektor ab. In den großen, ehemals staatlichen Unternehmen gibt es nur wenig junge, computererfahrene, professionell arbeitende und nach europäischen Standards ausgebildete Arbeitskräfte. Eine
sich
langsam
Führungskräfte,
die
herausbildende mit
Generation
amerikanischen
junger
professioneller
Unternehmensmethoden
und
Anschauungen vertraut ist. stellt alte Denk- und Handlungsweisen zunehmend in Frage. Diese Spezialisten sind jedoch fast ausschließlich in den sich neu
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis entwickelnden
Wirtschaftsstrukturen
und
damit
vorrangig
229 im
nichtproduzierenden Gewerbe tätig. Berufliche Qualifikation wird in erster Linie als eine rein akademische Qualifikation verstanden. Bei einer Einstellungsentscheidung spielt die berufliche Qualifikation eine große Rolle. Früher bestand ein entwickeltes System der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Alle Großunternehmen verfügten über eigene Ausbildungsstätten (die den Unternehmen angegliederten Institute und/oder Betriebsakademien). Diese sind heute entweder ausgegliedert (zumindest formal) oder bestehen, wenn überhaupt, nur noch auf dem Papier. Die wenigsten Großunternehmen finden Zeit und Mittel, um ihren Beschäftigten Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung zu bieten. Beschäftigungsbegleitende Weiterbildung (Training on the job) spielt oft nur dann eine Rolle, wenn es um die Gründung eines Jointventures und/oder um die Organisation einer Produktionskooperation mit einem ausländischen Partner geht. Die interne Fortbildung, insbesondere für das Management, steckt infolge des Mangels an entsprechend qualifizierten Fachkräften mit Praxiserfahrung und an Geld noch in den Kinderschuhen. Betriebliche Weiterbildungsmaßnahmen sind auch heute noch fast ausschließlich produktions- und technologieorientiert. Eine Ausbildung in Managementdisziplinen, Rechts- und Finanzwissenschaften haben bislang nur sehr wenige Führungskräfte des Top-Managements erhalten. In zunehmendem Maße bildet sich jedoch ein russischer Bildungsmarkt heraus. Auf ihm vermitteln junge, qualifizierte, im Westen oder mit westlicher Unterstützung ausgebildete russische Trainer und Dozenten Managementkenntnisse an Führungskräfte aus Unternehmen und Verwaltungseinrichtungen.
Akzeptanz ausländischer Partner in russischen Unternehmen Das Verhältnis zu Ausländern zeigt sich in russischen Unternehmen buchstäblich am Eingangstor - nämlich in der Frage nach dem Passierschein (russ. nponycK). Ferner gehören solche auf den ersten Blick banal erscheinenden Fragen dazu, wie die Erlaubnis, als potentieller strategischer Partner oder als ausländisches Beratungsunternehmen Zugang zu den Unternehmensdaten zu
230
Teil 2: Hintergrundinformation
erhalten und Informationsgespräche mit den Mitarbeitern des Unternehmens führen zu dürfen, oder die Möglichkeit, die Produktion mit eigenen Augen zu sehen. Mitunter scheitern an diesen Fragen Kooperationsbeziehungen bevor sie überhaupt begonnen haben. Ausländer sind nicht selten verunsichert, j a abgeschreckt, wenn sie mit der schier unergründlichen russischen Bürokratie konfrontiert werden, die viele Gesichter hat und sich nicht zuletzt auch in archaischen, noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammenden Sicherheitsbestimmungen manifestiert. Auf Rudimente eines ehemals bis zur Vollendung getriebenen Sicherheitssystems trifft man auch heute noch auf Schritt und Tritt. Die „Offenheit " eines Unternehmens hängt damit maßgeblich von seinem Charakter ab. In Unternehmen, die schon immer ausschließlich im zivilen Bereich tätig waren kommt man ohne größere Probleme. Anders ist die Situation in Unternehmen, die teilweise oder völlig im militärisch-industriellen Komplex eingebunden waren bzw. sind, wobei dies bei weitem nicht nur auf „reine Verteidigungsbetriebe" zutrifft (so gehörten in Rußland fast alle Maschinenbaubetriebe zum militärisch-industriellen Komplex). Hat man diese Hürden aber einmal genommen, und ist eine wirkliche Vertrauensbasis geschaffen worden, dann gibt es fast nichts, was unmöglich wäre. Verhandlungsangebote und Vorschläge des ausländischen Partners werden dann auf offene Ohren treffen, wenn sie die realen Gegebenheiten in Rußland möglichst umfassend berücksichtigen bzw. wenn mit der Unterbreitung eines Lösungsmodells, das sich im Ausland bewährt hat, zugleich auch Vorschläge zu seiner Umsetzung unter russischen Bedingungen gemacht werden. So ist
es
sicher
richtig,
darauf
zu verweisen,
daß
ein
Mittel,
die
Wettbewerbsposition eines Unternehmens in der Marktwirtschaft zu erhalten bzw. auszubauen darin bestehen kann, als Produzent kundenfreundliche Zahlungs- und Lieferkonditionen einzuräumen. Und sicher wird dem auch in Rußland niemand ernsthaft widersprechen wollen. Aber als russischer Produzent einem
Kunden
in
einem
konkreten
Vertrag
beispielsweise
einen
Lieferantenkredit einräumen zu wollen, ist gegenwärtig weniger eine Frage der Wettbewerbsposition als der Gesetzestreue, da alle Produzenten von Gütern und Dienstleistungen gesetzlich verpflichtet sind, von ihren Kunden Vorauskasse vor Auftragsabwicklung zu verlangen. Auch macht es sicher wenig Sinn, als Beratungsunternehmen Modelle für soziale Abfederung und Arbeitsplatzsicherung, die sich im Westen dank geregelter
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
231
gesetzlicher Rahmenbedingungen und einer gesicherten Finanzierung bewährt haben, auf Rußland (wenn auch in modifizierter Form) anwendbar machen zu wollen. Der westliche Partner wird sich hier in der Regel den Vorwurf gefallen lassen müssen, die russischen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen nicht zu kennen oder zu ignorieren. Letztlich wird die Akzeptanz ausländischer Geschäftspartner und Berater jedoch von denselben Faktoren bestimmt, die auch für die generelle Akzeptanz Fremder in Rußland (vgl. Teil 1, Kapitel 2, Akzeptanz von Ausländern) Gültigkeit haben.
Die Einstellung zu Gemeinschaftsunternehmen mit Ausländern Es besteht von russischer Seite generell ein großes Interesse, Joint-venture mit ausländischer
Beteiligung
Investitionen
und
zu
gründen
und
zu
erhalten.
Know-how
somit Die
dringend
benötigte
Gründung
eines
Gemeinschaftsunternehmens wird nicht selten als „Wunderwaffe" gegen alle Probleme, mit denen man sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen herumschlagen
muß,
betrachtet
-
„.HaBairre
cowwhm
coBMecTHoe
npe/mpHATHe!" („Laßt uns ein Joint-venture gründen!"). Andere
mögliche
Formen
einer
Zusammenarbeit
mit
ausländischen
Unternehmen werden von russischer Seite oft nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Wen verwundert es da, daß der Vorschlag, ein Joint-venture zu gründen, oft mehr emotional als rational (geschweige denn wirtschaftlich) begründet ist und bereits auf einer sehr frühen Stufe geschäftlicher Beziehungen (nicht selten bereits beim ersten Kontaktgespräch) an den ausländischen Partner herangetragen wird. Die Idee der Gründung eines Joint-venture wird in Rußland weniger als ein logischer Schritt bei der Verwirklichung einer bereits konzeptionell umrissenen Geschäftsidee, jler es mit dem neuen Unternehmen eine bestimmte Rechts- und Organisationsform zu geben gilt, betrachtet, denn als Ausgangsbasis, auf der sich „später"
bestimmte
(in
der
Gegenwart
oft
noch
reichlich
nebulöse)
Geschäftsideen umsetzen lassen. Zum Zeitpunkt der Unterbreitung
eines
Vorschlages zur Gründung eines Joint-venture liegen meistens noch keinerlei Kostenanalysen,
Rentabilitätsberechnungen
oder
eine
ungefähre
Geschäftsplanung vor. Bei Sondierungsgesprächen über die eventuelle Gründung
232
Teil 2: Hintergrundinformation
eines Gemeinschaftsunternehmens stehen oft formaljuristische und steuerrechtliche Aspekte sowie andere bürokratische, mit der Registrierung verbundene Hürden im Vordergrund, während Probleme, wie Geschäftsplanung, Markt- und Produktstrategie, Personalfragen und Abwicklung der operativen Geschäftstätigkeit zu kurz kommen oder gar keine Rolle zu spielen scheinen. Man tut als ausländischer Geschäftspartner gut daran, diese Fragen von Anbeginn an offen zu diskutieren, um so einen möglichst genauen Eindruck von der Einstellung und Denkweise seiner russischen Partner zu bekommen. Denn ist ein Joint-venture erst einmal gegründet, sind Kapital, Know-how und Zeit erst einmal investiert, kann es schnell passieren, daß man auf russischer Seite der Meinung ist, auf Grund des „Heimvorteils" und der besseren Kenntnis der Umfeldbedingungen in Fragen der operativen Geschäftsführung, der Personalund Gehaltspolitik u.a. Anspruch auf das alleinige Sagen zu haben. Daß die Befürchtungen westlicher Geschäftsleute nicht ganz unbegründet sind, mag der folgende russische Witz illustrieren: Treffen sich ein Huhn und ein Schwein. Sie fragen einander, wie denn die Geschäfte so laufen. Nachdem beide eine Weile darüber geklagt haben, wie schlecht alles laufe, schlägt das Huhn vor: „Laß uns doch ein Joint-venture gründen!" Das Schwein ist zunächst nicht sehr überzeugt von dieser Idee. „Was willst du denn mit einem Joint-venture. was wollen wir denn machen?" Das Huhn überlegt eine Weile und antwortet: „Ich hab's! Wir eröffnen eine Hamand-Eggs-Produktion. Du lieferst den Schinken und ich die Eier..." Es gilt, die Erfolgschancen eines Joint-venture im vorhinein gründlich zu prüfen und abzusichern, inwieweit ein einmal gegründetes Joint-venture später nach Abzug der ausländischen Mitarbeiter von russischer Seite aus eigener Kraft weitergeführt werden kann. Eigene Erfahrungen und Gespräche mit deutschen Firmenvertretern, die Gemeinschaftsunternehmen in Rußland unterhalten, haben gezeigt, daß zumindest in der Startphase eines Joint-venture über einen längeren Zeitraum unbedingte Präsenzpflicht für den ausländischen Partner besteht, wenn er wirklich sichergehen will, daß die in den Gründungsdokumenten vereinbarten Geschäftsprinzipien und Ziele auch wirklich effektiv umgesetzt werden.
Kapitel 2: Aus der russischen Unternehmenspraxis
233
Sicher erfordert der Aufbau und die Führung eines Gemeinschaftsunternehmens mit russischen Partnern mehr als andere Formen einer Zusammenarbeit die Kenntnis
und
Berücksichtigung
sozio-kultureller
Besonderheiten
der
Geschäftspartner. Die Autorinnen waren bemüht, die Vielfalt der interkulturellen Aspekte in den Geschäftsbeziehungen zu russischen Partnern zu beleuchten. Sollten ihre Betrachtungen diesem oder jenem bei der Bewältigung praktischer Situationen des Geschäftsalltags helfen, ist das gestellte Ziel erreicht.
Anhang Tendenzen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklung in Rußland seit 1997 Hem xyda 6e3 doöpa. Keine Krise ohne Chance. Sicher dürften vielen Lesern die in der ersten Auflage des „Rußlandknigge" enthaltenen Ausführungen zu den politischen Rahmenbedingungen, die den Zeitraum vom Beginn des Transformationsprozesses bis Ende 1996 umfaßten, alles andere als ermutigend erschienen sein, und der eine oder andere mag vielleicht den Schluß gezogen haben, daß es besser sei, von einem unmittelbaren geschäftlichen Engagement in Rußland vorerst noch Abstand zu nehmen und zu warten, bis sich die Verhältnisse normalisiert haben und das Risiko kalkulierbarer geworden ist. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen. Zwei ereignisreiche Jahre, von denen man leider nicht sagen kann, daß sie für Rußland endlich die lange erwartete Wende zum Besseren gebracht hätten. Zwar sah es im ersten Halbjahr 1998 danach aus, als ob der seit 1990 andauernde, in seinen Ausmaßen beispiellose Rückgang der Industrieproduktion (um 53%) und der Investitionstätigkeit endlich zum Stillstand gekommen und sogar ein leichtes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen wäre, jedoch haben die Ereignisse in der zweiten Hälfte des Jahres diese Hoffnung zunichte gemacht und zu einem Politikwechsel an der Spitze von Regierung und Zentralbank sowie zu einer wirtschaftstheoretischen Umorientierung des Landes geführt. Trauriger Höhepunkt des letzten Jahres war zweifellos der Bankencrash, der ausgelöst durch den faktischen Zusammenbruch des Marktes für russische Staatsschuldverschreibungen und die Abwertung des Rubel am 17. August durch die russische Zentralbank um 33% bei gleichzeitiger Verhängung eines Zahlungsmoratoriums - wohl als Tag der faktischen Bankrotterklärung Rußlands in die Geschichtsbücher eingehen wird. Mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems, der sich allerdings schon seit Herbst 1997 angekündigt hatte, und seinen unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, hat auch die politische und soziale Instabilität im Lande wieder zugenommen. Die Befindlichkeit breiter Schichten der Bevölkerung läßt sich am besten mit einem Witz illustrieren, der, obwohl er zweifellos der Kategorie des Schwarzen Humors zuzurechnen ist, das Lebensgefühl im Rußland des Jahres 1999, plastischer als es jede noch so fundierte Analyse könnte, transportiert: Einer
Anhang
235
stürzt in einen Abgrund, sein Freund ruft ihm nach: „He, lebst Du noch? - Ich lebe. - Beine und Arme noch heil? - Alles o.k., ich bin unversehrt. - Dann komm wieder rauf. - Geht nicht, ich falle noch." Während Jelzins Präsidentschaft sah das Land sechs Regierungschefs, von denen es nur zweien vergönnt war, länger als ein halbes Jahr im Amt zu sein. Instabile politische Verhältnisse, Übergangszeiten, in denen das Riesenland faktisch ohne politische Führung war, völlige Konzeptionslosigkeit in der Wirtschaftspolitik und kollektive Verantwortungslosigkeit seiner Spitzenpolitiker - all das hat dazu geführt, daß wirkliche Reformen, die diesen Namen auch verdient hätten, bis heute auf sich warten lassen und daß Rußland jahrelang auf Pump lebte - was angesichts der Großzügigkeit, mit der der IWF, die Weltbank und andere westliche Finanzgeber Kredite zur Unterstützung des Reformprozesses vergaben sowie bei einer jährlichen Verzinsung dieser Kredite von lediglich 4,6 bis 4,8% auch wenig verwunderlich erscheint. Die Finanzierung des Haushaltes erfolgte über Staatsanleihen (GKO) mit immer kürzeren Laufzeiten und immer höherer Verzinsung (die zuletzt bei 200% lag). Diese hochverzinslichen Staatsanleihen waren ein überaus lukratives Geschäft zur risikolosen
Kapitalvermehrung
russischer Banken. Es
war
abzusehen,
daß
diese
Finanzpyramide
über
kurz
oder
lang
zusammenbrechen mußte. Daß der Finanzcrash letztlich dieses grandiose Ausmaß annehmen konnte - daran muß auch der Westen eine gewisse Mitschuld einräumen.
Elementarste
Kontrollmaßnahmen,
wie
sie
zu
den
Standardbedingungen der Kreditvergabe jeder Kreissparkasse gehören, scheinen bei der Gewährung der Milliardenkredite an Rußland versäumt worden zu sein. Wie sonst sollte man erklären, daß der IWF, um Rußland vor dem Bankrott zu bewahren, noch im Juli 1998 einen Kredit über 22,6 Mrd. US $ mit einer Laufzeit von zwei Jahren bewilligte und im Gegenzug „einschneidende Reformen" verlangte. Die erste Tranche dieses Kredits in Höhe von 4,8 Mrd. US $ wurde zur Stützung des Rubelkurses auch ausgezahlt, obwohl eigentlich klar sein mußte, daß der Rubel zu diesem Zeitpunkt um ein Vielfaches überwertet war. Grigorij Javlinskij, Reformpolitiker und Chef der Jabloko-Partei - der viertgrößten Fraktion in der russischen Duma - kommentierte diese Entwicklung später mit den Worten: „Der Westen machte den Fehler zu glauben, bei uns hätte die Demokratie Einzug gehalten"1. Der russische Rechnungshof prüfte die Verwendung der von der IBRD gewährten zweckgebunden Kredite. Nach Aussage Jurij Boldyrevs, Vizechef des russischen Rechnungshofes", sei bislang kein einziger Prüfungsfall von Regierungstätigkeit bekannt geworden, bei dem nicht grobe Verstöße festgestellt worden wären. Die gewährten Kredite wurden entweder direkt veruntreut oder zweckentfremdet in
236
Anhang
die Gründung dubioser Fonds, Stiftungen und Zentren gesteckt, wobei sich die leitendenden Mitarbeiter dieser Einrichtungen nicht selten Monatsgehälter zwischen 15.000 und 20.000 US $ genehmigten. 1995 wurden allein durch ungesetzliche Zollvergünstigungen ca. 9 Mrd. US $ am Staatshaushalt vorbeigeleitet. In den ersten drei Jahren seines Bestehens (zwischen 1995 und 1998) deckte der russische Rechnungshof Gesetzesverstöße auf, die den Staat um ca. 100 Mrd. Rubel (ca. 33 Mrd. DM) schädigten. Bezeichnenderweise wurden die schwersten Verstöße bei der russischen Zentralbank festgestellt, die 1997 2,2% aller Hauhaltseinnahmen (ca. 2,3 Mrd. DM) für eigene Bedürfnisse ausgab. Trotz dieser schockierenden Tatsachen müssen die verantwortlichen Exekutiven in der Regel weder weitergehende Tiefenprüfungen noch ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen furchten: das Fehlen wirklich unabhängiger Staatsanwaltschaften sowie die Tatsache, daß der jeweilige Generalstaatsanwalt durch den Präsidenten ernannt wird, verhindern eine effiziente Strafverfolgung. Allerdings hat sich die Vorstellung einiger Vertreter des Westens, Rußland müsse nur seine vor acht Jahren begonnenen Wirtschaftsreformen endlich konsequent vorantreiben und alles würde von selbst gut, offenkundig als Trugschluß erwiesen. Die stets vom IWF geforderten Reformmaßnahmen (wie Entflechtung der monopolisierten Bereiche der Wirtschaft, völlige Marktliberalisierung, konsequente Eindämmung der Inflation u.a.) sind in ihrer reinen Ausprägung für Rußland unannehmbar, weil sie die Existenz einer auf demokratischen Prinzipien fußenden bürgerlichen Gesellschaft und marktwirtschaftliche Erfahrungen voraussetzen. Beides ist auch im Rußland des Jahres 1999 noch nicht gegeben. Die Wurzeln der Krise, die im Zusammenbruch des russischen Bankensystems (als wohl anschaulichstes Beispiel einer geplatzten Illusion) ihren vorläufigen Höhepunkt fand, liegen tiefer und begründen sich in strukturellen Problemen, die bereits lange vor 1992 bestanden. Sie liegen u.a. auch in der eigenständigen Soziokultur Rußlands und in dem Fehlen einer Vertragskultur zwischen Individuum und Staat begründet. Die tief in der Gesellschaft verwurzelte Philosophie des russischen Selbstherrschertums implizierte von jeher die Unterwerfung der Untergebenen und - bei Wohlverhalten - ihre Belohnung mit bestimmten Privilegien. Daran änderten vom Wesen her weder 70 Jahre Sozialismus etwas noch die seit 1992 praktizierte und von außen geförderte „Schocktherapie". Diese führte lediglich zur Etablierung einer Art „Pseudomarktwirtschaft" mit ihren hinlänglich beschriebenen Wesenszügen, wie Kriminalität, Korruption, Oligarchiebildung, persönlichem Machtmißbrauch etc. Vor diesem Hintergrund muten manche der von IWF und Weltbank gestellten Forderungen zumindest etwas realitätsfremd an. Dazu gehören beispielsweise: 1. Die Forderung, die Staatseinnahmen durch höhere Steuern zu verbessern1". Zum einen weil Russen es historisch nicht gewöhnt waren,
Anhang
237
Einkommenssteuern zu bezahlen und die Gewöhnung daran sicher einer gewissen Zeit bedarf. Zum anderen fehlt es aufgrund unzureichender Ausbildung und ungenügender Bezahlung der Finanzbeamten an einer effizienten Steuerverwaltung. Darüber hinaus sind das noch immer undurchsichtige Steuersystem (Es gibt über hundert verschiedene Steuer- und Abgabenarten.) und die ungerechte Steuerbemessungsgrundlage wenig dazu angetan, die Steuermoral zu erhöhen. 2.
3.
Die Forderung nach einer Entflechtung der großen Monopole, wie GAZPROM, SVJAZINVEST u.a., die einer Zerschlagung der leistungsfähigsten Unternehmen gleichkäme. Darüber hinaus könnten sich regionale Konzerne ihren Steuerverpflichtungen noch besser entziehen. Die Forderung, den aufgeblähten Staatsapparat abzuspecken und „überflüssige" soziale Einrichtungen, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser etc. zu schließen. Die zu erwartende Kostenersparnis ist angesichts der Höhe der im öffentlichen und staatlichen Dienst gezahlten Löhne und Gehälter sowie der Tatsache, daß diese ohnehin monatelang nicht gezahlt werden, als eher unbedeutend anzusehen - abgesehen von den zu erwartenden sozialen Folgen solcher Maßnahmen.
Tabelle 1: Russische Auslandsschulden in Mrd. US S,v Staatsschulden Offizielle Schulden"
118, 8
Eurobonds
16,2
Inländische Anleihen"
21,8
Sonstige
2,8
Privatwirtschaftliche Schulden Russische Banken
29,2
Russische Unternehmen
25,0
Die Auslandsschulden der Russischen Föderation belaufen sich auf insgesamt 213,8 Mrd. US $. Als letztes Mittel zur Eintreibung offener Forderungen könnten Bankhäuser im Westen versuchen, eine Beschlagnahme der russischen Auslandsguthaben zu erwirken. Nach dem Kurssturz des Rubels am 17. August letzten Jahres äußerte der frühere russische Finanzminister Schochin, daß es „wahrscheinlich ein Fehler gewesen sei, 1991 die Schulden der Sowjetunion zu übernehmen". Als vertrauensbildende Maßnahme läßt sich diese Äußerung kaum interpretieren. Mit der einseitigen Verkündigung des zunächst auf 90 Tage befristeten Moratoriums für kurzfristige Kredite vom 17.08.98 durch die russische
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Regierung wurde die ehemals von westlichen Gläubigern als vorbildlich gerühmte Zahlungsmoral Rußlands bei der Bedienung seiner Auslandskredite leichtfertig, als handele es sich dabei um unnötigen Ballast, über Bord geworfen. Neben den unmittelbaren, auf Heller und Pfennig zu beziffernden direkten Verlusten durch den Crash des Rubel, ist es dieser immaterielle Vertrauensverlust bei Gläubigern und potentiellen Investoren, der Rußland noch auf Jahre vergeblich auf dringend benötigte Direktinvestitionen großen Umfangs warten lassen wird. Die Krise führte zunächst zu einer drastischen Reduzierung des Geldvolumens: das Verhältnis zwischen dem BIP und der umlaufenden Geldmenge betrug 1998 lediglich 13% (gegenüber 50-100% in westlichen Marktwirtschaften""). Im Ergebnis dieser Entwicklung kehrten die Unternehmen in einem schon vergessen geglaubten Ausmaß zum Tauschhandel zurück, wurde der US Dollar endgültig zur führenden „Ersatzwährung". Schätzungen zufolge sind gegenwärtig rund 40 Mrd. US $ im Umlauf, was eine größere Menge als die umlaufende Rubelmenge bedeuten würde. Schuldscheine wurden zum gültigen „Zahlungsmittel". Die seit Jahren gängige Praxis, Zahlungsverpflichtungen einfach nicht nachzukommen und sich dabei auf eigene offene Forderungen oder auf die miserable Zahlungsmoral des Staates zu berufen, nahm epidemische Ausmaße an. Die Kapitalflucht ins Ausland erreichte nie dagewesene Größenordnungen. Man schätzt, daß sich mittlerweile ungefähr 150 Mrd. US $ russischer Vermögen im Ausland befinden. Der Kapitalexport ins Ausland beschleunigt das Ausbluten der privaten Unternehmen. Die Regierung Primakovs sah sich vor die Alternative gestellt, den unmittelbaren Folgen der Krise durch eine särkere staatliche Regulierung der Wirtschaft entgegenzusteuern oder infolge von Untätigkeit in eine erneute Hyperinflation, die man bereits mehrere Jahre für überwunden hielt, hineinzuschlittern. Bei der öffentlichen Diskussion um das von der Regierung vorgelegte Programm zur Überwindung der Krise war folgerichtig von stärkeren staatlichen Eingriffen in Schlüsselbereiche, wie Banken, Transport- und Rohstoffsektor ebenso die Rede, wie von Preis- und Kapitalverkehrskontrollen, Devisenbewirtschaftung bis hin zur Androhung der automatischen Nationalisierung notorischer Steuersünder. Über allem stand die Forderung nach einer Stärkung des realen Sektors der Wirtschaft, einer Förderung der einheimischen Produzenten, sowie nach sozial verträglichen Flankierungsaßnahmen zur Vermeidung sozialer Eruptionen. Es handelte sich also um durchweg ehrenwerte und unbestreitbar wichtige Zielstellungen - nur wie die Gegenfinanzierung dafür aussehen sollte, blieb völlig im Dunkeln. Immerhin kursierte der Begriff einer „kontrollierten Geldemission" - wodurch sich Befürchtungen hinsichtlich eines Rückfalls in die Zeit der Hyperinflation nicht mehr als völlig unbegründet abtun ließen. Auch wenn viele westliche Beobachtei in diesen Maßnahmen eine „Rolle rückwärts" in die Zeiten der früheren
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Zentralverwaltungswirtschaft sahen und bisweilen gar von „Wirtschaftsdiktatur" gesprochen wurde, ist nicht zu verkennen, daß eine aktive Wirtschafts- und Devisenpolitik (die durchaus auch eine moderate Inflationspolitik zur Ankurbelung der Binnennachfrage impliziert) anstelle des bislang unbeschränkten Freihandels sicher als eine unabdingbare Voraussetzung für den Ausweg aus der Krise anzusehen ist. Für die meisten russischen Unternehmen brachte der Kurssturz des Rubel (innerhalb von nur drei Wochen verlor er mehr als 50% seines Wertes) nicht die erhoffte Chance für eine kräftige Umsatzsteigerung und eine Festigung der eigenen Marktposition mit sich. Zwar gingen die westlichen Importe vor allem im Konsumgüterbereich aufgrund der plötzlichen Verteuerung (um bis zu 40%) und des
Nachfragerückgangs
kräftig zurück.
Jedoch
führte der
nachlassende
Konkurrenzdruck durch ausländische Anbieter volkswirtschaftlich gesehen eher begrenzt zu einem Marktzuwachs bei russischen Produzenten. Dies ist auf eine Reihe von Ursachen zurückzufuhren. Zum einen mangelt es den Unternehmen am dringend benötigten Betriebskapital, was sich insbesondere in der verarbeitenden Industrie mit ihrem sehr hohen Investitionsbedarf verheerend auswirkt. Ohne erhebliche Investitionen im technisch-technologischen Bereich sind die meisten russischen Unternehmen überhaupt nicht in der Lage, in die Lücke, die die ausländischen Importe vorübergehend hinterlassen haben, zu stoßen und den sich auftuenden Markt zu bedienen. Infolge der unvermittelten Entwertung der Spareinlagen der Bevölkerung war die Nachfrage selbst zudem stark rückläufig. Vor der Krise wurde die ohnehin niedrige
Kaufkraft der
Bevölkerung
etwa
zur
Hälfte
für
aufgewendet. Darüber hinaus konzentrierte sich der Absatz
Importwaren höherwertiger
westlicher Importgüter auf die großen Ballungszentren des Landes. Dies hatte als positive Kehrseite jedoch auch zur Folge, daß eine unmittelbare Auswirkung der Krise - das zeitweilige Warendefizit - in den russischen Regionen vergleichsweise weniger spürbar waren als in den Finanz- und Wirtschaftszentren des Landes. Da die Mehrzahl der privaten Kleinanleger in den Regionen ihre Spareinlagen bei der Sberbank hatte, erreichte auch der durch Totalverlust der Spareinlagen bedingte Nachfragerückgang nicht die Ausmaße, wie in den Ballungszentren mit ihrer Vielzahl von Geschäftsbanken - was die Sparer freilich nicht vor einer Entwertung ihrer Ersparnisse infolge des Rubelverfalls bewahrte. Grigorij Javlinskij, Reformpolitiker und Chef der Jabloko-Fraktion in der Duma, beschrieb diese Situation im Herbst 1998 mit den Worten: „In der Hauptstadt...bricht die große Panik aus, wenn Visa-Kreditkarten nicht mehr akzeptiert werden. Bislang haben sich die Moskauer gewundert, wie es die Leute in der Provinz überhaupt aushalten. Nun werden sie es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es konnte ja auch nicht lange gutgehen, daß Mosaku alles Geld anzieht wie ein Casino und der
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Rest des Landes dahinvegetiert. Jetzt findet die große Annäherung statt"™1. Obwohl in Moskau die höchsten Löhne gezahlt werden und das Angebot an Konsumgütern breiter ist als in den Regionen, führte die August-Krise den Moskauern die Nachteile ihres deutlich höheren Lebensstandards drastisch vor Augen: Durch die große Abhängigkeit von Importwaren (bei Konsumgütern lag sie in den letzten Jahren bei über 80%) bekommen die Moskauer Instabilitäten im Währungs-, Zoll- und Steuerbereich besonders deutlich zu spüren. Der drastische Rückgang des Außenwertes des Rubel hat vorübergehend zu Warendefiziten geführt und das Konsumgüterangebot in der Hauptstadt überproportional verteuert. Der gegenwärtig bestehende Binnenmarkt ist für die russischen Produzenten von Konsumgütern aufgrund der sehr begrenzten zahlungsfähigen Nachfrage zu klein. Ohne eine Stärkung der Binnennachfrage wird es der verarbeitenden Industrie nicht gelingen, den seit 1990 andauernden Rückgang der Industrieproduktion zu stoppen und eine Kehrtwende herbeizuführen. Auch tragen die stark überhöhten Preise für Rohstoffe, Transport und Energie ein Übriges dazu bei, die Rentabilität der Warenproduzenten zu schmälern. Die hohen Einkaufspreise für Rohstoffe und Halbfabrikate sind ein wesentlicher Grund dafür, warum die russischen Warenproduzenten nicht stärker vom Kurssturz des Rubel profitierten. Zum einen arbeiten viele Unternehmen mit importierten Ausgangsstoffen. Dadurch litten unter dem Rubelverfall selbst solche Branchen und Unternehmen, die seit geraumer Zeit durchaus Anlaß zu optimistischen Erwartungen gaben - wie z.B. die Süßwarenbranche. Nicht zufällig war die russische Nahrungsmittelindustrie in den letzten 2-3 Jahren zum bevorzugten Investitionsziel der ausländischen Industrie geworden. Immerhin wurden 1998 1.192 Millionen US $,x in diesen Bereich investiert. Allerdings mußte selbst die traditionsreiche Moskauer Süßwarenfabrik „Krasnij Oktjabr'", die dank moderner Technologie und eines gelungenen Marketings ihren Marktanteil auf dem russischen Binnenmarkt kontinuierlich steigern konnte, durch die plötzliche Verteuerung des Kakaos erhebliche Unisatzeinbußen hinnehmen. Zum anderen binden auch die russischen Anbieter von Rohstoffen und Halbfabrikaten (sofern sie denn eine marktbeherrschende Stellung innehaben) ihre Abgabepreise häufig an den Dollar. Ein weiterer wettbewerbsrelevanter Kostenfaktor sind die Energiekosten. So betrug der Anteil der Energiekosten an den Fertigungsselbstkosten eines Produktes 1990 im Durchschnitt 6-7% - heute liegt er bei 40-50%x. Die Forderung nach Preiskontrollen in den stark monopolisierten Bereichen, wie dem Öl-, Gasund Energiesektor, dem Schienenverkehr und dem Kommunikationswesen scheint vor diesem Hintergrund durchaus berechtigt. Die einfache Preisliberalisierung von 1992, die einer Übertragung der Weltmarktpreise auf den russischen Markt gleichkam, hatte für die Wirtschaft insgesamt, insbesondere jedoch für die
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verarbeitende Industrie, fatale Folgen. Rußland hat sich damit in vielen Bereichen zu einem bloßen Rohstoff- und Energieanhängsel ( « c b i p b e B O H n p n a a T O K » ) der westlichen Industriestaaten degradiert. Die von verschiedenen Wissenschaftlern sowie von der russischen Regierung angedachten (und teilweise auch umgesetzten) Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage und zur Unterstützung der russischen Warenproduzenten implizieren u.a. > protektionistische Maßnahmen zum Schutz gegen ausländische Waren, > Maßnahmen gegen Dumping, > Steuervergünstigungen (Stundungen und Befreiungen), > Einführung von Importquoten für bestimmte Waren und Warengruppen, > Außenhandelslizenzen sowie > Maßnahmen zur Zoll- und Tarifpolitik. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Mehrzahl dieser regulativen Eingriffe bislang fast ausschließlich fiskalischen Zwecken dient und die Ankurbelung der Produktion eher ein gewünschter Nebeneffekt zu sein scheint. Dazu gehört auch die schrittweise Wiedereinführung der Ausfuhrzölle (seit Januar 1999) für bestimmte Rohstoffe und Produkte"', wie Ölprodukte, Holz, Holzwaren, chemische Produkte, Nichteisenmetalle, Erzeugnisse der Papier- und Pappindustrie u.v.a. Die Höhe dieser Ausfuhrzölle liegt zwischen 5 und 20% des Warenwertes. Es ist mehr als zweifelhaft, ob durch diese Maßnahmen ein wirksamer Beitrag zur Erhöhung der Einnahmen des Staatshaushaltes geleistet werden kann. Eher das Gegenteil scheint der Fall: Aufgrund des scharfen Wettbewerbs auf den Weltmärkten führen zusätzliche Verteuerungen der Lieferungen bei den oftmals ohnehin knapp berechneten Preisen russischer Anbieter zu einer empfindlichen Einschränkung der Konkurrenzfähigkeit und damit letztlich zu einem Verlust von Marktanteilen auf den Auslandsmärkten. Die Wiedereinführung des Instituts der Exportzölle konterkariert damit die im Rahmen des Antikrisenprogramms der Regierung vollmundig verkündeten Bemühungen um Förderung der einheimischen Warenproduzenten. Nur zu häufig steht die Produktion oder laufen Anlagen unter Minderauslastung, weil kein Geld da ist, um Material und Rohstoffe zu kaufen. Die Auslastung brachliegender Fertigungskapazitäten bzw. - wo dies aufgrund eines fehlenden Absatzmarktes nicht ohne weiteres möglich ist - eine anderweitige effiziente Nutzung werden deshalb sowohl von den Unternehmensleitungen selbst als auch von vielen politischen Entscheidungsträgern als eine vorrangige Aufgabe angesehen, dienen sie doch zur Senkung der Fixkosten und damit der Verbesserung des Betriebsergebnisses der Unternehmen.
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Im Sinne einer regionalen Wirtschaftsforderung verabschiedete beispielsweise die Stadtregierung von Sankt Petersburg als erste in Rußland überhaupt am 10.09.1998 eine „Konzeption zur Restrukturierung der Industrieunternehmen" der Stadt. Diese Konzeption beinhaltet eine Reihe von Vergünstigungen für diejenigen Unternehmen, die den Restrukturierungsprozeß erfolgreich durchlaufen. Dazu gehören u.a.: > Indirekte Steuervergünstigungen durch die Möglichkeit der zeitweiligen Stillegung von Maschinen, Anlagen und Gebäuden - bei gleichzeitiger Befreiung von der Vermögens- und Grundstücksteuer, > Stundung bzw. Ratenzahlung bei offenen Steuerverbindlichkeiten gegenüber dem kommunalen Haushalt, > Unterstützung bei der Erarbeitung und Umsetzung von Umschuldungsmodellen zur Tilgung offener Verbindlichkeiten gegenüber Sozialversicherungsträgern, Energieversorgern und anderen Gläubigern, > Unterstützung bei der Erstellung von Geschäftsplänen und Investitionsprojekten sowie bei der Suche nach geeigneten Kooperationspartner im In- und Ausland, > Gewährung von Regionalbürgschaften bei der Aufnahme von Investitionskrediten, > Rechtsberatung bei der Gestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen dem zu restrukturierenden Unternehmen, seinen zur Ausgründung in selbständige Unternehmen vorgesehenen Teilen und den sogenannten natürlichen Monopolisten (Energie- und Wasserversorger, Telefongesellschaft), > Bevorzugte Auftragsvergabe bei kommunalen Aufträgen, > Angebot kompetenter Beratungsleistungen zu Fragen der Restrukturierung und des Marketings (unter Beteiligung russischer und ausländischer Consulting-Unternehmen). Gleichzeitig wird den interessierten Unternehmen eine fundierte methodische Unterstützung bei der Erarbeitung ihres Restrukturierungsplans (Sanierungsplans) seitens des Komitees für Wirtschaft und Industriepolitik der Stadt angeboten. Basierte die Teilnahme der ersten zehn Industrieunternehmen an dem Restrukturierungsprogramm in einer Modellphase zunächst auf Freiwilligkeit, so sind seit Sommer 1999 alle Unternehmen, die bereits seit längerem in Liquiditätsschwierigkeiten stecken und die offene Verbindlichkeiten gegenüber dem kommunalen Haushalt, den Versorgungsbetrieben, den Sozialversicherungsträgern bzw. den eigenen Mitarbeitern haben, gezwungen, ernsthafte Restrukturierungsbemühungen im Rahmen des oben genannten Programms glaubhaft nachzuweisen. Andernfalls droht die Beantragung der Gesamtvollstreckung durch die Gläubiger. Die Stadtregierung ist nach eigenem Konkursgesetzgebung konsequent Bekunden willens, die bestehende anzuwenden. Durch die Schaffung steuerlicher und anderer Anreize hofft man,
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neben einer Stärkung der Industrieproduktion der Stadt mittel- bzw. langfristig auch eine Erhöhung der Steuereinnahmen herbeiführen zu können. Erstmals scheint der Binsenweisheit, daß Steuerpolitik nicht nur fiskalische, sondern auch ordnungspolitische Zielstellungen verfolgt, auch in der russischen Wirtschaftspraxis Rechnung getragen zu werden. Der frühere Vizegouverneur für Wirtschaftsfragen der Stadt und jetzige Vizepremier in der Regierung Stepaschin, Ilja Klebanov, sagte dazu: „Wir sind bereit, unsere Steuerforderungen gegenüber den Unternehmen etwas zurückzustellen und auch bei anderen fälligen Abfuhrungen zu warten - dafür werden wir produzierende Unternehmen haben und Menschen, die ihr Gehalt ausgezahlt bekommen. Wir brauchen keine stillstehenden Betriebe, wir brauchen Haushaltseinnahmen, finanzielle und soziale Stabilität. Die „Konzeption zur Restrukturierung der Industrieunternehmen" sieht eine Vielzahl von Instrumenten zur Unterstützung jener Unternehmen vor, die die Restrukturierung durchlaufen - das schließt eine organisatorische und finanzielle Unterstützung der Unternehmen ebenso ein, wie Maßnahmen zur Imageverbesserung und im Consultingbereich. Das ganze Ausmaß des Finanzcrashs vom August letzten Jahres wird jedoch erst deutlich, wenn man sich die Entwicklung der Investitionstätigkeit in Rußland ab 1998 ansieht. So hat die Bereitschaft ausländischer Anleger, in Rußland zu investieren, bereits 1998 beträchtlich nachgelassen. Dagegen sind die sogenannten übrigen ausländischen Investitionen (also Investitionen in Form von Handelskrediten, garantierten Staatskrediten, Bankeinlagen und Krediten internationaler Organisationen) 1998 gestiegen. Drastisch zurückgegangen sind demgegenüber die volkswirtschaftlich so wichtigen Direktinvestitionen und die Portfolio-Investitionen. Zwischen 1996 und 1997, in der Periode der Rubelstabilisierung innerhalb des sogenannten Rubelkorridors, war dieser Bereich der Investitionen kräftig gestiegen. 1997 wurden 5.333 Millionen US $xl" an Direktinvestitionen in Rußland getätigt. Für 1998 beliefen sich die Direktinvestitionen (erstmalig unter Einbeziehung der Rubelinvestitionen, was eine chronologische Vergleichbarkeit erschwert) auf 3.361 Millionen US $. Dies entspricht einem Rückgang von 37%. Bei Beteiligungserwerb und langfristigen Darlehen in russisch-ausländischen Joint-Ventures betragen die Rückgänge in 1998 gegenüber dem Vorjahr 41,4% bzw. 35,8%. Der Rückgang der PortfolioInvestitionen lag gar bei 72%. Bevorzugte Investitionsziele ausländischer Investoren sind neben der bereits erwähnten Nahrungsgüterindustrie der Öl-, Gas- und Kohlesektor, der Maschinenbau und die Metallverarbeitung sowie die Holz-, Papier- und Zellstoffindustrie. Die Verteilung der Investitionen auf die einzelnen Wirtschaftsstandorte und Regionen ist stark differenziert und hat sich in den letzten Jahren wenig verändert. 85% der Mittel fließen in nur 5 der insgesamt 11
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großen Wirtschaftszentren des Landes. Fast die Hälfte (1.440 Millionen US $ bzw. 42,8%) der ausländischen Direktinvestitionen konzentrierten sich auch 1998 auf den Großraum Moskau, gefolgt von der Nord-West-Region mit Sankt Petersburg (360 Millionen US $ bzw. 10,7%). Von den 360 Millionen US $, die 1998 in diese Region investiert wurden, flössen 260 Millionen nach Sankt Petersburg. Es folgten die Wolga-Region (278 Millionen US $) mit dem Gebiet Samara (186 Millionen), Westsibirien (268 Millionen US $) und der Ferne Osten (132 Millionen US $). Die schon seit Jahren rückläufigen staatlichen Investitionen wurden auch für 1999 gekürzt. So wurden weniger als 40% des schon für 1998 nicht eben üppigen staatlichen Investitionsansatzes für den Haushalt von 1999 vorgesehen. Darüber hinaus fließen die verbleibenden Investitionen in Höhe von 6,71 Mrd. Rubel vorrangig in soziale Bereiche, nicht mehr als 2,09 Mrd. Rubel (ca. 100 Millionen US $) sollen in den industriellen Bereich fließen. Kaum nennenswerte Mittel sind für die Entwicklung der Landwirtschaft, des Energiesektors und für die Realisierung von Infrastrukturprojekten vorgesehen. Für den gesamten Maschinenbau stehen 1999 beispielsweise 9,1 Millionen Rubel, für die Metallurgie sogar nur 4,0 Millionen Rubel zur Verfügung. Verständlich, daß die tiefe Finanz- und Strukturkrise, in der sich die russische Wirtschaft noch immer befindet, viele ausländische Warenproduzenten und Investoren in bezug auf ihre weiteren Marketingaktivitäten auf dem russischen Markt verunsichert. Stärker denn je ist die eingeschränkte Zahlungsfähigkeit der russischen Partner der Knackpunkt bei der Entscheidung über die Fortführung bzw. Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit russischen Unternehmen. Es ist eher unwahrscheinlich, daß sich die Absatzchancen für westliche Konsumgüterexporteure kurz- bzw. mittelfristig wesentlich verbessern. Da sich aber - zumindest auf der Ebene der Regionen (s. das Beispiel von Sankt Petersburg) - zunehmend die Erkenntnis durchsetzt, daß radikale Maßnahmen zur Ankurbelung der einheimischen Produktion getroffen werden müssen, stehen die Chancen für Anbieter von Investitionsgütern in weniger kapitalintensiven Bereichen, wie der Nahrungsgüterindustrie, der Zulieferindustrie, der Leicht- und Textilindustrie etc. zumindest mittelfristig nicht schlecht. Auch ist der Aufbau gemeinsamer Fertigungskapazitäten im Rahmen von Joint-Venture in den genannten Bereichen bei allen hinlänglich bekannten Risiken gegenwärtig leichter zu bewerkstelligen als noch vor einem Jahr. Zum einen, weil aufgrund des Rubelverfalls geringere Investitionskosten für den Erwerb geeigneter Fertigungsstätten zu veranschlagen sind (Produktionsflächen, Ausrüstungen, Anlagen sind ebenso wie qualifiziertes Personal gegenwärtig sozusagen „zum Schnäppchenpreis" zu haben), zum anderen aber auch, weil viele Regionalregierungen verstärkt bemüht sind, eigenständig günstige
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Rahmenbedingungen für ausländische Investoren und damit für wirtschaftliches Wachstum zu schaffen. Bereits vor dem Verfall des Rubelkurses und der damit Verteuerung
der
westlichen
Importe
zeichnete
sich,
einhergehenden
insbesondere
im
Konsumgüterbereich, die Tendenz ab, daß deutsche Unternehmen zunehmend dazu übergingen, vom Liefergeschäft ex Deutschland auf eine Fertigung in Rußland
umzustellen™.
Auch
wenn
ein
wesentlicher
Grund
für
diese
Entwicklung - die Erwartung einer steigenden Binnennachfrage - mit der AugustKrise wohl zunächst obsolet geworden ist, sind die weiteren Gründe für einen solchen Schritt - nämlich die Beeinträchtigung des Liefergeschäfts durch protektionistische
Barrieren sowie die Rückbesinnung
der Abnehmer
auf
russische Verbrauchergewohnheiten und am Markt etablierte russische Produkte heute aktueller denn je. Die Bedeutung regionaler Strategien im Rußlandgeschäft hat besonders seit 1997 stark zugenommen. Knapp die Hälfte der 89 russischen Regionen vermeldeten auch im Krisenjahr 1998 Zuwächse in der Industrieproduktion. Interessanterweise gehörte ausnahmslos keine der bislang von ausländischen Investoren favorisierten Regionen zur Gruppe der Wachstumsregionen: Tabelle
2: Entwicklung
des Wirtschaftswachstums
in den
russischen
Regionen 1998 (gegenüber 1997)xv Regionen mit dem stärksten Wirtschaftswachstum Magadan
+22,1%
Stavropol
+16,6%
Astrachan
+ 14,3%
Belgorod
+5,0%
Kursk
+2,3%
Regionen mit negativer Wirtschaftsentwicklung Orjol
-19,0%
Omsk
-17,5%
Tscheljabinsk
-14,0%
Samara
-11,4%
Novosibirsk
-10,6%
Moskau
-9,1%
Nishnij Novgorod
-1,6%
Sankt Petersburg
-0,3%
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Tendenzen der Disproportionalität in der Entwicklung einzelner Landesteile und Regionen verstärken sich. Bezog sich diese Disproportionalität bislang jedoch sehr stark auf ein zunehmendes Auseinanderdriften in der Entwicklung der beiden großen Metropolen Moskau und Sankt Petersburg einerseits und der Regionen andererseits (was mit einer sehr starken Konzentration der ausländischen Investitionen in den genannten Städten zu erklären war) so fuhrt nun, wie Tabelle 3 verdeutlicht, die Entwicklung innerhalb der einzelnen Regionen selbst zu zunehmenden Divergenzen und Diproportionalitäten. Die russischen Regionen suchen mittlerweile selbst aktiv nach Auswegen aus der Krise, Dazu gehören u.a.: > die Einführung von Preiskontrollen, > die Drohung, sich vom Rubel zu lösen und regionale Notstandswährungen einzuführen, y die Stundung der auf regionaler Ebene erhobenen Steuern, > die Rationierung defizitärer Waren, > Lebensmittelzuteilungen an sozial Schwache u.a. Im Gegenzug geht der Umfang des an den Föderationshaushalt abzuführenden Steueraufkommens systematisch zurück; mitunter werden fällige Zahlungen von dem einen oder anderen Gouverneur auch schon mal ganz eingestellt. Ungeachtet aller wirtschaftlichen Probleme der Gegenwart gilt, daß Unternehmen, die bereits erfolgreich im Rußlandgeschäft arbeiteten bzw. auf dem besten Wege dazu waren, auch in Zukunft Präsenz auf dem russischen Markt zeigen sollten. Ein völliger Rückzug vom russischen Markt in der Gegenwart ist gleichbedeutend mit Verlusten von Marktanteilen in der Zukunft. Dies wurde auch durch eine repräsentative Umfrage bestätigt, die das Haus der Deutschen Wirtschaft in Moskau im Herbst 1998 unter den dort ansässigen deutschen Firmenvertretungen durchfühlte und derzufolge mehr als zwei Drittel der befragten Unternehmen angaben, ihre Präsenz auf dem russischen Markt auch in Zukunft fortsetzen zu wollen. In der Regel denken deutsche Unternehmen, die sich auf dem russischen Markt engagieren, in langfristigen Dimensionen - die Kontinuität der Geschäftsbeziehungen steht im Vordergrund. Nach wie vor genießen deutsche Produkte und die deutsche Wirtschaft in der Russischen Föderation einen ausgezeichneten Ruf. Deutsche Unternehmen bilden mit derzeit über 800 Firmenrepräsentanzen allein in Moskau die größte ausländische Kaufmannschaft in der russischen Hauptstadt. Die wirtschaftliche und innenpolitische Entwicklung Rußlands blieb selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf seine Außenpolitik. Mit der
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beständig vorhandenen innenpolitischen Instabilität wächst auch der Druck auf die Außenpolitik. Die russische Außenpolitik wurde seit
1997 von zwei
Ereignissen nachhaltig beeinflußt - der NATO-Osterweiterung und dem KosovoKonflikt. Beide Ereignisse trugen zu einer gewissen Radikalisierung und zu einer Abkühlung des Verhältnisses Rußlands zum Westen bei. Sowohl in der Frage der Osterweiterung der NATO als auch bei der Suche nach Lösungen flir das KosovoProblem fühlt sich Rußland - sicher nicht zu Unrecht - vom Westen übergangen. Die Ernüchterung in den Beziehungen zwischen Rußland und dem Westen (die russischerseits schon als Beginn eines „kalten Friedens" bezeichnet wurde) setzte ein, als der Westen, allen Widerständen und Einwänden Rußlands zum Trotz, die Osterweiterung der NATO durchsetzte. Mit der Unterzeichnung der sogenannten Grundsatzakte zwischen der NATO und Rußland am 27. Mai 1997 in Paris wurde die Erweiterung der NATO an ihrer Ostgrenze um neue
Mitgliedsländer
völkerrechtlich besiegelt. Auch die Schaffung eines gemeinsamen Rates zwischen der NATO und Rußland, durch den den sicherheitspolitischen Bedenken der Russen Rechnung getragen werden sollte, konnte nichts an der Tatsache ändern, daß
Rußland
Verschiebung
die
NATO-Osterweiterung
bis
heute
des Kräftegleichgewichtes in Europa
als
eine
zu seinen
einseitige Ungunsten
interpretiert und sie deshalb vehement ablehnt. Mit der Aufnahme von Polen, Tschechien
und Ungarn
(als ehemalige Mitgliedsstaaten
des
Warschauer
Vertrages) wurde die NATO-Osterweiterung im Mai diesen Jahres faktisch vollzogen. Mit der Zuspitzung des Kosovo-Konfliktes und dem Beginn der NATOLuftangriffe auf Serbien, sahen sich all jene Russen in ihren Befürchtungen bestätigt, die schon die Osterweiterung als einen Versuch des Westens (allen voran der USA) ansahen, die Rolle des „Weltgendarmen" zu übernehmen und nach eigenem Gutdünken (unter Umgehung völkerrechtlicher Institutionen, wie des Weltsicherheitsrates der UNO oder der OSZE) die Sicherheitspolitik in Europa und anderswo in der Welt bestimmen zu können. Folgerichtig führte der Kosovo-Konflikt zur bislang stärksten Belastung des Verhältnisses zwischen Rußland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Reaktion Rußlands auf den Beginn der NATO-Luftangriffe (Abbruch des Staatsbesuchs von Regierungschef Primakov in den USA, Einstellung der Zusammenarbeit im Gemeinsamen Rat NATO-Rußland etc.) kam faktisch einem Einfrieren der Beziehungen auf der höchsten politischen Ebene gleich. Erst als sich die NATOAngriffe in die Länge zogen und sich die westlichen Hoffnungen auf einen Erfolg Rußlands in seiner Rolle als politischer Vermittler richteten, gelang es, das Verhältnis zwischen Rußland und dem Westen wieder zu normalisieren.
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Um seine Ansprüche auf eine Rolle als entscheidungstragende Großmacht in der internationalen Völkergemeinschaft zu unterstreichen, greift Rußland auf ein altes, aber immer noch probates Mittel zurück - es setzt sein militärisches Drohpotential ein und versucht so, auf den Westen, insbesondere auf die USA, Druck auszuüben. Die Entwicklung und Erprobung der neuen strategischen Interkontinentalrakete „Topol-M" (im Westen besser unter der Bezeichnung SS 21 bekannt) ist dabei ein zentrales Element der neuen Abschreckungspolitik. Bei einem Stückpreis von 50 Mio. DM und bei gleichzeitig 70 Mrd. Rubel Schulden des Staates gegenüber der Armee, was etwa 60% des russischen Militärbudgets entspricht, wird deutlich, welche Priorität der Entwicklung und Produktion des neuen Waffensystems beigemessen wird. Davon zeugt auch die Tatsache, daß die russische Regierung erstmals seit Beginn des Transformationsprozesses offen von der Restrukturierang des militärisch-industriellen Komplexes spricht - nach Jahren der sogenannten Kenversionspolitik - die lediglich zur massenhaften Vernichtung von Produktionsund intellektuellem Potential, zu unwiederbringlichen Verlusten im technologischen Bereich und zur Verelendung ganzer Kommunen führte und die als absolut gescheitert anzusehen ist. Die postulierte Restrukturierang der Verteidigungsindustrie und ihre direkte Unterstellung unter die Kompetenzen des Vizepremiers Klebanov (der vor seiner Berufung nach Moskau im Mai dieses Jahres in Sankt Petersburg Vizegouverneur für Wirtschaft war) verdeutlicht den Paradigmenwechsel der russischen Führung in dieser Frage. Die Erneuerung des militärisch-industriellen Komplexes zählt wieder zu den prioritären Aufgaben russischer Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Und das wohl nicht nur aus verteidigungspolitischen, sondern auch aus außenwirtschaftlichen Erwägungen heraus - schließlich ist der Export von Rüstungsgütern nach dem Rohstoffexport noch immer der zweitwichtigste Bereich bei den russischen Ausfuhren. Vor dem Hintergrund sinkender Weltmarktpreise für Rohstoffe, rückläufiger Außenhandelsumsätze und eines akuten Devisenmangels gewinnt dieser Bereich zusätzlich an Bedeutung. Das moralisch-ethische Vakuum, das seit dem Zusammenbruch des alten Systems besteht, hat mit den Entwicklungen des letzten Jahres eher noch zugenommen. Dieser im Russischen treffend mit dem Begriff „Schrankenlosigkeit" (bezpredel) bezeichnete Zustand läßt viele Russen aller sozialen Schichten - insbesondere jedoch die Verlierer der neuen Zeit (und das ist die Mehrheit) - verstärkt nach einer neuen Orientierung suchen. Der Präsident regte deshalb einen Ideenwettbewerb zur Suche nach einer neuen, konsolidierenden „nationalen Idee" an. Es geht gleichsam um die Schaffung einer neuen „nationalen Visitenkarte". Kritische Intellektuelle hegen dabei - sicher nicht zu Unrecht - den Verdacht, daß es sich um eine propagandistische Aktion handeln könnte, mit der der Wahlkampf um das Präsidentenamt im nächsten Jahr eingeläutet werden soll. Die regierungsnahe Tageszeitung „Rossijskaja Gazeta" initiierte ein Preisausschreiben
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„Eine Idee für Rußland". Bei vielen der in den sozialen Abgrund gestürzten Vertreter der russischen Intelligenzija - Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler, die früher in den sogenannten „Denkfabriken des Sozialismus" ein privilegiertes Auskommen genossen, treffen solche Aufrufe auf offene Ohren. Der Moskauer Oberbürgermeister und Kandidat für das Präsidentenamt, Jurij Lushkov, gründete als Auffangbecken für enttäuschte Demokraten, konservative Nationalliberale und andere die neue Partei „Otetschestvo" (Vaterland). Der Führer der Kommunistischen Partei Rußlands, Genadij Sjuganov, beschwört in seinen Auftritten die „Geistigkeit" (flyxoBiiocTb) und tausendjährige Staatlichkeit (TbicaHejieTHflH rocy.uapcTBeHHOCTb) Rußlands als einigendes Element für die russische Gesellschaft. „Rechtgläubigkeit" (npanoBepnocTb) und Großmachttum (H^ea BejiHKOH ^ep>KaBti) sind die - zugegebenermaßen nicht eben innovativen Zutaten, aus denen nach Meinung vieler Russen die „neue" nationale Identität bestehen sollte. Der - angesichts der allgemeinen Verunsicherung und des Gefühls des Niedergangs sicher verständliche - Ruf nach einer neuen, einenden Staatsideologie birgt jedoch die Gefahr in sich, zur Einschränkung des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung mißbraucht zu werden. Die nach dem Crash vom 17. August letzten Jahres enorm gewachsene Lebensund Rechtsunsicherheit läßt bei großen Teilen der Bevölkerung den Ruf nach der „starken Hand" wieder lauter werden. Marginalisierend wirken dabei zweilfellos auch Ereignisse wie das im November 1998 verübte Attentat auf die fraktionslose Duma-Abgeordnete und Vorstandsmitglied der linksliberalen Gruppierung „Demokratisches Rußland" Galina Starovojtova in Sankt Petersburg, das selbst für die an politisch motivierte Morde und Brutalität gewöhnte russische Öffentlichkeit eine neue Qualität des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung darstellte. Zum einen, weil es sich bei dem Opfer um eine Frau handelte (der noch dazu der Ruf anhaftete, eine „saubere Weste" zu haben), zum anderen, weil der Schauplatz des Verbrechens nicht irgendeine Provinzstadt in Südrußland oder im Kaukasus war, sondern jene „heimliche Hauptstadt Rußlands" Sankt Petersburg, die - obwohl in der Kriminalitätsentwicklung des Landes Moskau in nichts nachstehend - stets bemüht ist, das Image einer weltoffenen, reformorientierten Metropole zu pflegen. Viele Russen fragten sich damals, ob mit dem Starovojtova-Attentat der Beginn einer neuen Ära des Terrors eingeläutet werde. Äußerungen des früheren Generals und heutigen Gouverneurs der größten sibirischen Region Rrasnojarsk, Alexander Lebed', denen zufolge eine Diktatur für Rußland durchaus ein geeignetes Mittel sein könnte, „um Ordnung zu schaffen" stoßen da durchaus auf offene Ohren. Nach Erhebungen des Instituts für sozialpolitische Forschungen bei der Akademie der Wissenschaften Rußlands vertrauen nur noch 14% der Befragten ihrer Staatsmacht™. Allerdings mangelt es auch an echten Alternativen. Bei gegenwärtig mehr als 250 registrierten Parteien
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und Wahlvereinen ist es dem Wähler schlichtweg unmöglich, seine Entscheidung anhand von Wahlprogrammen oder politischen Konzeptionen zu treffen. Anstelle von Parteien werden Personen gewählt und zwar jene, aus denen die Wähler im Zuge des Wahlkampfes wenigstens einmal einen konkreten Nutzen ziehen können - und sei es ein Lebensmittelpaket oder 100 Rubel (ca. 10 DM), wie sie den Rentern bei den Regionalwahlen von Sankt Petersburg am 6. Dezember 1998 dafür ausgezahlt wurden, daß sie ihr Kreuzchen an der „richtigen Stelle" machten. Die KP und auch die russischen Gewerkschaften kündigten aufgrund der AugustEreignisse an, daß es einen „heißen Herbst" geben werde und das Volk durch Massenproteste die Jelzin-Regierung zum Abdanken zwingen werde. Die befürchteten Herbst-Unruhen blieben zum Glück aus. Anstatt einer von den Initiatoren der Proteste erwarteten landesweiten Teilnahme zwischen 20 und 40 Millionen Menschen beteiligten sich nur 1,3 Millionen (in Moskau ca. 50.000) an den Protestkundgebungen. Die Gründe für die eher halbherzige Teilnahme an den Protesten dürften zum einen darin zu sehen sein, daß breite Teile der Bevölkerung schlicht mit dem eigenen Überleben (sprich der Vorbereitung auf den nahenden Winter) beschäftigt waren und zum anderen darin, daß eine Vielzahl derer, die allen Grund zum Protest gehabt hätten, ihre Unzufriedenheit mit der Regierung und den bestehenden Verhältnissen nicht unter dem Banner der Kommunisten artikulieren wollten. Wie immer in Krisensituationen ließ die Frage nach dem „Schuldigen" an der allgemeinen Misere nicht auf sich warten. Neben den üblichen Schuldzuweisungen an die Adresse des Präsidenten, der Regierung bzw. wahlweise - böser ausländischer Mächte, sind es vor allem die vielen versteckten und offenen antisemitischen Äußerungen einzelner Politiker und DumaAbgeordneter (so wie die des Abgeordneten der Fraktion der KP, General Makaschov, alle Juden „gehörten ins Grab"), die aufhorchen lassen und durchaus als Indikator für eine gewisse Radikalisierung der öffentlichen Meinung angesehen werden können. Die schon immer latent vorhandenen antisemitischen Ressentiments vieler Russen stützen sich vor allem darauf, daß eine beträchtliche Zahl von exponierten Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft mit Personen jüdischer Abstammung besetzt seien - bei einem offiziellen Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung Rußlands von 0,34%. Schlagzeilen, wie die um den Finanztycoon und Jelzin-Intimus Berezovskij, der mit einem geschätzten Privatvermögen von 3 Mrd. US $ als einer der reichsten Männer Rußlands gilt (der erst aus seinem Schweizer „Exil" nach Rußland zurückkehrte, nachdem man ihm von höchster Stelle Straffreiheit zugesichert hatte) und der - wie praktisch ebenfalls Jude ist, tragen eher dazu bei, diese Ressentiments zu verstärken, als sie abzubauen.
Anhang
251
Zwei Schlüsselmomente in der jüngsten Vergangenheit Rußland haben dazu beigetragen, das Verhältnis vieler Russen zum Ausland, speziell zum westlichen Ausland, zu verändern. Zum einen hat die Finanzkrise vom August '98, die in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf breite Schichten der Bevölkerung als das mit Abstand nachhaltigste Ereignis der letzten fünf Jahre angesehen werden kann, und der daraufhin laut werdenden Frage nach den Schuldigen an der Misere bei bestimmten Kreisen der Bevölkerung die Überzeugung gefestigt, der Westen (in Gestalt des IWF und der internationalen Banken) beute Rußland nur aus und sei zumindest mit Schuld an der Katastrophe. Zum anderen wurden durch den NATO-Einsatz im Kosovo, bei dem Rußland seine geopolitische Einflußsphäre verletzt und sich überdies vom Westen (insbesondere von den USA) übergangen und vorgeführt fühlte, antiwestliche Stimmungen und Ressentiments massiv verstärkt. Zumindest zu Beginn des Kosovo-Einsatzes war dies auch auf der Ebene der geschäftlichen Kommunikation durchaus spürbar. Der Chauvinismus immer schon das Brot der Armen - hat Konjunktur und wird nicht zuletzt auch von russischen Politikern ganz bewußt als Instrument im bevorstehenden Wahlkampf um die Präsidentschafts wahl im nächsten Jahr eingesetzt. Die wirtschaftliche und soziale Verelendung breiter Kreise der Bevölkerung hat nach dem finanziellen Zusammenbruch Rußlands vom 17. August drastisch zugenommen. Erschwerend wirkte sich die katastrophale Mißernte von 1998 aus, wodurch
die Abhängigkeit
von
Lebensmittelimporten
(bei
gleichzeitigem
Rückgang!) noch zunahm. Obwohl der Winter 1998/99 sehr kalt war, konnte eine befürchtete
Hungersnot
abgewendet
werden.
Angaben
der
russischen
Statistikbehörde Goskomstat zufolge leben derzeit ca. 42% der 149 Millionen Russen unter der offiziellen Armutsgrenze. Nach Schätzungen vom Juni/Juli 1998 waren zu diesem Zeitpunkt etwa 15-20% der Bevölkerung der neuen Mittelklasse zuzurechnen. Dabei handelte es sich in erster Linie um Händler, Dienstleister, Banker, Angestellte von Versicherungen, Anwälte und Existenzgründer. Nach der Zäsur im August sind es noch schätzungsweise 3-4%. Das allgemeine Elend frißt sich langsam nach oben durch - in die gerade entstandene Mittelklasse. Allein in Moskau, so schätzt man, haben ca. 200.000 Mittelklasse-Russen ihre Existenz verloren11™. Durch den reihenweisen Zusammenbruch von Geschäftsbanken sowie durch die Importrückgänge verloren viele von ihne ihre Jobs - entweder durch fristlose Kündigung oder nachdem man ihnen nahegelegt hatte, „unbezahlten Urlaub" zu nehmen. Somit zeitigte der Finanzcrash nicht nur Millionen von russischen Sparern, die gerade begannen, Vertrauen in die eigene Währung und die rassischen Banken zu fassen und die sich, seit 1990 nun schon zum dritten Mal,
um
ihre
Ersparnisse
gebracht
sahen,
sondern
zugleich
auch
eine
Arbeitslosenrate in für Rußland bislang ungekannter Höhe. Hoffnungen, vielleicht bald endlich einmal nicht mehr „von der Hand in den Mund zu leben" und zu einer längerfristigen Lebens- und Geschäftsplanung übergehen zu können,
252
Anhang
zerstoben, wie schon so oft, an einem einzigen Tag. Ungeachtet dessen legen viele Russen eine erstaunliche "Steh-auf-Männchen-Mentalität" an den Tag. Wo mancher Westeuropäer angesichts des Verlustes der Existenzgrundlage in tiefe Depression verfallen wäre, hat die Mehrzahl der Russen sofort mit dem Neuanfang begonnen. Gleich einem reinigenden Gewitter führte die Krise auch bei vielen Geschäftsleuten zu einer Ernüchterung hinsichtlich der Geschäftsentwicklung. Auch wenn infolge des Nachfragerückgangs mittlerweile realistischere Gewinnerwartungen überwiegen, ist das Streben nach dem schnellen Geld aktueller denn je. Sowohl die Fähigkeit der Russen, sich nicht unterkriegen zu lassen, als auch die Tatsache, daß viele russische Geschäftsleute durch die Augustereignisse auf den harten Boden der Realität zurückgeholt wurden, sind gute Voraussetzungen dafür, den Geschäftsbeziehungen zwischen russischen und ausländischen Partnern neue Impulse zu verleihen. In diesem Sinne birgt die Krise zweifellos auch Chancen.
' Der Spiegel 37/98. - S. 182 " Der Spiegel 40/98. - S. 178 1,1 Der Anteil der Steuereinnahmen am russischen BIP liegt bei ungefähr 11%, in Deutschland ist er etwa doppelt so hoch). iv Der Spiegel 40/1998. - S. 175 v Enthält die Schulden der ehemaligen Sowjetunion und russische Anleihen beim IWF, der Weltbank und anderen Banken. VI Betrifft nur die von Ausländern gehaltenen inländischen Anleihen. ™ Der wirtschaftliche Politikwechsel in Rußland. Ursachen und Folgen. - in: Aktuelle Analysen. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. - Nr. 43/1998. - vom 27.10.1998. - S.3 viii Der Spiegel 37/1998. - S. 182 - Anzumerken bleibt, daß diese Annäherung jedoch trotz der Finanzkrise bislang ausblieb (d. A.). 1X bfai-Info Osteuropa 10/99 x PeantHMft uiaHC peajibiioro ceKTopa. - b: 3kohomhk3. IIojiHTHKa. Hhb6cthuhh. 5/99. - c. 10 xi bfai-Info Osteuropa 11/99 x " PeajibHbift uiaHC p e a j i t H o r o c e K T o p a . - b: SKOHOMHKa. IIojiHTHKa. Hhbccthiihh. - N° 5/99. - c. 11 xiii dfai-Info Osteuropa 10/99 xiv Bericht des Verbandes der Deutschen Wirtschaft in der Russischen Föderation zur Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Rußland 1997 xv bfai-Info. Osteuropa 5/99 xvi Der Spiegel 47/1998. - S. 186 xvii Handelsblatt v. 21.10.98
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253
Wichtige Adressen Deutsche Amtliche Vertretungen Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Mosfilmowskaja 56, 119285 Moskau Tel: (007095) 956 10 80; Fax: 938 23 54 43 Rechts- und Konsularreferat (Visastelle) Leninskij Prospekt 95a, 117313 Moskau Tel.: (007095) 936 24 01, 936 24 19; Fax: 936 21 43 Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland ul. Furschtadskaja 39, 199034 St. Petersburg Tel.: (007812) 273 55 98; Fax: 279 32 42 Koordinierungsstelle der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ul. Mosfilmovskaja 56, 119285 Moskau Tel: (007095) 956 26 68 / 132 53 74; Fax: 132 53 88 Haus der Deutschen Wirtschaft in Moskau 1. Kasatschi per., 7, 109017 Moskau Tel:. (007095) 234 49 50; Fax: 234 49 51, Leiterin: Dr. Andrea von Knoop Postanschrift: c/o DIHT-Büro Berlin An der Kolonnade 10, 10117 Berlin in St. Petersburg W.O. Bolschoj Prospekt, 10, 199034 St. Petersburg Tel.: (007812) 213 79 91, 213 79 93; Fax: 350 56 22, Leiter: Dr. Dieter Schubert Postanschrift Finnland: P.O. Box 36, SF 53501 Lappeenranta in Novosibirsk ul- Lenina, 21; Hotel "Sibir", Zi.727 630004 Novosibirsk-4 Tel.: (0073832) 234 656; Fax: 234 656, Leiter: Hugo Deis
in Kaliningrad pl. Pobedy, 4, 236000 Kaliningrad Tel: (0070112) 211 538 bzw. 279 855; Fax: 279 827, Leiter: Stefan Stein
254
Anhang
Behörden Präsident der Russischen Föderation 103073 Moskau, Kreml Tel.: (007095) 925 35 81 Regierung der Russischen Föderation Staraja pl. 4, 103132 Moskau Tel.: (007095) 925 35 81 Ministerium für Finanzen ul. Iljinka 9, 103097 Moskau Tel.: (007095) 923 34 56; Fax: 41 11 44 Ministerium für Außenwirtschaftsbeziehungen Smolenskaja-Sennaja pl. 32/34, 121200 Moskau Tel.: (007095) 244 24 50; Fax: 244 12 03 Ministerium für Wirtschaft Ochotnyj rjad 1, 103009 Moskau Tel.: (007095) 292 91 39, 292 80 00; Fax: 975 20 52 Staatliches Zollkomitee Komsomolskaja pl. la, 107842 Moskau Tel.: (007095) 975 44 41, 975 32 89 Komitee für Standardisierung, Metrologie und Zertifikation Leninskij pr. 9, 117049 Moskau Tel.: (007095) 236 62 08; 236 82 09 Komitee für Patente und Warenzeichen der Russischen Föderation M. Tscherkasskij per. 2/6, 103621 Moskau (007095) 206 18 09 Russische Agentur für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung ul. Wosdwishenka 14, 103885 Moskau Tel.: (007095) 290 14 56
Verbände, Kammern und Banken Verband der Industriellen und Unternehmer Rußlands Staraja pl. 10/4, 103070 Moskau Tel.: (007095) 206 71 61, 206 06 68; Fax: 206 70 15
Anhang Assoziation für die Zusammenarbeit mit der BR Deutschland "Ratmir" ul. Abelmanovskaja 21 A, 109147 Moskau Tel.: (007095) 270 91 93; Fax: 270 63 00 Moskauer Assoziation der Gemeinschaftsunternehmen ul. Begovaja 24, kv. 64, 125284 Moskau T e l / F a x : (007095) 945 17 09 Handels- und Industriekammer der Russischen Föderation ul. Iljinka 6, 103684 Moskau Tel.: (007095) 206 73 24 / 2 9 8 43 87; Fax: 203 24 55 Handels- und Industriekammer Moskau ul. Piljugina 22, 117393 Moskau Tel.: (007095) 132 74 18; Fax: 230 24 55 Handels- und Industriekammer St. Petersburg ul. Tschaikovskogo 46-48, 191194 St. Petersburg Tel.: (007812) 273 48 96, Fax: 272 64 06 Russische Staatsbank (Zentrobank) ul. Neglinnaja 12, 103016 Moskau Tel.: (007095)921 31 16 Außenhandelsbank (Wneshekonombank) ul.Kusnezkij most 16, 103031 Moskau Tel.: (007095) 292 43 98; Fax: 973 20 96; Telex: 412 362 BFTR SU Westdeutsche Landesbank Girozentrale Krasnopresnenskaja nab. 12, 123610 Moskau Tel.: (007095) 255 64 64; Fax: 253 90 93 Commerzbank AG Repräsentanz in Moskau Sadowskij Pereulok 4-9/IV, 103001 Moskau Tel.: (007095) 209 28 66, 209 64 40, 209 65 38; Fax: 200 04 26 Deutsche Bank AG Vertretung Moskau ul. Ostoshenka 23, 119113 Moskau Tel.: (007095) 201 29 88, 201 30 33, 201 46 75; Fax: 200 12 27 Deutsche Bank AG Vertretung St. Petersburg Kanal Gribojedowa 101, 190000 St. Petersburg Tel.: (007812) 315 02 16, 315 06 00, 315 05 24; Fax: 315 06 55
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Anhang
Verzeichnis der umbenannten Städte früher
heute
Andropow
Rybinsk
Breshnew
Nabereshnye Tschelny
Woroschilowgrad
Lugansk
Gorkij
Nishnij Nowgorod
Shdanow
Mariupol
Kalinin
Twer
Kirowobad
Gjandsha
Kuibyschew
Samara
Leninabad
Chudshand
Leninakan
Kumajri
Ordshonikidze
Wladikawkas
Swerdlowsk
Jekaterinburg
Ustinow
Ishewsk
Franse
Bischkek
Zagorsk
Sergiew Posad
Neue Bezeichnung der national-staatlichen und national-territorialen Gebiete der Russischen Föderation und ihre Hauptstädte Adygische Republik (Maikop) Autonome Republik der Nenzen (Narjan-Mar) Burjatische Republik (Ulan-Ude) Gagausische Republik (Komrat) Jüdisches Autonomes Gebiet (Birobidshan) Kalmykische Republik (Elista) Karbardino-Balkarische Republik (Naltschik) Karelische Republik (Petrozawodsk)
Anhang Korjakische Republik (Palana) Mordwinische Republik (Saransk) Republik Baschkortostan (Ufa) Republik Berg-Altai (Gorno-Altaisk) Republik Berg-Karabach (Chankendi) Republik Chakassien (Abakan) Republik Dagestan (Machatsch-Kala) Republik der Jarmalo-Nenzen (Salechard) Republik Inguschetien (Magas) Republik Karatschajewo-Tscherkessien (Tscherkessk) Republik Komi (Syktywkar) Republik Marij-El (Joschkar-Ola) Republik Nord-Ossetien (Wladikawkas) Republik Sacha (Jakutsk) Republik Tatarstan (Kasan) Tschetschenische Republik (Groznyj) Tschuwaschische Republik (Tscheboksary) Tuwinische Republik (Kyzyl) Udmurtische Republik (Ishewsk)
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