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German Pages [586] Year 2009
Rudolf Virchow
Constantin Goschler
Rudolf Virchow Mediziner - Anthropologe - Politiker
©
2009
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Constantin Goschler ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Rudolf Virchow, vermutlich um 1890 (Foto: Pommersches Landesmuseum, Greifswald)
2. Auflage 2009 1. Auflage 2002 © 2002 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xxxxxxxxxx Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20379-5
Für Juliana und Jannes
Inhalt
Einleitung
1
I.
Privates Leben und öffentliche Sphären
1.
Bildung und Ausbildung im Biedermeier a) Neuhumanismus in der Provinz b) Die „rationelle Generation" ? c) Gesellschaftliche Krise und Karrierechancen
24 38 48
2.
Der „ganze Mensch": Virchow in der Revolution von 1848 a) Die oberschlesische Typhus-Epidemie b) Die Organisation der politischen Öffentlichkeit c) Standespolitik und Gesellschaftsreform d) Politisches Engagement und wissenschaftliche Karriere e) Identitätskrise und biographische Passage
58 59 64 72 81 87
3.
Lebensführung im „naturwissenschaftlichen Zeitalter" a) Vermögen, Prestige und sozialer Status b) Familie und Geschlechterrollen c) Geselligkeit und soziale Kreise d) Wertorientierungen und Lebensziele
93 111 126 135
II.
Wissenschaft und Politik zwischen „Beruf" und „Pflicht"
1.
Wissenschaftliche Karriere und disziplinare Identitäten a) Berufungen zwischen Markt und Modernisierung b) Die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie c) Anthropologie als „volkstümliche Wissenschaft" d) Medizinische und anthropologische Publizistik e) Das Pathologische Institut als Schule des „Sehens"
150 152 161 179 185 204
2.
Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik a) Politik als „Nebenberuf" b) Naturwissenschaftliche „Wahrheit" und Politik c) Vom deutschen Gelehrten zum europäischen Intellektuellen? ....
211 212 238 260
III.
Szientismus und liberale Utopie: Naturwissenschaft als „magischer Speer"
1.
Pathologie und Gesellschaft a) Zellen, Bürger und Staat: Politisch-biologische Analogien b) Krankheit und Epidemien: Vom „Konsens" zum „Kampf" c) Experiment, Statistik und Normalität
279 279 286 296
2.
Fortschritt und Entwicklung a) Die Spirale des Fortschritts und die Revolution b) Die Naturalisierung und Nationalisierung des Fortschritts c) Konservativer Fortschritt und Nostalgie
300 301 304 311
3.
Vererbung und Verbesserung a) Naturwissenschaft, Anthropologie und Kulturgeschichte b) Ursprung und Entwicklung der Menschheit c) „Kulturkampf" oder „Rassenkampf" ? d) Blonde, Braune und Juden: Die Schulkinderuntersuchung e) Die Fermente des Fortschritts
318 319 326 333 336 345
4.
Wissen und Bildung 350 a) Naturwissenschaft und liberale Wissensgesellschaft 351 b) „Humanistische" Ethik im „naturwissenschaftlichen Zeitalter" . 358 c) Naturwissenschaftliche Bildung und das .liberale Selbst' 366
Fazit
375
Anhang Dank Abkürzungsverzeichnis Anmerkungen Quellen und Literatur Bildquellennachweise Personenregister
397 399 400 509 552 553
Einleitung
Während der Arbeit an dieser Biographie plagte mich ein nächtlicher Alptraum: Ich war mit Rudolf Virchow zu einem Interview verabredet und machte mich besorgt auf den Weg zu seiner Wohnung in der Georgenstraße in München-Schwabing. Was würde der als unduldsam bekannte Gelehrte zu meiner Interpretation seines Lebens sagen? Würde er meine Deutungen als Unsinn beiseite fegen? Würde er mich über meine Unkenntnis auslachen? Oder vielleicht nur spöttisch eine Augenbraue hochziehen und meine Ausführungen ins Stottern bringen? Mit solchen schweren Gedanken erreichte ich schließlich sein Haus, w o ich jedoch erfuhr, dass Virchow soeben verstorben war. So blieb der befürchtete vernichtende Widerspruch schließlich doch aus. Natürlich hatte Virchow niemals in München gelebt, und tatsächlich war er schon fast seit hundert Jahren tot. Doch verweist dieser Traum auf die grundsätzliche Spannung zwischen dem Biographen und der von ihm biographierten Person, die aus dem Konflikt von Fremd- und Selbstdeutung resultiert. Will der Biograph sich also nicht damit begnügen, die eigene Geschichte des von ihm als Untersuchungsgegenstand ausgewählten Menschen nachzuerzählen, so muss er sorgfältig darlegen, was ihn an seinem Forschungsobjekt interessiert und welche Gesichtspunkte er seiner Deutung zugrunde legt. Diesem Zweck dienen die folgenden einleitenden Ausführungen, die in erster Linie für die an methodischen Fragen interessierten Leser bestimmt sind. Wer sich also nicht mit der Erläuterung der Statik und der Baupläne des im Folgenden zu errichtenden Gedankengebäudes aufhalten will, der ist dazu eingeladen, gleich das Erdgeschoss zu betreten und seine Lektüre im ersten Kapitel fortzusetzen.
I. Rudolf Virchow liegt in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wie ein großer Felsbrocken, der ob seines Gewichts und seiner Sperrigkeit dem Biographen zunächst einmal gehörigen Respekt einjagt. Der 1821 geborene Mediziner, Anthropologe und linksliberale Politiker und Stadtreformer bewegte sich auf so verschiedenen Feldern und in so zahlreichen Debatten seiner Zeit, dass es schier unmöglich scheint, all diesen unterschiedlichen Aspekten gerecht zu werden. Nachdem der im hinterpommerschen Schivelbein geborene Virchow seit 1839 am Berliner Friedrich-Wilhelm-Institut Medizin
1
studiert hatte, trat er bereits Mitte der vierziger Jahre als provokanter Vertreter einer neuen „naturwissenschaftlichen Medizin" auf. Er galt als Hoffnungsträger der preußischen Militärmedizin und wurde als solcher Anfang 1848 zu einer offiziellen Untersuchung nach Oberschlesien entsandt, wo der sogenannte „Hungertyphus" die Gesundheit der Bevölkerung und den Ruf der preußischen Bürokratie ruinierte. Nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien schloss er sich jedoch der mittlerweile in Berlin ausgebrochenen Revolution an und wurde zu einer Schlüsselfigur der entstehenden demokratischen Partei. Sein radikales politisches Engagement entfremdete ihn von seinen vormaligen Gönnern, so dass er 1849 nahezu seine Anstellung als Prosektor an der Charite verloren hätte. Der Konflikt wurde schließlich durch seine Ende 1849 erfolgte Berufung zum ordentlichen Professor in Würzburg entschärft, wo er die nächsten sieben Jahre wissenschaftlich hochproduktiv und politisch zurückgezogen verbrachte. In dieser Zeit entwarf er die Grundzüge der „Zellularpathologie", mit der sein Andenken als Mediziner am stärksten verbunden ist. Nach seiner Rückberufung nach Berlin 1856, wo er zugleich Direktor des eigens für ihn gegründeten Pathologischen Instituts wurde, entfaltete Virchow im Bereich der Wissenschaft wie der Politik gleichermaßen umfangreiche Aktivitäten. Als Forscher, Wissenschaftsorganisator und Sammler trieb er nicht nur die disziplinäre Entwicklung der Pathologie, sondern auch der Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte voran. Hinzu kam sein seit Ende der fünfziger Jahre wieder einsetzendes politisches Engagement in den Reihen des preußischen Linksliberalismus. Seit 1859 war er durchgehend bis zu seinem Tode Angehöriger der Berliner Stadtverordnetenversammlung, wo er zugleich in zahlreichen Spezialdeputationen mitwirkte und auf diese Weise das Erscheinungsbild des modernen Berlin wesentlich mitprägte. Von 1862 an gehörte er gleichfalls bis zu seinem Lebensende dem Preußischen Abgeordnetenhaus an, und von 1880 bis 1893 war er auch noch linksliberaler Reichstagsabgeordneter. In diesen parlamentarischen Gremien wirkte er keinesfalls nur als Hinterbänkler, sondern spielte eine höchst aktive Rolle. So gehörte er nicht nur zu den Protagonisten des preußischen Verfassungskonflikts der sechziger Jahre und des Kulturkampfs in den siebziger Jahren, sondern nahm insbesondere als jahrzehntelanger Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Preußischen Abgeordnetenhauses eine parlamentarische Schlüsselposition ein. Während bereits viele Zeitgenossen staunten, wie sich so unterschiedliche Tätigkeitsfelder in einer Person vereinigen ließen, betonten andere Beobachter (ebenso wie Virchow selbst) die seinen verschiedenen Tätigkeiten zugrunde liegende Einheit, worin sich zugleich das für das 19. Jahrhundert prägende Persönlichkeitsideal geltend machte. Zwar verfasste Virchow im Gegensatz zu vielen Angehörigen seiner Bildungsschicht keine Autobiographie, doch hinterließ er anlässlich der festspielwochenartigen Feierlichkeiten zu seinem 2
80. Geburtstag 1901 einen ausführlichen Lebensrückblick. In diesem „Zur Erinnerung. Blätter des Dankes für meine Freunde" 1 überschriebenen Artikel zog er eine Bilanz seiner umfangreichen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten, die sich zugleich als aufschlussreiche Selbstdeutung lesen lässt. Welchen Sinn verlieh er also an dieser Stelle seinem eigenen Leben, und welche Dimensionen historischen Wandels werden dabei deutlich? Virchow hob in diesem Text zunächst das weite Spektrum seiner Tätigkeiten hervor, ging dabei jedoch allenfalls indirekt auf sein viele Jahrzehnte andauerndes Wirken als fortschrittlicher und freisinniger Abgeordneter ein. Er betonte die räumliche Spannweite seiner Lehr- und Forschungstätigkeit in Berlin sowie große Reisen durch Europa, nach Afrika und Asien. Hinzu kamen seine regelmäßige Teilnahme an nationalen und internationalen Wissenschaftskongressen sowie die rege Mitarbeit in wissenschaftlichen Vereinen. Daraus hätten sich praktische Studien nicht nur auf dem Gebiet der Medizin und der Naturwissenschaften, sondern - vor allem seit den sechziger Jahren der Anthropologie und Archäologie, aber auch die Beschäftigung mit Literatur, Philosophie, Politik und sozialen Zuständen ergeben. Ausdrücklich unterstrich Virchow: „Diese Vermischung ist von mir nicht willkürlich oder gar tendenziös vorgenommen worden." 2 Als Schlüsselerlebnis benannte er hier die schon erwähnte Oberschlesien-Reise Anfang 1848. Bei der Erörterung der Ursachen der dort herrschenden Epidemie sei er zu der Uberzeugung gekommen, „dass die schlimmsten derselben in socialen Missständen beruhten und dass der Kampf gegen diese Missstände nur auf dem Wege tiefgreifender socialer Reformen geführt werden könne." Damit wollte Virchow in Erinnerung bringen, „wie unvermeidlich es ist, die praktische Medicin mit der politischen Gesetzgebung in unmittelbare Beziehung zu setzen". Zufrieden stellte er fest: „Seitdem die öffentliche H y giene als integrierender Bestandteil der allgemeinen Fürsorge aufgestellt worden ist, hat der Vorwurf, dass ein Arzt auch Politiker sei, alle Bedeutung verloren." Als Resultat der Durchdringung von Medizin und Politik hob er schließlich die Errichtung einer Kanalisation und Wasserversorgung in Berlin hervor. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe er die sanitäre Oberaufsicht über die Stadtreinigung behalten. „Diese halbpolitische Tätigkeit", so Virchow, „beruht überall auf ernsthaften wissenschaftlichen Vorarbeiten." Insbesondere die Organisation der Städtereinigung sei fast vollständig aus der kommunalen Initiative heraus verwirklicht worden. Als einen ähnlichen Erfolg verbuchte er auch die von ihm in Preußen durchgesetzte Fleischbeschau sowie die Errichtung städtischer Schlachthöfe in Berlin. Virchow bedauerte, dass es leider immer noch nicht möglich sei, die internationale Gesetzgebung in diesen Fragen „in vollen Einklang mit den Forderungen der Wissenschaft zu bringen". So setzte der „so oft hervortretende Gegensatz zwischen der Praxis und der forschenden (nicht theoretischen) Wissenschaft (...) große Kaltblütigkeit und Umsicht, aber auch große Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit 3
voraus, wie sie ohne die Controle der Wissenschaft kaum jemals in die Gebräuche des täglichen Leben übergeführt werden." Seine Ausführungen mündeten darin, den hohen Stellenwert der Volksbildung in seinem Lebenswerk hervorzuheben. So verwies er unter anderem auf seine regelmäßigen Vorträge vor dem von ihm mitbegründeten Berliner „Handwerkerverein", der genossenschaftliche Organisationsformen in ganz Deutschland und auch in der Welt verbreitet habe. Bedauernd fügte Virchow hinzu, dass der Sozialismus ein großes Stück dieser Schöpfung wieder vernichtet habe. Hier wird deutlich, wie dramatisch sich in der Lebensspanne Virchows die Differenz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont 3 gewandelt hatte: Der für sein politisches und wissenschaftliches Denken entscheidende Erfahrungsraum war zunächst durch die Notlagen des Pauperismus in der Frühzeit der industriellen Revolution geprägt worden, und dies war eng mit der Erwartung der Abschaffung derartiger Missstände durch wissenschaftlich angeleitetes politisches Handeln verbunden. Am Ende seines Lebens waren dagegen nicht mehr länger frühindustrielle Verhältnisse, sondern der rapide wirtschaftliche, soziale und politische Wandel im Zuge der rasanten Industrialisierung des Deutschen Reichs prägend. Und in die Erwartung, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse durch wissenschaftlich fundierte sozialpolitische Arbeit weiter verbessern würden, hatte sich angesichts der erlebten Veränderungen ein melancholischer Zug gemischt: „vertraut dem Volke und arbeitet für dasselbe, dann wird euch der Lohn nicht fehlen, wenngleich der Abbruch zahlreicher Einrichtungen, das Verschwinden vieler Menschen, die völlige Umgestaltung des Lebens den Gedanken unserer Vergänglichkeit ganz nahe bringt." So mündete diese Schrift schließlich in eine mythische Beschwörung der Versöhnung von Wissenschaft und Volk, der Virchow durch die Schilderung seiner Ehrungen durch die Kinder in seiner heimatlichen Straße bzw. durch die Handwerker bildlichen Ausdruck verlieh. 4 In seiner Selbstinterpretation erscheint er somit als Reformer, der auf der Grundlage einer engen Verbindung von Wissenschaft und Politik den „Fortschritt" der Gesellschaft zu befördern suchte und am Ende seines langen Lebens mit einer Mischung aus Stolz und Melancholie auf die von ihm mitgeprägten Veränderungen zurückblickte. Virchow scheint damit ein besonders geeigneter Fall zu sein, um über die Rolle von Wissenschaft bei der Gestaltung des deutschen Wegs in die Moderne nachzudenken. 5 Seine Biographie ist gleichermaßen eng mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert wie mit den Veränderungen der Rolle von „Gelehrten" in der deutschen Politik verbunden. Dabei steht Virchow insbesondere auch für eine enge Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus. Mit Bezug auf diese Verbindung lassen sich idealtypisch drei historiographische Konzeptionalisierungen unterscheiden, denen jeweils andere geschichtsphilosophische bzw. normative Prämissen zugrunde liegen. Naturwissenschaften und Liberalismus erscheinen darin 4
wahlweise als Instrumente der Befreiung und Emanzipation, als janusköpfige Agenten eines ambivalenten Modernisierungsprozesses oder als Produzenten neuer, subtilerer Unterdrückungsmechanismen. Ein erstes Narrativ folgt dem Modell der Whig-History, die den Aufstieg der Naturwissenschaften wie des Liberalismus im 19. Jahrhundert als Fortschritts· und Emanzipationsbewegung interpretiert und die als zeitgenössische Selbstinterpretation eine große Rolle spielte. Eine verflachte Variante findet in populärer, medizingeschichtlicher Heldenliteratur noch ein Residuum. Größere Bedeutung besitzen dagegen verschiedene Spielarten der Modernisierungstheorie, die in nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA ausgehenden Varianten von einer fortschrittsoptimistischen Grundhaltung geprägt sind und die moderne Naturwissenschaft ebenso wie den Liberalismus gleichermaßen als Motoren der Uberwindung vormoderner, traditionaler Strukturen behandeln. 6 In einem solchen Narrativ wäre Virchow der Prototyp eines Agenten der Aufklärung, d. h. eines „Entzauberers", und so ähnlich sah er sich auch selbst. Die Fortschrittstrunkenheit solcher Formen der Modernisierungstheorie, die nach der Mitte des 19. wie des 20. Jahrhunderts gleichermaßen Höhepunkte erreichte, wurde jedoch seit den 1970er und 1980er Jahren vielfach in Frage gestellt. Vermehrt wurden die „Ambivalenzen" der Moderne betont und deshalb auch deren „dunkle Seiten" mit in die Untersuchungen einbezogen. Vor allem die Frage nach Modernisierungsgewinnern und -Verlierern erhielt dabei mehr Bedeutung als zuvor. 7 Auch die sogenannte „Bielefelder Schule" der Geschichtswissenschaften, für die ein soziologisch informierter Begriff von „Modernisierung" eine zentrale Rolle spielt, hat sich diese Kritik mittlerweile weitgehend zu eigen gemacht und dabei vielfach den Ubergang von Modernisierungstheorien zu einer Theorie der Moderne vollzogen. 8 Auf diese Weise wollen die Vertreter einer erneuerten historischen Sozialwissenschaft zugleich unter Beweis stellen, was sie als ein Hauptmerkmal der Moderne ansehen, nämlich Selbstreflexivität und Lernfähigkeit. Damit trifft sich diese Richtung insbesondere mit der Position von Jürgen Habermas, der gegenüber postmoderner Kritik die Moderne als ein noch unvollendetes Projekt verteidigte. 9 Diese Position zeichnet sich eher durch eine naturwissenschaftsskeptische Grundhaltung aus. Zugleich hebt sie im Hinblick auf den Liberalismus vor allem auf den Widerspruch zwischen Universalität und Einschränkung des liberalen Freiheitsversprechens ab.10 Dies wird jedoch oft auch im Sinne eines historisch noch uneingelösten Potenzials interpretiert, das als Aufgabe für die Gegenwart bestehen bleibt, ob es nun - in .sozialdemokratischer Perspektive' - stärker auf sozial unterprivilegierte Gruppen oder - in .Gender-Perspektive' - auf Frauen bezogen wird." In einem solchen Narrativ ließe sich die Biographie Virchows somit vielleicht als die eines Exponenten der Zivilgesellschaft 12 im 19. Jahrhundert erzählen, der zugleich alle ihre Ambivalenzen von Universalität und Einschränkung mitverkörperte. 5
In einer dritten, sozusagen postmodernen Perspektive, erscheint hingegen eben jener Universalismus der modernen Naturwissenschaften wie des Liberalismus als das eigentliche Problem. Aus dem Gleichheitsversprechen moderner Gesellschaften wird dort die Drohung der „Gleichmachung", die mit dem Ausschluss all dessen einhergehe, was sich nicht dem damit verbundenen homogenisierenden Zwang füge. In vielerlei Hinsicht schließt die postmoderne Kritik an Nietzsches Bestimmung des „Humanismus" und der kulturellen Rolle der modernen Naturwissenschaften an. Zugleich ergeben sich aber auch enge Berührungspunkte mit den Gründervätern der Frankfurter Schule und der von ihnen postulierten „Dialektik der Aufklärung" 13 . Meist dient jedoch Michel Foucaults Werk als Bezugspunkt für eine Kritik, die sowohl die emanzipierende Wirkung der modernen Wissenschaften als auch zentrale Werte des Liberalismus - darunter den universalistischen Anspruch des „Humanismus" - in Frage stellt.14 In einer solchen Perspektive wäre Virchow dann ein Paradefall für eine Geschichte der im 19. Jahrhundert unter maßgeblicher Beteiligung von Medizin und Hygiene entstehenden Techniken der Regulierung der Bevölkerung, d. h. einer Geschichte der „Biopolitik" bzw. „Bio-Macht" 1 5 . Bei diesen drei etwas gewaltsam systematisierten Narrativen bildet der jeweils unterschiedliche Bezug auf ein westliches Projekt der Moderne den gemeinsamen argumentativen Fluchtpunkt. Dagegen wurden jedoch von verschiedener Seite gewichtige Einwände erhoben. Kritik übte etwa M. Rainer Lepsius, der selbst wesentlich zur Popularisierung eines vor allem auf Max Webers Modell der neuzeitlichen Rationalisierung gestützten modernisierungstheoretischen Ansatzes unter deutschen Historikern beigetragen hat. Er warnte vor einer begrifflich ungeklärten und damit nicht operationalisierbaren Verwendung des Begriffes der „Moderne", der zu Beginn der neunziger Jahre in der historischen Diskussion vor allem der Genozide des 20. Jahrhunderts in eine nahezu symbiotische Verbindung mit dem Begriff der „Barbarei" eingetreten war.16 Damit wies er bereits auf ein Problem hin, dass Charles Maier jüngst noch einmal deutlich benannte: In einer Auseinandersetzung mit der Frage der Periodisierung der neuesten Geschichte kritisierte dieser, dass mit dem Konzept der „Moderne" wenigstens im Hinblick auf das 20. Jahrhundert die Vermischung von soziostruktureller Analyse und moralischem Narrativ einhergehe. 17 Auch die neuere Wissenschaftsgeschichte formulierte gewichtige Einwände: Sie kritisiert vor allem die Reifizierung und Ontologisierung der Begriffe „Natur" und „Gesellschaft", wie sie dem Konzept der „Moderne" zugrunde liegen. Diese, so Lorraine Daston, hätten sich im 19. Jahrhundert vollzogen und verwiesen auf eine neuzeitliche westliche Metaphysik, „in der Natur und Kultur einander entgegengesetzt werden. In dieser metaphysischen Ordnung ist Natur das Universelle, Ewige und Unumstößliche; Kultur ist dagegen das Lokale, Variable, Formbare." 1 8 Von einem ähnlichen Aus6
gangspunkt ausgehend fordert Bruno Latour eine „symmetrische Anthropologie", die jene „Dichotomie zwischen der Politik und der Erkenntnis von Fakten", die er als eine Grundlage der „Verfassung der Moderne" ansieht, nicht einfach als gegeben ansieht, sondern die „nahtlos ineinander übergeh e n d e ^ ) Gewebe der ,Natur/Kultur'" untersuchen solle. So habe aufgrund der für die Moderne konstitutionellen Trennung zwischen Natur und Gesellschaft bislang niemand Politiker und Wissenschaftler symmetrisch untersucht, schien es doch keine Achse in der Mitte zu geben. 1 Virchow scheint sich für eine solche von Latour vorgeschlagene symmetrische Untersuchung geradezu anzubieten: Wie er in seiner oben zitierten Selbstdeutung hervorhob, vermischten sich bei ihm Wissenschaft und Politik, und dabei stand er mitten im Prozess einer noch nicht abgeschlossenen Ausdifferenzierung von Natur und Gesellschaft. Daraus folgt zugleich das zentrale Thema dieser Studie: Am Beispiel Virchows soll versucht werden, Probleme der Wissenschafts- und Liberalismusgeschichte mit solchen einer Sozialgeschichte der Gelehrten im 19. Jahrhundert zu bündeln und einige neue Perspektiven zu eröffnen. In seiner Person kreuzen sich eine Anzahl wichtiger Entwicklungen, die sich auf diese Weise thematisieren lassen. Es soll also darum gehen, eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert und damit zugleich des Verhältnisses von „Natur" und „Gesellschaft" und dessen Veränderungen in der Moderne zu unternehmen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach den Wechselwirkungen von Naturwissenschaft und Liberalismus 20 im Rahmen einer „Kultur des Fortschritts" 21 , die im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt war. Dabei muss nicht nur dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich die Bedeutungen von „Naturwissenschaft" und „Liberalismus" im Untersuchungszeitraum veränderten, sondern auch die Rollen des Naturwissenschaftlers und des Politikers. Diese Prozesse sollen an Virchow exemplarisch untersucht werden. Es geht somit auch darum zu zeigen, in welcher Weise sich „Wissenschaft" und „Politik" als öffentliche Existenzweisen mit seiner privaten Existenz in einem Lebenslauf bzw. der Vorstellung einer „Persönlichkeit" integrieren ließen. Indem auf diese Weise versucht wird, die oben beschriebenen sozusagen kanonisierten Narrative zu durchbrechen, lässt sich am Ende vielleicht die eingangs gestellte Frage nach dem Beitrag der Naturwissenschaften und des Liberalismus zum deutschen Weg in die Moderne neu stellen.
II. Spricht man mit einigem Recht von einer „Darwin-" oder auch einer „Humboldt-Industrie", so rechtfertigt das Ausmaß der Literatur zu Virchow immerhin vielleicht die Rede von einer Virchow-Manufaktur. Die ersten knap7
pen Biographien Rudolf Virchows erschienen schon 1891 anlässlich seines 70. Geburtstags. In diesen zeitgenössischen Arbeiten waren die beiden Pole der künftigen Virchow-Literatur schon angelegt: Auf der einen Seite der Politiker, der hier dezidiert aus der Perspektive des Berliner „Fortschritts" dargestellt wurde, auf der anderen Seite der „große Mediziner". Zugleich entwickelten sich bereits zu seinen Lebzeiten die Anfänge einer Anti-VirchowTradition, oftmals mit antisemitischen Untertönen. Nach Virchows Tod 1902 erschienen weitere kurze biographische Darstellungen, zumeist von Schülern oder Autoren, die ihm persönlich nahe standen. Diese präsentierten in ehrfurchtsvollem Ton gehaltene knappe Würdigungen seines Lebenswerks unter Betonung seiner Rolle als Arzt.24 Im nationalsozialistischen Deutschland wurde dagegen aus Ehrfurcht Ablehnung, und 1933 fühlte sich Virchows Sohn Hans Virchow sogar bemüßigt, rufschädigenden Gerüchten über die jüdischen Anteile in ihrer Familie entgegenzutreten.25 Popularisiert wurde dieses negative Virchow-Bild in Hans Steinhoffs Film „Robert Koch - der Bekämpfer des Todes" von 1939, wo Virchow zum kleinmütigen Gegenspieler Bismarcks und Kochs gemacht wurde. 6 Ludwig Aschoffs knappe Biographie versuchte demgegenüber 1940 eine Ehrenrettung vorzunehmen. Zu diesem Zweck distanzierte er sich freilich nicht nur ausdrücklich von dem Politiker Virchow, sondern versuchte auch nach Kräften, dessen wissenschaftliches Werk dem herrschenden Zeitgeist anzupassen. Die Tendenz, opportune und nicht-opportune Züge in der Biographie Virchows jeweils sorgfältig zu trennen, spielte auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle. Besonders eklatant trat dies in der Historiographie der frühen DDR hervor: Hier wurde der „junge, revolutionäre Virchow" bevorzugt, der scharf von dem späteren „bürgerlich-reaktionären" Politiker abgesetzt wurde. Virchow wurde so einerseits als Teil des humanistischen Erbes reklamiert und andererseits als „Reaktionär" scharf kritisiert. Kurt Winter ebenso wie die wenig später erschienene kommentierte VirchowBriefedition Felix Boenheims bezogen dabei die politische und wissenschaftliche Entwicklung Virchows eng aufeinander, indem seine politische Entwicklung zum „Reaktionär" auf seinen „mechanischen Materialismus" zurückgeführt wurde. Die westliche historische Tradition reklamierte Virchow nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen vor allem als Repräsentanten eines anderen, liberalen Deutschlands und einer humanistischen Medizintradition. 29 Maßgeblich dafür ist die erste fundierte Virchow-Biographie, die der nach 1933 über Frankreich in die USA emigrierte Medizinhistoriker Erwin Ackerknecht 1953 veröffentlichte. Seine Studie, deren Hauptgewicht auf der wissenschaftlichen Bedeutung Virchows lag, wurde zugleich zum Ausgangspunkt einer .neoliberalen' Interpretation, die dessen Opposition gegen Bismarck positiv in den Vordergrund rückte.3 Ernst Meyer ging es hingegen in seiner 1956 vorgelegten kur8
zen Virchow-Biographie vor allem um dessen Verteidigung gegen Diffamierungen im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR. Der erste, der in größerem Umfang unveröffentlichtes Material für seine Arbeit über Virchow heranziehen konnte, war Christian Andree. Sein 1976 veröffentlichtes dreibändiges Werk über Virchow als Prähistoriker rückte erstmals dessen Bedeutung für die U r - und Frühgeschichte in den Mittelpunkt. 32 Als eine weitere wichtige Spezialstudie verdient die 1967 erschienene Arbeit Wolfgang Jacobs über medizinische Anthropologie im 19. Jahrhundert hervorgehoben zu werden, die eine geistesgeschichtliche Einordnung der sozialen Medizin und allgemeinen Krankheitslehre Virchows unternimmt. Geht es Jacob um den inneren Zusammenhang einiger zentraler politischer und wissenschaftlicher Theorieelemente bei Virchow, interessiert sich die 1988 veröffentlichte Studie Renato G. Mazzolinis, in der die politisch-biologischen Analogien im Frühwerk Virchows untersucht werden, für den Einfluss politischer Modelle auf die wissenschaftliche Theoriebildung. 34 Abgesehen von solchen Spezialuntersuchungen blieb Virchow weiter vor allem ein Gegenstand populärer Uberblicksdarstellungen. Dies gilt gleichermaßen für den knappen Abriss Arnold Bauers 35 sowie die 1988 veröffentlichte Biographie Manfred Vasolds 6. Dagegen führte die 1991 veröffentlichte Dissertation Byron A. Boyds 37 , die den Politiker Virchow ins Zentrum rückt, über das bis dahin Bekannte hinaus. Geboten wird vor allem eine Darstellung der Entwicklung der politischen Schwerpunkte und Positionen Virchows. Dabei eint die Studien Boyds und Vasolds die geschichtspolitische Tendenz, vor allem auf das Moment der „Zivilcourage" bei Virchow abzuheben und damit gegen das Bild des Deutschen als des „ewigen Untertanen" anzuschreiben. Die beiden bislang neuesten Biographien schließen gewissermaßen den Bogen einer nach 1945 in Ost und West getrennt verlaufenen Traditionsbildung unter medizinhistorischen Vorzeichen: Der ehemalige Direktor des Pathologischen Instituts der Berliner Charite Heinz David repräsentiert eine zuletzt weitgehend entideologisierte und dafür in perspektivlosen Positivismus abgetauchte DDR-Medizingeschichte: Sein 1993 veröffentlichtes Werk über Rudolf Virchow 38 bietet vor allem eine umfangreiche Sammlung ausführlicher Virchow-Zitate. Hingegen handelt es sich bei der 1994 erschienenen Virchow-Biographie von Heinrich Schipperges 39 um einen weiteren knappen Überblick mit populärwissenschaftlichem Anspruch. Der Forschungsstand ist also trotz der reichen Fülle von Virchow-Biographien insgesamt sehr unbefriedigend: Es dominieren populärwissenschaftliche Überblicksdarstellungen bzw. Studien zu Spezialaspekten. Sie haben vor allem erreicht, Virchow als Bestandteil einer wahlweise medizinischen und in geringerem Umfange - auch politischen Tradition zu etablieren und ihn damit als Teil eines jeweils spezifischen „Erbes" zu reklamieren. Als Grundtendenz lässt sich dabei beobachten, dass nach ersten Anfängen, in denen der 9
Politiker und der Wissenschaftler gleichberechtigt nebeneinander standen, dem antiliberalen Zeitgeist der folgenden Generationen geschuldet der „liberale Held" immer mehr hinter dem „großen Medizinmann" verschwand. In den letzten Jahren entwickelte sich hingegen wieder ein verstärktes Interesse für den Politiker Virchow. Gemeinsam ist beiden Richtungen, dass das Interesse an der „historischen Größe" Virchows im Vordergrund steht und damit einer Form der Biographik gehuldigt wird, die sich am Leitbild des großen, autonomen Individuums orientiert.
III. Die bislang vorliegenden Virchow-Biographien blieben somit gänzlich unberührt von den intensiven Bemühungen zur Erneuerung der Biographie, die mit ihrer in den letzten Jahren erfolgten Renaissance als (fach-)historisches Genre einhergingen. Trotz des dort mittlerweile erreichten Niveaus der methodischen Selbstreflexion gilt die aktuelle biographische Konjunktur gelegentlich einfach als Ausdruck des Methodennihilismus mancher Historiker, die sich dieses beim nicht-fachhistorischen Publikum ohnehin stets favorisierten Genres aus purer Bequemlichkeit bedienten.40 Umstritten ist damit, ob die neue Biographik mehr als nur das Etikett gewechselt hat. Die intensive theoretische Diskussion der letzten Jahre zeigte jedoch, dass sich in diesem Genre gewissermaßen die historiographischen Grundprobleme überhaupt bündeln.41 Die Biographik sieht sich in dieser Auseinandersetzung einer doppelten Herausforderung gegenüber, und zwar einerseits durch die lange Zeit strukturfunktionalistisch imprägnierte historische Sozialwissenschaft und andererseits durch den Post-Strukturalismus. Im Zuge ihres Angriffs auf die traditionelle deutsche Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren hatte die historische Sozialwissenschaft die Biographie als eine letzte Bastion des Historismus attackiert.42 Die Mehrzahl der Biographien, so die vielfach variierte Kritik, tradiere ein Persönlichkeitsmodell, welches das große, historisch bedeutende, autonome Individuum ganz in den Mittelpunkt stelle und sich diesem hermeneutisch-verstehend, d. h. vor allem „einfühlend" anzunähern suche. Dazu komme die Bevorzugung von individuellen Akteuren, von Handlung und Erzählung, wogegen nunmehr Struktur und Analyse gesetzt würden. 4 In der im letzten Dezennium erfolgten Auseinandersetzung mit der neuen „Kulturgeschichte" hat sich freilich auch die historische Sozialwissenschaft gewandelt. So stellen sich die jüngeren Vertreter einer „Gesellschaftsgeschichte" unter Rückgriff auf die Kategorie der „agency" nicht nur wieder vermehrt die Frage nach der Rolle individuellen Handelns,44 sondern bemühen sich auch um die Integration eines Begriffs von „Kultur", innerhalb dessen die Auffassung des Menschen als eines „Wesens (...), das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt 10
ist" 45 , im Mittelpunkt steht und somit die alten Probleme einer historischen Hermeneutik wieder neu diskutiert werden. Damit werden zugleich die Dimensionen der „Erfahrung" sowie der Aneignungs- und Aushandlungsprozesse von Bedeutungen und Identitäten 46 aufgewertet. In dieser Auseinandersetzung wurden zugleich Impulse verarbeitet, die eine vielleicht noch radikalere Infragestellung der traditionellen Biographie enthalten: Von Siegfried Kracauer bis Pierre Bourdieu lautete die Kritik an der Biographie, dass mit Mitteln der historischen Erzählung die literarische Fiktion eines einheitlichen Individuums hergestellt werde, das letztlich mit dem bürgerlichen Individuum des 19. Jahrhunderts identisch sei.47 Dies gipfelte in poststrukturalistischen Positionen, die nicht allein die Relevanz, sondern sogar die Existenz des Untersuchungsgegenstands der Biographie in Frage stellt. So sprechen Autoren wie Roland Barthes und Michel Foucault dem Begriff des „Individuums" selbst seine Berechtigung ab. Damit wurde Biographie tendenziell zur Konstruktion einer „biographischen Illusion" (Pierre Bourdieu), die lediglich ein narratives Konstrukt des Erzählers darstelle. Dem steht jedoch ein verbreitetes Bedürfnis nach einer „Rückkehr des wirklichen Menschen in der Geschichte" 48 gegenüber, die sich vielleicht auch als Ausdruck eines umfassenderen Bedürfnisses nach „Authentizität" innerhalb einer zunehmend durch Virtualisierung geprägten Kultur deuten lässt und somit Teil einer auf vielen Ebenen nachvollziehbaren Gegenbewegung zur Postmoderne bildet. So herrscht gleichermaßen Skepsis gegenüber menschenleeren strukturorientierten Untersuchungen, deren Resultat „Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark" sei,49 wie gegen eine postmoderne Dezentrierung des Ich, d. h. seine Auflösung in einen Zusammenhang schwebender Diskurse. Dabei sind sich aktuelle Überlegungen zu einer historischen Biographik darin einig, dass historische Persönlichkeiten weder als gänzlich strukturdeterminierte, noch als gänzlich autonome, freie Individuen dargestellt werden sollten. 1 In einer „erneuerten Biographik" stehe zwar, wie Andreas Gestrich bilanziert, „erneut das Individuum als Handlungsträger im Zentrum des Interesses, jedoch nicht als vereinzelter ,homo clausus', sondern in der Form einer konsequenten Analyse seiner Bezüge zur Umwelt"," womit dem Vorwurf des Rückfalls auf historistische Positionen vorgebeugt werden soll. Der hier mit seiner Kritik am cartesianischen Menschenbild des ,homo clausus' zitierte Norbert Elias zielt allerdings vor allem auf den Positivismus und namentlich auf eine strukturfunktionalistische soziologische Tradition der Bestimmung von Individuum und Gesellschaft, die ihm zufolge von Max Weber zu Talcott Parsons führt. 53 Die „erneuerte Biographik", wie sie von Gestrich charakterisiert wird, setzt jedoch, indem sie die Bezüge von Individuum und Gesellschaft bevorzugt untersuchen will, deren Unterscheidung in zwei unabhängig voneinander existierende Gegebenheiten gerade voraus.
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Letztere stellt Elias jedoch zwar nicht als Erfahrungstatsache, aber als soziologisch-historische Kategorien in Frage. Soweit sich die Forderung der „erneuerten Biographik" auf eine stärkere Berücksichtigung der Bezüge von Individuum und Umwelt bezieht, geht sie damit im Grunde genommen nicht über den oft als Hauptexponenten einer historistischen Biographiekonzeption angeführten Wilhelm Dilthey hinaus, für den die Frage nach den Wechselwirkungen von Individuum und ihrer Umwelt gleichfalls eine zentrale Rolle spielte. 4 Elias hebt demgegenüber auf die Historizität der einer solchen Betrachtungsweise zugrunde liegenden kategorialen Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft ab. Deshalb sollte, so Jacques LeGoff, „jede Biographie (...) nach der Konzeption des Individuums fragen, die zur Zeit des Lebens ihres Helden existierte." 56 Individuelle Lebensläufe stehen in Beziehung zu zeitbedingten und historisch veränderlichen Auffassungen des Individuums sowie Lebenslaufmustern, die von biographisch arbeitenden Historikern mitbedacht werden müssen. Andernfalls kann dies dazu führen, dass die den untersuchten Lebensläufen zugrunde liegenden biographischen Modelle und die Modelle der biographischen Interpretation in eins fallen und die Analyse somit zirkulär wird. Werden die untersuchten Individuen in denselben Erzählmodellen interpretiert, die möglicherweise bereits als literarische oder anderweitig kulturell vermittelte Vorlagen in einem Wirkungszusammenhang mit den zu untersuchenden historischen Biographien selbst standen, begünstigt dies eine stillschweigende „Komplizenschaft" 5 7 zwischen dem Biographen und dem Gegenstand seiner Biographie. Das Ausbrechen aus diesem Zirkel ist um so schwieriger, als auch die Leseerwartungen des Publikums stark von bestimmten vor allem literarisch beeinflussten Erwartungen an die Präsentation eines Lebenslaufs geprägt sind. D e m entspricht insbesondere die von Michael Shortland und Richard Yeo so bezeichnete „Stop-andgo, Lumpensack-Biographie", die sie als Wiederkehr eines „viktorianischen Gespenstes" bezeichnen: „ V o n den Vorfahren der Familie gelangen wir zur G e b u r t des Subjekts, gefolgt von einer kurzen J u g e n d und Adoleszenz, bevor der Biograph dann bei der ersten bemerkenswerten Tätigkeit angelangt. D o r t halten wir an für eine Beschreibung und Bewertung, die ausgiebig durch Zeugnisse belegt wird, bevor wir dann wieder fortfahren. D a s Subjekt durchlebt ein weiteres Jahr, ein weiteres L u s t r u m , dann eine weitere Atempause, bevor wir wieder fortfahren."
Diese Beobachtung gilt besonders für die Darstellung bildungsbürgerlicher Lebensläufe des 19. Jahrhunderts, zu denen auch Rudolf Virchow zählt. Die besondere Vorliebe von Biographen für solche Beispiele beruht nicht zuletzt auf der privilegierten Quellensituation für diese Gruppe, bildete doch die schriftliche Selbstreflexion in Briefen, Tagebüchern etc. ein wichtiges Element des damit eng verbundenen Konzepts von „Persönlichkeit". Dieses war 12
in der bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts in hohem Maße literarisch vorgeformt, wofür das Modell des „Bildungsromans" eine Schlüsselrolle spielte. Für den Zirkel zwischen literarisch vorformulierten Lebenslaufmodellen, gelebten Biographien und biographischer Selbstdeutung steht dabei insbesondere die Autobiographie, 5 als deren Autoren nicht zuletzt Ärzte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hervortraten. Der beschriebene biographische Zirkel lässt sich nur schwer durchbrechen, doch lässt sich die Aufmerksamkeit für die damit verbundenen Probleme schärfen. So stellt sich für das Genre der Biographie in besonderer Weise die Problematik der Tropologie des historischen Diskurses, das heißt, der in historischen Erzählformen implizit enthaltenen Deutungsmuster. 6 Indem in dieser Arbeit das Moment der „Persönlichkeit", das in Virchows zeitgenössischem Horizont als Erfahrungstatsache enthalten war, ernst genommen wird, soll gleichwohl nicht der „Mythos der persönlichen Kohärenz" 6 1 bestärkt werden. Vielmehr geht es darum, die soziale Konstitution seiner Ich-Identität als solche zu thematisieren und zu reflektieren, und nicht durch die narrative Form die Suggestion „eines seinem Handeln und Leben autonom einen unwandelbaren Sinn verleihenden Individuums" 62 zu erzeugen. Es muss also untersucht werden, auf welche Weise sich diese Einheit seiner „Identität" bzw. seiner „Persönlichkeit" konstituierte und wodurch sie gegebenenfalls gefährdet wurde. Doch reicht das Interesse dieser Arbeit in mehrfacher Hinsicht über Virchows „Persönlichkeit" hinaus: Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, Virchow ausschließlich als historisches Individuum zu begreifen. Verwandelte er sich nicht vielmehr im Verlauf seines Lebens und vor allem seines Nachlebens vom historischen Individuum in ein Symbol? 63 Denn vor allem im Hinblick auf seine späteren Jahre und sein Nachleben überlagerten zunehmend verschiedenartige Typisierungen seine Bedeutung als historische „Persönlichkeit", wobei er von unterschiedlichen Gruppen zur symbolischen Repräsentation ihrer jeweiligen Interessen und Werte vereinnahmt wurde. Zudem soll hier die biographische Perspektive mit monographischen Sachgesichtspunkten verbunden werden. Eine derartige Vorgehensweise galt noch in den siebziger Jahren dem einen als erfolgversprechende Darstellungsform 64 , dem anderen dagegen als Indiz der Krise der Biographie 6 . Moshe Zimmermann argumentiert demgegenüber, dass die einer solchen Auffassung zugrunde liegende herkömmliche Unterscheidung von Monographie und Biographie ohnehin obsolet sei: Die Biographie befasse sich ebenso wie die Monographie mit einem spezifischen historischen Phänomen in einem historischen Kontext und könne zusätzlich auch noch in privilegierter Weise die psychologische Dimension kausaler Erklärungen sowie die sozialen Interaktionen historischer Individuen berücksichtigen. 66 So ließe sich im Falle Virchows nach seinem „existentiellen Projekt" fragen, d. h. nach seiner Auffassung darüber, wie er seinem Leben Sinn, Einheit 13
und Wert zu verleihen vermochte und in welcher Weise er dies in seiner Arbeit, d. h. in der sozialen Sphäre zu realisieren suchte.67 Doch gehen die Bezüge zu historischen Phänomenen nicht in der Intentionalität der biographierten Person auf. Vielmehr gelangen aus der Perspektive des hier im Mittelpunkt stehenden Interesses am Verhältnis von Wissenschaft und Politik eine Vielzahl historischer Phänomene in den Blick, mit denen sich zahlreiche Fragestellungen und Methoden verbinden lassen. Am Beispiel Virchows erweist sich in ganz besonderem Maße der eklektische Charakter, der das Genre der Biographie generell prägt. Hierin liegt aber auch eine Chance, nämlich eine integrierte Perspektive zu entwickeln, in der sich sozioökonomische Strukturen, Institutionen, Mentalitäten, Ideen, Lebensführung usw. gleichermaßen untersuchen lassen.68 Bei diesem Vorhaben kann man sich auf eine insgesamt günstige Quellenlage stützen, von der in der bisherigen Forschung bislang allenfalls bruchstückhaft Gebrauch gemacht worden ist. Um einen Maßstab für die Größenordnung der Aufgabe zu geben, sei nur darauf verwiesen, dass allein das von Julius Schwalbe 1901 veröffentlichte - unvollständige - Schriftenverzeichnis Virchows etwa 100 Druckseiten umfasst.69 Hinzu kommen umfangreiche unveröffentlichte Quellen. Der wichtigste Teil der Uberlieferung befindet sich im Nachlass Virchows im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, in dem vor allem seine umfangreiche Korrespondenz von Bedeutung ist.70 Allerdings besteht diese, wie meist üblich, zum großen Teil nur aus den eingegangenen Schreiben, während die ausgehende Korrespondenz auf die Überlieferung der Korrespondenzpartner verstreut ist, von denen etwa 2.500 bekannt sind. Weitere Korrespondenzteile finden sich in der „Sammlung Darmstädter" in der Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, Berlin, die vor allem zu Virchows wissenschaftlicher Tätigkeit wichtige Auskünfte geben. Die im Pommerschen Landesmuseum, Greifswald, aufbewahrte Sammlung Rabl enthält hingegen wichtiges Material insbesondere familiären Charakters. 1 Geben die bislang aufgeführten Quellen vor allem auch zu privaten Aspekten in erheblichem Umfang Auskünfte, die über den bisherigen Forschungsstand hinausführen, so bieten die Bestände des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität zu Berlin7 sowie des Geheimen Staatsarchivs, Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, weiterführende Informationen über sein berufliches Wirkungsfeld sowie über sein Verhältnis zur preußischen Administration 7 . Wichtig sind in diesem Zusammenhang besonders die Akten des preußischen Kultusministeriums. Neben einigen kleineren Beständen im Landeshauptarchiv Potsdam, das vor allem die Dokumentation der zeitweiligen polizeiliche Überwachung Virchows aufbewahrt, wurde schließlich auch Material zu Virchows kommunalpolitischer Tätigkeit im Landesarchiv Berlin, Stadtarchiv, benutzt. 14
Hindernisse für die Forschung ergaben sich dabei bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor allem daraus, dass sich sowohl der Nachlass Virchows ebenso wie die heute in Dahlem befindlichen Uberlieferungsteile aus der preußischen Ministerialbürokratie sowie die Uberlieferung der Berliner Universität nach dem Zweiten Weltkrieg in der D D R befanden und somit bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten nur unter sehr erschwerten Bedingungen zugänglich waren. Deshalb kam eine quellengestützte biographische Forschung zu Virchow auch erst spät in Gang. Neben solchen glücklicherweise überwundenen Hindernissen des materiellen Zugangs bleibt jedoch die Schwierigkeit der Entzifferung der Handschrift Virchows eine immer noch schwer zu überwindende Barriere, welche die VirchowForschung zu einem langwierigen und mühsam zu erlernenden Handwerk werden lässt. Hier verspricht allerdings das von Christian Andree betreute Projekt einer auf 71 Bände angelegten Rudolf-Virchow-Gesamtausgabe, von denen bislang elf erschienen sind, langfristig beträchtliche Erleichterung zu verschaffen.74 Die bisher vorgelegten Bände enthalten neben Nachdrucken der stenographischen Mitschriften der Parlamentsreden Virchows auch Transkriptionen der handschriftlichen Uberlieferung Virchows - von denen allerdings manches leider zu spät erschien, um dem Autor noch die Mühsal der eigenhändigen Entzifferung zu ersparen. Ein Briefeditions-Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften endete leider bereits nach dem Erscheinen des dritten Bands75.
IV. In dieser Arbeit wird Virchow als historisches Individuum im Schnittpunkt dreier verschiedener Untersuchungsperspektiven interpretiert, wobei das zentrale Interesse nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik in unterschiedlicher Weise strukturierend wirkt. So geht es erstens um Virchows Lebenskonstruktion und Lebensführung, zweitens um seine wissenschaftliche und politische Karriere und die damit verbundenen Handlungsfelder und -strukturen sowie drittens um die Wechselwirkungen zwischen seinen wissenschaftlichen und politischen Ideen und die Frage nach einem beide verbindenden „Denkstil". Dabei sollen diese Untersuchungsebenen, die auch den Aufbau dieser Arbeit in drei Hauptkapitel organisieren, nicht im Sinne einer Hierarchie verstanden werden. Vielmehr dienen sie den praktischen Erfordernissen der Analyse und auch der Ökonomie der Darstellung. Eine erste Untersuchungsebene, und damit zugleich das erste Hauptkapitel, beschäftigt sich also mit Virchows Lebenskonstruktion und Lebensführung im Spannungsfeld von privater und öffentlicher Sphäre.76 Dies ist zugleich ein 15
Beitrag zur Klärung der Frage nach der Bedeutung der Naturwissenschaften für die Entwicklung kultureller Verhaltensnormen, die mit der Frage nach der Existenz einer spezifisch liberalen Prägung von Bürgerlichkeit 77 verknüpft ist. So geht es auch darum, am Beispiel Virchows den Einfluss der Naturwissenschaften auf den „bürgerlichen Wertehimmel" 78 im 19. Jahrhundert zu diskutieren. Zu zeigen ist, inwieweit sich hier ein ,progressivistischer Lebensstil' findet, der die vielfältigsten Praktiken leitete und organisierte und der zugleich ein wichtiges Element einer „Kultur des Fortschritts" bildete. Dazu richtet sich der Blick zunächst auf das „tragende Regelgerüst" des individuellen Lebens Virchows und damit zugleich auf die Frage nach den konstitutiven Elementen seiner personalen und sozialen Identität. Es gilt dabei, die Spannung zwischen seinen subjektiven Intentionen und dem subjektiv nicht überschaubaren Sinn, d. h. der „verborgene(n) Gefügeordnung" 79 seines individuellen Lebens, zu thematisieren. Deshalb ist hier zunächst zu fragen, mit welchen zeitgenössischen Konzepten von Lebensführung und „Persönlichkeit" Virchow sich bei seiner Identitätskonstitution auseinander setzte. Es geht also nicht darum, das Modell des bürgerlichen Individuums als Vorlage für die historische Biographie zu retten, sondern dessen Bedeutung für die bürgerliche Lebensführung des 19. Jahrhunderts zu problematisieren. Zu diesem Zweck werden zunächst Virchows Bildung und Sozialisation untersucht. Auszugehen ist dabei davon, dass ein spezifisches Modell der Bildung von „Persönlichkeit" im Zentrum bürgerlicher bzw. neuhumanistischer Erziehung stand. Verließ also auch Virchow das Kösliner Gymnasium, wie sein langjähriger Gegenspieler Bismarck von sich selbst behauptete, „als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts" Und inwieweit existierten überhaupt Wahlmöglichkeiten unter alternativen Modellen der Lebenskonstruktion und -führung? Welchen Stellenwert besaß in diesem Zusammenhang die berufliche Entscheidung für die „Medizin" bzw. für die „Wissenschaft"? Und was bedeutete Virchows politische Tätigkeit für seine Lebenskonstruktion? In diesem Zusammenhang interessieren besonders Brüche und Transformationen, und dies lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf biographische Statusübergänge sowie Krisensituationen in Virchows Lebenslauf und ihre Auswirkungen auf sein Selbstverständnis. 1 Wie ging Virchow mit Kontingenzerfahrungen um, also etwa mit Krankheit, Tod, Unglücksfällen oder politischen Umbrüchen? Stellte er in solchen Krisen seine eigene Identität in Frage, oder kaschierte er derartige Brüche? Welche höchsten Werte waren für einen Naturwissenschaftler und Arzt verbindlich, der selbst die Verbindlichkeiten religiöser Weltinterpretation in Frage stellte und dabei zugleich öffentlich Naturwissenschaft als Fundament eines humanistisch geprägten Wertekosmos propagierte? Auch hier sind „Privates" und „Öffentliches" eng verknüpft, fragt man etwa nach der Rolle der privaten Religiosität im Haushalt des Vorkämpfers des Kulturkampfs, der Virchow zeitlebens war. Konnte 16
also Naturwissenschaft der individuellen Kontingenzbewältigung dienen, und wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Dies führt zu der Frage, welche Rolle die modernen Naturwissenschaften bzw. der Liberalismus für ein individuelles „Lebensgerüst" entfalten konnten. Lässt sich an Virchow eine spezifische Relevanz von Wissenschaft bzw. von Politik für das Problem bürgerlicher Identität und Lebensführung im „naturwissenschaftlichen Zeitalter" nachzeichnen? Dazu müssen insbesondere sein Umgang mit materiellem und symbolischem Kapital, Geselligkeitskreise, Familienleben und die dort praktizierten Geschlechterrollen sowie seine Wertorientierungen näher untersucht werden. Zu fragen ist also danach, in welcher Weise Virchow Wissenschaft und Politik in wechselnden Lebensphasen in seiner Lebenskonstruktion zueinander ins Verhältnis setzte und wie sich dies wiederum zu dem Spannungsverhältnis von privater und öffentlicher Sphäre verhielt, deren strikte Trennung im 19. Jahrhundert konstitutiv für das Modell von Bürgerlichkeit und bürgerlicher Gesellschaft war. In welchem Verhältnis stand also Virchows „öffentliche" Rolle als Wissenschaftler und Politiker zu seiner „privaten" Rolle als Familienvater? Bei all dem soll es nicht darum gehen, am Beispiel Virchows noch einmal die Ergebnisse der in den letzten Jahren zu einer ganzen Bibliothek angewachsenen Bürgertumsforschung nachzuvollziehen und ihn als eine weitere Exemplifikation eines „Bildungsbürgers" vorzustellen. 82 Vielmehr lautet die Frage, inwieweit sich an seinem Beispiel auch Spannungen und Brüche in der Normalbiographie des „Bildungsbürgers" aufzeigen lassen. Bei Virchow findet sich bald nach dem Erreichen des ersten Ordinariats und seiner Eheschließung - beides kurz nach dem für ihn deprimierenden Ende der Revolution - ein auffälliger Abbruch der Selbstreflexion der eigenen Identität. Nachdem er während der Revolution vorübergehend weder zwischen ,privat' und .öffentlich', noch zwischen Wissenschaft und Politik unterschieden hatte und so in seinem eigenen Selbstverständnis zum „ganzen Menschen" geworden war, nahm er anschließend erneut eine Ausdifferenzierung dieser Bereiche in eigene Sphären vor. Doch blieb das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in seiner Biographie spannungsreich. Hier offenbart sich, wie gezeigt werden soll, auch ein Stück weit eine Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, war doch eine Nebenfolge ihres säkularen Erfolgs im 19. Jahrhundert ein zunehmender Verlust der Autonomie der privaten Sphäre, aus der heraus ihr Aufstieg erfolgt war. Eine zweite Untersuchungsebene, und damit auch das zweite Hauptkapitel, wendet sich der „doppelten Karriere" Virchows in Wissenschaft und Politik zu. An ihm lassen sich die Entstehung und Veränderung der Rollen des Naturwissenschaftlers wie des Gelehrtenpolitikers im 19. Jahrhundert exemplarisch zeigen. Während Virchow Wissenschaft als seinen Beruf betrachtete, blieb er im politischen Feld ein Amateur in einem gleichermaßen von der 17
Ausbreitung eines „politischen Massenmarktes" (Hans Rosenberg) und allmählich einsetzender Professionalisierung geprägten Umfeld. In Virchows Selbstwahrnehmung war politische Betätigung somit das Resultat einer bürgerlichen „Pflicht". Bestand dabei - im Sinne Max Webers - ein unausweichlicher Konflikt zwischen Anforderungen unterschiedlicher Lebensordnungen und Wertsphären, d. h. den Eigengesetzlichkeiten des jeweiligen „Dämons"83? Vergrößerte sich gegebenenfalls die Kluft zwischen der wissenschaftlichen und politischen Wertsphäre im Verlauf seines Lebens? Virchows Beispiel demonstriert die aus solchen parallelen Karrieren resultierenden Konflikte ebenso wie die Möglichkeiten, die Erträge aus dem wissenschaftlichen und politischen Feld wechselseitig zu konvertieren. Dabei interessieren weniger die Inhalte der wissenschaftlichen und politischen Kontroversen, an denen Virchow beteiligt war, sondern in erster Linie die strukturierenden Faktoren der in beiden Feldern eingeschlagenen Karrieren. Mit Blick auf Virchows wissenschaftliche Karriere wird deshalb zunächst nach seiner Rolle in Institutionalisierungsprozessen im Bereich der Pathologie wie der Anthropologie gefragt. Insbesondere wird zu untersuchen sein, in welcher Weise seine wissenschaftliche Karriere mit der Entwicklung disziplinärer Identitäten84 verknüpft war. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei auch der Frage, mit welchen Mitteln Virchow seine wissenschaftliche Autorität erwarb und sicherte. Dies lenkt den Blick zugleich auf Prozesse der Vermittlung und Popularisierung von Wissenschaft, die gleichermaßen der Produktion .gesicherten Wissens' als auch dem Ausbau seiner Stellung im wissenschaftlichen Feld wie auch gegenüber einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit dienten. Virchow erscheint dabei als Vertreter eines modernen Typus des Naturwissenschaftlers, der virtuos mit den Möglichkeiten des durch den Forschungsimperativ gesteuerten, marktförmig organisierten Wissenschaftsmodells agierte, wie es sich seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Die Frage nach disziplinärer Identität und wissenschaftlicher Autorität legt es zudem nahe, den Blick auf Institutionen und Disziplinbildungsprozesse durch den Blick auf wissenschaftliche Praktiken und ihre Verankerung in lokalen Kontexten zu ergänzen, 5 wobei Virchows Pathologisches Institut in Berlin einen geeigneten Ansatzpunkt darstellt. Die Rolle der dort eingeübten Praktiken, die auf die habituelle Verinnerlichung eines auf die sogenannte „naturwissenschaftliche Methode" gestützten Konzepts von „Wahrheit" zielten, leitet zugleich über zu der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, die einen leitenden Gesichtspunkt bei der Untersuchung der politischen Karriere Virchows darstellen soll. Gefragt wird zunächst also nach Virchows Bedeutung im Spannungsverhältnis von „Wissenschaft als Beruf" und „Politik als Beruf" (Max Weber), das im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts durch einen allmählichen Auszug der Gebildeten aus der Politik86 gekennzeichnet war. Dabei soll mit Blick auf das Problem der „Gelehr18
tenpolitik" im 19. Jahrhundert die bislang vernachlässigte Frage nach der spezifischen Rolle der Naturwissenschaften aufgeworfen werden. Dies verbindet sich zugleich mit der Frage, in welcher Weise dies mit Veränderungen des liberalen Modells der Honoratiorenpolitik verbunden war. Wie reagierte Virchow also auf die zunehmende Professionalisierung der Politik mit ihren gesteigerten zeitlichen Anforderungen? Und welchen Beitrag leistete er zu jener Form der „unpolitischen Politik", welche die Grundlage des im Kaiserreich praktizierten Rückzugs des Liberalismus auf die Großstädte bildete? Damit geht es hier auch um die Untersuchung von Wirkungsfeldern und politischen Regenerierungspotenzialen des Liberalismus außerhalb der Formen traditioneller Parteipolitik. Hier stellt sich auch die Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten naturwissenschaftlicher Expertenautorität. In welcher Weise versuchte Virchow das mit seiner Stellung als berühmter Wissenschaftler verbundene kulturelle Kapital im politischen Feld zu nutzen? Dabei geht es vor allem um die Spezifik der von Virchow vertretenen naturwissenschaftlichen Gelehrtenpolitik im Spannungsfeld zweier wichtiger Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts, nämlich einerseits des Modells der auf Expertenwissen gegründeten Technokratie, welche die Wertbezüge ihrer Entscheidungen verschleiert, und andererseits der Entwicklung des modernen Intellektuellen, der die öffentliche Thematisierung von Wertbezügen betreibt. In diesem Zusammenhang soll die Hypothese diskutiert werden, dass Virchow eine wichtige Rolle im Rahmen eines indirekten Verfassungswandels im Deutschen Reich durch Umdefinierung politischer Fragen in unpolitische .Sachfragen' spielte. Am Ende des 19. Jahrhunderts nutzte er schließlich seine ihm zugewachsene internationale Berühmtheit, um seine Rolle vom deutschen Gelehrtenpolitiker zu einem europäischen Intellektuellen zu transformieren, der sich in öffentliche Streitfragen als „inkompetenter Kritiker"87 einschaltete. Virchow ist damit gleichermaßen ein wichtiger Indikator für den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit als auch ein wichtiges Beispiel für die oft unterschätzten deutungskulturellen Dimensionen der Naturwissenschaften. Auf der dritten Untersuchungsebene, und somit auch im dritten Hauptkapitel, stehen schließlich die Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen und politischen Ideen Virchows im Zentrum. Die damit verbundene Frage nach einem „Denkstil" zielt insbesondere auf das „charakteristische Einstellungsgefüge" Virchows, d. h. „die in bezeichnender Weise untereinander vernetzten Positionen über so unterschiedliche Sachbereiche wie Naturwissenschaft, Kultur und Politik."88 Zum 19. Jahrhundert gehören die vielfältigen Berührungen, wechselseitigen Übertragungen und Verschmelzungen von wissenschaftlichem und politischem Denken, die auch bei der Entstehung der politischen Parteien eine wichtige Rolle spielten.89 Eine besonders enge intel19
lektuelle und soziale Verbindung entwickelte sich für einige Jahrzehnte zwischen den modernen, empirischen Naturwissenschaften und dem Liberalismus. Diese .Wahlverwandtschaft', deren Höhepunkt in den beiden Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte lag, geriet jedoch nach der Reichsgründung in eine Krise. So verloren Naturwissenschaften und Biologie seit den 1870er Jahren in Deutschland - anders als etwa in England - zunehmend ihre zentrale Bedeutung als Begründungsinstanz für liberale Modelle von Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel. Virchow steht dabei im Zusammenhang eines (positivistischen) Szientismus, der sich als „ein durch Aufstieg von Medizin und Naturwissenschaften geprägtes Epochenbewußtsein" charakterisieren lässt. Darunter lassen sich jene Strömungen subsumieren, die von einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis ausgingen und zugleich die Naturwissenschaften als „die Befriedigung aller philosophischen Bedürfnisse" ausgaben.91 Wichtige Hinweise zum Zusammenhang zwischen szientistischen Weltbildern und demokratisch-liberalen Utopien gab bereits Karl Mannheim in seiner Studie über Ideologie und Utopie. Während aber bei ihm der Charakter einer Utopie - im Gegensatz zu einer Ideologie - darin liegt, dass es sich um „alle jene seinstranszendenten Vorstellungen (also nicht nur Wunschprojektionen)" handele, „die irgendwann transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirken" , verzichtet Thomas Nipperdey bei seinem Versuch, „Utopie" zu definieren, auf die Frage, inwieweit tatsächliche Auswirkungen auf die jeweilige Gegenwart nachweisbar seien . Er argumentiert, dass sich die Utopie, die ursprünglich ein Ideal gewesen sei, in der Aufklärung zum Leitbild des Handelns und im 19. Jahrhundert schließlich zur Prognose zukünftigen Geschehens gewandelt habe. Indem solche Zukunftsentwürfe durch Wissenschaft von der Theorie in die Praxis überführt worden seien, hätten sie ihren „die Wirklichkeit bewußt übersteigenden, (...) utopischen Charakter verloren. (...) Die Utopien des 19. Jahrhunderts halten zwar den Anspruch des Veränderungsdenkens und -handelns, des freien Herstellens einer Welt aufrecht, aber dieser Anspruch ist in der Wirklichkeit der Wissenschaft, der Technik, der Politik nunmehr viel vitaler gegenwärtig." 94
Legt man dieses eingeschränkte Verständnis zugrunde, lässt sich der Utopiebegriff sinnvoll auf Virchow beziehen: Nicht die revolutionäre Verwirklichung eines Zukunftsentwurfs, der mit der Gegenwart radikal bricht, sondern die evolutionäre Verbesserung der bestehenden Verhältnisse mit Hilfe der Wissenschaft, die zugleich die Mittel bereitstellt, die Richtung und das Ziel dieser Entwicklung zu prognostizieren, zeichneten ihn aus. Dies entspricht auch dem Charakter des Liberalismus, der über keine „ekstatische Vision einer vollkommenen Gesellschaft" verfügte, sondern bestenfalls über das vage Ideal der Perfektibilität, wonach sich die menschliche Gesellschaft 20
stufenweise der natürlichen Ordnung nähern würde. 95 Das für Virchow grundlegende Modell des Fortschritts setzte dabei ein „utopisches Uberschußpotential" (Reinhart Koselleck) frei, das in der Konvergenz von naturwissenschaftlichem Fortschritt einerseits und politischem, sozialem und kulturellem Fortschritt im Prinzip des „Humanismus" gipfelte, womit Virchow eine Tradition der Philosophie der Aufklärung fortsetzte. Damit begleitete ihn als zentrales Problem die Ungleichzeitigkeit der verschiedenen „Fortschritte" 96 . Somit geht es in diesem Kapitel wesentlich um die Probleme und Aporien aufklärerischen Denkens im Zuge der Entfaltung der Moderne. Dabei soll an diesem Fallbeispiel insbesondere die seit den 1870er Jahren stattfindende Auflösung der .Wahlverwandtschaft' zwischen Szientismus und Liberalismus genauer analysiert werden, als dies in der Forschung bislang erfolgt ist. Diese Veränderung zu untersuchen, stellt einen noch weitgehend ungelösten Teil der Aufgabe dar, die darin besteht, den Wechselwirkungen und Bedeutungsübertragungen zwischen wissenschaftlichen und politischen Konzepten bei Virchow, die mehrfach hin- und hergehen können, nachzugehen. Damit sollen allerdings nicht inhärente Beziehungen zwischen bestimmten wissenschaftlichen und politischen Modellen behauptet werden. Zu Recht wurde vor Versuchen gewarnt, bestimmte wissenschaftliche Theorien als am meisten „natürliche" oder „offensichtliche" wissenschaftliche Untermauerung einer bestimmten Politik zu bezeichnen, wie es etwa häufig im Umfeld des sogenannten Sozialdarwinismus geschieht. Umgekehrt sind wissenschaftliche Theorien zwar von ihrer sozialen und kulturellen Umgebung beeinflusst, aber nicht determiniert. 98 Dieser Vorbehalt gilt auch für die Beziehung zwischen Szientismus und Liberalismus. Diese Beziehung wird daher in vier Schritten untersucht werden: Erstens geht es um die Bedeutung Virchows im Zusammenhang der Beziehungen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Modellen, die in einer Physiologie der Gesellschaft gipfelten. Dazu konzentriert sich die Untersuchung auf die Rolle der Metaphernzirkulation für die wechselseitige Bedeutungsübertragung zwischen Wissenschaft und Politik. Insbesondere interessieren hierbei die Rolle von Konzepten des Körpers, von Krankheit und Seuchen und die damit verbundene Vorstellung des „Normalen" und des „Pathologischen" als Brücken zwischen Natur und Gesellschaft. Dies führt zu der Frage nach dem hier zugrunde liegenden Modell von historischer Veränderung. Deshalb wendet sich ein zweiter Schritt der Rolle von Konzepten der „Entwicklung" und des „Fortschritts" zu, denen als Brücken zwischen Szientismus und liberalen Utopien insofern zentrale Bedeutung zukam, als hier die Möglichkeiten und die Richtung der Veränderung von Natur und Gesellschaft diskutiert wurden. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Veränderungen des wissenschaftlichen und des politischen Fortschrittsbegriffs einerseits und jener „Wahlverwandtschaft" - und ihrer Auflösung - zwischen 21
Szientismus und Liberalismus? Daran schließt drittens die Frage nach der Auseinandersetzung Virchows mit den Folgen jener „doppelten Verzeitlichung" des Menschen an, die sich auch als Frage nach dem Verhältnis von kultureller und sozialer Evolution verstehen lässt." Diese vor allem auf dem Gebiet der Geschichte und der Anthropologie geführte Auseinandersetzung war eng verknüpft mit Diskursen über nature und nurture, d. h. Vererbung und Verbesserung, die eine weitere zentrale Schnittstelle zwischen Szientismus und liberalen Utopien bildeten. Viertens und letztens wird schließlich die Bedeutung spezifischer Ordnungen des Wissens für diese Verbindung untersucht. Hierbei geht es zugleich um die Grundlagen einer naturwissenschaftlichen Variante der liberalen Bildungsidee. Finden sich also bei Virchow die Konturen des Konzepts einer naturwissenschaftlichen Wissensgesellschaft'? Scheiterte dieses Modell schließlich an der Aufgabe, unter den Bedingungen des Deutschen Kaiserreichs plausible Antworten auf die Probleme des Liberalismus zu liefern, die vor allem aus der Pluralisierung und Differenzierung der modernen Gesellschaft resultierten? Damit geht es in diesem Kapitel nicht zuletzt um das Problem der Zeitgebundenheit bzw. der Unzeitgemäßheit einer eng mit dem positivistischen Szientismus verbundenen Form des Liberalismus, wie sie Virchow vertrat, sowie um die Gründe dieser Veränderungen - und damit auch um Erfolge und Grenzen des Liberalismus jenseits traditioneller Politikformen. Bestätigt der Blick auf Virchow also die verbreitete „Aufstieg-und-Niedergangs"-Interpretation des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, die nach einer Phase der Erfolge in den sechziger und siebziger Jahre einen starken Rückgang seiner politischen Bedeutung sieht? Oder lassen sich bei Virchow auf Naturwissenschaft gestützte Ansätze zur Revitalisierung des Liberalismus finden, welche die Vermutung stützen, dass es liberale politische Visionen gab, die der oft behaupteten Schwächung des liberalen politischen Milieus und liberaler Politik seit der konservativen Wende 1878/79 entgegenstanden?100 Ohne damit die Antwort im Hinblick auf den Liberalismus insgesamt vorwegnehmen zu wollen, wird hier die Hypothese vertreten, dass Virchow keinen Anschluss mehr an solche Bewegungen fand, wobei die Frage nach den Gründen dafür zunächst offen bleibt. Und so stützte sich der Liberalismus bei seinen Bemühungen um eine Revitalisierung um 1900 schließlich auch nicht mehr auf die Naturwissenschaften, sondern auf die Soziologie. Dem lag zugleich aber auch ein neues Verhältnis von „Natur" und „Gesellschaft" zugrunde, dessen Entwicklung einen wichtigen Aspekt dieser Untersuchung bildet. In der Person Rudolf Virchows verdichtet sich somit das Schicksal jener in einer „Kultur des Forschritts" verankerten Vision des 19. Jahrhunderts, in der Naturwissenschaft und Liberalismus für einige Zeit eine intime Verbindung eingegangen waren. Die Begeisterung für die Verbindung von Wissenschaft und Politik, die im 20. Jahrhundert nicht in einer Verbindung mit dem 22
Liberalismus, sondern mit dem Marxismus ihren Höhepunkt erreichte, ist mittlerweile weitgehend großer Skepsis gewichen - wobei es verfrüht wäre, hierin einen endgültigen Zustand zu sehen. U m so interessanter ist es, an einer historischen Fallstudie die Chancen und Probleme einer solchen Verbindung nachzuvollziehen, womit auch die Frage nach der Rolle des Naturwissenschaftlers in der Gesellschaft verbunden ist. Auf diese Weise lässt sich Rudolf Virchow nicht nur wie so oft geschehen als Teil eines ,Erbes' vereinnahmen; vielmehr kann die Beschäftigung mit ihm zur Auseinandersetzung mit Fragen führen, die auch in unserer heutigen Welt von zentraler Bedeutung sind.
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I. Privates Leben und öffentliche Sphären
1. Bildung und Ausbildung im Biedermeier a) Neuhumanismus in der Provinz Anlässlich von Rudolf Virchows 80. Geburtstag im Jahre 1901 ersann der Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff ein besonderes Geschenk für den Jubilar, der immer noch tagtäglich seiner Tätigkeit als Professor an der Berliner Universität und Direktor des Pathologischen Instituts nachging: Unter dem Titel Der kleine Virchow veröffentlichte er dessen zu Ostern 1839 erfolgte Meldung zur Reifeprüfung am Gymnasium in Köslin sowie seinen deutschen Abituraufsatz zum Thema „Ein Leben voll Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohlthat" 1 . Letzteres lehnte sich an den 90. Psalm des Alten Testaments an, der sozusagen programmatische Bedeutung für die bürgerliche Lebensführung des 19. Jahrhunderts besaß. Damit feierte die Berliner Kultusbürokratie Virchow also nicht für seine öffentliche Rolle, wozu neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auch seine in den Augen der preußischen Obrigkeit oftmals anstößige politische Tätigkeit gehörte. Vielmehr ehrte sie ihn, so scheint es, als Verkörperung der persönlichkeitsbildenden Ziele des preußischen Schulsystems. Erwies das Ministerium hier einem spezifischen Konzept bürgerlicher und männlicher Identität und Lebensführung seine Referenz? In jedem Fall beeinflusste das kleine Bändchen in erheblichem Maße die historische Interpretation Virchows, vor allem indem seine künftigen Biographen den Titel des deutschen Abituraufsatzes immer wieder als Ausdruck seiner eigenen Lebensmaxime bzw. zur Charakterisierung seiner Lebensführung übernahmen. So spricht etwa Erwin Ackerknecht in seiner VirchowBiographie von einem „schicksalhaften Titel"3. Häufig bildeten die beiden 1901 veröffentlichten Texte Virchows aus dem Jahre 1839 den Ausgangspunkt, um Virchows Lebenslauf im Schema eines klassischen Bildungsgangs zu interpretieren, so wie sein Schüler und Assistent am Berliner Pathologischen Institut Oscar Israel in einem Nachruf schrieb: „Die Meldung lässt bereits im Seelenleben des Kindes mehrfach Züge hervortreten, die sich unverkennbar als die Keime für den Erfolg des Mannes darstellen." Zugleich spreche daraus tiefe Dankbarkeit gegenüber der „liebenden Sorgfalt des Vaters", der alle Schwierigkeiten überwand, „die sich der erstrebten humanistischen Bildung des Sohnes entgegenstellten."4
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Der sich hier manifestierende bürgerliche Glaube an „Entwicklung" und „Bildung" ging zugleich einher mit der hohen Bedeutung der archivalischen Uberlieferung persönlicher Nachlässe, womit die Illusion verbunden war, „man könne retrospektiv den Menschen aus den hinterlassenen Dingen rekapitulieren" 5 . Auch Virchows Nachlass enthält neben privater und beruflicher Korrespondenz sämtliche Schulhefte, die seinen Bildungsgang ausführlich dokumentieren. Dies erlaubt es, die Bedeutung der spezifischen Ausformung der neuhumanistischen Erziehung, wie sie in den 1830er Jahren in Hinterpommern zu finden war, zu untersuchen und dabei zugleich nach Spannungen im damaligen Konzept von „Bildung" zu suchen. Zugleich interessiert hier auch der sich dabei ausbildende Erfahrungsraum Virchows, weshalb zunächst seine Heimatregion in den Blick genommen wird. Die 1815 zur preußischen Provinz erhobene, an der Ostsee gelegene Region Pommern wies die typischen strukturellen Merkmale der preußischen Ostprovinzen in besonders scharf ausgeprägter Weise auf: Dazu gehörte das schon im 18. Jahrhundert einsetzende außerordentlich starke Bevölkerungswachstum, das auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhielt und hauptsächlich auf das Konto der Landarmen und Landlosen ging. Von 1816 bis 1848 nahm die Bevölkerung Pommerns von 0,683 auf 1,18 Millionen zu, was einer Steigerung um 73 Prozent entspricht. 6 Zugleich handelte es sich um die, wiederum im preußischen Maßstab gesehen, am stärksten agrarische und am wenigsten industrialisierte Provinz. Die größte pommersche Stadt war 1816 Stettin mit 21.200 Einwohnern; insgesamt lebten drei Viertel der pommerschen Bevölkerung auf dem Land, woran sich auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wenig änderte. 7 U m 1815 lebten etwa drei Viertel der Bevölkerung von der Land- und Forstwirtschaft, daneben entstand in dieser Zeit an der Küste neben der traditionellen Fischerei der Ostseebad-Tourismus als Wirtschaftszweig von zunehmender Bedeutung. 8 Auch im Hinblick auf die verkehrsmäßigen Verbindungen lag diese Region im preußischen Maßstab zurück. Immerhin aber besaß Pommern 1825 die größte Segelschiffflotte Preußens, und 1826 nahm auch das erste Oderdampfschiff regelmäßige Fährverbindungen von Stettin nach Swinemünde auf. 9 1822 setzte auch der Chausseebau ein, und 1843 wurde schließlich die erste pommersche Eisenbahnlinie von Stettin nach Berlin eröffnet. 10 Im Gegensatz zu den ursprünglich weitergehenden Vorstellungen der preußischen Reformer erhielt Pommern aber keinen allgemeinen Landtag, sondern 1823 lediglich zwei Provinziallandtage für den altpreußischen und den neuvorpommerschen Teil. Bezeichnend für die dortige politische Grundstimmung ist, dass diese Provinz in der Revolution 1848 neben Brandenburg zu den ruhigsten Landesteilen Preußens gehörte. Pommern war in diesen Jahrzehnten nicht allein die am stärksten agrarische, sondern auch die am stärksten protestantische Provinz Preußens. 98 25
Prozent der Bevölkerung waren Protestanten, während Katholiken und Juden gleichermaßen exotische Minderheiten bildeten, mit einem Anteil von etwa 0,9 bzw. 0,8 Prozent." Zwei Probleme beherrschten zu dieser Zeit das kirchliche Leben in Pommern: Einmal waren es die Folgen der von Friedrich Wilhelm III. 1817 proklamierten Union zwischen Lutheranern und Reformierten. In Pommern dauerte es etwa ein Jahrzehnt, bis das 1822 erschienene neue Kirchenbuch für Preußen, welches die gottesdienstliche Ordnung in den protestantischen Gemeinden vereinheitlichen sollte, überall eingeführt war. Zum anderen bildete Pommern einen Schwerpunkt der gegen Rationalismus und Aufklärung gerichteten Erweckungsbewegung, die an ältere pietistische Traditionen anknüpfte. Diese breitete sich vor allem in Hinterpommern aus und stieß dort zeitweilig nicht allein beim pommerschen Landadel, sondern auch bei Bauern und Geistlichen auf große Resonanz. Neben den in den 1820er Jahren von den Brüdern Below in Seehof veranstalteten Versammlungen und dem Gut Reinfeld der Puttkamers ragte insbesondere der Erweckungskreis um Adolf von Thadden heraus, dessen seit 1829 regelmäßig veranstalteten Trieglaffer Konferenzen zu einem Treffpunkt offenbarungsgläubiger Pastoren aus ganz Norddeutschland wurden. 12 Das an der Rega gelegene Schivelbein, in dem Rudolf Virchow am 13. Oktober 1821 geboren wurde und seine ersten 14 Lebensjahre verbrachte, war nach den napoleonischen Kriegen wieder nach Hinterpommern eingegliedert worden. Das Ackerbürger-Städtchen lag an der Peripherie der hinterpommerschen Erweckungsbewegung, während es ansonsten in vielem typisch für das in Pommern in diesen Jahren gegebene Nebeneinander von starkem Bevölkerungswachstum, politisch wie ökonomisch traditionalen, überwiegend agrarisch geprägten Verhältnissen und allmählich zunehmender kommunikativer Verflechtung war. Die Zahl der meist von der Landwirtschaft lebenden Einwohner stieg - ohne die Soldaten der örtlichen Garnison - von 1.607 im Jahre 1801 auf 4.250 im Jahre 1852. Nach der seit 1800 erfolgten Entfestung dehnte sich Schivelbein räumlich aus. Die Jahrhundertmitte markierte eine deutliche Zäsur: 1848 wurde die erste Chaussee gebaut, 1856 eine Kreiszeitung begründet, und 1859 erhielt das Städtchen einen Eisenbahnanschluss an die Strecke Stargard-Köslin, worauf auch ein bescheidener industrieller Aufschwung einsetzte. Seit der Reformation war Schivelbein protestantisch, doch gründete die dortige kleine jüdische Gemeinde im Geburtsjahr Virchows eine Synagoge, erst 1857 folgte auch eine katholische Kirche. 13 Eine eher sagenhafte Erinnerung an den Katholizismus wurde hingegen durch ein vor der Stadt gelegenes ehemaliges Karthäuserkloster wach gehalten, dem Virchow 1843 eine ausführliche regionalgeschichtliche Studie widmete. 14 Zugleich thematisierte er in diesem Artikel auch eine andere wichtige kulturelle und politische Dimension, die für Pommern insgesamt wie für
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Schivelbein speziell von besonderer Bedeutung war: das Verhältnis zwischen slawischer und deutscher Bevölkerung. Virchow selbst erörterte dies später an der etymologischen Frage des deutschen oder slawischen Ursprungs des Namens „Schivelbein" und kam zu dem Schluss, dass sich diese nicht entscheiden lasse. Doch habe es sich ursprünglich um slawisches Siedlungsgebiet gehandelt, und erst als „die pommerschen Herzöge in selbstsüchtigem Streben der Germanisierung ihres Landes deutsche Ackerbauern gegen die südöstliche Grenze vorschoben", sei der Streit erwacht, als die „polnischen Staatsmänner die langsam, aber sicher erobernde Politik ihres Gegners" erkannt hätten. 15 Zugleich führte Virchow seinen eigenen Namen auf slawische Wurzeln zurück. 16 Dies betrifft einen wesentlichen Aspekt seiner sozial konstituierten Individualität, für die der Eigenname „als sichtbare Bestätigung der Identität seines Trägers durch die Zeit und die sozialen Räume"' 7 eine zentrale Rolle spielt. Der Widerspruch zwischen den durch seinen Namen bezeugten slawischen Wurzeln und seinem Selbstverständnis als Deutscher das sich freilich mit einer stark ausgeprägten regionalen Identität als Pommer verband - führte bei ihm, wie spätere Äußerungen zeigen, zu einem bleibenden Interesse am Problem des Verhältnisses von nationaler und kultureller Identität. Die Familie Virchow war seit dem 18. Jahrhundert in Schivelbein ansäs18 sig. Rudolf Virchows Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits waren Fleischermeister gewesen. Sein Vater, Carl Christian Siegfried Virchow, war 1785 in Schivelbein geboren worden und hatte nach einer Ausbildung zum Kaufmann zunächst einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. 1810 wurde er aus dem Militärdienst entlassen, um das Wohnhaus seines Vaters und 1 Vi Hufen 19 Land in Schivelbein zu übernehmen. 1811 wurde ihm der Bürgerbrief der Stadt Schivelbein ausgestellt, und im selben Jahr trat er dort auch das Amt des Stadtkämmerers an, das er vermutlich bis 1828 ausübte. Vor allem verbrachte er seine Zeit aber mit der Bewirtschaftung seines Landes. Getreide und Kartoffelanbau sowie Tierzucht betrieb er mit großer Begeisterung und Experimentierfreude, aber ohne rechten ökonomischen Erfolg. Dies kontrastierte auffällig mit dem allgemeinen Aufschwung der Agrarwirtschaft in Pommern im Gefolge der Stein-Hardenbergschen Reformen, der mit einem Strukturwandel von der adeligen Gutsherrschaft zur kapitalistischen Landwirtschaft einherging. 20 Die Bemühungen Carl Virchows lassen einen Einfluss der von Albrecht Thaer in Preußen verbreiteten „Grundsätze der rationalen Landwirtschaft" vermuten, die eine auf Systematisierung, Experiment und „wissenschaftlichen Gesetzen" beruhende Landwirtschaft popularisierten. 21 Ungewöhnlich für einen pommerschen Landwirt war jedenfalls, dass er eine Leihbibliothek hielt und ein Bücherzimmer besaß. Er hegte weitgespannte geistige Interessen, besonders für die Botanik und Pflanzenzucht, wobei seine politischen Ansichten konservativ-royalistischen Positio27
nen zuneigten. Das Bild der Mutter Virchows, der 1785 in Belgart in Pommern geborenen Johanna Maria Hesse, bleibt dagegen in allen überlieferten Schilderungen sehr blass. Virchows Eltern gingen die Ehe 1818 im Alter von 33 Jahren ein, der drei Jahre später geborene Rudolf blieb das einzige Kind. Gegenüber ihrem Mann war sie die „geistig und körperlich schwächere"22 und zudem sehr religiös, während sich ihr Mann von der Kirche fernhielt.23 Uber die Lebenshaltung dieses ackerbürgerlichen Haushalts lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen. Das Foto des Geburtshauses zeigt ein schlichtes gemauertes zweistöckiges Haus, zur Haushaltsführung gehörte auch ein Kindermädchen. Die spätere Schilderung seiner Kindheit durch Virchow stellt diese in eine Atmosphäre der bürgerlichen Intimität, das landwirtschaftliche Element machte sich dabei weniger durch Kinderarbeit als durch belehrende Ausflüge in den Garten geltend. Diese biedermeierlich gefärbte Familiensituation schlug sich in der vertraulichen Anrede der Eltern mit dem „Du" ebenso nieder wie in der sentimentalisch gefärbten, nahezu abgöttischen Zuneigung der Mutter und der mit pädagogischen Ermahnungen gespickten und zugleich gefühlsbetonten und individualisierenden Umgangsweise des Vaters mit dem einzigen Kind. So schrieb er dem „lieben Söhnchen", der im Alter von sieben Jahren für einige Tage mit einem Onkel nach Kolberg verreist war: „Sieh, nun haben wir uns schon seit drei Tagen weder gesehen noch miteinander plaudern können. Wie kommt Dir das vor? Verlangt Dich nicht schon nach Deinem Vater? Und denkst Du auch öfter an mich? Ich vermisse Dich oft, und wie ich heute nach dem Garten gehen wollte, da wollte ich Dich nach meiner Gewohnheit suchen, um Dich mitzunehmen, und dachte nicht sogleich daran, dass Du mehrere Meilen von mir entfernt warst."24
Der Vater besaß entscheidenden Einfluss auf die Bildung Rudolf Virchows. Er verwandte große Sorgfalt auf die Erziehung seines Sohnes und hielt ihn insbesondere zu genauer Beobachtung seiner Umgebung an, oft verknüpft mit moralischen Belehrungen. Sein liebster Aufenthaltsplatz, so Virchow später, sei das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen, wo er mit großer Aufmerksamkeit dessen Bücher durchgeblättert habe, besonders botanische und zoologische, und bei dieser Gelegenheit auch Lesen und Schreiben gelernt habe.25 Neben dem habitualisierenden Effekt des frühen Umgangs mit Büchern brachte dies auch wichtige Lektüreimpulse mit sich. Sein Vater war unter anderem Abonnent der von der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alterthumskunde in Stettin herausgegebenen Baltischen Studien, die sein Interesse für Geschichte und Urgeschichte weckten. Auch besaß sein Vater „die alten Haken'schen Provinzial-Blätter und manche Originalwerke von pommerschen Gelehrten der letzten Jahrhunderte."26 Zugleich kümmerte sich Carl Virchow um eine profunde Schulbildung seines Sohnes. Die ersten Schuljahre Rudolf Virchows an der Schivelbeiner 28
Stadtschule, die er seit seinem siebten Lebensjahr besuchte, bestätigen in vielerlei Hinsicht das verbreitete ambivalente Bild der preußischen Volksschule in den Jahren der Restauration und des Vormärz als Ferment der gesellschaftlichen Modernisierung einerseits und Instrument rigoroser Sozialdisziplinierung im Dienste von Thron und Altar andererseits.27 Eine besondere Rolle spielten dabei Schönschreibübungen, die großen Raum im Volksschulunterricht einnahmen. Sie boten die Möglichkeit, mit Hilfe einheitlicher Fibeln standardisierte Inhalte zu vermitteln.28 Zugleich bedeutete das vielfache mechanische Abschreiben von Texten - abwechselnd »sinnlose' Wortkombinationen und .sinnhaltige' Sprüche und Geschichten - eine Form geistigen Drills. Die kalligraphischen Übungen des sieben- bis zehnjährigen Virchow verbanden die Vermittlung der Verehrung des Herrscherhauses, von Vaterlandsliebe und militärischen Grundkenntnissen mit der Einübung praktischer Fertigkeiten wie dem Ausstellen von Rechnungen. Solche vielfach zu wiederholenden Schreibübungen lauteten etwa: „Jüngling! der du freiwillig den Stand des Kriegers wählst, bereite dich frühzeitig dazu vor, stähle deinen K ö r p e r gegen Anfälle jeder A r t , fülle dein H e r z mit männlicher Tugend, und bereichere deinen Geist mit Kenntnissen, die dir nützlich sind; v o r allen Dingen aber sey mit ganzer Seele, was du sein willst; dann kannst du einst im Angesicht der W e l t sagen: ich habe dem Staate und dem Vaterlande gedient." 29
Den militärischen Charakter dieser Schreibübungen teilten auch kurze Texte über die Landschaften und Festungen der preußischen Monarchie sowie zu den Bestandteilen eines Gewehrs, Infanterietaktik und Artilleriemunition. 30 Ergänzt wurde diese weltanschauliche Einübung insbesondere im Rahmen des umfangreichen Religionsunterrichts. Zusätzlich erhielt Rudolf Virchow beim Direktor dieser Schule Privatunterricht in Latein und Französisch.31 Carl Virchow tätigte hohe Investitionen in die schulische Bildung seines einzigen Kindes. Da er mit dem Niveau der Schivelbeiner Stadtschule unzufrieden war, bewegte er den örtlichen Prediger Benekendorff dazu, eine Privatschule einzurichten, auf die er seinen mittlerweile achtjährigen Sohn schickte. Als sich diese Schule auflöste, kehrte Rudolf Virchow für einige Zeit wieder auf die Stadtschule zurück. Virchows Vater veranlasste nunmehr den Prediger Gantzkow zur Gründung einer Privatschule, die Rudolf von 1832 an besuchte. Als sich diese nach einem halben Jahr wiederum auflöste, erteilte Gantzkow zwei weitere Jahre lang Privatunterricht. Dort lag der Schwerpunkt des Unterrichts neben Religion auf Latein und Französisch. Virchow hob später die Lektüre des Cäsar und Ovid, der Odyssee und des französischen Robinson hervor.32 Diese Angaben, die er in seiner Meldung zur Reifeprüfung machte, lassen sich als ein Programm interpretieren: Auffällig ist dabei insbesondere, dass zwei der vier genannten Titel einen Schiffbruch und die anschließende individuelle Bewährung des Helden thematisie29
ren und damit eine zentrale Daseinsmetapher der bürgerlichen Welt aufgreifen.33 Vor allem der Robinson steht dabei für das Modell der Selbstbehauptung durch Arbeit.34 Bedeutsam war sein bis zum dreizehnten Lebensjahr genossener privater Sprachunterricht in Latein und Griechisch - zuletzt beim zweiten Prediger von Schivelbein - aber auch in methodischer Hinsicht: In Abweichung von üblichen Gepflogenheiten lernte Virchow die alten Sprachen, ohne grammatische Regeln auswendig zu lernen. Dies förderte bei ihm nach eigener Aussage gleichermaßen Vergnügen und Lernerfolg - trug ihm allerdings in seiner späteren Gymnasialzeit den hartnäckigen Verdacht seines Griechisch-Lehrers ein, mit Mitteln der Täuschung zu arbeiten. (Nach bestandener Abiturprüfung lernte er auf selbem Wege auch noch Italienisch).'5 1835, im Alter von 13 Jahren, trat Virchow schließlich in die Tertia des „Königlichen und Stadtgymnasiums" in dem etwa 50 Kilometer von Schivelbein entfernten Köslin ein, wo er zunächst den letzten Platz belegte. Diese Zäsur schilderte er später im Genre der Wanderjahre: „Und der Wunsch des Vaters kam endlich dem meinigen entgegen, - ich sollte das Vaterhaus (...) verlassen, um auf einer höheren Lehranstalt meine Kenntnisse zu erweitern, und mich so auszubilden, dass ich (...) würdig meine Pflichten als Mensch und als Staatsbürger erfüllen könnte."36 So war der junge Virchow dem Erfahrungsraum des aufgeklärten Absolutismus verhaftet, aus dem heraus jene Trennung des „Menschen" und des „Staatsbürgers" hervorgegangen war, die später zugleich den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft aus der Sphäre des „Privaten" vorbereitete. 7 Seitdem Köslin 1816 Sitz der Provinzialregierung geworden war, hatte ein schnelles Wachstum der Einwohnerzahl eingesetzt, die von 4.500 im Jahr 1817 bis 1843 schon auf 8.100 angestiegen war, wobei die Soldaten der örtlichen Garnison nicht mitgezählt sind.38 Zugleich setzten auch zunächst bescheidene Anfänge der Industrialisierung ein, die nach 1859, als Köslin einen Eisenbahnanschluss erhielt, mehr Schwung erlangten. Bereits seit 1825 erschien dort mit dem Allgemeinen pommerschen Volksblatt auch eine erste Zeitung. Im Zuge des allgemeinen Aufschwungs wurde 1821 die Kösliner Lateinschule zu einem vollständigen Gymnasium ausgebaut. Zunächst mit 74 Schülern in einem ursprünglich für ein Regimentskommando vorgesehenen Gebäude eröffnet, vergrößerte sie sich bald durch den Zuzug von auswärtigen Schülern, und zu Neujahr 1836 betrug ihre Zahl 184. Aus der Sicht des 13-jährigen Virchow bedeutete der Wechsel nach Köslin zunächst vor allem eine aufregende Erweiterung seines Gesichtskreises, und das überdeckte anfänglich auch das Heimweh nach Schivelbein, das er nur noch zu kurzen Besuchen wiedersah. Drei Jahre später schilderte der Primaner in einem Schulaufsatz die an ihm in dieser Zeit vorgegangenen Veränderungen:
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„Aber meine Ansicht v o n der W e l t und den Menschen hat sich wesentlich verändert: ernster und bedeutungsvoller erscheint mir jetzt das Leben, gleichsam eine Vorschule zu einem andern ewigen; größer und vielfacher meine Pflichten gegen meine Nächsten; aber die Menschen selbst betrachte ich nicht mehr so zutrauungsvoll, so treuherzig, wenngleich auch gerade nicht misstrauisch. Zu viele Beispiele v o n ihrer Schlechtheit sind mir vorgekommen; zu oft bin ich selbst v o n ihnen getäuscht worden, als dass ich so, wie ehemals, über sie urtheilen und denken könnte." 4 0
Dieser Aufsatz des 16-jährigen Virchow, dem eine Auslegung der Verse „In meiner lieben Eltern Haus' - War ich ein frohes Kind" des schwäbischen Romantikers Ludwig Uhland zugrunde lag, wurde mit „mangelhaft" bewertet, nicht zuletzt, weil der Korrektor einige stark bekenntnishafte, autobiographische Passagen wegen ihrer Subjektivität rügte und als Themaverfehlung ansah. Damit stellt sich die Frage nach Konzeptionen der Bildung und Persönlichkeit im Zeitalter der Restauration und ihrer besonderen Ausprägung am Königlichen und Stadtgymnasium Köslin. Die 1830er Jahre wurden im Hinblick auf das preußische Gymnasium, das seit dem vorangegangenen Jahrzehnt einen starken Ausbau erfahren hatte, als eine Zeit des Wandels „vom reformerischen Denken zum reaktionären Handeln" 41 charakterisiert. Das Kösliner Gymnasium war durch das neuhumanistische Ideal einer am Griechentum geschulten allgemeinen Menschenbildung geprägt, freilich mit allen inneren Widersprüchen, die sich aus der Bindung an den preußischen Staat, an den die Durchsetzung dieses Erziehungsideals gebunden war, ergaben. 42 Die Auseinandersetzungen mit revolutionären Burschenschaften hatten auch hier zu staatlichen Anweisungen geführt, sich allen derartigen Umtrieben entgegenzustellen. 4 Aber auch sonst wurde der neuhumanistische Impuls seit den Karlsbader Beschlüssen in vielfacher Weise verbogen. In diesen Zusammenhang gehörte, dass das preußische Kultusministerium 1837, mitten in Virchows Gymnasialzeit, einen neuen Lehrplan verfügte, der insgesamt auf eine Vereinheitlichung des G y m nasialunterrichts abzielte und zudem bezeichnende Akzentverlagerungen £
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aurwies. Offiziell wurde dies als Reaktion auf die bereits damals aufkommende Uberbürdungsdiskussion begründet, die auch am Kösliner Gymnasium zu einer offiziellen Untersuchung der Verhältnisse geführt hatte. So wurde dort die Zahl der Wochenstunden, die bislang von der Sexta bis zur Prima von 30 auf 36 angestiegen war, auf durchschnittlich 32 festgelegt, was zumindest für die höheren Klassen eine Senkung der Stundenzahl bedeutete. Am auffälligsten war, dass die schon zuvor dominierende Stellung des Lateins, des unbestrittenen Hauptfachs, weiter ausgebaut wurde: Von acht bis neun Stunden in den oberen Klassen wurde die Stundenzahl auf bis zu zehn erhöht, womit der Latein-Unterricht allein etwa ein Drittel aller Unterrichtsstunden einnahm. Der Anteil des Griechisch-Unterrichts, als Einfallstor für die 31
Infiltration mit republikanischem Gedankengut verdächtigt, ging demgegenüber leicht zurück und betrug nunmehr durchschnittlich sechs Wochenstunden. Doch sanken auch die Anteile des Deutsch-Unterrichts (zwei bis drei Wochenstunden) sowie der Mathematik (vier Wochenstunden) geringfügig. Die Naturwissenschaften, die Virchow neben der Geschichte und der Geographie zu seinen Lieblingsstudien zählte,45 spielten mit ein bis zwei Wochenstunden sowohl im alten wie im neuen Curriculum ohnehin nur eine marginale Rolle. Auch Turnen kam im Unterricht des Kösliner Gymnasiums in den 1830er Jahren nicht vor.46 Die Schulstunden lagen in Köslin wie üblich montags bis samstags von acht bis zwölf Uhr vormittags sowie von zwei bis vier bzw. fünf Uhr am Nachmittag. 47 Nimmt man noch die vorgesehenen fünf Stunden häuslicher Arbeit hinzu, besaßen die Schüler kaum noch zeitliche Freiräume.48 Trotzdem sprach Virchow in seiner Meldung zum Abitur von allerlei privaten Zerstreuungen, die seinen Lerneifer gelegentlich behindert hätten. Dies führte dazu, dass er zu Weihnachten 1836 aufgrund schlechten Betragens vorübergehend vom zweiten Platz der Ober-Sekunda auf den letzten Platz herabgestuft wurde 49 - die Sitzordnung in den Klassen wurde üblicherweise nach der Rangfolge der Leistung vergeben. Seine schulischen Erfahrungen trugen vermutlich erheblich dazu bei, dass Virchow später nicht nur die drastische Reduzierung der Schulstunden an Gymnasien, 5 sondern auch ein radikal anderes Fächerprofil forderte: Naturwissenschaften und Turnen sollten dabei im Gegensatz zu seiner eigenen Schulzeit im Mittelpunkt stehen. Die Schulberichte des Kösliner Gymnasiums, vor allem aber die Schulhefte Virchows vermitteln ein detailliertes Bild der Lehrinhalte sowie der vermittelten Lebensführungsnormen und sozialkulturellen Wertorientierungen.51 In der damaligen Gymnasialpädagogik mischten sich „christliche Tugendvorschriften, wissenschaftliches Ethos und die Arbeitsmoral der modernen, industriellen Welt."52 Aussagekräftig sind vor allem die Deutschaufsätze. Das Fach Deutsch spielte nach der im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgten Aufwertung eine zentrale Rolle im Gymnasialunterricht, die nicht so sehr auf der dort geleisteten sprachlichen und literarischen Schulung beruhte, als vielmehr auf der angestrebten National- und Charakterbildung. Dabei nahm besonders der als Maßstab der „Gesamtbildung" dienende deutsche Aufsatz eine Schlüsselstellung ein,53 wo gleichermaßen literarische wie moralische und politische Themen an antiken wie an zeitgenössischen Beispielen erörtert wurden. Ausdrücklich ausgeschlossen blieb dagegen die Behandlung gegenwartsnaher Stoffe im Unterricht, wie der seit 1821 amtierende Kösliner Schuldirektor und Lehrer Virchows, Dr. Otto Moriz Müller, in wenngleich verklausulierter Form auch in einem offiziellen Schulprogramm kritisierte. 32
Unter den behandelten Themen dominierte die Interpretation literarischer Texte und „Dichtersprüche", wobei Friedrich Schiller an erster Stelle stand. In der seit den 1830er Jahren auftretenden Konkurrenz zwischen einem mehr klassischen und einem eher romantischen Literaturkanon 55 lässt sich das Kösliner Gymnasium ersterem zuordnen. Schillersche Gedankenlyrik - nicht etwa seine republikanisch gefärbten frühen Stücke - führte dabei auch weit vor Goethe, der erst später zum ersten „Klassiker" aufstieg. Daneben fanden sich vielfach moralische oder philosophische Erörterungen56 sowie übungshalber geschriebene Reden wie etwa eine „Aufforderung zur thätigen Vaterlandsliebe". Dass im Deutschunterricht der Prima 1837 das Nibelungenlied durchgenommen wurde, zeigt die allmähliche Aufwertung der deutschen Frühgeschichte gegenüber der bis dahin allein als vorbildlich geltenden römisch-griechischen Antike, und dies ist zugleich ein Indiz für die allmähliche Ausbreitung des Historismus. Wie sehr Virchows Schulbildung jedoch noch unter der Prägung einer älteren Geschichtsauffassung stand, erweist sich an einem Aufsatz über die Vorteile der Beschäftigung mit der Geschichte, in der noch ganz die traditionelle Auffassung der historia magistra vitae herrschte.57 Wichtige Hinweise auf das Virchow vermittelte Geschichtsbild liefert ein „Geschiehtskalender auf jeden Tag des Jahres"58, in dem jedem Kalendertag ein oder mehrere historische Daten zugeordnet wurden. Das Schwergewicht lag dabei auf dynastischen Ereignissen - Geburts- und Todestage bzw. Herrschaftsantritte von Regenten - sowie staatsgeschichtlichen Ereignissen und Schlachten, wobei die Spanne von Nero bis Napoleon, d. h. vom Altertum bis zur Zeitgeschichte reichte und ganz Europa umfasste. In diesem Geschichtsbild begann die europäische Geschichte mit der griechischen und römischen Antike und schritt dann über die Kreuzzüge und die Reformation hin zur französischen Revolution und den Befreiungskriegen fort. Letzterem Ereignis galt dabei das überragende Interesse. Nur wenige der aufgeführten Personen bilden eine Ausnahme von der Regel, wonach vor allem Könige und Feldherren genannt wurden, unter ihnen vor allem solche brandenburgisch-preußischer Provenienz.59 Vor allem wird hier aber auch eine spezifische Auffassung des Verhältnisses von Persönlichkeit und Geschichte deutlich, die sich auf die Formel „Männer machen Geschichte" bringen lässt. Zu diesen bedeutenden Männern gehörte neben den brandenburgischpreußischen Königen vor allem Luther. Der reformatorische, antipäpstliche und antikatholische Affekt bildete ein zentrales Element der hier vermittelten Erziehungsinhalte, und so wurde in Virchows Schulzeit die Grundlage für ein protestantisches Geschichtsbild gelegt, das sich bei ihm als erstaunlich stabil erwies. Das Programm dieser protestantischen Erziehung formulierte Virchows Geschichtslehrer August Leopold Bucher in einer Festrede zum Geburtstag des preußischen Königs am 3. August 1836. Vor den Schü33
lern und Lehrern des Kösliner Gymnasiums, unter denen auch der damals 14-jährige Virchow war, sprach er in der Schulaula, in der die Gemälde des preußischen Königs, Luthers und Melanchtons als Bildprogramm aufgehängt waren, zum Thema „Friedrich Wilhelm der Dritte, als Beschützer der evangelisch-protestantischen Glaubensfreiheit". Bucher zufolge bezog sich die protestantische Freiheit allein auf Denken und Glauben, nicht aber auf das Handeln, wobei er zugleich auf die schroffe Zurückweisung revolutionärer Bestrebungen durch Luther verwies. Dagegen befördere der Katholizismus die Auflehnung gegen die von Gott gegebene Obrigkeit. Mit scharfen Worten geißelte Bucher deshalb das Papsttum, das er mit der Pest verglich, und forderte die Anwesenden zu stetiger Wachsamkeit auf.60 Virchows Schulbildung erfolgte somit in einem Klima der Auseinandersetzung zwischen preußischem Staat und Katholizismus, das sich vor allem am Mischehenstreit aufheizte und das nach der in diesem Zusammenhang erfolgten Amtsenthebung des Kölner Erzbischofs durch die preußischen Behörden im November 1837 in den ersten preußischen Kulturkampf 61 mündete. Die Früchte der am Kösliner Gymnasium betriebenen antikatholischen Indoktrination - die vermutlich Rückschlüsse auf ähnliche Praktiken an anderen preußischen Schulen zulässt - zeigt die Skizze eines Deutschaufsatzes zum Thema der „Stellung, welche Christus seiner Kirche im Staat ertheilt", die der Primaner Virchow im November 1838 verfasste. Dort gab er das kleine Einmaleins der preußisch-protestantischen Staatskirchenauffassung getreulich wieder: Christus selbst habe das Verhältnis definiert, als er geschrieben habe: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist". Demgegenüber könne Christus unmöglich „eine despotische Hierarchie" gewollt haben, wie er mit Bezug auf das Papsttum schrieb. Auch Zölibat, Mönchstum, Jesuitentum, Wallfahrten, Prozessionen usw. könne dieser unmöglich gewollt haben. Und so schloss Virchow seinen Angriff auf die katholische Kirche mit einem weiteren Bezug auf Christus: „Hätten seine Bischöfe und Priester stets diesen Zweck im Auge gehabt, so wären kein Reformator, keine Religions- und Bürgerkriege nöthig gewesen; so würde nicht noch jetzt die dreiköpfige Natter zischend ihre Giftzähne zeigen, und die Welt mit ihrem unheilbringenden Gift entzweien. Doch wir wollen deshalb unseren Muth nicht sinken lassen, sondern uns vielmehr der freudigen Hoffnung hingeben, dass es unserer Zeit vorbehalten sein möge, endlich der Kirche eine für die gesammte Menschheit Heil und Segen bringende Stellung anzuweisen!" 62
All dies scheint außerordentlich wichtig im Hinblick auf die Beurteilung des preußischen Kulturkampfs der 1870er Jahre, bei dem Virchow eine zentrale Rolle spielte. Bereits im Rahmen der preußischen Gymnasialbildung der 1830er Jahre wurden wesentliche Grundlagen für diejenigen antikatholischen Dispositionen gelegt, die der späteren Auseinandersetzung ihre Richtung und Schärfe verliehen. Auch sein Konfirmationsunterricht, den er von Sep34
tember 1836 an erhielt, fiel in diese Zeit. Am Palmsonntag 1837 sprach er als erster der Konfirmanden in der Kösliner Marienkirche das protestantische Glaubensbekenntnis" - dies bleibt der einzige konkrete Hinweis auf seine Teilnahme an religiösen Praktiken, die aus seinem gesamten Lebenslauf überliefert ist. Neben solcher staatsbürgerlicher und religiöser Erziehung gehörte zu den neuhumanistisch geprägten Bildungszielen die allseitige und harmonische Entfaltung aller von Natur aus im Menschen angelegten individuellen Anlagen. Doch tritt hier ein zentraler Widerspruch der Realität des neuhumanistischen Bildungsideals zutage: Dabei handelt es sich um die mit dem Modell der humanistischen Bildung verbundene Ambivalenz zwischen Individualisierung und Normierung,64 die eng mit der „spezifisch ,bürgerliche(n)' Balance einer Freisetzung von Emotionen und ihrer inneren und äußeren Kontrolle" verbunden ist.65 Besonders deutlich wird dies an den Deutschaufsätzen Virchows, wo eine konventionelle Form des Ausdrucks von individuellem Erleben trainiert wurde. Der Umschlag von Individualität in Subjektivität wurde negativ sanktioniert, wie die Lehrerkorrekturen zeigen. Hier wirkte die in den 1830er Jahren noch stark fortwirkende rhetorische Tradition des 18. Jahrhunderts nach, die erst allmählich aus der Mode kam. Für die fragliche Periode galt, dass sie „ihr sprachliches Kommunikationssystem noch zu wesentlichen Teilen in rhetorischen Texten und mit Hilfe der Schule" regulierte und normierte.66 So kehrten in einem von Virchow zum Thema „Der Morgen eines Sonntags im Mai"67 verfassten Schulaufsatz zahlreiche literarische Versatzstücke wieder, die zuvor im Deutschunterricht eingeübt worden waren. Gerade dort, wo die Subjektivität scheinbar am größten war, nämlich im einsamen Naturerleben,68 spielten literarisch vorgestanzte Ausdrucksformen eine hervorragende Rolle. So wurde etwa das Zimmer, das der Jüngling Virchow in seinem Aufsatz vor seiner Wanderung verlassen musste, - frei nach Schillers „Spaziergang" - formelhaft zum „Kerker". Auf diese Weise erfolgte die Einübung in einen Modus der unpersönlichen Subjektivität, wie ihn das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts ausbildete, indem es zur Beschreibung der bewegendsten Momente des Lebens idealerweise ein geeignetes Klassikerzitat parat hielt.69 Im genannten Falle zitierte Virchow auf dem stimmungsmäßigen Höhepunkt seines Aufsatzes das Gedicht „Morgengedanken" des Botanikers, Physiologen, Arztes und Dichters Albrecht von Haller, dessen Werk Die Alpen erheblich zur Gebirgsbegeisterung des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert beitrug. An Aufsatzthemen wie „Empfindungen eines Jünglings beim Anblick eines grünen Saatfelds im December" lässt sich zudem zeigen, dass den Schülern stereotype Selbstinterpretationen und Stilisierungen ihrer jeweiligen Lebenssituation vorgegeben wurden, die wiederum als Teil eines idealen Bildungsgangs begriffen wurden.70 Überdies wird an den in den 35
Aufsätzen verschiedentlich zur Aufgabe gestellten Naturbeschreibungen deutlich, dass hier keine pantheistische Einfühlung in eine Natur-Gottheit zugrunde lag. Vielmehr scheint eine Vorstellung des Menschen als Teil einer von einem allmächtigen Schöpfer-Gott in der Art eines Uhrmachers regelmäßig und sinnvoll eingerichteten, automatenhaften Welt auf. Das am Kösliner Gymnasium in den 1830er Jahren vermittelte Persönlichkeitskonzept blieb damit auffällig unberührt von modernen Entfremdungserfahrungen, wie sie in der Romantik ihren literarischen Ausdruck gefunden hatten, sondern wies weit zurück in das 18. Jahrhundert. Zu Ostern 1839 wurde, wie der Jahresbericht des Kösliner Gymnasiums verzeichnete, Rudolf Virchow im Alter von 17 Vi Jahren mit dem Reifezeugnis zur Universität entlassen. Von seinen sechs Klassenkameraden, die mit ihm zusammen das Abitur erlangten, hatten sich einer für Jura und Kameralistik, zwei für die Theologie, zwei für die Medizin und einer für das Studium der Forstwissenschaften entschieden. 1 Neben der „Überbürdung" der Schüler hatte auch die Angst vor der „Uberfüllung" des Universitätsstudiums bereits in den 1830er Jahren Wellen geschlagen. So hatte das preußische Kultusministerium 1836 in einem Rundschreiben an die Gymnasien vor dieser drohenden Gefahr gewarnt und diese Schulen angewiesen, die Schüler nachdrücklich vor den Risiken eines Universitätsstudiums zu warnen. Solche Warnungen mögen dazu beigetragen haben, dass die Schüler die Gründe ihrer Studienwahl bereits zwei Jahre vor dem Abitur in einem Deutschaufsatz hatten erläutern müssen. Im April 1837 begründete der Primaner Virchow seine Entscheidung für ein Medizinstudium nicht mit pragmatischen oder finanziellen Gründen, sondern führte eine wissenschaftliche Berufung an. Daran wie an anderen Schulaufsätzen Virchows zeigt sich die Ausbreitung des antiutilitaristischen Konzeptes der Humboldtschen Universitätsreform mit ihrer Ablehnung des „Brotstudiums" über den Gymnasialunterricht. Geht man davon aus, dass diese Schulaufsätze in hohem Maße die anerkannten Definitionen widerspiegeln, so hatte sich „Berufung" als gültiges Rollenmodell für einen Wissenschaftler durchgesetzt. Diesem Diskurs gehorchte auch Virchows Begründung seiner Studienfachwahl: „Dem Wunsche meiner Eltern und der eigenen Neigung, die mich mit unwiderstehlicher Gewalt zu den Wissenschaften zog, folgend, hatte ich schon früh den Entschluss gefasst, mich den Studien zu widmen." Doch habe er bei der Entscheidung für ein bestimmtes Fach lange geschwankt: „Gar zu gern hätte ich die Theologie gewählt, um als Gottesdiener sein heilbringendes Evangelium zu verkünden und als ein guter Hirte über das Seelenheil der mir Anvertrauten zu wachen." Was ihn davon abgehalten habe, sei jedoch sein „schlechtes Organ" gewesen: „Wie konnte ich es hoffen, dass ich je von einer Gemeinde zu ihrem Seelsorger, zu ihrem Prediger erwählt werden würde, da meine schlechte Aussprache allen Eindruck, den meine Rede her36
vorgebracht hatte, vernichten müsste!" So entschied er sich stattdessen, wie es auch der Wunsch seines Vaters war, für das Studium der Medizin: „Stand sie doch am nächsten der erhabenen Theologie, und konnte sie mich also am ersten für den Verlust entschädigen, den ich erlitten, als ich jener entsagen musste." Trost zu spenden und die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu erforschen, jenes „wunderbaren, und doch von so vielen so wenig gekannte Meisterwerks der Schöpfung", habe ihn dazu bestimmt, „das Studium der Medicin zu erwählen, als dasjenige, dem ich mein ganzes Leben weihen will." 74 Das Motiv der Selbstweihe auf dem Altar der Wissenschaft stand im krassen Gegensatz zu den finanziellen und anderen Erwägungen, die bei der Wahl eines Studiums eine Rolle spielten. Das Fach Medizin ermöglichte, naturwissenschaftliche Interessen mit einer gesicherten Existenz zu verbinden.75 Virchows Vater war zudem nicht in der Lage, die regulären Kosten eines Studiums zu finanzieren, was sich daraus entnehmen lässt, dass selbst unter den Bedingungen eines kostenfreien Studiums in einer militärmedizinischen Bildungsanstalt, das Virchow später antrat, die finanziellen Belastungen nur schwer zu tragen waren. Einzig der Hinweis auf die Nötigung durch „Privatverhältnisse" zur Erklärung der als früh empfundenen Meldung zur Reifeprüfung 76 enthält einen indirekten Hinweis auf die Rolle finanzieller Zwänge. So steht zu vermuten, dass im Vorfeld der Entscheidung Virchows für ein Studienfach die familiären Beziehungen eingesetzt wurden, um einen der begehrten Studienplätze am militärärztlichen Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin zu erhalten. Die 1795 gegründete Pepiniere diente dem Zweck, unbemittelten begabten Schülern das Studium zu ermöglichen und gleichzeitig den Bedarf des preußischen Staates an Militärärzten zu befriedigen, mussten sich doch die Schüler dazu verpflichten, im Gegenzug für die ihnen auf Staatskosten gewährte vierjährige Ausbildung wenigstens acht Jahre als Militärarzt an einem ihnen zugewiesenen Ort zu verbringen. In den späten dreißiger Jahren herrschte großer Andrang auf diese Plätze, die bereits auf Jahre voraus vergeben waren. Soziale Kontakte spielten bei der Aufnahme eine wesentliche Rolle, während die Aufnahmeprüfung nur die Rolle eines Eignungstests spielte. 77 So dürfte der Major Johann Christoph Virchow, der Bruder seines Vaters, seinen Einfluss für die Aufnahme Rudolf Virchows an diesem Institut eingesetzt haben. Dieser besaß große Bedeutung für die Modernisierung der preußischen Armeeausstattung und hatte sich insbesondere um die Gestaltung und Befestigung des Tornisters, die Änderung der Beinkleider, Stiefel und Helme verdient gemacht. Die militärergonometrischen Meriten des Onkels verschafften diesem ausgezeichnete Verbindungen zu den Spitzen der preußischen Militärmedizin, die für Virchows weitere Karriere eine große Rolle spielen sollten. Solche sozusagen nepotistischen Aspekte wider37
sprachen jedoch dem modernen Leitbild der professionellen „Berufung", das zugleich mit dem neuen wissenschaftlichen Leistungsethos verbunden war, und wurden deshalb in der Begründung der Studienwahl nicht expliziert.
b) Die „rationelle Generation" ? Am 24. Oktober 1839 erreichte Rudolf Virchow nach zweitägiger Fahrt mit der Pferdekutsche Berlin, wo er zwei Tage später sein Medizinstudium am Königlichen Friedrich-Wilhelm-Institut aufnahm. Diese Stadt, an deren Peripherie ein Gürtel rauchender Schornsteine das beginnende Industriezeitalter signalisierte, befand sich damals bereits auf dem Weg zu einer europäischen Metropole. 79 Die Jahre von 1839 bis 1849, die Virchow dort verbrachte, stellten für ihn wie für Berlin gleichermaßen eine Zeit der Veränderung dar, auch wenn er sich selbst anders charakterisierte: „ich ändere mich schwer, und die Zeit und der Raum wandeln mich wenig um."80 Die preußische Residenzstadt stand in diesen Jahren im Zeichen eines starken Bevölkerungswachstums, das in erster Linie die Unterschichten betraf: Die zwischen 1800 und 1840 vor allem durch Zuwanderung von 172.000 auf 329.000 angestiegene Einwohnerzahl stieg bis 1848 weiter auf 411.000.81 Die Zahl der Studenten war hingegen seit den dreißiger Jahren von gut 1.700 auf etwa 1.400 in den vierziger Jahren gesunken, wovon etwa ein knappes Fünftel Medizinstudenten waren.82 Weitere Aspekte des Wandels Berlins in dieser Zeit betrafen die starke Expansion der Industrie, aber auch die Ausweitung der politischen Öffentlichkeit. Hier artikulierten sich, vor allem seit dem 1840 erfolgten Thronwechsel zu Friedrich Wilhelm IV., der anfänglich von großen Hoffnungen auf politische Liberalisierung begleitet wurde, zunehmend soziale und politische Spannungen, die sich schließlich in der Revolution 1848 entluden. In diese Zeit fallen Virchows Medizinstudium an der Pepiniere, Doktorprüfung, Staatsexamen und Habilitation sowie seine Tätigkeit als Prosektor am Leichenhaus der Charite, aber auch seine allmähliche Politisierung, die in der aktiven Beteiligung an der Revolution in Berlin und der medizinischen Reformbewegung gipfelte. Virchow gab sich allerdings zunächst wenig beeindruckt von dem Wechsel aus der pommerschen Provinz in die biedermeierliche preußische Residenzstadt: „Berlin selbst hat meine Erwartungen nicht übertroffen; da man fast alle merkwürdigen Plätze, Strassen, Gebäude etc. schon aus Abbildungen kennt, so ist man stets versucht zu glauben, man sähe nur schon einmal gesehenes vor sich."83 Zugleich blieb seine heimatliche Lebenswelt zunächst in seinem Horizont weiter präsent: Virchow blieb am Klima und seinen Auswirkungen auf die väterliche Landwirtschaft interessiert und damit auch einem agrarisch geprägten Erfahrungsraum verhaftet. Immer noch legte er 38
der Abhängigkeit von naturalen Zyklen große Bedeutung bei, wie an der Art und Weise deutlich wird, in der er im Februar 1842 von Berlin aus an den ökonomischen Sorgen seines Vaters Anteil nahm: „Jenes ist freilich sehr schlimm, da ich unsere Zukunft immer zweifelhafter werden sehe, die nun beinahe von einem guten Winter oder guten Sommer, ja vielleicht von einem rechtzeitigen Regen abzuhängen scheint" 84 . Und in der Tat ergab sich ein direkter Zusammenhang schon daraus, dass er in erheblichem Maße von den finanziellen Zuwendungen seines Vaters abhing. Erst in Virchows 27. Lebensjahr endete diese Abgängigkeit. Dafür unterstützte er nun die marode Landwirtschaft seines Vaters regelmäßig mit zum Teil hohen Beträgen. Bis zu dessen Tode bildete dies den ständigen Bezugspunkt eines ausgeprägten Vater-Sohn-Konflikts. Während sich der erzieherische Einfluss Carl Virchows weitgehend auf briefliche Ermahnungen reduzierte, wurden die beiden in Berlin lebenden Onkel zeitweilig um so wichtiger. Sie vermittelten Rudolf Virchow gleichermaßen soziales wie kulturelles Kapital. Major Johann Christoph Virchow war politisch zwar königstreu, stand im Vormärz aber auf Seiten des gemäßigt liberalen Berliner Magistrats. Zudem hing er, so Virchow, „wie jeder Gebildete", den „Lichtfreunden" an.85 Er führte den jungen Studenten, der ihn mindestens einmal in der Woche besuchte, nicht nur persönlich bei den Spitzen der preußischen Militärmedizin, 86 sondern auch in die gutbürgerliche Berliner Gesellschaft ein und kümmerte sich zugleich darum, dass er die notwendigen gesellschaftlichen Umgangsformen erwarb. 87 Ähnlich kümmerte sich auch sein Onkel mütterlicherseits, Ludwig Ferdinand Hesse, Architekt und seit 1832 preußischer Hofbaubeamter, um ihn. Zu dessen Arbeiten gehören neben der sogenannten neuen Charite die Tierarzneischule und das Elisabeth-Krankenhaus in Berlin sowie in Potsdam das Schloss auf dem Pfingstberg und die Orangeriegebäude. Auch er bemühte sich um Virchows gesellschaftlichen Schliff und verschaffte ihm den Zugang in verschiedene soziale Kreise, indem er ihm beispielsweise ein Billet für einen Maskenball beim preußischen König besorgte oder ihn in die Gesellschaft des Gummifabrikanten Feuerbart einführte. 88 Im übrigen war Virchows Studienzeit am Friedrich-Wilhelm-Institut in keiner Weise von Burschenherrlichkeit geprägt. Der preußische Staat trug die Kosten der Ausbildung, darüber hinaus erhielten die Eleven freie Wohnung und Heizung sowie eine monatliche Zuwendung von sechs Talern. Dies reichte allerdings für die Lebenshaltungskosten nicht aus, weshalb die Eltern zu weiteren monatlichen Zuschüssen verpflichtet wurden, 89 wozu noch die Belastung durch die hohen Gebühren für die Studienabschlüsse kam. So erforderte ein vierjähriges Studium an der Pepiniere, an das sich ein praktisches Jahr sowie die Vorbereitungszeit für das Staatsexamen anschloss, trotz der gewährten Unterstützung alles in allem einen Zuschuss von etwa 39
1.000 Talern. 90 Virchow litt während seines Studiums unter chronischer Geldknappheit, die ihn ständig dazu zwang, seinen Vater um Geld zu bitten. Wie die von ihm angefertigten peniblen Auflistungen seiner Ausgaben bezeugen, stießen seine finanziellen Mittel trotz der mit der Aufnahme an die Pepiniere verbundenen Erleichterungen und eines jährlichen Stipendiums der Bezirksregierung von Stettin in Höhe von 45 Talern jährlich vor allem dann immer wieder an Grenzen, wenn es darum ging, die angemessene Ausstattung für eine standesgemäße Lebensführung zu erwerben. 91 Während ihres Studiums wurden die Pepins auf dem Gelände des seit 1822 an der Friedrichstraße 139-141 gelegenen Instituts kasernenähnlich untergebracht (je vier teilten sich eine Stube und Kammer), trugen aber Zivilkleidung. Hieraus ergab sich ein nicht ganz geklärter Status der etwa 90 Pepins gegenüber den etwa 400 Medizinstudenten der Berliner Universität, 93 der sich in einer schwankenden Behandlung durch ihre Vorgesetzten ausdrückte, die sie bald wie Studenten, bald wie der militärischen Disziplin unterstehende Untergebene behandelten. 94 Neben einem streng reglementierten Tagesablauf, der vom Aufstehen (im Sommer um fünf, im Winter um sechs Uhr) und dem gemeinsam eingenommenen Mittagsmahl bis zur Bettruhe um 22 Uhr reichte, gehörte dazu vor allem auch der Zwang zur strengen Buchführung über sämtliche Ausgaben. Dies sollte die Eleven daran gewöhnen, mit der äußerst knapp bemessenen Bezahlung beim Militär zurecht zu kommen. Ebenso musste die „moralische Führung der Eleven eine tadelfreie sein, namentlich war ihnen jeder Verkehr mit Weibspersonen bei Strafe streng verboten" 95 . In der Praxis entzogen sich allerdings etliche Pepins der geforderten militärischen Disziplin, die als Strafmaximum Arrest in einer Militärarrestanstalt vorsah. Doch distanzierte sich Virchow ausdrücklich von der Kategorie der Bummelstudenten: „Leider habe ich nun das Unglück, in eine Sektion hineingerathen zu sein, deren Mehrzahl aus schauerlichen Menschen besteht. Ihr größtes Vergnügen besteht darin, die Collegia zu versäumen, Karte zu spielen, Bier zu trinken pp." % Hatte er also in der oben zitierten Begründung seiner Studienwahl noch das Humboldtsche Modell der Bildung durch Wissenschaft herbeizitiert, befand er sich nun in einer Institution, die ganz dem Prinzip des Brotstudiums verpflichtet war und eher den Charakter einer Fachhochschule trug.97 Virchow besuchte nicht nur regelmäßig die vorgeschriebenen Kollegs was allein schon nicht selbstverständlich war sondern dehnte seine Studien auch noch in die karg bemessene freie Zeit aus. Auf dem Stundenplan, der wöchentlich 54 Stunden umfasste, standen täglich außer Sonntag bis zu zehn Stunden, wozu noch die eigenen Studien kamen. Das Medizinstudium basierte in dieser Zeit noch überwiegend auf dem Bücherstudium, und die von Virchow anschaulich beschriebenen Sektionen in der Anatomie, bei denen oftmals halbverfaulte, stinkende Leichenteile das Ausbildungsmaterial bilde-
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ten, waren dabei nahezu die einzige praktische Demonstrationsmethode. 98 Zusätzliche Pflichtveranstaltung im Rahmen des Studium generale, die von der Mehrheit seiner Kommilitonen allerdings nicht wahrgenommen wurde, war die Vorlesung von Johann David Erdmann Preuss, dem königlich preußischen Hofhistoriker und Biographen Friedrichs des Großen, zur Geschichte des preußischen Staates. Virchow besuchte regelmäßig die in dessen Privatwohnung stattfindenden Vorlesungen, darunter auch eine zur Kulturgeschichte der europäischen Völker. Uber den Lehrplan hinaus ging hingegen der Besuch einer Vorlesung bei Friedrich Rückert über arabische Dichter," was ebenfalls ein Indiz für seinen den Kreis der Medizin hin zur Kulturgeschichte übersteigenden Interessenhorizont war. 1842 rückte Virchow dann in die klinischen Semester vor und wurde auch am Krankenbett ausgebildet. Die Tage und zum Teil auch noch die Abende waren nunmehr vor allem mit Krankenbettvisiten in verschiedenen Kliniken der Charite ausgefüllt.100 Seit der Medizinalreform von 1825 gab es in Preußen noch drei Kategorien von Ärzten: Erstens die akademisch gelehrten Arzte mit einer vierjährigen Universitätsausbildung, zweitens Wundärzte 1. Klasse mit einem dreijährigen Studium an eigenen Lehranstalten sowie drittens die schlechter qualifizierten Wundärzte 2. Klasse. Erst seit der Reform von 1852 beherrschte der akademisch gebildete Arzt dann allein das Feld.'01 Die medizinische Reformgesetzgebung von 1825 sowie weitere innere Veränderungen des Friedrich-Wilhelm-Instituts hatten den Abstand zwischen diesem und der Universität sowie deren Studenten weitgehend aufgehoben. Hauptunterschiede blieben jedoch zum einen die strenge curriculare Organisation des vierjährigen Studiums an der Pepiniere sowie das weitgehende Privileg zur Besetzung der Assistentenstellen der Charite. Damit besaßen die Militärärzte die Möglichkeit, ein einjähriges Praktikum zu absolvieren, die den Zivilärzten nicht zu Gebote stand. Dies war der Hauptgrund dafür, „dass die medizinische Ausbildung an der Pepiniere zum Teil für vorteilhafter angesehen wurde als die der Universität." 102 Dem üblichen Ausbildungsgang folgend, zog Virchow am 1. April 1843 von der Pepiniere in die Charite um, die damals noch dem Kriegsministerium unterstand. Dort wurde er als Chirurg angestellt und teilte nunmehr ein Zimmer und eine Schlafkammer mit zwei Kollegen.103 Zugleich bemühte sich Virchow nun um den Abschluss seiner Promotion, die bis 1869 noch eine Art Vorprüfung zum Staatsexamen darstellte. Am 21. Oktober 1843 promovierte ihn Johannes Müller mit einer Dissertation De rheumate praesertim corneae, in der es um den Rheumatismus der Hornhaut des Auges ging,104 und so konnte Virchow seinem Vater und Geldgeber melden: „Endlich ist der Schritt gethan, der an sich eine leere und nichtige Formalität,
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doch die größten Consequenzen für's Leben nach sich zieht - ich bin Doktor der Medizin und Chirurgie geworden."105 Die Bedeutung der Promotion als biographischer Einschnitt, der die Jugend vom Erwachsenenalter abtrennte, unterstrich Virchow bei anderer Gelegenheit in folgender Weise: „Der Promotionsakt bildet eine scharfe Grenze; hier beginnt das ernstere, freilich immer noch sprudelnde Mannesleben."106 Um die Bedeutung dieser Zäsur zu unterstreichen, hatte er sich für diese Gelegenheit „einen neuen Frack im Phantasie-Geschmack machen lassen, über den Schivelbein gewiss ausser sich gerathen würde," seine Tante befand dieses Kleidungsstück jedoch „ganz nach dem Modejournal" 107 . Dies lenkt den Blick auf den Zusammenhang von biographischen Zäsuren und Veränderungen des Habitus bei Virchow. In seinen Berliner Jahren von 1839 bis 1849 zeigte er ein auffallendes Modebewusstsein. Er investierte in Anbetracht seiner stets knappen finanziellen Lage auffallend hohe Beträge in sein Außeres, ob es nun Hosen, Hüte, Fräcke oder eine 17 Vi Taler teure Zylinderuhr mit Sekundenzeiger waren, wobei es ihm ausdrücklich darauf ankam, dass diese Gegenstände der aktuellen Mode entsprachen.108 Diese Selbstinszenierung, die seine Individualität ebenso wie seine soziale Stellung unterstreichen sollte, ging in diesen Jahren mit einem starken Moment der Selbstreflexion einher. Zunächst ging es dabei um das Verhältnis zu seinem Vater, der Rudolf Virchow mit seinem eigenen Ehrgeiz antrieb und dabei großen Wert darauf legte, dass sein Sohn sozialen Konventionen entspreche und ihm überdies Selbstüberschätzung und Gefühllosigkeit vorwarf. Der 20-j ährige Medizinstudent beklagte sich demgegenüber bei seinem Vater: „Du wolltest einen feinen Gesellschaftsmann aus mir machen; mir liegt noch heute sehr wenig daran" 10 . Während seines Studiums gehörte Virchow, anders als noch sein Lehrer Johannes Müller, der aktiver Burschenschaftler gewesen war,110 keiner jener studentischen Korporationen an, die für die Erziehung der Studenten außerhalb des Hörsaals an deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts eine so wichtige Rolle spielten." 1 Studenten der Berliner Universität mussten zu dieser Zeit bei ihrer Immatrikulation einen Revers unterzeichnen, wonach sie sich der Mitgliedschaft in unerlaubten Verbindungen enthalten würden." 2 Der halbmilitärische Status der Pepiniere verbot eine solche Betätigung erst recht. Überdies entsprach dies aber auch dem Gepräge der Berliner Universität als einer „Arbeitsuniversität" 11 . Virchows Versuche, sich während seines Studiums selbständig weitere Bildungsimpulse zu verschaffen, die über das an einer strengen medizinischen Fachausbildung orientierte Curriculum der Pepiniere hinausgingen, lagen somit außerhalb einer derartigen studentischen Subkultur. Neben dem Besuch historischer und kulturwissenschaftlicher Vorlesungen übte er sich in jenen Jahren ausgiebig im Tanzen. An belletristischer Literatur entwickelte er nach Abschluss seiner Schulzeit, soweit 42
die Quellen Aufschluss geben, kein ausgeprägtes Interesse. Dagegen ging er während seiner Studienzeit häufig ins Theater, das im biedermeierlichen Berlin eine große gesellschaftliche Rolle spielte,114 teilweise bis zu vier mal im Monat, und strapazierte damit sein stets knappes studentisches Budget.115 Zu einem exemplarischen Bildungsgang gehörte auch das Reisen, und so unternahm Virchow während seines Studium im Sommer 1842 eine fünfwöchige größtenteils zu Fuß unternommene Rundreise von Berlin durch Sachsen, Böhmen, Bayern, Thüringen und zurück. Sollten spätere Reisen vor allem der Erholung oder der Pflege professioneller Netzwerke dienen, so stand hier das Muster der Wanderschaft als Medium der Bildung als Selbsterziehung im Vordergrund, für das Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre das Vorbild darstellte, und so berichtete Virchow seinem Vater: „Was ich aber am höchsten schätze, ist die Erfahrung, daß ich für keinen Theil des Lebens erstorben bin; daß jede Erscheinung der ewigen Natur und des menschlichen Geistes mich mit aller Ergriffenheit anspricht, und in mein Bewußtsein übergeht. Jede allgemeine Bedeutung, Alles Grosse und Universelle freilich hat mich besonders angezogen, und ich habe mehr als je erkannt, daß die kleinlichen Partikular-Interessen, welche zumal in Pommern jede größere Regung des Geistes ertödtet haben, mir in dem Grund zuwider sind.""6
Virchow sprach weiter von seiner durch die Reise gewachsenen Vaterlandsliebe, die aber zugleich durch die dabei gemachten Erfahrungen geläutert sei: „sie hat Achtung vor fremder Nationalität, selbst vor Oesterreich gewonnen; der Drang nicht unthätig zu bleiben in den grossen Begebenheiten unserer Tage, ist stärker geworden, aber nicht so stark, dass er ein Verkennen unserer herrlichen, schon bestehenden Institutionen einschlösse."117 Damit artikulierte Virchow einerseits die Erfahrung der Vergewisserung seiner eigenen Identität durch die Begegnung mit dem Fremden als auch die Erweiterung seines geographischen Erfahrungsraumes. Die Verarbeitung dieser Erlebnisse verweist aber zugleich auf eine unter dem Einfluss seines Medizinstudiums erfolgte allmähliche Ablösung von den literarischen Traditionen, die seinen Schulaufsätzen zugrunde gelegen hatten, wo er seine Selbsterfahrung in der Begegnung mit dem eigenen Ich in der eine universale Ordnung widerspiegelnden „freien Natur" geschildert hatte. So traten in seiner Studienzeit an die Stelle der Erfahrung der „freien Natur" die Schilderung von botanischen Gärten und Gewächshäusern, d. h. der künstlich hergestellten Natur, deren Geschichte ihn nun vor allem interessierte, aber auch das Studium des menschlichen Körpers im Seziersaal bzw. des tierischen Körpers im Experiment." 8 Damit entfiel auch der Gestus der Beschreibung von Kunst und Natur als Medium der Steigerung von Subjektivität. Nicht das innere Erfassen der Dinge, sondern die „rein äußerliche Anschauung der Natur als einer bloß beobachteten Ordnung"119, wie sie die Romantiker kritisierten, rückten bei Virchow zunehmend in den Vorder43
grund. Das epistemologische Programm des Sensualismus bestimmte dabei zunehmend auch seinen Habitus, für den das Sehen und Riechen als Medien der Beobachtung eine zentrale Rolle spielten. Virchow äußerte während seines Studiums harsche Kritik am „goldenen Kalb der Naturphilosophie"120, die 1841 mit der Berufung Schellings, der dort dem Einfluss des Linkshegelianismus entgegenwirken sollte, an der Berliner Universität demonstrativ installiert wurde. Er teilte die verbreiteten Zweifel, dass diesem sein Vorhaben gelingen würde, die „Philosophie mit den Lehren des Christentum zu verbinden" und dabei „die geoffenbarte Religion mit den Schlüssen des philosophischen Verstandes in Einklang" zu setzen, und berichtete seinem Vater bald nach Schellings Ankunft: „Jedenfalls hat er sich sehr dadurch geschadet, daß er seine Vorlesungen mit einem wunderlich hochtrabenden und dünkelvollen Schwall von Versprechungen begann."121 Wie sehr Virchow in seiner Studienzeit gleichzeitig aber auch noch von Traditionen der Naturgeschichte geprägt war, kommt in einer Selbstbeschreibung seines Bildungsziels deutlich zum Ausdruck, die er 1842 in einem Brief an seinen Vater formulierte, wo er von „eine(r) allseitige(n) Kenntniß der Natur von der Gottheit bis zum Steine"122 sprach. Hier trat ein universalistischer Anspruch hervor, wie er in diesen Jahren in Alexander von Humboldts „Kosmos"-Projekt einen letzten Höhepunkt feierte und im Bildungsbegriff romantischer Naturforschung wurzelte. Auch wirkte hier noch die Vorstellung einer scala naturae nach, d. h. einer zusammenhängenden Kette der Wesen, die von sämtlichen Elementen der Natur gebildet werde.124 Das große Interesse des jungen Virchow an Versteinerungskunde (neben Geschichte und Politik)125 verweist zugleich aber auch auf die Verzeitlichungstendenzen, von denen diese Vorstellung einer ursprünglich als ahistorisch gedachten Natur mittlerweile erfasst worden war und die von der Naturgeschichte zur Geschichte der Natur führten.126 Virchows Studium fiel in jene als „Biedermeiermedizin" etikettierte Übergangsphase von 1830 bis 1850, die Karl E. Rothschuh zwischen der romantisch-idealistischen bzw. naturphilosophischen und der späteren realistisch-naturalistisch-materialistischen Strömung verortete.127 Damit übertrug er einen vor allem in der Literaturwissenschaft verankerten kulturgeschichtlichen Epochenbegriff auf die Medizin. Kennzeichen der „Biedermeiermedizin" waren Rothschuh zufolge generalisierungs- und theoriefeindliche Erfahrungssucht und Sammelwut, die Abneigung vor Spekulation und ein betonter Empirismus.128 Dabei sollten freilich die im Begriff „Biedermeier" liegenden idyllisch-quietistischen Implikationen nicht überbetont werden. Unter den Lehrern Virchows, die für seine wissenschaftliche Entwicklung von besonderer Bedeutung waren, befanden sich zwei Protagonisten der Durchsetzung der naturwissenschaftlichen, auf klinische Beobachtung und Experiment gestützten Medizin: der Anatom und Physiologe Johannes 44
Müller sowie der Kliniker Johannes Lucas Schoenlein. Letzterer war 1832 in Würzburg als Demokrat seines Amtes enthoben und erst 1840 aus dem Schweizer Exil nach Berlin berufen worden. Müller war dagegen ein eifriger Konservativer, der für die Studenten in seinem Seminar alle Fehler des alten Regimes verkörperte. 130 Den Haupteinfluss der beiden auf ihn sah Virchow nicht in der Übernahme ihrer medizinischen Dogmen, sondern in dem bei diesen erworbenem naturwissenschaftlichen Methodenverständnis der Medizin.131 In seiner Studienzeit entwickelte sich allerdings kein persönlicher Kontakt zu den beiden medizinischen Koryphäen, und besonders Schönlein verhielt sich Virchow gegenüber wegen seines militärärztlichen Stallgeruchs zeitweilig reserviert. Vor allem Müller trug durch die Einbeziehung physikalischer und chemischer Methoden erheblich dazu bei, die Medizin stärker an die exakten Wissenschaften heranzuführen. Neben Virchow gehörten auch Theodor Schwann, Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Jacob Henle zu seinen Schülern. Allerdings blieb für diese das Experiment - das Signum dieser neuen „wissenschaftlichen" Auffassung - gegenüber der Beobachtung immer nur ein künstlicher Teil des Erkenntnisprozesses. In mancherlei Hinsicht vertrat Müller weiterhin naturphilosophische Auffassungen, insbesondere mit dem Konzept der „Lebenskraft", die nach seiner Auffassung Ordnung und Richtung in die mechanischen und chemischen Kräfte des lebenden Körpers brachte. (Diese Lehre eignete sich auch, um die Vorstellung einer leitenden geistigen Elite bei der Organisation des Körpers zu rechtfertigen. 1 3 ) Im Mittelpunkt standen bei Müller Beobachtungszusammenhänge und Analogieschlüsse, nicht, wie in der späteren naturwissenschaftlichen Medizin, Kausalzusammenhänge. 134 Wie Müller stand auch Schoenlein noch in der Tradition der „romantischen Medizin", hatte sich dann aber den französischen Methoden der klinischen Untersuchung zugewandt und dabei die Klinik und das Laboratorium in der Tätigkeit des Mediziners zusammengebracht. 135 Das Hauptanliegen der von ihm vertretenen naturhistorischen Schule war, „durch strikt empirische Beobachtungen am Krankenbett eine theoriefreie Krankheitslehre zu entwickeln." 136 Dazu erweiterte er die Hilfsmittel der Krankenbeobachtung, aber noch ohne die messenden Verfahren der Naturwissenschaften anzuwenden und blieb damit streng deskriptiv und empirisch orientiert. 137 In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts begann eine um 1815 bis 1821 geborene neue Generation von Medizinern, sich mit dem Empirismus ihrer Lehrer kritisch auseinander zu setzen und sich verstärkt der von ihnen so genannten „naturwissenschaftlichen Methode" zuzuwenden, die vor allem auf dem Experiment und kausalanalytischer Vorgehensweise beruhte. So forderte die 1842 von Carl August Wunderlich, Wilhelm Griesinger und Wilhelm Roser programmatisch formulierte „Physiologische Heilkunde", 45
den Empirismus der naturhistorischen Schule durch die naturwissenschaftliche Methode zu überwinden.138 Virchow beteiligte sich daran, die Auseinandersetzung zwischen der „naturphilosophischen" und der „naturwissenschaftlichen" Richtung zu einem Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen zu stilisieren und zugleich die Abgrenzung von der Naturphilosophie zu dramatisieren. Solche Interpretationen müssen als Bestandteil des Unterfangens gelesen werden, die eigene professionelle Identität zu gestalten. Beispielhaft ist ein im Dezember 1846 gehaltener Vortrag vor der „Gesellschaft für wissenschaftliche Medizin" in Berlin über die Standpunkte in der wissenschaftlichen Medizin. Dort beschrieb Virchow die Auseinandersetzung der naturwissenschaftlichen Medizin mit der naturhistorischen Schule zugleich als eine Abkehr von der idealistischen Philosophie und eine Rückkehr zur Natur, die in der Geschichte der Medizin in drei Stufen erfolgt sei: „(...) das Stadium der Naturphilosophie, der Naturgeschichte und der Naturwissenschaft. (...) Die naturphilosophische Schule baute bekanntlich ihr medicinisches System auf ihr philosophisches (...) Die kommende Schule, welche sich selbst sehr bezeichnend die naturhistorische genannt hat, nahm bei ihrer Entwickelung einen Theil dieser Ansicht in sich auf, bildete dann insbesondere den Analogien-Beweis zu einer unerhörten Wichtigkeit aus (...) Darnach ist die Medicin auf dem wissenschaftlichen Standpuncte angelangt zu einer Zeit, w o auch die Philosophie zur Natur und zum Leben sich gewandt hat, und wie die Philosophie den Sinnen ihr altes Recht vindiciert hat, so hat die Medicin den Glauben abgew o r f e n , die Autoritäten cassirt und die Hypothese in ein häusliches Stillleben verbannt." 139
Was Virchow hier als lineare Fortschrittsgeschichte der Medizin von der romantisch-idealistischen Naturphilosophie über die empiristische Naturgeschichte hin zu der von ihm vertretenen naturwissenschaftlichen Medizin schilderte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als weit weniger eindeutig, und dies gilt auch für ihn selbst. Mehrfach wurde die Ambivalenz seiner Position überzeugend herausgearbeitet,141 womit zugleich die vor allem in den 1930er Jahren existierenden Bemühungen, Virchow in die Tradition einer „romantischen" Medizin einzuordnen, zurückgewiesen wurden.142 Sieht man einmal von der Frage ab, inwieweit bestimmte Elemente des Vitalismus zu verschiedenen Zeiten eine Rolle in seinen Theorien spielten, so scheint in diesem Zusammenhang besonders wichtig, dass die Selbstinszenierung als Genie, die mit seinem naturwissenschaftlichen Neuerergestus verbunden war, ebenso stark von romantischen Konzeptionen der Wissenschaft zehrte wie das moderne Konzept des Forschungsimperativs überhaupt. Die Abgrenzung der „naturwissenschaftlichen" von der „naturphilosophischen" Methode fand somit vor allem auf der Ebene der Theorien und Epistemologien statt, während im Bereich der Praktiken enge Beziehungen bestanden.
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Inwieweit kann man also davon sprechen, dass Virchow einen spezifischen „Generationsstil" (Karl Mannheim) zwischen Romantik und Positivismus bzw. zwischen Biedermeier und Realismus verkörperte? Dabei lässt sich zunächst an seiner Selbstbeschreibung ansetzen: Im Verlaufe seines Lebens thematisierte er sich selbst immer wieder als Angehöriger einer bestimmten Generation. So charakterisierte er 1853 den generationellen Erfahrungshintergrund der nach den napoleonischen Kriegen Geborenen, die sich für besser und moralischer als ihre Vorgänger gehalten und in den vierziger Jahren an die Macht der Ideen und der öffentlichen Meinung geglaubt hätten. Diese „Generation, welche sich für die eigentlich rationelle und vernünftige angesehen hatte," musste dann allerdings, so Virchow, in der Revolution ihre größte Erniedrigung erleben.144 Wie aber verhalten sich derartige subjektive Erfahrungen und Selbsteinschätzungen zu historischen Generationenmodellen ? Für die historische Generationsforschung hat sich vor allem die Prägungshypothese als methodisch praktikabel erwiesen. Ein gemeinsames prägendes Schlüsselerlebnis wird dabei als generationsbildend für eine bestimmte Alterskohorte angesehen. 145 Die größte Uberzeugungskraft entfalteten diejenigen Generationseinteilungen - zumindest im Hinblick auf die deutsche Geschichte - , welche die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert zur Grundlage der Zäsurenbildung wählten. 146 Diese Kriege bedeuteten zweifellos einen außerordentlich tiefen Einschnitt in der Erfahrung der Beteiligten. Hinzu kommt, dass vor allem für Männer die Militärpflicht diese Erfahrung bereits nach Jahrgängen vorstrukturierte und so die Zufälligkeit des Geburtsjahrs gleichsam für eine „Uniformierung" von Erfahrung sorgte. Generationenmodelle von ähnlicher Uberzeugungskraft wurden für das 19. Jahrhundert bislang noch nicht vorgelegt. A m wichtigsten sind dabei im Hinblick auf Deutschland - Versuche, die Revolution von 1848 bzw. die Reichsgründung als derartige generationsbildende Erfahrungen zu bestimmen.147 Doch erreichen darauf basierende Generationstypisierungen aus verschiedenen Gründen nicht dieselbe Prägnanz: Vor allem war die vergemeinschaftende Erfahrung dieser Ereignisse weniger stark an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Alterskohorte gebunden. Zudem lässt sich prinzipiell einwenden, ob nicht das Konzept der Generation die neue Erfahrung der „Jugend" voraussetzt, die erst um 1900 auftrat und damit für das 19. Jahrhundert von vornherein nur mit großer Zurückhaltung angewendet werden kann.148 Eine mögliche Alternative bildet deshalb, die Frage tiefer zu hängen und nach konkreten sozialen und intellektuellen Gruppenzusammenhängen zu fragen, innerhalb derer eine Alterskohorte solche gemeinsamen prägenden Erfahrungen machen konnte. So wird bei Virchow im Kontext wissenschaftlicher Schulenbildung ein Generationszusammenhang gerade dort deutlich, wo ihn Karl Mannheim, 47
der die Geisteswissenschaften und die mit ihnen verbundenen Intellektuellen für die Zentren der Generationsbildung erachtete, für schwer auffindbar hielt: nämlich im Bereich der exakten Naturwissenschaften. 149 Dort bildete Virchow, wie gesagt, Teil eines von der Generation der um 1820 Geborenen maßgeblich mitgetragenen Paradigmenwechsels zur naturwissenschaftlichen Medizin, während er zugleich Reste naturhistorischen, romantischen Denkens aufwies. Eine übergreifende, sozusagen „zeitgeistverdächtige" Generationszuordnung, bleibt dagegen aus den genannten Gründen immer ein Stück weit methodisch schwer zu erhärtende Spekulation, so reizvoll es auch sein mag, sich daran zu versuchen.
c) Gesellschaftliche Krise und Karrierechancen Betrachtet man Virchow als Teil einer derartigen Kohorte, so stellt sich die Frage, wie es ihm gelang, aus dem Rudel der hochbegabten Müller-Schüler auszubrechen. Dies war ihm zunächst keinesfalls vorbestimmt: Als Pepin war Virchow zunächst für die Laufbahn eines Militärarztes vorgesehen, deren Anteil an der preußischen Ärzteschaft Ende der vierziger Jahre etwa 15 Prozent betrug. 1 Nach seiner Promotion 1843 folgte das vorgeschriebene Praxisjahr an der Charite, wo er alle Stationen durchwanderte. Noch im März 1844 bekannte er, dass er keinen besonderen Plan besaß, „als wo möglich zur Cavallerie zu gehen" und nach zwei- bis dreijährigem Garnisonsdienst eine ärztliche Zivilpraxis zu eröffnen.151 Bei dieser Schilderung handelte es sich um die damalige ärztliche Normallaufbahn eines Absolventen der Pepiniere ohne besondere gesellschaftliche Beziehungen bzw. großzügigen finanziellen Hintergrund. Zu einem Bruch mit seiner zunächst durchaus vorhandenen Neigung, „die lange Chaussee der militärärztlichen Heerstraße fortzuwandeln", kam es erst, nachdem Virchow 1844 unter Anleitung des Prosektors Robert Froriep mit selbständiger wissenschaftlicher Arbeit begonnen hatte und das Leichenhaus der Charite verwaltete. Dort führte er auch die für die Krankenabteilung der Charite erforderlichen chemischen und mikroskopischen Untersuchungen durch.152 Es liegt nahe, dieser Erfahrung eine wichtige Rolle für seinen Sinneswandel zuzuschreiben. Durch das mit der Tätigkeit bei Froriep verbundene wissenschaftliche Training, aber auch die damit verbundene Integration in eine Forschergemeinschaft begann Virchow allmählich eine neue professionelle Identität zu entwickeln. Aber noch im Sommer 1845 erklärte er seinem Vater, dass er die militärische Laufbahn einer wissenschaftlichen Laufbahn an der Universität vorziehe.153 Doch bald darauf änderte er seine Meinung und äußerte den Wunsch, sich der militärischen Verpflichtungen zugunsten einer zivilen wissenschaftlichen Laufbahn zu entledigen. Damit 48
folgte er einem relativ neuen Leitbild, begann doch wissenschaftliche Forschung erst seit Mitte der 1830er Jahre in Deutschland zu einer regulären Karriere zu werden,154 und erst 1833 hatte William Whewells History of the Inductive Sciences den Begriff „scientist" eingeführt.155 Sollte das Vorhaben einer Karriere als Wissenschaftler scheitern, so bliebe ihm, wie Virchow, der gerade sein Staatsexamen begann, seinem Vater im Oktober 1845 schrieb, „nur das Verdienst, unter den möglichst ungünstigen Bedingungen mehr als das Gewöhnliche gewollt zu haben, u. mich von der Menge der AlltagsMenschen, wie Dein Bruder sie nennt, abgewendet zu haben."156 Mit diesen Anklängen an den romantischen Geniekult beteiligte er sich an der Stilisierung des Wissenschaftlers als eines vom Alltäglichen abgekehrten Charismatikers157. Starke Ermutigung, sich einer wissenschaftlichen Karriere zuzuwenden, lieferte der Erfolg zweier Reden, die der damals 23-jährige Virchow 1845 am medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut hielt und in denen er erstmals öffentlich den Anspruch als wissenschaftlicher Innovator erhob. Der Institutsdirektor, Generalarzt und Königlich Geheimer Medizinalrat Gottlieb Wilhelm Eck, hatte die erste Rede Virchows am 3. Mai 1845 zum Anlass des 95. Geburtstags des Institutsstifters Johann Goercke durchgesehen und gebilligt, wenngleich er Ton und Haltung eher einem Mitglied der Akademie von Frankreich angemessen empfand. Virchow präsentierte hier sein wissenschaftliches Glaubensbekenntnis und zeichnete dabei ein streng mechanisch konstruiertes Bild des menschlichen Organismus und der Medizin. Die praktische Medizin sollte demnach vor allem eine angewandte Naturwissenschaft sein. Dazu gehörte ihre Begründung auf Anatomie und Physiologie sowie „die Zurückführung ihrer Erfahrungen auf die Lehrsätze der Physik und Chemie"158. Mit aufklärerischem Pathos richtete er das „Licht der Wissenschaft" gleichermaßen gegen medizinischen Aberglauben, den er in „Homöopathie und Hydropathie, Magnetismus und Exorcismus - Phantome^) des Mittelalters" verkörpert sah, wie gegen die „Uebergläubigen in Theorie und Praxis, denen eine Autorität über alles geht"159. Damit stilisierte er sich selbst zum Bannerträger einer medizinischen Avantgarde. Die dergestalt rhetorisch als Hort des Alten traktierte preußische Militärmedizin behandelte Virchow jedoch nicht als Feind, sondern ganz im Gegenteil als Hoffnungsträger. So beauftragte ihn Eck bald erneut mit einer Rede, die er bei der Veranstaltung anlässlich des 50. Geburtstags des Friedrich-Wilhelm-Instituts am 2. August 1845 hielt. Vor einem großen und hochgestellten Publikum, darunter neben zahlreichen Militärs das medizinische Establishment Berlins, radikalisierte Virchow seine Thesen:
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„Die Medizin von 1795. existirt nicht mehr, es sei denn bei einer gewissen Klasse heilkünstlerischer Laien (...) Die Medizin von 1845. strebt dahin, sich als eine angewandte Naturwissenschaft wieder den Platz zu erringen, der ihr vermöge der Würde und der Bedeutung ihres Objektes, des Menschen, wohl gebührt; die Einigung der Medizin mit den übrigen Naturwissenschaften ist die große Frage der ärztlichen Gegenwart." 160
Auf diese Weise dramatisierte er den Gegensatz von alter und neuer Medizin und verteidigte zugleich die hier verkündete „mechanische Medizin", welche die Lebensvorgänge auf physikalische oder chemische Vorgänge zurückzuführen suchte, gegen den Vorwurf des Materialismus, indem er den Menschen als ein „Zellensystem mit Seele" definierte.161 Mit diesen und anderen Erklärungen, die den vom preußischen König geförderten Tendenzen zur Rechristianisierung von Wissenschaft und Gesellschaft entgegengesetzt waren, erzielte Virchow die gewünschte Provokation: „Die alten Militärärzte wollten aus der Haut fahren ob so neuer Weisheit; daß das Leben so ganz mechanisch construirt werden sollte, schien ihnen vollkommen umwälzerisch, wenigstens ganz unpreußisch", schrieb Virchow seinem Vater. Dabei schien ihm dieser Tag doppelt wichtig: „einmal der Anerkennung wegen, die immer schmeichelhaft, (...) und dann, weil ich die Leute nie für so dumm gehalten hätte, als mir das an diesem Tage klar geworden ist."162 Doch hielt sich die Provokation im Rahmen: Angesichts starker Kräfte im militärmedizinischen Establishment und preußischen Kultusministerium, die auf eine Reform der Medizin setzten und Virchow deshalb protegierten, handelte es sich bei diesen Reden um ein begrenztes, vielleicht auch kalkuliertes Risiko. Der Gestus der wissenschaftlichen Innovation schien in der politisch angespannten Situation des Vormärz auch im Verein mit einem gewissen Maß an politisch kritischen Untertönen eine erfolgversprechende Karrierestrategie. Dies steht vor dem Hintergrund der Krisensituation des Vormärz. Die 1840 erfolgte Thronbesteigung durch Friedrich Wilhelm IV. und die nachfolgende vorübergehende Phase der Liberalisierung des öffentlichen Lebens hatten in Berlin zunächst große Hoffnungen geweckt. Die damit in Gang kommende Politisierung der Gesellschaft lässt sich auch an den Geschenken ablesen, die der 19-jährige Virchow in diesem Jahr seinen Eltern schickte: Einerseits ein Bildnis des königlichen Herrscherpaares, dann aber auch eine Abschrift des Rheinliedes von Nikolas Becker („Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein") sowie ein weiteres politisches Spottlied desselben Autors. Dies kommentierte er mit dem Hinweis auf die zunehmende politische Gärung,163 wobei die nationalistische Aufwallung der Rheinkrise offensichtlich eine enge Verbindung mit der immer größer werdenden „Unzufriedenheit mit König und Aristokratie"164 einging. Auch die Pepiniere bildete dabei keine Ausnahme, denn, wie Virchow im Januar 1841 an seinen 50
Vater schrieb, herrschte hier „jetzt ein sehr kräftiger, aber rebellischer Geist", auch wenn sich dieser vorerst lediglich in einer gemeinsamen Beschwerde über das Essen übte.165 Virchow teilte die sich zur Mitte des Jahrzehnts hin unter den Studenten ausbreitende Begeisterung zur verbotenen Lektüre und las etwa die Deutschen Jahrbücher des Linkshegelianers Arnold Rüge.166 Die wachsende Politisierung griff bald auch auf seine wissenschaftlichen Aktivitäten über. So fügte er seiner 1843 gedruckten Doktorarbeit als erste These an: „Nisi qui
liberalibus
rebus favent,
ν eram medicinae
indolem non cognoscunt",
was er
noch ein halbes Jahrhundert später als Beleg für die Konstanz seiner Auffassung über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zitierte.167 Und als es um die Jahreswende 1843/44 zu einer Anzahl, so Virchow, „großartiger Studenten-Versammlungen" kam, auf denen Vorträge über politische Zeitfragen gehalten, aber auch Vorschläge zur Universitätsreform entwickelt wurden, nahm er gleichfalls enthusiastisch teil168 und schwärmte zugleich von den neuen Gedichten Ferdinand Freilighraths, die „durch ihren begeisternden Ton" das oppositionelle Feuer anfachten.169 Bereits Ende 1844 beschrieb Virchow das um sich greifende Krisengefühl: „die Gesellschaft wird sich allmächlich der Schrecken bewußt, die gegen sie anrücken, und die Opfer, welche der Uebermuth der gewalthabenden Partei täglich fordern, machen die Gemüther nur verbissener."170 Zunehmend stellte er auch naturale Zyklen mit politischen Ereignissen in Zusammenhang und kommentierte beispielsweise 1846 die gegenwärtigen Ernteaussichten seines Vaters: „Man interessirt sich hier jetzt lebhaft für solche Dinge, denn seitdem die Geld-Calamität immer grösser wird, u. die politisch-socialen Verhältnisse sich immer mehr verwickeln, die Aussichten in die Zukunft sich bedrohlicher gestalten, hat man begriffen, dass auch eine Erndte ein politisches Ereigniß sein kann."171 Auch die „soziale Frage" drang etwa seit 1844 immer stärker in sein Bewusstsein. Allerdings diente ihm diese vor allem als Bezugsrahmen zur Interpretation seiner eigenen Lage, denn auch auf seiner im April 1843 angetretenen Stelle als Assistenzarzt an der Charite, die mit freier Wohnung, Kost und Logis verbunden war, empfand Virchow weiterhin drückende finanzielle Abhängigkeit. Von den 25 Talern, die er monatlich erhielt, wurden ihm für Kost, Wohnung und anderes so viel abgezogen, dass ihm nur 5 Taler blieben.172 Zwar kam ein einmaliges Stipendium der Kösliner Regierung in Höhe von 20 Talern hinzu, doch betrugen allein die Gebühren für die Promotion 130 Taler, die durch weitere Kosten - vom Drucken der Dissertation bis zu den Ausgaben für einen Doktorschmaus - schließlich etwa 200 Taler verschlang.173 So beklagte sich der junge Assistenzarzt im Juli 1845 gegenüber seinem Vater, dass er noch immer auf dessen finanzielle Unterstützung angewiesen sei und führte dies auf die politischen Verhältnisse zurück: „Nur Privatpersonen, Privatgesellschaften und Privatstaaten vermögen das Indivi51
duum nach seinem Verdienst d. h. nach seiner Arbeit zu belohnen; im Polizeistaat wird das immer eine Unmöglichkeit sein, da das Geld immer fehlen wird." Bei der Eisenbahn verdienten junge Männer seines Alters an einem Tag soviel wie er in einem Monat. Virchow versuchte seinem Vater, einem grummelnden Konservativen in der pommerschen Provinz, dem die allmähliche politische Radikalisierung seines Sohnes in der Hauptstadt zunehmend Sorgen bereitete, verständlich zu machen, „daß dieß wirklich unerhörte Proletariat mich auf die Ursachen eines solchen Zustandes zurückblicken lässt. Ein Zimmergeselle verdient täglich 16 Sgl. u. ich 5 Sgl. Daß ich unter solchen Verhältnissen meine socialen Ansichten nicht ändern kann, liegt sehr nahe, wenn ich nicht außerdem durch Vernunftgründe zu demselben Endpunkt gelangte."174 In diesen Ausführungen vermischten sich die relative Deprivation des schlechtbezahlten Jungarztes und herumschwirrende demokratische und liberale Ideen. Zudem macht diese Bemerkung deutlich, dass sich Virchow in seiner Zeit als Assistenzarzt in seiner sozialen Selbsteinschätzung als „Proletarier der Geistesarbeit" fühlte, um eine wenige Jahre später von Wilhelm Heinrich Riehl geprägte Formulierung aufzugreifen, der diese Gruppe, zu der er auch „verhungernde akademische Privatdocenten" zählte, unter anderem durch eine „Vermengung und Verwechselung der politischen mit der socialen Opposition" charakterisierte. 1 Bereits im Gefolge der Julirevolution 1830 war es zur Spaltung im politisch aktiven Bürgertum zwischen den meist über Universitätsausbildung verfügendenden Bürgern im Staatsdienst und der freiberuflichen bürgerlichen Intelligenz gekommen. Dazu gehörten insbesondere Schriftsteller und Dichter, Anwälte, Arzte, „ferner Apotheker, stellenlose und verhinderte Akademiker vom Studenten bis zum Privatdozenten", von denen sich viele bereits im Vormärz der außerparlamentarischen Vereinsorganisation und der oppositionellen Publizistik widmeten.176 Wegen der Unterdrückung politischer Vereine auf dem Gebiet des Deutschen Bundes seit den Karlsbadern Beschlüssen von 1819 sowie dem Bundesbeschluss von 1832 spielten für die sich im Vormärz formierende bürgerliche Öffentlichkeit nicht-politische Vereine, darunter insbesondere auch wissenschaftliche Vereine, eine wichtige Rolle. Virchow wurde unter anderem Mitglied der 1845 gegründeten „Berliner Physikalischen Gesellschaft", deren Zusammensetzung gleichsam „einen Querschnitt durch die entstehende Fortschrittspartei in Berlin" legte.177 Das Ziel dieses Kreises war jedoch vor allem die disziplinare Verselbständigung der organischen Physik, weshalb Virchow hier keine große Rolle spielte. Wichtiger war dagegen die Aufnahme in den Kreis um den bekannten Berliner Gynäkologen und Geheimen Sanitätsrat Carl Mayer. Dieser hatte 1844 die „Gesellschaft für Geburtshülfe" in Berlin gegründet und Anfang 1846 Rudolf Virchow und Benno Reinhardt zur Mitarbeit gewonnen und für diese eigens den Status 52
eines „ausserordentlichen Mitglieds" geschaffen. Mayer als erstem Präsidenten stand Medizinalrat Josef Hermann Schmidt als Vizepräsident zur Seite, der zunächst Virchows einflussreicher Förderer war, aber 1848, vermutlich im Gefolge seines aufbrechenden Konflikts mit diesem, den Verein verließ.178 Dies war zugleich symptomatisch für die große Rolle derartiger Kontakte mit reformbereiten Beamten in der gespannten Situation des Vormärz. Der Kreis um Mayer und dessen Frau war für Virchow in wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht gleichermaßen wichtig. Die Gesellschaft für Geburtshülfe in Berlin spielte - neben dem Verein für wissenschaftliche Medizin, dem er gleichfalls angehörte - eine wichtige Rolle als Forum der jungen, naturwissenschaftlich orientierten Arzte. Hinzu kam, dass Mayer in seinem Haus eine biedermeierliche Salonkultur kultivierte, die sich zugleich in ganz erheblichem Maße mit Heiratskreisen überschnitt. (Virchow heiratete 1850 eine Tochter der Mayers.) Zum geselligen Kreis um Mayer gehörten neben zahlreichen Ärzten auch hohe Beamte wie der mit ihm verschwägerte Geheime Hofrat Henry Illaire und dessen Bruder, der Geheime Kabinettsrat und langjährige Chef des Zivilkabinetts Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I., Emile Illaire, Künstler wie die gleichfalls mit ihm verschwägerten Professoren Daege und Steinbrück, aber auch Friedrich Krupp und seine Familie verkehrten dort später häufig. Zu der Zeit, als Virchow in diesen Kreis eintrat, war eine jüngere Generation in den Vordergrund gerückt, wozu vor allem der Arzt Ludwig Rüge (ein Bruder Arnold Ruges) sowie der spätere Berliner Oberbürgermeister Karl Theodor Seydel zählten. Mit beiden war Virchow später auch verschwägert, da diese gleichfalls Töchter der Mayers heirateten. Weiter gehörten zu diesem Kreis unter anderem liberale Ärzte wie Hans Wegscheider, Friedrich Körte und Paul Langerhans, aber auch bekannte Liberale und Demokraten wie Berthold Auerbach, Georg Fein, Franz Löher und Arnold Rüge, die sich bei ihren Besuchen in Berlin anschlossen. In den vierziger Jahren waren hier politische Themen immer wichtiger geworden, wobei Mayer selbst liberale Grundauffassungen vertrat. 17 Die immer weiter um sich greifende Politisierung machte vor keiner gesellschaftlichen Gruppe halt, und die lange aufgestauten Forderungen insbesondere nach einer Verfassung sowie nach Presse- und Religionsfreiheit ließen sich nicht mehr aus der immer stärker zum politischen Faktor werdenden öffentlichen Meinung verdrängen. Doch war die sich im Vormärz formierende „Partei des Fortschritts" noch recht diffus, und die Ausdifferenzierung der späteren Parteienlandschaft der Revolution in Liberale, Demokraten einerseits und Konservative andererseits konnte, nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Restriktionen, noch nicht stattfinden. 180 Aber die Abwehr der romantizistisch-pietistisch gefärbten Versuche Friedrich Wilhelms IV., politische Reformen abzuwenden und dagegen die Vision eines „christlich-ger53
manischen Staates" zu setzen, bildete einen gemeinsamen Nenner der Kritik. Diese Auseinandersetzung wirkte auch in die unmittelbare Umgebung Virchows hinein, als 1843 auf königliche Initiative hin Diakonissen in die Charite einzogen, die dort nicht allein Krankenpflege betreiben, sondern zugleich eine moralische Mission erfüllen sollten. Freilich mussten diese auf Druck der öffentlichen Meinung - dieses „Despoten, der sich gegen das Unternehmen erklärt hat", bald wieder zurückberufen zu werden. 1 ' Die protestantischen „Lichtfreunde", die sich aus Opposition gegen die erzwungene „konservativ-theologische Rückbesinnung" gebildet hatten, fanden auch im Berliner Bürgertum und im Magistrat, der sich hier gegen den König stellte, breiten Rückhalt.182 Selbst der ansonsten durchaus monarchisch gesinnte Onkel, Major Virchow, hielt es in diesem Konflikt, „wie jeder Gebildete hier", entschieden mit den ersteren und besaß eine große Sammlung von Broschüren zu diesen religiösen Streitigkeiten.183 All dies mündete aber „keineswegs generell in ein revolutionäres Bewusstsein"184. Auch Virchow registrierte so zwar die schrittweise Delegitimierung der bestehenden politischen Verhältnisse und artikulierte wiederholt die allgemeine Erwartung tiefgreifender politischer Veränderungen, wurde dann aber vom Ausbruch der Revolution, zumindest zu ihrem tatsächlichen Zeitpunkt, überrascht.185 Zugleich beeinflusste die politische und gesellschaftliche Krisensituation des Vormärz in mehrfacher Hinsicht seine Karriere. Teile des militärmedizinischen Establishments der Kultusbürokratie versuchten, auch im Bereich der Wissenschaft eine Art von „defensiver Modernisierung" (Hans-Ulrich Wehler) durchzuführen, die neuartige Chancen für die Institutionalisierung von Disziplinen und Forscherkarrieren eröffnete. Diese Feststellung wertet zugleich die Zeit des Vormärz im Hinblick auf die in der neueren Forschung vertretene Auffassung auf, wonach in Deutschland erst nach der Revolution staatliche Modernisierungsimpulse eine wesentliche Rolle für die Disziplinenbildung bzw. Institutionalisierungsprozesse gespielt hätten.1 Teile der Militärmedizin sowie der Kultusbürokratie setzten bei ihren Versuchen, die Modernisierung der Medizin in der Weise einer Reform von oben durchzuführen und dabei zugleich die unerwünschte soziale und politische Radikalisierung abzublocken, zeitweilig große Hoffnungen auf Virchow. Indem sie dieses mitunter als „enfant terrible" auftretende Talent unter ihre Fittiche nahmen, hofften sie, den in ihrer Sicht bedrohlichen Entwicklungen die Spitze abzubrechen. Diese Koalition kam Virchow schließlich auch zu Hilfe, als ihm Froriep Ende 1845 signalisierte, dass er sein Amt als Prosektor der Charite aufgeben wolle und ihn als Nachfolger wünsche. 17 Eine derartige Ernennung kam ungewöhnlich früh. Virchow empfahl sich selbst bei Kultusminister Karl Friedrich Eichhorn und argumentierte dabei vor allem mit den wissenschaftlichen Erfordernissen der Medizin, insbesondere der pathologischen Anatomie, deren Weiterentwicklung die Verbindung von mik54
roskopischen und chemischen Untersuchungen mit klinischen Erfahrungen erfordere. 188 In einer Bitte um eine persönliche Audienz bei Kultusminister Eichhorn setzte der 24-jährige Virchow hinzu: „Die Bedeutung, welche diese Sache nicht blos für mich, sondern, wie es mir scheint, auch für unsere Wissenschaft hat, wird vielleicht auch in Ihren Augen einigermaßen meine Zudringlichkeit entschuldigen helfen." 189 Sein selbst von guten Freunden gelegentlich als exzessiv kritisiertes Selbstbewusstsein 190 stützte sich in erster Linie auf seine Selbsteinschätzung als wissenschaftlicher Innovator. Doch nährte es sich auch aus der Protektion, die Virchow vor allem seitens der Spitzen der preußischen Militärmedizin erfuhr. Dabei kam ihm auch ihr Machtkampf mit der Zivilmedizin zugute: So handelte es sich für die preußische Militärmedizin bei der Besetzung der Prosektur mit Virchow, den sie als einen der ihren ansah, um einen wichtigen „Schachzug (...) gegen ein Eindringen von Zivilärzten" 1 Das Kultusministerium entschloss sich deshalb nach einigem Zögern dazu, Virchow im Mai 1846 die Prosektorenstelle an der Charite zunächst provisorisch 192 und zum April des folgenden Jahres interimistisch zu übertragen, und somit leitete er nun als Nachfolger Frorieps das dortige Leichenhaus. Damit verbunden war seine Entlassung aus dem militärärztlichen Dienst. 193 Anfang 1846 hatte Virchow auch sein Staatsexamen abgelegt, das zu dieser Zeit erst nach erfolgter Promotion angetreten werden konnte und zudem gleichfalls mit hohen Kosten verbunden war. Allerdings handelte es sich um eine gute Investition, da Virchow anschließend berechtigt war, Privat-Kurse zu halten und damit über eine neue Einnahmequelle verfügte. Das Jahr 1847 bildete für Virchows finanzielle Situation deshalb eine wichtige Zäsur, weil er nach seiner im Vorjahr zunächst provisorisch erfolgten Anstellung als Prosektor der Charite diese Position auf Widerruf erteilt bekam. Er bezog nun eine größere Dienstwohnung, die ihm mit Heizung und Kost frei gestellt wurde und erhielt vom 1. Januar an 300 Taler jährlich als Vergütung. Im Februar 1847 genehmigte das preußische Kultusministerium auch Virchows Antrag auf vorzeitige Meldung zur Habilitation, die sonst erst drei Jahre nach erfolgter Approbation als praktischer Arzt hätte erfolgen können.' 4 Noch im selben Jahr wurde er unter dem Vorsitz des Dekans Johannes Müller an der Friedrich-Wilhelms-Universität zum Privatdozenten habilitiert. So bezog er nunmehr auch Einnahmen aus seiner im April 1847 erstmals gehaltenen pathologisch-anatomischen Vorlesung, die allerdings im Revolutionsjahr 1848 wieder rückläufig waren.195 Damit stand er erstmals finanziell auf eigenen Beinen. Nunmehr drehte sich auch das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater: Virchow schickte ihm von nun an bis zu dessen Tod im Jahre 1864 regelmäßig Geld. Die ersten Jahre tat er dies mit einigem Stolz und freiwillig, doch begann er später immer lauter über dieses anscheinend bodenlose Fass zu murren, zumal sein Vater die Zuwen-
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düngen seines nach seiner Auffassung gut verdienenden Sohnes immer heftiger einforderte. 16 Zu der ungewöhnlich schnellen Karriere Virchows bis zum Vorabend der Revolution hatte schließlich auch beigetragen, dass er im Kultusministerium gleichfalls wichtige Förderer besaß, namentlich den schon erwähnten vortragenden Rat und geheimen Medizinalrat Joseph Hermann Schmidt.197 Dieser hatte im Sommer des Jahres 1846 selbst eine pseudoradikale Schrift über die Medizinalreform verfasst 1 und gehörte damit zu jenen Kräften in der preußischen Bürokratie, die auf begrenzte Reform zur Abwehr der politischen Krise setzten. 19 Schmidt kritisierte unter anderem das bestehende System der Trennung in einen militärischen und zivilen Zweig der Medizin sowie das damit verbundene Modell der Rotation der Militär-Assistenzärzte an der Charite. In dieser auf Generalisten zielenden Ausbildung sah Schmidt die Wurzel der wissenschaftlichen Bedeutungslosigkeit der Charite, wovon etwa die Tatsache zeuge, dass dort trotz des reichlich vorhandenen klinischen Materials weder eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift existiere, noch wissenschaftliche Monographien hervorgebracht würden. Deshalb forderte er die Aufhebung der Trennung in Militär- und Zivilmedizin, Wettbewerb um die Assistentenstellen und vor allem Spezialisierung, um mit dem Niveau der Wiener und Pariser medizinischen Schulen gleichziehen zu können. „Eine gründliche Radical-Cur", so Schmidt, „ist nicht länger aufzuhalten. D i e beiden größten Mächte unseres Staates, die H e e resmacht und die Macht der Wissenschaft, dürfen und können keinen Krieg gegeneinander führen. Ein erleuchteter hochherziger Monarch an der Spitze beider wird die Wahrheit ehren, den Irrthum sichten und verfügen, was zu beider Bestem ist.
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Schmidt, der in seinen Überlegungen die Freiheit der Gelehrtenrepubhk mühelos mit der monarchischen Prärogative vereinigte, betrachtete bei seinem Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit der preußischen Medizin das aufstrebende Talent Virchow anfänglich als willkommenen Verbündeten. Der anscheinend erstaunliche Langmut der preußischen Kultusbürokratie und Militärmedizin gegenüber dem gelegentlich mit bemerkenswerter Arroganz auftretenden Virchow resultierte also auch aus einer im Vormärz stark vorhandenen Bereitschaft, wissenschaftliche Innovation zu prämieren. Im Herbst 1846 schickte Schmidt seinen Protege auf eine Studienreise nach Prag und Wien, um sich dort über den Stand der pathologischen Anatomie und ihrer benachbarten Disziplinen zu informieren und ließ ihm dazu eine außerordentliche Zuwendung von 150 Talern zukommen. 201 Zu dieser Zeit hoffte Virchow, mit Hilfe seines Gönners in wenigen Jahren eine außerordentliche Professur zu erlangen.202 In seinem im Dezember 1846 vorgelegten Reisebericht für Kultusminister Eichhorn formulierte er ein umfassendes disziplinäres Programm der pathologischen Anatomie und verband dies mit 56
präzisen Forderungen zu seiner Umsetzung: Im Mai 1847 erhielt der 25-Jährige auch eine Audienz bei Kultusminister Eichhorn, der ihm „sehr bereitwillig (versprach), auch fernerhin für mich zu sorgen" und der, wie Virchow beschrieb, geduldig zuhörte, als er ihm erklärte, „warum unsere Medicin nicht vorwärts komme und wie ihr aufzuhelfen sei."203 Zwar gelang es Virchow nicht, im ersten Anlauf zur Realisierung seines disziplinären Programms zu gelangen, da das preußische Kultusministerium seinen Plan zunächst zu den Akten legte. Seine wissenschaftliche Karriere knüpfte jedoch langfristig daran an. Virchows Selbststilisierung zum wissenschaftlichen Neuerer, die den Gegensatz zu älteren medizinischen Auffassungen rhetorisch dramatisierte, ergänzte die Profilierung durch wissenschaftliche Kritik anerkannter Autoritäten. Er steigerte damit sein Renommee in kurzer Zeit ganz erheblich. Davon zeugt insbesondere seine 1846 während seines Staatsexamens geführte Auseinandersetzung mit dem Haupt der „Wiener Schule" Carl von Rokitansky (1804-1878), der seine Kenntnisse auf mehr als 30.000 Autopsien stützte. Der Inhaber des 1844 begründeten ersten Lehrstuhls für pathologische Anatomie an einer deutschsprachigen Universität hatte in seinem 1842 bis 1846 erschienenen Handbuch der pathologischen Anatomie versucht, die ganze Pathologie in Blutkrankheiten, sogenannte Dyskrasien, einzuteilen, womit die Wiederaufnahme humoralpathologischer Vorstellungen verbunden war, die freilich den Zeitgenossen „ultramodern, fortschrittlich und wissenschaftlich"2 4 erschien. Aus der Nachsicht von 1861 schrieb Virchow, der dazu neigte, wissenschaftliche Schulen mit politischen Richtungen zu identifizieren,2 dass die Humoralpathologie die Medicin bedroht habe, „wie gleichzeitig der Socialismus in seiner doctrinärsten Form die Gesellschaft und den Staat."2 6 Virchow, der selbst einen solidarpathologischen Ansatz verfolgte, gelang es - vor allem mit Hilfe von Tierversuchen an Hunden - , Rokitanskys Auffassung zu widerlegen und trug damit dazu bei, dass dieser die kritisierten Stellen in Neuauflagen seines Werkes stillschweigend strich.207 Indem er damit an einer der Säulen der Vorherrschaft der „Wiener Schule" kratzte, diente er gleichzeitig den Interessen der preußischen Kultusbürokratie wie auch seiner eigenen Karriere. Dies schlug sich auch in der Einschätzung nieder, die er 1847 seinem Vater gegenüber erläuterte, der ihn zu mehr Dankbarkeit gegenüber dem König aufgefordert hatte, nachdem Virchow die Prosektorenstelle an der Charite erhalten hatte. Die Vorteile aus dieser Veränderung seien für ihn nicht größer als die, die der Staat daraus beziehe: „wenn ich irgend w e m dankbar zu sein nöthig habe, so ist es erstens der Zufall, zweitens Froriep, drittens einige Freunde. D e m Medicinalstab (...) bin ich dankbar, obwohl ich es nicht nöthig hätte (...) Ich bin ferner Schmidt dankbar, obwohl auch der nur so gehandelt hat, weil er fand, dass ihm die Wahl E h r e macht."
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Hingegen sah er sich frei davon, „gegen die Krone Verpflichtungen zu haben", da er lediglich Charite-Beamter, und nicht Staatsbeamter sei.208 Im Gefolge der Ausrichtung auf das neue forschungsorientierte Wissenschaftsideal, wie es im Gefolge der Humboldtschen Universitätsreform zur regulativen Idee geworden war, wurden auch die karrierenotwendigen Kontakte und Beziehungen in höherem Maße zu einem leistungsabhängigen Faktor, der die Bedeutung von „Nepotismus und Connaisance" 209 wenigstens dem Ideal nach zurückdrängen sollte. Deshalb setzte Virchow auch hier auf systematische Investitionen. So berichtete er seinem Vater über eine ausgedehnte Reise durch Deutschland, Belgien und Holland im Herbst 1847, dass deren wissenschaftlicher Ertrag „den nicht unbedeutenden Geldausgaben vollkommen" entspreche: „Ich kenne jetzt fast alle deutschen Universitäten u. den grössten Teil der deutschen, medicinischen Grössen, u. was nicht minder wichtig ist, sie kennen mich." 210 Dabei konzentrierte er sich in seinen Bemühungen nicht allein auf die Scientific community, sondern zog den Kreis bewusst weit und bezog auch das Laienpublikum mit ein. So hielt er 1847 neben seinem gewöhnlichen Universitätskurs für Medizinstudenten noch einen zweiten für praktische Arzte, in dem Geheimräte, Medizinalräte und alte und junge Praktiker vertreten war: „Es gehört nun einmal eine gewisse Popularität dazu, um eine junge medizinische Schule zur Geltung zu bringen." Aufmerksam registrierte er dabei die Wirkung seiner diesbezüglichen Bemühungen in der Fachwelt wie im Berliner Bürgertum. 2 " Virchows Fähigkeit, sich auf die wachsende Karrierebedeutung der wissenschaftlichen ebenso wie einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit einzustellen, kam in der vormärzlichen politischen Situation, in der Teile des Establishments nach Wegen begrenzter Reform suchten, um die gefährlichen Spannungen zu kanalisieren, wirkungsvoll zum Tragen. Der Ausbruch der Revolution in Berlin im März 1848 sollte dieses prekäre Bündnis jedoch schwer belasten und zugleich zu einer Neubestimmung der personalen wie professionellen Identität Virchows führen.
2. Der „ganze Mensch": Virchow in der Revolution von 1848 Die Revolution 1848 bildet einen tiefen Einschnitt für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Viele Naturwissenschaftler und Ärzte sahen in dieser nicht allein eine Bestätigung ihrer Zukunftserwartungen, sondern nahmen sie auch als Chance wahr, eigene professionelle und soziale Ambitionen zu realisieren. Zugleich diente die Revolution vielfach als Herausforderung, wissenschaftliche Theorie in Praxis zu überführen und naturwissenschaftliche Autorität auf die Erklärung und Gestaltung gesellschaftlicher 58
Hingegen sah er sich frei davon, „gegen die Krone Verpflichtungen zu haben", da er lediglich Charite-Beamter, und nicht Staatsbeamter sei.208 Im Gefolge der Ausrichtung auf das neue forschungsorientierte Wissenschaftsideal, wie es im Gefolge der Humboldtschen Universitätsreform zur regulativen Idee geworden war, wurden auch die karrierenotwendigen Kontakte und Beziehungen in höherem Maße zu einem leistungsabhängigen Faktor, der die Bedeutung von „Nepotismus und Connaisance" 209 wenigstens dem Ideal nach zurückdrängen sollte. Deshalb setzte Virchow auch hier auf systematische Investitionen. So berichtete er seinem Vater über eine ausgedehnte Reise durch Deutschland, Belgien und Holland im Herbst 1847, dass deren wissenschaftlicher Ertrag „den nicht unbedeutenden Geldausgaben vollkommen" entspreche: „Ich kenne jetzt fast alle deutschen Universitäten u. den grössten Teil der deutschen, medicinischen Grössen, u. was nicht minder wichtig ist, sie kennen mich." 210 Dabei konzentrierte er sich in seinen Bemühungen nicht allein auf die Scientific community, sondern zog den Kreis bewusst weit und bezog auch das Laienpublikum mit ein. So hielt er 1847 neben seinem gewöhnlichen Universitätskurs für Medizinstudenten noch einen zweiten für praktische Arzte, in dem Geheimräte, Medizinalräte und alte und junge Praktiker vertreten war: „Es gehört nun einmal eine gewisse Popularität dazu, um eine junge medizinische Schule zur Geltung zu bringen." Aufmerksam registrierte er dabei die Wirkung seiner diesbezüglichen Bemühungen in der Fachwelt wie im Berliner Bürgertum. 2 " Virchows Fähigkeit, sich auf die wachsende Karrierebedeutung der wissenschaftlichen ebenso wie einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit einzustellen, kam in der vormärzlichen politischen Situation, in der Teile des Establishments nach Wegen begrenzter Reform suchten, um die gefährlichen Spannungen zu kanalisieren, wirkungsvoll zum Tragen. Der Ausbruch der Revolution in Berlin im März 1848 sollte dieses prekäre Bündnis jedoch schwer belasten und zugleich zu einer Neubestimmung der personalen wie professionellen Identität Virchows führen.
2. Der „ganze Mensch": Virchow in der Revolution von 1848 Die Revolution 1848 bildet einen tiefen Einschnitt für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Viele Naturwissenschaftler und Ärzte sahen in dieser nicht allein eine Bestätigung ihrer Zukunftserwartungen, sondern nahmen sie auch als Chance wahr, eigene professionelle und soziale Ambitionen zu realisieren. Zugleich diente die Revolution vielfach als Herausforderung, wissenschaftliche Theorie in Praxis zu überführen und naturwissenschaftliche Autorität auf die Erklärung und Gestaltung gesellschaftlicher 58
Vorgänge anzuwenden. Dies gilt namentlich für Virchow, der in dieser Zeit die neuartige Rolle des .engagierten' Wissenschaftlers einnahm.212 Er stürzte sich 1848/49 neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit intensiv in die Politik, wobei seine politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten oftmals unmittelbar ineinander übergingen, um schließlich den gesellschaftlichen Autoritätsanspruch der naturwissenschaftlichen Medizin vollends mit demokratischen Gesellschaftskonzeptionen zu verbinden. Virchow engagierte sich unter anderem in den Reihen des Berliner demokratischen Vereinswesens sowie in der Hochschul- und der Medizinalreformbewegung, während er gleichzeitig seine wissenschaftlichen Forschungen, seinen Unterricht und die ärztliche Tätigkeit an der Charite fortsetzte. Dies führte im Gefolge der gegenrevolutionären politischen Unterdrückung zu Beginn des Jahres 1849 zu einer kritischen Situation für seine wissenschaftliche Karriere, aus der ihn ein Ruf nach Würzburg schließlich befreite. Auf welchen intellektuellen, sozialen und politischen Voraussetzungen beruhte die Entstehung des Modells des .engagierten' Wissenschaftlers während der Revolution? Welche Erwartungen verbanden sich mit diesem? Und welche Rolle spielte es für die Selbstdefinition Virchows? Und welche Konflikte bestanden dabei zwischen der Rolle des Naturwissenschaftlers bzw. Arztes und der des Politikers?
a) Die oberschlesische T y p h u s - E p i d e m i e In den Jahren 1846/47 forderte eine Typhusepidemie, die vor allem in den Kreisen Rybnik und Pless wütete, etwa 16.000 Todesopfer unter der von einer schweren Hungersnot geschwächten Bevölkerung Oberschlesiens. An der Auseinandersetzung um dieses Ereignis erwies sich die wachsende Bedeutung der sich im Vormärz entwickelnden öffentlichen Meinung sowie die Rolle, die wissenschaftliche Autorität in diesem Zusammenhang zu spielen begann. Die preußische Bürokratie war geneigt, diese Katastrophe als unbedeutendes Ereignis herunterzuspielen und unterließ es lange Zeit, geeignete Hilfsmaßnahmen zu initiieren. Gleichzeitig versuchte sie, alle diesbezüglichen Nachrichten zu unterdrücken. Als diese Desinformationspolitik aber schließlich scheiterte und die öffentliche Empörung über die skandalösen Verhältnisse in Oberschlesien immer lauter wurde, drohte diese Epidemie zum Menetekel des Versagens der vielgerühmten preußischen Bürokratie zu werden. Dies verstärkte die Erosion der vor allem durch das Ausbleiben der versprochenen Verfassung ohnehin schon angeschlagenen Legitimität des preußischen Staates.213 Die preußische Bürokratie musste dabei in einem für sie äußerst schmerzhaften Prozess lernen, dass die öffentliche Meinung Definitionsmacht über die Bedeutung eines derartigen Vorgangs in einer scheinbar weit ab von jeder Aufmerksamkeit gelegenen Provinz errungen hatte. 59
Virchow drückte somit eine verbreitete Stimmung aus, als er rückblickend feststellte, dass sich in Preußen, das so stolz auf seine Gesetze und seine Beamten war, angesichts der Seuche Gesetze und ebenso die Resultate bürokratischen Handelns als bloßes „beschriebenes Papier" erwiesen hätten: „Der ganze Staat war allmählich ein papierner, ein großes Kartenhaus geworden, und als das Volk daran rührte, fielen die Karten in buntem Gewirr durcheinander."214 Der noch ungewohnte Druck der Öffentlichkeit ließ die preußische Bürokratie schließlich nervös werden: Am Vorabend der Revolution setzte Kultusminister Eichhorn auf dringendes Anraten des Geheimen Obermedizinalrats Stephan Barez eine ärztliche Untersuchungskommission ein, um, wie dieser ausdrücklich hervorgehoben hatte, dem zunehmenden Druck der öffentlichen Meinung und insbesondere des „ärztlichen Publicums"215 zu begegnen. Dass Eichhorn neben dem Initiator dieses Unternehmens, Barez, ausgerechnet Virchow als weiteres Mitglied dieser Kommission auswählte, um die Ursachen der Epidemie zu untersuchen und die lokalen Behörden bei der Bekämpfung der Seuche zu beraten, zeigt das große Vertrauen, das die preußische Kultusbürokratie in ihn setzte. Vielleicht hoffte sie aber auch, gerade durch die Wahl des als kritischer Vertreter einer modernen, naturwissenschaftlichen Medizin bereits bekannten Virchow der öffentlichen Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bestand das Ziel des Unternehmens somit ursprünglich darin, mit Hilfe der wissenschaftlichen Autorität zweier angesehener Ärzte die angeschlagene Reputation der preußischen Bürokratie zu retten, so war jene „Vermischung" von Wissenschaft und Politik, die Virchow später als zentrale Folge dieser Mission für sich benannte,216 damit bereits von vornherein hergestellt. Der Aufbruch der kleinen Kommission am 20. Februar 1848 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die politischen Spannungen, die wenige Tage später in Paris zu einem ersten revolutionären Ausbruch führten, bereits ein erhebliches Ausmaß erreicht hatten. In Preußen hatten die eng miteinander verwobenen politischen, sozialen und ökonomischen Krisen bereits im Vorjahr in der wegen der Finanzierungsnöte der preußischen Ostbahn notwendigen Einberufung des Vereinigten Landtags und der sogenannten Berliner „Kartoffelrevolution" erste Höhepunkte gefunden. In den Briefen Virchows an seinen Vater drückte sich die zeitgenössische Erwartungshaltung aus, in der diese Vorgänge als Anzeichen einer über kurz oder lang anstehenden tiefgreifenden Veränderung des preußischen politischen Systems gewertet wurden.21 Virchow brach somit im Bewusstsein einer europaweiten politischen Krisensituation auf, in der umstürzende Ereignisse in der Luft lagen.219 Die Reise führte zunächst mit der Eisenbahn, dann mit der Pferdekutsche von Berlin nach Ratibor, Rybnik und Sorau. Barez trat bereits am 29. Februar die Heimreise an, während Virchow erst am 10. März zurückkehrte. Die Schil60
derungen, die Virchow in dieser Zeit an seinen Vater schickte, erinnern in mancherlei Hinsicht an heutige Berichte über Katastropheneinsätze in Ländern der „Dritten Welt" 2 2 : Ausgiebig ist die Rede von einer Bevölkerung, die in drastischen Farben als gleichermaßen ausgezehrt wie indolent geschildert wird, wobei Mitleid und Ekel beim Beschreiben der „schrecklichen Jammergestalten" sich abwechselten, vom Versagen der lokalen Behörden und vom schließlich einsetzenden überstürzten Wettlauf der Hilfsorganisationen, die unter den Augen einer durch empörte Zeitungsberichte mittlerweile aufgeschreckten Öffentlichkeit nunmehr ihre Rettungsaktionen vollzogen. Dabei blieben die plötzlich im Uberfluss vorhandenen Hilfsmittel vielfach im „unergründlichen Dreck dieser Landstraßen" liegen. Virchow beschrieb seine Erfahrungen mit einem quasi-kolonialen Blick: „Wir sind wie in feindlichem Lande; die Aerzte insbesondere disponiren nach Belieben über alle Mittel u. legen niemand Rechnung ab."2"1 Inmitten des drastisch geschilderten Hungers und Elends der Bevölkerung war für die kleine Expedition gut gesorgt: „Es giebt hier gutes Bier, Ungarwein, passabel gute Speisen, gutes Brod, Kaffee pp.; genug wir können über Nichts klagen." 22 Zunächst dienten solche Berichte natürlich der Beruhigung der besorgten Eltern. Darüber hinaus spiegeln sich hier zum einen zeitgenössische pauperistische Erklärungsmodelle wider, in denen ein Zusammenhang von Geldmangel und Lebensmittelknappheit hergestellt wurde. Zum anderen verriet Virchow damit aber auch seinen Stolz auf die eigene respektable Stellung als Experte im Regierungsauftrag. Dies zeigte sich noch deutlicher, als schließlich Graf Hochberg, der die Herrschaft über den von der Epidemie schwer getroffenen Kreis Pless geerbt hatte und sich bei den Hilfsmaßnahmen sehr hervortat, die beiden Forschungsreisenden auf seinem Schloss aufnahm, wo sich Virchow auf das Beste versorgt fühlte: „Die Diners des Grafen, bei denen namentlich die ausgesuchtesten Weine u. frische Gemüse (Spargel, Kohlrabi, Radieschen) zu finden waren, behagten uns außerordentlich." Besonders rühmte er auch die erlesene Tischgesellschaft, bildeten doch Prinzen, Zivil- und Militärkommissare, ein Landrath, ein Justizdirektor und schließlich der Kammerherr des Grafen eine angenehme Tafelrunde. 224 Während Virchow so seine behagliche Stellung und die damit verbundene gesellschaftliche Anerkennung genoss, sparte er gleichzeitig nicht mit Kritik am Versagen der staatlichen Behörden, die auf die Katastrophe viel zu spät und kopflos reagiert hätten, sowie an der katholischen Kirche, der er die Hauptschuld an der von ihm angeprangerten fatalistischen Haltung der Bevölkerung gab. Die Wirkung der jetzt hereinströmenden Hilfsleistungen sei daher fraglich: „Wie es aber nachher werden wird, wenn man diese faule u. indolente Bevölkerung 6 Monate lang gefüttert hat, kann noch niemand beurtheilen." 225 Die Seuche erschien hier als Produkt einer Mischung aus 61
sozialer Not und staatlichem Missmanagement. Kritik der preußischen Bürokratie und der katholischen Kirche gepaart mit Verachtung für das katholische Volk bildeten Grundzüge seiner Analyse der oberschlesischen Misere, ohne dass er hier bereits jene auf radikale politische Veränderungen zielenden Vorschläge zur Abhilfe jener Missstände vorgebracht hätte, die seinen mehrere Monate später, nach vielfachen Mahnungen des Kultusministeriums schließlich abgegebenen Bericht prägen sollten. Im Juli 1848 legte er auf Drängen der Medicinalabteilung des Kultusministeriums zunächst eine erste, kurze Fassung seines Berichts über die oberschlesische Typhus-Epidemie vor, an dem er seit dem Frühjahr gearbeitet hatte.226 Bald darauf folgte die Veröffentlichung einer ausführlichen Fassung in dem von ihm herausgegebenen Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin, die er dem neuen Kultusminister Adalbert von Ladenberg im August vorlegte. Virchow wollte dort vor allem zeigen, „wie die Regierung durch die ungeheuerste Vernachlässigung dieses Landes, durch eine gleich saumselige innere und äußere Politik sowohl die geistige als die materielle Hebung des Volkes unmöglich gemacht hat"227, und so war sein Bericht eine hart formulierte Anklageschrift gegen preußische Bürokratie und katholische Hierarchie. Oberschlesien wurde hier als ein Körper betrachtet, den er mit dem Blick des Pathologen analysierte. Dabei sprach er von der Warte des sich im Besitze universaler Wahrheit befindenden Naturwissenschaftlers: Sein Anschreiben an das Ministerium hob hervor, dass seine naturwissenschaftliche Erkenntnis mit dem allgemeinen Interesse der Menschheit identisch sei. Doch wusste die von ihm angesprochene preußische Kultusbürokratie den großzügig gereichten Rat nicht recht zu schätzen. Hermann Lehnert, Geheimer Regierungs- und Vortragender Rat im Preußischen Kultusministerium, vermerkte auf dem von Virchow eingesandten Exemplar des Oberschlesien-Berichts, ihm erscheine „diese sg. Freimüthigkeit als totale Befangenheit in thörichten Hirngespinsten; ich hätte Virchow verständiger gehalten; er ist ein republikanischer Schwärmer ohne republikanische Tugend. Schade um das Talent." In den Augen Lehnerts hatte sich Virchow, der einstige Hoffnungsträger im Rahmen der Bemühungen der preußischen Bürokratie, durch begrenzte Modernisierung von oben die politischen und sozialen Spannungen unter Kontrolle zu bekommen, somit von dieser Leine losgerissen. Doch räumte er zugleich ein, „dass die Schrift auch viel Wahres und der sorgfältigsten Berathung Werthes enthält", ohne jedoch dessen Vorschläge für brauchbar zu erachten.229 Bissig reagierte Lehnert insbesondere auf die dort vertretene Verbindung demokratischer und paternalistischer Ideen. So wollte Virchow das seine freien Tage „dem Müßiggange, der Faulheit, der Indolenz" widmende oberschlesische Volk unter Vormundschaft stellen, um ihm die „Bedeutung der Freiheit, der Selbständigkeit" zu zeigen
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und es zu lehren, „dass Wohlstand und Bildung die Töchter der Arbeit, die Mütter des Wohlseins sind." Dieser Text demonstrierte die Ambivalenz des demokratischen Verhältnisses zu den „Massen", die einerseits als Quelle der Volkssouveränität, andererseits aber als unfähig zur Selbstbildung betrachtet wurden und deshalb einem angeleiteten Erziehungsprozess unterworfen werden sollten - eine Tendenz, die sich mit dem aus Virchows Sicht misslichen Ergebnis der Revolution noch erheblich verstärken sollte. So schrieb sein enger politischer Mitstreiter Gustav Siegmund 1849 in einem Rückblick auf die Revolution: „Wir dürfen nicht vergessen, wir stehen noch in einer Masse, für welche die humane Cultur erst geschaffen werden muss." Lehnen kommentierte den auch in Virchows Vorschlägen offen zutage tretenden Widerspruch von Vormundschaft und Volkssouveränität am Rand seines Exemplars des Oberschlesien-Berichts: „Virchow müsste sofort Bezirkspräsident von Oberschlesien werden! (...) Demokrat! Bevormundung!" 1 Virchows Oberschlesien-Bericht wurde deshalb als Paradebeispiel für den Versuch von Ärzten interpretiert, sich dem Staat als Büttel einer präventiven Sozialpolitik anzubieten, die durch Medikalisierung und Sozialdisziplinierung der pauperisierten Unterschichten den sozialen Desintegrationsprozess aufzufangen und zu kontrollieren versprach.232 Diese Argumentation läuft letztlich auf die Annahme einer gemeinsamen Verschwörung von Sozialmedizinern und Staat gegen die Unterschichten zum Zwecke ihrer .bürgerlichen Verbesserung' hinaus. Doch harmonisiert dies das Verhältnis zwischen bürokratischen und demokratischen Reformern: Zwar appellierten sozialmedizinisch gesinnte Arzte wie Virchow auf der einen Seite an den Staat, der als Exekutor des geplanten Aufklärungswerks dienen sollte. Auf der anderen Seite entsprach nach seiner Ansicht der auf dem „christlich-germanischen Prinzip" beruhende preußische Staat nicht mehr der gegenwärtigen Kulturstufe, und so sei es die Aufgabe der Wissenschaft, den Staat, der ja „nichts weiter" sei, „als der lebendige Ausdruck des wissenschaftlichen Zeitbewusstseins", dementsprechend zu verändern.233 Das sozialmedizinische Konzept Virchows, welches in den oberschlesischen „Massen" das Objekt eines tiefgreifenden Erziehungsprozesses sah, ließ sich nicht mehr in den Rahmen der durch die preußische Bürokratie zu rettenden Ordnung einbinden, auch wenn sich diese zu dieser Aufgabe in die Dialektik von Reform und Stabilisierung hineinbegeben hatte.234 Die in Virchows Oberschlesien-Bericht abgegebene Diagnose der Typhus-Epidemie diente ideologischen Zwecken, „die weniger mit der Realität von Gesundheit und sozialen Verhältnissen in Oberschlesien zu tun hatten," sondern mit der politischen Perspektive der demokratisch-republikanischen Bewegung. So zitierte er als politische Autoritäten radikale Demokraten wie den Begründer des Deutschkatholizismus Johannes Ronge und den Rechtsanwalt und badischen Revolutionär Gustav von Struve. 6 Die 63
Epidemie in Oberschlesien bildete für Virchow ein Exempel für den desolaten Zustand der gegenwärtigen politischen und sozialen Verhältnisse, und die von ihm für diesen Fall angezeigten Gegenmittel waren gleichzeitig auf ganz Preußen anzuwenden. Im September 1848 kam er dem Wunsch der Ziegenrücker Wahlmänner für die Preußische Nationalversammlung auf Erläuterung seines politischen Programms nach, indem er sie vor allem auf seinen Oberschlesien-Bericht verwies. Dort habe er seine Grundsätze formuliert, wonach er „die Freiheit, den Wohlstand und die Bildung aller Staatsbürger" wolle, und die Verwirklichung dieser Forderungen „in dem demokratischen Staat, in der freien Gemeinde, u. den staatlich beschützten Associationen suche."237 So ist Virchows Oberschlesien-Bericht nicht nur als ein Schlüsseldokument der Sozialmedizin zu lesen, sondern auch als politisches Programm, in dem demokratische Weltanschauung und ärztlicher Autoritätsanspruch eine enge Verbindung eingingen.
b) Die Organisation der politischen Öffentlichkeit Nach seiner Rückkehr aus Oberschlesien am 10. März geriet Virchow bald in die revolutionäre Bewegung hinein. Während der Straßenkämpfe am 18. März beteiligte er sich am Barrikadenbau in Berlin. In der darauf folgenden Zeit stürzte er sich neben seiner fortgesetzten wissenschaftlichen Tätigkeit in eine Vielzahl politischer Aktivitäten. Seine politische Verortung in dieser Zeit durch die spätere Historiographie unterlag dabei dem Bemühen, ihn für bestimmte Traditionslinien zu vereinnahmen: Herrschte in der bundesrepublikanischen und angelsächsischen Forschung die Tendenz, Virchow auch während der Revolution in die Kontinuität des Liberalismus zu stellen, so betonte die marxistische bzw. die DDR-Forschung umgekehrt den Bruch zwischen dem „kleinbürgerlichen Revolutionär" der Revolutionszeit und dem späteren Reaktionär.240 Tatsächlich konkretisierte und radikalisierte Virchow während der Revolution seine zuvor noch diffusen politischen Vorstellungen: Hatte er sich im Vormärz noch als Mitglied einer diffusen „Partei des Fortschritts" betrachtet, so engagierte er sich nunmehr bei den radikalen Demokraten. Virchow stellte Ende des Jahres 1848 selbst die rhetorische Frage: „Denn wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhänger fand, als unter den Ärzten, dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen?"241 Ein Blick auf die Parlamente des Jahres 1848/49 lässt allerdings eine größere Zurückhaltung gegenüber dieser Gleichsetzung von ,Arzt' und .links' ratsam erscheinen. Von den 15 Ärzten, die in der Frankfurter Nationalversammlung saßen, lassen sich acht der Linken zurechnen.242 Unter den 395 64
Abgeordneten der Berliner Nationalversammlung befanden sich 12 Ärzte, von denen fünf der von dem Königsberger Arzt Johann Jacoby geleiteten demokratischen Fraktion angehörten. 243 Wie das Beispiel Jacobys zeigt, fanden sich aber Ärzte an besonders exponierter Stelle unter den Demokraten, und zudem ergaben sich regional besondere Verhältnisse. So sollen etwa bei einer Wahlmännerwahl in der Charite während der Revolution von 55 gewählten Ärzten 47 Demokraten gewesen sein.244 Erwin Ackerknecht behauptete deshalb, ähnlich wie schon Virchow, eine „innere Gesetzmäßigkeit", „die in einer gewissen Epoche den Arzt und den radikal kleinbürgerlich-demokratischen Politiker in einer Person zusammentreffen lassen", die in „jenen materialistischen, demokratischen, sozialen Zügen des Arztberufes" liegen, „die ihm mit dem politischen Radikalismus von 1848 gemein" seien245. Hier ordnete er jedoch das historische Material einer geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise unter, denn auch wenn von denjenigen Ärzten, die sich 1848/49 aktiv an der politischen Bewegung beteiligten, sich viele auf dem linken Flügel befanden, interessierte sich doch die Mehrzahl der Ärzte in dieser Zeit nicht für genuin demokratische Ziele. 46 Auch eine andere Gruppe, der Virchow angehörte, wurde vielfach der Neigung zu radikalen demokratischen Positionen verdächtigt, nämlich die der Privatdozenten. Den zeitgenössisch hergestellten Zusammenhang von politischer Einstellung und sozial ungeschütztem Status formulierte ein Spottgedicht um 1848: „Privatdozent ist krank und bleich, / an Hunger und an Durst nur reich; / schreibt Bücher dick, jahraus, jahrein, / und niemand will Verleger sein. (...) Weil ihn nicht zahlen tut der Staat, / wird er ein roter Demokrat" 47. Was aber Virchow betrifft, so war er bei Ausbruch der Revolution zwar Arzt und Privatdozent und bald danach auch radikaler Demokrat, doch lässt sich hier gleichwohl kein Kurzschluss von wahrgenommenem oder tatsächlichem prekären sozialen Status zu radikalen politischen Ansichten ziehen. Zwar hatte Mitte der vierziger Jahre Virchows Selbsteinschätzung als .akademischer Proletarier' entscheidend zu seiner Politisierung und Radikalisierung beigetragen. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Revolution in Berlin im März 1848 konnte er allerdings damit rechnen - und tat dies auch - , dass er auch unter den bislang bestehenden Verhältnissen eine schnelle Karriere machen würde. Allerdings erwartete er sich von der Revolution zunächst gleichfalls positive Effekte für seine professionellen und sozialen Ambitionen. Die Ernennung des Grafen Schwerin zum Kultusminister am 19. März im neuen Kabinett des Staatsministers von Arnim-Boitzenburg kommentierte Virchow am selben Tag seinem Vater gegenüber, dass er und seine ihm nahestehenden Kollegen um den Kreis um den Geheimen Rat Mayer sich beeilen würden, „für die wissenschaftliche u. praktische Medicin den möglichsten Vortheil davon zu ziehen. Uebrigens kannst Du Dich dar-
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auf verlassen, dass ich mich nicht nutzlos u. ohne Grund weder körperlich, noch in meiner Stellung aufopfern werde."248 Als ein Schlüsselerlebnis für seine politische Zuordnung beschrieb Virchow Jahrzehnte später eine Begegnung mit dem Führer der preußischen Demokratie und Obertribunalrat Benedikt Waldeck in der Berliner Konditorei Kranzler, wo er beim Zeitungslesen in eine Diskussion mit diesem geraten sei249 - Kaffeehäuser bildeten damals Zentren der politischen Kommunikation. Innerhalb des sich schnell ausdifferenzierenden politischen Vereins- und Parteienspektrums schlug sich Virchow auf die Seite der Demokraten, deren Forderungen sich um den „bürgerlich-demokratischen Erwartungsbegriff Republik" gruppierten und die sich dadurch von der liberalen Forderung nach konstitutioneller Monarchie absetzten.250 Dabei beharrte er nicht auf einer „Republik mit einem wählbaren Präsidenten", sondern wollte „auch einen erblichen d. h. einen König ohne Eigenschaften"251 akzeptieren, oder, wie er seinem Freund Wilhelm von Wittich etwas deutlicher schrieb: „noch brauchen wir eine Puppe an der Spitze"252. Deshalb sollte die geläufige Unterscheidung von gemäßigten und kompromisslosen Demokraten anhand des Kriteriums der Einstellung zur Frage eines erblichen Königs nur mit größter Vorsicht angewendet werden, da hier taktische Überlegungen eine große Rolle spielten.253 Ohnehin kam Virchow bald zu der Uberzeugung, dass sich die Hohenzollern niemals auf ein derartiges Modell einlassen würden und sah damit zugleich alle von liberaler Seite gehegten Hoffnungen auf eine konstitutionelle Lösung als aussichtslos an. Er teilte damit die Auffassung vieler radikaler Demokraten, dass am Ende der Revolution entweder die Republik oder eine Militärdespotie stehen würde.254 In Virchows medicinischer Reform wurde der durch den Liberalen Karl Theodor Welcker in der deutschen Nationalversammlung vertretenen Auffassung, wonach ein „constitutioneller Staat" bzw. ein „constitutionelles System" nichts anderes sei, „als der Rechtsstaat, ein rechtlicher Zustand in den Formen der heutigen Gesellschaft", ausdrücklich widersprochen. Demgegenüber hieß es dort, dass die Demokratie die Gesellschaft davon überzeugen wolle, ihre gegenwärtigen Formen zu verändern und zu „neuen, zeitgemäßen" Formen überzugehen, sei es doch ein Unrecht, dass „ganze Schichten der Bevölkerung ,ausser der Gesellschaft"' gesetzt seien." So erhielt der Streit um Republik oder konstitutionelle Monarchie seine Brisanz aus der Verknüpfung der verfassungspolitischen Frage mit der .sozialen Frage'. Und so erklärte Virchow seinem Vater, der sämtliche Ängste des alten Grundbesitzers und Bürgers aus der Provinz in sich vereinigte,
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„daß diese Revolution nicht eine einfach politische, sondern wesentlich eine sociale ist. Alles, was wir jetzt politisches
machen, die ganze Verfassung, ist ja nur die
F o r m , in welcher die sociale Reform zu Stande kommen soll, das Mittel, durch welches der Zustand der Gesellschaft bis in ihre Grundlagen umgestaltet werden soll. W e n n wir das Politische fertig haben, dann wird das große Werk erst anfangs; gen.
Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass Virchows politischer Erfahrungsraum in dieser Zeit der eines Wahlmannes eines Berliner Wahlbezirkes und nicht der eines Abgeordneten war. Das Gewicht der sozialen Fragen nahm um so mehr zu, je näher sich die Diskussion unmittelbar mit den Bedürfnissen der Bevölkerung auseinander zu setzen hatte und nicht im stärker von theoretischen Auseinandersetzungen geprägten Raum der Parlamente stattfand. Diese im Verlauf der Revolution immer stärker zunehmende kommunikative Kluft zwischen außerparlamentarischer und parlamentarischer Opposition thematisierte Virchow in einem Brief, als er von seiner Erfahrung als Redner bei einer Berliner Volksversammlung im Mai 1849 berichtete: „Die Proclamationen des Bundesausschusses sind so phrasenhaft u. dabei so breit getreten, dass man gar nicht durchkommt. Neulich wollte ich drei davon hintereinander vorlesen; schämte mich aber schon, als ich noch in der zweiten war. W a s diese A r t von Mittheilungen nutzen soll, sehe ich nicht recht ein. Ich meine, die müssen schwer sein, wie Hopliten (...)." 2 5 8
Sowohl in privaten wie öffentlichen Äußerungen distanzierte sich Virchow radikal vom liberalen Konstitutionalismus, der auf die „sozial eingeschränkte Staatsbürgergesellschaft"259 zielte. Die revolutionäre Bewegung dieser Zeit sei, so Virchow, eine „rein materielle". Damit schloss er sich der demokratischen Zielstellung an, die nach der egalitären Staatsbürgergesellschaft strebte. Die auf Legitimation und Partizipation zielende Forderung nach „Freiheit" und „Gleichheit" sollte deshalb durch die nach „Brüderlichkeit" - d. h. nach Umverteilung - ergänzt werden. Virchow bündelte dies in der griffigen Formulierung des badischen demokratischen Abgeordneten Gustav von Struve: „Wohlstand, Bildung und Freiheit für Alle!"260, die er auch als Lösung für die Probleme Oberschlesiens propagierte. Als zentrale Aufgabe wurde daher in Virchows medicinischer Reform die „Lösung der socialen Frage" benannt, die in der „Vernichtung des Pöbels" bestehen sollte: Dies könne allein dadurch erfolgen, „dass man ihn in die Gesellschaft aufnimmt, dass man ihn an den staatlichen, bürgerlichen, familienhaften Rechten und Genüssen Theil haben lässt. Mit dem Pöbel kann die Ruhe und Ordnung nie garantirt sein; das Interesse des Staats und der Gesellschaft verlangen in gleicher Weise die Auflösung des Pöbels, die U n m ö g lichkeit einer, wenn auch nur vorübergehend wieder auftauchenden .Pöbelherrschaft'. So fällt denn die sociale und die politische Frage zusammen." 2 6 1
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Virchows Bedeutung für die demokratische Bewegung während der Revolution liegt damit nicht so sehr in etwaigen originellen Beiträgen zur politischen Theorie. Dagegen spielte er auf lokaler Ebene in Berlin eine wichtige Rolle für den politischen Parteibildungsprozess, der während der Revolution vor allem von den Demokraten vorangetrieben wurde. Dabei entwickelte er sich zu einem Virtuosen der neuen politischen Öffentlichkeit, der die erforderlichen Instrumente - Organisation und Finanzierung politischer Vereinigungen, Herstellung von Publizität durch Flugschriften und Zeitungen sowie schließlich den Kampf um politische Mehrheiten bei öffentlichen Veranstaltungen und Abstimmungen - mit großer Meisterschaft bediente. Als bald nach Ausbruch der Revolution die bisherigen Beschränkungen von Vereinen und Versammlungen fielen, schloss sich Virchow dem „Politischen K l u b " an, der sich unmittelbar nach den Berliner Straßenkämpfen, am 21. März konstituierte. 263 Hier sammelte sich zunächst ein breites politisches Spektrum von Sozialisten über gemäßigte Demokraten bis zu Liberalen, das vor allem durch den Willen geeint wurde, die Märzerrungenschaften zu verteidigen und die Rückkehr der alten Verhältnisse zu verhindern. In den ersten Wochen seines Bestehens war der Politische Klub ein unverbindlicher Diskussionszirkel, dessen Sitzungen oft einen chaotischen Verlauf nahmen. Doch nach seiner am 21. Mai erfolgten Reorganisation gewann er bald deutlichere politische Konturen. Mit der neuen Bezeichnung als „Demokratischer Klub" grenzte er sich stärker von den Liberalen ab, die im „Konstitutionellen Klub" ihr eigenes Forum besaßen. Jedoch konnte letzterer nicht mit dem Aufschwung des Demokratischen Klubs mithalten, der schnell wuchs und Ende Mai etwa 500 eingeschriebene Mitglieder besaß, wozu bei öffentlichen Versammlungen noch bis zu 4.000 Zuhörer kamen.264 Virchow hielt mehrfach Ansprachen im Demokratischen Klub, in dem Arbeiter und andere Angehörige der Unterschichten zwar einen großen Teil des Publikums ausmachten, aber gleichwohl Studenten und Akademiker die Fäden in der Hand behielten.265 Der Demokratische Klub war damals die bedeutendste politische Organisation Berlins und zugleich das Schreckgespenst der revolutionsgeängstigten Teile des Bürgertums. Virchow zog sich aus diesem aber schon bald nach dessen Reorganisation zurück, wofür nicht politische Differenzen, sondern die Überlastung mit anderen Aufgaben verantwortlich 266
war. Virchow wurde bei den am 1. Mai 1848 stattfindenden Urwahlen für die Preußische und die Deutsche Nationalversammlung im 87. Berliner Wahlbezirk, der „2971 Seelen u. 990 Urwähler" zählte, beide Male zum Wahlmann gewählt.267 Im Vorfeld dieser Wahlen war Virchow am 20. April von seinem Kollegen Robert Remak aufgefordert worden, einem „liberalen Klub", dem sogenannten März-Klub, beizutreten, der zwischen Demokratie und Liberalismus pendelte und vor allem Professoren und hochgestellte Beamte zu sei68
nen Mitgliedern zählte. Dieser sollte anscheinend zugleich auch die Funktion eines Wahlkomitees für den linksliberalen Juristen und Initiator dieses Klubs, Rudolf von Gneist, ausüben, 268 der sich - erfolglos - um ein Mandat für die Deutsche Nationalversammlung bemühte. Doch Virchow, der gemeinsam mit 14 anderen Wahlmännerkandidaten vor seiner eigenen Wahl zum Wahlmann noch mit einem Programm angetreten war, das demokratische mit liberalen Elementen vermischte, 269 trat anschließend in den Wahlversammlungen öffentlich gegen die Gemäßigten auf. Damit trug er wesentlich zum Erfolg Benedikt Waldecks bei, der selbst mehrfach als Redner auftrat und hier zum Abgeordneten in der Berliner Nationalversammlung gewählt wurde. 270 (Dort erlangte er als Vorsitzender des Verfassungsausschusses große Bedeutung bei der Ausarbeitung der preußischen Verfassung.) Waldeck und Rudolf Schramm, auch dieser ein prominenter Demokrat und Mitglied der Preußischen Nationalversammlung, empfahlen Virchow umgekehrt den Wahlmännern des thüringischen Kreises Ziegenrück, die auf der Suche nach einem Nachfolger für den ausgeschiedenen Abgeordneten Bürgermeister Franke waren. Diese wählten den ihnen persönlich unbekannten Virchow am 20. September, 271 doch musste er das Mandat ablehnen, da er das erforderliche passive Wahlalter von 30 Jahren noch nicht erreicht hatte.272 Ansonsten würde er, so Virchow selbst, „jedenfalls zur äussersten Linken gehören," auch wenn er „die Mittel, welche sie zur Erreichung ihrer Ideen" verwende, nicht immer billige. 7 Aus den in diesen Wochen in dichter Folge stattfindenden Wahlversammlungen der Wahlmänner entstanden im Verlauf des Mai in mehreren Stadtbezirken Vereine, die sich zunächst als Wahlmänner- und UrwählerClubs, später dann als Bezirksvereine bezeichneten. Bis zum Sommer hatten sich 57 dieser Bezirksvereine gebildet, die Berlin fast flächendeckend überzogen und schließlich zur mitgliederstärksten politischen Organisation der Residenzstadt während des Revolutionsjahres wurden. 274 Virchow gehörte dem Komitee des politisch besonders aktiven Friedrich-Wilhelmstädtischen Bezirksvereins (74. Bezirk) an, der eine überwiegend demokratische Färbung trug, weshalb er, wie Virchow seinem Vater schrieb, „sich nicht der Gunst des Reactionär's zu erfreuen hat." Besonders das starke proletarische Element in der Mitgliedschaft, von seinem Onkel Major Virchow verächtlich als „erbärmliches Gesindel" 275 bezeichnet, mobilisierte Klassenressentiments in den konservativen Teilen des Bürgertums. Viele andere Bezirksvereine suchten dagegen zumindest anfänglich noch demokratische und liberale Tendenzen auszubalancieren. 76 Anfang Juni ging aus diesen Bezirksvereinen als Dachorganisation der Bezirks-Centralverein hervor, dessen Vizepräsident Virchow wurde, obwohl er sich auf der Gründungsversammlung am 1. Juni zunächst gegen die Zentralisierung der Bezirksvereine ausgesprochen hatte. Der Initiator dieses Zu69
sammenschlusses, der Philologe Rudolf Löwenstein, hatte hier ein Programm vorgelegt, das es als Hauptaufgabe der Bezirksvereine bezeichnete, „durch gegenseitige Annäherung der Stände und Verbrüderung der Einzelnen der Entwickelung eines echten Bürgerthums zu dienen." Zugleich sei in den Bezirksvereinen, im Gegensatz zu den politischen Klubs, „ein Mittel gefunden, die sich schroff gegenüberstehenden politischen Parteien zu versöhnen und zu vereinigen." Zudem sollten die Bezirksvereine Kerne einer Selbstregierung der Stadt von unten nach oben sein, weshalb die allmählich angestrebte „Verbrüderung Aller" ihre Zentralisation erforderlich mache.277 Diesem Konzept, das die frühliberale Utopie der „klassenlosen Bürgergesellschaft" (Lothar Gall) mit der demokratischen Vorstellung von Volkssouveränität verband, widersprach Virchow und lehnte deshalb zunächst auch die geforderte Zentralisierung der Bezirksvereine ab. Für ihn waren die lokalen Vereine die geeigneten Orte, um die sozialen Anliegen zu verfolgen. Vor allem aber betrachtete er die von Löwenstein formulierte Absicht zur Uberwindung politischer und sozialer Spaltungen für unrealistisch: Die politischen Fraktionen müssten „auseinandergehalten werden, wenn sie Kraft haben sollten. An eine Annäherung und vollständige Verschmelzung der Stände könne er nicht glauben." Schließlich willigte er zwar in den Versuch der Zentralisation ein. Doch bezweifelte er, dass hier die Majorität der Bevölkerung der Stadt zum Ausdruck komme, 278 und stellte damit indirekt auch die dort formulierte Erwartung in Frage, dass von hier aus die Legitimität der Stadtverordnetenversammlung in Frage gestellt werden könnte. Die hier angelegten Elemente einer „bürgerlichen Doppelherrschaft" in Berlin konnten sich angesichts des weiteren Verlaufs der Revolution nicht durchsetzen. 279 Gleichwohl waren die Bezirksvereine langfristig von großer politischer Bedeutung, da sie - im Gegensatz zu vielen anderen politischen Organisationen - die im Gefolge der Verhängung des Ausnahmezustands am 13. November verfügte Schließung aller politischen Klubs und Vereine und auch die Ära der Restauration überlebten und zum Kern der fortschrittsliberalen politischen Kultur Berlins wurden, die sich seit dem Beginn der „Neuen Ära" in den 1860er Jahren entwickelte. Virchow hielt Massenorganisationen wie die Bezirksvereine oder den Bezirks-Centralverein, aber auch den Demokratischen Klub zwar für wichtige Instrumente zur Politisierung und Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten und beteiligte sich deshalb auch an Versammlungen von Handwerker- und Maschinenbauarbeitern. 280 Allerdings ergänzte eine elitäre politische Strategie die Bemühungen um eine breite politische Basis in der Berliner Bevölkerung: Im Frühsommer 1848 wirkte Virchow neben den Privatdozenten Heinrich Bernhard Oppenheim und Julius August Collmann, letzterer auch Mitglied des Komitees des Friedrich-Wilhelmstädtischen Bezirksvereins und des Centrai-Bezirksvereins, sowie Gustav Siegmund - auch
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er wichtig im Centrai-Bezirksverein - an der Gründung des „Republikanischen Klubs" mit. Dies stand vermutlich im Zusammenhang mit den Ergebnissen des ersten Demokraten-Kongresses in Frankfurt am Main, der vom 14. bis 17. Juni getagt hatte. Unter Vorsitz Julius Fröbels hatten die dort versammelten 234 demokratischen Delegierten, die unter anderem 88 Vereine aus 66 Städten vertraten, die programmatischen Grundlinien der sich bildenden demokratischen Partei entworfen. Dort war die Absicht zur Parteibildung konkretisiert und mit der Begründung eines fünfköpfigen Zentralausschusses in Berlin die Verlagerung des politischen Schwerpunkts in die Berliner Residenzstadt beschlossen worden. 281 Das Einladungsschreiben für die Gründungssitzung des Republikanischen Klubs am 23. Juni an 32 Adressaten, allesamt prominente Berliner Demokraten, nannte als ausdrückliches Ziel die Republik und schloss sich damit der in Frankfurt beschlossenen Linie an. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten politischen Vereinen sollte hier zudem strenge Exklusivität der Mitglieder gewahrt sein: Uber die Mitgliedschaft sollte in geheimer Wahl abgestimmt werden, neue Mitglieder konnten nur auf Vorschlag von drei Mitgliedern und durch Zweidrittelmehrheit sämtlicher Mitglieder aufgenommen werden. 282 Allerdings scheint sich die politische Bedeutung dieses Klubs in sehr engen Grenzen gehalten zu haben, wenngleich er konservativen Verschwörungsängsten neue Nahrung zuführte. 283 Die Anstrengungen zum Aufbau einer Demokratischen Partei gipfelten im zweiten Demokraten-Kongress in Berlin, auf dem 230 Delegierte vom 26. bis 30. Oktober über die Verbesserung der Parteiorganisation, politische Ziele und Vorgehen diskutierten - unter ihnen auch Rudolf Virchow, der als Vertreter des Friedrich-Wilhelmstädtischen Bezirksvereins teilnahm. 284 Im Gegensatz zu seinem Vorläufer in Frankfurt am Main dominierten auf diesem Kongress, zu dessen Präsident Ludwig Bamberger gewählt wurde, die preußischen Demokraten. Auf Vorschlag des Marburger Philosophieprofessors Karl Theodor Bayrhofer wurde Virchow zu einem der fünf Mitglieder der Prioritäts-Kommission gewählt. Aufgabe dieser Kommission sollte sein, inhaltliche Anträge für die allgemeine Versammlung vorzubereiten, die Tagesordnung festzusetzen und gelegentlich auch als Schlichtungsinstanz zu fungieren. Bald kam es aber zu einem Streit über die Aufgaben dieser Kommission, die der Flut der Anträge immer weniger Herr wurde. Ein wachsender Teil der Delegierten erklärte sich mit den durch diese Kommission gesetzten Prioriäten nicht einverstanden und ging deshalb dazu über, Direktanträge an dieser vorbei zu formulieren. 285 Darin spiegelte sich die allgemeine Krise dieser Veranstaltung wider: Zahlreiche Delegierte verließen den Kongress vorzeitig, darunter auch einige enge politische Freunde Virchows wie Gustav Siegmund, und vermutlich gehörte auch er selbst zu dieser Gruppe. Grund dafür war, dass vor allem über das Verhältnis der demokratischen
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Bewegung zur ,sozialen Frage' und zur Wiener Oktoberrevolution kein Konsens möglich war. Diese Bruchstelle markierte auch die Auseinandersetzung über das Verhältnis zu den politischen Forderungen der „Arbeiterverbrüderung" und des „Bundes der Kommunisten". Wie sein Freund Wittich wenige Tage vor dem Kongress geschrieben hatte, war Virchow mittlerweile ein „richtiger Socialist" geworden. 286 Zwar ordnete er sich selbst auf der äußersten linken Seite des preußischen parlamentarischen Spektrums ein, doch grenzte er sich gegen die kommunistischen Forderungen ab, die vor allem im außerparlamentarischen Raum der Arbeiterbewegung erstarkten und ihm auch bei seiner politischen Arbeit in Berlin mehr und mehr zu schaffen machten. Seinem besorgten Vater, der ihn in diesem Punkt zu einer Erläuterung seiner Ansichten drängte, schrieb er: „ D e n C o m m u n i s m u s als solchen halte ich (...) für Wahnsinn, wenn man nämlich ihn direkt herstellen wollte. D e n Socialismus dagegen erkenne ich als das einzige Ziel unserer Bestrebungen, freilich nicht dieses oder jenes System, wie es jetzt in Frankreich aufgestellt ist, sondern das Bemühen, die Gesellschaft zu vernünftigen Grundlagen zu führen, oder mit andren Worten, Einrichtungen zu treffen, welche uns dafür Gewähr leisten, daß der Pöbel aufhöre zu sein."
Dieses Projekt, dem das Christentum bis zu einem gewissen Punkt vorgearbeitet habe, müsse nun von der Republik zu Ende geführt werden.287 Damit gehörte Virchow zu denen, die weitergehende Forderungen nach der Übernahme kommunistischer Positionen durch die Demokraten ablehnten. Hier stellt sich nun die Frage, welche Rolle die Wissenschaft dabei spielen sollte, die angestrebte demokratische Gesellschaftsreform zu erreichen. Und wie hing dies mit seinem standespolitischen Engagement in der Hochschul- und Medizinalreformbewegung zusammen ?
c) Standespolitik und Gesellschaftsreform Ende des Jahres 1848 entschuldigte sich Virchow bei einem Freund für die verspätete Beantwortung eines Briefes in folgender Weise: „Ich habe Tag auf Tag geackert wie ein Lastpferd, auf politischem, socialem u. medicinischem Reformboden, u. wenn ich einen Augenblick stillstand, so geschah es nicht, um mein Herz zu erlaben, sondern um meine Glieder auszuruhen" . Neben den geschilderten politischen Aktivitäten setzte er nicht allein seine wissenschaftliche Arbeit und seine Lehrtätigkeit fort, sondern engagierte sich auch für die Hochschul- und die Medizinalreform, die im Revolutionsjahr zu breiten Bewegungen anwuchsen. In beiden Fällen blieben diese Bestrebungen am Ende ergebnislos: Weder das medizinische System, noch die Universität bewegten sich durch diese Reforminitiativen. So interessiert im Folgenden vor allem die Frage, inwieweit diese lediglich Statusprobleme der Privat72
dozenten bzw. der Ärzte berührten, oder inwieweit diese Bestrebungen von Bedeutung für die politische und gesellschaftliche Rolle von Wissenschaft insgesamt waren. Im Mittelpunkt der Universitätsopposition, die sich nicht nur in Berlin, sondern auch an vielen anderen deutschen Universitäten formierte,289 stand zunächst die standespolitisch motivierte Auseinandersetzung der Privatdozenten und Extraordinarien mit den Ordinarien, die weitgehend innerhalb des Horizonts einer außerhalb der liberalen Staatsbürgergesellschaft stehenden akademischen Korporation verlief.290 Eine kleine Minderheit, die demokratisch-republikanischen Positionen nahe stand, versuchte aber, die Universitätsreform stärker mit der allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu verknüpfen. Im April beriet eine Versammlung der Privatdozenten und Extraordinarien der Berliner Universität auf der Grundlage der Vorschläge eines sechsköpfigen Komitees Maßnahmen zur Verbesserung der Stellung dieser Statusgruppen. Diese liefen vor allem darauf hinaus, die Privilegien der ordentlichen Professoren einerseits zu beschränken und andererseits an diesen zu partizipieren und auf diese Weise den bestehenden Statusunterschied zu nivellieren.291 Virchow versuchte, auf diese Vorschläge über Robert Remak einzuwirken und wollte dabei die Tendenz zur Aufhebung der Privilegien der Professoren verschärfen.292 Dazu gehörte die Forderung, die Besetzung von Professorenstellen nach französischem Vorbild von einem „öffentlichen Concurs" abhängig zu machen. Dies richtete sich gleichermaßen gegen staatliche Eingriffe und nepotistische Praktiken der Fakultäten: In einem freien Staat sollte eine wissenschaftliche Stelle nicht durch Entscheidung eines Ministers, sondern durch den Beschluss „eines competenten, aus Männern der Wissenschaft frei hervorgegangenen Körpers" besetzt werden. Das französische Prinzip des concours galt nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und den USA als Verkörperung des meritokratischen Ideals und verband damit die Bemühungen zur Reform der medizinischen Profession eng mit der Frage der Werte, auf der die Gesellschaft insgesamt beruhte oder beruhen sollte.294 Virchows Vorstellungen gingen jedoch weit über die standespolitischen Forderungen hinaus, die im Mittelpunkt der Universitätsopposition standen: Die Reorganisation der Universitäten sollte dafür sorgen, dass diese nicht mehr „blosse Anstalten für das Brod- und Fachstudium" wären, sondern „Heerde der allgemeinen menschlichen Bildung" würden.295 Die von ihm geforderte „demokratische Universität" würde „die Trennung der realistischen und humanistischen Wissenschaften, der Empirie und der Spekulation auflösen, kurz, sie wird die Philosophie naturwissenschaftlich, die Naturwissenschaften philosophisch machen, sie wird die Einheit des Wissens im Humanismus darstellen." Diese Forderungen nahmen zum Teil vorweg, was Virchow 45 Jahre später in seiner Rede anlässlich des Stiftungsfests der Ber73
liner Universität als den Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter charakterisierte. 297 1848 wie 1893 stand dabei der Bildungswert der Naturwissenschaften im Mittelpunkt. Jedoch ging es ihm während der Revolution auch darum, die von reiner Fachausbildung zu entlastenden Universitäten stärker in die gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen einzubeziehen. So forderte die Berliner Universitätsopposition in einem von Virchow mitunterzeichneten Schreiben an Kultusminister Schwerin vom 17. Mai auch die Möglichkeit, die vorhandenen „geistigen Kräfte" der Universität „an der Neugestaltung der Verhältnisse" zu beteili298
gen. Dabei griff auch die Gegenseite in diese politische Auseinandersetzung ein: Am 24. November erklärten 80 Hochschullehrer der Berliner Universität in einer Loyalitätsadresse an den preußischen König ihre Zustimmung zur Vertagung der Preußischen Nationalversammlung, habe diese doch „unter dem physischen und moralischen Einfluss einer Schreckensherrschaft" gestanden. Dagegen trug eine Zustimmungsadresse der Universitätslehrer an die Nationalversammlung nur 18 Unterschriften, darunter vor allem Privatdozenten wie Robert Remak, Edmund Dann, Rudolf Leubuscher und Rudolf Virchow aus der medizinischen Fakultät, aber auch Julius August Collmann und Heinrich Bernhard Oppenheim, 299 die mit Virchow bei der Gründung des Republikanischen Klubs zusammengewirkt hatten. Eine solche Haltung bedeutete für die Beteiligten ein hohes Karriererisiko. Dabei reagierte die Universität keineswegs nur auf staatlichen Druck, sondern verfolgte auch von sich aus Hochschullehrer, die ihre Sympathien mit den Zielen der Revolution offen bekundet hatten, mit Strafmaßnahmen. 300 Virchow geriet während dieser Zeit in Konflikt mit seinem alten Lehrer Johannes Müller, der bei Ausbruch der Revolution das Rektorat der Berliner Universität innehatte (was diesen acht Jahre später nicht daran hindern sollte, Virchows Rückberufung nach Berlin zu betreiben). Müller widersetzte sich insbesondere der Forderung der Privatdozenten und Extraordinarien, die Korporationsrechte zu erhalten und wollte die selbständige Meinungsäußerung dieser Statusgruppen nach Möglichkeit beschränken. 301 Mit dem Rückgewinn der politischen Initiative durch die Gegenrevolution im Herbst 1848 wurden alle Forderungen der Universitätsopposition Makulatur, und so blieb es bei einigen vorübergehenden geringen Zugeständnissen an die Extraordinarien. 302 Während die Universitätsopposition primär die bestehende Benachteiligung der Privatdozenten und Extraordinarien innerhalb der Universität angriff, strebten die Ärzte während der Revolution vor allem die Bildung eines „Einheitsstandes" sowie eine bessere materielle Absicherung durch rechtliche Gleichstellung mit den Staatsbeamten an.30 Damit wollten sie ihre soziale
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Situation verbessern sowie die starke staatliche Gängelung verringern. Diese Ziele hatten bereits im Mittelpunkt der Medizinalreformbewegung der 1840er Jahre gestanden. Im Gefolge der Revolution wurde Virchow zu einem der wichtigsten Wortführer dieser Bewegung. Zum Brennpunkt wurde die aus einem Beschluss der Gesellschaft für Geburtshülfe vom 2. April 1848 hervorgegangene General-Versammlung der Berliner Arzte, welche die schon bestehenden ärztlichen Organisationen zusammenfassen sollte. Virchow, den die Geburtshilfliche Gesellschaft delegiert hatte, amtierte dort als Vizepräsident. Von Juli 1848 bis Juni 1849 verfügte er überdies durch die zunächst gemeinsam mit Rudolf Leubuscher herausgegebene Wochenschrift Die medicinische Reform über ein eigenes publizistisches Sprachrohr, dessen Titel sich an das seit April von Heinrich Oppenheim und Arnold Rüge herausgegebene demokratische Parteiblatt Die Reform anlehnte. Allerdings darf die zeitgenössische Wirkung dieser Zeitschrift, die in Ermangelung einer ausreichenden Käuferschaft stets unter chronischen finanziellen Nöten litt, nicht überschätzt werden. Auch die General-Versammlung war alles andere als ein eindrucksvolles repräsentatives Organ der Berliner Ärzte: Vereinte sie anfänglich 300 promovierte Ärzte von den damals in Berlin insgesamt 430 „Medicinalpersonen", schrumpfte sie rasch auf etwa 50 bis 60 Teilnehmer und vertrat damit nur noch eine Minderheit. Überdies stand sie in Konkurrenz zu dem allerdings nur kurzlebigen „Medicinischen Club", an dem neben jüngeren Ärzten auch Studenten teilnahmen, vor allem aber zu dem durch den bekannten Berliner Orthopäden Wolff Berend gegründeten „Verein praktischer Aerzte und Wundaerzte zur Förderung der Gesammtinteressen des Heilpersonals", der, anders als die General-Versammlung, auch Wundärzte aufnahm.304 Die historische Bewertung der Medizinalreformbewegung fällt sehr unterschiedlich aus: Auf der einen Seite wird sie als medizinische Standesbewegung interpretiert, der es in erster Linie um die Professionalisierung des Ärztestands sowie die Ausdehnung des Markts für medizinische Dienstleistungen gegangen sei. 5 Dem steht die Auffassung entgegen, wonach das Besondere an dieser Bewegung „gerade nicht ihr speziell standespolitischer, sondern ihr allgemeiner, umfassender Charakter" 306 sei. Der Medizinhistoriker Gerd Göckenjan stellt diese Einschätzung schließlich auf den Kopf: „Das Besondere ist, dass Standespolitik jetzt als allgemein gesellschaftliches, als universelles Problem abgehandelt worden ist." Neu sei „die leitende Rahmenideologie: Die naturwissenschaftliche Methode ist der universelle Reformhebel, der für alles Wissenschaftliche und alles Gesellschaftliche gültig sein soll." So habe die „Forderung der unbeschränkten Einsetzung des universalen Mittels Naturwissenschaft (...) offenbar eine gewisse soziale Sprengkraft erhalten." 7 75
Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, welche Rolle die Autorität der Naturwissenschaft als Brücke zwischen Wissenschaft und Politik in diesem Prozess erhielt. Die Verfechter der neuen naturwissenschaftlich orientierten Medizin der vierziger Jahre verfolgten als wissenschaftslogischen Ansatz die Einheit der Natur, die sie als Einheit des Stofflichen auffassten, womit sie zugleich alle dualistischen Denkbewegungen zurückwiesen308 und statt dessen mechanistisch-materialistische Erklärungen suchten. Zur Gruppe dieser „Mechanisten" gehörten neben Virchow vor allem auch die organischen Physiologen um Hermann von Helmholtz, Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Karl Ludwig.309 Aus dem Anspruch der naturwissenschaftlichen Medizin, „alle Kenntnis von den Gesetzen, welche den Körper und den Geist zu bestimmen vermögen, in sich" zu vereinigen,310 ließen sich weitreichende gesellschaftliche Forderungen entwickeln: Bereits in der vorrevolutionären Situation im Dezember 1847 hatte Virchow in der „Berliner Gesellschaft" für wissenschaftliche Medizin erklärt, welche Rolle eine als Naturwissenschaft verstandene Medizin, die „als Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie im weitesten Sinne, als ideal (prophetisch), als höchste Naturwissenschaft gefasst werden müsse", angesichts der Tatsache spielen solle, dass jedes Jahr „den Tagen der socialen Entscheidung näher" führe. War somit das Programm der „naturwissenschaftlichen Medizin" zunächst darauf gemünzt, den Autoritätsanspruch einer neuen Richtung innerwissenschaftlich durchzusetzen, so wurde dieser nun auf Staat und Gesellschaft insgesamt ausgedehnt. Virchow erklärte in diesem Vortrag: „In Wirklichkeit, wenn die Medicin die Wissenschaft von dem gesunden und kranken Menschen ist, was sie doch sein soll, welche andere Wissenschaft könnte mehr berufen sein, in die Gesetzgebung einzutreten, um jene Gesetze, welche in der N a t u r des Menschen schon gegeben sind, als die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung geltend zu machen. Der Physiolog und der praktische A r z t werden, wenn die Medicin als Anthropologie einst festgestellt sein wird, zu den Weisen gezählt werden, auf denen sich das öffentliche Gebäude errichtet, wenn nicht mehr das Interesse einzelner Persönlichkeiten die öffentlichen Angelegenheiten mehr bestimmen wird." 311
Virchow hatte so schon Ende 1847 die Forderung nach einem institutionell abgesicherten Anteil der Medizin an der Gesetzgebung erhoben, ohne dass er in der vorrevolutionären Situation bereits konkrete Modelle formuliert hätte, wie dies in der Praxis geschehen sollte. Wichtig war dabei aber vor allem die Legitimation dieses Anspruches durch die Berufung auf die Kompetenz des Naturwissenschaftlers zur Feststellung der Naturgesetze, die auch das Leben der Menschen und der menschlichen Gesellschaft leiteten. Virchow knüpfte damit unmittelbar an das gleichfalls 1847 erschienene Werk des zwei Jahre älteren Berliner Arztes und Sozialhygienikers Salomon Neumann über Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum an. Für 76
Neumann besaß die Medizin die Kompetenz zu entscheiden, welches „die eigentliche naturgemäße Organisation der menschlichen Gesellschaft sei (...), denn die medicinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine sociale Wissenschaft". Das Eigentum an Gesundheit - d. h. das einzige Eigentum der Besitzlosen in der bürgerlichen Gesellschaft - erklärte er dabei zum wesentlichen Menschenrecht und zugleich ihren Erhalt zur Hauptaufgabe des Staates, die sich in der öffentlichen Gesundheitspflege verwirklichen müsse.31 Virchow machte sich diese Gedankengänge teils wörtlich zu eigen. So erklärte er, dass die Arzte als die „natürlichen Anwälte der Armen", in deren Jurisdiktion die soziale Frage zu einem erheblichen Teil falle, zugleich eine Art von Vormundschaft für diese übernehmen sollten.313 Mit diesem medizinischen Paternalismus hob Virchow schließlich die Differenz zwischen der Medizin als einer „socialen Wissenschaft" und der Politik gänzlich auf und erklärte im November 1848, „die Politik" sei „weiter nichts, als Medicin im Grossen."314 Nach dem Ausbruch der Revolution dehnte Virchow nicht allein den Autoritätsanspruch der naturwissenschaftlichen Medizin auf die ganze Gesellschaft aus, sondern verband ihn zugleich mit demokratischen Gesellschaftskonzeptionen. Am 1. Mai 1848 schrieb er seinem Vater: „In den Menschen habe ich mich o f t getäuscht, in der Zeit noch nicht. D a v o n habe ich den Vortheil gehabt, daß ich jetzt kein halber Mensch bin, sondern ein ganzer, u. daß mein medicinisches Glaubensbekenntniß in mein politisches u. sociales aufgeht. A l s Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die V e r wirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich ausführbar." 3 1 5
Virchow thematisierte damit die mit der Moderne einhergehende Erfahrung der Ausdifferenzierung von Wertsphären, die zur Erfahrung von Ambivalenzen einerseits und der gegenläufigen Suche nach „Ganzheit" andererseits führte. Im Zeichen der Revolution vollzog er vorübergehend die Entdifferenzierung von Politik und Wissenschaft sowie die Aufhebung des Gegensatzes von Theorie und Praxis ebenso wie von privater Sphäre und Öffentlichkeit. Ähnlich wie die Junghegelianer näherte sich Virchow damit in dieser Zeit dem Bild des Gedanken und Tat in sich vereinigenden „totalen Intellektuellen", wie er im 20. Jahrhundert auftrat.316 Vor dem Hintergrund eines solchen Selbstverständnisses als „ganzer Mensch" wurde die Verwirklichung der politischen Forderungen der Demokraten gleichzeitig zu einem Gebot einer als in sich vernünftig gedachten Natur. Zugleich, und hier besteht eine wichtige Verbindung zur Medizinalreform, ließ sich durch die Berufung auf die allgemeingültigen Naturgesetze als Grundlage des ärztlichen Handelns behaupten, dass hier nicht lediglich Partikularinteressen der Ärzte vertreten wurden, indem nämlich ein ärztliches Standesproblem zum 77
Rationalitätsproblem der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erklärt wurde. So wurden die Arzte in Virchows medicinischer Reform zu „Hohenpriestern) der Natur in der humanen Gesellschaft" ernannt, deren letzte Aufgabe „die Constituirung der Gesellschaft auf physiologischer Grundlage" bildete.318 Das Selbstbewusstsein des modernen Naturwissenschaftlers verband sich hier mit den Zielen des demokratischen bzw. republikanischen Politikers. Dazu gehörte ein Modell des gesellschaftlichen und menschlichen Fortschritts, das in direkter Abhängigkeit von den Naturgesetzen stand und somit dem Naturwissenschaftler eine privilegierte Position einräumte. Dabei lehnte sich Virchow, der in jener Zeit stark vom linkshegelianischen Radikalismus beeinflusst war, eng an die soziale Pädagogik Julius Fröbels319 an und bewegte sich zugleich in großer Nähe zu Arnold Rüge und dem frühen Karl Marx320: „Wir sind einfach Naturforscher und als solche verlangen w i r nicht nur, dass jeder Einsichtige dazu beitrage, den allgemeinen Naturgesetzen, welche sich aus der Phänomenologie des Menschen ergeben, Anerkennung zu verschaffen, weil nur unter der Herrschaft dieser Gesetze ein befriedigender Zustand A l l e r möglich ist, sondern w i r erwarten auch zuversichtlich, dass die Menschheit dahin kommen werde, sich selbst als den Zweck ihrer Handlungen zu begreifen." 321
Die hier geforderte naturwissenschaftliche Politik ging einher mit einer großen Erziehungsaufgabe, in deren Verlauf naturwissenschaftliche Grundsätze und naturwissenschaftliches Denken verallgemeinert werden sollten. Das Ende der Geschichte, „ihre endliche Ruhe", würde erst erreicht sein, „wenn wir auf dem kosmopolitischen Standpunkt, dem der humanen, naturwissenschaftlichen Politik, dem der Anthropologie oder der Physiologie (im weitesten Sinne) angelangt sein werden."32 Auf dem langen Weg bis zur Verwirklichung der „humanen Gesellschaft", in der die Naturgesetze in der menschlichen Gesellschaft verwirklicht sein würden, sollten die naturwissenschaftlichen Ärzte den Weg weisen,323 die in diesem geschichtlichen Stadienmodell die Rolle einer historische Avantgarde einnahmen. In der aktuellen politischen Situation, für die dies geschrieben war, geriet jedoch die Forderung nach Volkssouveränität in Spannung zur Forderung nach einer privilegierten politischen Rolle der ärztlichen Expertenautorität. Virchow unterstützte prinzipiell die demokratische Forderung, wonach ständische Sonderinteressen nicht in einer eigenen Kammer vertreten sein sollten. Diese Frage lag auch an der Wurzel der Auseinandersetzung um das Ein- oder Zweikammersystem zwischen Demokraten und Liberalen. Allerdings stellte er fest, dass sich mit dem Ubergang der gesetzgebenden Gewalt in ein gewähltes Parlament deren Kompetenz bzw. Inkompetenz noch nicht verändert habe - genau genommen habe sich „ja mit der Begründung eines so vielköpfigen Körpers (...) das Bedürfnis nach einem competenten Organ 78
noch gesteigert." Damit, so Virchow, der zu dieser Zeit auch Montesquieus De l'Esprit des lois las, gelange man zu der grundsätzlichen „Frage, in welcher Weise der demokratische Staat den Einzelbedürfnissen Gelegenheit geben soll, auf die Gesetzgebung durch anerkannte, officielle und doch freie Organe einwirken zu können, um dieselbe vor Fehlgriffen zu bewahren."324 Die „Herrschaft der Majoritäten", die aus dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität hervorgehe, stand dabei nach Auffassung von Virchows medicinischer Reform im Gegensatz zu der „Möglichkeit jener noblen Anarchie (...), welche, indem sie das Königthum jedes Einzelnen begründe, nur die Herrschaft der Vernunft, die abstracte Herrschaft noch zuliesse."325 Angesichts des Konflikts zwischen der volonte de tous und der volonte generale verneinte diese Argumentation den Mehrheitswillen zugunsten des abstrakten Gesamtwillens, als dessen Vertreter auf das Mandat der Vernunft gestützte selbstberufene Einzelne fungierten. Mit der damit anklingenden Vision eines .naturwissenschaftlichen Tugendstaats' war freilich das Problem verbunden, wie die Legitimation solcher .Geburtshelfer der Vernunft' zu begründen sein würde. Zu diesem Zweck wollte Virchow neben der Volksvertretung und der Regierung „competente Organe zur Concentration der Einzelbestrebungen" schaffen, namentlich „sachverständige Bezirksausschüsse und ein daraus hervorgehender Gesundheitsrath." 26 Ein solcher „Congress der Sachverständigen" sollte als „eine vorher begutachtende, officiell anerkannte Commission" die „Herrschaft der Vernunft"328 - d. h. die Stimme der ärztlichen Experten - zur Geltung bringen. Insbesondere sah er in dieser das einzige geeignete Organ für Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege, deren Ziel nach einem Beschluss der General-Versammlung sein sollte, „für die gesundheitsgemässe Entwickelung der Staatsangehörigen in geistiger und leiblicher Beziehung" zu sorgen. Dabei sollte es sich ausdrücklich nicht um eine „ministerielle Informationsinstanz" handeln, wie sie auch bisher schon existiert hatten, sondern um „einen competenten Körper, der der gesetzgebenden Gewalt überhaupt die Grundlagen ihrer Berathungen vorbereitete."330 Damit hatte Virchow ein Modell formuliert, das Wissenschaft und Politik in der Gestalt des nur der „Vernunft" verpflichteten Experten vereinigte und damit zumindest im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege gleichermaßen die Kompetenz der Bürokratie wie die des Parlaments einzuschränken suchte. In diesen Auseinandersetzungen stand also nicht allein die Rolle gesellschaftlicher Sonderinteressen, sondern darüber hinaus die des wissenschaftlichen Experten in politischen Entscheidungsprozessen zur Debatte. Zudem wird hier das Verständnis Virchows für das Verhältnis von wissenschaftlicher Organisation und gesellschaftlichem und politischem Einfluss deutlich: Einerseits vertrat er das Prinzip der Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft durch Assoziationen und Vereine auch im Bereich der Wissen79
schaft. Virchow zeigte sich „als der liberalen Staatslehre verhaftet und versuchte, den durch das Auseinandertreten von Gesellschaft und Staat freigewordenen Raum zu nutzen, um der organisierten Ärzteschaft als gesellschaftlicher Gruppe ein möglichst großes Feld politisch und sozialer Kompetenz zu sichern."331 Jedoch ging er über dieses unter den Ärzten weithin akzeptierte Prinzip insoweit hinaus, als er die feste und über Jahrzehnte gleichbleibende Uberzeugung vertrat, dass ohne ein gewisses Maß an Zentralisation ein gesellschaftlicher Einfluss der Wissenschaft nicht zu haben • 332
sei. So geriet Virchow in Konflikt mit seinen ärztlichen Kollegen, die zögerten, sich in der von ihm favorisierten Weise zusammenzuschließen. Auslöser war dabei, dass er sein Konzept einer zentral organisierten Ärzteschaft als kompetenter Institution in legislativen Prozessen im Bereich der Gesundheitspolitik mit der Diskussion um die Reorganisation der Armenkrankenpflege vermischte. War sein Ziel vor allem die Beteiligung der Expertenautorität an der Gesetzgebung, so war die Frage der demokratischen Legitimierung der zu diesem Zweck zu schaffenden Gremien umstritten. Virchow geriet darüber in heftige Auseinandersetzungen mit anderen Protagonisten der Medizinalreform wie Salomon Neumann, aber auch mit Rudolf Leubuscher, dem anfänglichen Mitherausgeber der medicinischen Reform, sowie mit Robert Remak. In den Diskussionen der General-Versammlung forderte Virchow den Zusammenschluss sämtlicher Ärzte eines Bezirkes in einer „Association". Diese sollte gleichermaßen die Uberwindung der ständisch geprägten, exklusiven Korporation, aber auch die Eindämmung der Gefahren der freigesetzten Wirtschaftsgesellschaft gewährleisten, d. h. vor der Anarchie des Marktes schützen. So sei das „Einzige was die Freiheit, die Entwicklungsfähigkeit, die Gegenseitigkeit und das gleiche Recht verbürgt, (...) die mit der Zustimmung und durch den Willen der Gesammtheit gegründete, in ihrem Inneren frei und selbständig thätige, nach aussen kräftig gegliederte Association."334 Virchows Konzeption der Assoziation trug Züge einer Gebietskörperschaft, der alle Ärzte eines bestimmten Bezirkes angehören sollten. Der medicinischen Reform zufolge gewährleistete allein der damit verbundene Mitgliedszwang, dass eine derartige Assoziation in der Lage sei, mit dem Staat in ein dauerhaftes Verhältnis zu treten.335 Der schädliche ärztliche „Indifferentismus und Particularismus" müsse untergraben „und auch die Böswilligen durch die moralische Gewalt der Association zur Theilnahme" gezwungen werden. Daraus sprach die Enttäuschung, dass die General-Versammlung Anfang 1849 allenfalls noch eine kleine Minderheit repräsentierte, worin sich das zunehmende Desinteresse der Ärzte an der Medizinalreform äußerte. Virchow lehnte es ab, die „Bildung der Associationen dem freien Willen" zu überlassen, da dies zu einer organisatorischen Zersplitterung führen würde 80
und keine Organisation zustande käme, die von der Regierung als „Ausdruck der Gesammtheit" betrachtet würde. 336 In der General-Versammlung wurde sein Konzept der Assoziation deshalb heftig kritisiert, da „dieses Wort gerade das Freiwillige bezeichne, während hier ein Zwang vorliege und daher Zunft, Corporation, Zwangs-Association, oder ärztliche Gemeinde gesagt werden müsse."337 Insbesondere Remak protestierte vehement gegen eine solche „Despotie" des Vereinswesens und setzte dem ein stärker auf dem Prinzip der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft basierendes Modell des ärztlichen Zusammenschlusses entgegen.338 Zudem wollte er im Bereich der Armenkrankenpflege den Laien ein größeres Mitspracherecht einräumen, während für Virchow wissenschaftliche Autorität damit einherging, dass die Patienten unrepräsentiert bleiben sollten.339 Zwar beschloss die General-Versammlung am 4. Mai 1849 den Zusammenschluss der Ärzte in „Bezirks-Gemeinden", die als „sachverständiges Organ des Staats für alle Gegenstände der Gesetzgebung, welche Interessen des Heilpersonals oder der öffentlichen Gesundheitspflege betreffen" 340 fungieren sollten, doch bedeutete dies schließlich nicht mehr viel: Die politische Entwicklung war mittlerweile über die Medizinalreformbewegung hinweggegangen, die ergebnislos auseinanderbrach. Virchow hatte sich bereits vorher aus dieser zurückgezogen, als er sah, dass er seine Vorstellungen einer Sozialmedizin zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht realisieren konnte. Im Gegensatz zu anderen sozialmedizinisch engagierten Ärzten wie Salomon Neumann, die sich im Rahmen des Gesundheitspflegevereins des Berliner Bezirks der „Arbeiterverbrüderung" engagierten, 341 betrachtete er ärztliche Zusammenschlüsse vor allem als Hebel zur Gesellschaftsreform. Dieser während der Revolution unternommene und schließlich gescheiterte Anlauf bildete jedoch ein Modell für die politische Rolle des naturwissenschaftlichen Experten, das später große Bedeutung gewann.
d) Politisches Engagement und wissenschaftliche Karriere Auch während der Revolution verlor Virchow seine wissenschaftliche Karriere zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. In der ersten Phase der Revolution standen politische und wissenschaftliche Tätigkeit für ihn nicht im Widerspruch: Beide gingen unmittelbar ineinander über, und zudem hegte er die Hoffnung, dass sich auch in professioneller Hinsicht einiges durch die Revolution erreichen ließe. Diese Einschätzung schlug jedoch im Zuge der Erfolge der Gegenrevolution mehr und mehr um, und damit veränderte sich zugleich auch die Art und Weise, wie Virchow das Verhältnis von Wissenschaft und Politik definierte. Im November 1848 hatte die Monarchie in Preußen mit der Auflösung der Nationalversammlung, der Verhängung des 81
Belagerungszustands über Berlin und dem Verbot politischer Vereine, Clubs und demokratischer Zeitungen das Heft wieder fest in die Hand genommen. Mit der am 5. Dezember oktroyierten Verfassung übernahm sie schließlich endgültig die Initiative für die weitere Entwicklung. Die Politik des neuen Ministeriums Brandenburg/Manteuffel, für deren effektive Durchsetzung in Berlin Polizeipräsident Hinkeldey sorgte, zielte vor allem auf die Unterdrückung der demokratischen Bewegung. 42 Zum Hauptfeld der politischen Auseinandersetzung wurden die Ende Januar bzw. Anfang Februar 1849 veranstalteten Wahlen für die beiden Kammern des preußischen Abgeordnetenhauses. Virchows Rolle war in diesem Zusammenhang vor allem im Hinblick darauf von Bedeutung, dass sich im Umkreis der demokratischen Partei bereits während der Revolution in Ansätzen ein moderner Politikstil entwickelte, der sich deutlich vom Stil der liberalen und konservativen Honoratioren abhob. 4 Mitte Dezember 1848 hatte sich im „Central-Comitee für volksthümliche Wahlen im Preußischen Staate" ein Wahlbündnis zwischen Demokraten und Linksliberalen konstituiert, in dem auch Virchow mitarbeitete. Zudem wurde er Vizepräsident des wenig später gebildeten Berliner Local-Comites. Den von der Auflösung verschonten Berliner Bezirksvereinen kam in dieser Situation als organisatorischer Rückhalt eine besondere Bedeutung zu. Dieses Bündnis zwischen Demokraten und Linksliberalen nahm in gewisser Weise den 1861 zustande gekommenen Zusammenschluss der preußischen Fortschrittspartei vorweg, allerdings auch viele ihrer Probleme. Während des Wahlkampfs Anfang 1849 nutzten sowohl die linksliberal-demokratische Volkpartei, als auch ihre konservativen Gegner sämtliche möglichen Manipulationen zur Ausschaltung ihrer Gegner. So verhinderte der schon genannte Hermann Lehnert die Kandidatur von Virchows Busenfreund Theodor Goldstücker, der aufgrund seiner Wohlsituiertheit auch als Finanzier der Demokraten diente, als Wahlmann.344 Dafür wurde er seinerseits auf Antrag Virchows, der als Vorsitzender des 3. Berliner Wahlbezirks fungierte, bei den Wahlen der Abgeordneten der 2. Kammer durch die Wahlmänner am 5. Februar ausgeschlossen und hegte seither „einen lebhaften persönlichen Widerwillen" gegen ihn. 45 Jedoch kosteten auch innerparteiliche Flügelkämpfe Virchow Zeit und Nerven. In den Versammlungen stand er zudem unter starkem Druck sozialer Forderungen, die dort immer lauter wurden, wobei sich das Verhältnis der Demokraten zur Arbeiterbewegung immer deutlich als Bruchstelle abzeichnete.346 Zugleich schwebten diese Veranstaltungen unter der ständigen Drohung der unter dem Belagerungszustand durchgeführten militärischen Überwachung, was um so gefährlicher war, als hier Anfang 1849 immer noch die „Volksbewaffnung pp. im demokratischen Sinne" erörtert wurde. 47
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Virchow war insbesondere daran beteiligt, die durch den Belagerungszustand und die Repressionsmaßnahmen stark erschwerte Kommunikation der Demokraten sowohl untereinander, als auch mit der Öffentlichkeit in Gang zu halten. Dazu kümmerte er sich um öffentliche Parteiveranstaltungen, aber auch um die Sekretariatsarbeit des Centralcomitees und bemühte sich überdies - erfolglos - darum, Geldgeber zu finden. 348 Schließlich beteiligte er sich auch an den Anstrengungen, die durch Verbote demokratischer Zeitungen stark angeschlagene publizistische Basis wieder zu verbreitern. Ein wichtiges Instrument dazu bildete eine Serie regelmäßig erscheinender politischer Flugblätter des Centralcomitees, 4 an deren Herstellung und Verbreitung Virchow beteiligt war. Die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen richteten sich bald auch gegen dieses publizistische Organ. Aber obwohl, wie Virchow im Februar 1849 schrieb, die Presseprozesse so sehr im Gang waren, „dass jeder Tag beim Criminalgericht Schriftsteller, Drucker und Verleger zusammenführt", fürchtete er nichts von einer gesetzlichen Verfolgung. Sein Eindruck war, dass hier eher „blinde Verfolgungssucht" und nicht ein „specieller Feldzugsplan" gegen Demokraten zum Tragen käme. Auffällig ist das Vertrauen zur preußischen Justiz selbst unter diesen Bedingungen: „Wir wollen auf dem Rechtsboden stehen und wenn er auch sehr durchlöchert ist, ich denke, wir werden nicht durchfallen" 350 . Aber nach den stark vom Protestverhalten der Bevölkerung geprägten Wahlen Ende Januar/Anfang Februar, die in Berlin mit einem großen Erfolg der Demokraten endeten, wurden die politischen Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung weiter verschärft. 351 Bereits Ende Januar hatte sich Virchow wieder heftig nach seinem „geordneten wissenschaftlichen Treiben" zurückgesehnt und wünschte, sich so bald als möglich aus seinen zeitraubenden politischen Aktivitäten zurückzuziehen.352 A m 21. Februar schrieb Virchow an Goldstücker, „dass ich mehr als je entschlossen bin, die politische Stellung jetzt aufzugeben" 353 . Tatsächlich beteiligte er sich seit den Wahlen kaum noch ernsthaft oder öffentlich an politischen Angelegenheiten, wenngleich er weiterhin in Kontakt mit dem demokratischen Netzwerk blieb. Allerdings beteiligte er sich noch im Sommer 1849 an der Organisation des Wahlboykotts durch die preußischen Demokraten, 4 mit dem sie vor allem gegen die Abschaffung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zugunsten des Dreiklassenwahlrechts bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus protestierten. Dies leitete zugleich ihren bis Ende der fünfziger Jahre dauernden Rückzug aus der parlamentarischen Politik ein, an dem auch Virchow teilnahm. Ende Februar war auch er in die Mühlen der zunehmenden politischen Repression geraten: Kultusminister Ladenberg leitete ein Untersuchungsverfahren gegen ihn ein, das seine wissenschaftliche Karriere ernstlich zu gefährden drohte. Dem lag der Vorwurf zugrunde, dass Virchow seine Stellung als Charite-Arzt vor der Wahl der Abgeordneten für die zweite Kammer des
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preußischen Parlaments am 5. Februar 1849 durch das Verteilen von Flugblättern für das demokratische Central-Comite für volksthümliche Wahlen an Kollegen und Patienten missbraucht habe.355 Die Behörden wählten damit nicht den aus ihrer Sicht mühsameren Weg des Presse-, sondern den einfacher handzuhabenden des Beamtenrechts. Das Risiko, das dabei für Virchow bestand, wurde ihm dadurch verdeutlicht, dass im Gefolge dieser „Intrigue" sogleich zwei Arzte, die in seinem Auftrag Flugblätter verteilt hatten, aus der Charite entfernt und zwangsweise zum Militär versetzt wurden.356 Die mit der Untersuchung der Vorgänge beauftragte Charite-Direktion bestätigte schließlich die gegen Virchow erhobenen Vorwürfe und forderte seine Bestrafung. Gleichzeitig bemühte sie sich aber um Schadensbegrenzung: Im Hinblick auf den trotz seiner Jugend „bereits so bedeutenden Ruf in der wissenschaftlichen Welt" und den durch seine Entlassung drohenden Schaden für die Charite plädierte sie für Milde: Sie riet deshalb, ihm die Stelle als Prosektor zu belassen, aber die damit bislang verbundenen zusätzlichen Vergünstigungen - freie Kost und Logis in der Charite - zu streichen. Durch die Kündigung seines bisherigen Wohnrechts in der Charite würde ihm auch die Möglichkeit genommen, „den übrigen Anwesenden der Anstalt seine überspannten politischen Ansichten zugänglich zu machen."357 Angesichts des Verlaufs der Untersuchung gab sich Virchow zuversichtlich, dass die Angelegenheit für ihn einen glimpflichen Ausgang nehmen würde. Dazu trug nicht nur bei, dass er kein tatsächliches Vergehen auf seiner Seite sah, sondern auch die richtige Einschätzung, dass man ihn um seiner wissenschaftlichen Bedeutung wegen halten wolle. Dieses Selbstbewusstsein wurde dadurch gesteigert, dass er zu dieser Zeit bereits in Berufungsverhandlungen mit Würzburg und Gießen stand, und auch in Prag war er zumindest im Gespräch gewesen. Vor allem aber hatte er sehr wohl registriert, dass die Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Verwaltungsdirektors der Charite, Geheimrat Carl Heinrich Esse,358 „eines sehr schlauen Beamten, der an die Zukunft glaubt", den Bericht an das Kultusministerium bewusst in einer Weise abgefasst hatte, der lediglich eine Schmälerung seiner Stellung, aber nicht seine gänzliche Entfernung erlaubte.359 Unter starkem Druck der konservativen Öffentlichkeit verfügte Kultusminister Ladenberg zunächst am 31. März dennoch Virchows Entlassung. Die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, die eine aggressive, mit persönlichen Verleumdungen gespickte Kampagne gegen Virchow und andere Demokraten führte,360 begrüßte begeistert die Untersuchung gegen ihn „wegen Verbreitung hochverrätherischer Plakate" und seine geplante Entlassung aus seinem „einträglichen, ihm nur auf Kündigung übertragenen Posten". Mitleid sei um so weniger angebracht, als der demokratische Centrai-Ausschuss seinen Genossen zu entschädigen wisse und Virchow, wenn die „rothe Republik" erst einmal siege, „mindestens Medicinal-Minister" würde. 1 Auch Vir84
chow nahm diese Entscheidung in dem Bewusstsein auf, dass angesichts der offenen politischen Verhältnisse viel vom Zufall abhing: „ein Wechsel im Regierungssystem u. das Blatt wendet sich gerade umgekehrt." 362 Das Bewusstsein für die Ungewissheit des Ausgangs der Revolution, das man bei allen Akteuren in Rechnung stellen muss, hielt also zumindest noch bis in das Frühjahr 1849 hinein an. Virchow focht seine Entlassung sofort an. Unterstützt durch Eingaben von Berliner Ärztevereinen, die sich für ihn einsetzten, argumentierte er mit der strikten Trennung von Politik und Wissenschaft: erstere sei private Handlung, letztere Gegenstand seines Amtes. So hielt er dem Minister vor, dass er „Eure Excellenz zu beleidigen glauben würde, wenn ich es für möglich hielte, dass Sie politische Gründe bei der Besetzung wissenschaftlicher Stellen entscheiden lassen" 363 , war doch Ladenberg dafür bekannt, dass er sich öffentlich zur uneingeschränkten Freiheit von Forschung und Lehre bekannte.364 Hatte Virchow im vorangegangenen Jahr die Aufhebung der Unterscheidung von Medizin und Politik und ein besonders unter Ärzten anzutreffendes Modell von ,engagierter Wissenschaft' propagiert, verlegte er sich nun angesichts der verstärkten Tendenz des Staates, wissenschaftliche Personalentscheidungen zu politisieren, auf die Autonomie der Wissenschaft. Ein wahrscheinlich selbstverfasster Leitartikel in der medicinischen Reform stellte ihn dazu in eine Reihe mit dem durch den Scheiterhaufen bedrohten italienischen Gelehrten Galilei: „Wahrlich, wir müssten über den Scheinconstitutionalismus, über den Absolutismus hinaus, wir müssten bis zur Inquisition zurückgehen, u m die Beispiele für die Verfolgung der Wissenschaft u m autokratischer Zwecke willen zu suchen und zu finden. U n d ist das nicht eine Verfolgung der Wissenschaft selbst, eine Unterdrückung ihrer Lehre, die Gelehrten abzusetzen um ihrer politischen Gesinnung, um ihrer ausseramtlichen Handlungen willen, während sie den Pflichten ihres A m t e s ohne Vorwurf oblagen? (...) Sollte irgend ein Staat der neuern Zeit dahin k o m men, das Princip von der Absetzbarkeit wissenschaftlicher Stellen bei vorwurfsloser wissenschaftlicher A m t s f ü h r u n g einzuführen, so hat er über seine Existenz selbst entschieden." 3 6 5
Die Spannung zwischen der geforderten „Freiheit der Wissenschaft" und dem gleichzeitig erhobenen gesellschaftlichen und politischen Autoritätsanspruch beantwortete Virchow somit situativ unterschiedlich. Nachdem die von den Revolutionären selbst vorangetriebene Politisierung der Wissenschaft indirekt auch die stärkere politische Maßregelung der Wissenschaftler durch die Regierung nach sich gezogen hatte,366 erhob er im Zeichen der Gegenrevolution die Autonomie der Wissenschaft zum zentralen Ergebnis des kulturellen Fortschritts. Mit der strikten Trennung von Wissenschaft und Politik - und damit zugleich von privater und öffentlicher Sphäre - als juristischer Verteidi85
gungslinie betrat Virchow die bereits früher von der Charite-Direktion gezimmerte Brücke. Auch das Kultusministerium war stark daran interessiert, einen solchen Kompromiss zu finden, doch musste Ladenberg dem ihm drohenden politischen Gesichtsverlust in der während der Revolution entstandenen konservativen Gegen-Offentlichkeit vorbeugen. Auf beiden Seiten ging es anschließend vor allem um die Frage der „Ehre", und so wurden im Geheimen ausgiebige Verhandlungen geführt. Uber verschiedene Mittelspersonen, unter denen sich, wie Virchow schrieb, „auch Damen befanden", wurden deshalb zunächst Verhandlungen geführt, wonach dieser irgendwelche Konzessionen machen sollte, „damit der Minister nicht der Schwäche angeschuldigt werden könnte." 367 Bei einem Treffen in der Privatwohnung des mittlerweile zum Direktor der Medicinal-Abteilung des Kultusministeriums aufgestiegenen Lehnert unterzeichnete Virchow schließlich eine von ihm verlangte Erklärung. Darin gab er seine Amtsverfehlung zu, erkannte den Verzicht auf Dienstwohnung und freie Verköstigung an und verpflichtete sich schließlich - bei Androhung der sofortigen Entlassung bei Zuwiderhandlung - , seiner „politischen Ueberzeugung, welcher Art sie auch sein möge, nicht die entfernteste thatsächliche Aeußerung in Bezug auf die Charite und deren Beamten und ärztlichen Personal, sowie bei meinen Vorlesungen im Leichenhause zu geben" 3 6 . Dies gab Ladenberg die Möglichkeit, die Entlassung wieder teilweise zurückzunehmen: Er beließ Virchow, der nun seine bisherige Dienstwohnung verließ, auf der mit 300 Talern jährlich dotierten Stelle des Prosektors des Leichenhauses der Charite. 6 Auf diese Weise hatte das Ministerium nach außen hin Härte demonstriert und zugleich ein versöhnliches Signal an Virchow übermittelt - was Lehnert durch das Angebot einer Forschungsbeihilfe von 150 Talern für Tierversuche noch unterstrich. Virchow zögerte freilich, dies anzunehmen und lehnte auch den angetragenen Ruf auf eine Professur für Physiologie in Königsberg ab.370 Bei ihm mischten sich Sorge um die Karriere, aber auch um seine eigene „Ehre" mit dem Bewusstsein des eigenen wissenschaftlichen Marktwerts wie der politischen Schwäche der gegenwärtigen Regierung. Einen ehrenhaften Ausgang aus dem Konflikt für beide Seiten ermöglichte schließlich die zum Wintersemester 1849/50 erfolgte Berufung Virchows als ordentlicher Professor für pathologische Anatomie nach Würzburg. Die vorangegangenen Einigungsbemühungen verweisen aber zugleich auf einen grundsätzlichen Vorgang: Der Kompromiss zwischen der preußischen Kultusbürokratie und Virchow kam am Ende dadurch zustande, dass sich beide Seiten auf die Trennung von Privatraison und Untertanenpflicht verständigten. Es stand dabei nicht zur Debatte, dass Virchow von seiner politischen Einstellung Abstand nehmen müsse. Lediglich deren öffentliche Artikulation im Rahmen seines Amts wurde ihm bei Androhung der Entlassung untersagt. Sein Beispiel steht dabei gegen viele andere, die mit erheblich här86
teren Verfolgungsmaßnahmen rechnen mussten. 371 Ihn behandelte die preußische Bürokratie dagegen als ,irrenden Sohn', und Ernst Hirschfeld hatte damit recht, wenn er entgegen der verbreiteten Märtyrerlegende einer „Absetzung" Virchows von einer „Mattsetzung" sprach.372 Zu den Gründen dieser relativ milden Behandlung gehört gewiss in erster Linie die damals schon vorhandene Einschätzung seines hohen Werts für die übergeordneten Ziele der preußischen Hochschulpolitik. Allerdings wurde dieser Kompromiss anscheinend auch dadurch ermöglicht, dass in der Geschichte der Verfolgung .staatsgefährdender' politischer Meinungen eine Ubergangsphase bestand: Die dem Absolutismus zugrunde liegende „Aufspaltung des Menschen in den .Menschen' und den .Staatsbürger'" wirkte noch fort und ließ sich in derartigen Auseinandersetzungen aktualisieren. Im Zeichen einer solchen Dualität war noch nicht allein der Besitz politisch abweichender Uberzeugungen als solcher verfolgungswürdig, solange der Untertan seiner Gehorsamspflicht genügte. 373 Fast ein halbes Jahrhundert später bat Leo Arons, den das preußische Kultusministerium wegen seiner sozialdemokratischen Betätigung aus seiner Position als Privatdozent für Physik an der Berliner Universität entfernt hatte, Virchow um Auskunft über das gegen diesen während der Revolution angestrebte Verfahren, da er hoffte, daraus „dankenswerte Winke" für seinen Fall zu erhalten. 374 Diese Erfahrungen ließen sich jedoch nicht mehr auf die Situation am Ende des 19. Jahrhunderts anwenden. Im Gefolge der allmählichen Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft verlor die Unterscheidung in den „Staatsbürger" und den „Menschen", die sich Virchow 1849 in seinem Kampf gegen die Vernichtung seiner Karriere noch hatte zunutze machen können, allmählich an Bedeutung. Als Konsequenz erhielt die .Gesinnungsschnüffelei' gegen politisch Andersdenkende eine neue, unversöhnliche Qualität. Dies musste Virchow in seinen späteren Jahren am eigenen Leib erfahren: Während im Umfeld der Revolution abweichende politische Meinungen zwar bekämpft wurden, aber nicht „ehrenrührig" waren, herrschte am Ende des Jahrhunderts im Hinblick auf politische Dissidenz ein stark ideologisiertes Verhältnis, in dem, ähnlich wie in den Religionskämpfen der Neuzeit, auch die „private" Meinung zum Gegenstand öffentlicher Diffamierung wurde.
e) Identitätskrise und biographische Passage Die erneute stärkere Hinwendung Virchows zur wissenschaftlichen Tätigkeit in der letzten Phase der Revolution stand auch vor dem Hintergrund der Krise der demokratischen Partei, die nicht allein von den Siegen der Gegenrevolution demoralisiert, sondern immer stärker von heftigen inneren Ausei87
nandersetzungen zerrissen wurde. Streitigkeiten, Flügelkämpfe, Intrigen, Bestechungen, aber auch Verhaftungen, Ausweisungen und Auswanderungen prägten in dieser Phase das Bild des Centrai-Komitees, in dem die dort zusammengeschlossenen heterogenen politischen Gruppierungen sich heftige Kämpfe lieferten. Neben der enttäuschenden politischen Gesamtentwicklung trug dies erheblich dazu bei, dass Virchow, der nach Kräften um die Durchsetzung seines politischen Kurses kämpfte, nicht nur eine zunehmend kritische Haltung gegenüber dem Centrai-Komitee einnahm, sondern dass ihm das Interesse an Parteipolitik überhaupt vergällt wurde.375 So ließ er sich auch nur unter schweren Bedenken dazu überreden, an einem von Karl Rodbertus, Hermann Graf zur Lippe, Lothar Bucher, und Theodor Goldstücker initiierten liberal-demokratischen Zeitungsprojekt teilzunehmen. Das Erscheinen der Allgemeinen Demokratischen Zeitung wurde am Ende allerdings durch die Dauer des Belagerungszustands und die allgemeine politische Entwicklung verhindert.376 Virchow hatte vor allem damit gehadert, dass er es leid war, sich weiterhin den bei einem solchen politischen Unternehmen notwendigen Kompromissen zu unterwerfen. Gegenüber Goldstücker rechtfertige er sein langes Zögern damit: „Mir scheint aber nach der politischen Lage die Wahrscheinlichkeit, dass es auch innerlich wird coalitionär sein müssen, die allergrößte von der Welt zu sein. In diesem Falle möchte ich für meine Person aber mit der öffentlichen Politik so wenig als möglich zu thun haben."377 Die heftigen politischen Auseinandersetzungen und das ständige Ringen um Kompromisse empfand er somit als unerträglichen Zwang: „aber ich halte es auf die Länge nicht aus, mir eine so große Gewalt anzuthun. Die Wissenschaft gewährt mir dann einen Ausweg, wenn ich ihn in dem praktischen Staatsleben nicht finden kann: dort wenigstens kann man rational sein und braucht sich vor Niemand zu beugen." Der von Virchow während der Revolution praktizierte Politikstil, der darauf angewiesen war, politische Entscheidungen nicht allein gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren, sondern auch in aufreibenden Fraktionskämpfen innerparteilich durchzusetzen, geriet somit mehr und mehr in Gegensatz zu seiner Vorstellung von Wissenschaft als einem nach Wahrheitskriterien gestalteten idealen Diskurs. Aus dem Versuch, die Wissenschaft in die Politik zu überführen, der am Anfang der Revolution gestanden hatte, war nunmehr die Sehnsucht geworden, sich wieder aus der Politik in die schützenden Arme der Wissenschaft zu flüchten. Diese galt ihm, anders als die Politik, als ein Ort der Vernunft und der kompromisslosen Suche nach „Wahrheit". So zog er sich im Verlauf des Frühjahrs 1849, während er sich gleichzeitig um die Verteidigung seiner Stellung als Prosektor und um die Beseitigung der Hürden für eine Berufung nach Würzburg kümmern musste, weitgehend aus der aktiven politischen Beschäftigung in seine wissenschaftliche Arbeit zurück. Den Zustand der Ungewissheit machte er sich aber auch mit einer „in88
dolenten" Haltung erträglich, die er der „Rothhaut des Hrn. Cooper" entlehnt hatte, und gelegentlich half er diesem Zustand durch alkoholische Exzesse etwas nach. Vor dem Hintergrund ständig neuer politisch motivierter Verhaftungen und der Ungewissheit über das Schicksal der davon Betroffenen schrieb er im Mai an Goldstücker über die tröstliche Wirkung der damals populären Berliner Biersorte: „Es ist sehr warm, und die Berliner gehen massenhaft in den Schatten .kühler Denkungsarten', zu den freundlichen „Weißen" und auf das Wasser. (...) Solange es noch .Weiße' gibt, wird das rote Element in Berlin nicht zur dauernden Herrschaft kommen, und w e n n einmal eine provisorische Regierung aufgestellt wird und diese nicht sofort die W e i ß e n verbietet, so wird es auch nicht besser werden. A u c h ich w a r gestern in Arkadien, d. h. in T r e p t o w , (...). Mit Genugtuung fand ich dort die meisten, nicht verhafteten Mitglieder des einstigen Lokal-, sowie einige des Zentralkomitees zusammen, und w i r tranken, glücklicher Erinnerungen voll, einige Weiße, bis uns die A u g e n übergingen." 379
Jedoch gewährte ihm die Wissenschaft nur unvollkommen den erhofften Ausweg aus seiner tief melancholische Stimmung, die er in seinen täglichen Briefen an Goldstücker bewegend artikulierte. Seine Zweifel am Sinn des Lebens, die ihn in dieser Phase quälten und ihn sogar die Frage des Selbstmords erörtern ließen, erstreckten sich gleichermaßen auf seine politischen Hoffnungen, wie auf seine wissenschaftliche Arbeit. Sein Fortschrittsglaube, denn er nach außen immer noch vertrat, war innerlich einer Empfindung der Wiederkehr des ewig Gleichen gewichen: „Wenn ich so Morgen f ü r Morgen aufstehe u. immer wieder Vorlesungen halte, Sektionen mache, mikroskopische Bilder betrachte, (...) u. mich mit allerlei Menschenvolk ernsthaft unterhalte, u. das alles so regelrecht u. immer wieder in derselben Reihenfolge, so ist das doch um nichts besser, als w e n n ich die Birken v o r meinem Fenster ansehe, welche Jahr f ü r Jahr χ + 1 neue Zellen bilden, als das gute Rindvieh, das mit der nachdenklichsten Miene v o n der W e l t dasselbe Gras, das es schon einmal unter den Zähnen gehabt hat, wieder aus dem Magen holt u. einer neuen Edition übergiebt." 381
Wie in keiner anderen Phase seines Lebens gewähren die Quellen Einblick in eine persönliche Identitätskrise, und die Jahre 1849/50 verdichten sich zur tiefsten biographischen Zäsur in Virchows Leben. Bei der Bewältigung dieser Krise suchte er auch Erklärung und Trost in der Literatur. So las er im Sommer 1848 die Geschichte der Revolution von 1848 des französischen Demokraten Alphonse de Lamartine. Der Anfang dieses Werkes, in dem die „Revolutionen des menschlichen Geistes" mit dem für das menschliche Auge nicht sichtbaren Wachstum der Pflanzen in Beziehung gesetzt wurden, spiegelte sich auch in seinem Vergleich zwischen dem menschlichen Leben und dem Wachstum der Birken wider, wie Virchow im Rückblick selbst erklärte.382 Auf der Suche nach Trost stürzte er sich aber auch in die Lektüre 89
des Ossian,m wo der gescheiterte Revolutionär die symbolische Vereinigung mit der ursprünglichen Volksseele suchte, als dessen Ausdruck diese angebliche Sammlung keltischer Heldenlieder seit der Mitte des 18. Jahrhunderts rezipiert worden war. Und als Alternative zum Dasein als Wissenschaftler träumte er sich auf der Suche nach einem einfachen Leben „voller Strapazen und Erhebung" auch nach Ungarn,384 das zu seinem Arkadien wurde, und kokettierte in depressiver Stimmung mit einer Existenz als „Landmann": „Ich bin eigentlich für bucolica, u. zuweilen denke ich, in einem mäßig hinterwäldlerischen Leben müsste ich mich am behaglichsten fühlen."385 Insgesamt ergibt sich damit ein Bild, wonach eine idealisierte Natur zum Kern seiner Selbsttröstungen gehörte: Gegenüber dem Scheitern der Revolution386 bot ihm diese das Bild einer langsamen, aber doch gleichmäßigen und stetigen Entwicklung. Der Rückzug aus der politischen und standespolitischen Tätigkeit erschien Virchow damit auch als Befreiung. Während er in der Revolution den Gegensatz von privater und öffentlicher Sphäre vorübergehend aufgehoben hatte, betonte er diesen nun wieder um so stärker. An Goldstücker schrieb er: „Wenn erst die letzte Nummer der Reform erschienen sein wird, könnte ich vielleicht ein neues Leben anfangen, u. die viele Liebe nicht bloß verbrauchen, sondern auch großziehen."387 Virchow träumte sich in den Monaten nach dem endgültigen Ende der Revolution und des Abschieds von Berlin nicht allein aus seiner bisherigen öffentlichen Existenz als Wissenschaftler und Politiker hinaus, sondern stürzte sich nunmehr mit großer Energie in sein Innenleben. Virchow war verliebt in die 17-jährige Tochter des Geheimen Rates Mayer, Ferdinande Amalie Rosalie. Aber erst bei seiner Verabschiedung aus Berlin im November 1849 kam es zu einer beiderseitigen Erklärung der Gefühle und zur Verlobung. Während er mit den künftigen Schwiegereltern auch politisch großes Einvernehmen pflegte, zeigte sich der aristokratische Teil der Familie Mayer entsetzt über den Schwiegersohn in spe.3 Politische und individualbiographische Einschnitte trafen somit in dieser Lebensphase zusammen und addierten sich zu einer biographischen Passage. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation und auch manchem seiner Freunde wählte Virchow nicht das Exil, sondern die innere Emigration. Die postrevolutionäre Restauration war ein gesamteuropäisches Phänomen, die in seinen Augen „solidarisch verbunden" war. Den Ton gab dabei seiner Ansicht nach der russische Zar an, weshalb er sich innerlich auf die „Herrschaft des Slavismus" vorbereitete.389 Angesichts dieser pessimistischen Erwartungen beschäftigte er sich in jenen Jahren der in ganz Europa herrschenden Ära der Reaktion auch mit Auswanderungsplänen. Erstmals war der Gedanke bei ihm bereits im Dezember 1848, nach der Unterdrückung der Revolution in Preußen durch die Auflösung der Nationalversammlung 90
und die Ausrufung des Belagerungszustands aufgetaucht, wenngleich er hier noch halb im Scherz geäußert wurde. 390 Die Möglichkeit der Auswanderung in die U S A gewann jedoch für Virchow Anfang der fünfziger Jahre zeitweise so weit Gestalt, dass er in seine Publikationsstrategie Überlegungen über seine beruflichen Chancen in den U S A einbezog und deshalb an englische Ubersetzungen seiner Werke dachte. Wie er 1851 an den selbst nach der Revolution nach Großbritannien ausgewanderten Goldstücker schrieb, fürchtete er, dass die Zustände in Deutschland zuletzt unerträglich werden könnten, „und wenn es möglich wäre, jenseits des Oceans eine erträgliche Stellung zu finden, die für meine Familie eine mögliche Existenz sichert, so weiß ich nicht, ob ich mich nicht über kurz oder lang zur Auswanderung entschließen könnte." 391 Zumindest bis 1854, dem Jahr, in dem die Auswanderung aus Deutschland mit fast 240.000 Emigranten ihren säkularen Höhepunkt erreichte, 392 spielte er nachweislich noch mit diesem Gedanken. 393 Zu den Nachwirkungen der Revolution und der neuen Situation als Ehemann trat die Rollenunsicherheit, die sich aus seiner neuen Funktion als Professor in Würzburg ergab. So beschrieb er seinen Zustand 1850 als eine Art von „Doppelleben", bei dem der „officielle Leib", der die amtlichen Pflichten zu erfüllen habe, und das „Herz" weit auseinander fielen: „Zuweilen ist es mir recht komisch, wenn ich mich so ernsthaft dociren höre oder irgend eine andere .amtliche' Funktion vollführen lasse; wenn ich .arbeite', so ist es mir wohl, als wäre nur die Dienerschaft des Gedankens zu Haus geblieben u. die Herrschaft ausgegangen." 4 Dieser Zustand hielt auch nach der im August 1850 erfolgten Hochzeit noch einige Zeit an, als er seinen Lehrbetrieb nur mit großer Mattigkeit und Lustlosigkeit erfüllte. Diese biographische Passage Virchows mündete jedoch schließlich, bleibt man einmal bei der Schifffahrtsmetapher, in einen biographischen Stapellauf. Sie äußerte sich zugleich in einer erneuten, und diesmal endgültigen Veränderung seines Habitus vom Bohemien zum Bourgeois, wie er Goldstücker im Juni 1850, kurz vor seiner Hochzeit, anvertraute: „Wussten Sie schon, dass ich keine Haare mehr abschneide seit länger als einer Woche? Mein Signalement ist in aller Veränderung begriffen; verkennen Sie mich also nicht." 395 Virchow ließ sich nun auf Wunsch seiner Frau einen Bart stehen, der ihn älter erschienen ließ396 und der, zusammen mit der später hinzukommenden charakteristischen Brille, sein Äußeres bis zu seinem Tode 1902 prägte. Zudem gab er auch seine Vorliebe zur modischen und auffälligen Kleidung auf, die ihn in den Berliner Jahren gekennzeichnet hatte. Den nun angenommenen bürgerlichen Kleidungsstil änderte er auch in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr. Statt sich kühne Halstücher umzubinden war er fortan im wörtlichen Sinne „zugeknöpft" und konnte sich darüber verwundern, wenn in Italien Arbeiter auf der Straße im offenen Hemd unterwegs waren, aber auch sarkastisch werden, wenn sich seine studentischen Zuhö-
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rer angesichts großer Sommerhitze durch Ablegen ihrer Jacketts Erleichterung zu verschaffen suchten. Vollzog er bis zu dieser Zäsur 1850 den jährlichen Wechsel der Mode bewusst mit, so gab er dies nun zugunsten der Unveränderlichkeit seiner äußerlichen Erscheinung auf. Dies wurde allenfalls gelegentlich durch die Amtstracht durchbrochen, und so berichtete er später amüsiert, dass er in Würzburg die Robe eines Jesuiten getragen habe, da die Stellen in Würzburg ursprünglich für diese begründet worden seien.398 Parallel zu diesem Wandel seines äußeren Erscheinungsbilds veränderte sich auch seine Selbstreflexion: Während seiner Berliner Zeit in den vierziger Jahren hatte Virchow wiederholt harte Kritik an seinem Charakter einstecken müssen, die vor allem auf die Schattenseiten seines betont selbstbewussten Verhaltens zielte. 3 " Im Zeichen seiner umfassenden Krise im Herbst 1849 hatte sich Virchow dies sehr zu Herzen gehen lassen: Damals litt er unter seiner so empfundenen Unfähigkeit, andere Menschen glücklich zu machen und beklagte zugleich „das Harte, Unduldsame, Schroffe u. Kalte," das ihn so oft überfalle. 4 0 Auch derartige Selbstzweifel lassen sich bei ihm bald darauf nicht mehr finden. Dies korrespondierte mit der auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit auffälligen „Anlage zur frühen Erstarrung". Virchow habe von dem, was er als 27- und 28-Jähriger verfasst habe, eigentlich nichts mehr widerrufen, und „grundlegende Neufassungen seines wissenschaftlichen Fundaments" habe er, wie sein Schüler Ernst Hirschfeld später feststellte, „danach eigentlich auch nicht mehr getroffen." In seinem „autokratischen Alter" habe sich dieser Hang zum Starrwerden schließlich als Unduldsamkeit und Intoleranz gegenüber fremden Meinungen geäußert.4 Ahnlich gilt dies auch für seine politischen Auffassungen. Hier scheint also ein enger Zusammenhang zwischen der Selbstkonstitution seiner „Persönlichkeit" und seinen Rollen als Wissenschaftler und Politiker zu bestehen. Kann man also davon sprechen, dass Virchow nach dieser Zäsur 1850 nur noch älter, aber nicht mehr ,anders' wurde? Es scheint so, dass, nachdem er sich erst einmal in die Rolle des Professors und Familienvaters gefügt hatte, seine Identitätskonstitution für ihn abgeschlossen war und nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde. Vielleicht markiert diese Zäsur aber auch nur ein Ende der artikulierten Selbstreflexion und verweist damit auf die für Historiker bestehenden Erkenntnisschranken. Festzustellen bleibt, dass sich von da an keine Belege mehr für auch nur annähernd so starke Erschütterungen seines Selbstbilds finden lassen wie 1849/50. Allein der Tod und das Begräbnis seines Vaters 1864 sollten Virchow noch einmal aus der Fassung bringen. Beim anschließenden Sortieren alter Papiere und Briefe aus dem Nachlass seines Vaters dachte er über die Veränderungen seiner Persönlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten nach. Mit 43 Jahren fühlte er sich zum ersten Mal „alt und fremd" 4 .
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3. Lebensführung im „naturwissenschaftlichen Zeitalter" a) Vermögen, Prestige und sozialer Status Das halbe Jahrhundert von 1850 bis 1902 bildet im Hinblick auf Virchows Selbstverständnis wie auf seine Lebensführung eine Einheit, die durch die öffentlichen Rollen des Wissenschaftlers und des Politikers einerseits und die private Rolle des Familienvaters andererseits geprägt war. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit seinem Vater, die sich vor allem um finanzielle Fragen drehte und die gleichermaßen wichtig für Virchows Identitätskonstitution wie für seinen sozialen Status war, lenkt die Aufmerksamkeit zunächst auf die große Bedeutung der Frage nach dem Erwerb, dem Erhalt und der intergenerationellen Weitergabe von Vermögen im Zusammenhang bildungsbürgerlicher Lebensläufe. 403 Zu diesen Ressourcen gehören Einnahmen und Eigentum verschiedener Art, darunter auch symbolische Gratifikationen.404 Hier interessiert neben der Einnahmen- auch die Ausgabenseite, die sich in einem spezifischen Lebensstil ausdrückte. 405 Mit Blick auf Vermögen, Prestige und sozialen Status lassen sich bei Virchow drei Phasen unterscheiden: Die erste umfasst die Zeit seiner Ausbildung bis über die Mitte der 1840er Jahre hinaus, in der Virchow seinen Vater regelmäßig um Geld bitten musste. Eine zweite Phase begann 1846/1847 mit seiner ersten bezahlten Anstellung bzw. seiner Berufung zum ordentlichen Professor für pathologische Anatomie in Würzburg Ende 1849. Nun wechselte er die Position gegenüber seinem Vater, der jetzt umgekehrt zum regelmäßigen Empfänger finanzieller Zuwendungen wurde. Dies setzte sich auch nach Virchows Rückberufung auf einen Lehrstuhl an der Berliner Universität 1856 fort, die mit der in Personalunion verbundenen (und damit nicht eigens bezahlten Stelle) eines Direktors des für ihn gegründeten Pathologischen Instituts verbunden war. Eine dritte Phase begann schließlich nach dem Tod seines Vaters 1864, befreite sie ihn doch in finanzieller Hinsicht von einer wesentlichen Belastung, während zugleich sein Einkommen weiter beträchtlich zunahm. Einkünfte und Vermögen Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen blieb Virchow das Schicksal einer lang hingezogenen Privatdozentenexistenz mit all ihren finanziellen Entbehrungen erspart. Bereits im Alter von 28 Jahren machte er durch seine Berufung als Ordinarius 406 nach Würzburg einen großen Sprung, mit dem er die Beengtheit seiner Ausbildungsjahre endgültig hinter sich ließ. Das Einkommen eines ordentlichen Professors setzte sich aus seinem Gehalt, den Honoraren für Vorlesungen und andere Lehrveranstaltungen sowie Dividenden 93
aus der Fakultätskasse, die aus Prüfungs- und Einschreibungsgebühren etc. herrührten, zusammen. Diese gingen, abzüglich einer Verwaltungsgebühr, vollständig den Professoren zu. In Würzburg erhielt Virchow anfänglich ein Gehalt von 1.200 Gulden (dies entsprach knapp 700 Talern bei einer allerdings höheren Kaufkraft in Würzburg), das nach der Ablehnung eines Rufs nach Zürich 1852 auf 2.000 Gulden gesteigert wurde.407 Dazu kamen noch die Honorare, die einen wesentlichen Teil der Einnahmen ausmachten. Waren ihm bei den Berufungsverhandlungen mit Würzburg 1849 etwa 6-800 Gulden Honorar in Aussicht gestellt worden, so übertrafen seine tatsächlichen Einnahmen diese Erwartungen bald bei weitem: Im Studienjahr 1852/53 stiegen seine Honorare auf 3.084 Gulden und im folgenden Studienjahr weiter auf 3.677 Gulden.4 8 So schrieb er 1855 während seiner Berufungsverhandlungen mit Zürich, dass sich seine Würzburger Einnahmen aus Professorengehalt und Honoraren auf über 5.000 Gulden (d. h. etwa 2.850 Taler) beliefen, wovon 1.600 Gulden auf seine Besoldung und damit mehr als zwei Drittel auf Honorareinnahmen entfielen.409 Nachdem er zunächst besorgt war, seiner Familie allenfalls einen bescheidenen Lebensstil bieten zu können,410 wurde er in dieser Hinsicht bald zuversichtlicher, lag sein Einkommen doch umgerechnet bei etwa 8.500 Mark und damit immerhin auf dem Niveau etwa eines preußischen Regierungspräsidenten. 411 Der Ruf nach Berlin 1856, der zu einer bayerisch-preußischen Bieterschlacht führte, bedeutete nicht nur einen erheblichen Prestigegewinn, sondern steigerte nach einiger Zeit auch Virchows Einkommen erneut. Dort stand er in der finanziellen Hierarchie seiner Kollegen ganz oben: 2.000 Taler Gehalt, nach späterem Umrechnungskurs 6.000 Mark, bildeten von 1840 bis 1870 die Spitze dessen, was einem Ordinarius an der dortigen medizinischen Fakultät zugebilligt wurde, und vor Virchow war einzig Schoenlein mit diesem Eingangsgehalt eingestellt worden.412 Sein Gehalt stieg mehrfach, beispielsweise 1872, als er im Zuge der generellen Anhebung aller preußischen Beamtenbezüge eine Zulage von jährlich 1.200 Mark erhielt.41 Zu dieser Erhöhungswelle Anfang der 1870er Jahre zählt auch die Einführung des Ortszuschlages im folgenden Jahr, wodurch Virchow seit 1873 zu einem Wohngeldzuschuss von 900 Mark jährlich gelangte.414 1900, kurz vor seinem Tode, erhielt er schließlich noch einmal eine jährliche Gehaltszulage von 1.200 Mark.415 Damit blieb er auch weiterhin an der Spitze der Gehaltsskala der Berliner medizinischen Fakultät, betrug doch das höchste dort zu diesem Zeitpunkt einem Ordinarius gezahlte jährliche Gehalt 9.400 Mark, gegenüber einem Durchschnitt von 5.969 und einem Minimum von 2.400 Mark. 1 Entscheidend für die tatsächliche Höhe der Einnahmen waren jedoch die Honorare, die sich für die Berliner Jahre allerdings weniger genau berechnen lassen. Bei seinen Berufungsverhandlungen mit Berlin 1856 wurden Virchow zunächst etwa 350 Taler Kolleggelder in Aussicht gestellt. Nach anfänglich 94
enttäuschenden Ergebnissen, die seine Honorare gegenüber Würzburg auf die Hälfte sinken ließen,417 erreichten seine Einnahmen dann aber mit dem bald einsetzenden Zustrom der Studenten zu seinen Veranstaltungen wieder das gewohnte Niveau. Virchow wurde dadurch später etwa dazu gezwungen, einen Parallelkurs zu seinem regelmäßig abgehaltenen Privatissimum einzurichten, was mit einer entsprechenden Steigerung der Einnahmen verbunden war. Dies hatte jedoch zur Folge, dass ihm in der Öffentlichkeit Habgier vorgeworfen wurde.418 Ein Schlaglicht auf seine Honorarsituation wirft eine Angabe aus dem Jahr 1891, wonach allein die Honorare für den praktischen Kurs der pathologischen Histologie 4.880 Mark betrugen, wovon er allerdings die Hälfte an seinen ersten Assistenten Dr. Oscar Israel abtrat.41 Dabei differierten vor allem an den medizinischen Fakultäten die Honorarsätze zum Teil erheblich, die 1897 etwa von 36 Mark für eine anatomische Präparierübung in Breslau bis zu 80 Mark für eine entsprechende Veranstaltung in Berlin reichten.420 Als es 1897 schließlich zur Reform des Honorarsystems kam, die vor allem dazu dienen sollte, die extreme Ungleichheit der Honorareinnahmen ein Stück weit zu nivellieren, verteidigte Virchow leidenschaftlich die bislang bestehenden Verhältnisse. Die geplante Abschaffung des bisherigen Systems zugunsten einer neuen Regelung, wonach ein Teil des Honorars durch den Staat verteilt werden sollte, kritisierte er als Angriff auf das korporative System der Universität, das unter anderem auf der Konkurrenz der Kollegen untereinander beruhe. In einer Rede vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus, in der er zugleich die bessere Besoldung der Universitätspedelle forderte, erklärte er dazu: „Wenn hier bezweifelt w o r d e n ist, dass das Honorarwesen damit etwas zu thun hat, so möchte ich hervorheben, dass man doch nicht v o n den Professoren verlangen kann, dass sie blos um des Ruhmes und Ehrgeizes willen eine harte und anstrengende K o n k u r r e n z unterhalten. Jedermann wird begreifen, dass ein Professor, der nicht gerade gut gestellt ist, die Möglichkeit haben muss, durch seine Thätigkeit auf wissenschaftlichem Gebiet eine erhöhte Einnahme zu erzielen, und dass, w e n n er die erhält, er seine Stellung durchaus würdig ausfüllt." 421
Mitte der 1890er Jahre, als auf Betreiben Althoffs die Reform der Professorenhonorare diskutiert wurde, lagen die jährlichen Professorenhonorare im Deutschen Reich - mit nach oben stetig sinkender Frequenz - zwischen 1.000 und mehr als 20.000 Mark.422 Leider fehlen Unterlagen, die es ermöglichen würden, Virchow in diesem Honorarspektrum exakt einzuordnen. Geht man aber davon aus, dass das Verhältnis von Gehalt zu Honoraren in Würzburg ein Drittel zu zwei Drittel betrug und er in Berlin nach einer kurzfristigen Anlaufphase bald wieder an das gewohnte Niveau anschließen konnte, ist es sehr wahrscheinlich, dass Virchows Honorareinnahmen im oberen Bereich dieses Spektrums lagen. 95
In der Folge der Entstehung außeruniversitärer Forschungsinstitute im Kaiserreich, bei denen die privatwirtschaftlichen Einkunftsverhältnisse in der Industrie als Maßstab dienten, wurden diese Gehaltsmaßstäbe allerdings gesprengt: .Stars' wie Robert Koch konnten seit den 1890ern in ganz andere Gehaltsdimensionen vorstoßen: So bezog dieser als Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten in Berlin ein jährliches Gehalt von 20.000 Mark.423 Die sich hier öffnende Schere in der Gehaltsentwicklung betraf aber nicht allein die Spitzen: Der Vergleich der Gehälter der am Institut für Infektionskrankheiten Beschäftigten mit denen der nächst gelegenen Charite zeigte, so Virchow 1894 im Preußischen Abgeordnetenhaus, einen „Unterschied wie zwischen einem Krösus und einem ganz gewöhnlichen Bürgersmann: hier ist bessernde Hand anzusetzen" - womit er die Angleichung nach oben meinte. Dabei sah er das Problem weniger im Hinblick auf seine eigenen Einkunftsverhältnisse, die zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr als Gegenstand öffentlicher Klagen taugten, sondern vor allem im Hinblick auf die der Privatdozenten und der wissenschaftlichen Assistenten. Deren mehr als klägliche Einkommenssituation zwang sie dazu, sich entweder durch Nebentätigkeiten oder aus privaten Mitteln zu finanzieren, was er zu Recht als wirksamen Filter für ärmere Kandidaten kritisierte.424 Im Falle Virchows traten überdies zu den Einnahmen aus Professorengehalt und Honoraren andere einmalige oder regelmäßige Einkünfte. Dazu gehörten neben einem jährlichen Gehalt von 900 Mark,425 das mit der 1873 erfolgten Aufnahme als ordentliches Mitglied in die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin verbunden war, auch etwa die Bezüge aus dem Rektorenamt, das Virchow 1892/93 ausübte und das mit Einnahmen in Höhe von etwa 12.000 Mark verbunden war.426 Zudem stellt sich die Frage, inwieweit die Einkünfte aus populären Vorträgen und Publikationen, die vor dem Ersten Weltkrieg im Budget vieler Professorenhaushalte eine wichtige Rolle spielten,427 auch in seinem Fall substanziell waren. Virchow verdiente an solchen Veröffentlichungen gut, doch sah er sich aus Zeitgründen gar nicht in der Lage, alle an ihn gerichteten diesbezüglichen Aufforderungen zu erfüllen und diesen lukrativen Markt systematisch als Einnahmequelle zu erschließen. Seine Publikationshonorare stiegen sowohl in Abhängigkeit von der Entwicklung seiner Bekanntheit als auch des publizistischen Markts seit den 1870er Jahren beträchtlich an. Konnte Virchow den Autoren wissenschaftlicher Aufsätze in dem von ihm herausgegebenen Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin in den fünfziger und sechziger Jahren durchschnittlich gerade einmal Beträge zwischen sieben und zehn Talern bezahlen,428 so erhielt er selbst 1862 für eine Veröffentlichung in Berthold Auerbachs Volkskalender 44 Taler. Dies spiegelt allerdings vor allem auch den Unterschied in der Bezahlung von wissenschaftlichen und 96
populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen wider. Der Anstieg seines Marktwerts, aber auch die generelle Expansion der populärwissenschaftlichen Autorengehälter im Kaiserreich zeigt sich dann etwa daran, dass Julius Rodenberg Virchow für seine Veröffentlichungen in der Deutschen Revue 1874 immerhin ein Honorar von 1.000 Mark pro Bogen offerierte, während ihm Rudolf Mosse 1879 für jedes dem Berliner Tageblatt oder dem Deutschen Montags-Blatt eingesandte Feuilleton 200 Mark zahlte. Dabei konkurrierten Rodenberg und Mosse insbesondere um einen publikumswirksamen Bericht über Virchows Troja-Reise 1879.429 Den publizistischen Marktwert seiner engen Beziehungen zu Heinrich Schliemann bestätigt auch, dass sein ehemaliger Schüler Adolf Kröner gleichfalls stolz darauf war, in der von ihm herausgegebenen Gartenlaube, einer populären Familienzeitschrift, unter anderem 1891 drei Artikel Virchows mit Erinnerungen an den umstrittenen Entdecker Trojas zu veröffentlichen. Dies honorierte er, ähnlich wie seit den 1880er Jahren schon früher erschienene Artikel Virchows, mit 50 Mark pro Spalte.430 Daneben standen die leider nicht näher bezifferbaren Einnahmen aus Buchveröffentlichungen, von denen einige wie die 1858 erstmals erschienene Cellularpathologie in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und immer wieder neue Auflagen erlebten. Zu einer weiteren bedeutsamen Einnahmequelle wurde aber auch seine seit Ende der fünfziger Jahre wieder aufgenommene politische Tätigkeit: Während seine von 1859 bis 1902 dauernde Mitgliedschaft in der Berliner Stadtverordnetenversammlung ehrenamtlich war, erhielt er für seine Tätigkeit als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus, dem er seit 1861 bis zu seinem Tode für die Fortschrittspartei bzw. deren Nachfolgeparteien angehörte, Sitzungsgelder. Seit 1849 waren dies auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage drei Taler pro Sitzungstag, was sich an der Besoldung eines Kreisrichters orientierte. 41 1873 erhöhte sich dieser Betrag auf fünf Taler bzw. 15 Mark.432 Virchow erzielte auf diesem Wege ansehnliche zusätzliche Einnahmen, deren Höhe immerhin anderen Abgeordneten vollständig das Uberleben sichern musste. Da sich die Sessionen des Preußischen Abgeordnetenhauses auf eine durchschnittliche Dauer von sechs Monaten einpendelten, ergab sich daraus für Virchow, der seit 1862 Mitglied der Budget-Kommission und seit 1875 Vorsitzender der Rechnungskommission war, nicht nur eine erhebliche zeitliche Belastung, sondern auch beträchtliche Zusatzeinnahmen. So nahm er beispielsweise während der Session 1862 an 65 Plenarsitzungen und 99 Sitzungen der Budget-Kommission teil.433 Im Reichstag, dem Virchow für die Fortschrittspartei bzw. die Deutsche Freisinnige Partei von 1880 bis 1893 angehörte, wurden den Abgeordneten hingegen erst seit 1906 Diäten zugestanden - wohinter das Kalkül Bismarcks stand, zwar das aktive Wahlrecht durch das allgemeine Männerwahlrecht zu erweitern, aber zugleich das passive Wahlrecht auf diesem Wege indirekt zu beschränken.434 97
Eine exakte Bilanz der Vermögensverhältnisse Virchows erlauben die vorhandenen Quellen nicht. Zu viele Einzelposten bleiben im Ungefähren, und so können nur die allgemeinen Tendenzen beschrieben werden. Dies reicht aber für die Feststellung, dass Virchow innerhalb seiner eigenen Statusgruppe einen herausragenden Platz erreichte, und auch im Vergleich zur Einkommensentwicklung anderer Gruppen sowie der allgemeinen Einkommensentwicklung schnitt er sehr gut ab. Nachdem er die finanziell beengten Verhältnisse seiner Studentenzeit abgelegt hatte, war er die meiste Zeit seines Lebens wenn schon nicht reich, so doch wohlhabend, wie in einem späteren Kapitel ausgeführt werden wird. Die beträchtlichen staatlichen Bezüge scheinen zudem dazu beigetragen zu haben, dass sich der einstige Revolutionär von 1848 in seinen späteren Jahren wenn schon nicht mit den politischen Verhältnissen, so aber doch mit dem preußischen Staat ausgesöhnt hatte. Die allgemeine Tendenz, wonach im Verlauf des 19. Jahrhunderts die neuen industriellen Vermögen die höheren Beamtenbezüge zu überflügeln begannen, deren Zunahme zudem mit den Teuerungsraten nicht Schritt halten konnte,436 dürfte ihn angesichts seiner eigenen Einkommensdynamik kaum betroffen haben. Allenfalls die indirekten Auswirkungen dieser Prozesse - vor allem die erheblich höheren Gehälter, die in der außeruniversitären Forschung erzielt werden konnten - führten am Ende des 19. Jahrhunderts zu Konkurrenzbetrachtungen, wurden von ihm aber als nützliches Argument für Einkommenssteigerungen im universitären Bereich funktionalisiert. Symbolische
Gratifikationen
Der soziale Status war jedoch nicht allein vom materiellen, sondern gleichermaßen vom symbolischen Kapital abhängig. Insbesondere Orden, Titel und Nähe zum königlichen Hof bildeten im 19. Jahrhundert den Mittelpunkt eines elaborierten Systems symbolischer Gratifikationen. Solche an Virchow verliehenen Auszeichnungen sind gleichermaßen aufschlussreich für die Haltung des bayerischen und preußischen Staats diesem gegenüber, aber auch für die Frage seines bürgerlichen Selbstverständnisses. Seinen ersten Orden, das Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens vom Heiligen Michael, den Virchow 1855 durch den bayerischen König erhalten hatte, „habe er leider nicht abwenden können", da er mit seinem Ablehnungsschreiben zu spät gekommen sei, schrieb er 1856 an Goldstücker.437 Zum Berliner Universitätsjubiläum 1860 ließ sich Virchow nicht nur einen neuen Talar schneidern, sondern gedachte seine Orden „das erste Mal spaziren (zu) führen, zu denen eben der schwedische Nordstern - um den Hals getragen - hinzukam, so daß ich hoffe, einen richtigen Affen der Civilisation darstellen zu können."4 1871 dekorierte ihn auch der preußische König für seine Verdienste um den freiwilligen Sanitätsdienst im deutsch98
französischen Krieg mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse am weißen Band. Zuvor hatte sich Kriegsminister Albrecht von Roon, der im preußischen Verfassungskonflikt in ihm einen zähen Gegner gefunden hatte, von seinem Ministerkollegen von Mühler dahingehend beruhigen lassen, dass kein Anlass zum Zweifel bestehe, „dass der Professor Dr. Virchow die für ihn in Vorschlag gebrachte Decoration mit der entsprechenden Würdigung aufnehmen werde." 439 Ende 1874, zu einer Zeit, in der Virchow weniger regierungskritisch als jemals sonst in seiner politischen Karriere war,44 ernannte Wilhelm I. ihn auf Vorschlag des Kultusministers Adelbert Falk schließlich zum Geheimen Medizinalrat. Die Ernennung von Professoren zu Geheimräten in Preußen hatte sich erst mit Entstehung des Institutssystems auf breiter Front durchgesetzt und führte im Verlauf des 19. Jahrhunderts an manchen Instituten zu einer wahren Geheimratsschwemme. Falk, der im Kulturkampf große politische Gemeinsamkeiten mit Virchow entwickelte, wünschte durch diese Ernennung dessen Zurücksetzung gegenüber der Anciennität nach jüngeren Kollegen an der Berliner Universität zu beseitigen.441 Ein Gratifikationssystem von größter Bedeutung bildete in Preußen die Nähe zum Hof. 442 Der ehemalige Republikaner Virchow besaß dazu jedoch ein ambivalentes Verhältnis. So berichtete er Goldstücker im Januar 1868 ins Londoner Exil, dass sich seine Frau gegenwärtig sehr mit Sammlungen für den Bazar der Königin beschäftige, und sie fühle sich „immer noch tief beschwert durch die Ehre, in das allerhöchste Comite erwählt zu sein. Was nicht aus Leuten werden kann!" 443 Durch den Kronprinzen Friedrich, der unter dem Einfluss seiner Frau Victoria, die Preußen und Deutschland nach englischem Vorbild in ein parlamentarisches System umzuwandeln wünschte, schon seit den 1860er Jahren bessere Kontakte zum deutschen Liberalismus pflegte,444 wurde schließlich auch Virchow selbst „hoffähig" und zu Empfängen in das Berliner Königsschloss eingeladen.445 Während der todkranke Friedrich III. in seiner kurzen Amtszeit dafür sorgte, dass der Linksliberale Virchow zusammen mit dem Nationalliberalen Max von Forckenbeck 1888 den Roten Adler-Orden II. Klasse mit Stern und Eichenlaub erhielt, legte dessen Sohn Wilhelm II. Virchow gegenüber eine schroffe Haltung an den Tag und kritisierte heftig die von seinem Vater vorgenommenen oder vorgesehenen Ehrungen liberaler Politiker. Althoff stieß deshalb 1891 mit seinem Vorschlag, Virchow anlässlich seines 70. Geburtstags die Goldene Medaille für Wissenschaft zu verleihen, bei dem preußischen Monarchen auf taube Ohren. 446 Als zusätzliche kleine Schikane unterließ es Wilhelm II. zunächst auch, Virchow die Annahme einiger ihm zum selben Anlass verliehener ausländischer Orden zu genehmigen. Dadurch geriet der Geehrte in die missliche Lage, diese Orden bei internationalen Kongressen nicht anlegen und sich nicht einmal bei den betreffenden Regierungen bedanken zu können. 447 Zugleich wurde Virchow jedoch 1891
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in einem an ihn gerichteten anonymen Brief dafür kritisiert, dass er in seinen späteren Jahren die ihm verliehenen Orden öfters in der Öffentlichkeit zeigte. Gegenüber der liberalen Presse rechtfertigte er sich für sein gewandeltes Verhältnis zum Tragen von Orden vor allem mit diplomatischen Rücksichten und hob zudem sein gutes Verhältnis zur preußischen Regierung her448
vor. Dies war allerdings keine symmetrische Wahrnehmung. Wilhelm II. hatte seine Erwartungen an einen Wissenschaftler in einem Brief an Hermann Helmholtz zum Ausdruck gebracht, der ebenso wie Virchow 1891 seinen 70. Geburtstag feierte: „Ihr stets den reinsten und höchsten Idealen nachstrebender Geist ließ in seinem hohen Flug alles Getriebe von Politik und damit verbundenen Parteiungen weit hinter sich zurück."449 Während so der vom preußischen König für seine apolitische Haltung gelobte Helmholtz zugleich von ihm zur Exzellenz erhoben wurde, erhielt Virchow die Ehrenbürgerurkunde der Stadt Berlin. Damit traten hier zwei konkurrierende Bezugssysteme der symbolischen Gratifikation auf: ein bürgerlich-liberales und ein monarchisch-feudales, wie auch in den begleitenden Feierlichkeiten deutlich zum Ausdruck kam. Einen Schnittpunkt dieser beiden Bezugssysteme bildete die Berliner Universität: Zweimal, 1887 und 1888, fiel Virchow bei den Wahlen zum Rektor durch, da der akademische Senat hier einen Akt vorauseilenden politischen Gehorsams zelebrierte, ehe ihm dieses Amt schließlich 1892/93, im Alter von 71 Jahren, anvertraut wurde.450 So sah sich denn auch Kultusminister Robert von Bosse anlässlich der nach mehreren vergeblichen Anläufen 1892 doch noch geglückten Wahl Virchows zum Rektor der Berliner Universität dazu genötigt, den König, der diese genehmigen musste, ausdrücklich zu beruhigen: Erstens handle es sich hier „lediglich um eine akademische Würde". Zudem habe er „in persönlicher Unterredung mit dem pp. V i r c h o w die Ueberzeugung gewonnen, dass derselbe ernstlich darauf bedacht sein wird, sich während des Rektoratsjahres alle Zurückhaltung aufzuerlegen, welche die, wie er sich w o h l bewusst ist, in politischer Beziehung ganz überwiegend anders gestimmte Universität mit Entschiedenheit v o n ihm erwartet." 451
Bei seinem Amtsantritt stellte sich für Virchow jedoch die Frage, wie er zwischen seinem gewöhnlichen betont bürgerlichen Habitus und seinen neuen Repräsentationspflichten vermitteln sollte. Das Berliner Fremdenblatt malte genüsslich das Bild aus, wie der schmächtige Gelehrte bei seiner Amtseinführung und Vorstellung vor dem König mit einem purpurnem Mantel und Barett, Amtskette, Schnallenschuhen, seidenen Strümpfen und Kniehosen, „endlich auch noch einen ungefährlichen Degen!", bekleidet erscheinen würde.452 Virchow erschien aber bei diesem Ereignis schließlich nicht in der vollen Amtstracht, sondern trug „nur zu dem Frack die goldene Kette, wel100
che mit dem Bilde Friedrich Wilhelms III., des Stifters der Universität, geschmückt ist."453 Der Gelehrte im bürgerlichen Frack kontrastierte damit zum Gelehrten in der adligen Kniehose - mit diesem Kleidungsstück hätte Wilhelm II. Helmholtz gern auf dem ihm nach seinem Tod gewidmeten Denkmal im Innenhof der Berliner Universität dargestellt gesehen.454 Zugleich kontrastierte er aber auch zum unpolitischen Experten im Labormantel, der zum neuen Leitbild des Naturwissenschaftlers aufstieg und in dieser Zeit insbesondere von Robert Koch verkörpert wurde. Die Schwierigkeiten des preußischen Staates bei der Verleihung symbolischer Gratifikationen an Virchow zeigten sich auch bei späteren Gelegenheiten, so etwa bei seinem 50. Doktorjubiläum 1893. Der Ton der dabei entstandenen interministeriellen Auseinandersetzung stützt die bereits früher formulierte Vermutung, dass die Auflösung der absolutistischen Trennung von Privatraison und Untertanenpflicht im Gefolge der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Ideologisierung derartiger Fragen führte. Dabei wurden teilweise jahrzehntelang zurückliegende politische „Missetaten" herangezogen, aber auch seine ablehnende Haltung zur Militärvorlage der Reichsregierung 1893. Dagegen hatte Kultusminister von Bosse aus seiner Vorlage die ursprünglich dort enthaltene Bemerkung gestrichen: „(...) zumal auch nicht gesagt werden kann, dass Virchow als akademischer Lehrer und Examinator seinen Aufgaben überall gerecht wird." 455 Die Möglichkeit, die im Umfeld der Revolution von 1848 wenigstens im Einzelfall noch bestanden hatte, sich auf der Grundlage einer Trennung von privater Meinung und öffentlichen Dienstpflichten zu verständigen, ging somit im Kaiserreich mehr und mehr verloren. Die Haltung Wilhelms II. ist hierfür symptomatisch. So befahl der preußische Monarch Bosse ausdrücklich, Virchow zu seinem 50. Doktorjubiläum die vorgesehenen Glückwünsche lediglich persönlich, nicht aber zugleich in seinem Namen auszusprechen. 456 Ein letztes Mal stellte sich dieses Problem schließlich 1901 bei den Jubiläumsfeierlichkeiten zu Virchows 80. Geburtstag. Mittlerweile fiel die schwere Aufgabe, Wilhelm II. gnädig für eine Ehrung für Virchow zu stimmen, Kultusminister Konrad von Studt zu. Vorsichtig formulierte er, dass ihm wohl bewusst sei, „dass Virchow auf dem Gebiete der Politik besonders in früheren Jahren berechtigten Anstoß erregt hat, und ich bin weit entfernt, dies irgend wie beschönigen zu wollen." Jedoch trete dies gegenüber seinem wissenschaftlichen Ruhm und seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit zurück, zumal er auch, wie Studt befand, „in allen seinen amtlichen Beziehungen (...) stets eine durchaus angemessene und sachliche Haltung eingenommen" habe. Trotzdem lehnte es der Monarch ab, Virchow wie vorgeschlagen den Königlichen Kronen-Orden erster Klasse zu verleihen. 437 Dafür dekorierte er ihn zusätzlich zu dem in diesem Jahr bereits verliehenen Pour le merite für Wissen101
Schäften und Künste noch mit der Großen Medaille für Wissenschaft und ehrte ihn zudem mit einem persönlichen Glückwunschschreiben, in dem er ihn für seine Leistungen als Arzt und Wissenschaftler würdigte458 - was unübersehbar die Missbilligung der politischen Rolle Virchows einschloss. Den Hintergrund dieser mühsam abgerungenen Auszeichnung des Jubilars bildeten schier endlose Ehrungen durch ausländische wissenschaftliche Gesellschaften und Regierungen bis hin zu einer von 20.000 russischen Ärzten unterzeichneten Glückwunschadresse und einer durch die italienische Regierung eigens zu Virchows 80. Geburtstag geprägten goldenen Medaille. Hier stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Ehrungen durch den preußischen Staat für Virchows Selbstverständnis besaßen. Das liberale Bürgertum zeigte im deutschen Kaiserreich in dieser Hinsicht eine ambivalente Haltung: Auf der einen Seite jagte es derartigen Ehrungen nach, zugleich hegte es diesen gegenüber auch eine gewisse Reserve - weshalb der bürgerliche Freisinn die Zurückweisung des Adelsbriefs und des Titels einer Exzellenz durch Theodor Mommsen „als leuchtendes Beispiel wahren Gelehrtenund Bürgerstolzes" gefeiert hatte.459 Als Heinrich Schliemann 1881 seinen Freund Virchow bedrängte, ihm im Gegenzug für die Überlassung seiner Troja-Funde an das Berliner Völkerkundemuseum zu einer hohen Dekoration zu verhelfen, entschuldigte er seinen Wunsch damit, dass dieser ja, entgegen den früheren gemeinsam geteilten Uberzeugungen, ebenfalls Orden trage.460 Virchow hielt ihm entgegen, dass er als Beamter nicht in der Lage sei, seinem „Souverän gegenüber die Annahme eines Ordens zu verweigern, und nachdem ich erst einen hatte, kam es nicht mehr darauf an, auch mehrere zu nehmen. Ich trage sie aber nie anders, als bei ganz offiziellen und höchst feierlichen Gelegenheiten, w o ich beleidigen würde, wenn ich sie nicht anmachte. Wäre ich ein freier Mann, wie Sie, so würde ich auch an solche Rücksichten mich nicht binden."461
Schliemanns folgende kuriose Rechtfertigung, der sich Virchow gegenüber keineswegs der Lächerlichkeit wegen „Ordenssucht" preisgegeben sehen wollte, demonstriert das zwiespältige Verhältnis eines Bürgers, der sich vom Sympathisanten der amerikanischen Demokratie zum Bismarck-Bewunderer gewandelt hatte, zu derartigen Ehrungen des monarchischen preußischen Staates: Keinesfalls wolle er sich mit solchen Dekorationen künftig in der Öffentlichkeit zeigen. „Aber Orden", so Schliemann, „machen sich wunderbar, um die leeren Räume meiner Schränke, die für die trojanischen Schätze bestimmt waren, mit Orden geschmückt zu sehen."4 So bildet dieser Fall ein Muster jener politischen Ökonomie der Artefakte, innerhalb derer sich im Kaiserreich der Tausch zwischen Gegenständen für die Sammlungen der Berliner Museen und königlichen Orden vollzog. Die Ambivalenz des liberalen Bürgertums gegenüber derartigen Auszeichnungen zeigte sich auch an den Reaktionen der liberalen Presse, als es 102
um die Angemessenheit der Ehrungen Virchows zu seinem 80. Geburtstag durch den preußischen König ging: „In Z o r n und G r a m jammern publizistische Vertreter des Berliner bürgerlichen Freisinns; kein Schwarzer Adler, nicht einmal das G r o ß k r e u z des Roten Adlers, kein Stern des Hohenzollernordens habe sich in das K n o p f l o c h des Virchowschen Frackes herabgesenkt. N u r die große goldene Medaille f ü r Wissenschaft sei dem Jubilar verliehen worden."
Doch, so fragte der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, wie vertrug sich diese Klage mit dem sonstigen Stolz auf Ablehnung derartiger dem bürgerlichen Selbstbewusstsein entgegenstehenden Attribute? „Ich selbst kenne einen Zeitungsverleger", fügte er hinzu, „der vor Jahren sich blos einen hohen Orden wünschte, nur um ihn ablehnen zu können." So verteidigte er den königlichen Akt geradezu als „besonders feinsinnig", da er es auf diese Weise vermieden habe, den Geehrten sozusagen in eine Gesellschaft hineinzubringen, die er zeitlebens abgelehnt hätte.464 Auch das Berliner Tageblatt hob gerade den „bürgerlichen" Charakter der Virchow-Feiern positiv hervor,465 einen Eindruck, den auch der Berlin-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung unterstrich: „Wir, die hier beständig in dem Glauben geschult werden, ohne Vortritt des H o fes, der Staatsbehörden, der Generalität und des Militairs könne kein öffentlicher A k t wirklich glänzend und feierlich sich vollziehen, erlebten eine internationale Huldigung sondergleichen, ohne dass dabei U n i f o r m e n und Hofbeamte überhaupt eine Rolle spielten. (...) Mögen w i r auch im K e r n noch ganz dick in der alten preußischen Militärautokratie stecken, in der äußern Form sind w i r (...) erheblich .westlicher' geworden." 4 6 6
Die Auseinandersetzung um die symbolischen Gratifikationen Virchows durch den preußischen Staat, um seine eigenen Reaktionen wie die des liberalen Bürgertums lassen sich also auch als ein Beitrag zu der alten Streitfrage, wie bürgerlich' das Kaiserreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gewesen sei, verstehen. Dabei erweist sich, dass sich innerhalb des Systems statusbestimmender Anerkennungen ein genuin bürgerliches Symbolsystem zu einer starken Konkurrenz für die feudale Symbolik entwickelt hatte. Haushaltsführung
und
Konsum
Dem hohen sozialen Status, den Virchow im Verlauf seiner Karriere erreichte, entsprach auch seine Haushaltsführung. Schon in Würzburg, vor allem aber in Berlin, konnte er für seine Familie einen gehobenen Lebenszuschnitt entwickeln, auch wenn seine persönlichen Bedürfnisse dabei anspruchslos blieben. Aber im Gegensatz zu manchen späteren Schilderungen, die einen asketischen Zug hervorheben,468 legen etwa überlieferte Speisepläne eher eine etwas abweichende Charakterisierung nahe: Virchow legte auf 103
,kräftige' Ernährung Wert, weil sich andernfalls die Anstrengungen seiner Arbeit nicht ertragen ließen. So trank er seit seiner Assistenzarztzeit bereits zum zweiten Frühstück Bier. Auch zu den Hauptmahlzeiten nahm er Bier oder Wein zu sich, nach dem Essen rauchte er gewöhnlich eine Zigarre oder Zigarette.4 Sein Küchenzettel war ,gutbürgerlich', wobei er später den Fleischkonsum aus gesundheitlichen Gründen mäßigte. Uberhaupt lebte er erklärtermaßen nach dem Grundsatz, dass stets „Mäßigkeit in Allem" zu herrschen habe - was auch die Sexualität einschloss-, und er empfahl diese Haltung auch seinem sinnenfrohen Freund Heinrich Schliemann, der ihn wegen seiner Potenzschwierigkeiten um medizinischen Rat gebeten hatte.470 So drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Charakterisierung Virchows als „Asket" teilweise um eine Stilisierung handelte. Dabei wurde ein alter Topos herangezogen, wonach die asketische Lebensweise eines Wissenschaftlers die Wahrheit des von ihm vertretenen Wissens verbürge, indem sein Desinteresse an weltlichen (und namentlich an kulinarischen) Dingen die Reinheit seiner Erkenntnis zeige. Dies wurzelt in einer antiken und christlichen Tradition, in der vor dem Hintergrund einer Auffassung des Körpers als Grab der Seele ein Zusammenhang zwischen der asketischen Lebensweise des Philosophen bzw. des Heiligen und der Wahrheit des nur ihnen zugänglichen Wissens bestand. Diese Vorstellung wurde in der Neuzeit auf den Wissenschaftler übertragen. Zwar verblasste die Vorstellung des „entkörperlichten Wissenschaftlers" allmählich, doch wirkte dieser Topos zumal in der populären Wahrnehmung noch bis in das 20. Jahrhundert hinein nach.471 Dies zeigt auch der Widerspruch zwischen der öffentlichen Darstellung Virchows als Asket und seiner eigenen Haltung zu seinem Körper: Statt asketischer Verachtung der eigenen physischen Bedürfnisse verfolgte er eine selbstkontrollierte, disziplinierte Lebensweise, die körperlichen Ansprüchen im vernünftigen Maß' nachgab. Zwar besaß auch das Ideal der Mäßigung eine weit in die Antike zurückreichende Tradition. Jedoch mischte sich dies bei Virchow mit einem spezifisch modernen Zug: dem Versuch, das rechte Maß der Lebensführung physiologisch zu berechnen.4 Weniger von einem Sinn für Askese als von gutbürgerlicher Behaglichkeit, die mit dem Anspruch auf eine physiologisch begründete .gesunde' Lebensweise einherging, zeugten auch die übrigen Aspekte seiner Lebensführung. Dies lässt sich vor allem an Indikatoren wie Wohnsituation, Hauspersonal und Ferienreisen ablesen. Die ersten Jahre seiner Professorenexistenz lebte Virchow mit seiner Familie zur Miete, zumal er in Würzburg, wo er zuerst in der Eichhorn-, dann in der Theaterstraße wohnte, niemals auf Dauer zu bleiben gedachte. Auch in Berlin bewohnte er mit seiner Familie zunächst Mietwohnungen, von 1856 bis 1862 am Leipziger Platz 13, anschließend in der Hohenzollernstraße 1, einer fast im Tiergarten und nach allen Seiten freigelegenen Wohnung. Damit konnte er es sich sogleich nach 104
seiner Rückkehr nach Berlin leisten, sich in einer bevorzugten Wohngegend niederzulassen, die damals noch fast außerhalb der sich in der Folge rapide ausbreitenden Stadt lag.473 Der in den fünfziger Jahren einsetzende starke Anstieg der Berliner Mietpreise 474 bewegte Virchow jedoch 1864 schließlich dazu, ein Haus zu kaufen, um sich „bleibend einrichten" zu können und sicher zu sein, „nicht hinausgeworfen zu werden." 475 Dazu musste er sich zunächst mit einer Schuld von 35.000 Talern belasten, was ihn zu scharfer Kalkulation seiner Einnahmen und Ausgaben zwang. 476 Damit stieg Virchow aber zugleich in die beneidete Klasse der Hausbesitzer auf, mit der nach dem Berliner kommunalen Wahlrecht auch exklusive politische Rechte verbunden waren: U m den Einfluss der besitzenden Klasse zu gewährleisten, besaßen die Grundbesitzer den Anspruch auf mindestens die Hälfte der Stadtverordnetenmandate. 477 Sein Haus in der Schellingstraße 10 befand sich in jenem damals noch am Rande der Stadt liegenden Berliner Stadtteil, der etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch „Geheimratsviertel" genannt wurde und dem 1. Berliner Wahlkreis für das Preußische Abgeordnetenhaus entsprach. Es war der, wie der dänische Literaturwissenschaftler und Journalist Georg Brandes in den 1880er Jahren beschrieb, „fashionable Stadtteil" nahe des Tiergartens, in dem vor allem höhere Beamte, Hochschulprofessoren, Dichter, Künstler und Offiziere wohnten. 478 Die „breitfassadigen, stukkaturfreien, von flachem Säulenornament umschmiegten Gebäude, denen hohe Fenster viel Licht und Luft zuführten, galten als vornehmste Wohnhäuser der inneren Stadt, damals, in den fünfziger Jahren, bevor noch die aufregende, luxushungrige Gründerzeit die Geschmacksbegriffe verwirrte", wie ein melancholischer Rückblick 1910 beschrieb. 479 Virchows Haus, ein dreistöckiges Gebäude mit einem kleinen Vorgarten, dessen zweites Stockwerk er bewohnte, während die anderen Teile vermietet waren, verwandelte sich im Verlauf der nahezu vier Jahrzehnte, die er dort mit seiner Familie lebte, in ein Museum: „überall standen oder lagen prähistorische Stücke aller Art, Schädel, Knochenreste. Und an den Wänden, auf Tischen, Stühlen, kurz überall waren riesige Büchermassen aufgestapelt", was erhaltene Fotografien glaubhaft belegen. Die Schilderung seines Arbeitszimmers als eines überbordenden, scheinbar ordnungslosen Archivs, in dem Virchow von dem angesammelten Material nahezu überwuchert wurde, bildete einen festen Topos in allen zeitgenössischen Berichten. Dieses breitete sich über drei Räume seiner Wohnung aus, und seine Privatbibliothek soll eine der größten Berlins gewesen sein.480 Im übrigen war die Ausstattung der Wohnung „einfach, schlicht und bürgerlich" und wich in keinem Ausstattungsdetail vom üblichen Standard einer Berliner Mittelstandsfamilie ab, wie er in den sechziger Jahren üblich war. Wie seine Tochter später schilderte, war in dem Hause „alles wohnlich, behaglich, sorgsam gepflegt, aber ganz 105
frei von jenem Luxus, der nach dem Krieg von 1871 nur zu bald in dem schnell reich werdenden Berlin üblich wurde."481 Eine Reportage vcn 1901 schilderte die nach vorne zur Straße gelegenen Repräsentationsräume: Demnach fanden sich im Salon der Wohnung „eine ganz gewöhnliche, grüne Papiertapete, weiße Vorhänge um die Fenster, eine dunkelfarbige Möbelgarnitur, auf einem großen Teppich von rothem Velours, ein Pianino, eine paar Stiche und Photographien an den Wänden". Auch der Vogelkäfig, der Natur in das Innere der Wohnung hineinholte, gehörte zum Standard dieser bürgerlichen Wohnkultur, allein, dass dieser nicht mit lebenden, sondern mit ausgestopften Vögeln gefüllt war, hob sich als ungewöhnliches Detail ab und verriet den Sammler.4 Die Selbstverständlichkeit von Dienstpersonal im gehobenen bürgerlichen Lebenszuschnitt des 19. Jahrhunderts drückt sich unter anderem in der Tatsache aus, dass es in den Quellen kaum erwähnt wird. Lediglich im Zusammenhang von Unregelmäßigkeiten findet es sich etwa in der ehelichen Korrespondenz thematisiert. Aus diesen mageren Angaben lässt sich rekonstruieren, dass ein Kindermädchen bzw. ein Stubenmädchen sowie eine Köchin zum Haushalt der Familie Virchow gehörten.4 Mehr Erwähnung in den Quellen findet dagegen ein anderes wichtiges Element des bürgerlichen Lebensstils: Virchow unternahm zahlreiche wissenschaftliche Reisen, die „ihm allerdings ein Bedürfnis (waren), und für dessen Befriedigung hatte er, der sonst so sparsame Haushälter und kluge Verwalter seiner Habe, keinerlei Kosten gescheut."484 So wies er 1879 das Angebot seines Freundes Heinrich Schliemann, eine Reise nach London zur Besichtigung seiner Sammlungen auf dessen Kosten zu unternehmen, zurück: „Ich bin kein reicher Mann, aber ich habe doch so viel erworben, dass ich ohne Beschwerde ein Übriges für wissenschaftliche Zwecke tun kann." 4 5 Virchow besuchte ausdauernd, meist mehrmals im Jahr, wissenschaftliche Kongresse und Versammlungen in Deutschland und ganz Europa, wozu seine zahlreichen kleineren und größeren Exkursionen und Forschungsreisen kamen, die ihn unter anderem mit einem Auftrag der dortigen Regierung zur Untersuchung der Lepra nach Norwegen, zu archäologischen Untersuchungen mit Heinrich Schliemann nach Kleinasien und nach Ägypten und zu eigenen anthropologischen und urgeschichtlichen Forschungsreisen nach Russland führten. Neben zahlreichen Familienbesuchen unternahm er häufig Ferienreisen mit Frau und Kindern, die vor allem an die Ostsee und die sächsische Schweiz, zu Freunden und Verwandten nach Pommern und in die Pfalz, aber auch in die Schweiz führten, wo sie regelmäßig Gebirgswanderungen unternahmen. Mit seiner Frau, die er oft zu Kongressreisen mitnahm, reiste er beispielsweise zur Eröffnung des Kölner Domes 1880.486 Hinzu kamen die zahlreichen Grabungsreisen in die nähere und weitere Umgebung Berlins, zu denen er oftmals seine Kinder mitnahm und bei denen er nach Burgwällen, Pfahlbauten und 106
anderen urgeschichtlichen Spuren suchte. Diese Exkursionen dienten ihm als „regelmäßige Erholung" 4 7. Auch hier galt die hygienische Maxime von „Licht und Luft". Im Vordergrund standen dabei für Virchow das „Auslüften" bzw. „frische Luft schnappen" und noch nicht das „Energie tanken", das der folgenden Generation zur zentralen physiologischen Metapher zur Beschreibung des Verhältnisses von Arbeit, Ermüdung und Erholung wurde.488 Dabei war die Grenze zwischen Privatleben und Wissenschaft für ihn nicht streng gezogen: So fielen ihm bei Strandspaziergängen beiläufig historisch bedeutsame Schädel auf, die er sogleich vermaß, und eine Ferienwanderung in der Schweiz führte beiläufig zur Revision der bislang bestehenden Lehrmeinung über die Anfänge der Verbreitung arabischer Jahreszahlen in Europa. Damit verband er die Moral, „dass man immer seine Augen offen halten soll, und dass man in Allem, selbst in dem Vergnügen, ungeahnte Schätze für die Wissenschaft entdecken kann" 489 . Zu dem von Virchow kultivierten naturwissenschaftlichen Habitus gehörte damit auch die enge Verbindung des Schönen mit dem Nützlichen. Dies prägte auch sein Verhältnis zur Kunst, das wenig zu der verbreiteten Vorstellung beiträgt, wonach diese im 19. Jahrhundert als Medium der Individualisierung und der innerweltlichen Transzendenz gedient habe und somit zu einer säkularen Religion geworden sei.4 Wie schon berichtet hatte Virchow während seiner Studienzeit häufig Theateraufführungen besucht, teilweise wöchentlich. In späteren Jahren frequentierte er Theater oder andere kulturelle Veranstaltungen allerdings meist nur noch, soweit es sich um das Rahmenprogramm wissenschaftlicher Kongresse handelte. Im 19. Jahrhundert wurde eine ästhetische Rezeptionsweise, die künstlerische Darbietungen als „Begleitmoment von Geselligkeit" ansah, von einer neuen Art der Rezeption abgelöst, bei der, ausgedrückt „durch korrektes Benehmen und schweigendes Nach-Innen-Wenden", die Kultivierung von Subjektivität im Vordergrund stand. Dies ging hauptsächlich von der Musik aus, die eine Aufwertung als „reinste" ästhetische Gattung erlebte.491 Der Straßburger Anatomieprofessor Wilhelm von Waldeyer verlieh dieser Auffassung anschaulich Ausdruck, als er einen gemeinsamen Konzertbesuch mit Virchow anlässlich einer Tagung in Ulm 1892 im zeitgenössischen ,KolossalstiP schilderte: „Das Schönste und Eindrucksvollste dieser Tagung", so Waldeyer, „bereitete mir aber wieder Frau Musica durch ein wundervolles K o n z e r t im Ulmer Münster, dessen Orgel ja eine der ausgezeichnetsten ist, die wir in Deutschland besitzen, und wobei uns eine der ersten Sängerinnen des Stuttgarter H o f t h e aters durch echt künstlerische Wiedergabe der besten Sachen von Händel und Bach tief ergriff und entzückte."
Dabei habe ihn keine Musikdarstellung jemals so „aus der Welt entrückt und nachhaltig auf ihn eingewirkt wie diese. Rudolf Virchow saß neben mir; wir 107
wechselten kein Wort; aber wenn ich ihn ansah, wusste ich, dass es ihm ging wir mir. Stumm reichten wir uns, als der letzte Ton verklungen war, die Hand."492 Diese Stilisierung eines gemeinsamen quasi-liturgischen Kunsterlebnisses steht im deutlichen Gegensatz zu den Schilderungen, die Virchow selbst von künstlerischen Veranstaltungen gab: Uber die Jahre hinweg blieb es ein konstantes Merkmal seiner Berichte über von ihm besuchte Kunstereignisse, dass sie überwiegend dem Publikum und besonders etwa anwesenden bedeutenden Personen gewidmet waren und sich kaum in ästhetischen oder subjektives Erleben ausdrückenden Qualifikationen ergingen.493 Lebensführung und Konsumgewohnheiten wiesen Virchow somit als Vertreter jener als diszipliniert, nüchtern und sparsam beschriebenen „altpreußischen" Generation aus, deren allmähliche Verdrängung durch eine neue, einer opulenteren Ästhetik und Lebensführung zugetane „Gründerzeitgeneration" von Schriftstellern wie Theodor Fontane in vielen Romanen beklagt oder, weniger sentimental, von Georg Brandes494 analysiert wurde. Das kameralistische Prinzip der Rechnungsführung, das ihm als Pepin eingebläut worden war, beherrschte dabei gleichermaßen seine private Sphäre wo er stets die Verwaltungsangelegenheiten seines Hauses selbst erledigte495 als auch sein Wirken in der öffentlichen Sphäre, wo er als jahrzehntelanges Mitglied bzw. Vorsitzender der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses für die penible Kontrolle der Haushaltsentwürfe bekannt war.496 Dabei blieb das mit seinem Lebensstil verbundene Gefühl bürgerlicher Sekurität bei ihm aber stets von der Sorge um die Sicherung des erreichten Status seiner Familie und die intergenerationelle Weitergabe seines Vermögens beeinflusst. So behielten finanzielle Fragen für das persönliche Verhältnis zwischen Virchow und seinem Vater zeitlebens zentrale Bedeutung. Nach dem Tod von Virchows Mutter 1857 endete in seinen Augen die „Pflicht, als Sohn Frieden zu erhalten zwischen den Eltern"497, und das Vater-Sohn-Verhältnis bewegte sich schließlich auf einen völligen Bruch zu. Carl Virchow hielt hartnäckig an der Bewirtschaftung seines eigenen Grundbesitzes fest. Dieser bedeutete für ihn mehr als nur eine Einnahmequelle, auch wenn er dabei ökonomisch schlecht fuhr, zumal als 1857 ein großer Scheunenbrand seine gesamte Jahresernte vernichtete.498 Nachdem sein Vater alle früheren Ratschläge in den Wind geschlagen hatte, versuchte Rudolf Virchow diesen aber schließlich im folgenden Jahr zu überreden, die Landwirtschaft aufzugeben und seinen Besitz zu kapitalisieren. Die Zinsen des von seinem Vater auf einen Wert von 25.000 Talern geschätzten elterlichen Besitzes würden, so der Sohn, einen höheren Betrag abwerfen als die Erträge der Landwirtschaft. Diese könnten seinem mittlerweile alleinstehenden Vater eine sorgenfreie Existenz ermöglichen, während seine Landwirtschaft ständig durch die Fol-
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gen glücklosen Wirtschaftens und von Naturkatastrophen wie Missernten, Hagel und Viehseuchen gefährdet sei. 4 " Bei einem damaligen Zinssatz langfristiger Staatsanleihen von gut vier Prozent hätten sich in der Tat jährliche Zinserträge von über 1.000 Talern ergeben. Dieser Betrag reichte für eine sparsame bürgerliche Lebensführung, zumal sein Vater ja keine Familie mehr zu versorgen hatte. Immerhin war dies etwa das Fünffache des jährlich verfügbaren Einkommens eines Arbeiterhaushalts und das Doppelte eines Kleinbürgerhaushalts. 500 Dabei argumentierte Rudolf Virchow vor dem Hintergrund der Erfahrung eines langanhaltenden, erst 1873 unterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs, der zu den ihm wohlvertrauten agrarischen Krisen scharf kontrastierte. Doch weniger derartige Rentabilitätsvergleiche, als die sentimentale Anhänglichkeit an das eigene Land und die damit verbundene Existenzform, vielleicht aber auch das Nachwirken physiokratischer Auffassungen, spielten die Hauptrolle für die Abneigung seines Vaters, in den Stand des Renten-Privatiers zu wechseln. So stießen in der Auseinandersetzung der beiden Generationen auch zwei unterschiedliche Wirtschaftsmentalitäten aufeinander. 501 Carl Virchow bedrängte seinen Sohn immer stärker, sein angespartes Kapital in die väterliche Landwirtschaft zu investieren. Seine Ablehnung rechtfertigte Rudolf Virchow vor allem mit seiner Verantwortung als Familienvater. Ein Jahr nach seiner im August 1850 erfolgten Heirat gebar seine Frau das erste ihrer insgesamt sechs gemeinsamen Kinder, und so wurde er nicht müde, seinem Vater gegenüber zu betonen: „Ich darf keinen Augenblick vergessen, dass ich nicht bloß Sohn, sondern auch Mann u. Vater bin. Niemand gibt mir etwas, als was ich verdiene." Virchow hatte mit dem Gedanken an eine Verheiratung gewartet, bis er sich durch den Ruf nach Würzburg in der Lage sah, eine Familie zu ernähren. 502 Durch seine Ehe erwarb er zwar einiges an sozialem, aber kein materielles Kapital, hatte er doch von seinem Schwiegervater, wie er später schrieb, „nie einen Dreier an baarem Geld bekommen, u. meine Frau außer einem gelegentlichen Geschenke gleichfalls nicht; ob meine Kinder je etwas von ihm erben werden, weiß ich nicht. Trotzdem besteht zwischen uns das freundlichste Verhältniß. A b e r daraus folgt f ü r mich die Pflicht, daß ich jedes Jahr f ü r meine Familie wenigstens etwas zurücklege u. daß ich die einmal gesammelten Capitalien, die D u Dir wahrscheinlich oder hoffentlich nicht als groß vorstellen wirst, als unangreifbar betrachte."
Allein in den Fällen dringendster Not bei seinem Vater wäre er bereit, auf diese Ersparnisse zurückgreifen. 503 Eine Erbschaft aus der Hinterlassenschaft seines 1856 verstorbenen Onkels, Major Virchow, sorgte für finanzielle Entlastung, zugleich aber auch für neuen Streit mit seinem Vater. Einen wichtigen Aspekt dieser Erbschaft, zu deren Exekutor Rudolf Virchow wurde, bildete ein Familienstipendium in Höhe von 15.000 Talern. Dieses sollte der 109
Ausbildung der männlichen Nachfahren der vier Geschwister des Erblassers zukommen504 und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Weitergabe des erreichten sozialen Status der Familie Virchow. Mit dem Tod seines Vaters 1864 entfiel die ständige finanzielle Verantwortung Rudolf Virchows für diesen. Gleichzeitig erbte er die Reste des elterlichen Vermögens, zu dem Haus, Land, Vieh und Bücher gehörten. Allerdings blieb weiterhin die Sorge um die eigene Familie, die er 1858 seinem Vater in Abwehr neuerlicher Geldforderungen entgegengehalten hatte: „Soll ich nicht an das Geschick denken, das meiner Frau, meiner Kinder warten würde, wenn ich bald stürbe?"503 Dies war, zumal bei Pathologen, die in ständiger Gefahr standen, sich bei ihrer gefährlichen Arbeit mit Leichen eine lebensbedrohliche Infektion zuzuziehen, weit mehr als nur eine theoretische Möglichkeit. Professoren wurden grundsätzlich nicht pensioniert, also existierten im Gegensatz zu anderen Beamten keine Pensionsansprüche. Witwen und Waisen der Professoren besaßen zunächst Anspruch auf die „Gnadenkompetenzen", d. h. die Fortzahlung des Diensteinkommens für den Sterbemonat sowie die drei folgenden Monate. Darüber hinaus war deren finanzielle Absicherung in Berlin seit 1816, ähnlich wie an anderen preußischen Universitäten, Angelegenheit einer „Professoren-Wittwen-Versorgungs-Anstalt"506. Verheiratete Professoren zahlten einen Jahresbeitrag von 120 Mark ein, wofür deren Witwen einen Anspruch auf ein jährliches Witwengehalt von 1.200 Mark erwarben. Dazu kam für eheliche Kinder noch ein Zuschuss von 300 Mark bei einem, 500 Mark bei zwei bzw. 600 Mark bei drei oder mehreren Kindern. Dieser wurde bei Söhnen bis zur Vollendung des 20., bei Töchtern bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs gezahlt. Diese Ansprüche erloschen bei Wiederverheiratung der Witwe, bei einer Verurteilung zu einer Strafe von mehr als sechs Monaten Gefängnis bzw. 900 Mark Geldstrafe oder einem „ärgerlichen Lebenswandel" 507 . 1897/98 trat hier eine Änderung ein, als zum einen die Beiträge auf die Staatskasse übernommen wurden, und zum anderen das Witwen- und Waisengehalt deutlich erhöht wurde. So erhielt die Witwe eines ordentlichen Professors künftig jährlich 1.650 Mark, eine Ganzwaise 720 Mark, jede weitere Ganzwaise bzw. eine Halbwaise 480 Mark sowie jede weitere Halbwaise 300 Mark.508 Zu Recht hießen diese Leistungen „Wittwengehalt": Der Status der Witwe wurde hier zu einer Art von Beruf, ein eigenes, neues Leben lag nicht im Horizont dieser Bestimmungen und wurde mit dem Verlust der Bezüge geahndet. Jedoch drohte der Witwenstatus angesichts der Höhe der Leistungen mit einem scharfen sozialen Abstieg einherzugehen, falls keine weiteren Rücklagen vorhanden waren, zumal bei Professoren, die hohe Einnahmen neben ihrem Gehalt mit einem aufwendigen Lebensstil verbanden. Dies stand Virchow deutlich vor Augen, wandte er sich doch am Neujahrstag 1897 mit einem Hilfsgesuch für die Witwe seines Kollegen Emil du Bois110
Reymond an Ministerialdirektor Althoff. Da dieser außer der häuslichen Ausstattung und einem Landhaus keine Vermögenswerte zurückgeblieben waren, war die „Arme sogar in Verlegenheit, wie sie die kostspielige Heizung des Hauses fortsetzen soll. Da sie noch eine Anzahl unversorgter Kinder hat, so ist kaum zu erwarten, dass ihre Witwenpension für den Unterhalt ausreichen wird." Ähnliche Schwierigkeiten waren auch bei der Witwe von Hermann von Helmholtz aufgetreten, wo schließlich durch eine „private Petition an Seine Majestät" ein Ausweg gesucht worden war. 5 Die Sicherung des sozialen Status der Familienangehörigen blieb somit auch für einen erfolgreichen Professor ein erhebliches Problem, zumal wenn sie sich - wie im Falle von du Bois-Reymond und Helmholtz - einen repräsentativen Lebensstil zugelegt hatten. Virchow, der bis zu seinem 82. Lebensjahr im Amt blieb, konnte aber seiner Frau und seinen Kindern in dieser Hinsicht wohlgeordnete Verhältnisse hinterlassen. Dazu trug aber auch bei, dass er erhebliche Anstrengungen unternommen hatte, den von ihm erreichten Status weiterzureichen. Deshalb richtet sich der Blick als nächstes auf seine Familie und die damit verbundenen Geschlechterrollen. Die konzeptionelle Trennung in Öffentlichkeit und private Sphäre, die dieser Frage zugrunde liegt, ist freilich selbst bereits ein Ausdruck der im 19. Jahrhundert zu einem gewissen Abschluss gelangten normativen Fixierung polarer Geschlechteridentitäten und muss deshalb sorgfältig überprüft werden. 510
b) Familie und Geschlechterrollen Bis zu seinem 28. Lebensjahr, als sich Virchow verlobte, lebte er, wie er Ende 1848 in einem Brief an seinen gleichaltrigen Duz-Freund und Königsberger Arzt Wilhelm von Wittich selbstironisch schrieb, als „zeit- und raumlose(r) Hagestolz" 511 . Die Revolution bzw. die damit einhergehenden extremen Gefühlslagen begünstigten jedoch bei ihm die Entwicklung intensiver Freundschaften. Neben dem liberalen Königsberger Hegelschüler und Philosophen Karl Rosenkranz (1805-1879), der im zweiten Halbjahr 1848 auch als vortragender Rat im Preußischen Kultusministerium tätig war, gehörte zu den neuen, engen Freunden aus dieser Epoche vor allem dessen Schüler, der Sanskritforscher und Demokrat Theodor Goldstücker (1821-1872), dem als Juden in Berlin die Habilitation verweigert worden war.512 Während der Revolution hatte sich dieser zusammen mit Virchow in der Berliner demokratischen Bewegung engagiert. 1850 emigrierte er nach England, wo er im Jahr darauf Professor für Sanskrit an der Londoner Universität wurde. Sieht man von seiner Ehe ab, so stellte die Freundschaft zu Goldstücker die engste emotionale Bindung dar, die Virchow in seinem langen Leben einging.513 In zahlreichen Briefen explorierten die beiden während der Revolution ihre ge111
genseitigen Gefühle, wobei sich Virchow stark gegen den von ihm so empfundenen totalen emotionalen Vereinnahmungsversuch Goldstückers wehr_
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te. Im November 1849, unmittelbar vor seiner Abreise nach Würzburg, kam es beim Abschiedsbesuch im Haus der Familie Mayer zur Verlobung mit der erst 17-jährigen Ferdinande Amalie Rosalie Mayer, der jüngsten von drei Schwestern. Virchow, der seit einigen Monaten in das stets nur Rose genannte Mädchen verliebt war, hatte die Initiative für eine gegenseitige Offenbarung ihrer Gefühle ergriffen. Die eigentliche Entscheidung für die Verlobung war, wie Virchow seinem Vater erklärte, durch das künftige Paar selbst getroffen worden. Die in Anlehnung an traditionelle Formen erfolgte Frage an die Eltern um ihre Zustimmung bestätigte diesen Akt nur noch. Dass sein Vater über diesen Punkt genaue Aufklärung erbeten hatte, deutet darauf hin, dass der hierin zum Ausdruck kommende Wertewandel zumindest für die ältere Generation noch keineswegs selbstverständlich war. Dabei hatte Virchow, wie er seinem Vater weiter erklärte, mit diesem Schritt solange 1 ·· warten «515 wollen, bis er „im Stande zu sein glaubte, eine Frau ernähren zu können. Eine Folge dieser Verlobung war eine dramatische Auseinandersetzung mit Goldstücker.516 Virchow wurde dabei durch das fordernde Verhalten seines Freundes in einen „innerlichen Conflikt zwischen der Liebe u. der Freundschaft"517 getrieben. Für den heutigen Betrachter drängt sich der Gedanke auf, dass bei Goldstücker ein homoerotisches Moment eine Rolle gespielt haben könnte. Allerdings stellt sich hier die Frage, inwieweit der Konflikt um die Codierung von Intimität, wie ihn Niklas Luhmann für das 18. Jahrhundert herausgearbeitet hat, auch am Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht endgültig entschieden war.518 Virchow stellte sich schließlich ganz auf die Grundlage des im 18. und frühen 19. Jahrhundert aufgekommenen modernen Liebesideals, das auf der „Vereinigung der Seelen", d. h. der Verschmelzung zweier polarer Persönlichkeiten basierte:519 Am Ende zog er eine deutliche Grenze zwischen der „Freundschaft" zu Theodor und der „Liebe" zu Rose, wobei nun Intimität eindeutig der letzteren vorbehalten blieb: „Aber ich sehe ach, wie ein Unterschied ist in meiner Liebe zu Röschen u. der zu Ihnen: Röschen hat mich ganz, u. Sie haben immer einen Theil nicht gehabt. Als Sie diesen auch haben wollten, da war Röschen's Besitz schon sicher, u. ich selbst empörte mich für sie. (...) Was Sie von mir wollten, weiß ich eigentlich erst, seitdem mir die Rose ihr Herz offenbart u. wir immer mehr in einander aufgehen, immer mehr du u. ich."520
Nachdem Virchow diesen Konflikt dadurch bereinigt hatte, dass er die konkurrierenden Anforderungen an Intimität in klar voneinander abgegrenzte Bereiche trennte, nämlich in die eheliche „Liebe" zu seiner Frau einerseits 112
und in die „Freundschaft" zu Goldstücker andererseits, versuchte er beide wieder zu integrieren. Dies ging bis zur teilweise gemeinsam verbrachten Hochzeitsreise, die jedoch wenig harmonisch verlief. 51 Ferdinande Virchow akzeptierte Theodor Goldstücker jedoch in der Rolle des Hausfreunds, und so bestellte ihm Virchow angesichts eines angekündigten Besuchs: „Meine Frau freut sich mehr dazu, als sie sagen kann, denn sie fühlt doch, dass Sie mir mehr sind, als sonst ein Mann, ob sie gleich nicht weiß, weshalb." Sowohl in Virchows Verhältnis zu Goldstücker als auch zu Ferdinande spielten romantische Verhaltensstilisierungen eine große Rolle. Die Verbindung mit der bei ihrer Verlobung im November 1848 erst 17-jährigen Ferdinande folgte dem sich erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als soziale N o r m entstehenden Ideal einer Liebesheirat. 5 " Die Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit im August 1850, welche die künftigen Eheleute getrennt in Berlin und Würzburg verbrachten, lebte er, wie er Goldstücker schilderte, „eigentlich blos in der Rose, u. wenn Sie wollen, nicht einmal in der wirklichen, sondern in der idealen, geträumten Braut." 524 Aufschlussreiche Einblicke in Virchows Idealbild liefert ein Vortrag über die Krankheiten der Frau im Kindbett, den Virchow am 11. Januar 1848 vor der von seinem künftigen Schwiegervater gegründeten Gesellschaft für Geburtshülfe gehalten hatte. Hier fand sich eine eigentümliche Spannung zwischen romantischer Verklärung und biologischer Determinierung: „(...) die süsse Zartheit und R u n d u n g der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der menschlichen Anschauung, diese Sanftmuth, H i n g e b u n g und Treue - kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks."
So besaß dieses biedermeierlich-stimmungsvolle Gemälde einer Idealfrau seine physiologische Grundlage in den Ovarien: „Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit mit den groben und harten Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem missgünstigen und selbstsüchtigen Gemüth und dem schiefen Urtheil steht vor uns." Körperliche ebenso wie seelische und charakterliche Eigenschaften des weiblichen Geschlechts waren damit für Virchow biologisch determiniert. Zu diesen Eigenschaften zählte vor allem auch der Kinderwunsch: Früher oder später finde bei jeder Frau der „Kampf zwischen dem jungfräulichen Stolz und dem geheimen Sehnen, zwischen der äusserlichen Sprödigkeit (...) und dem jungen, innen sich regenden Leben, zwischen der Schaam und der Wollust seine Ende". Dann sei es die „Jungfrau (...) müde, immer nur lebensfähige Zellen, die Möglichkeiten von
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Generationen producirt zu haben, sie will nun auch wirklich lebende Zellenhaufen, Kinder hervorbringen."525 Diese Mischung aus romantischem Vitalismus und biologischem Mechanismus durchzog auch Virchows Schilderung des Zeugungsvorgangs, „jenes grosse(n) Mysterium(s) an sich endloser gleichartiger Bewegung". Dabei zitierte er zunächst Friedrich Schlegels 1799 erschienenen Roman Lucinde, in dem das romantische Liebesideal einer ekstatischen psychischen und physischen Verschmelzung literarisch formuliert wurde. So wandle sich hier, zitierte Virchow dieses Werk, „die Wollust in der einsamen Umarmung der Liebenden (...) in das reine Feuer der edelsten Lebenskraft"526. Anschließend werde, wie Virchow in einer abrupten mechanistischen Wendung hinzufügte, „der männliche Samen durch unwillkürliche, reflektirte Muskelaktion" in den, wie es der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Geburtshülfe Josef Hermann Schmidt genannt hatte, weiblichen „Geschlechtsdarm" eingetrieben. Dabei bezeichnete Virchow den männlichen Samen als den eigentlichen Träger der Lebenskraft, welcher der weiblichen Eizelle, die bislang lediglich eine „lebensfähige Zelle" gewesen sei, durch die Vereinigung „wirkliches, selbständiges Leben" verleihe.527 In dieser Konzeptionalisierung des weiblichen Körpers fungierte der männliche Samen als Erlöser des weiblichen Eies, das erst durch die Vermengung mit dem männlichem Prinzip die Qualität selbständigen Lebens erhielt. Mit dieser Auffassung setzte Virchow einen intensiven medizinischen und anthropologischen Diskurs fort, innerhalb dessen seit dem 18. Jahrhundert die Polarität weiblicher und männlicher Geschlechtscharaktere wissenschaftlich begründet worden war.528 Indem seit dem Ende dieses Jahrhunderts der Mensch nicht mehr in erster Linie ständisch definiert, sondern als Teil einer universal gültigen Ordnung begriffen werden konnte, ließen sich zwar die bisherigen sozialen Unterschiede transzendieren. Als neue Differenz verbürgende Ordnungskriterien stiegen aber „Rasse" und vor allem „Geschlecht" auf.529 Das von Virchow skizzierte Idealbild einer Frau orientierte sich dabei an bürgerlichen Maßstäben und wies zudem eine stark biedermeierliche Färbung auf, denen seine auserwählte Braut Ferdinande Mayer in idealer Weise zu entsprechen schien.530 Gegenüber seinem Freund Wittich charakterisierte er diese: „Sie ist noch etwas jung, wird im Frühjahr 18 Jahre, ist sehr gut u. sehr bescheiden"531. Seinem Vater schrieb Virchow, dass er sich in ihr Gesicht und ihren Körper „eigentlich erst nach der Verlobung" verliebt habe: „Sie ist etwas klein u. zart, dunkelbraunes Haar, blaue Augen, sehr schöne lange Wimpern u. Brauen, sehr schöne Farben, feine, etwas aufgeworfene, aber nicht stumpfe Nase, kleiner Mund, schöne Hände u. fast zu gute Taille."532 Auch die Auseinandersetzung um den Zeitpunkt der Hochzeit mit Ferdinande Mayer bewegte sich innerhalb eines medizinischen Diskurses: Vir114
chow drängte auf einen frühen Termin zu Ostern 1850, während der Brautvater ihn zu mehr Geduld ermahnte. Der ,Vater-Arzt' Mayer, der angesehenste Gynäkologe Berlins, wies den drängenden Bräutigam auf die großen gesundheitlichen Gefahren hin, die „eine frühe Heirath für ein so zartes Kind, wie Röschen, mit sich brächte", und illustrierte dies drastisch aus seiner reichen Praxis als Frauenarzt. Diese Bedenken standen vor dem Hintergrund eines noch immer dramatisch hohen Risikos für Frauen, im Kindsbett zu sterben. Der gleichfalls gynäkologisch ausgewiesene Virchow versuchte, dem Vater mit medizinischen Argumenten beizukommen, aber vergeblich:' 33 „Die Physiologie hat gesiegt, u. die Herren Eltern haben bestimmt, dass es so sein soll"334, kommentierte er schließlich resigniert den späten Hochzeitstermin im August 1850. Damit war Ferdinande Virchow in dieser Ehe von Anfang an nicht nur Ehefrau, sondern immer auch Patientin und blieb dies auch, um so mehr, als sie von Anfang an ständig kränkelte. Ferdinande und Rudolf Virchow hatten insgesamt sechs Kinder, die zwischen 1851 und 1873 geboren wurden. Davon waren drei Jungen und drei Mädchen, womit sich diese Familie genau im Durchschnitt deutscher bildungsbürgerlicher Familien ihrer Zeit bewegte. 535 Die ersten beiden Kinder wurden im Jahresabstand nach der Eheschließung geboren, die Abstände der folgenden Kinder vergrößerten sich bei den beiden nächsten Kindern auf drei und schließlich auf acht und sieben Jahre. Krankheiten blieben auch in der Familie Virchows allgegenwärtig und bildeten einen festen Bestandteil der privaten Korrespondenz. Eine Scharlach-Epidemie in seiner Familie im Jahre 1860 kostete zwar keinem der erkrankten Kinder, aber dem Kindermädchen das Leben.' 36 Auch in Bürgerfamilien gehörte im 19. Jahrhundert der Tod von Kindern zu einer häufigen Erfahrung, 537 und Virchow, der selbst umfangreiche statistische Untersuchungen zur Berliner Kindersterblichkeit anstellte, maß diesem Problem erhebliche Bedeutung bei.538 So legte er große medizinische und hygienische Fürsorglichkeit für seine Familie an den Tag, wobei er gegenüber seiner Frau wie den Kindern eine ebenso zärtliche wie patriarchalische Haltung einnahm. Auch während seiner Abwesenheit auf Reisen dirigierte er noch die Einhaltung der von ihm für wichtig gehaltenen hygienischen Regeln. In den Briefen an seine Frau gebrauchte Virchow eine betont schlichte Sprache, die sie bei aller Zärtlichkeit zugleich in die Nähe der von ihr aufgezogenen Kinder rückte: „Sorge D u nur dafür, dass D u dich nicht zu sehr anstrengst, mein kleiner Schatz: sei recht vorsichtig mit deiner Gesundheit u. erkälte dich nicht dann bei dem Reinigen der Zimmer oder sonstigem Hausordnen. D u musst dafür sorgen, dass ich dich recht frisch und rosig wiedersehe, damit w i r dann noch die kleine Freizeit recht benützen können. Pflege auch die Buben recht u. nimm sie bei dem scharfen W i n d etwas in Acht. W e n n D u selbst Vormittags ein wenig hinausgehst, kannst D u es ja am besten sehen, ob das W e t t e r geeignet ist, sie hinauszuschicken." 539
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Auch wenn seine Frau mit den Kindern zur „Sommerfrische" auf das Land verreiste, sorgte er sich noch brieflich um die Einhaltung hygienischer Erziehungsstandards: So bemängelte er etwa, dass die Kinder „in dem Wasser gebadet werden, worin schon so viele Andere gebadet haben. Ließe sich das nicht ändern? Wie sind denn jetzt die Nächte? Ist Carl ruhig oder steht er noch immer auf? Und wie ist es mit dem Bett, ist es mit Barrieren versehen, u. wie liegen die Kinder eigentlich, neben oder über einander?"540 Durch seine Vorstellungen zur Kindererziehung zog sich als Leitmotiv das Prinzip von „Licht und Luft", das auch die Grundlage für seine Stadt- und schulhygienischen Initiativen bildete.541 So wurden die Kinder und seine Frau regelmäßig zum „Auslüften" auf das Land oder an die See geschickt, aber auch er selbst verordnete sich wiederholt diese Maßnahme.542 In dieses Programm einer physiologisch begründeten Lebensführung fügte sich später auch die Elektrizität: Während Virchow auf einer Reise nach Ägypten unterwegs war, beschwor er seine Frau, ihre „Opposition gegen das Elektrisieren aufzugeben", das eine Lähmung der rechten Hand therapieren sollte.543 Diese Elemente rationaler, hygienischer Lebensführung sind keine zufälligen Fundstücke, sondern gehören in den weiteren Zusammenhang der „Verwissenschaftlichung der Lebenswelt"544, die auch Haushalt und Kindererziehung betrafen. Neben der Gesundheit lag sein Hauptaugenmerk auf der Ausbildung seiner Kinder. So soll Virchow später erklärt haben, der Weggang von Würzburg sei ihm auch unter dem Gesichtspunkt leicht gefallen, dass ihm die dortigen Schulen zu schlecht gewesen seien.545 In Berlin schickte Virchow seinen Sohn Hans von 1858 bis 1863 auf die Privatschule Sachs am Leipziger Platz und von 1863 bis Ostern 1871 auf das Wilhelms-Gymnasium in der Beethoven-Straße.546 Eine - allerdings dubiose - Quelle mokierte sich darüber, dass Virchow sich privat im Gegensatz zu den von ihm öffentlich vertretenen Grundsätzen verhalten habe. Seine Töchter hätten demnach eine Privatschule besucht, in der auf streng christliche Erziehung Wert gelegt würde, was dieser mit dem Einfluss seiner Frau entschuldigt habe.547 Während aber zugunsten der Söhne auch nach Abschluss ihrer Schulzeit weitere Bildungsinvestitionen getätigt wurden - Carl studierte Chemie und erwarb den Dr. phil., Hans studierte Medizin in Berlin, Bonn, Straßburg, Würzburg und zuletzt wieder in Berlin, und Ernst besuchte die Gärtnerlehranstalt in Potsdam blieben die Töchter Adelheid, Maria und Johanna anschließend zu Hause, wo sie jahrelang damit beschäftigt waren, auf einen Ehemann zu warten. „Die Mädchen sind zu Hause thätig, u. leiden an der Stubenluft, ohne dass ich ihnen helfen kann"548, fasste Virchow 1877 die Situation seiner damals 22, elf und vier Jahre alten Töchter zusammen, die dem Muster der erzwungenen Langeweile folgte, die das Lebensschicksal unverheirateter, bürgerlicher, junger Frauen im 19. Jahrhundert prägte. 4 Elf 116
Jahre später saßen die zwei jüngeren Töchter immer noch zu Hause und pflegten ihre kleine Leiden: „Die Mädchen fangen auch wieder an zu klagen. Maria ist so heiser, als wären ihr alle von Koch verscheuchten Bakterien in die Kehle geflogen. Hanna studirt, als gelte es eine eigentliche Lebensaufgabe, aber es bekommt ihr auch nicht ganz."550 Die Bildungsbemühungen der jüngsten Tochter erschienen Virchow damit sozusagen nur als Simulation einer ernsthaften Beschäftigung. Eine gewisse Möglichkeit des Ausbruchs aus diesem auf den familiären Haushalt beschränkten Wirkungskreis ergab sich daraus, dass Virchow nicht nur seine Söhne, sondern auch seine Töchter auf wissenschaftliche Exkursionen mitzunehmen pflegte. Vor allem seine älteste Tochter entwickelte dabei ein eigenes Interesse an Botanik und Archäologie. Schliemann bezog dies in seine Umgarnungsstrategie gegenüber Virchow ein und rühmte Adelheid 1880 öffentlich (und unverdientermaßen) für den Fund eines urgeschichtlichen Gefäßes bei einer gemeinsamen Ausgrabung. Virchow versuchte Schliemann von solchen Ehrungen abzubringen, wofür er neben Gründen der wissenschaftlichen Lauterkeit vor allem darauf verwies, dass „junge Mädchen (...) nicht in die Öffentlichkeit" gehörten. Durch die öffentliche Hervorhebung der Entdeckerrolle Adelheids bei Gelegenheit der Allgemeinen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Berlin sei diese „schon mehr als gut ist, von den Reportern in ein gänzlich ungehöriges Licht gestellt worden." 53 ' Schliemann rechtfertigte dagegen seine Publicity-Aktion mit der wünschenswerten Einbeziehung von Frauen in das nationale Projekt der Altertumskunde: „Wenn ich Fräulein Adele irrtümlich die Auffindung eines nicht von ihr entdeckten Gefäßes zugeschrieben habe, so macht das ja nichts aus; im Gegenteil, es kann nur segensreiche Wirkungen auf unsere deutschen Damen haben und ihnen Sinn für Archäologie einflößen."552 Zur Ausbildung seiner Kinder gehörte aber auch der obligatorische Unterricht auf dem Klavier.553 Virchow selbst hatte nie ein Musikinstrument erlernt, und so bedeutete der Klavierunterricht für seine Kinder auch die Übernahme kultureller Gewohnheiten einer Schicht, in die er selbst erst im Verlauf seines Lebens aufgestiegen war. So markierte es auf der Skala der „feinen Unterschiede" (Pierre Bourdieu) einen weiteren kleinen Schritt nach oben, dass das Elternpaar Virchow für die älteste Tochter Adelheid von den 1.000 Mark, die Heinrich Schliemann ihnen 1881 als Hochzeitsgeschenk für diese hatte zukommen lassen, anstelle des bislang gewohnten Pianofortes einen Flügel für ihren neuen Hausstand erwarb.554 Schliemann, der dazu neigte, sein vor allem im Krimkrieg erworbenes großes Vermögen zum Erwerb persönlicher Loyalitäten einzusetzen, überschüttete die Familie Virchow mit teuren Geschenken, wobei ihm vor allem die Töchter, denen er hohe Beträge als Geschenke und „Mitgift" zukommen ließ, als Angriffspunkt 117
dienten. So bedachte er Maria und Johanna Virchow in seinem Testament mit 10.000 Schweizer Franken „für ihre Aussteuer" - ebenso viel, wie er der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zugedachte, 5 deren langjähriger Vorstand Rudolf Virchow war. Im Verlauf der Jahre ermattete dabei der anfängliche Wille Virchows, diese Gaben zurückzuweisen. Deren Tauschcharakter offenbarte sich an der umfangreichen Unterstützung, die er Schliemann bei seinen Bemühungen um soziale Auszeichnungen und professionelle Anerkennung zukommen ließ. Die Berufswahl der Söhne und die Ehegemeinschaften der Töchter bilden weitere wichtige Kriterien für eine Analyse sozialer Verflechtungen wie der Bemühungen, den erreichten sozialen Status weiterzureichen. Sein ältester, 1851 geborener Sohn Carl wurde Handelschemiker in Berlin, während Virchows 1852 geborener Sohn Hans seit 1889 als Anatomieprofessor in Berlin beruflich in die Fußstapfen seines Vaters trat, die er allerdings nie vollständig auszufüllen vermochte. Sein 1858 geborener Sohn Ernst, der wegen seiner Neigung zu asthmatischen Anfällen als Sorgenkind der Familie galt, wurde schließlich Hofgärtner und arbeitete unter anderem in den Kew Gardens bei Richmond in England, als Verwalter des Königlichen Tiergartens in Wasserburg und schließlich als Hofgartendirektor in Kassel-Wilhelmshöhe. Virchow versuchte dabei nach Kräften, seine weitläufigen Beziehungen zu Universitäten und Kultusbürokratie für persönliche Interventionen zugunsten der Karriere von Familienmitgliedern zu nutzen. Dabei rechtfertigte er sich gegenüber Ministerialdirektor Althoff, dass er sich „stets bemüht habe, meine persönliche Einwirkung bei der Förderung meiner Kinder auf das strengste Maaß der Loyalität einzuengen."556 Dies schloss jedoch durchaus Bittbriefe und direkte Empfehlungen ein, wobei sich solche Interventionen gelegentlich auch kontraproduktiv auswirkten. Diese Form der Unterstützung erstreckte sich namentlich auf seinen Schwiegersohn, den Germanisten Rudolf Henning, und sein Patenkind Paul Langerhans junior, Arzt und Sohn des mit Virchow eng befreundeten späteren Berliner Stadtverordnetenvorstehers Paul Langerhans senior.557 Neben Ausbildungsinvestitionen und dem Gebrauch persönlicher .Beziehungen' bildeten Heiratsstrategien einen weiteren wichtigen Bestandteil der sozialen Reproduktion wie des sozialen Aufstiegs des Bürgertums. Virchow nahm in dieser Hinsicht seine Stellung als ,Familienvater' sehr ernst. Verstöße gegen seine patriarchalische Hausgewalt und die von ihm streng beaufsichtigte Ordnung der Geschlechter ahndete er unnachsichtig. Dies zeigt etwa der Fall des Dienstmädchens Antonie, die 1854 einen familiären Skandal auslöste, weil sie ein Kind von ihrem Onkel erwartete. Virchow kündigte der „schmähliche(n) Person" fristlos und schickte sie in eine Gebäranstalt für ledige Mütter - nicht ohne dass er seiner Frau das Fahrgeld auf den Kreuzer genau vorrechnete.558 So wurde der durch die Dienstboten stets drohende 118
,Einbruch der Sittenlosigkeit' in den Kreis der bürgerlichen Familie entschlossen abgewendet. Auch was den Zeitpunkt von Eheschließungen in seiner Familie betraf, nahm Virchow seine Rolle als Hausvorstand sehr ernst, und diesen patriarchalischen Anspruch dehnte er auch auf die Assistenten seines Berliner Pathologischen Instituts aus.559 Gezielte Bemühungen zur Anbahnung standesgemäßer Ehen spielten vor allem im Hinblick auf seine 1855, 1866 und 1873 geborenen Töchter eine entscheidende Rolle, bildete doch eine Heirat auch in seinem Horizont die einzige Möglichkeit einer angemessenen Unterbringung außerhalb des eigenen Elternhauses. Auffällig im Hinblick auf die bekannten Muster bürgerlicher Eheanbahnung ist dabei vor allem die Rolle der Wissenschaft als Heiratsmarkt: Virchow nahm nicht nur seinen Sohn Hans regelmäßig zu wissenschaftlichen Exkursionen und Kongressen mit, sondern auch die jeweils älteste Tochter. So fanden sich die 25-jährige Adelheid Virchow und ihr späterer Verlobter auf eben jenem im August 1880 stattfindenden Anthropologen-Kongress in Berlin, auf der sie Schliemann in das Licht der Öffentlichkeit gerückt hatte. Der drei Jahre ältere Germanist Rudolf Henning, mit dem sich Adelheid im darauffolgenden Jahr vermählte, „hatte dort die Runenausstellung unter sich, und die große Nähe der [gemeinsamen] Schränke, hat nicht wenig zu der Verständigung beigetragen"560, schilderte Virchow das Eheanbahnungsritual. Ähnlich glückte dies auch mit der zweiten Tochter. Nachdem Schliemann Virchow im Vorjahr schon freundschaftlich darauf hingewiesen hatte, dass es für dessen 23-jährige Tochter Maria an der Zeit wäre, sich zu verheiraten, schuf der X. Internationale Medizinische Kongress in Berlin 1890 die erhoffte Gelegenheit. Virchow, der dieser Veranstaltung präsidierte, absolvierte das gesellschaftliche Rahmenprogramm in Begleitung seiner Tochter, wo sie den Prager Medizinprofessor Carl Rabl kennen lernte, mit dem sie 1891 getraut wurde. Auch die jüngste, 1873 als Nachzügler geborene Tochter Johanna wurde künftig zu Reisen und Kongressen mitgenommen, doch anders als ihre Schwestern blieb sie ledig. Als Familienvater, als Mediziner und als Politiker interessierte sich Virchow sehr für die in den 1860er Jahren in Deutschland aufgekommene „Frauenfrage", hinter der die Sorge um die Zukunft unverheirateter Bürgertöchter stand. 61 In einem öffentlichen Vortrag am 20. Februar 1865 im Hörsaal des grauen Kloster in Berlin mit dem Titel „Ueber die Erziehung des Weibes für seinen Beruf", den er für den „Verein für Familien- und Volkserziehung" hielt, fasste Virchow seine Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter zusammen. Bereits im Titel dieses Vortrags verriet sich der Bezug auf Rousseaus Emile, wo Sophie zur idealen Frau und Gefährtin des Mannes erzogen wurde. Dabei erläuterte Virchow zunächst seine Gesellschaftskonzeption, in deren Mittelpunkt die Familie stand. „Familie" und „Volk" standen für ihn „Staat" und „Gesellschaft" gegenüber. Beide zeichneten sich 119
durch unterschiedliche Erziehungsaufgaben aus: Während die Familie „die selbständige Entwicklung des Einzelnen" ermögliche, forderten Staat und Gesellschaft „die künstliche Entwicklung der Massen". Ahnlich wie schon während der Revolution bezeichnete er den Staat dabei als historisch vergängliche „Form, welche sich das Volk zur Erfüllung gewisser Aufgaben schafft". Demgegenüber verfolge die Volkserziehung, die in der Familie stattfinde, höhere Zwecke: „freie Entwicklung der Einzelnen" sowie „Bildung und Fortschritt des Volkes"563. Darin artikulierte sich auch die Mitte der sechziger Jahre in Teilen der Fortschrittspartei bestehende Hoffung, wonach eine Identität des Liberalismus mit dem Volk möglich sei, wodurch schließlich auch der Staat reformiert werden könne.564 Vor dem Hintergrund des preußischen Verfassungskonflikts verband er Elemente seiner früheren demokratischen Uberzeugungen, die das Volk als Quelle politischer Souveränität dem bestehenden Staat entgegen stellten, mit liberalem Individualismus - dessen Kehrseite die Angst vor den „Massen" bildete - und sozialkonservativen Einstellungen zu einer Auffassung, die eine klare Stoßrichtung gegen den politischen Status quo besaß: Von der Familie über die Gemeinden sollte schließlich die Reform der bestehenden Verhältnisse erfolgen, was auch die noch nicht erreichte nationale Einigung einschloss. In diesen gesellschaftspolitischen Rahmen stellte er die „Hausfrau": „Mag der Vater das Haupt der Familie bilden, so muss doch die Mutter den Mittelpunkt derselben bilden; sie soll sein die eigentliche Vertreterin des Hauses, zu der Alles, auch der Vater, wenn er Amt und Geschäft besorgt hat, ,heim' kehrt."565 Ahnlich wie in seinem Vortrag 1848 vor der Gesellschaft für Geburtshülfe ging er auch hier wiederum von einer naturbedingten, komplementären Definition der Geschlechtscharaktere aus.566 Er stellte einer männlichen Rollenidentität, die sich in der Außenwelt verwirkliche, eine weibliche entgegen, die ihre Erfüllung im Innenraum der Familie finde: Damit variierte er ein verbreitetes Rollenmodell, wie es sich am prägnantesten in Schillers „Lied von der Glocke" formuliert fand, das zum eisernen Bestand bildungsbürgerlichen Erziehungsgutes gehörte,567 das bei ihm aber eine biologistische Fundierung erhalten hatte. Diese Anschauungen begründeten eine gleichsam natürliche Bestimmung des weiblichen Geschlechts als „Weib, Frau und Mutter". Zwar schloss Virchow nicht gänzlich aus, dass Frauen künftig auch an der „Lösung der allgemeinen Aufgaben des Menschengeschlechts selbstthätig den ihm gebührenden Antheil" nehmen könnten. Der „natürliche Beruf des Weibes überhaupt" sei jedoch keinesfalls, „auf den Markt des öffentlichen Lebens zu treten", sondern die Erziehung der Kinder, wodurch sie dadurch prädestiniert sei, dass „die natürliche Organisation (...) bei dem Weibe im Allgemeinen der kindlichen näher steht als bei dem Manne". Die „Erziehung des Weibes für seinen Beruf" bedeutete, kurz gesagt, „Erziehung des Weibes für das Haus", was die Voraussetzung der „Erziehung des 120
Weibes für den Mann" und schließlich der „Erziehung des Weibes für die Gesellschaft" darstellte. 568 Auch für Virchow hingen weibliche Identität und bürgerliche Gesellschaft unmittelbar zusammen. Diese öffentlichen Ausführungen erfuhren „manchen Widerspruch" 3 . Zudem funktionierte dieses auf getrennten männlichen und weiblichen Sphären basierende Rollenmodell auch in seiner eigenen Familie nicht ohne Konflikte. Das Ehepaar Virchow war sich mehr durch Empathie, als durch intellektuelle Partnerschaft nahegekommen, und so hatte Virchow seinen Eltern bei der Ankündigung seiner Verlobung mitgeteilt, dass die Annäherung an die sehr schweigsame Ferdinande, die über lange Zeit hinweg erfolgt sei, vor allem auf ihrem Zuhören bei seinen Gesprächen mit ihrer Mutter oder ihren Eltern basiert habe: „Aber bei diesem Zuhören hat sie sich auch so in mich hineingehört, sie ist gewissermaaßen so durch mich erzogen worden, daß ich nicht weiß, wer mich jetzt besser verstehen könnte als sie." 57 So suchte auch Virchow sein Selbst „im Spiegel der geliebten Person" 571 . Im Verlaufe ihrer über 50 Jahre dauernden Ehe führte diese Mischung aus Einfühlung und Erziehung dazu, dass seine Frau „in Bewegungen, Sprache, langsam und still aneinandergereihten Worten und Manieren völlig den Rhythmus des Gatten übernommen hatte und ganz im Banne seiner Bedeutung stand" 572 . Dabei war sie jedoch den mit einem bildungsbürgerlichen Lebensstil verbundenen Erwartungen an eine Ehefrau nur begrenzt gewachsen. Ihr fehlte nicht allein die Bildung, um mit ihrem Mann wissenschaftlich oder politisch diskursfähig zu sein. Darüber hinaus mangelte es ihr auch an Gewandtheit im Umgang mit Fremden. Damit war ihr der Weg versperrt, den manche andere Professorengattin wählte, sich durch inner- und außerhäusliche Geselligkeit, etwa in Form eines Salons, einen gesellschaftlichen Ausgleich für die dominante öffentliche Rolle ihres Mannes zu schaffen, wie es, um ein freilich extremes Gegenbeispiel zu nennen, etwa Anna von Helmholtz vermochte. 573 Die Ehe Virchows bietet die Möglichkeit, zwischen kulturellen Normen und Praxis genauer zu unterscheiden. 574 Das von Virchow öffentlich vertretene Rollenmodell, das sich in großer Ubereinstimmung mit zeitgenössisch weitverbreiteten Auffassungen befand, spiegelte zwar auch seine häusliche Realität weitgehend wider. Allerdings vermochten die zur Rechtfertigung dieses Modells mitgelieferten Begründungen im persönlichen Bereich nicht ohne weiteres zu überzeugen. So litt Ferdinande Virchow wiederholt stark unter ihrer Rolle in dieser Ehe und empfand ihre eigene Tätigkeit gegenüber der ihres Mannes oft als wertlos. 575 Virchows Versuche, seine Frau zu trösten, fügen sich mit seinen öffentlichen Ausführungen zur Frauenfrage nahtlos zusammen. In den Briefen, die er ihr 1859 während einer im Auftrag der dortigen Regierung unternommmenen Forschungsreise durch Norwegen schrieb, versicherte er, „dass Du mir dabei mächtig hilfst, indem Du mir 121
erlaubst, viele Sorgen des Zuhauses u. der Familie auf dich abzuwälzen. Es ist das eine schwere Last für dich, das verkenne ich gewiss nicht, mein Herz, aber ich denke, es muss auch immer eine Befriedigung für dich sein, zu wissen, dass Du damit mir die Möglichkeit schaffst, in meiner Weise thätig zu sein." Auf diese Weise nehme sie an allen seinen Erfolgen teil, was auch für sie einen Lohn darstelle. „Du empfindest das ja auch, nur willst Du es dir nicht selbst gestehen"576. Damit nahm er zugleich in Anspruch, sie besser zu kennen als sie sich selbst. Bald darauf bedauerte er in einem Brief zwar die Tatsache, dass seine „kleine Rose" seinem „Thun und Arbeiten immer noch fern stehe", doch solle sie darüber nicht so sehr grübeln: „Vieles von dem, was dir jetzt in deinem Thun werthlos erscheint, wird dir wichtig werden, wenn Du dich als die treue Helferin deines Mannes behauptest, u. wenn ich dir aus vollem Herzen die Versicherung gebe, dass Du mir als eine solche erscheinst, so musst Du mir auch glauben."577 Allerdings scheinen ihre Zweifel damit nicht ausgeräumt gewesen zu sein: 15 Jahre später etwa redete Virchow seiner Frau erneut zu, sie solle sich bewusst machen, „was alles die Mutter der Familie ist, auch wenn sie zunächst nur die Ordnerin u. Pflegerin aller ist. In dem Bestreben, dir allerlei Qualen zu bereiten, liebst Du es, deinen Verdienst herabzusetzen, gleichsam als ob der Werth der Frau u. Mutter in ganz ungewöhnlichen Leistungen bestehen müsse."578 So war seine Auffassung der jeweiligen Rolle in der Familie und Ehe von einem Ethos der Pflichterfüllung durchdrungen, in dem jeder die Aufgaben zu vollenden habe, „die jedem pflichtmäßig gestellt sind, der Frau in dem Hause, dem Manne in der Welt. Man arbeitet dann so gut man kann, u. in der That muss man seine Befriedigung finden, nicht in den Erfolgen."579 Daran appellierte er insbesondere in Zeiten, in denen ihn die Politik in besonders starkem Maße von der Familie fernhielt, so vor allem während des preußischen Verfassungskonflikts.580 In dieser Hinsicht unterschieden sich seine Auffassungen also in keiner Weise von der des konservativen Gelehrten Wilhelm Heinrich Riehl, der 1861 in seinem Werk Die Familie geschrieben hatte: „Das Weib wirkt in der Familie, für die Familie; es bringt ihr sein Bestes ganz zum Opfer dar; es erzieht die Kinder, es lebt das Leben des Mannes mit". Dabei hatte dieser zugleich auch den Punkt deutlich ausgesprochen, unter dem Virchows Frau offensichtlich litt: Auf den Namen des Mannes „häufen sich die Ehren, während man gar bald der Gattin vergißt, die ihm diese Ehren hat mitgewinnen helfen."581 Eng verbunden mit der Zuweisung der öffentlichen und privaten Sphäre zu polar gedachten Geschlechtscharakteren war die Auffassung einer Verbindung von männlicher Objektivität und weiblicher Subjektivität in der Ehe, worin ein Rest romantischen Polaritätsdenkens nachwirkte. So lobte Virchow die Briefe seiner Frau in folgender Weise:
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„Ich w e r d e ordentlich neidisch auf dich, denn es scheint mir, dass ich w e d e r so gefühlvoll die Natur zu schildern vermag, noch meine eigenen Zustände u. Empfindungen so klar darlegen kann. W i r Männer sind genöthigt, zu sehr objektiv zu werden u. w i r Naturforscher zumal; wie schön ist es da, so einen süßen Schatz an Subject zu haben, an dem w i r uns zuweilen wieder etwas verinnerlichen kön«5»3 nen.
Während er damit seiner Frau eine einfühlende Haltung in die Natur zuordnete, in der Ich und Welt ungeschieden blieben, stilisierte er sich selbst zum Typus des .objektiven Beobachters', der die Entfremdung zwischen Ich und Welt heroisch ertrage.584 Vor dem Hintergrund der langen Tradition der Opposition von männlicher Objektivität und weiblicher Subjektivität ist hier vor allem die charakteristische Zuspitzung wichtig, die Virchow diesem Modell verlieh: Da die „Objektivität" für ihn ihr Maximum im „Naturforscher" erreichte, basierte die Identität des Naturwissenschaftlers, der gefordert war, sich so weit als dies möglich war zu „entsubjectivieren" 5 5, auf einem Verständnis von gesteigerter Maskulinität. Hier artikulierte sich ein spezifisches Männlichkeitsbild des modernen Naturwissenschaftlers als eine Art von ,Super-Mann', dessen Schwachstelle der Verlust der Fähigkeit zur Empathie in eine als äußerlich vorgestellte Natur darstellte. Solche als vorausgesetzt angesehenen Geschlechtscharaktere spielten auch eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung um die Frage der Frauenberufe. Dabei ging Virchow stets von der „natürlichen" Berufung des weiblichen Geschlechts zur Hausfrau aus, was er neben den schon genannten Argumenten auch mit dem volkswirtschaftlichen Segen der Arbeitsteilung begründete. 586 Zugleich zielten seine Auffassungen aber auf die Verwissenschaftlichung der Hausfrauentätigkeit: „Erziehung des Weibes für seinen Beruf" bedeutete somit, dass Mädchen mit wissenschaftlich fundierten Grundkenntnissen der Gesundheitspflege, Ernährungswissenschaft, Hygiene - wozu Fragen der „Erwärmung und Abhärtung, der Lüftung und Heizung, der Bekleidung und Bebettung" zählten - sowie der Erziehungswissenschaft vertraut gemacht werden sollten. Geeignete Orte dafür waren, so Virchow, neben entsprechend einzurichtenden Schulen, vor allem auch Kinderkrippen und Kindergärten. 587 Eine Beschäftigung in diesen Einrichtungen bildete für ihn zugleich auch ein probates Mittel zur Lösung des Problems der unverheirateten Bürgertöchter. Während aber die Diskussion dieser Frage im Bildungsbürgertum sich vor allem um die Frage standesgemäßer Erwerbsmöglichkeiten mittelständischer Frauen drehte, 588 sah Virchow hier lediglich ein psychologisches Problem. So erklärte er 1865, die „unzufriedene Stimmung der unverheiratheten Jungfrau" lasse sich durch praktische Tätigkeit im Kindergarten lösen, „und wenn der Gedanke der vollen Emancipation darüber in den Hintergrund gedrängt wird, so wollen wir nicht vergessen, dass die
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größte und reinste Quelle menschlicher Zufriedenheit nicht der Genuss, sondern der freiwillige, aus sittlichen Gründen geleistete Verzicht ist."m Durch seine Tätigkeit im Verwaltungskomitee des Volkskindergartens in der Friedrichstraße, dem er seit 1867 angehörte, stellte er auch die Verbindung zur Praxis her. Dieser und andere Kindergärten boten nicht nur ein Feld für weibliche Berufstätigkeit, sondern definierten auch das Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre neu, sollte doch die öffentliche Kindererziehung eine Ergänzung zur privaten darstellen. Typisch dafür war allerdings, dass dieser „Bereich der öffentlichen Erziehung im Kindergarten (...) selbst noch einmal durch eine Zuordnung zu ,Innen' und .Außen', Öffentlichkeit und Haus strukturiert" war: Der Mann repräsentierte den Kindergarten nach außen, die Frauen waren „hingegen für das alltägliche Funktionieren im Inneren und für den Umgang mit Kindern zuständig" 590 . Wegen der Berufung auf den Pädagogen und Erfinder des Kindergartens Friedrich Fröbel, der engen Verbindung zu den Bezirksvereinen wie auch der Mitgliedschaft zahlreicher bekannter politischer Oppositioneller wurde dieser wie andere zu dieser Zeit entstehende Kindergärten vom Berliner Polizeipräsidium als politisches „Agitations- und Reizmittel" betrachtet. (Allerdings beruhte die in den 1850er Jahren in Preußen bestehende Unterdrückung der Kindergärten auch mit auf der Verwechslung Friedrich Fröbels mit seinem sozialistischen Neffen Julius Fröbel.) So untersagte das Berliner Polizeipräsidium 1867 sogar eine unter Beteiligung Virchows geplante Straßensammlung zu Gunsten des Volkskindergartens in der Friedrichstraße als staatsgefährdende Veranstaltung. 591 Ein ähnliches Tätigkeitsfeld, das Virchow zur Beschäftigung bürgerlicher Frauen geeignet erschien und diesen zugleich eine Möglichkeit bot, die Grenzen einer sich nur im Privaten abspielenden Existenz zu überwinden, bildete die Krankenpflege, und so zählte er zu den Pionieren der weiblichen Krankenschwesternausbildung. Während des Krieges 1870/71 betätigte sich auch Ferdinande Virchow, wie viele Frauen aus dem Berliner Bürgertum, im Lazarett auf dem Tempelhofer Feld, wofür sie eine Auszeichnung durch das Rote Kreuz erhielt. „Sonst", so vermerkte ihre Tochter Maria Rabl später, „trat sie nirgends in die Öffentlichkeit." 592 Virchows Vorstellungen zur Frauenerwerbstätigkeit blieben somit von seiner Überzeugung einer biologisch verankerten Bestimmung zu häuslichen und familiären bzw. wesensverwandten pflegerischen Tätigkeiten geprägt, die eine weitere Stütze in der zentralen Bedeutung der Familie für sein Gesellschaftsmodell fand. So gehörte er schließlich auch zu den einflussreichen Gegnern des Frauenstudiums, namentlich im Bereich der Medizin. In dieser seit den 1890er Jahren heftig geführten Diskussion reichten jedoch die alten Argumente allein nicht mehr aus, ohne dass die Berufung auf biologisch geprägte unterschiedliche Geschlechtscharaktere deshalb aus der De-
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batte verschwunden wäre. Während andere Professoren im Kaiserreich durch das Schicksal ihrer eigenen Töchter für das Problem der Frauenerwerbstätigkeit zumindest sensibilisiert wurden, hing Virchow weiterhin dem überkommenen Modell an, wonach die soziale Position bürgerlicher Frauen durch Heirat und nicht durch einen eigenen Beruf gesichert werden sollte. Nachdem die Perspektive einer Reform der Gesellschaft durch die Familie, die in den sechziger Jahren noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, im Kaiserreich schließlich in den Hintergrund getreten war, schob er Ende der neunziger Jahre praktische Gründe in den Vordergrund: Die Universitäten besäßen einfach nicht genug Räume, Lehrpersonal und Unterrichtsmaterial, um den Zuwachs zu bewältigen, der durch die allgemeine Zulassung von Frauen entstünde, während er immerhin aufgrund konkreter Erfahrungen an anderen Universitäten die Zulassung einzelner Studentinnen nicht prinzipiell ablehnte. 594 Jedoch verteidigte Virchow mit seiner lebenslänglichen Ablehnung der bezahlten Erwerbstätigkeit - wohlgemerkt - bürgerlicher Frauen auch einen bildungsbürgerlichen Lebensstil. Zu diesem gehörte als wesentlicher Bestandteil ein Frauenbild, das „eine die Differenzierung der Berufswelt überwindende .Ganzheit'" verkörperte und dabei bestimmte kulturelle Funktionen sowohl im Rahmen der Kindererziehung als auch der Geselligkeit ausübte. 595 So stand Virchow in besonderem Maße für Anstrengungen, das Vordringen von Frauen in die Öffentlichkeit zu blockieren und damit an der konzeptionellen Trennung weiblicher und männlicher Sphären festzuhalten. Die Ambivalenz des liberalen Konzepts von Öffentlichkeit erwies sich vor allem daran, dass in der Praxis des 19. Jahrhunderts mit der Verbreitung und Durchsetzung des Prinzips der freien Vereinigung in der Regel die Exklusion von Frauen einherging. 5 6 Im Gegensatz zum „Ausschluss der unterprivilegierten Männer" besaß „die Exklusion der Frauen eine strukturbildende Kraft" für die bürgerliche Öffentlichkeit/ 97 Bei männlichen Bürgern umfasste die gesellschaftliche Vergemeinschaftung, die sich im Begriff der Soziabilität zusammenfassen lässt, dagegen den „ganzen sozialen Bereich zwischen der Familie einerseits, dem Staat und den etablierten politischen Körperschaften (Parteien) andererseits" 598 . Im Folgenden soll dies näher untersucht werden: In welcher Weise verhielten sich Privates und Öffentliches in Virchows persönlichem Netzwerk zueinander? Und inwieweit drückte sich seine doppelte Rolle als Wissenschaftler und Politiker in einer spezifischen Soziabilität aus?
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c) Geselligkeit und soziale Kreise Am 16. November 1849, d. h. wenige Tage bevor Virchow Berlin verließ, um sein Ordinariat in Würzburg anzutreten, veranstalteten Freunde für ihn ein großes Festmahl. Es bot ihm „wie in einem großen Rahmen ein lebendes Bild dieser ganzen Zeit" 5 , und so blickte er aus diesem Anlass auf die zurückliegenden zehn Jahre zurück, die er in Berlin verbracht hatte. Die sozialen Beziehungen Virchows in dieser Zeit wurden bei dieser Gelegenheit noch einmal aufgefächert: Neben Ärzten fanden sich Juristen, Philologen, Künstler, Mechaniker und Kaufleute ein. Aus seiner Familie erschien nur sein Onkel Karl Hesse, während sein anderer Onkel, Major Virchow, fern blieb. Beamte fehlten, abgesehen von zwei Räten des Provinzial-MedizinalKollegiums. Die Universität entsandte lediglich einen Professor, nämlich Bernhard von Langenbeck, aber sechs Privatdozenten, und aus der ersten Kammer des preußischen Abgeordnetenhauses erschien ein Abgeordneter. Der Großteil der Gäste bestand jedoch aus den Freunden der letzten beiden Jahre: Mitglieder der General-Versammlung der Aerzte, des Central-Wahlcomites, des 3. Berliner Wahlbezirkes, „ja sogar ein alter Präsident des demokratischen Clubs u. ein Mitglied des demokratischen Centraiausschusses waren zugegen. Selbst die Maigefangenen hatten ihre Repräsentanten." Dass die Militärmedizin bei diesem Fest fehlte, weil sie befürchtet hatte, dort Anstoß zu erregen, symbolisierte den Riss in Virchows sozialem Beziehungsnetz. Doch hatten ihm die Stabsärzte aus der Charite bereits am Tage vorher „ein großes Frühstück, das von 12-5 Uhr dauerte, gegeben." Als auf dem Festmahl, dessen Charakter „ein durchaus herzlicher" war, auch ein schleswig-holsteinischer Bataillonsarzt erschien, erregte dies um so mehr Aufsehen unter den Anwesenden. Diese Mischung der sozialen Kreise umfasste somit Bürger, Militärs und Intellektuelle. In professioneller Hinsicht überwog die Ärzteschaft, in politischer die Berliner Demokratie. Dazu hatte neben seiner Teilnahme am Geselligkeitskreis der Familie Mayer vor allem auch Virchows Vereinsengagement beigetragen. Unter den wissenschaftlichen Vereinen, denen er bis dahin angehört hatte, befanden sich neben der Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin auch die Gesellschaft für Geburtshülfe, die Berliner Physikalische Gesellschaft sowie die General-Versammlung der Berliner Ärzte. Auch seine Mitwirkung in zahlreichen Berliner politischen Vereinen der Revolutionszeit wurde bereits detailliert geschildert, darunter der Demokratische Klub, der Friedrich-Wilhelmstädtische Bezirksverein, der Bezirks-Centralverein sowie der Republikanische Club. Zum Typus des .engagierten Wissenschaftlers', der sich während der Revolution entwickelt und in Virchow einen exemplarischen Vertreter gefunden hatte, gehörte somit auch eine heterogene soziale und politische Gruppen umfassende Vergesellschaftung. Aber am Ende des 126
Jahres 1849 war es nicht mehr möglich, alle Kreise, denen Virchow zugleich angehörte, in einer Tischgemeinschaft zu versammeln: Vor allem die politische Trennungslinie war nun unüberwindbar geworden. Solange noch Ungewissheit über den Ausgang der Revolution geherrscht hatte, war eine prekäre Balance in Virchows sozialen Beziehungen möglich gewesen, doch nunmehr erzwangen die Berufung nach Würzburg und die politische Reaktion eine Neujustierung seines sozialen Beziehungsgeflechts wie auch seiner Geselligkeitsformen. Zwei Tage nach dieser noch einmal die sozialen Beziehungen der zurückliegenden Jahre bündelnden Abschiedsfeier verlobte sich Virchow, und dies unterstrich den nun folgenden Bruch. Zwar unterhielt Virchow nach seinem Abschied von Berlin den Kontakt mit einer Anzahl seiner alten Freunde aufrecht. In den Veränderungen seines Beziehungsnetzes spiegelte sich aber das Schicksal der Berliner Demokraten in der Ära der Restauration wider, wählten doch viele von ihnen den Weg in das Exil. Von seinen Freunden gingen etwa Theodor Goldstücker nach London, Lothar Bucher nach Paris und Karl Ludwig nach Zürich. Virchow, der wiederholt in Hilfsaktionen für exilierte Freunde und Kollegen eingespannt war, teilte gleichfalls eine Art von teils äußerlichem, teils innerlichen Emigrantenschicksal. In diesem Wartezustand entwickelte er eine weitgehende Apathie gegenüber seiner Würzburger Umgebung und trauerte zugleich um den in Berlin hinter sich zurückgelassenen Teil seines Lebens. Anders als in Berlin praktizierte er nun die rigorose Trennung in eine beruflich-öffentliche Sphäre einerseits und in ein privates Idyll andererseits und hoffte „auf ein zurückgezogenes Leben, auf einen beschränkten Umgangskreis, auf vielfachen Verkehr mit der N a tur" 600 . So erwartete er, dass Würzburg für ihn „nur der Schauplatz der stillen, innerlichen und häuslichen Thätigkeit, nach außen höchstens einer wissenschaftlich-literarischen werden kann." 601 Wenn seine Frau erst einmal hier sein werde, schrieb er an Frantzius Mitte 1850, werde er sich auf lange Zeit „ganz abkapseln" 602 . Diese Erwartungen sollten sich auch erfüllen, und so bilanzierte er die Würzburger Verhältnisse als politische Stagnation, geselliges Stilleben, schöne Natur und vielversprechende wissenschaftliche Anstalten.6 Anfang 1854 beschrieb Virchow einem in die U S A emigrierten Freund sein Leben der vergangenen Jahre in folgender Weise: „ W ü r z b u r g ist politisch todt u. ausser der Medicin u. dem Wein will hier nichts gedeihen. So lebe ich auch ziemlich abgeschlossen (...) Seit ich hier bin, habe ich eine Frau genommen (aus Berlin) u. zwei Buben erzeugt. N a c h außen war ich nur wissenschaftlich thätig, da ich, wie Sie wissen, die Conspiration nicht liebe u. ausserdem unsere Partei keine politische Thätigkeit haben kann. Ich beschränke mich daher, eine Schaar ordentlicher Untersucher heranzuziehen, selbst zu arbeiten u. unserer Medicin mehr u. mehr eine selbständige, nationale H a l t u n g zu geben. (...) W ü r z b u r g ist, seit ich hier bin, der Sammelplatz vieler politisch Abgedankter geworden, die sich auf Medicin verlegt haben." 6 0 4
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Im gesellschaftlichen Verkehr mit seinen neuen Kollegen hielt sich Virchow sehr zurück, zumal ihm diese mit wenigen Ausnahmen weder politisch noch intellektuell behagten. Der Unterschied des akademischen Milieus zwischen Berlin und Würzburg war erheblich: Franz von Rinecker hatte ihm bereits vorab mitgeteilt, dass die sozialen Verhältnisse an seiner neuen Wirkungsstätte „höchst kleinstädtischer Natur seien" und unter den Professoren nicht viel Kontakt bestünde. Virchow ergänzte künftig das aus seinen Kollegen Franz von Rinecker, Rudolf Albert Kölliker und Franz von Kiwisch bestehende Würzburger „Kleeblatt" 605 . Mit ihnen zusammen begründete Virchow auch die dortige Physikalisch-Medizinische Gesellschaft, „deren Mitglieder", wie der als Student dort selbst als Mitglied beteiligte Ernst Haeckel schrieb, „sämtliche hiesige Notabilitäten, auch naturforschende Nicht-Notabilitäten sind." 606 Damit herrschte dort die typische Vermischung von Wissenschaftlern und interessierten Laien, die das Geselligkeitsmuster zahlreicher wissenschaftlicher Vereine bis weit in das 19. Jahrhundert hinein prägte. Zumindest anfänglich zeigte Virchow für diese Gesellschaft, ebenso wie für seine übrigen Würzburger Amtsgeschäfte, wenig Begeisterung. 607 Neben politischen und wissenschaftlichen Freunden aus der Berliner Zeit und einigen wenigen Kontakten zu den neuen Kollegen, die aber alle auf die medizinische Fakultät beschränkt waren, blieben Virchows soziale Kreise in den Würzburger Jahren eng. Dass sich diese schließlich in Richtung auf das lokale Besitzbürgertum hin erweiterten, wird durch die Tatsache angedeutet, dass ein wohlhabender Würzburger Champagner-Fabrikant, Kaufmann D ö ring, im September 1851 in Vertretung für Virchows Vater als Taufpate für den erstgeborenen Sohn Carl fungierte. 608 Aber alles in allem schlug Virchow in gesellschaftlicher Hinsicht in Würzburg keine tiefen Wurzeln. So klagte er 1851 gegenüber Frantzius, dass es so scheine, „dass wir hier nie ganz heimisch werden, dass wir immer das Gefühl der Fremdheit behalten werden, wenn wir auch hier sterben sollten." 609 Ein Fremder war Virchow zunächst im Hinblick auf seine Staatsbürgerschaft: Mit seiner Ernennung zum Ordinarius in Würzburg war das bayerische Indigenat verbunden. Dadurch besaß er zunächst eine doppelte Staatsbürgerschaft, was ihm in Erwartung eines „bald zu erlassenden allgemeinen deutschen Heimathsgesetzes" unproblematisch erschien. 1850 beantragte er jedoch wegen der drohenden Einberufung zur preußischen Landwehr die Entlassung aus der preußischen Staatsbürgerschaft. 610 Zur Empfindung von Fremdheit trug aber vor allem bei, dass Virchow, wie er 1855 Goldstücker gegenüber hervorhob, in Bayern niemals vollständig akzeptiert wurde und ihm „das bayerische Wesen (...) je länger um so weniger zusagte. Als Protestant u. Demokrat bin u. bleibe ich natürlich persona ingrata." 6 " Nach seinem U m z u g nach Berlin änderten sich diese Verhältnisse grundlegend. In den folgenden Jahrzehnten trat er aus der vorübergehend selbst128
gewählten sozialen Beschränkung heraus. Sein sich nun immer stärker entwickelndes umfangreiches Beziehungsnetzwerk schlug sich am Ende auch in einer überlieferten Korrespondenz mit nahezu 2.500 Briefpartnern nieder. Alles in allem überwogen unter ihnen vor allem Mediziner, Anthropologen, Geologen, Paläontologen, Botaniker und Zoologen, während Geisteswissenschaftler die Ausnahme bilden. Stammte der Großteil seiner Korrespondenzpartner aus Deutschland, so stand er aber auch mit Gelehrten aus ganz Europa im Briefverkehr, wobei Frankreich, Italien und Skandinavien besonders wichtig waren. Einen kleineren Teil der Korrespondenz nahm auch die mit Familienmitgliedern, vor allem mit seiner Frau, und mit Freunden ein, die zum Teil über die ganze Welt verstreut waren. D a aber in der Regel seine Freunde gleichfalls aus seinem Berufsfeld kamen, schlossen sich in der Korrespondenz mit diesen an die Erörterung familiärer Angelegenheiten meist professionelle Gegenstände an. Dabei spielten neben aktuellen wissenschaftlichen Vorhaben oder Problemen vielfach auch Karrierefragen eine wichtige Rolle. Zur Pflege seines professionellen Netzwerks gehörte überdies auch seine intensive Reisetätigkeit, die ihn vor allem während der vorlesungsfreien Zeit im Sommer oftmals zu regelrechten wissenschaftlichen Kongresstourneen führte. Im Laufe der Jahre wurde zugleich auch der regionale Radius seiner Familienbesuche immer weiter. Politische Korrespondenz führte Virchow dagegen kaum: In der Regel finden sich allenfalls Verweise auf seine politische Tätigkeit im allgemeinen sowie auf die damit verbundene Terminnot, doch kaum einmal eine inhaltliche Erörterung politischer Fragen.612 Dies liegt vermutlich auch daran, dass seine politische Tätigkeit erheblich stärker als seine wissenschaftliche in ein lokales personelles Beziehungsgeflecht eingebunden war, so dass die meisten Angelegenheiten mündlich erledigt wurden und keine Uberlieferungsspuren hinterließen. Virchow wurde zu einer wichtigen Figur im Netzwerk des Berliner Fortschrittsliberalismus. Bereits Ende der fünfziger Jahre führten alte Freunde und Bekannte aus früheren Berliner Tagen wie der Arzt Paul Langerhans und der Armenarzt Salomon Neumann Virchow in das lokale politische Leben ein, das seit dem Beginn der „Neuen Ära" wieder einen Aufschwung genommen hatte und in ein Projekt der „liberalen Modernisierung" dieser Stadt mündete.613 In welcher Weise sich verschiedene Geselligkeitsformen und -kreise überschnitten, lässt sich insbesondere an Virchows Kontakt zu Paul Langerhans zeigen. Virchow und der wenig ältere Langerhans hatten sich in den vierziger Jahren über den Kreis der Familie Mayer kennen gelernt und angefreundet. Der private Kontakt wurde über die Familien stetig gepflegt. Beide trafen sich später als politische Freunde auf Seiten des Fortschrittsliberalismus in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, deren Vorsteher Langerhans von 1893 bis 1909 war, im Preußischen Abgeordnetenhaus und zeitweilig auch im Reichstag, aber auch in der Berliner medici129
nischen Gesellschaft, wo beide eine gewichtige Rolle spielten. Virchow war zudem Patenonkel von Langerhans' Sohn Paul, der auch bei ihm promovierte, während dessen Halbbruder Robert von 1885 bis 1895 sein Assistent am Pathologischen Institut war.614 Abgesehen von gesellschaftlichen Kontakten, die unmittelbar in beruflichen Zusammenhängen standen, entfaltete sich Virchows Geselligkeit vor allem im privaten Kreis sowie im Rahmen seiner ausgedehnten Vereinstätigkeit. Wie Virchow 1891 in einem Interview erklärte, blieb ihm neben seiner Arbeit keine Zeit für andere Dinge: „In Gesellschaften geh' ich nur selten und gebe darum auch gewöhnlich keine. Schließlich bin ich ja auch den ganzen Tag in Gesellschaft. Wann bin ich denn einmal allein? Dazu meine Thätigkeit in den Vereinen, denen ich verpflichtet bin (...) So geht jede Stunde am Tage darauf." 1 Die sich ausdehnenden sozialen Kreise Virchows brachten es mit sich, dass zahlreiche Besucher auch zu ihm nach Hause kamen, worunter sich besonders häufig auch Gäste aus dem Ausland befanden. Jedoch blieben die Formen dieser häuslichen Geselligkeit betont schlicht: In der Regel bedeutete eine Einladung, dass man von „Herrn und Frau Virchow zu einem einfachen Essen am Sonntag Mittag ,zu einem Löffel Suppe' eingeladen wurde." Zu geselliger Konversation fehlte dagegen dem Hausherrn die Zeit und Muße und der Hausfrau die entsprechenden sozialen Ambitionen und Kompetenzen. Gastlichkeiten größeren Umfangs wurden - abgesehen von einigen Hausbällen für die erwachsenen Töchter der Virchows - vermieden. Umgekehrt fand sich Virchow als Gast vor allem in Kreisen des Berliner medizinischen Establishments, das sich beispielsweise im Haus Hans Traubes versammelte.617 Dies überschnitt sich zum Teil mit dem liberalen bürgerlichen Honoratiorentum, das einen weiteren Schwerpunkt seiner Geselligkeitskreise bildete. Dazu gehörte etwa Werner von Siemens, einer der wenigen Duz-Freunde Virchows. Die Beziehung der beiden bildet ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Wissenschaft, Politik und Privatleben verknüpften. So teilten sie wenigstens zeitweise politische Ambitionen, Freunde wie den Leiter der Meeresbiologischen Forschungsstation in Neapel Anton Dohm, und zudem wurde Virchow bei schwerwiegenden Erkrankungen in der Familie als Hausarzt konsultiert.618 Solche nahtlosen Ubergänge lassen sich auch an Virchows Zugehörigkeit zu dem liberalen Freundeskreis um den Zeitungsverleger Rudolf Mosse zeigen. Anton von Werner portraitierte diesen 1899 in einem Wandbild, das außer Virchow auch weitere Linksliberale wie Albert Traeger, Albert Hänel sowie Heinrich Rickert im Kreise der Familie Mosse im Ambiente der republikanischen Niederlande des 17. Jahrhunderts darstellte.619 Der Kontakt zu Mosse war insbesondere auch wichtig für die Bemühungen Virchows, Mäzene für wissenschaftliche und soziale Aktivitäten zu gewinnen. So spendete Rudolf Mosse, im Kaiserreich einer •
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der drei größten Steuerzahler Berlins, 620 wenigstens 30.000 Mark für das 1890 aufgrund privater Initiative gegründete Kaiser-und-Kaiserin-Friedrich Kinderkrankenhaus in Berlin, in dessen Vorstandskomitee Virchow Vorsitzender und Mosse Schriftführer waren. 621 Aber auch für Forschungsexpeditionen kam der von Virchow zu seinen „Geld-Hintermännern" gezählte Rudolf Mosse Virchows Bitten mit beachtlichen Beiträgen nach und spendete etwa 1894 1.000 Mark für die von Felix von Luschan geleiteten SendjirliAusgrabungen. 622 Informelle Geselligkeiten, die vor allem in Abendgesellschaften und gegenseitigen Besuchen auch unter Einbeziehung der Familien verliefen, überschnitten sich mit solchen mehr formeller Natur. Wesentlich waren in diesem Zusammenhang Virchows zahlreiche und zeitraubende Mitgliedschaften in Vereinen und Gesellschaften. An Virchow lässt sich in besonderem Maße zeigen, wie sehr die öffentliche Existenz eines Wissenschaftlers im 19. Jahrhundert an Vereinsmitgliedschaften gebunden war. Dabei war er, wie er gegenüber entsprechenden Verdächtigungen ausdrücklich hervorhob, niemals Freimaurer oder Mitglied irgend einer geheimen Gesellschaft. 623 In der Regel beanspruchten die Vereine wenigstens einen Abend im Monat, was sich bei der Vielzahl seiner Vereinsmitgliedschaften leicht zu einem hohen Zeitaufwand summierte. Im Anschluss an die nach Vereinsrecht reglementierten Sitzungen, in denen Virchow vielfach das Amt des Vorsitzenden ausübte, folgte meist noch ein „geselliger Teil", an dem Virchow gleichfalls teilzunehmen pflegte. Neben seiner zentralen Bedeutung für die Berliner medicinische Gesellschaft und die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte stehen auch seine Mitgliedschaft in der Berliner Gesellschaft für Erdkunde, seine Tätigkeit als Mitvorsitzender im 1890 gegründeten Verein für Volkskunde 624 sowie in zahlreichen überregionalen Vereinigungen, darunter vor allem der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte sowie in der Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte. Seit den späten fünfziger Jahren begann sich auch das nach der Revolution zerschlagene liberale und demokratische Vereinsnetz in Berlin wieder zu rekonstruieren. Virchow gehörte zu dem Kreis bürgerlich-liberaler Honoratioren, die dabei eine entscheidende Rolle spielten. Neben seiner Mitarbeit im Vorstand des „Berliner Turnvereins" 625 ist dafür vor allem seine Mitwirkung bei der Wiedergründung des 1850 aufgelösten Berliner „Handwerkervereins" wichtig, die 1859 in Zusammenarbeit mit dem „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" erfolgte. Die Mitgliedschaft war zwar sozial übergreifend zusammengesetzt, doch während die Handwerker das Gros der Mitgliedschaft stellten, gaben die liberalen Honoratioren den Ton an. Schließlich verloren diese Vereine aber mehr und mehr ihre nichtbürgerliche Mitgliedschaft an die Sozialdemokratie. 131
In der Stadtverordnetenversammlung und später auch in den liberalen Parlamentsfraktionen, aber auch in zahlreichen Berliner Vereinen traf Virchow somit immer wieder mit dem selben Kreis von Männern zusammen, die den Kern des Berliner liberalen Honoratiorenmilieus darstellten. Die Ubergänge von politischen bzw. halbpolitischen zu geselligen und wissenschaftlichen Vereinen bis hin zu informeller Geselligkeit waren damit vor allem durch die Homogenität der bürgerlich-liberalen Honoratiorenschicht fließend. Während zumal in den sechziger Jahren Bemühungen zur Integration unterbürgerlicher Schichten - unter bürgerlicher Führung - eine gewisse Rolle gespielt hatten, blieb die bürgerliche Honoratiorenschicht gleichwohl in den meisten Vereinen unter sich. Als ein Beispiel für dieses weitgehend liberal geprägte Berliner Honoratiorennetzwerk kann das von Virchow selbst initiierte Komitee zur Errichtung eines Denkmals für Alexander von Humboldt gelten, das seine Tätigkeit 1869 aufnahm. 626 Als treibende Kräfte des geschäftsführenden Ausschusses fungierten dort neben dem als 1. Schriftführer amtierenden Virchow der zum Vorsitzenden gewählte Physiologe Emil du Bois-Reymond sowie der Bankier Alexander Mendelssohn, einst ein enger Freund und Mäzen Alexander von Humboldts und nun Schatzmeister des Denkmalskomitees. 627 Weitere Mitglieder des Ausschusses waren Adelbert Delbrück, Werner von Siemens, der Archäologe und Prinzenerzieher des späteren Kaisers Friedrich III. Ernst Curtius, der Leiter der Berliner Sternwarte Wilhelm Förster sowie der Buchhändler und Verleger Virchows Georg Reimer. Lässt sich dieses Gremium sozial als Verbindung von städtischem Bildungs- und Besitzbürgertum (bei eindeutigem Ubergewicht des ersteren) mit einem auffällig hohen Anteil an Vertretern der modernen naturwissenschaftlich-technischen Richtung charakterisieren, so dominierte politisch in dieser Runde der Liberalismus in seinen verschiedenen Spielarten. Eine in den siebziger Jahren erfolgende Erweiterung dieses Ausschusses brachte dessen liberale politische Grundrichtung noch stärker zur Geltung, da weitere Exponenten der liberalen Reform' in Berlin wie der Stadtverordnetenvorsteher Heinrich Eduard Kochhann und der im Bereich der Stadthygiene engagierte Arzt Wolfgang Strassmann, ein Parteigenosse Virchows im Preußischen Abgeordnetenhaus, aufgenommen wurden. Dieses Denkmalskomitee demonstriert zugleich ein weiteres Phänomen: Auf der Grundlage des dichten, durch viele personelle Überschneidungen verknüpften sozialen Netzwerks, das sich durch diese Vereine konstituierte, konnte sich neben dem Typus des dauerhaften Vereins, der für gewöhnlich über Jahrzehnte hinweg existierte, ein zweiter, mehr flüchtiger Typus ausbilden. Solche Ad-hoc-Vereinigungen wurden im Hinblick auf eine bestimmte Aufgabe und damit von vornherein mit begrenzter Lebensdauer gegründet. Dazu gehörten Denkmalskomitees, wie das für Alexander von Humboldt, Hermann Schulze-Delitzsch, Benedikt Waldeck und Hermann 132
von Helmholtz, in denen Virchow wiederum eine wichtige Rolle spielte. Ein anderes Beispiel bildete der von 1863 bis 1865 existierende „Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen", der das ganze Spektrum des Liberalismus zu dieser Zeit repräsentierte. Dabei diente das durch Vereine stabilisierte gesellschaftliche Netzwerk als Rekrutierungsbasis für solche oft kurzfristig zusammen gekommene Gründungen. Dies traf auch für einige weitere Vereinsgründungen zu, deren unmittelbaren Anlass der deutsche Bürgerkrieg von 1866 gebildet hatte. Virchow gehörte dem Vorstand des „Berliner Hülfsvereins für die Armee im Felde" an. Seine Gründung in diesem Jahr war, wie er später schrieb, eine Reaktion auf „die Unterordnung der gesammten freiwilligen Krankenpflege unter Organe des Johanniterordens". Deshalb gründete eine „grössere Anzahl von Männern aller Parteien" diesen Verein, um auch die Unterstützung solcher Kreise zu gewinnen, die der „Bevormundung durch die Aristokratie widerstrebten." 628 Auch hier fanden sich im Vorstand wieder viele Namen vor allem des liberalen Spektrums, darunter Delbrück, Kochhann, Siemens, Karl Twesten und Viktor von Unruh. 62 Und als dieser Verein 1870 während des Krieges mit Frankreich einen Sanitätszug an die Front schickte, fungierte dort Eugen Richter, der spätere Vorsitzende der Fortschrittspartei, als Materialverwalter. 630 Ahnliche Verflechtungen hatten auch in dem anlässlich des Krieges gegen Osterreich 1866 gegründeten „Komitee zur Gründung von Berliner Volksküchen" geherrscht, w o Virchow gemeinsam Twesten, Franz Duncker, Adolf Lette, Kochhann und anderen gleichfalls zu den Unterstützern gehört hatte.631 Mit dieser Unterstützung der preußischen Kriegsanstrengungen konnten Liberale so zur selben Zeit an der Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft mitwirken und ihren Patriotismus unter Beweis stellen. Bürgerliche Philanthropie, die neben der Selbsthilfe durch Assoziationen einen wichtigen Bestandteil des liberalen Konzepts von Sozialreform bildete, war in Berlin seit den 1860er Jahren eng mit dem sozialen Netzwerk verbunden, in dem sich Virchow bewegte. Letzteres besaß seinen Höhepunkt in den sechziger und siebziger Jahren, wovon auch seine Beteiligung an der Gründung des „Berliner Asylvereins" 1868, des mit Fragen der verbesserten Volksernährung befassten „Deutschen Fischereivereins" 1870 sowie der „Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung" 1871632 zeugen, in denen sich häufig die liberale Elite in den Führungspositionen traf. Jedoch blieb der übergreifende Gedanke, durch bürgerliche Selbsttätigkeit soziale Reformen ohne staatliche Mitwirkung zumindest zu initiieren, auch später von großer Bedeutung, wie sich an dem Mitte der achtziger Jahre gegründeten „Verein zur Gründung eines Kinderhospitals", auf dessen Initiative hin 1890 in Berlin das Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Krankenhaus eröffnet wurde, sehen lässt. Dessen Errichtung und Betrieb beruhten ursprünglich 133
gänzlich auf privater Philanthropie, bis schließlich die steigenden Kosten ein immer größeres finanzielles Engagement der Stadt Berlin erforderlich machten. Geselligkeit und der Gedanke der Selbstorganisation von Gesellschaft blieben stets funktional aufeinander bezogen.633 Es gehörte zu den Eigenarten der deutschen Verhältnisse, dass sich zwar ein außerordentlich intensives Vereinsleben entwickelte, zugleich aber kaum „Clubs" im angelsächsischen Sinne existierten.634 Insgesamt überwog in Berlin die formalisierte, organisierte Geselligkeit gegenüber der scheinbar zwangloseren Geselligkeit mit ihren subtileren gesellschaftlichen Zwängen, wie sie von Clubs verkörpert werden.633 Weder Anwesenheit, noch Ablauf waren dort reglementiert, der Hauptzweck bestand in der zwanglosen Mischung sozialer Kreise, wobei die sorgfältige Vorauswahl der Mitglieder ein wesentliches Erfolgsrezept darstellte. In Berlin waren jedoch verschiedene in der Zeit vor 1880 unternommene Anläufe zur Gründung eines derartigen Clubs an mangelndem Zuspruch gescheitert. Georg Brandes hatte 1881 aus zeitgenössischer Perspektive den Misserfolg von Versuchen, in der ironisch als „Weltstadt Berlin" titulierten preußischen Metropole derartige Clubs einzurichten, als ein spezifisch lokales Phänomen erklärt: Der Grund für den mangelnden Zuspruch solcher Einrichtungen lag seiner Ansicht nach darin, „dass das gesellschaftliche Leben in Berlin seine wesentliche Anziehungskraft dem weiblichen Geschlecht verdankt, so dass man nur ungern einen Abend pro Woche vertut, den man ausschließlich unter Männern zubringen muss."636 Freiherr von Reibnitz führte den Mangel an Clubs in Berlin dagegen später eher auf materielle Gründe zurück: Deutschland könne sich die „gesellschaftliche Schicht der Klubleute (...) noch nicht leisten." Während man die entsprechende Gruppe in London zu Tausenden zählen könne, handelte es sich in Berlin nur um Dutzende.637 So entstanden die ersten Clubs im kaiserzeitlichen Berlin schließlich auch im Adels- und Millionärsmilieu, 6 während vor allem für Schriftsteller die Kosten für die angemessene Ausstattung für ein Clublokal zu teuer war. Eine Ausnahme bildete die 1880 erfolgte Gründung des sogenannten „Literarischen Clubs", die durch den Ehrgeiz der Berliner Jeunesse doree der Gründerzeit, die „ganz versessen auf den persönlichen Umgang mit Berühmtheiten aus Literatur und Politik" war, zustande gekommen war. Einige reiche Jungkaufleute steuerten die Mittel dazu bei, um in der Berliner Innenstadt ein elegantes Etablissement einzurichten. Virchow gehörte zu den etwa 60 „der angesehensten Autoren, Kaufleute, Politiker, Schauspieler usw.", die zunächst zu diesem Club eingeladen wurden, dessen Hauptinitiatoren der Schriftsteller Friedrich Spielhagen und der linksliberale Reichstags- und Landtagsabgeordnete Albert Hänel waren.639 Unter den 208 selbstverständlich durchweg männlichen Mitglieder einer erhaltenen - undatierten - Mitgliederliste fanden sich 17 Kaufmänner, eben so viele Rechtsanwälte und 134
Juristen, 22 Bankiers und Bankdirektoren sowie sechs Fabrikanten. Dem standen 20 Schriftsteller, 20 Maler, Musiker und Komponisten sowie fünf Schauspieler gegenüber. Neben den beiden Verlegern Rudolf Mosse (Berliner Tageblatt) und E. Salomon (Nationalzeitung) waren auch 19 Journalisten und Chefredakteure vertreten. Die Berliner Universität war außer durch Virchow nur durch vier weitere Mitglieder repräsentiert. Demgegenüber fanden sich immerhin 15 Landtags- und Reichstagsabgeordnete unter den Clubmitgliedern, darunter neben einer Reihe wichtiger liberaler Politiker auch der Zentrumsführer Ludwig Windthorst. 640 Auffällig ist, dass im „Literarischen Club" nicht nur die Universität sehr schwach vertreten war, sondern auch höhere Staatsbeamte fast völlig fehlten. Damit bildete er ein alternatives Modell zu Vereinigungen wie der Berliner „Mittwochs-Gesellschaft" oder dem „Montags-Klub", in denen versucht wurde, den personellen Zusammenhang der Fakultäten zu wahren bzw. die Verbindung der Universität mit hohen Staatsbeamten herzustellen. 641 Diese Form der Soziabilität, an der Virchow nicht teilhatte, beruhte auf einem Modell der Einheit der „Bildungsgemeinschaft" in Universität und staatlicher Exekutive und verband damit Ideale der neuhumanistischen Bildung mit einem etatistischen Ansatz. Der „Literarische Club" stand dagegen für den Versuch, Eliten aus Wirtschaft, Kultur, Medien sowie den im Kaiserreich immer noch staatsfernen Parteien zusammenzuführen. So verkörperte dieser in höherem Maße das Prinzip der Selbstorganisation der Gesellschaft. Insgesamt war dem „Literarischen Club" aber anscheinend nicht der erhoffte Erfolg beschieden, wie Georg Brandes bemerkte: „Das Clubleben liegt den Berlinern eben nicht so sehr wie den Londonern." 642 Im Hinblick auf Virchow selbst lässt sich mit gutem Grund vermuten, dass ihm der durch Statuten disziplinierte Ablauf von Vereinssitzungen näher lag als die entspannte Zigarre im Clubsessel. Formen der Soziabilität sind eng verbunden mit Wertorientierungen und Lebenszielen, denen im Folgenden die Aufmerksamkeit gilt.
d) Wertorientierungen und Lebensziele
Zeitkultur: Der
Rastlose
Eines der herausragendsten Elemente in der öffentlichen Wahrnehmung Virchows bildete seine anscheinend jedes menschliche Maß sprengende Aktivität, die er auf den unterschiedlichsten Feldern zur selben Zeit entwickelte. Erwin Ackerknecht sah „etwas Un- oder Übermenschliches in dieser Dynamik, dieser unermüdlichen Energie, dieser unaufhörlichen Arbeit" und registrierte in dieser „unaufhörliche(n) Bewegung", die Virchows Leben erfüllte, „einen fast dämonischen Charakter." 643 Auch Virchows Zeitgenossen wa135
ren immer wieder erstaunt. William Osler, der Anfang der 1870er Jahre bei Virchow studiert hatte, erinnerte sich etwa an einen Tag, an dem dieser nacheinander die Vormittagsvorlesung und -demonstration am Pathologischen Institut, einen ausführlichen Vortrag in der Berliner Stadtverordnetenversammlung über den Ausbau der Kanalisation sowie schließlich eine Rede in der Haushaltsdebatte des Preußischen Abgeordnetenhauses gehalten habe.644 Das Neue Wiener Tageblatt zählte Virchow zu den „Menschen, welche das Talent einer unbegreiflichen Zeitausnützung haben. Man begegnet ihnen sozusagen an jedem O r t e und bei jedem wichtigen Anlasse des öffentlichen Lebens; man sieht sie in unermüdlicher Bewegung, unaufhörlich thätig, an der Spitze aller nützlichen Bestrebungen, hundertfältige persönliche Verbindungen pflegend und dies alles doch nur in den Mußestunden, welche sich solche Talente noch neben ihrer eigentlichen Aufgabe, der intensiven wissenschaftlichen Forschung, zu gönnen vermögen." 645
Ebenso legendär war allerdings auch seine Gewohnheit, bei Vorlesungen und anderen akademischen Veranstaltungen mit großer Verspätung zu erscheinen.646 Auch sonst verursachte seine aus der Überlastung mit Aufgaben resultierende UnZuverlässigkeit Verstimmungen. Theodor Mommsen rügte Virchow bereits ein Jahr nach seiner Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften wegen seiner mangelnden Teilnahme an den Sitzungen und schlug ihm den Austritt vor, was dieser entrüstet zurückwies: „Als die Akademie mich wählte, ohne dass ich jemals die mindeste Andeutung eines dahingerichteten Wunsches zu erkennen gegeben hatte" - was freilich nicht ganz den Tatsachen entsprach - „wusste jedes Mitglied, dass ich vielfache Verpflichtungen schon längst übernommen hatte." Niemand hätte glauben können, er würde, selbst wenn er es gewollt hätte, sich „plötzlich freimachen u. damit die Erreichung der Frucht jahrelanger Arbeit sofort aufgeben." Zwar wolle er den Kreis seiner nach anderer Seite bestehenden Verpflichtungen einengen. „Aber gerade Sie", appellierte er an Mommsen, „können auch wissen, wie schwer es für einen Mann des öffentlichen Lebens ist, solche Absichten auszuführen."647 Damit stellt sich die Frage, wie Virchow seine verschiedenartigen Tätigkeiten in seinem Tagesablauf verband und wie er mit den daraus resultierenden Zeitkonflikten umging. Was bildete den Grund seiner Rastlosigkeit', die in vielen Schilderungen geradezu sagenhafte Dimensionen annimmt? Welche Zeitkultur entwickelte Virchow also in seinem Leben?648 Diese Fragen sind dabei nicht nur im Hinblick auf sein wissenschaftliches Arbeitsethos, sondern auch auf die für die Honoratiorenpolitik im 19. Jahrhundert zentrale Frage der „Abkömmlichkeit" 4 wichtig. Virchows Tagesablauf und Zeiteinteilung standen in seiner über 50-jährigen Zeit als Hochschullehrer völlig im Zeichen der Arbeit. Angeblich benötigte er nur fünf Stunden Schlaf,650 andere Schilderungen sagten ihm allerdings zumindest in späteren Jahren einen Hang zum Langschlafen nach. Im 136
Mittelpunkt stand den Großteil seines Lebens die Tätigkeit in seinem Berliner Pathologischen Institut, wohin er für gewöhnlich morgens um sieben aufbrach, um dort auch sein Frühstück einzunehmen. Morgens von acht bis zehn Uhr hielt er Kurse, von zehn bis elf Uhr unternahm er Krankenvisiten, von elf bis zwölf Uhr hielt er Vorlesungen und um zwölf Uhr veranstaltete er Leichensektionen. Daneben fertigte er Präparate an, hielt Examen ab, nahm an Sitzungen der medizinischen Fakultät teil und widmete sich seinen Forschungen. 652 Gegen vier oder fünf Uhr nachmittags kehrte er nach Hause zurück, w o er mit seiner Familie ein spätes Mittagessen einnahm; im Sommer ging er anschließend einige Minuten mit seinem Pudel in den Garten hinter seinem Haus. 653 Zu dem genannten Arbeitspensum kam schließlich seine Tätigkeit in wissenschaftlichen und politischen Vereinen und Parteien, als wissenschaftlicher Gutachter, die Redaktion der von ihm herausgegebenen wissenschaftlichen Zeitschriften, und überdies hielt er einige Jahr lang auch noch abends Kurse für praktische Arzte. Seit Ende der fünfziger Jahre trat eine immer größere zeitliche Belastung durch seine politische Tätigkeit hinzu. Dazu gehörten über Jahrzehnte hinweg Plenar-, Ausschuss- und Parteisitzungen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, im Preußischen Abgeordnetenhaus und zwölf Jahre lang auch im Reichstag. Auch die vorlesungsfreien Zeiten von März bis April und von August bis Oktober, in denen er meist auf privaten und wissenschaftlichen Reisen unterwegs war, brachten nur geringe Entlastung. So war er oftmals den größten Teil der W o che lediglich eine halbe bis eineinhalb Stunden zu Hause. 654 Einen Eindruck von Virchows zeitlichen Nöten gibt die Begründung, mit der er 1862 wieder einmal den Plan verschob, während der Semesterferien Theodor Goldstücker in London zu besuchen - der Besuch kam schließlich nie zustande. Wie Virchow aufzählte, hatte erst im Oktober die Session des Preußischen Abgeordnetenhauses voller Plenar-, Ausschuss- und Parteisitzungen geendet. Zudem musste er nun wegen anstehender Neuwahlen seinen saarländischen Wahlkreis besuchen. Zuvor hatte er noch eine große Masse von Akten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen aufgearbeitet. Nach seiner Rückkehr von der Reise fand er „die Angelegenheiten unserer Stadtverordneten-Versammlung so in Verwirrung," dass er drei Tage lang fast nur Stadtverordneter gewesen sei. „Nun steht wieder das Semester vor der Tür u. ich muss Montag in das Geschirr." Virchow fügte jedoch beruhigend hinzu, dass es sich „mehr um Zeit, als um Kräfte handelt. Die Session ist mir körperlich sehr gut bekommen, ja ich hatte ein geringeres Bedürfnis nach Erholung als nach einem gewöhnlichen Semester." Morgens von sieben bis zehn Uhr habe er seine Vorlesungen gehalten und sich „hinterher nicht weiter um Professur u. Amt" gekümmert, während er „sonst regelmäßig bis 3 oder 4 Uhr in wirklich angestrengter Thätigkeit" sei. Die fast täglichen Abendsitzungen hätten ihn von den anderen Sitzungen dispen137
siert, die auch fast täglich stattfanden, und so sei alles zusammen gerechnet, „die Summe meiner Arbeitszeit ziemlich gleich, nur anders u. zwar weniger anstrengend vertheilt" gewesen. Angesichts der Folgen der wissenschaftlichen und politischen Doppelbelastung kam Virchow immer wieder zu dem Schluss, dass sich diese beiden Bereiche auf die Dauer nicht vereinbaren ließen,653 doch zog er niemals die oft erwogene Konsequenz, seine politische Tätigkeit aufzugeben. In seiner Studentenzeit hatte Virchow wenigstens während der Ferien noch über freie Zeit verfügt, und als junger Assistenzarzt machte er „ganz gern einmal eine Partie Whist oder eine Partie l'Hombre mit (...). Das ist aber überstanden", bekannte er 1891 in einem Interview, „und kühl bis ans Herz hinan sehe ich heute dem schönsten Grandissimo oder Nullissimo zu." Zu anderen Dingen als für die Arbeit habe er einfach keine Zeit.656 In seiner Zeitkultur war Müßiggang somit nicht vorgesehen. Als er beispielsweise im Herbst 1849 seine Eltern in seiner Heimatstadt Schivelbein besuchte, empörte er sich, die Leute dort hätten so viel Zeit, dass es ihnen gar nicht darauf ankomme, ob sie ein, zwei oder drei Stunden warten müssten, nur um sich mit ihm zu unterhalten.657 Diese Konfrontation mit einer vorindustriellen Zeitkultur provozierte sein verinnerlichtes Ideal der rastlosen Tätigkeit. Zugleich beklagte er aber ständig seinen Zeitmangel.658 Und obwohl er gelegentlich die Entlastung von Tätigkeiten suchte und so etwa 1873 die Leitung der Abteilung für kranke Gefangene an der Charite abgegeben hatte, klagte er später gelegentlich auch darüber, dass er nicht nur an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt sei, sondern die Ansprüche an seine Tätigkeit seine Zeit und seine Kräfte überstiegen hätten.659 Die zeitliche Belastung änderte sich auch in seinen späteren Jahren nicht, und 1893 antwortete der im 72. Lebensjahr stehende Virchow einem Journalisten in London auf die Frage, ob er sich in seinem hohen Alter mehr Ruhe gönne: „Bevor ich auf 14 Tage nach England gehen konnte, hatte ich eine Woche lang täglich bis 5 Uhr morgens zu arbeiten. (...) Nein, die Arbeit nimmt mit den Jahren zu, sie nimmt zu, indem man älter wird, und meine Zeit ist gegenwärtig mehr in Anspruch genommen als je zuvor."660 Die mit seiner Arbeitsbelastung verbundene Überanstrengung führte wiederholt zu schweren Erkrankungen, so etwa 1882, als Virchow an einer blutenden Nierenentzündung litt. Trotz aller Bitten seiner Angehörigen nahm er aber auch diesmal „fiebernd und schwach bis zur Ohnmacht" seinen Lehrbetrieb wieder auf, bevor er die Krankheit auskuriert hatte. Zum Erstaunen seiner um seine Gesundheit bangenden Ehefrau führte dies aber auch diesmal dazu, dass es ihm bald wieder besser ging. 61 Schliemann wiederholte bei dieser Gelegenheit sein bereits 1879 vorgebrachtes Angebot an Virchow, seine bisherigen Geschäfte aufzugeben und sein Mitarbeiter auf dem Felde der Altertumskunde zu werden „[um] ein Honorar, welches dem 138
Verdienste, den er aus seinen bisherigen Arbeiten bezog, gleich sein" 662 sollte, doch lehnte dieser dankend ab: „Meine hiesige Stellung ist schwer errungen und schwer zu behaupten; ich kann sie ohne größte N o t nicht aufgeben, ohne zahlreiche Interessen zu gefährden." 663 Als sich der 81-jährige Virchow im Januar 1902 beim Absprung von einer elektrischen Straßenbahn in der Leipziger Straße in Berlin den Oberschenkelhals brach, ging seine Hauptsorge im Frühjahr dahin, zum Wintersemester wieder sein Kolleg aufnehmen zu können, während er zugleich bereits realisierte, dass er sich „dem Ende" näherte.664 Fern davon, dies zum Anlass eines Ruhestandsgesuchs zu nehmen, schrieb er aus der Kur in Kaiserbad an seinen Dienstherrn, Ministerialrat Althoff, dass ihm viel daran gelegen sei, wieder in regelmäßige Arbeit zu treten. 665 Virchow starb aber am 5. September, bevor das Wintersemester wieder begonnen hatte. Hier drängt sich ein Vergleich zu Entwicklungen im Ruhestandsverhalten des Bürgertums im 19. Jahrhundert auf. So setzten sich etwa die älteren Generationen der Mannheimer Unternehmerfamilie Bassermann mit 50 Jahren zur Ruhe, während die jüngeren Generationen weiterarbeiteten. 666 Allerdings unterschieden sich Professoren insofern nicht nur von Angehörigen des Besitzbürgertums, sondern auch von anderen Beamten, die im 19. Jahrhundert Schritt für Schritt mit verbesserten Pensionsmöglichkeiten ausgestattet wurden, als sie diese Möglichkeit nicht besaßen. Von daher bestand für diese Berufsgruppe auch ein materieller Zwang weiter zu arbeiten, solange es physisch und psychisch möglich war. Gleichwohl bleibt die Frage, wie die auch im Vergleich zu anderen Kollegen 667 ungewöhnliche .Rastlosigkeit' Virchows zu interpretieren ist. Arbeitsethik: Forschen und
Arbeiten
Ein erstes und nicht zu unterschätzendes Motiv für den Stellenwert der Arbeit in Virchows Leben bildete die schiere Notwendigkeit, für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen. Dies steht jedoch zugleich vor dem Hintergrund des zentralen Stellenwerts der Arbeit für das bürgerliche Selbstverständnis. In Verbindung mit einer auf die Öffentlichkeit und die Gestaltung von Zukunft gerichteten Zeitkultur bildete die außerhäusliche Erwerbsarbeit Grundlage einer für die Familie konstitutiven polaren Geschlechterkonstruktion. 668 Die spezielle Form der von Virchow kultivierten .Rastlosigkeit' hatte jedoch darüber hinaus auch mit einem spezifischen Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit zu tun. Das Fundament seiner wissenschaftlichen Arbeitsethik war bereits in seiner Schulzeit gelegt worden. So schrieb er 1836 in einem Aufsatz über die Beschaffenheit des wissenschaftlichen Fleißes: „Jedem lebendem Wesen auf der Erde ist von der Hand der Vorsehung ein mehr oder weniger großes Maaß von Mühe und Arbeit zugetheilt, und auch besonders dem Herrn der Schöpfung, dem Menschen. Keiner verlässt das 139
Leben, ohne vorher Arbeit verrichtet zu haben."669 Arbeit als eigentliche Aufgabe des Menschen bildete damit den zentralen Kern dieser Auffassung, die in Virchows Schulaufsätzen wieder und wieder befestigt wurde - und sie gipfelte in der wissenschaftlichen Arbeit, die in einer Hierarchie der verschiedenen Formen der Arbeit an der Spitze stand.670 Dieser Tenor prägte auch seinen deutschen Abituraufsatz: Während dem „Landmann" die körperliche Arbeit zugedacht sei, seien die Gelehrten und die Geschäftsmänner zu geistiger Arbeit verpflichtet, die den einzigen Weg zur sittlichen Vollkommenheit darstelle. Der Gelehrte und der Geschäftsmann als Vertreter der modernen Kultur werden hier zu einer rationalen, arbeitsamen Lebensführung angehalten, die bei Virchow freilich noch nicht als „Verhängnis"671, sondern als „höchstes Glück des Menschen"672 bezeichnet wird. Seine Arbeitsauffassung war noch tief in jenem moralischen Diskurs über Arbeit verankert, in dem Müßiggang als eigentliche Bedrohung galt und der erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch das unter dem Einfluss der Arbeitsphysiologie neu entstehende Ideal des „unermüdlichen Körpers" abgelöst wurde.673 In der Generation Virchows wurde die Erschöpfung des eigenen Körpers noch nicht in den Kategorien der Energieerhaltung, sondern der Pflichterfüllung thematisiert. Den Inbegriff des untätigen Lebens bildeten für Virchow die Klöster kontemplativer Orden. Diese Kritik formulierte er am deutlichsten in seinen Attacken auf die mönchische, asketische Lebensführung in einer heimatgeschichtlichen Studie über ein aufgelassenes Karthäuser-Kloster bei Schivelbein, in der (kapitalistische) Arbeitsethik und Protestantismus in engem Zusammenhang standen. Wie er dort schrieb, habe sich dieser 1084 gegründete Orden nie einer großen Verbreitung erfreut, „da die rigide Strenge seiner Regel ebenso zurückstiess, als die träge Faulheit, die üppige Genusssucht der meisten übrigen O r d e n anlockte. A m wenigsten hatte er sich in unseren nördlichen Gegenden verbreitet, w o der praktische Sinn der Bew o h n e r diese einsame und grausame Kasteiung des Fleisches, diese anhaltende Tortur des Geistes schaudernd zurückwies." 6 7 4
Dort wo „einst träge Mönche in körperlicher Unthätigkeit verkehrte Regeln" geübt hätten, würden „jetzt fleißige Hände das Gartenland" graben. Die geistige Ausbildung dieser Mönche sei die „allerdürftigste" gewesen, „von wissenschaftlicher Beschäftigung nicht die Rede, und ihr ganzes Tagewerk" habe „in geistlichen Übungen und Nichtstun" bestanden. „Wer", so Virchow, „freut sich daher nicht ob der Reformation, welche endlich diesen faulen Krebsschaden aus dem gesunden Staatsleben entfernte und die toten Schätze weniger Faulenzer in die befruchtenden Kanäle der Volkswirtschaft zurückführte?" 675 Die mit der Reformation verbundene Aufwertung des profanen Lebens der Laien als „zentraler Ort der Erfüllung von Gottes Absicht"676 wurde von 140
Virchow schließlich auf den Naturwissenschaftler übertragen, der in diesem Modell das Gegenbild des weitabgewandten Mönches darstellte. Denn der Baum der Erkenntnis, von dem die Menschheit gegessen hätte, so brachte er es bei der Eröffnung der Humboldt-Akademie in Breslau 1869 auf den Punkt, sei der Baum der Naturwissenschaft. 677 Die Welt außerhalb des Paradieses sei die Welt der Arbeit, d. h. vor allem die fortgesetzte Erkenntnistätigkeit des Naturwissenschaftlers. Dies prägte auch Virchows Haltung zur industriellen Welt und verband sich eng mit einer liberalen Bildungskonzeption. Die infolge des technischen Fortschritts nun mögliche „Ersetzung der Menschenarbeit durch Maschinenarbeit" sollte nicht etwa zu vermehrter Freizeit führen, sondern in erster Linie „auf dem Gebiet der geistigen Arbeit nutzbar gemacht werden". Bei der Erörterung der Frage der Arbeitszeitverkürzung, so erklärte er 1871 auf der Naturforscherversammlung in Rostock, käme es nicht selten vor, dass ein „intelligenter Arbeiter schon gegenwärtig sagt: die Ersparung an Zeit, welche der Normalarbeitstag mit sich führt, soll gewidmet werden der geistigen Erziehung, dem Fortschritte in der Wissenschaft, nicht bloß der ,Erhebung', sondern dem Fortschritte im Wissen, welches Wissen wiederum verwandt werden soll zu neuer Arbeit, welches Wissen wiederum dienen soll als Ausgang f ü r neue technische und geistige Fortschritte." 678
Anwandlungen des Gefühls der Sinnlosigkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit artikulierte Virchow dabei nur in jener als tiefe Krise empfundenen Zeit 1849/50. Ansonsten finden sich bei ihm allenfalls gelegentliche Selbstzweifel am Sinn seiner politischen Arbeit. So beneidete er 1862 während des preußischen Verfassungskonflikts seinen Vater um seine landwirtschaftliche Tätigkeit: Diese in zyklische Naturprozesse eingebundene Arbeit gewähre an sich bereits einen Lohn, während er oftmals ohne Aussicht auf sichere Erträge seiner Tätigkeit arbeiten müsse.679 In politischen Krisenzeiten trübte damit gelegentlich das Gefühl der individuellen Vergeblichkeit seinen ansonsten recht robusten Fortschrittsglauben. Aber nicht das Ziel, sondern die Tätigkeit an sich sei das Wesentliche, tröstete er sich in solchen erfolglosen Zeiten.680 Arbeit nahm somit in Virchows seelischer Ökonomie den zentralen Platz ein, und dabei diente sie sogar als Rezept zur Bewältigung existentieller Krisen: Seiner Frau, die um den Tod eines nahestehenden Menschen trauerte, hielt er die Nutzlosigkeit ihrer Trauer vor und riet ihr stattdessen: „Arbeiten, auch für sich selbst, ist die Aufgabe u. so musst Du dein Leben auch fassen. Jetzt arbeitest Du für deine Gesundheit, dein Wohlsein, u. das wird nachher für Mann, Kinder u. Wirthschaft seine Früchte tragen." 681 Aus „Beten und Arbeiten" war bei Virchow „Forschen und Arbeiten" geworden, 682 womit er dem 18. Jahrhundert näher stand als jener am Fin-deSiecle modisch gewordenen Haltung des „Arbeiten und nicht verzweifeln". Die in der idealistischen Bildungskonzeption so deutlichen theologisch141
mystischen Wurzeln des Bildungsprozesses 683 treten damit auch hier deutlich hervor. Auf die Frage nach dem Zweck des Menschen und dem Sinn des Lebens gab Virchow eine Antwort, die die naturwissenschaftliche Arbeit in den Mittelpunkt stellte und die er 1873 im „Glaubensbekenntnis eines modernen Naturforschers" zusammenfasste: „auch wir haben den Glauben, daß es der Menschheit beschieden ist, immer näher z u m Lichte, immer näher zur Wahrheit zu dringen; darum fordern wir von jedem Naturforscher, nach Kräften hieran mitzuwirken. Wir haben den Glauben, daß die Menschheit berufen ist, diese Entwicklung durchzumachen, und wenn wir nicht sagen können, was das für einen Zweck hat. Für uns ist die Anschauung der Wahrheit das höchste Glück (...) D a s Lernen, (...), das Fortschreiten in der Wahrheit ist unser Glück; unser höchstes Glück wird es sein, recht viel zu lernen und recht viel Fortschritte zu machen in der Wahrheit."
Die wissenschaftliche Arbeit stand hier zugleich im Gegensatz zum mystischen Weg der Erkenntnis und ging somit erneut mit einer Verurteilung der „ruhige(n) Kontemplation" einher. Der von Virchow unmittelbar mit dem aufklärerischen Fortschrittsglauben gekoppelte Forschungsimperativ der modernen Naturwissenschaft wurde dabei zu einer anthropologischen Bestimmung erhoben, indem er ein Ende des Lernens als etwas „absolut Unverständliches", ja sogar „absolut Unmenschliches" bezeichnete. Der N a turwissenschaftler wurde so zugleich zum Vorbild der Menschheit, die sich insgesamt an den Gedanken gewöhnen müsse, „daß jedermann fortarbeiten muß. Die Arbeit enthält ja auch zugleich die Sicherheit des Genusses (...) ein Abschluß mit ewiger Ruhe (...) widerstreitet geradewegs jeder Anschauung des Naturforschers." 6 8 4 Virchows .Rastlosigkeit' macht somit die Auswirkungen der allmählichen Säkularisierung der Arbeitsethik im 19. Jahrhundert deutlich: Wo es kein Leben nach dem Tod mehr gab, blieb im Rahmen einer ursprünglich noch von einer Auffassung der Arbeit als gottgegebenem Schicksal geprägten Selbstdefinition als einzige Möglichkeit der Sinngebung der Existenz nur noch die Selbstverwirklichung durch Arbeit, und wissenschaftliche Arbeit stellte dabei die höchste Form dar. So endete auch für ihn die Arbeit im wörtlichen Sinne erst mit seinem Tod. Wissenschaftliche Arbeit und die damit verbundene Suche nach „Wahrheit" als religiöse Tätigkeit bildeten damit eine wichtige Alternative zu der sich im Bildungsbürgertum ausbreitenden „Kunstreligion" bzw. zur Politik als Ersatzreligion, für die Virchow keinerlei Anfälligkeit besaß. U m so mehr war er ein Vertreter der Wissenschaftsreligion, und so erklärte er 1865 vor den in Hannover versammelten Naturforschern und Ärzten:
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„Ich kann wohl behaupten, daß der Charakter der deutseben Wissenschaft viel angenommen hat von jenem wahrhaft sittlichen Ernste, mit dem sich unser Volk jeder Arbeit unterzieht, und der das eigentliche Wesen der religiösen Stimmung ist. Ich scheue mich nicht zu sagen, es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden
^ ^«685
Welche religiösen Prägungen waren in diese Auffassung der wissenschaftlichen Arbeit eingegangen? Und wie veränderte sich Virchows Verhältnis zur Religion im Verlauf seines Lebens? Religiosität:
Die „ letzten
Dinge "
Wie in Virchows Generation selbstverständlich, hatten Religion und Religionsunterricht in seiner Erziehung einen erheblichen Anteil eingenommen. Virchow war, wie seine überlieferten Schulhefte belegen, durchaus bibelfest.686 Das vertrug sich ohne weiteres mit einem anderen zentralen Element seiner protestantischen Sozialisation, nämlich Antikatholizismus und Papstfeindschaft, die sich in seiner Schulzeit quer durch verschiedene Unterrichtsfächer zogen. Dies paarte sich jedoch schon bald nach seinem Wechsel nach Berlin mit einer ebenso heftigen Abneigung gegen den von Friedrich Wilhelm IV. in Preußen kräftig geförderten Pietismus,687 die schließlich in eine fundamentale Religionskritik mündete. 1841 empfahl er seiner Mutter zwar noch die Religion als Trost und Zuflucht in unlösbaren privaten Konflikten, wobei das Moment der Prädestination eine besondere Rolle spielte. Allerdings lag hier bereits ein funktionales Verständnis von Religion vor: Diese, so Virchow, würde auch bei ihr „am geeignetsten sein, eine gewisse Zufriedenheit herzustellen, da Du so frühe darauf hingeleitet bist. (...) Das Schicksal lässt sich nicht forciren, und den Platz, auf den man von demselben angewiesen ist, würdig einzunehmen, (...), ist die Pflicht jedes Sterblich-Geborenen." Indem er hier den früher von ihm gebrauchten Ausdruck „Vorsehung" durch den des „Schicksals" ersetzte,688 deutete sich bereits seine innere Ablösung von einem christlichen Weltbild an. In den 1840er Jahren radikalisierten sich Virchows antireligiöse Gefühle. Hatte er gegenüber seiner Mutter noch die Funktion von Religion als Opium des Volkes und damit deren Trostfunktion hervorgehoben, so wurde ihm Religion nunmehr zum Opium für das Volk.689 Dabei betrachtete er Pietismus und Katholizismus gleichermaßen als Instrumente einer von oben gesteuerten Verdummung der Bevölkerung. So berichtete er seinem Vater 1843 über seine Arbeit auf einer Krankenstation der Charite: „Traurig aber ist es zu sehen, wie der religiöse Wahn, durch die höchsten Beispiele unterstützt, täglich mehr Opfer liefert, und in numerischer Beziehung nur der Onanie und dem Branntweingenuß weicht."690 In dieselbe Kerbe schlug eine Schilderung, die er seinem Vater 1848 über seine Oberschlesien-Reise gab: „Das Elend ist grenzenlos u. man sieht hier recht deutlich, was eine durch die ka143
tholische Hierarchie u. preussische Bureaukratie geknechtete Masse werden kann."691 Seine persönliche Entfernung von religiösen Bindungen kam schließlich auch darin zum Ausdruck, dass er bei der Meldung zur Medicinal-Personen-Tabelle für 1849 die dort geforderte Angabe der Religion verweigerte, wobei er sich auf die in der preußischen Verfassung vom 5. Dezember 1848 gewährte Religionsfreiheit berief.692 Religion war für Virchow somit ganz und gar Privatsache. Dabei vertrat er einen strengen Agnostizismus, der auch keinerlei Sympathie mit unter Naturforschern oft als Ersatzreligion dienenden pantheistischen Vorstellungen hegte.693 „Theistische und pantheistische Märchen" waren ihm lediglich Produkte eines dichterische[n] Verleimungszustand[es] des Gehirns", und so hörte gegenüber „allem Transzendentalen und Metaphysischen" sein Interesse buchstäblich auf. Den Maßstab bildete dabei für ihn Kants Kritik an der theologischen Tradition der Gottesbeweise.694 Und so fertigte er einen jungen Arzt, der ihn auf einer nächtlichen Eisenbahnfahrt zu einer Naturforscherversammlung zu seiner Meinung zu religiösen Fragen bedrängte, mit der Antwort ab: „Denken Sie nie über Dinge nach, zu deren Erforschung das menschliche Gehirn absolut nicht genügend ausgebildet ist."695 Virchow war von der Vorstellung einer kognitiven Systemkonkurrenz 696 geprägt, innerhalb derer die Naturwissenschaft im Verlauf ihrer Geschichte und auch in Zukunft durch kontinuierliches Hinausschieben ihrer Erkenntnisgrenzen die Religion immer weiter zurückdrängte. 697 Jedoch endete die Konkurrenz für ihn an der Grenze, an der zugleich die Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften und sein Erkenntnisinteresse aufhörte. Damit blieben zwar bestimmte Fragen innerhalb der Wissenschaft nicht zu beantworten, doch lag es zugleich noch außerhalb seines Horizonts, dass die durch Wissenschaft selbst bewirkten Veränderungen der Welt ihrerseits Fragen produzierten, auf welche diese keine Antworten mehr zu liefern vermochte.698 Als Dimension persönlicher Sinndeutung spielte Religion für Virchow keine Rolle mehr. An die Stelle der mit Liebe und Furcht verbundenen Hochachtung vor Gott war die Nachfolgekategorie der „Achtung vor dem Gesetz"699 getreten, die in seinem Wertehaushalt eine herausragende Rolle spielte. Inwieweit hatte dabei der Schwund an Kirchlichkeit zugleich auch seine religiöse Lebensprägung entmächtigt?700 Die Würzburger Jahre, in denen sich Virchow nicht nur als Demokrat, sondern auch als Protestant diskriminiert fühlte,701 trugen dazu bei, die stark protestantische Färbung seiner agnostischen Haltung als Bestandteil seines Selbstverständnisses zu verstärken, ein Effekt, der sich auch bei seinem damaligen Assistenten Ernst Haeckel gut studieren lässt.702 So verstärkten etwa Wallfahrten und andere katholische religiöse Praktiken das Gefühl kultureller Fremdheit, während zugleich die anfänglich heftigen Intrigen gegen den Protestanten Virchow sowie die großen Schwierigkeiten anderer nicht-katholischer Bewerber auf 144
Würzburger Lehrstühle seine Selbstwahrnehmung als Teil einer unterprivilegierten Minderheit intensivierten.703 In seinen darauf folgenden Berliner Jahren blieb Virchow Kirchenmitglied und gehörte der evangelischen St. Matthäus-Gemeinde an. In seinem Nachlass finden sich überdies Spuren zu Kontakten zur Berliner Freireligiösen Gemeinde, ohne dass er dieser, soweit sich feststellen lässt, angehört hätte.704 Dies hätte vermutlich auch im Widerspruch zu seiner kritischen Haltung zu „Vernunftreligionen" gestanden. Dafür, dass Virchow ein Kirchgänger war, gibt es freilich keine Anhaltspunkte, und kirchliche Akte sind, zumindest nach dem Ende seiner Schulzeit, kaum verbürgt: Es blieben nur seine Hochzeit und die Taufen der Kinder, die eher als soziale denn als individuelle religiöse Handlungen angesehen werden können. Dies gilt auch für christliche Feiertage wie Ostern und Weihnachten, die in der Intimität der Familie mit einem genau festgelegten Ritual festlich begangen wurden wozu etwa gehörte, dass Virchow die Bescherung seiner Kinder durch ein Signal auf einer Kindertrompete eröffnete. 705 So versuchte er, bei der Kindererziehung einen Spagat zwischen seinem Agnostizismus und der Religiosität seiner Frau zu vollführen und schrieb etwa 1881 von einer Reise nach Tiflis an seine achtjährige Tochter Johanna: „ H i e r werde ich freilich v o m Fest nicht viel merken, denn die meisten Menschen sind Mohammedaner, und die einzigen Christen, die K o p t e n , feiern Ostern erst gegen Ende des Monats. Wir müssen uns also mit der N a t u r begnügen, aber es ist doch auch Feier genug, den ewig blauen H i m m e l und die goldene Sonne und alle die schönen Gewächse zu sehen." 7 0 6
Generell blieben Frauen im 19. Jahrhundert Kirche und Religion stärker verhaftet als ihre Ehemänner. 7 7 Gleichzeitig herrschte unter Virchow und seinen männlichen Kollegen ein Tonfall, der sich über die weibliche Wertschätzung für kirchliche Rituale wie die Taufe lustig machte, während sie dennoch als gesellschaftliche Konvention eingehalten wurden. 708 Zwar hatte Virchow zeitweilig darauf gehofft, wie er 1850 an Goldstücker schrieb, über den Glauben „aus den Augen meiner Rose neue Aufklärung [zu] schöpfen" 709 . Im übrigen traf aber auch für ihn das Goethe-Wort zu, dass wer Wissenschaft und Kunst habe, auch Religion habe, wer aber beides nicht habe, der habe Religion. Zumal im Falle Virchow bedeutete dies, dass für Frauen die Religion die angemessene Form der Kontingenzbewältigung darstellte, für Männer dagegen die in der Naturwissenschaft gipfelnde Arbeit. Die Frage nach dem Sinn seines Tuns vermochte er dabei stets weltimmanent zu beantworten, und abgesehen von wenigen Krisen, die zumeist politischer Natur waren wie die Revolution oder der preußische Verfassungskonflikt, artikulierte er niemals tiefere Zweifel. Auch an seinem Umgang mit Krankheit und Tod lässt sich zeigen, wie sehr Virchow religiöse Dimensionen der Deutung der menschlichen Existenz 145
fern lagen oder durch die Wissenschaft ersetzt worden waren. Als er 1857 anlässlich des Todes seiner Mutter seinem Vater sein Beileid aussprach, erkundigte er sich in seinem Brief vor allem nach den genauen Krankheitssymptomen, die ihrem Tod vorausgegangen waren. „Freilich kann das Alles jetzt nichts für sie nützen", schrieb Virchow seinem Vater, „aber es giebt doch eine gewisse Beruhigung, zu wissen, wie überhaupt der Hergang gewesen ist." Dies lässt sich als eine Haltung deuten, wonach die Kontingenz von Krankheit und Tod durch medizinische Rationalisierung, durch die Suche nach kausalen Ursachen zu bewältigen versucht wurde. Die Bedeutung des Todes lag dabei vor allem darin, die Lebensplanung auf unvorhersehbare Weise zu erschüttern. Diese anlässlich des Todes nahestehender Personen von Virchow immer wieder festgestellte Einsicht diente ihm vor allem als Mahnung, die vorhandene Zeit möglichst zu nutzen.710 Auch beim Tod seines Vaters im Dezember 1864, der ihn stark erschütterte, bemühte er keine religiösen Vorstellungen zur Bewältigung seines Schmerzes. Vielmehr bestärkte ihn dies in seiner Haltung der Pflichterfüllung und Verantwortung, die er nunmehr verstärkt auch seinen Söhnen auferlegte. So schrieb Virchow, der zur Beerdigung seines Vaters allein nach Schivelbein gereist war, seiner Frau nach Hause: „Grüße die Kinder, schicke sie auf das Eis, auch den Ernst, aber sage den Grossen, ich machte ihnen Vorsicht zur Pflicht u. wenn dem Ernst etwas zustieße, so würde ich es an ihnen ahnden. Sie müssen jetzt das Gefühl der Verantwortlichkeit kennen lernen."711 Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tode lehnte Virchow ab, wobei er gelegentlich sehr zynisch werden konnte. Seit Mitte der 1870er Jahre setzte er sich politisch für die Feuerbestattung ein und unterstützte in den neunziger Jahren die Bemühungen des Berliner Vereins für Feuerbestattung als Gutachter. Während er dabei vor allem mit hygienischen Gründen argumentierte,712 wurde dies bereits zeitgenössisch als eine „Symbolfrage antichristlicher Gesinnung"713 verhandelt. So agitierte die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung gegen die Bestrebungen zur Einführung der Feuerbestattung in Berlin auch mit antisemitischen Untertönen: „Da darf uns denn auch nicht wundern, dass bei den Verhandlungen der Deputation für das öffentliche Gesundheitswesen neben Herrn Dr. Virchow der jüdische Stadtrath Dr. Strassmann die Hauptrolle spielte."714 Für seine Eltern, aber auch für sich selbst genoss Virchow allerdings durchaus die Ästhetik einer würdigen Grabstätte. So schrieb er seiner Frau 1883 von einer Reise aus Syrakus: „In einer der großen Gartenanlagen (...) findet sich eine Reihe v o n Grabmälern v o n Fremden. Darunter ist auch das G r a b des deutschen Dichters v. Platen. Ich w u r d e ordentlich neidisch auf den Platz. Es mag ja sehr gleichgültig sein, w o man schließlich begraben wird, aber jeder Besucher empfängt hier das (...) Gefühl, dass es sich an einer solchen Stelle gut ruhe müsse. Es sind lauter Protestanten, die auf dem katholischen Friedhofe keine A u f n a h m e fanden (,..)." 715
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Das Grab war damit seiner religiösen Bedeutung entkleidet und erhielt statt dessen für Virchow seine neue Funktion vor allem durch seine Bedeutung für das Familiengedächtnis 716 und war damit Teil der Vergewisserung von Identität über die Generationen hinweg. Dazu diente schließlich eine schlichte Grabstätte auf dem Berliner Matthäi-Friedhof, wo er am 9. September 1902, vier Tage nach seinem Tode, bestattet wurde. Die Grabreden hielten „im Namen der Gelehrtenwelt" Wilhelm Waldeyer, der freisinnige Abgeordnete Albert Träger, der Virchows politische Freunde vertrat, sowie für die Stadt Berlin Bürgermeister Martin Kirschner. Eine weitere Ansprache hielt auch Prediger Kirmss, der an Virchows Sarg nicht nur seine Wahrheitssuche als Wissenschaftler pries, sondern zugleich die Aufklärungsmetapher des Lichts der Wahrheit wieder auf ihren religiösen Ursprung zurückführte: „Alle Wahrheit, welcher Art sie auch sei, ist göttlichen Geschlechts" 717 . Gegen diese wie andere Aneignungsprozesse, die nun folgten, konnte sich der Verstorbene nicht mehr wehren. Die, Verwandlung'
zum Symbol
Nach seinem Tode wurde Virchow von sehr unterschiedlichen Gruppen vereinnahmt. Dabei handelte es sich namentlich um die Liberalen sowie die Ärzte, die hierbei heftig miteinander konkurrierten. So vollzog sich Virchows Nachleben vor allem auch als öffentliche Symbolfigur, wobei er an diesem Verwandlungsprozess vom Akteur zum Symbol noch zu Lebzeiten ein Stück weit gestaltend mitgewirkt hatte. Bereits der 60. Geburtstag Virchows 1881 wurde zum Anlass zahlreicher Feiern, seit seinem 70. Geburtstag 1891 rissen dann die Feierlichkeiten, Jubiläen und Ehrungen als Wissenschaftler und Politiker praktisch nicht mehr ab. Und so spottete ein Zeuge dieser umfangreichen Ehrungen: „Rudolf Virchow hatte nicht blos eine große Arbeitskraft, sondern auch eine große Jubilirungskraft." 718 Dabei war diesem freilich selbst bewusst, wie sehr die vielfältigen Ehrungen in seinen späteren Jahren nicht allein seiner Person galten, sondern der Selbstvergewisserung bestimmter Gruppen dienten.719 Bei dem Virchow betreffenden öffentlichen Interesse machte sich zugleich der Einzug des „Star-Systems" in die Wissenschaft wie in die Politik geltend. Gemeint ist die Selbstverstärkung von Bekanntheit durch Medien, die gleichzeitig mit einem Konzentrationsprozess der Popularität auf einige wenige bekannte Persönlichkeiten einherging.720 Zum „Star-System" gehörte überdies die Aufhebung der auch für Virchows Selbstverständnis konstitutiven Trennung zwischen ,privat' und .öffentlich'. Symptomatisch dafür ist, dass in den neunziger Jahren erstmalig auch sein Privatleben öffentlich thematisiert wurde und Zeitungsberichte mit Titeln wie „Virchow zu Hause" erschienen. 1 Dabei besaß es zu dieser Zeit noch den Reiz des durch-dasSchlüsselloch-Schauens, wenn der Korrespondent einen Blick in Virchows 147
privates Arbeitszimmer warf oder sein Wohnzimmer beschrieb. Seine Familie oder gar die privaten Gemächer blieben hier noch unsichtbar, wenngleich bereits ein Prozess in Gang gekommen war, der solche Grenzen immer weiter verschob. Dafür, dass sich Virchow schließlich selbst zunehmend als öffentliche Person wahrnahm, spricht auch, dass er seit Anfang der neunziger Jahre einen Zeitungsausschnittdienst abonniert hatte, der ihm zum Preis von 75 Mark jährlich sämtliche ihn betreffende Artikel aus der nationalen und internationalen Presse zukommen ließ.722 Zu einem Hauptinstrument der Verwandlung bürgerlicher Akteure in Symbole war die Errichtung von Denkmälern geworden, woran auch Virchow mehrfach aktiv mitgewirkt hatte.723 Allerdings hatte er bereits 1880 hellsichtig auf einige Schwierigkeiten hingewiesen, die sich Versuchen, den Bürger auf diese Weise in der politischen Topographie zu verankern, entgegenstellten. So erläuterte er im Preußischen Abgeordnetenhaus seine Skepsis gegenüber dem Vorschlag des Zentrumsabgeordneten Reichensberger, wonach man im öffentlichen Raum Berlins künftig vermehrt bürgerliche Personen auf den Denkmalssockel stellen solle. Virchow begrüßte diese Forderung zwar prinzipiell, doch gab er aus seiner reichen Erfahrung als Mitglied zahlreicher Denkmalskomitees zu bedenken, dass es große Schwierigkeiten bereite, die Künstler zu einer solchen Aufgabe zu bewegen: „Unsere modernen bürgerlichen Personen sind ungemein ungünstige Objekte f ü r die Plastik, und ich kann Ihnen sagen - (...) - es ist die äußerste Hingabe des Künstlers nothwendig, um über die Schwierigkeiten nicht blos des Kostüms, sondern auch der bürgerlichen Haltung hinauszukommen. Unsere großen Bürger sind in der That ungemein ungünstige Objekte f ü r die darstellende Kunst und so sehr w i r wünschen müssen, daß auch das bürgerliche Verdienst in einer Weise geehrt wird, wie es im A l t e r t h u m geehrt wurde, so werden w i r uns doch bescheiden müssen, den Künstlern nicht zu viel solcher bürgerlicher Aufgaben zu stellen. Ich glaube nicht, daß die Plastik dabei sehr gewinnen würde." 724
Diese Prognose sollte sich bei den Vorbereitungen zu Virchows eigenem Denkmal, für das unmittelbar nach seinem Begräbnis im September 1902 die Vorbereitungen aufgenommen wurden, genau erfüllen. Bis zur Einweihung des Denkmals 1910 auf dem Berliner Karls-Platz kam es zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um den Entwurf des Bildhauers Fritz Klimsch, der sich den gängigen Konventionen entzog und Virchow nicht als „Persönlichkeit" darstellte, sondern eine allegorische Darstellung seiner Leistungen wählte. Sogar Wilhelm II. wurde zuletzt von den an höchster Stelle Unterstützung suchenden Ärzten in den Streit mit hineingezogen, doch musste sich der preußische Monarch gleichfalls vor dem Autonomieanspruch der Kunst bzw. der Expertise der Kunstsachverständigen beugen. Damit war auch das „große Individuum", dem hier ein Denkmal errichtet werden sollte, vom Podest getreten.726 So war nicht allein die Trennung von 148
privater und öffentlicher Sphäre, die konstitutiv für Virchows bzw. das bürgerliche Selbstverständnis überhaupt waren, am Ende seines Lebens unter den Einfluss tiefgreifender Veränderungen geraten, wie sie sich an den ersten ihn erfassenden Symptomen des „Star-Systems" zeigte. Vielmehr erwies sich nun das Konzept der „Persönlichkeit" selbst, das Virchows Selbstverständnis geprägt hatte und als dessen Verkörperung er noch anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag durch das Kultusministerium gefeiert worden war, als zeitgebunden und gefährdet. In gewisser Weise dementierte das Virchow-Denkmal damit Virchows eigenes biographisches Projekt, das vor allem auf der Entwicklung von „Persönlichkeit" sowie einer engen Verknüpfung von Wissenschaft und Politik beruht hatte.
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II. Wissenschaft und Politik zwischen „Beruf" und „Pflicht"
1. Wissenschaftliche Karriere und disziplinäre Identitäten Während im vorigen Kapitel Virchows Lebenskonstruktion und Lebensführung untersucht wurden, steht im Folgenden seine .doppelte Karriere' im Mittelpunkt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie Virchow zwischen den Polen von Wissenschaft und Politik agierte und welche Spannungen bzw. Wechselwirkungen dabei auftraten. In einem ersten Schritt werden dazu Virchows wissenschaftliche Karriere sowie seine damit verbundene Rolle bei der Formierung disziplinärer Identitäten analysiert. Dazu gehören neben dem wissenschaftlichen Karriereweg und seiner Rolle beim Aufbau von Institutionen und Disziplinen vor allem auch die professionelle Kultur,1 von der er einerseits selbst geprägt wurde und die er andererseits in erheblichem Maße auch selbst mitformte. Zunächst stellt sich hier allerdings die Frage, wo man Virchow überhaupt einordnen soll. Schon sein Schüler und späterer Assistent Ernst Haeckel kommentierte 1853, dass Virchow „kein Arzt oder Freund der Ärzte und ihrer Praxis ist, sondern nur ein sehr tüchtiger Naturforscher, Chemiker, Anatom, Mikroskopiker usw." 2 Und auch Ernst Hirschfeld betonte 1929, Virchow war „kaum mehr Arzt, mögen sich auch seine Biographen noch so sehr gerade um diese Wertung bemühen." 3 Als Pathologe ebenso wie später als Anthropologe entwickelte er ein Selbstverständnis als Naturwissenschaftler, wobei er bereits seit Mitte der 1850er Jahre gelegentlich von der Bezeichnung „Naturwissenschaft" zu „Biologie" als übergeordneter Kategorie wechselte. 4 Virchow gehört zu den Gründervätern der Naturwissenschaft als „unabhängiger, institutionell unterstützter Karriere in Deutschland" 5 , zu denen neben ihm auch eine Reihe weiterer Schüler des Berliner Anatomen und Physiologen Johannes Müller gezählt werden. An ihm lassen sich somit die Mechanismen naturwissenschaftlicher Karrieren und der Entwicklung disziplinärer Identitäten exemplarisch untersuchen. Dies steht zugleich vor dem Hintergrund zweier gegensätzlicher Interpretationen der Dynamik des Aufschwungs der experimentellen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, die sich pointiert auf die Alternative „Markt" oder „Modernisierung" zuspitzen lassen.6 So steht einerseits eine besondere Verbindung ideologischer und institutioneller Kräfte im Mittelpunkt: Demzufolge führte die neue Wertschätzung von Wissenschaft und Bildung seit Anfang des 19. Jahrhunderts zur Hochschätzung eigenständiger, neuer Forschung. Dabei habe das Handeln der Kultusbürokratie gleichermaßen auf der aus der Ideologie der Humboldtschen Reformen resultierenden Lehr- und Lernfreiheit und dem Prinzip 150
der Wissenschaft um ihrer selbst willen, wie auf der Sorge um den finanziell lukrativen Zustrom von Studenten basiert. In Verbindung mit dem dezentralisierten deutschen Universitätssystem habe dies zur Ausbildung eines akademischen Marktes geführt. Aufstrebende Wissenschaftler konnten sich die aus der Konkurrenz der dezentralisierten deutschen Universitäten resultierenden Chancen bei ihren Berufungsverhandlungen zunutze machen und mit großem Erfolg auf eine bessere Ausstattung ihrer Fächer drängen. 7 Gegenüber diesem Erklärungsansatz, der die interne institutionelle Dynamik von Wissenschaft als Hauptfaktor ansetzt, wurde in den letzten Jahren zunehmend die Frage aufgeworfen, ob nicht wenigstens einige deutsche Staaten - darunter namentlich Baden - im 19. Jahrhundert die universitäre wissenschaftliche Ausbildung in ein breiteres Konzept der intentionalen sozialen und wirtschaftlichen Modernisierung integriert hätten. Die Debatte um den Zusammenhang von Universitäten, Naturwissenschaft und Modernisierung, die sich vor allem auf die Zeit nach der Reichsgründung konzentriert, strahlt auch auf die vorhergehenden Jahrzehnte aus. Dieser alternative Erklärungsansatz betont die aktive Rolle des Staates, der im Zusammenhang der angestrebten ökonomischen und politischen Modernisierung bestimmte Disziplinen gezielt gefördert habe. Daraus hätten sich gleichfalls spezifische Karrierechancen für Wissenschaftler ergeben. Vertreter dieser Auffassung gehen aber über einfache modernisierungstheoretische Modelle hinaus, indem sie anhand ihrer Analysen individueller Bemühungen um Karriereaufbau sowie Disziplin- und Institutsbildung nach politischen und sozialen Interessen und Ideologien suchen, die dem institutionellen Rahmen vorausgehen. 10 In diesem Zusammenhang gewinnt schließlich auch die Frage nach der kulturellen Bedeutung von Naturwissenschaft große Bedeutung." Zunächst wird es also um die Bedingungen des außerordentlichen wissenschaftlichen Erfolgs Virchows gehen, der nicht ausschließlich mit seinen kognitiven Leistungen erklärt werden kann. Seine Karriere war ein Geflecht, in dem sich die einzelnen Elemente gegenseitig durchdrangen und verstärkten. 12 Welche Karrierestrategie lässt sich also bei ihm erkennen, und in welcher Beziehung stand diese zu den spezifischen Chancen, die sich aus dem deutschen Wissenschaftssystem ergaben? Welche Rolle spielten demgegenüber kontingente Faktoren, etwa der Tod oder die Benachteiligung von Rivalen? Auf welche Weise war Virchow an der Entstehung bzw. am Ausbau neuer wissenschaftlicher Disziplinen beteiligt? Und welche Grenzziehungsprozesse, sei es zu anderen Disziplinen, sei es gegenüber einer nicht-spezialisierten Öffentlichkeit, fanden dabei statt? Die Untersuchung dieser Fragen erfolgt in fünf Schritten: Erstens wird anhand Virchows akademischer Berufungen seine Karrierestrategie untersucht. Anschließend geht es um seine Rolle als Disziplinbildner und seinen Umgang mit Ressourcen, wobei zum einen die Pathologie und zum anderen die Anthropologie im Mittelpunkt stehen. Viertens werden Virchows publi151
zistische Aktivitäten im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit untersucht. Fünftens geht es schließlich am Beispiel der am Berliner Pathologischen Institut betriebenen Ausbildung darum, inwieweit der von Virchow betriebene Aufbau einer professionellen Identität mit der Vermittlung eines liberalen ,verborgenen Lehrplans' verbunden war. Auf diese Weise soll Wissenschaft als Kultur untersucht werden, die sich nicht nur in „programmatischen Erklärungen und Festreden", sondern auch in Praktiken ausdrückt. 13
a) Berufungen zwischen Markt und Modernisierung Virchows akademische Berufungen und Berufungsverhandlungen geben gleichermaßen wichtige Einblicke in seine eigene Karrierestrategie wie in die Berufungspolitik verschiedener deutscher bzw. deutschsprachiger Länder in einem sich gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts neu etablierenden Feld - und damit in einen zentralen Bereich der Hochschulpolitik. Virchow hatte bis zum Vorabend der Revolution bereits einen rasanten Karrierestart vollzogen. Bereits 1847 war er habilitiert worden, wobei ihm die Ochsentour als Militärarzt erlassen wurde. Jedoch geriet er während der Revolution in Konflikt mit seinen Gönnern in Militärmedizin und Kultusministerium. Dies schien seinen Karriereambitionen für einige Zeit, solange er noch auf einen Erfolg der Revolution hoffen konnte, durchaus förderlich zu sein. Als sich das Blatt aber schließlich wendete, war er für seine ehemaligen Förderer zum Problem geworden. Beide Seiten rangen um einen ehrenvollen Ausweg aus diesem Konflikt. Eine Lösung wurde dadurch erleichtert, dass im Januar 1849 die Würzburger medizinische Fakultät Kontakt mit Virchow aufgenommen hatte. Dort war man auf der Suche nach einem Nachfolger für den verstorbenen Bernhard Mohr, den bisherigen Inhaber des Lehrstuhls für pathologische Anatomie, der nach Wien erst der zweite dieser Art im deutschsprachigen Raum war.14 Bald darauf erfuhr Virchow, dass er auch in Gießen als Kandidat für ein Ordinariat gehandelt wurde, wo jedoch die Frage seiner politischen Betätigung gleichfalls eine bedeutende Rolle spielte. Seine Berufung an die dortige Universität scheiterte zuletzt an der Besorgnis der Fakultät, dass er als bekannter Politiker umgehend in ein Parlament gewählt und so seine Arbeitskraft der Universität entzogen würde. Diese hatte vor allem das Beispiel des bekannten Demokraten, Zoologen und Geologen Karl Vogt vor Augen, dessen akademische Tätigkeit in Gießen schwer unter seiner Mitwirkung im Vorparlament, der Reichsversammlung in Frankfurt und im Stuttgarter Rumpfparlament gelitten hatte.15 Die zeitliche Belastung durch ein politisches Mandat spielte somit nach den Erfahrungen mit dem frühen Parlamentarismus der Revolutionszeit eine wichtige Rolle bei Berufungsentscheidungen 152
und erwies sich damit künftig als ein strukturelles Hemmnis für den Typus des Professorenpolitikers. Parallel zu den Gesprächen mit Würzburg führte Virchow Bleibeverhandlungen in Berlin, die das Kultusministerium allerdings, trotz seines großen Entgegenkommens, nur sehr halbherzig führte. Der Minister lehnte Virchows Forderungen - die Übertragung der Prosektur in der Charite ohne Bedingung, eine außerordentliche Professur und ein Gehalt von 800 Talern unter großem Bedauern ab, indem er sich dabei auf unabweisbare finanzielle Zwänge berief. Zugleich forderte er ihn auf, den Würzburger Ruf anzunehmen. Adalbert von Ladenberg sei in der persönlichen Audienz, so Virchow, „außerordentlich freundlich, ja fast wehmütig' gewesen: „Er schwankte offenbar zwischen Schaam u. Furcht - Schaam, daß die bayerische Regierung liberaler war, als er, Furcht, daß seine eigene Partei ihn angreifen würde, wenn er mich beförderte."16 Uber die schriftliche Antwort des Ministers berichtete Virchow in einem Brief an Goldstücker: „Dieselbe gleicht dem Rhein. Sie ist hundert Meilen lang, schwillt nach kurzem Lauf zu einem geradlinigen ,Fluss' an, theilt sich dann in mehrere Arme, von denen die meisten im Sand verlaufen, der eine aber durch Schleusen von dem offenen Meere abgetrennt wird." Virchows erste Reaktion war die Zusage an Würzburg, womit er in seiner eigenen Wahrnehmung den Rubikon in eine höchst unklare Zukunft überschritt.18 Für das preußische Kultusministerium ergab sich hier ein eleganter Ausweg aus dem Dilemma zwischen der Förderung der preußischen Wissenschaftslandschaft und den notwendigen politischen Rücksichten. Virchows Ruf nach Würzburg wurde als eine Art von Zwischenstation betrachtet, in der er zur vollständigen wissenschaftlichen Reife gelangen könne und dabei zugleich seine politischen ,Flausen' verlieren würde. So würde es zwar zu weit führen, die 1856 erfolgte Rückberufung nach Berlin als Folge eines bereits 1849 gefassten Vorsatzes zu betrachten. Aus der Uberlieferung des preußischen Kultusministeriums gewinnt man jedoch den Eindruck, dass man ihn nur ungern auf Dauer verlieren wollte. Jedenfalls fügt sich diese Lösung in das vertraute Muster der preußischen Hochschulpolitik, wie es schließlich in der Ära Althoff seinen Höhepunkt erlebte, wonach junge Wissenschaftler aus Berliner Schulen begehrt für Erstberufungen an kleineren Universitäten waren. Für die Berliner Spitzenpositionen holte man dagegen meist Persönlichkeiten, die sich an anderen, oft kleineren Universitäten einen erstklassigen Namen erworben hatten, womit das Risiko einer solchen Berufung minimiert wurde.19 Auch bei den Verhandlungen mit Würzburg, deren offizieller Teil sich nach mancherlei informellen Vorgesprächen von Mai bis August 1849 hinzog, ging es zum einen um die materielle Ausstattung des Rufes und zum anderen um die politischen Bedenken. Virchow fasste die mit dem Würzburger Angebot verbundenen Konditionen bündig zusammen: „1200 fl. [Gul153
den20] Gehalt, 6-800 fl. Honorar, 200-250 Leichen" 21 und bezog sich damit auf die Höhe des Einkommens einerseits und die zentrale Forschungsressource andererseits. Was sein Einkommen betraf, so wurde ihm versichert, dass dieses vielfach steigerungsfähig sei. Mit dem Ruf war die Verpflichtung verbunden, eine jährliche Pflichtvorlesung zu halten, die mit zehn Gulden honoriert war; bei der Erschließung weiterer Einnahmequellen durch Privatkurse war ihm die Festlegung der Gebühren freigestellt.22 Sein künftiger Kollege Rudolf Kölliker schilderte ihm auch die materielle Ausstattung seiner künftigen Arbeitsstätte in leuchtenden Farben: „Die Zahl der Leichen ist jährlich 300, lässt sich aber leicht auf 350 bringen. (...) zudem kommen herrliche Sachen vor, im Verhältnis zur Zahl der Sectionen viel schöner als ζ. B. in Zürich bei der doppelten Zahl." Zudem existiere eine große, wenngleich schlecht geordnete pathologische Sammlung, Geld sei genug da, und das physikalische Institut verfüge über acht Mikroskope, eine für die damalige Zeit beachtliche Zahl. So ließe sich in Würzburg „vielleicht besser als irgendwo sonst der Wissenschaft leben" 23 . Hinter diesem werbenden Hinweis stand auch die Sorge, ob Virchow bereit sein würde, sich an seiner neuen Wirkungsstätte politisch zurückzuhalten. Mehrfach standen die Verhandlungen wegen dieses Punktes kurz vor dem Scheitern.24 Die Würzburger medizinische Fakultät bzw. der Akademische Senat hatten von vornherein versucht, die politischen Bedenken des bayerischen Kultusministeriums und des Königs Maximilian II. unter Hinweis auf die überragenden wissenschaftlichen Qualitäten des Wunschkandidaten auszuräumen. Die treibenden Kräfte in Würzburg für die Berufung Virchows waren der damalige Dekan der medizinischen Fakultät Franz von Rinecker sowie seine Kollegen Rudolf Kölliker und Wilhelm von Wittich, die es sich „in den Kopf gesetzt" hatten, ihn herzubringen. 25 Diese taten über Monate hinweg ihr Bestes, um zwischen dem bayerischen Kultusministerium und Virchow zu vermitteln. Nicht nur in Preußen, sondern auch in Bayern war dabei keine Rede davon, dass Virchow seine politischen Ansichten ändern würde. Vielmehr wurde auch hier lediglich erwartet, dass diese seine Privatangelegenheit blieben und er in Würzburg keine politischen Aktivitäten entfalten würde. 26 D a es Virchow nach seiner zeitraubenden und frustrierenden politischen Betätigung in Berlin 1848/49 ohnehin schon seit längerem danach verlangte, sich wieder stärker auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zu konzentrieren, ging es so letztlich vor allem um die Frage, in welcher Weise die erforderliche politische Abstinenzerklärung erfolgen würde: Auch hier stand also die Frage der „Ehre" im Mittelpunkt. Zunächst erklärte er gegenüber seinen Würzburger Kollegen in spe in privaten Briefen, dass es Zeiten gebe, „wo es für jeden ehrlichen Mann gilt, seine politische Meinung offen zu vertreten, u. in einem solchen Falle kann ich natürlich nie zu einer feigen Rolle mich verdammen. So lagen die Verhältnisse im vorigen Jahr." Allerdings werde er sich in fremden Verhältnissen 154
nicht in politische Angelegenheiten hineindrängen, die seine wissenschaftliche Tätigkeit behindern würden.27 Vor dem Hintergrund einer starken Agitation wurde er jedoch zu weitergehenderen Erklärungen genötigt. Der bayerische Kultusminister stand seinerseits unter starkem Druck konservativ-katholischer Kreise, war ihm doch beispielsweise in der Bayerischen Postzeitung angedroht worden, dass er im Falle der Berufung Virchows eventuell des Hochverrats bezichtigt werden würde.28 Schließlich unterzeichnete Virchow in einem Brief an die Würzburger Universität die vorgegebene Formel, wonach er „die Absicht gefasst habe, mir bei Ihnen eine gesicherte wissenschaftliche Stellung und nicht einen Tummelplatz für radicale Tendenzen zu erwerben."29 Dabei löste das Erscheinen eines Artikels im dritten Band seines Archivs, in dem sich Virchow mit der Kritik an seinem im Sommer 1848 erschienenen Bericht über die oberschlesische Typhus-Epidemie auseinander setzte, unter seinen Würzburger Promotoren Entsetzen aus: Dort hielt er ausdrücklich an seinen damals geäußerten politischen Zielen fest, auch wenn er deren Realisierung nun zur Angelegenheit einer noch unbestimmten Zukunft erklärte.30 Dies lenkte reichlich Wasser auf die Mühlen seiner bayerischen Kritiker, so dass die Angelegenheit im letzten Moment doch noch verloren schien. 1 Dennoch wurde im August schließlich die Ernennung förmlich angekündigt. Mehr noch: 1852 sollte die bayerische Regierung Virchow mit einer ähnlichen Untersuchung über die Notlage im Spessart beauftragen. Rinecker berichtete Virchow über die Reaktionen an der Universität Würzburg auf dessen bevorstehende Ernennung zum ordentlichen Professor für pathologische Anatomie: „Es gab nicht blos süße, sondern auch saure Gesichter, besonders aber viele süßsaure!" Dass die politischen Bedenken zunächst weiterbestanden, zeigte sich auch darin, dass Virchow aufgefordert wurde, seinem Einbürgerungsgesuch an den bayerischen König, das aufgrund seiner preußischen Staatsbürgerschaft erforderlich war, nochmals eine Loyalitätserklärung beizulegen. Sein neuer Kollege Rinecker versuchte ihn aber zu beruhigen: „Daß wir, Kiwisch, Koelliker und ich, keinen Anstoß an Ihren demokratischen Gesinnungen nehmen, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu versichern; aber daß wir Sie nicht dieser wegen gerufen haben, ist gleichfalls wahr und wir geben uns wirklich der Hoffnung hin, es sei Ihr Wunsch, die politische Carriere zu verlassen, ernstlich gemeint. N e h m e n Sie uns nur nicht für politische Idioten; war ich doch selbst früher ein halber Demokrat und bin 1831, kaum 2 0 Jahre alt, meinen Eltern nach Polen durchgebrannt. So wird denn auch in dieser Beziehung eine Verständigung möglich sein."
Die für Virchows wissenschaftliche Karriere entscheidenden Konflikte in Berlin und Würzburg bzw. München fielen somit nicht nur in dieselbe Zeit, sondern wiesen eine ganze Reihe struktureller Gemeinsamkeiten auf: In bei155
den Fällen entzündete sich der Konflikt an seiner politischen Haltung und Tätigkeit während der Revolution. Beide Male fanden sich jedoch starke Kräfte innerhalb der Universität bzw. innerhalb der Bürokratie, denen daran gelegen war, ihn zu halten bzw. zu gewinnen. Ausschlaggebend dafür war jeweils das Interesse an den von ihm erwarteten wissenschaftlichen Leistungen, welche die eigene Wissenschaftslandschaft in der nationalen und internationalen Konkurrenz um Studenten stärken sollten. Dafür waren sowohl die preußische als auch die bayerische Kultusbürokratie selbst vor dem Hintergrund der anrollenden gegenrevolutionären Maßnahmen bereit, eine Trennung von Wissenschaft und Politik vorzunehmen, und das hieß zugleich, nicht den Verzicht auf eine bestimmte politische Einstellung zu fordern, sondern lediglich eine loyale Haltung. Beide standen jedoch unter starkem Druck einer politisierten Teilöffentlichkeit, die ihr Sprachrohr in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung sowie in der Augsburger Postzeitung fand. Somit hatte sich im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit eine Dialektik der insbesondere im Vormärz und während der Revolution stattgefundenen Fundamentalpolitisierung ausgewirkt: Neben einer liberalen politischen Öffentlichkeit, für die auch Virchow gekämpft hatte, war nun auch eine konservative Öffentlichkeit entstanden, deren Opfer er nun beinahe geworden wäre. In Schwierigkeiten gerieten aber auch die von den Kultusbürokratien getragenen Anstrengungen, die Wettbewerbsposition ihrer eigenen Universitäten zu stärken. Hinter dem Ringen Virchows mit dem preußischen bzw. bayerischen Kultusministerium um Loyalitätserklärungen und deren Formulierung steckte damit der Versuch, gegenüber einer zunehmend einflussreicheren öffentlichen Meinung das .Gesicht' zu wahren, während sich alle Parteien über ihre zentralen wissenschaftspolitischen Interessen im Grunde einig waren. Virchow begann im Wintersemester 1849 mit seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit in Würzburg, und in den sieben Jahren, die er dort blieb, enttäuschte er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Sie zählen nach allgemeiner Auffassung zu den produktivsten seiner Tätigkeit als Pathologe, und zugleich trat er politisch nicht in Erscheinung. Dabei arrangierte er sich zunehmend mit den Würzburger Verhältnissen, die ihm vor allem in wissenschaftlicher Hinsicht attraktiv erschienen. Dies zeigt auch seine Ablehnung eines Ende 1852 an ihn ergangenen Rufs nach Zürich, wo ihm unter sehr günstigen Bedingungen angeboten wurde, die dortige Klinik zu übernehmen. Virchow räumte aber nunmehr den in Würzburg existierenden wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten Priorität ein, anstatt dem Beispiel zahlreicher deutscher Wissenschaftler zu folgen, für die Zürich nach der Revolution einen Zufluchtsort gebildet hatte. Alfred Escher, der Direktor des Erziehungsrats und Führer der liberalen Partei in Zürich, betrieb in den fünfziger Jahren intensiv die Berufung politisch verfolgter deutscher Gelehrter, um damit das Niveau der dortigen Universität zu heben und gleichzeitig seine liberal-de156
mokratisch ausgerichtete Bildungspolitik personell zu untermauern. 34 Virchow befand nun jedoch, es müsse „doch eine Zeit geben, wo man sich in seiner Thätigkeit auf Ziele beschränkt, die eine sichere Aussicht auf Erfolg darbieten." 35 Dieselbe Situation stellte sich erneut 1855 ein, als die Züricher Universität abermals an ihn herantrat, diesmal zunächst mit dem Angebot einer Berufung auf den Lehrstuhl für Anatomie und Physiologie, den zuvor bereits sein Kollege Kölliker ausgeschlagen hatte. In seiner Absage schrieb Virchow: „Es gab eine Zeit, wo ich dieser Einladung mit Vergnügen gefolgt wäre, allein diese liegt schon vor meiner Übersiedelung nach Würzburg." 3 6 Damit brachte er deutlich zum Ausdruck, dass er sich im Grunde mit den Verhältnissen arrangiert hatte und auch seine früheren Emigrationspläne an Dringlichkeit verloren hatten. N o c h deutlicher wurde dies, nachdem Zürich als Reaktion auf die Ablehnung das Angebot erhöhte und ihm nunmehr eine neu zu schaffende Stelle als Professor für pathologische Anatomie und Physiologie sowie eine eigene Krankenabteilung anbot. Das Gehaltsangebot lag mit 3.500 Schweizer Franken über seinem Würzburger Einkommen, das sich bis zum Ende seiner dortigen Tätigkeit immerhin von anfänglich 1.200 auf 2.000 Gulden37 steigerte - die spätere Zulage als Belohnung für die Ablehnung des Züricher Rufs miteingerechnet. Allerdings hätte das Honorar, das einen wesentlichen Bestandteil des Einkommens ausmachte, aufgrund der kleineren Hörerzahl beträchtlich unter seinem bisherigen Niveau gelegen. Schließlich entschied sich Virchow auch hier wieder für das Bleiben und damit für den größeren Zuhörerkreis - d. h. für die höheren Einnahmen und den weiteren wissenschaftlichen Wirkungskreis - und gegen die greifbare Möglichkeit, der von ihm erfahrenen politischen und konfessionellen Diskriminierung zu entkommen. Die zunehmend besseren Arbeitsmöglichkeiten in Würzburg, wozu seit 1853 ein eigenes pathologisches Institut gehörte, hatten schließlich dazu geführt, dass Virchow nach und nach anfing, sich dort „behaglich zu fühlen", als er Anfang 1856 durch seinen Verleger Georg Reimer erfuhr, dass die Berliner medizinische Fakultät seine Rückberufung beantragen wollte. 3 Diese Entscheidung, die auf die Initiative Johannes Müllers zurückging, 40 war gefallen, nachdem mit dem Tod des außerordentlichen Professors und Prosektors Heinrich Meckel von Hembsbach eine Stelle frei geworden war. Ausschlaggebend war das dringende Bedürfnis der medizinischen Fakultät, bei der Wiederbesetzung den Trend zur Einrichtung von ordentlichen Lehrstühlen für pathologische Anatomie nicht zu verschlafen, da die Studentenströme nun vor allem nach Würzburg und Wien gingen,41 die als erste entsprechende Ordinariate eingerichtet hatten. Damit versuchte Berlin, den Rang als eine der im wissenschaftlichen Innovations- und Institutionalisierungsprozess führenden Universitäten zu halten. Der eigentliche Gründungsboom der pathologischen Anatomie fand demgegenüber erst in den sechziger Jahren statt, 157
an deren Ende sie dann an fast allen deutschen Universitäten mit Lehrstühlen und Instituten vertreten war. Mit der Einrichtung eines Ordinariats in Göttingen 1876 als letzter deutscher Universität war dieser Etablierungsprozess und damit auch die „Diffusionsphase" schließlich abgeschlossen. 42 Das Angebot an Virchow war um so erstaunlicher, als die fünfziger Jahre einen Tiefpunkt der preußischen Wissenschaftspolitik bildeten: Vertreter der Physik, Physiologie und Chemie versuchten allesamt vergeblich, das Kultusministerium von der Notwendigkeit der Errichtung neuer Institute zu überzeugen. Der ausufernde Militäretat vernichtete jedoch alle finanziellen Spielräume für eine großzügigere Wissenschaftspolitik, wie sie in manchen süddeutschen Staaten wie Baden und Bayern zu dieser Zeit betrieben wurde. Überdies legte der konservative Kultusminister Karl Otto von Raumer eine notorische Abneigung gegen liberale Professoren und ihre Forderungen an den Tag. 43 Gegen Virchow sprachen aber auch die Besorgnisse der ChariteDirektion, die künftige Auseinandersetzungen mit diesem voraussah. Wie sein Mitbewerber Theodor Billroth einem Freund schrieb, war bei „den complicirten Verhältnissen" dieser Berufungsangelegenheit „Alles Schweinerei (...) V o n einer wissenschaftlichen Rücksicht ist kaum die Rede; Alles ist Cabale, Partei-Interesse, Principien-Reiterei einzelner Parteien; und im Ganzen weiß man nicht, was man will. Charite-Direction und Fakultät, und Ministerium, jeder will etwas Anderes, und jede Partei sucht jetzt die andere durch Schweigen zu ermüden (...)." 44
Virchow war zunächst selbst skeptisch, ob sich das Kultusministerium auf seine Berufung einlassen würde, wollte aber die von ihm hier gesehene einmalige Chance nicht leichtfertig vorüberziehen lassen. Einen Ruf nach Berlin lehnte man im 19. Jahrhundert gewöhnlich nicht ab.45 Uber seinen Schwiegervater Carl Mayer versuchte Virchow, alle vorhandenen Beziehungen spielen zu lassen, um seine von der Fakultät noch in Anschlag gebrachten Konkurrenten aus dem Rennen zu werfen. Darunter befand sich insbesondere Robert Remak, der erste jüdische Privatdozent in Preußen, den er bereits 1846 bei der Besetzung der Prosektur der Charite ausgestochen hatte.46 Dabei dachte Virchow vor allem auch an seinen alten Vorgesetzten an der Pepiniere, Heinrich Gottfried Grimm, der seit 1851 als Generalstabsarzt das preußische Militär-Medizinalwesen leitete. Als einen Problemfall betrachtete er dagegen Alexander von Humboldt, den er auf der Seite Remaks wähnte: „Da er nun doch einmal zu den Juden hält, so müsste man ihm mit Juden beikommen." Dazu schlug Virchow vor, einen Kontakt zur Familie Mendelssohn zu suchen, die mit Humboldt in engem freundschaftlichen Verhältnis stand.47 Die alten Kontakte zur preußischen Militärmedizin mögen die Zustimmung des Kultusministeriums zu seiner Berufung, die Virchow selbst anfänglich unsicher erschien, erheblich erleichtert haben.48 Ausschlaggebend war aber wohl doch das fachliche Interesse, hinter dem die politischen Be158
denken schließlich zurücktraten. Raumer schloss sich in seiner Empfehlung an den preußischen König, der Berufung Virchows zuzustimmen, den Argumenten der medizinischen Fakultät an, wonach die pathologische Anatomie im letzten Jahrzehnt eine Schlüsselstellung beim Aufschwung der Medizin zur exakten Naturwissenschaft und für die Konkurrenz um Studentenzahlen erlangt habe. Zugleich sei keine Person fachlich und pädagogisch besser für diese Position geeignet als Virchow. Die Bedenken wegen dessen früherer politischer Betätigung beschwichtigte er damit, dieser habe in seiner Würzburger Zeit „ausschließlich seiner Wissenschaft gelebt, ohne mit politischen Angelegenheiten sich zu befassen". Einen willkommenen Beweis für Virchows mittlerweile erworbene politische Loyalität bildete in den Augen Raumers, dass der bayerische König den Pathologen im Dezember 1855 mit dem Ritterkreuz I. Klasse des Verdienstordens vom Heiligen Michael dekoriert hatte. So dürfe erwartet werden, „dass er auch in seinem Vaterlande Preußen sich von Politik und oppositionellen Bestrebungen fern halten J
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werde. Dass das Kultusministerium, in dem Virchows alter Gegner aus Revolutionstagen Hermann Lehnert mittlerweile als Direktor der UnterrichtsAbteilung amtierte und der Konservative Raumer das Ruder führte, Virchow „ohne Bedingungen politischer Art" zuließ, erregte in Berlin großes Aufsehen.50 Immerhin hatten es die preußischen Behörden noch 1855 abgelehnt, das Gehalt des Berliner Juristen Rudolf Gneist wieder aufzustocken, der wegen seines notorischen Liberalismus seit einiger Zeit nur die Hälfte seiner Professorenbezüge erhielt. 51 Virchow fand es deshalb „ergötzlich, dass die Herren, die 1849 keinen Finger rührten, jetzt so viel Courage haben, wenn ihnen die Studenten vor der Nase fortziehen."' 2 Damit bezeichnete er zugleich das zentrale Motiv dieser Entscheidung: Die Berufung Virchows markierte keinen grundsätzlichen Kurswechsel der preußischen Wissenschaftspolitik, sondern knüpfte eher an ein älteres Muster an, wonach Berufungen unter dem Gesichtspunkt der Anwerbung von Studenten erfolgten. Das Interesse an der gesellschaftlich mobilisierenden Dynamik neuer wissenschaftlicher Disziplinen spielte dagegen allenfalls eine geringe Rolle. Da auch Gneist erheblichen Zuspruch der Studenten genoss und damit den „Marktfaktor" für sich reklamieren konnte, lässt die unterschiedliche Handhabung in diesen beiden Fällen darauf schließen, dass die Trennung von Wissenschaft und Politik den preußischen Behörden bei Juristen schwerer fiel als bei Medizinern. Alles in allem überwiegt also der Eindruck einer erstaunlichen Kontinuität der preußischen Wissenschaftspolitik über die Zäsur von 1848/49 hinweg, die auch durch die personelle Kontinuität unterhalb der Ministerebene gefördert wurde. Die Besorgnisse der medizinischen Fakultät und des Kultusministeriums um den studentischen Zuspruch waren nicht aus der Luft gegriffen: Berlin lag in der rollenden Institutionalisierungswelle der pathologischen Anatomie 159
und damit im Wettbewerb zwischen den Universitäten mittlerweile zurück, und tatsächlich konnte Würzburg seit Virchows Ankunft eine stetige Zunahme der Studentenzahlen verbuchen. Waren in Würzburg im letzten Studienjahr vor seiner Ankunft gerade einmal 84 Medizinstudenten eingeschrieben gewesen, so stieg die Zahl schon in seinem ersten Semester auf 132 und bis zu seinem letzten Semester auf 338 an. Wie Ernst Haeckel 1853 geschildert hatte, kamen die Studenten nach Würzburg, „um Virchow (der wirklich in seiner Art ganz einzig und isoliert dasteht) und höchstens Kölliker zu hören."53 Sein Weggang dürfte wesentlich dafür verantwortlich gewesen sein, dass anschließend die Zahl der Würzburger Medizinstudenten sofort wieder beträchtlich sank, wenn auch nicht mehr auf das Ausgangsniveau, um erst im Kaiserreich wieder deutlich zu steigen.54 Dagegen hatte sich die Zahl der Berliner Medizinstudenten nach dem Tiefstand von 194 im Revolutions]ahr zunächst wieder bis auf 316 im Jahr 1853 erholt, war aber bis 1856 wieder auf 254 gefallen.55 Gemessen am deutschen Gesamttrend blieb damit Berlin wie die preußischen Universitäten insgesamt hinter der Entwicklung zurück, während Würzburg die insgesamt leichte Zunahme der Medizinstudenten weit übertraf.56 Aufgrund dieser sorgsam registrierten Trends spielten die preußische und die bayerische Seite während der Berufungsverhandlungen gleichermaßen mit hohen Einsätzen. Das Berliner Kultusministerium sah allerdings zunächst Schwierigkeiten, die Zustimmung des Finanzministers für das von Virchow geforderte Gehalt von 2.000 Talern zu erhalten. Es stimmte aber schließlich zu, nachdem Virchow erklärt hatte, dass er - mit Ausnahme der Kolleggelder - auf alle Nebeneinnahmen, insbesondere die aus einer eigenen ärztlichen Praxis und eines Examinators in der ärztlichen Staatsprüfung - verzichten wolle, um sich ausschließlich Forschung und Lehre widmen zu können.57 Virchow hatte in den Verhandlungen überdies erreicht, dass ihm mit seiner Berufung zum ordentlichen Professor der pathologischen Anatomie und der allgemeinen Pathologie und Therapie die Prosektur der Charite sowie die Direktion einer Krankenabteilung in der Charite - die Gefangenenabteilung - übertragen wurde, womit er sich die wichtigsten Ressourcen für seine Forschungen zu sichern suchte - Kranke und Leichen. Überdies wurde ihm zugestanden, dass nach Würzburger Vorbild das Leichenhaus der Charite in ein eigenes pathologisches Institut umgewandelt wurde, in dem sich Arbeits-, Unterrichts-, Sammlungs- und sonstige Räume befanden. Hinzu kamen ein von seinem Assistenten geleitetes chemisches Laboratorium, ein großer Mikroskopiersaal, verschiedene Räume für Sektionen sowie Ställe für Hunde, Kaninchen und sonstige Tiere.59 Die Bau- und Anschaffungskosten für das auf den Fundamenten des alten Leichenhauses eilig aufgezogene Institut beliefen sich auf 14.000 Taler, wozu ein jährlicher Etat von 600 Talern kam.60 Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die Konkurrenz der Universitäten der deutschen Einzelstaaten um Studenten gerade in der Zeit des 160
Vormärz und den Jahren vor der Reichsgründung eine wesentliche Rolle für Virchows Karriere spielte. Seine Berufung erfüllte dabei die Erwartungen, denn nach anfänglichen Schwierigkeiten, die mit der zunächst ungewohnten Richtung seiner Forschungen zusammenhingen, 61 setzte bald die erhoffte Umorientierung der Studentenströme von Würzburg und anderswo nach Berlin ein.62 Der preußische Staat entwickelte nach der Jahrhundertmitte im Gegensatz zu anderen deutschen Staaten kein aktives Interesse an den gesamtgesellschaftlich mobilisierenden und modernisierenden Wirkungen der Naturwissenschaften. Solche Hoffnungen existierten dagegen vor allem unter demokratischen und liberalen Naturwissenschaftlern wie Virchow und anderen, die damit zugleich Erwartungen auf eine Reform der politischen Verhältnisse verbanden. Davon wird aber in einem späteren Kapitel die Rede sein. Im Folgenden geht es dagegen zunächst um die Rolle Virchows für die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie.
b) Die Institutionalisierung der pathologischen Anatomie Disziplinares Programm und
Disziplinkonstruktion
Virchow bildet ein wichtiges Beispiel für das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschende „Ringen um die Anerkennung spezifischer Disziplinen". Dabei ging es nicht allein darum, überhaupt einen Lehrstuhl zu erhalten, sondern einen spezifischen Lehrstuhl für die jeweilige Disziplin zu schaffen.63 Virchows Ziel war die Etablierung der pathologischen Anatomie als Naturwissenschaft sowie als zentrale medizinische Teildisziplin. Als Disziplinkonstrukteur agierte er auf verschiedenen Ebenen: im direkten Kontakt mit der Bürokratie, durch Einwirkung auf Fachkollegen sowie auf die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit. 64 Die pathologische Anatomie hatte mit der Sammlung pathologisch-anatomischer Befunde im Zeitalter des Barock begonnen, wobei zunächst das spielerische Interesse an Monstrositäten im Vordergrund stand. 6 ' Durch Giovanni Battista Morgagni (1682-1771) wurde dann der „anatomische Gedanke" als Methode der empirisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsforschung festgeschrieben. Um 1800 wurde die pathologische Anatomie schließlich in die Tätigkeit der Anatomen eingegliedert und Prosekturen an den großen Krankenhäusern gegründet, wobei den Pariser Hospitälern und Sektionsräumen der napoleonischen und postnapoleonischen Ära eine Schlüsselrolle zukam. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die pathologische Anatomie schließlich zur Grundlage der klinischen Diagnostik und Nosologie. Maßgeblich daran beteiligt war Carl von Rokitansky (1804— 1878), der 1844 das erste Ordinariat für pathologische Anatomie an einer deutschsprachigen Universität erlangte. Dies war, kurz umrissen, die Aus161
gangssituation, in der Virchow sich um eine Karriere als pathologischer Anatom bemühte. Bereits Ende 1846 präsentierte er ein ausführliches disziplinares Programm. Als Ergebnis einer im Auftrag des preußischen Kultusministeriums unternommenen Untersuchungsreise nach Prag und Wien, wo er die dortigen medizinischen Forschungseinrichtungen inspiziert hatte, verfasste er einen ausführlichen Bericht über die künftige Gestaltung der pathologischen Anatomie in Deutschland.66 „Es scheint mir daher ebenso richtig, als zeitgemäß zu sein," schrieb Virchow dort, „eine Wissenschaft zu begründen, die, gleich der universellen Anatomie und Physiologie, als pathologische Anatomie und Physiologie an die Stelle der allgemeinen Pathologie trete"67. Nur aus der Vereinigung dieser Wissenschaften mit einer rationellen Therapie könne „eine wirklich wissenschaftliche Medicin erwachsen", und daher müsse „das Pathologische Institut den einen, die Klinik den anderen Brennpunkt des medicinischen Unterrichts und der medicinischen Forschung darstellen"68. Zugleich benannte Virchow die dafür erforderlichen Ressourcen: Zur Erfüllung seiner Aufgaben benötige der pathologische Anatom Leichen, Präparate und Zeichnungen69, wobei er auf Vorbilder in Russland, England und Osterreich verwies. So forderte er eine pathologisch-anatomische Sammlung sowie auch die materiellen Voraussetzungen für Experimente: „Thiere, Instrumente, Räume - kurz ein pathologisch-physiologisches Institut." 7 Virchow unterstrich die Notwendigkeit eines öffentliches Instituts, denn Frankreich sei diesen Weg schon vorausgegangen, in Wien sei man im Begriff, eine große Anstalt zu errichten, während es in Deutschland „ausser dem Göttinger Institut, welches leider zu wenig benutzt" werde, noch nichts derartiges gebe. Als Überzeugungsstrategie diente ihm somit vor allem der Wink mit der nationalen wie internationalen Konkurrenz. Virchow war zunächst zuversichtlich, dass das Resultat seines Berichts „die Begründung eines pathologischen Institutes, wenn auch erst in kleinen Umrissen, sein wird" 71 . Jedoch fehlten in Preußen im Vormärz noch die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses disziplinären Programms. Es blieb bei der Ernennung Virchows zum interimistischen Prosektor der Charite im folgenden Jahr, und die geschilderten Konflikte mit der Kultusbürokratie während der Revolution blockierten seinen Vorstoß dann vorerst. Mit seiner 1855 erstmals in den Grundzügen formulierten Zellularpathologie konnte er aber den vom ihm erhobenen Anspruch der pathologischen Anatomie, als Grundlage der medizinischen Forschung zu dienen, nachhaltig stärken. Bekanntlich baute Virchow bei der Formulierung der Grundgedanken seiner Zellularpathologie auf zahlreichen Vorarbeiten auf, die er vervollständigte, systematisierte und popularisierte. 72 Bereits im 17. Jahrhundert hatten etwa der Engländer Robert Hooke und die Holländer Antony van Leeuwenhoeck und Jan Swammerdam unter dem Mikroskop Pflanzenzellen gesehen. 162
Im 19. Jahrhundert ermöglichte die vergrößerte Leistungsfähigkeit der Mikroskope neue Entdeckungen: Der Zoologe Carl Ernst von Baer fand bei seinen Studien über die Embryonalentwicklung der Wirbeltiere 1827 das Säugetierei, und 1831 gelang es dem englischen Botaniker Robert Brown den Zellkern zu identifizieren. Aber erst der Botaniker Matthias Jakob Schleiden fügte 1838 aus diesen Beobachtungen eine Theorie über die biologische Funktion des Zellkerns zusammen. Er behauptete, dass der Zellkern eine zentrale Rolle beim Entstehungsprozess neuer Zellen spiele, wodurch die Zelle zum Ausgangspunkt der empirisch-naturwissenschaftlichen Botanik wurde. 73 Schleidens Freund, der Zoologe Theodor Schwann, übertrug diese Ergebnisse alsbald auf die tierischen Zellen und führte die Funktionen der Gewebe auf Zelltätigkeit zurück, womit er den Ausgangspunkt für eine Physiologie der Gewebe formulierte. 74 Virchow begann Ende der 1840er Jahre mit seinen Arbeiten auf diesem Gebiet und übertrug die neuen Ansätze der Zellenlehre auf den Menschen. In seinem Aufsatz über die Cellular-Pathologie von 1855 begründete er ein neues Krankheitsverständnis, indem er sowohl das gesunde als auch das kranke Leben als Folge normaler bzw. anormaler Zellenfunktionen erklärte.75 Virchows Leistung bei der Formulierung seiner Zellularpathologie besteht dabei nicht zuletzt in der Synthese und prägnanten Formulierung von Ideen, die eine Anzahl von Forschern vor ihm oder zur selben Zeit entwickelten. Insbesondere gegenüber seinem schärfsten Konkurrenten um das Berliner Ordinariat Robert Remak, der wichtige Vorarbeiten auf diesem Gebiet geleistet hatte, setzte Virchow seine Ellenbogen sehr hartnäckig ein, und so erkannte er dessen Leistungen eher widerwillig erst 1857 an, nachdem er diese Stelle bereits innehatte. 76 Virchow nutzte seine Position in Berlin, um die pathologische Anatomie als ein Kernfach der Medizin zu verankern. Ein bedeutsamer Schritt war die 1861 erfolgte Ablösung des 1825 eingeführten Tentamen philosophicum durch ein Tentamen physicum. Statt wie bisher Logik, Psychologie, Physik, Chemie, Botanik, Zoologie und Mineralogie wurden nunmehr Anatomie, Physiologie, Chemie, Physik und beschreibende Naturwissenschaften geprüft. 77 Damit wurde zugleich das alte Bildungsideal eines Studium generale zugunsten eines naturwissenschaftlich orientierten medizinischen Spezialstudiums aufgegeben. Diese Änderung ging wesentlich auf gemeinsame Anstrengungen Virchows mit Emil du Bois-Reymond und Bernhard Langenbeck7 zurück, die damit die Stellung ihrer Disziplinen in der Prüfungsordnung an zentraler Stelle verankerten. Auf diese Weise verschufen sie der von ihnen später selbstbewusst geforderten Aufwertung der Naturwissenschaft im universitären Bildungskonzept 7 in einem wichtigen Teilbereich Geltung. Damit hatte ein Prozess, der mit der Einführung experimenteller Untersuchungsmethoden in die medizinische Ausbildung Mitte der vierziger Jahre begonnen hatte,80 seinen vorläufigen Abschluss gefunden. In seiner 1893 163
gehaltenen Rektoratsrede feierte Virchow die damit verbundene Tendenz als den Ubergang vom philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter, wobei er seine Zellularpathologie als einen wichtigen Motor dieser Entwicklung hervorhob. 81 Ein Gradmesser für den Stand des von Virchow vorangetriebenen disziplinaren Prozesses bedeutete die Auseinandersetzung um die Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften. Ein erster Versuch Emil du Bois-Reymonds, der den zweiten der drei aus der Teilung von Johannes Müllers Ordinariat entstandenen Lehrstuhl erhalten hatte, Virchow zum Akademiemitglied wählen zu lassen, scheiterte 1864 unter anderem noch daran, dass die Akademiemitglieder die pathologische Anatomie noch nicht als selbständige Disziplin anerkannten. Ein zweiter wiederum von du Bois-Reymond vorgebrachter und unterstützter Vorschlag führte schließlich 1873 zur Wahl Virchows, gemeinsam mit Werner von Siemens. In seiner Antrittsrede bezog Virchow die Wahl gleichermaßen auf die Würdigung seiner Arbeit wie des von ihm vertretenen Wissenschaftszweigs. N o c h einmal begründete er ausdrücklich, dass gerade die Pathologie den Zusammenhang der Medizin mit den Naturwissenschaften gefördert habe.83 Die offensive Strategie der disziplinaren Absicherung der pathologischen Anatomie, wie sie vor allem mit Hilfe der Prüfungsordnung erfolgte, ergänzte Virchow durch eine Defensivstrategie. So teilte er die Haltung der Berliner medizinischen Fakultät, die sich gegenüber der Einrichtung neuer ordentlicher Professuren grundsätzlich zurückhaltend zeigte. Seit der Berufung Virchows 1856 zählte die medizinische Fakultät zwölf Ordinarien. Die bereits 1846/47 vorhandene Zahl von 16 ordentlichen Professoren wurde aber erst im Jahre 1882/83 wieder erreicht. Im Zeitraum 1856/57 bis 1882/83 vermehrte sich allerdings die Zahl der Extraordinarien von sieben auf 25 und die der Privatdozenten von 19 auf 47. 4 An diesen Zahlen wird deutlich, wie sehr die ordentlichen Professoren darauf achteten, die Institutionalisierung neuer Disziplinen zu bremsen. A m Beispiel der Berliner medizinischen Fakultät lassen sich zwei unterschiedliche Typen der Vermehrung der Lehrstühle unterscheiden: Einmal durch Replizierung etablierter Disziplinen, zum anderen als Kulminationspunkt der Anerkennung einer neuen Disziplin. Während die Fakultät eindeutig den ersten Typ favorisierte, förderte der Staat den zweiten Typ der Begründung neuer Ordinariate. 3 Mehrfach übernahm deshalb das Kultusministerium die Rolle des Schrittmachers, wenn es darum ging, eine neue Disziplin durch ein Ordinariat zu etablieren. Dies zeigt die heftige Gegenwehr der Berliner medizinischen Fakultät gegen das Vorhaben des Kultusministers Bethmann Hollweg bzw. seines Nachfolgers Mühler, ein Ordinariat für die Geschichte der Medizin einzurichten und dieses mit August Hirsch zu besetzen. Virchow, der sich dabei besonders hervortat, begründete seine Ablehnung unter anderem damit, dass ihm „ein Bedürfnis unter den Studirenden (...) nicht bekannt geworden" sei. Jedoch 164
stärkte er Kultusminister Mühler, der die Berufung Hirschs 1863 gegen die Fakultät durchsetzte, insofern den Rücken, als er den Kandidaten gegen den von seinen Kollegen erhobenen Vorwurf mangelnder fachlicher Qualifikation ausdrücklich in Schutz nahm.86 Virchow ging es bei dieser Gelegenheit somit nicht darum, die Bedeutung der Medizingeschichte zu bestreiten. Vielmehr widerstrebte ihm die Ausdifferenzierung neuer „Spezialitäten", sofern er der Auffassung war, dass diese innerhalb bestehender Fachgebiete, insbesondere seines eigenen, gut aufgehoben seien. So trug er dazu bei, die Medizingeschichte aus den Universitäten zu verdrängen, was sich seit 1880 in einer rapiden Verringerung des Angebots entsprechender Vorlesungen an deutschen Universitäten bemerkbar machte. 8 Aber auch als das Preußische Abgeordnetenhaus 1884 über die Einrichtung eines Lehrstuhls für medizinische Chemie und Hygiene in Göttingen beriet, opponierte Virchow. Preußen wollte dabei an Bayern und Sachsen anschließen, wo die Hygiene bereits 1865 bzw. 1878 ordinariabel geworden war.89 Virchow erklärte im Namen der medizinischen Fakultäten, dass „sowohl die Hygiene als die gerichtliche Medizin angewendete Wissenschaften (seien), welche weder selbstständige Methoden noch selbstständige Objekte in der Untersuchung haben." Daher sei es Aufgabe der wissenschaftlichen Institute, „welche wirklich wissenschaftlichen Disziplinen dienen", auch die Studenten der Hygiene zu unterweisen. Zwar stimmte er in diesem speziellen Falle der neuen Einrichtung in Göttingen zu, wollte darin aber keinen Präzedenzfall für andere preußische Universitäten sehen: „im Gegentheil, ich bin überzeugt, daß, wenn man an den anderen Universitäten die verschiedenen wissenschaftlichen Institute in gebührender Weise durchbildet, das Bedürfnis für hygienische Institute ein sehr mäßiges sein wird." 90 A m bekanntesten ist freilich sein letztlich vergeblicher Kampf gegen die Institutionalisierung der seit den 1880er Jahren steil aufstrebenden Bakteriologie. Ein wichtiges Instrument zur Verteidigung akademischen Terrains bildete die Platzierung seiner Schüler. Lange Zeit, so erinnerte sich einer von ihnen später, sei Virchow „Beherrscher und Besetzer aller Lehrstühle der Medizin" 1 gewesen. Dies war zwar sicherlich übertrieben, doch vor allem unter Pathologen fand sich eine erhebliche Zahl seiner ehemaligen Schüler.92 So schätzte Ministerialdirektor Althoff 1898 im Preußischen Abgeordnetenhaus, dass sich unter den seit 1852 etwa 1.000 oder 1.200 zu Extraordinarien und Ordinarien beförderten Privatdozenten etwa 50 Schüler Virchows befänden. 93 Allerdings nahm dessen Attraktivität für begabte Schüler in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens ab. Dies lag vor allem daran, dass sein Ansatz sowohl durch die Bakteriologie als auch durch neovitalistische Ansätze unter Druck geraten war. Während Virchow am Ende des Jahrhunderts noch den Erfolg seines disziplinären Programms pries,94 hatten sich um ihn herum zahlreiche Mediziner lohnenderen Forschungsprogrammen zugewandt. So war es ihm schließlich nicht gelungen, den Anspruch der pathologischen 165
Anatomie, die Basis aller medizinischen Forschung zu bilden, dauerhaft durchzusetzen. Immerhin aber hatte er nachhaltig zu ihrer festen disziplinaren Identität und auch zu ihrer Institutionalisierung beigetragen, und dazu gehörte auch die Entwicklung einer spezifischen professionellen Kultur. Eine zentrale Rolle dafür spielte sein Pathologisches Institut. Das Berliner Pathologische Institut und die „institutionelle Revolution " Bei der 1856 erfolgten Gründung des Pathologischen Instituts in Berlin, das Virchows zuvor existierendem Institut in Würzburg nachempfunden war, hatte vor allem der Wettbewerb um den innerdeutschen Studentenstrom den Ausschlag gegeben, womit ein älteres Begründungsmuster zum Tragen gekommen war. Im April 1871 beantragte Virchow, das 1856 hastig hochgezogene und bereits wieder baufällige Pathologische Institut zu erweitern und zu vervollständigen, „damit dasselbe den seit den letzten 10 Jahren beträchtlich gesteigerten Anforderungen des Unterrichts und der Wissenschaft vollständig genügen und auch in seiner äußeren Erscheinung als eine würdige Zierde der Hauptstadt sich darstellen könne." Zugleich ersuchte er die preußische Regierung, „nunmehr auch diejenige weitere Ausstattung hinzuzufügen, welche uns die Möglichkeit bietet, die Concurrenz zu bestehen, welche das Ausland durch Gründung ähnlicher Institute, wie das unsrige als das erste sie mit Notwendigkeit gezeigt hat, in ausgedehntem Maße eröffnet hat." 95 Neben der Anpassung des Instituts an die Bedürfnisse der bereits vorhandenen Studentenzahlen rückte er somit die Frage der internationalen Konkurrenz, vor allem mit Frankreich, in den Vordergrund. Virchow reihte sich damit in die prominente Phalanx jener Naturwissenschaftler ein, die nach der Reichsgründung öffentlich auf die zentrale Bedeutung der Naturwissenschaft für die innere Reichsgründung wie für die internationale Stellung Deutschlands in der Welt pochten und dabei auf deren praktischen Beitrag in Krieg und Frieden hinwiesen.96 Die französischen Reparationszahlungen mögen das ihre dazu beigetragen haben, dass im Gegensatz zu 1856 keine Einwendungen des preußischen Finanzministers das Projekt störten und der auf 90.000 Taler geschätzte Erwieterungsbau des Pathologischen Instituts bereits 1873 fertiggestellt werden konnte. 97 Diese Ausbaumaßnahme, die so vielleicht auch als ein Stück Kriegsrendite betrachtet werden kann, bewegte sich in einer Welle von Institutsgründungen zwischen den späten 1860er Jahren und 1880, welche die älteren im Hinblick auf die bislang gewohnten finanziellen Dimensionen bei weitem übertraf. So unterscheidet David Cahan am Beispiel der Physik die älteren Institutsgründungen des 19. Jahrhunderts von den Gründungen seit Mitte der 1860er Jahre, die im Zusammenhang des Bemühens erfolgt seien, diese für die Bedürfnisse einer aufsteigenden Industrienation einzuspannen. Den dramatischen Anstieg der aufgewandten Baukosten und Budgets und der
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Zahl der Institute, aber auch der dort unterrichteten Studenten und beschäftigten Assistenten brachte er auf die suggestive Formel einer „institutionellen Revolution" 98 . So vollzog die preußische Regierung, die sich mit Institutsneugründungen bislang zurückgehalten hatte, eine geradezu dramatische Wende ihrer Politik, die sich ebenso in der Breite der Gründungsprojekte, als auch in einzelnen besonders spektakulären Projekten manifestierte. Vorreiter dieser Entwicklung war das zwischen 1864 und 1869 erbaute erste chemische Universitätslaboratorium für August Wilhelm von Hofmann. 99 Bald stellten neue Planungen diesen zunächst als luxuriös empfundenen Standard in den Schatten: 1870 veranschlagte du Bois-Reymond für die von ihm geforderte Errichtung eines physiologischen Instituts Baukosten von etwa 300.000 Talern. 100 Und als die Berliner Universität 1871 Hermann von Helmholtz als Ordinarius nach Berlin berief, musste sie ihm gleichfalls ein eigenes Institut versprechen, das bei seiner Fertigstellung 1878 mehr als 1,5 Millionen Mark (entsprechend 500.000 Talern) verschlungen hatte und überdies mit einem Jahresetat von 27.000 Talern ausgestattet war. 1 1 Dieser preußische Gründungsboom kulminierte in der Amtszeit Friedrich Althoffs als Leiter der Abteilung für Höhere Bildung im Preußischen Kultusministerium zwischen 1882 und 1907, als allein 86 neue medizinische Institute, Labore und Kliniken errichtet wurden 102 und sich zugleich 1887 mit der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin der Trend zur Großforschung durchsetzte. In dieser Reihe nahm sich das Pathologische Institut mit einem Jahresetat von etwa 4.000 Talern in den 1870er Jahren 103 geradezu bescheiden aus. Hatte das Institut ursprünglich mit einem Assistenten begonnen, so war bereits 1857 ein zweiter Assistent bewilligt worden, und nachdem 1861 eine chemische Assistentenstelle begründet wurde, folgte 1874 schließlich eine dritte anatomische Stelle. In diesem Institut „schaltet(e) und waltet(e)" Virchow, wie ein Zeitungsbericht 1891 schilderte, „als ein unumschränkter, absoluter König, umgeben von seinen Getreuen - dem Stabe seiner Assistenten". Das Arbeitszimmer Virchows bezeichnete der Bericht als „Allerheiligstes" 104 , worin sich die autoritäre Position des Institutsdirektors treffend widerspiegelt. Diese geht auch aus den Berichten seiner Assistenten und Schüler deutlich hervor, die gleichermaßen vor seiner Autorität und seinem Sarkasmus zitterten. Virchows Haltung zu den genannten institutionellen Entwicklungen war ambivalent: Diese hing nicht zuletzt davon ab, ob er die Sache aus einer weitergespannten wissenschaftspolitischen Perspektive oder aus seiner engeren Institutsperspektive betrachtete. Als es um die Gründung der PhysikalischTechnischen Reichsanstalt ging, stimmte er in die mit nationalistischen Untertönen angereicherte weit verbreitete Begeisterung ein und begrüßte die Entwicklung zur Großforschung als notwendig und zeitgemäß. Jedoch hoffte er darauf, dass hieraus ein internationales Institut entstehen würde, das die 167
weltweite Durchsetzung technischer Normen unter deutscher Hegemonie erreichen könnte und damit konkurrierenden französischen Bestrebungen zuvorkäme. Wissenschaftlicher Internationalismus konnte somit auch eine Funktion nationalistischer Vormachtbestrebungen werden. In der Angelegenheit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt stand Virchow zugleich im Gegensatz zu der von liberaler Seite geäußerten Kritik an der hier entstehenden Mischform staatlicher und öffentlicher Finanzierung. 105 Kritisch verhielt sich Virchow dagegen zu Robert Kochs 1891 in Berlin fertiggestelltem Institut für Infektionskrankheiten, dessen Baukosten auf 866.000 Mark veranschlagt worden waren und dessen Jahresbudget bei 235.000 Mark lag.106 Zwar begrüßte er prinzipiell die Einrichtung eines von ihm beharrlich so genannten „bakteriologischen Institutes", sorgte sich aber zugleich um die daraus erwachsende Konkurrenz für sein eigenes Institut, zumal da ein der Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses vorgelegtes Programm des neuen Instituts, so Virchow, „von der schwindelhaften Vorstellung aus(geht), daß die ganze Pathologie in Bakteriologie aufzulösen sei." Auch die alle bisher üblichen Dimensionen sprengenden finanziellen Dimensionen dieses Instituts kritisierte er im Abgeordnetenhaus, nutzte dies aber vor allem als Maßstab für Forderungen zur Verbesserung der Situation anderer Institute.107 Tatsächlich gelang es ihm in den 1890er Jahren, noch einmal in größerem Umfang Mittel für sein Pathologisches Institut vom preußischen Staat zu erhalten. Das in den 1850er und 1860er Jahren noch schlagende Argument, zugkräftige Bedingungen für den Zustrom weiterer Studenten herstellen zu müssen, hatte sich nun allerdings nahezu in das Gegenteil verkehrt: Im Kaiserreich endete die um die Mitte des Jahrhunderts herrschende Stagnation der Studentenzahlen, und die medizinische Fakultät wurde von diesem B o o m besonders stark betroffen. Lag die Zahl der Medizinstudenten an den Universitäten des Deutschen Reichs 1870/71 noch bei 2.600, so stieg sie bis 1890 auf etwa 8.700 an, um dann wieder etwas abzusinken. 108 Auch die Berliner Universität verzeichnete eine eindrucksvolle Steigerung der Studentenzahlen, die dadurch zur ersten deutschen „Massenuniversität" wurde: Die Zahl der an der dortigen medizinischen Fakultät immatrikulierten Studenten stieg von etwa 440 Anfang 1870/71 - nach einem zeitweiligen Rückgang Mitte der siebziger Jahre auf etwa 260 - bis Anfang 1890/91 auf ein Maximum von etwa 1.380 Studenten an, um dann wieder etwas zurückzugehen. 109 Bereits seit den achtziger Jahren wurde dies als „Uberfüllung" wahrgenommen und Ängste vor einem akademischen Proletariat geschürt, was in den neunziger Jahren in die Ausbreitung eines Bildungsprotektionismus mündete.110 Vor diesem Hintergrund hatte das bei Virchows Anstellung noch so wirksame Argument, durch bessere Ausstattung des Pathologischen Instituts die Stellung der Berliner medizinischen Fakultät bei der Konkurrenz um Studenten zu stärken, seinen Wert verloren. Nunmehr rückte die akute Baufäl168
ligkeit des Pathologischen Instituts, die bereits 1870 ein Argument gewesen war, in das Zentrum seiner Argumentation. Offensichtlich sah er sich gegenüber anderen ambitionierten Institutsgründungen dieser Zeit in der Defensive. Auch der legitimierende Verweis auf die weiter gewachsenen Aufgaben des Unterrichts sowie den mittlerweile erreichten Umfang der international führenden pathologischen Sammlung, 111 d. h. der Wink mit der traditionellen akademischen Verbindung von Forschung und Lehre, stellte seinen Neubauantrag außerhalb des aktuellen Trends zur anwendungsorientierten, industrienahen „Großforschung". Vorrang besaß schließlich der 560.000 Mark teure Bau des 1899 eröffneten Pathologischen Museums. Die Fertigstellung der übrigen Institutsgebäude, die erst 1905 bzw. 1906 abgeschlossen war, erlebte er allerdings nicht mehr." 2 Zugleich konnte er aber auch die Personalstellen noch einmal erheblich ausdehnen. So arbeiteten für ihn zuletzt neben fünf anatomischen Assistenten ein Kustos, ein Militärarzt, der Vorsteher und der Assistent des chemischen Laboratoriums, hinzu kam ein Unterarzt des militärärztlichen FriedrichWilhelm-Instituts. 113 Zwar konnte Virchow auf diese Weise mit seinem Institut noch ein Stück weit an der Wachstumsdynamik der Institutsgründungen seit dem Ende des Jahrhunderts partizipieren. Allerdings wurde hier nicht mehr wie fünfzig Jahre zuvor ein innovatives Forschungsgebiet prämiert, sondern ein immerhin nach wie vor prestigeträchtiger universitärer Unterrichtszweig auf das notwendige personelle und sachliche Niveau angehoben. Dabei spielte die internationale Reputation Virchows, um die es zu diesem Zeitpunkt bereits besser bestellt war als um seine nationale, eine wichtige Rolle. Ebenso wie die Fertigstellung der neuen Institutsgebäude erlebte er auch eine andere Änderung nicht mehr, für die er sich während seiner gesamten Zeit als Institutsdirektor in Berlin eingesetzt hatte, nämlich die Regelung der Stellung des Pathologischen Instituts zwischen der Charite und der Universität." 4 Von Anbeginn seiner Tätigkeit sah er seine Stellung als Institutsdirektor durch die hier bestehende Unklarheit belastet, was sich besonders in der Frage der Finanzverwaltung bemerkbar machte. Virchow unternahm deshalb beträchtliche Anstrengungen, die unklaren Verhältnisse durch ein Institutsstatut zu regeln, das ihm die Unabhängigkeit von der Charite und die volle Zugehörigkeit zur Universität verschaffen sollte. Damit hatte er jedoch keinen Erfolg, und erst kurz nach seinem Tode wurde die Frage der Unabhängigkeit des Pathologischen Instituts von der Charite in seinem Sinne geregelt und wenigstens in Geldangelegenheiten eine Trennung der beiden Einrichtungen festgelegt." 3 Bei dieser Auseinandersetzung, in die neben Virchow das Kultusministerium, die medizinische Fakultät und die Charite einbezogen waren, ging es letztlich vor allem um die Frage der Forschungsressourcen. Neben Räumen, und Apparaten als infrastruktureller Voraussetzung han169
delte es sich dabei vor allem um Kranke, Leichen, Präparate und Tiere für Untersuchungszwecke.
Konflikte auf dem Markt der
Forschungsressourcen
Auch bei seiner Dauerauseinandersetzung um wissenschaftliche Ressourcen war Virchow vor allem darauf bedacht, den bei seiner Berufung nach Berlin bereits weit fortgeschrittenen Disziplinbildungsprozess der pathologischen Anatomie voranzutreiben bzw. diesen zu sichern. Bald nach dem Tode seines alten Lehrers Johannes Müller stellte Virchow den Antrag, aus dem zuletzt von diesem geleiteten anatomischen Museum der Universität den pathologisch-anatomischen Teil abzutrennen. Zugleich sollte dieses Material dem Professor für pathologische Anatomie - d. h. ihm selbst - unterstellt und dabei eventuell in das Pathologische Institut verlagert werden.116 Die angestrebte Teilung der Sammlung entlang der neugezogenen Fachgrenzen begründete er als notwendige Konsequenz der Ausdifferenzierung des neuen Lehrstuhls für pathologische Anatomie.117 Die medizinische Fakultät billigte dieses Vorhaben zunächst,118 doch wollte Kultusminister Raumer sein Placet nicht geben, bevor der noch zu bestimmende neue Leiter der anatomischen Sammlung und Professor für Anatomie dazu seine Meinung erklärt hätte.11 Der auf den dritten aus der Teilung der freigewordenen Stelle Johannes Müllers hervorgegangenen Lehrstuhl berufene Carl Bogislaus Reichert wehrte sich prompt gegen den Teilungsplan. Er argumentierte dabei mit dem fachlichen Zusammenhang von pathologischer Anatomie und Anatomie, aber auch mit der drohenden Zerstörung der Sammlung, die ein gewachsenes einheitliches Ganzes darstelle, sowie des Katalogs.120 Die medizinische Fakultät, die diese Angelegenheit beraten und entscheiden sollte, ergänzte ein weiteres wichtiges Argument: „Das anatomische Museum sei nicht blos f ü r einzelne, an demselben angestellte Fachgenossen, es sei f ü r den ganzen Staat, f ü r das Publikum, die gelehrte Welt, f ü r sämtliche Mitglieder der medicinischen Fakultät, f ü r die Medicin studirende Jugend geschaffen und es sei daher bei jeder beabsichtigten Veränderung nothwendig darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Benutzung desselben in keiner Weise erschwert werde (...)."
Deshalb schlug sie den Erhalt des anatomischen Museums vor, wobei die einzelnen Abteilungen nach dem Vorbild des königlichen Kunstmuseums von verschiedenen Direktoren geleitet werden könnten. Stellte die medizinische Fakultät auf diese Weise die Einheit und die Öffentlichkeit der Sammlung in den Vordergrund, erklärte Virchow die Bedeutung des anatomischen Museums für das Publikum zum gänzlich untergeordneten Argument. Seine oberste Priorität war dagegen die Zugänglichkeit zu den jeweils relevanten Objekten für denjenigen Professor, der die 170
betreffende Richtung in Forschung und Lehre vertrat.122 Dies ist um so bemerkenswerter, als er in anderen Zusammenhängen der Öffentlichkeit von Wissenschaft erhebliches Gewicht beimaß. Sofern es jedoch seine eigenen disziplinaren Interessen berührte, trat dieses Motiv in den Hintergrund. Mit dieser Auseinandersetzung verband er insbesondere die Sorge, dass die disziplinäre Entwicklung der pathologischen Anatomie einen Rückschlag erleiden könnte. Für ihn bestand hier die akute Gefahr, dass sein Ordinariat ganz auf die klinische, praktische Richtung eingeschränkt würde, während er die praktische mit der theoretischen Richtung verbunden wissen und den Zusammenhang mit der Physiologie erhalten wollte: „Denn unser Bestreben in der Pathologie ist ja eben das, in jedem Vorgange des kranken Lebens das p h y siologische Gesetz, in der anatomischen Untersuchung den allgemeinen morphologischen Grund zu erkennen." 123 Darauf stützte sich auch sein Konzept, wonach die pathologische Anatomie ein Zentrum medizinischer Forschung und Lehre bilden sollte. Virchow zog in dieser Auseinandersetzung zunächst den Kürzeren, da sich das Kultusministerium gegen eine Aufteilung des anatomischen Museums entschied. Deshalb begann er nun eine eigene Sammlung pathologischer Präparate aufzubauen. Diese Lösung hatte er zunächst abgelehnt, da dies nicht nur viel Zeit und Geld kosten würde, sondern auch schwer zu realisieren sei, denn bestimmte pathologische Phänomene träten nur sehr selten und manche Krankheitsbilder in der Gegenwart gar nicht mehr auf.124 Diese Tätigkeit betrieb er jedoch mit so großer Intensität, dass daraus eine der international bedeutendsten Sammlungen pathologischer Präparate wurde. Überdies wurde nach dem Tode Reicherte 1873 das anatomische Museum schließlich doch aufgeteilt, 125 wodurch Virchow nachträglich in den Besitz der ihn interessierenden historischen pathologischen Präparate gelangte. Für die zuletzt auf etwa 20.000 Exponate angewachsene Sammlung wurde 1899 ein eigenes Pathologisches Museum eingeweiht, das neben den Abteilungen für Lehrzwecke nunmehr auch eine eigene öffentlich zugängliche Schausammlung enthielt. 126 Auch die von Virchow zunächst ausgeübte Leitung der Abteilung für kranke Gefangene der Charite besaß ihren Hintergrund in einer solchen Ressourcenfrage·. An dieser Position interessierte ihn vor allem das dort anzutreffende breite Spektrum von Krankheiten. Die Stellung der Patienten war durch die in den Erinnerungen seines Schülers Bernhard Naunyn verwendete Bezeichnung „Krankenmaterial" 1 7 treffend gekennzeichnet: Bevor sich am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich verbesserte therapeutische Möglichkeiten einstellten, war die Behandlung der in der Regel sozial niedrig gestellten Krankenhauspatienten, wie Virchows damaliger Würzburger Kollege Rinecker 1853 seinen Studenten zu Beginn seines Kollegs ernüchternd mitteilte, „eigentlich nur ein ganz unsystematisches Experimentieren, ein irrationales Versuchen mit dem menschlichen Organismus, ein unnützes und wenigstens 171
sehr zweideutiges Probieren, Hin- und Herraten usw." 128 Virchow wurde aber 1873 auf eigenen Wunsch von seiner Abteilungsleiterposition an der Charite entbunden, da sie für ihn an Bedeutung verloren hatte und er mit anderen Aufgaben überlastet war.129 Damit zeichnete sich in seiner medizinischen Arbeit auch die Verlagerung von der Klinik zum Experiment ab. Erheblich wichtiger für seine Arbeit war jedoch eine andere Forschungsressource, nämlich Leichen. Der Aufstieg der pathologischen Anatomie war eng mit der Entstehung großer warenhausartiger Hospitäler in den Hauptstädten Europas verknüpft, die für stetigen Nachschub an Leichen sorgten.130 Virchow hatte deshalb bei den Berufungsverhandlungen die Prosektur der Charite - d. h. die Leitung des Leichenhauses - zur Bedingung gemacht, um die für die Ausbildung von Studenten wie für die Erforschung pathologischer Befunde gleichermaßen wichtige Versorgung mit diesem Untersuchungsmaterial garantieren zu können. So war der großzügige Zugang zu Leichen der Hauptfaktor dafür, dass Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts Paris als Mekka amerikanischer Medizinstudenten ablöste.131 Der Bedarf war dabei beträchtlich: In den 1880er Jahren wurden jährlich etwa 2.000 Leichen in das Pathologische Institut gebracht, von denen etwas mehr als die Hälfte zu einer regelmäßigen Sektion gelangten.132 Die Verfügbarkeit dieser Forschungsressource war jedoch durch religiöse und kulturelle Vorbehalte in der Bevölkerung begrenzt, bei der die Sektionen wesentlich zu der großen Unbeliebtheit der Charite beitrugen,133 zumal es sich, wie bei den Krankenhauspatienten, hauptsächlich um Arme und andere Angehörige der Unterschichten handelte. Hinzu kamen die konkurrierenden Ansprüche anderer Forscher auf diesem begrenzten Markt. Auch der nach Virchows Ankunft in Berlin vom Zaun gebrochene Konflikt mit der Charite drehte sich im wesentlichen um den Leichennachschub für sein Pathologisches Institut. Dies war nicht allein eine Auseinandersetzung zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie, 134 sondern zugleich ein kultureller Konflikt. Leichen bildeten ein Medium, durch das Wissenschaft und städtische Öffentlichkeit eng verbunden waren. Während Virchow die Erfordernisse von Forschung und Lehre ins Feld führte und den von ihm erwarteten Erfolg bei der Anlockung von Medizinstudenten in direkte Beziehung zur Versorgung mit Leichen stellte,135 argumentierte die Charite-Direktion in dieser Auseinandersetzung mit den Pietätsinteressen und religiösen Empfindungen der Patienten sowie der Angehörigen der Verstorbenen. Zugleich rechnete sie ihm vor, dass ihm alle zwei Tage wenigstens drei Leichen zur Verfügung stünden und „ihm in der That ein Material zur Disposition steht, wie es wohl in wenig größeren Städten Deutschlands, und gewiß nicht in Würzburg, irgend einem Professor der Pathologie geboten wird." 1 Verwaltungsdirektor Carl Heinrich Esse, der gute persönliche Beziehungen zum Kultusministerium besaß, beschwerte sich deshalb bei Raumer, dass „der Professor Virchow es nicht vermag, die wichtigsten Angelegenhei172
ten ohne persönliche Beziehungen und Verletzungen zu behandeln" und fand darin „leider einen erneuten Beweis für die Richtigkeit meiner Beurtheilung des Charakters des Professors Virchow, über welchen ich vor seiner Berufung als Professor der pathologischen Anatomie bei der hiesigen Universität Eurer Exzellenz wiederholt Schilderungen zu machen mir erlaubt habe." 1 Der Konflikt wurde schließlich 1857 durch ein Leichenreglement beschwichtigt, in dem die Verfügungsgewalt über die in der Charite verstorbenen Leichen detailliert geregelt wurde. Darin wurde dem Prosektor insbesondere das Vorrecht eingeräumt, bis auf einige Ausnahmefälle alle Sektionen auszuführen. Mit detaillierten Bestimmungen, die darauf abzielten, Scheintote rechtzeitig zu entdecken und Verstümmelungen der Leichen soweit als möglich zu verhindern, suchte das Statut zugleich einen Weg zwischen den religiösen Empfindungen der Angehörigen und der Auffassung der Pathologen, die Leichen schlicht als Forschungsmaterial betrachteten, zu vermitteln.139 Virchows Position war hierbei sehr dezidiert: „Will man die pathologische Anatomie, so muß man sie auch ohne Umstände und Vorurtheile wollen." Erkenne man an, „daß die Anschauung, die sie gewährt, unerläßlich ist," so schrieb er weiter an Raumer, „begreift man, daß die R e f o r m der Medicin, welche jetzt begonnen hat, von ihr ausgeht, (...) so muß man die Schranken öffnen und denjenigen, welche diese Wissenschaft betreiben sollen, soviel Vertrauen schenken, daß sie nicht ohne N o t h Leichen verstümmeln oder verunstalten werden; mit einem Worthe, so handelt es sich darum, die Wissenschaft gegen das Vorurtheil und nicht das Vorurtheil gegen die Wissenschaft zu schützen." 1 4 0
Damit wurde diese Frage in den Zusammenhang der diskursiven Opposition von „Wissen" und „Glauben" gerückt, die einen Kernpunkt der liberalen Fortschrittskonzeption darstellte. Dahinter verbargen sich oft genug auch soziale Gegensätze, wie beispielsweise ein 1861 eingereichtes Unterstützungsgesuch an den preußischen König zeigt. Der Webermeister Friedrich Christian Vetter hatte in der Hoffnung auf eine großzügige Belohnung sein mit Wassersucht tot geborenes Kind in das Pathologische Institut gebracht. Als er nach acht Tagen immer noch ohne die erhoffte Gabe geblieben war, wandte er sich an Virchow und verlangte sein Kind zurück. Dieser erklärte ihm nun, „das Kind sei im Beisein vieler junger Arzte total zerschnitten und ferner zur Lehre für dieselben in Spiritus unter Glasrahmen in der pathologischen Sammlung bereits aufgenommen. U n d könne mir dies ja auch nur lieb sein, denn wenn dereinst die Auferstehung der T o d t e n stattfände, so würde ich mein Kind noch leichter wiederfinden, als wenn dasselbe tief unter der Erde vergraben läge."
Schließlich versuchte Virchow den Streit durch ein Geschenk von zwei Talern beizulegen. Da dem Vater aber zu Ohren gekommen war, dass andere Spender Hunderte von Talern für ihre Gabe erhalten hätten, beschwerte er 173
sich über die Geringfügigkeit des Betrags.141 Das Kultusministerium schmetterte diesen Antrag ab, worin vermutlich vor allem das gesellschaftliche Ungleichgewicht der Kontrahenten zum Ausdruck kam. In dem Wertkonflikt zwischen dem Schutz der privaten Gefühle der Angehörigen und dem Recht auf freie Forschung verteidigte Virchow somit vehement die Spielräume der Pathologen und versuchte zugleich, auftretende Unregelmäßigkeiten zu bagatellisieren. Ein besonders heikles Thema in diesem Zusammenhang bildete die illegale Beschaffung von Leichen. Anlässlich der Ausarbeitung des Strafgesetzbuchs des Norddeutschen Bundes kämpfte Virchow in seiner Eigenschaft als federführendes Mitglied der Königlichen Deputation für das Medicinalwesen für die ersatzlose Streichung einer Strafandrohung von bis zu zwei Jahren Gefängnis für die Wegnahme eines Leichenteils aus dem Gewahrsam der berechtigten Person, die dort im Zusammenhang von Regelungen zum Schutz religiöser Empfindungen vorgesehen war.142 Seine wichtige Stellung in dieser Gesetzgebungsprozedur ermöglichte ihm dabei, professionelle Interessen unmittelbar geltend zu machen. Das mit dem Leichenstatut von 1857 getroffene Arrangement blieb bis Anfang der neunziger Jahre stabil, als mit Robert Kochs Institut für Infektionskrankheiten ernste Konkurrenz für Virchows Position auf dem umkämpften Berliner Leichenmarkt erwuchs. Mit der starken Förderung des Kultusministeriums für die aufstrebende Bakteriologie im Rücken erhob Koch bei den Planungen für sein 1891 gegründetes Institut weitreichende Forderungen bei der Versorgung mit „Krankenmaterial" und Leichen aus der Charite.14 Virchow protestierte heftig bei Kultusminister Robert Graf von Zedlitz-Trützschler gegen den geplanten Zugriff auf seine zentrale Forschungsressource und berief sich dabei abermals auf die Erfordernisse von Forschung und Lehre. Dabei hob er hervor, dass „Uebungen im Seciren pathologischer Leichen und im Mikroskopiren krankhaft veränderter Organe (...) gegenwärtig zu den regelmäßigen Bestandtheilen des Studiums" gehörten und unterstrich damit den veränderten Stellenwert derartiger Praktiken, die nun auch für den Durchschnittsstudenten zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Dass er in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich auf das „Bestehen älterer und wohl begründeter Rechte" hinwies, zeigte, wie sehr er sich mittlerweile in einer disziplinären Verteidigungsstellung befand. Deshalb polemisierte er auch, dass der „Mangel pathologisch-anatomischer Kenntnisse bei manchen Bakteriologen (...) schon jetzt große Verwirrung gestiftet" habe.144 Auch hier kam es zu einem Kompromiss, wonach das Leichen-Reglement von 1857 dahingehend abgeändert wurde, dass Koch zwar das Recht erhielt, an den Leichen der in seinem Institut verstorbenen Patienten Sektionen vorzunehmen und Organe und Organteile zu entnehmen, doch musste er die Leichen anschließend an das Pathologische Institut abgeben.145 Ahnliche Konflikte, in denen sich disziplinäre Konflikte mit der Frage nach der kulturellen Bedeutung der modernen Naturwissenschaften ver174
mengten, zeigten sich auch bei der Beschaffung von Versuchstieren für medizinische Experimente. Die Vivisektion wurde im 19. Jahrhundert zu einem wesentlichen Bestandteil der Bemühungen, den Anschluss der biomedizinischen Wissenschaften an exakte Naturwissenschaften wie die Chemie und Physik zu finden. N u r Tierversuche verbürgten die Anerkennung als eine „wissenschaftliche Medizin", wie sie auch von Virchow gefordert wurde, da hier die Voraussetzungen für experimentelle Wissenschaft in einer Weise gegeben waren, wie sie bei bloßen anatomischen Beobachtungen an toten Körpern niemals zu erlangen waren. Die Experimentatoren stellten dabei stets das Streben nach nützlichen Erkenntnissen in den Mittelpunkt ihrer Selbstdarstellung. Jedoch bedeutete „die Vivisektion für Physiologen und viele andere biomedizinische Naturwissenschaftler" vor allem auch „die experimentelle Legitimierung ihrer Karriereambitionen und sozialen Bestre1 «146 bungen Bereits Anfang der 1840er Jahre hatte Virchow mit Tierversuchen begonnen, wobei die Versorgung mit Versuchstieren lange Zeit seiner privaten Initiative überlassen blieb. So bat er 1841 seinen Vater, zu diesem Zweck eine kleine Kaninchenzucht anzulegen. 14 In seiner Zeit als Prosektor der Charite genossen er und die anderen jungen Mediziner der „Berliner Schule" die Unterstützung durch Professor Ernst Friedrich Gurlt, der ihnen an der Tierarzneischule Raum für ihre Vivisektionsexperimente gewährte.148 Mit Hilfe von Tierversuchen wurden pathologische Vorgänge an lebenden Organismen untersucht, und Virchow gelangen auf diese Weise bedeutende medizinische Entdeckungen wie etwa die der Thrombose. Nach seiner späteren Rückkehr nach Berlin forderte Virchow nicht nur eine Steigerung des Leichennachschubs, sondern beharrte mit denselben Argumenten, nämlich den Erfordernissen von Forschung und Lehre, auch auf der Errichtung von Tierställen bei seinem Pathologischen Institut.149 Dies gehört in den Zusammenhang seines Versuches, den Zusammenhang der pathologischen Anatomie mit der Physiologie zu wahren und damit auch seine disziplinären Ambitionen weiter zu verfolgen. Aber wie schon in der Frage der Leichen widersetzte sich die Charite-Direktion auch in der Frage der Tierställe vehement. Erneut stellte sie die Interessen der Patienten gegen die der Forschung. Sie führte an, Virchow hätte heimlich Hunde im Leichenhaus gehalten und dann versucht, dies zu vertuschen. Zudem sei es in seiner Amtszeit als Prosektor der Charite vorgekommen, „dass von den ohne Erlaubnis und ohne Vorwissen der Direction in dem alten Leichenhause gehaltenen Hunden Leichenköpfe durch den Garten der Charite gezogen wurden." 150 Der Verwaltungsdirektor Esse protestierte deshalb gegen die Einrichtung eines Hunde- bzw. Tierstalls auf dem Charitegelände, „da dies ihrem Charakter als Humanitäts-Anstalt widerspreche". Überdies seien auf dem Gelände der Tierarzneianstalt geeignete Räume vorhanden. Ein Hundestall auf dem Charitegelände würde nicht allein „Spötte175
leien" hervorrufen, vielmehr würde dadurch auch „eine neue Veranlassung gegeben sein, die Abneigung zu erhöhen, welche sich in der niederen Volksklasse überhaupt gegen die Charite geltend macht. Durch diese erhöhte Abneigung würde sich aber auch die, von Jahr zu Jahr sich leider immer vermindernde Zahl der Kranken noch von Neuem ermäßigen." Die negativen psychologischen Wirkungen auf die Kranken, die ohnehin das Leichenhaus stets im Blick hatten, würden somit durch den Blick auf einen Hundestall bzw. durch das Geheul der Hunde noch mehr gesteigert.151 Das Kultusministerium schloss sich dieser Argumentation an152 und erntete damit den Zorn Virchows, der sich durch fehlende Tierställe bei seinem Pathologischen Institut in seiner Forschungstätigkeit erheblich behindert sah, wenngleich er nun bereit war, notfalls auf Hundeställe zu verzichten.15 Damit wurde zwar die Haltung von Versuchstieren auf dem Charitegelände unterbunden, doch nicht Tierversuche überhaupt. An diesem Vorgang wird eine ältere, anthropozentrische Haltung sichtbar, bei der es mehr darum ging, Menschen den Anblick von brutalen Handlungen an Tieren zu ersparen, als Tiere vor ihnen zugefügten Leiden zu schützen.154 Seit dem Ende der 1870er Jahre wurde die Frage nach den Grenzen der Wissenschaft im Umgang mit Tieren jedoch in verschärfter und modifizierter Weise gestellt: Nunmehr entstand auch in Deutschland nach englischem Vorbild eine Bewegung, welche die Vivisektion überhaupt zu verbieten suchte und dabei vom Ideal des Schutzes der Tiere um ihrer selbst willen ausging. Aus den Bemühungen der englischen Antivivisektions-Bewegung war 1876 der Cruelty to Animals Act hervorgegangen, nach dessen Muster seit 1880 im Reichstag sowie in verschiedenen Abgeordnetenhäusern der deutschen Einzelstaaten Gesetzesinitiativen gestartet wurden.155 Die Vivisektion bildete dabei „Teil eines mechanistischen Weltbilds und eines szientokratischen Konzepts von Gesellschaft, demgegenüber war AntiVivisektion mit einem stärker romantischen Bild der Natur verbunden"156. So fanden sich in Deutschland auf Seiten der Vivisektionsgegner vor allem medizinische Laien oder Außenseiter wie Ernst Grysanowski und Ernst von Weber, der mit dem 1879 erstmals erschienenen Werk Die Folterkammern der Wissenschaft einen großen Publikumserfolg erzielte - in wenigen Monaten erlebte es nicht weniger als acht Auflagen.157 Das Spektrum der Vivisektionsgegner erweiterte sich dabei immer mehr um lebensreformerische, völkische und antisemitische Kreise, darunter als prominenteste Namen der Komponist Richard Wagner und Bernhard Förster, der Initiator der Antisemitenpetition von 1877. Die Vivisektionsbefürworter rekrutierten sich hingegen aus dem medizinischen Establishment. Damit wurde bei dieser Auseinandersetzung ganz wesentlich die Autorität der modernen Wissenschaft überhaupt verhandelt. Virchow war hierbei eine zentrale Gestalt, auch wenn sich seine individuellen Forschungsinteressen mittlerweile stärker auf die Anthropologie verla176
gert hatten und er damit von Tierversuchen unabhängig geworden war. Er setzte sein Renommee sowohl national wie international für das Recht der medizinischen Forschung auf Tierversuche ein. Als die englischen medizinischen Kollegen in den achtziger Jahren eine Kampagne zugunsten der Vivisektion starteten und zu diesem Zweck 1881 den Internationalen medizinischen Kongress in London benutzen, hielt Virchow dort eine vielbeachtete Verteidigungsrede „Ueber den Werth des pathologischen Experiments" 15 . Die bis dahin größte internationale Ärzteversammlung aller Zeiten beschwor den Zusammenhang von wissenschaftlicher Medizin und Vivisektion, wobei das Tierexperiment zum Symbol des von außen bedrohten Expertentums und der medizinischen Autorität wurde. Darin drückte sich die Besorgnis aus, dass der in der Antivivisektionsbewegung zum Ausdruck kommende Protest von Laien gegen die wissenschaftliche Medizin das erlangte Prestige der Mediziner wieder in Frage stellen würde.159 Als die Antivivisektionsbewegung in den achtziger Jahren auch auf die Tagesordnungen der deutschen Parlamente rückte, wurde Virchow hier gleichfalls zu einer Schlüsselfigur, indem er sowohl als wissenschaftlicher Gutachter zur Stellungnahme aufgefordert wurde und zugleich als Abgeordneter sowohl des Reichstags als auch des Preußischen Abgeordnetenhauses selbst in die Debatten eingriff.16 Die Initiativen, die auf ein völliges Verbot der Vivisektion zielten, fanden in erster Linie beim Zentrum und bei der Konservativen Partei Unterstützung. Während diese Vorstöße im Reichstag scheiterten, erzielten sie im Preußischen Abgeordnetenhaus 1883 einen Teilerfolg: Das Kultusministerium beauftragte sämtliche medizinische Fakultäten Preußens mit einem Gutachten über die Entbehrlichkeit der Vivisektion als Forschungs- und Unterrichtsmittel. Virchow gehörte der Kommission der Berliner medizinischen Fakultät an, die unter Federführung du Bois-Reymonds, der für seine physiologischen Experimente vor allem zahlreiche Frösche benötigte, die Vivisektion als wissenschaftliches Forschungsmittel einmütig zu rechtfertigen suchte.161 Im Ergebnis wurden Tierversuche in Preußen schließlich zwar nicht verboten, sollten aber seit 1885 durch einen sehr allgemein gehaltenen kultusministeriellen Erlass auf ein Mindestmaß reduziert werden und wurden deshalb künftig einer stärkeren Kontrolle unterworfen. Das war weit weniger als die Antivivisektionsbewegung gefordert hatte und bedeutete letztlich einen Sieg der Verteidiger des Tierexperiments. Ernst Grysanowski beklagte deshalb 1887 das Scheitern der von ihm mitbestimmten Bewegung gegen die Vivisektion damit, dass nur wenige sich nicht durch den Hohn und die Verachtung „wissenschaftlicher Würdenträger" hätten entwaffnen lassen. Schuld daran sei vor allem der deutsche „fanatische Wissenschaftskult", der eine Schüchternheit des Laienpublikums vor den besoldeten und betitelten Gelehrten bewirke.' 63 Im Preußischen Abgeordnetenhaus und ebenso im Reichstag hatte Virchow Tierexperimente nachdrücklich verteidigt, indem er sie für wissen177
schaftlich notwendig erklärte und ethisch auf eine Stufe mit dem Züchten und Schlachten von Tieren stellte. Die Gegner erklärte er entweder für wissenschaftlich inkompetent oder warf ihnen vor, moralisch mit zweierlei Maß zu messen, sofern sie nicht strikte Vegetarier seien.164 Indem Virchow diesen Konflikt als Ergebnis eines Gegensatzes von „Wissen" und „Glauben", von wissenschaftlichen Experten und ungebildeten Laien betrachtete, benutzte er hier Argumentationsmuster aus dem preußischen Kulturkampf, der in den siebziger Jahren zwischen Staat und Fortschrittsliberalismus auf der einen sowie katholischer Kirche und Zentrum auf der anderen Seite ausgetragen wurde. Dazu trug nicht zuletzt bei, dass sich auch in der Frage der Tierexperimente unter den Gegnern des „wissenschaftlichen Fortschritts" vor allem Frauen befanden.165 Ahnliche Konflikte traten schließlich auch im Bereich der Anthropologie auf, der sich Virchow seit den späten sechziger Jahren zunehmend zugewandt hatte. Die Ausstellung sogenannter menschlicher Monstrositäten und Exotik in Völkerschauen, zoologischen Gärten und Panoptiken, bei der die von Virchow beherrschte „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" ein enge Symbiose mit den kommerziellen Betreibern solcher Veranstaltungen einging, stieß nicht allein auf reges Interesse der Berliner Bevölkerung, sondern mitunter auch auf heftige Kritik. So unterband das Königliche Polizei-Präsidium 1884 das Vorhaben, ein behaartes siamesisches Kind namens Krao im Aquarium auszustellen, „da die Vorzeigung menschlicher Gestalten in unmittelbarer Nähe von ähnlich gestalteten Thieren der menschlichen Würde nicht angemessen erscheint"166. Öffentlich kritisiert wurde auch, dass die Veranstalter dieser Völkerschauen die Krankheit oder sogar den Tod dieser Menschen fern ihrer Heimat in Kauf nahmen. Dies versuchte Virchow unter anderem durch die viel größeren Gefahren, die europäischen Forschungsreisenden bei ihren Expeditionen in abgelegene Weltgegenden drohten, zu entkräften.167 Vor allem aber sah er sich genötigt, Skeptikern zu erwidern, dass „wirklich ein positives wissenschaftliches Interesse höchsten Ranges sich an diese Vorstellungen anknüpft."168 Die Auseinandersetzungen um Ressourcen für die Pathologie, d. h. Kranke, Leichen und Tiere, sowie für die Anthropologie und Ethnologie, d. h. vor allem „exotische Menschen", kreisten somit nicht zuletzt um die Frage, was moderne Wissenschaft tun dürfe. Sie bilden somit einen wichtigen Ansatzpunkt für die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit, das als ein ständiger Aushandlungsprozess angesehen werden muss, innerhalb dessen der Status von Wissenschaft jeweils erst definiert wurde.169 War dieser für die pathologische Anatomie, die ihren Disziplinbildungsprozess bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreich abschließen konnte, bereits weitgehend gesichert, so befand sich die Anthropologie noch in einem weit ungefestigteren Zustand, der das Verhältnis von Laienöf178
fentlichkeit und wissenschaftlichen Experten zu einem ihrer zentralen Probleme werden ließ.
c) Anthropologie als „volkstümliche Wissenschaft" Seit Ende der 1860er Jahre wandte sich Virchow mehr und mehr der Organisation der deutschen Anthropologie und Urgeschichte zu, und bald erlangte er auf diesem Gebiet eine beherrschende Stellung, die er bis zu seinem Tode behielt.170 Er spielte eine wesentliche Rolle bei der 1869 erfolgten Gründung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, und dasselbe galt auch für die im folgenden Jahr gegründete Deutsche Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Bis zu seinem Tode dirigierte Virchow teils als offizieller, teils als inoffizieller Vorsitzender weitgehend deren Geschicke. Beide Gesellschaften gingen aus einer Sektion der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte hervor. Den Hauptanstoß für diese Ausgründung lieferte die Konkurrenz zu ausländischen anthropologischen Gesellschaften vor allem in Frankreich und Großbritannien, wie sie besonders anlässlich des internationalen anthropologischen Kongresses in Kopenhagen 1869 zu Tage getreten war. Während Virchow im Falle der Anthropologie ebenso wie der Medizin viel Energie für internationale Zusammenarbeit aufbrachte, wachte er gleichzeitig stets eifersüchtig darauf, dass vor allem der Hauptrivale Frankreich niemals in eine bevorzugte Rolle gelangen dürfe. Und auch bei der Gründungsversammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft hob er hervor, dass es sich bei der Anthropologie um ein „ureigenstes" Gebiet der Deutschen handle, doch habe das Fehlen einer nationalen Dachorganisation die angemessene Wahrnehmung der deutschen Anthropologen im Ausland bislang verhindert. 171 Die Arbeit der Deutschen anthropologischen Gesellschaft sollte auf den lokalen Gesellschaften aufbauen, die allerdings sehr unterschiedliches Gewicht gewannen. Die Berliner anthropologische Gesellschaft war nicht nur bei weitem die mitgliederstärkste, sondern dominierte auch sonst: „Man muss blind sein, wenn man nicht sieht, dass der ganze Schwerpunct der anthropologischen Thaetigkeit Deutschlands im Berliner Verein liegt" 1 ", schrieb Alexander von Frantzius, der erste Generalsekretär der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, 1871 an Virchow. Vor allem Karl Vogt, der bei deren Gründung eine Hauptrolle gespielt hatte, bemühte sich auch in anderen deutschsprachigen Ländern darum, lokale Gesellschaften zu gründen. 1870 war ihm dies schon in Klagenfurt, Graz und Wien geglückt, und auch in Prag schien ein Erfolg greifbar, „obgleich dies weit schwieriger [ist] wegen des Nationalhasses der bis zum Messer geht."173 Vogts deutschlandpolitische Vorstellungen zielten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Schweizer Exil auf einen demokratischen Föderalismus mit schwacher Zentralgewalt, 179
wobei er einer preußischen wie österreichischen Hegemonie gleichermaßen kritisch gegenüberstand. 14 Parallel dazu verhielten sich auch seine Vorstellungen zur Organisation der Deutschen anthropologischen Gesellschaft, wobei ihm der „Schillerverein" als Muster vorschwebte: „Dort hat jeder Lokalverein seine besondere Competenz, der wandernde Vorort die seine und damit geht die Sache ganz gut, ohne viel gegenseitige Eifersüchtelei und es ist ein Band der Einheit geschaffen ohne dass es viel drückt."175 Virchows Haltung zur Organisation der Anthropologie war dagegen davon geprägt, dass er der großpreußisch-demokratischen Option anhing, womit der Ausschluss Österreichs aus Deutschland einher ging.176 Dies verband ihn gleichfalls mit Frantzius, mit dem er seit den Tagen der Revolution eine alte Abneigung gegen das katholische Osterreich teilte, das beiden vor dem Hintergrund einer gemeinsamen kulturkämpferischen Haltung suspekt war. Beide opponierten gegen die von dem Stuttgarter Anthropologen Oscar Fraas geförderte Wiederannäherung der Osterreichischen anthropologischen Gesellschaft, die bald nach der Gründung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft selbständig geworden war. 1874 schrieb Virchow an Frantzius, dass ihm Fraas „mit seinem Austrianismus geradezu bedenklich geworden" sei.177 Andrew Zimmerman spitzte deshalb treffend zu, Virchow habe in der Deutschen anthropologischen Gesellschaft eine Art von Ersatz-Deutschland geschaffen, das föderalistisch organisiert war, Wien ausschloss und von Berlin beherrscht wurde.178 Denn ähnlich wie Bismarck, der das Amt des Ministerpräsidenten und des Reichskanzlers kombinierte, leitete Virchow sowohl die mächtigste lokale Organisation in Berlin als auch den nationalen Dachverband. Die akademische Anerkennung blieb der Anthropologie jedoch noch längere Zeit versagt: Erst 1886 wurde für Johannes Ranke ein Lehrstuhl für Anthropologie in München eingerichtet, der bis 1906 der einzige im Deutschen Reich blieb. Bis dahin erlangte lediglich Felix von Luschan 1900 eine außerordentliche Professor in Berlin. Da eine noch in den Anfängen der Disziplinbildung begriffene Wissenschaft wie die Anthropologie noch nicht auf universitäre Positionen und Ressourcen zurückgreifen konnte, wurde die interne disziplinäre Institutionalisierung um so wichtiger.179 Deshalb spielten auch Fragen der Vereinsorganisation eine große Rolle. Virchow war ein Motor der Bemühungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft um die Körperschaftsrechte, die sie schließlich 1884 erhielt. Den unmittelbaren Anlass, sich um die Erlangung der Rechtsfähigkeit zu bemühen, hatte eine private Schenkung geliefert. Der Status einer juristischen Person bildete die Voraussetzung dafür, eigenes Vermögen, Grundeigentum und dingliche Rechte erwerben, vermehren und auch verwenden zu dürfen. Nur so konnten wissenschaftliche Vereine über Schenkungen verfügen, Stiftungen einrichten und Vereinshäuser bauen.1 Im Falle der Berliner anthropologischen Gesellschaft konnte nach der Verleihung der Körperschaftsrechte eine auf180
grand einer Sammlung anlässlich von Virchows 1881 gefeiertem 60. Geburtstag zustande gekommene Stiftung ihre Arbeit aufnehmen. Aus dem anfänglichen Gründungskapital von 78.000 Mark unterstützte die Rudolf-Virchow-Stiftung insbesondere anthropologische, ethnologische und prähistorische Forschungen. Zusammen mit anderen auf privater Förderung beruhenden Stiftungen bildete sie eine wichtige Alternative zur staatlichen Forschungsförderung. Erst nach Verleihung des Status einer juristischen Person konnte die Berliner anthropologische Gesellschaft auch die Frage einer festen Bleibe lösen: Während sie früher in der alten Börse getagt hatte und später in das Gewerbemuseum übergesiedelt war, erwarb sie 1888 das Wohnrecht im neueröffneten Königlichen Völkerkundemuseum und war damit nicht mehr auf die Gastfreundschaft befreundeter Institutionen angewiesen. Bei dieser Vereinbarung musste „scheinbar Disparates und Antagonistisches" vereinigt werden, nämlich „die freie Unabhängigkeit einer privaten Gesellschaft und die formelle Stabilität eines Staatsinstituts"' '. Damit wurde die enge Kooperation zwischen der Berliner anthropologischen Gesellschaft und dem preußischen Staat vertieft, die schon bald nach Gründung des Vereins durch jährliche finanzielle Unterstützungsleistungen des Kultusministeriums eingesetzt hatte. Das Grundmuster dieser Kooperation, das vor allem auch bei verschiedenen aus diesem Kreis heraus initiierten Museumsprojekten praktiziert wurde, bestand darin, dass die Berliner anthropologische Gesellschaft derartige Vorhaben mit privaten Mitteln auf den Weg brachte, um zugleich langfristig deren staatliche Etatisierung anzustreben. Das Charakteristische dieses Vorgangs liegt somit in der Spannung von privater Initiative und Anlehnung an den Staat. Offen bleibt, ob diese Ambivalenz zwischen der bewusst wahrgenommenen Funktion als Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation einerseits und einer auffälligen Staatsnähe andererseits auf ein spezifisch preußisch-deutsches Modell wissenschaftlicher Vereine hindeutet. 182 Die Mitgliederzahl der Berliner anthropologischen Gesellschaft stieg von 1870 bis 1900 von etwa 100 auf etwa 500, der Scheitelpunkt der Kurve lag allerdings im Jahre 1889, in dem fast 600 ordentliche Mitglieder verzeichnet wurden. Darin machte sich vor allem ein starker Sterbeüberschuss geltend, da die Gründergeneration des Vereins sich allmählich lichtete, ohne dass in gleichem Maße neue Mitglieder nachgerückt wären. Unter der Mitgliedschaft der Berliner anthropologischen Gesellschaft spielten neben Berlinern auch zahlreiche auswärtige Mitglieder eine wichtige Rolle. Als größte Einzelgruppe, mit etwa einem Drittel Anteil, traten die Arzte in Erscheinung. Charakteristisch war jedoch vor allem, dass neben Wissenschaftlern (darunter vor allem Mediziner) zahlreiche Laien unter den Mitgliedern der Berliner anthropologischen Gesellschaft waren — wobei die Grenze zwischen professionellen Anthropologen, Ethnologen und Frühhistorikern einerseits und Laien andererseits noch sehr fließend war.184 In den letzten Jahren vor dem Ersten 181
Weltkrieg verstärkte sich die Attraktivität der Berliner anthropologischen Gesellschaft für ein bildungsbürgerliches Laienpublikum sogar noch.185 Allerdings verlief dies parallel zum Abstieg der wissenschaftlichen Bedeutung dieses Vereins. In der Berliner anthropologischen Gesellschaft wurde in den 1870er Jahren die Kompetenz von Laien zur Beteiligung an wissenschaftlichen Aktivitäten ausdrücklich betont. Einerseits resultierte daraus die große Bedeutung in „sozialer Beziehung", da doch die Laien auf diese Weise „unmittelbar in den Dienst der Wissenschaft gestellt" 186 würden, wie Virchow 1880 erklärte. Andererseits war jedoch die Vereinsgeselligkeit und die damit verbundene Form der sozialen Organisation grundlegend für die spezifischen Formen anthropologischen Wissens, wie sie in der Berliner anthropologischen Gesellschaft entwickelt wurden. 187 Im Mittelpunkt stand dabei die Tätigkeit des Sammeins, das eine entscheidende Rolle auf dem Wege noch ungefestigter Disziplinen zur anerkannten Wissenschaft spielte. Es bedeutete die Mobilisierung von Gegenständen zu den Arbeitsstätten der Wissenschaftler und begründete damit eine quasi-kopernikanische Wende der Wissenschaft: Die Gegenstände bewegten sich nun um den Wissenschaftler und nicht mehr länger der Wissenschaftler um die Gegenstände. 1 8 Indem die Berliner anthropologische Gesellschaft vor allem die Sammeltätigkeit von Laien förderte, wurde zugleich der Stellenwert dieses Vereins als Ort kultureller Gemeinsamkeit des gebildeten Bürgertums unterstrichen. So formulierte der Vereinsvorstand 1872 in einem Ratgeber für anthropologische Untersuchungen der deutschen Marine: „Während die A u s f ü h r u n g zoologischer, botanischer, mineralogischer und geologischer Sammlungen immer gewisse Fachstudien voraussetzt, liegt die Betreibung der Ethnologie und Anthropologie, obwohl durch medizinische Kenntnisse im Besonderen erleichtert, dem Allgemeinen nach doch im Bereich jedes Gebildeten.
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In der Praxis erwiesen sich diese Instruktionen allerdings als zu kompliziert.1 0 Zudem gab es auch grundsätzliche Einwände: Robert Hartmann, Professor der Anatomie und Physiologie in Berlin, kritisierte 1876 in der Berliner anthropologischen Gesellschaft die dilettantische Tätigkeit von „StubenEthnologen ohne Selbstanschauung und Reisende(n) ohne anthropologische Bildung" 1 \ womit sich auch hier Forderungen nach mehr Professionalität geltend machten. Dennoch blieb dieser Verein zunächst eine Bastion für die Beteiligung gebildeter Laien an wissenschaftlicher Tätigkeit. So ließen Virchow und die Berliner anthropologische Gesellschaft auch dem von professionellen Archäologen massiv kritisierten Heinrich Schliemann große Unterstützung zukommen.' 2 Der Entdecker und - wie ihm zugleich vorgeworfen wurde - Zerstörer Trojas, der 1881 in einer demonstrativen Solidaritätsgeste zu einem der wenigen Ehrenmitglieder dieses Vereins ernannt wurde, verkör182
perte geradezu den Prototyp des wissenschaftlichen Dilettanten, dessen Erfolg in der gebildeten Öffentlichkeit seinem lange Zeit geringen Ansehen in Fachkreisen diametral entgegenstand. A m .Fall Schliemann' wird somit auch der Prozess der ständigen Verhandlung der Grenzen zwischen Laien und professionellen Experten deutlich. 1 Aber nicht nur bei Expeditionen in ferne Länder, sondern auch in die nähere Umgebung Berlins war die Mitarbeit gebildeter Laien von großer Bedeutung. Denn neben der Anthropologie bildete insbesondere die U r - und Frühgeschichte ein Betätigungsfeld, auf dem sich diese in großer Zahl beteiligten. Mit Blick auf die Mitgliederstruktur der Berliner anthropologischen Gesellschaft lässt sich vermuten, dass dieser Verein eine wichtige Rolle dabei spielte, Wissenschaft als einen Aspekt bürgerlicher Kultur in Berlin zu verankern194 - wenngleich die Wissenschafthchkeit derartiger .laienhafter' Aktivitäten unter professionellen Experten mehr und mehr umstritten war. Allerdings war hier populäre Wissenschaft nicht abgesunkene Eliten-Wissenschaft, sondern Bestandteil der Entwicklung einer solchen. Auch in Virchows privater Korrespondenz mit wissenschaftlichen Laien, so mit seinem Schwager Karl Theodor Seydel, dem Oberbürgermeister von Berlin, oder dem linksliberalen Journalisten und Parteisekretär Ludolf Parisius, finden sich immer wieder Bezüge zu gemeinsamen heimatkundlichen Forschungsinteressen.195 Besonders wichtig in dieser Hinsicht waren jedoch die jährlichen Exkursionen des Vereins zu ur- und frühgeschichtlichen Fundstätten, die gleichermaßen ein wissenschaftliches wie gesellschaftliches Ereignis bildeten. Eine wichtige Rolle spielte die Beteiligung von Laien an den Aktivitäten der Berliner anthropologischen Gesellschaft auch bei den regelmäßigen Ausflügen oder Sondersitzungen anlässlich von Völkerschauen oder Vorführungen menschlicher Monstrositäten. Solche Veranstaltungen fanden seit den 1870er Jahren regelmäßig in Berlin statt, bis nach der Jahrhundertwende vor allem durch das Aufkommen neuer Medien das öffentliche Interesse an derartigen Attraktionen mehr und mehr abflaute. Gezeigt wurden dort neben „exotischen" Völkern in ihrer „natürlichen" Umgebung - von Eskimos über Pygmäen und Feuerländer bis zu Australiern - auch anatomische Kuriositäten, etwa sogenannte Haarmenschen, Schwanzmenschen, Riesen, Zwerge u.s.w. Bei den Ausflügen, bei denen diese Menschen besichtigt, begutachtet und ausführlichen anthropologischen Messungen unterworfen wurden, waren häufig auch die Frauen der geladenen Mitglieder mit anwesend. Für ausgewählte Laien, wie etwa die Familie des Kronprinzen, mit der zusammen Virchow 1878 die „Nubier" im Zoologischen Garten besichtigte, nahm er gelegentlich auch die Rolle des Privatführers ein.196 Dabei pflegte man sich außerhalb der gewöhnlichen Öffnungszeiten dort einzufinden, „da vorher die Anwesenheit des Publikums hinderlich" 197 erschien. Der Besuch Virchows zu einer anthropologischen Begutachtung während der normalen Öffnungszeiten konnte dagegen selbst zu einem öffentlichen Spektakel werden. 183
Der Ausstellungsbetrieb basierte auf einem symbiotischen Verhältnis zwischen der Berliner anthropologischen Gesellschaft und ,ethnologischen Entrepreneurs' wie Carl Hagenbeck, dem Impressario zahlreicher Völkerschauen, und Louis Castan, dem Betreiber von „Castans Panoptikum" in Berlin. Diese zählten ebenso zu den aktiven Mitgliedern der Berliner anthropologischen Gesellschaft wie Ludwig Heck und Otto Hermes, die Direktoren des Tiergartens bzw. des Aquariums, die gleichfalls derartige Vorstellungen beherbergten. Das inszenatorische Moment solcher Ausstellungen war den Anthropologen und Ethnologen durchaus bewusst, wenn etwa festgestellt wurde, dass die „Wildheit" oft nur vorgetäuscht wurde und die ausgestellten „Primitiven" nach der Vorstellung in bürgerlicher Kleidung im Gewimmel der Berliner Innenstadt verschwanden, um dort kaum noch unterscheidbar zu sein.198 Die Berliner anthropologische Gesellschaft versuchte ihren Anspruch auf Expertenschaft dadurch zu unterstreichen, dass sie allzu dreiste Fälschungen, wie etwa die angebliche Amazonengarde des Königs von Dahome, als solche entlarvte. Dies tat freilich der den „drallen Gestalten" der Darstellerinnen und der von ihnen „mit grosser Verve und Correctheit ausgeführten militärischen Wendungen" geschuldeten Attraktivität dieser Ausstellung wenig Abbruch.199 Virchow fand „Milderung darin, daß es sich nicht um eine eigentlich anthropologische Vorstellung, sondern um ein Schauspiel für die Massen gehandelt habe; dafür genüge es, dass die Dressur der Frauenzimmer im Gebrauch der Waffen (...) eine vorzügliche sei und dass die Personen selbst gute westafrikanische Typen darstellen"200. So schien, wie ein Zeitungsbericht 1894 schrieb, „der Anschauungsbericht durch lebendige Vertreter farbiger Völkerschaften in Berlin zu den festen Formen eines höhern Bildungsweges zu gehören (...) Virchow misst den braunen und schwarzen Kerlen und Frauenzimmern die Köpfe und seine Landsleute sind stolz darauf: Ethnographie ist in Berlin eine volkst ü m l i c h e Wissenschaft, wenn sie von tanzenden Dahomeweibern gelehrt wird."20'
Bei der diesen anthropologischen Ausstellungen und Vorführungen zugrunde liegenden Form der Präsentation liegt es nahe, Öffentlichkeit auch als Machtrelation zwischen den .Exponaten' einerseits und dem Laien- wie Expertenpublikum andererseits zu begreifen. Allerdings schildern zeitgenössische Berichte auch die Durchbrechung des scheinbar festgelegten panoptischen, ethnologischen Blicks auf die ausgestellten Personen: Diese machten gelegentlich ihrerseits das Publikum zum Gegenstand ihrer Betrachtung und Kommentare. Schließlich konnte es sogar vorkommen, dass der wissenschaftliche' Blick umgekehrt wurde: etwa als ein kamerunischer Königssohn, der 1896 mit Angehörigen seines Stammes in der Deutschen Kolonialausstellung präsentiert wurde, bei einem Besuch der Berliner anthropologischen
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Gesellschaft „der vielen neugierigen Blicke müde, plötzlich selbst die gelehrte Gesellschaft durch das Opernglas zu mustern begann."202 Dieser wissenschaftliche Blick spielte eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Berliner anthropologischen Gesellschaft: Sie erhob den Anspruch, durch Schulung der Wahrnehmungsformen eine gemeinsame Weltsicht zu befestigen und auf diese Weise zu der angestrebten .Einheit der Gebildeten' beizutragen. So bildete sie einen „Hybridraum, in dem Wissenschaftler und Laien aufeinander trafen und sich ihre differenten Normen und Wertesysteme zu überlappen und zu durchmischen begannen" 2 ", und, so ließe sich ergänzen, auch ihre Praktiken der Wahrnehmung. Die Herstellung einer disziplinaren Identität und die Vermittlung einheitsstiftender Momente des Bildungsbürgertums, auf der die angestrebte kulturelle Autorität der Anthropologie basierte, standen dabei in einem spannungsvollen Verhältnis. Die Bemühungen Virchows als Disziplinkonstrukteur - das zeigt sowohl das Beispiel der Anthropologie wie das der pathologischen Anatomie - befanden sich damit stets in einer Situation der Grenzverhandlung. Bei dieser ging es darum, disziplinäre Außengrenzen herzustellen und zu sichern. Zugleich war dies aber mit vielfältigen Vermittlungsprozessen sowohl gegenüber Expertenwie Laienöffentlichkeiten verbunden. Diese sollen im Folgenden anhand der Rolle Virchows als wissenschaftlicher Autor und Publizist näher untersucht werden.
d) Medizinische und anthropologische Publizistik Der Konflikt zwischen dem Modell des Marktes und der Modernisierung zur Erklärung der Innovationen im deutschen Wissenschaftssystems im 19. Jahrhundert findet insoweit partiell eine Auflösung, als die preußische Hochschulverwaltung mit der Durchsetzung des neuen wissenschaftlichen Forschungsethos von außen eine Modernisierung der institutionellen Regelungen von Wissenschaft einführte. Dazu gehörte auch die seit den 1830er Jahren verfolgte Durchsetzung des Grundsatzes Publish or perish als wissenschaftliches Karrierekriterium, was bis etwa 1848 auch gelungen war.204 Die dadurch entstehende Rolle des wissenschaftlichen Marktes war insofern nicht naturwüchsig, sondern von außen etabliert worden. Eine wichtige Folge war die Abwertung der enzyklopädischen Zusammenstellung bekannten Wissens, die bislang einen wichtigen Teil akademischer Publikationstätigkeit ausgemacht hatte, gegenüber der Veröffentlichung neuer Forschungsergebnisse. Die zunehmend gebotene öffentliche Unterwerfung unter den Forschungsimperativ veränderte das Selbstverständnis von Wissenschaftlern, die nicht mehr so sehr in erster Linie auf die Anerkennung ihrer Fakultät als auf die Anerkennung ihrer Forschungsergebnisse durch Fachkollegen bedacht sein mussten.
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Im Rahmen dieses Wandels der Rolle des Naturwissenschaftlers wurde die Fähigkeit zur Selbstvermarktung enorm wichtig für wissenschaftliche Karrieren. So teilte der 24-jährige Virchow seinem Vater im Dezember 1845 mit, er müsse noch eine Anzahl von Aufsätzen für hiesige medizinische Blätter schreiben, um sich „einer gewissen Klasse von hohen Medicinern, die weiter nichts lesen, bekannt zu machen."205 Im August 1847 bilanzierte er, dass er mit seinen literarischen Erfolgen zufrieden sei: „In Berlin habe ich allgemach eine gewisse Autorität, u. in den Provinzen, namentlich in den größeren u. Universitätsstädten auch. Im übrigen Deutschland geht es besser als ich erwartete, u. trotz der heftigen Polemik, welche ich gegen die österreichische u. einen Theil der süddeutschen Medizin entwickle, kommt noch kein Gegner hervor." Dafür seien seine Arbeiten im Ausland noch nicht sehr bekannt, auch wenn er sich an diesem Tag zum ersten Mal in einem englischen Journal zitiert gesehen hatte, wenngleich noch als „Dr. Sirchov".206 Einiges an Virchows Haltung wird auch an einer Antwort deutlich, die ihm sein gleichaltriger enger Freund und Kollege Alexander von Frantzius im Januar 1848 auf die von ihm erteilten Karrieretipps gab: „Darin indessen werde ich Dir niemals folgen, wenn Du mir den Rath giebst, zu arbeiten und Etwas zu veröffentlichen, blos um mich der wissenschaftlichen Welt bekannt zu machen." 07 Während Frantzius damit ein älteres wissenschaftliches Ethos vertrat, dem ein marktgemäßes Verhalten, ein „Sich-Anpreisen" fremd war, entfaltete Virchow auch aus diesem Motiv heraus eine enorme publizistische und literarische Produktivität. Virchow entwickelte sich somit zu einem Virtuosen auf dem im 19. Jahrhundert stark expandierenden Markt wissenschaftlicher Publikationen. Sein Beispiel zeigt sowohl die Wichtigkeit von Publikationsstrategien für die Bildung wissenschaftlicher Disziplinen, als auch die wachsende Bedeutung der Fähigkeit zur Selbstvermarktung für wissenschaftliche Karrieren im 19. Jahrhundert. In diesem Prozess wurden wissenschaftlicher und literarischer Markt immer enger verknüpft. Wie agierte Virchow im Spannungsfeld der publizistischen Märkte für ein spezialisiertes und ein nicht-spezialisiertes Publikum? Und wie befestigte er dabei seine wissenschaftliche Autorität auf dem Feld der Medizin und der Anthropologie? Auf welche Weise konsolidierte er durch seine publizistische Tätigkeit wissenschaftliche Tatsachen als gesichertes „Wissen" ? Und welche Rolle spielten dabei Ubersetzungsprozesse zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit für die Wissensproduktion?208 Einige Antworten darauf liefert eine Untersuchung von Virchows Rolle auf dem wissenschaftlichen Zeitschriftenmarkt. Wissenschaftliche
Zeitschriften
Die ersten Anfänge wissenschaftlicher Zeitschriften reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als die damals aufkommende experimentelle For186
schungsweise nach schnellerer Publikation der Ergebnisse verlangte, als sie mit Büchern zu erreichen war, um die Prioritätsfrage bei Entdeckungen eindeutig zu klären. 9 Zudem stand das Aufkommen periodischer Publikationen in engem Zusammenhang mit der Beschleunigung des Wissenserwerbs, der vor allem seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Allein zwischen 1778 und 1843 erschienen „neunzig deutsche medizinische Fachblätter, die mit dem Wort .Archiv' beginnen."210 Die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts bildeten schließlich eine Umbruchszeit für die deutsche medizinische Zeitschriftenliteratur. Noch stärker als die medizinische Literatur spiegeln die periodischen Zeitschriften die dramatischen Veränderungen auf diesem Segment des literarischen Marktes wider. " Gegenüber ihren Vorläufern änderte sich die Zielsetzung der in den vierziger Jahren in Deutschland entstehenden Zeitschriften, indem sie sich nicht mehr an ein Laienpublikum wandten, denen sie medizinische Belehrung zuteil werden lassen wollten, sondern vorrangig an Ärzte adressiert waren. Während in diesem Jahrzehnt medizinische Fachzeitschriften alten Schlags wie das Hufelandsche Journal der praktischen Arzneikunde und das Archiv für medizinische Erfahrung eingingen, entstand eine ganze Reihe neuer Journale, die sich der .neuen', naturwissenschaftlichen Medizin verschrieben.212 In dieser medizinpublizistischen Aufbruchsstimmung, die im Gegensatz zu der Mitte der 1840er Jahre einsetzenden und erst im Kaiserreich wieder überwundenen Flaute des publizistischen Marktes stand, 1 brachte Virchow Anfang 1847 gemeinsam mit seinem um zwei Jahre älteren Freund und Kollegen Benno Reinhardt das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin heraus. Bei einer rückblickenden Charakterisierung der Umbruchsituation des Marktes für medizinische Zeitschriften in den vierziger Jahren stilisierte Virchow ihr Projekt zu einem Kampf des Neuen gegen das Alte: „Die Mehrzahl der alten Zeitschriften war, fast überall durch die eigene Schuld der Herausgeber, im Absterben begriffen. Wenige neue waren entstanden, und obwohl ihnen die Gunst der Leser in einem ungewöhnlichen Maasse zu Theil geworden war, so hatte sich doch schon damals gezeigt, daß sie mehr dem augenblicklichen Bedürfniss einer Uebergangsperiode dienten, als mit festem Schritt in die neue Periode der Wissenschaft eintraten." 2 1 4
Zumal in Norddeutschland bildete, so Virchow, das im Jahr 1834 von seinem Lehrer Johannes Müller gegründete Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin den einzigen Lichtblick unter den wissenschaftlichen Zeitschriften und damit in gewisser Weise auch ein Vorbild.215 Ein wichtiger Grund für den Entschluss zur Gründung der Zeitschrift war für ihn, dass „kein anständiges Journal existirte, in dem wir schreiben konnten."216 Dies bezog sich konkret auch darauf, dass Wilhelm Roser und Carl August Wunderlich es abgelehnt hatten, Virchows 1845 im Friedrich-Wil187
helm-Institut gehaltene Festreden in ihrem Archiv für Physiologische Heilkunde zu veröffentlichen. Dies führte nicht allein zu einer jahrelangen Fehde - trotz eigentlich verwandter wissenschaftlicher Standpunkte - sondern bestärkte auch Virchows Entschluss zur Gründung einer eigenen Zeitschrift.217 Entscheidend war aber nicht zuletzt das Argument der Macht: Worum es Virchow und Reinhardt in dieser Zeit ging, war „Einfluss auf die Wissenschaft", den sie in dieser Lebensphase, wie Virchow später verklärend schrieb, ungleich höher schätzten als persönlichen oder amtlichen Einfluss.218 Ein erster Anlauf, der jungen „Berliner Schule" ein Publikationsforum zu verschaffen, Ludwig Traubes Beiträge zur experimentellen Pathologie und Physiologie, war aufgrund verlegerischer Schwierigkeiten bereits nach zwei Heften gescheitert.219 Bereits seit 1845 hatten Virchow und Reinhardt deshalb den Gedanken erwogen, „eine eigene Zeitschrift [zu] gründen, um uns vollkommen zu emancipiren"220. Ein Brief Reinhardts an Virchow vom Ende dieses Jahres dokumentiert ihre Selbstwahrnehmung als Avantgarde einer neuen, „wissenschaftlichen" Medizin: „Es ist durchaus nothwendig, dass wir uns Zusammenthun und einen energischen Feldzug gegen die Esoteren und sonstiges Volk, was jetzt die Wissenschaft mit ihrem läppischen Gewäsch überschwemmt, unternehmen. Wenn man das Zeug A l les liest, was jetzt zusammengeschmiert wird, es ist zum Rasendwerden! (...) Es ist höchste Zeit, dass diesem Unfug durch genaue zusammenhängende Untersuchungen, sowie durch eine schonungslose, mit bodenloser Grobheit durchgeführte Kritik gesteuert werde."221
Das Projekt sollte somit erstens der Durchsetzung der .neuen', naturwissenschaftlich orientierten Medizin dienen. Zweitens sollte es nur Originalbeiträge veröffentlichen, wozu in den ersten Jahren Virchow selbst eine erhebliche Last auf sich nahm. Und drittens zielte das Archiv auf die „medicinische Öffentlichkeit", indem es auf die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden unter den Ärzten zielte.222 Entscheidend für die Realisierung des Projekts war die Unterstützung durch den Berliner Verleger Georg Ernst Reimer, der 1842 nach dem Tod des Firmengründers Georg Andreas Reimer den Verlag übernommen hatte und seither das Verlagsprofil stärker auf wissenschaftliche Veröffentlichungen ausrichtete.223 Eine wichtige Rolle beim Zustandekommen dieser Zusammenarbeit spielte die Förderung durch den mit dieser medizinischen Richtung sympathisierenden Armenarzt Siegfried Johannes Reimer, der seinen Bruder Georg Reimer - der selbst als Mitglied der Berliner Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin sein Interesse an dieser Richtung bekundete - zu diesem verlegerischen Wagnis überredete.224 Der mit ihm abgeschlossene Vertrag sah vor, dass die Zeitschrift in unregelmäßigen Zeiträumen in Heften, von denen je drei einen Band von etwa 36 Bogen bilden sollten, erscheinen würde. Für jeden Bogen sollte der Verleger zehn Taler Honorar an die Herausgeber 188
zahlen, die davon die Mitarbeiter honorieren sollten. Dabei schlossen Virchow und Reinhardt zunächst eine Bezahlung der Redaktion aus. Virchow las nicht nur fast immer sämtliche Korrekturen,225 sondern füllte anfänglich das Archiv in erheblichem Maße mit seinen eigenen Beiträgen - im ersten Band immerhin 389 von 583 Seiten. Der Vertrag sah weiter vor, dass sich das Honorar von zehn auf zwölf Taler pro Bogen erhöhen würde, sobald der Absatz 700 Exemplare überschreiten sollte, „und ebenso bei fernerer Steigerung des Absatzes um zwei Thaler pro Bogen für je Hundert über 700 abgesetzte Exempl[are]." 6 Allerdings blieben derartige Verkaufszahlen lange außer Reichweite: Trotz großer Werbeanstrengungen Virchows betrug die Zahl der verkauften Exemplare 1851 gerade einmal 340, womit sich noch nicht einmal die Herstellungskosten amortisierten.227 Immerhin ging ein Teil der Auflage auch ins Ausland. Die Zahl der verkauften Exemplare stieg auf 666 im Jahr 1864, erreichte 1884 mit 746 einen Gipfel und lag 1894 bei 697.228 Zugleich nahm der Umfang des Archivs kontinuierlich zu: War am Anfang nur ein zwangloses Erscheinen angekündigt worden, um keinen Druck zur Füllung der Hefte zu erzeugen, so erschienen seit dem Jahr 1852, in dem nach Reinhardts Tod die Redaktion allein auf Virchow überging, bereits zwei Bände zu je drei Heften pro Jahr. Von 1864 an erschien monatlich ein Heft, woraus sich eine Zahl von vier Bänden jährlich ergab, und seit 1879 erschienen schließlich vier Bände zu drei Heften im Jahr, um dem weiterhin wachsenden Manuskriptberg Herr zu werden.229 Dabei bewältigte Virchow von Band 5 bis Band 169 allein die redaktionelle Bearbeitung von bis zu 2.000 Seiten und mehr im Jahr,230 nachdem sein an einer fortschreitenden Lungentuberkulose leidender Kompagnon Reinhardt schon zuvor seine Pflichten mehr und mehr vernachlässigt hatte.231 Das Honorar stieg allerdings nicht im gleichen Maße, vor allem da Georg Reimer, allgemeinem Verlegerbrauch folgend, ertragsschwächere Zeitschriften, wie etwa die Protestantische Kirchenzeitung, mit erfolgreicheren Projekten quer finanzierte. Im Kampf gegen die ständig wachsende Manuskriptflut betrieb Virchow eine strenge Limitierung des Umfangs der einzelnen Beiträge, da von der Beschränkung der Abonnementspreise und der Schnelligkeit der Lieferung ein wesentlicher Teil des Einflusses eines derartigen Periodikums abhinge.232 Im Interesse der anderen Mitarbeiter, insbesondere aber des Lesepublikums vertrat er die Maxime: „Wer da schreibt, hat auch immer die Pflicht, sich zu fragen: Wer soll das Geschriebene lesen?"233 Als Problem stellte sich dabei das Verhältnis von wissenschaftlicher Autonomie und ökonomischer Marktrationalität, das zwar keineswegs neu war, aber zunehmend schärfer empfunden wurde. Das wissenschaftliche Interesse der Forscher und des Publikums betrachtete Virchow als die einzigen legitimen Motive zur Gründung neuer Fachzeitschriften. Besonders wichtig war für ihn überdies - vor allem vor der Reichsgründung - das Ziel, durch Zeitschriften einen nationalen wissenschaftlichen Kommunikationsraum zu 189
schaffen. Dies sollte auch der mangelnden internationalen Wahrnehmung der deutschen Wissenschaft, die durch das Fehlen eines nationalen Zentrums bedingt sei, entgegenwirken. 4 Kritisch betrachtete er hingegen den Ehrgeiz profilierungssüchtiger Redakteure und wissenschaftlicher Gesellschaften, aber auch buchhändlerische Interessen. Bereits 1864 wies Virchow darauf hin, „wie viel gerade in Deutschland durch die besondere Organisation des Buchhandels und durch die Leichtigkeit, Drucksachen herzustellen und zu verbreiten, in dieser Richtung geleistet wird." Auf diese Weise seien „bloße Speculations-Organe" entstanden. Allerdings glaubte er während des liberalen Aufschwungs der 1860er Jahre zugleich, dass die Marktkräfte, die auch das wissenschaftliche Feld beherrschten, automatisch das Bessere heraussieben würden: „Auch die Wissenschaft, wenn sie auf den Markt gebracht wird, ist den wirthschaftlichen Gesetzen unterworfen, denn sie ist in diesem Falle nur eine Waare, deren Werth von der Nachfrage abhängig ist, und kein Buchhändler wird auf die Dauer für schlechte Waare Käufer finden." Die Selbsterziehung des wissenschaftlichen Publikums würde dazu führen, „die Masse der Käufer zu Gunsten der besseren Literatur" zu verändern235 - das Licht der Aufklärung und die unsichtbare Hand des Marktes trafen also nach seiner optimistischen Annahme in gemeinsamem Wirken zusammen. Die praktische Seite dieses Problems lässt sich an Virchows langjähriger Beziehung mit dem Georg-Reimer-Verlag studieren. Die Zusammenarbeit mit Georg Reimer, der auch andere medizinische Fachzeitschriften, darunter die Verhandlungen der Gesellschaft für Geburtshülfe in seinem Verlag betreute,236 zog sich über viele Jahre und viele Projekte hinweg bis zu dessen Tode im Jahre 1885 hin und wurde von dessen Sohn Ernst bis zum Verkauf an Walther de Gruyter 1896 fortgesetzt.237 Nach der Übernahme des Archivs war Georg Reimer 1848 auch das verlegerische Risiko eingegangen, die von Virchow zusammen mit seinem Freund Rudolf Leubuscher (1821-1861) gegründete Zeitschrift Die medicinische Reform in sein Programm aufzunehmen. Sie erschien vom 10. Juli an und konnte sich ein knappes Jahr bis zum Heft Nr. 52 halten, wobei ihr Umfang anfänglich acht, später vier Seiten wöchentlich betrug. Sie bildete ein zentrales Forum der im Revolutionsjahr ihren Höhepunkt erreichenden Medizinalreformbewegung. Neben Leitartikeln zu aktuellen Problemen der Medizinalreform enthielt diese als weitere Rubriken „Berichte über die Reform-Vorgänge", „Kleinere Mitteilungen" sowie „Personalnachrichten". Die medicinische Reform war zugleich ein Pionier für den neuen journalistischen Typus der medizinischen „Wochenschrift"238. Virchow selbst unterschied zwei Arten von medizinischen Zeitschriften: Wochenschriften und „die große Mehrzahl der Broschüren und Lehrbücher" zählte er zur „leichten periodischen Presse", bei der schnelle Berichterstattung und gute Lesbarkeit im Vordergrund stand, und hierzu zählte die Reform. Das als Kampfblatt zur Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Standpunkts in der Medizin 190
konzipierte Archiv hingegen rechnete er der „schweren periodischen Presse" zu, die wesentlich höhere Anforderungen stellte.2 9 Mit der Periodizität der medicinischen Reform verband Virchow zugleich auch ein gesteigertes Bewusstsein für die Rolle der öffentlichen Meinung, für die derartige Zeitschriften ein wichtiges Medium darstellten.240 Reimer beschränkte seine Zusage zunächst auf ein halbes Jahr, 41 und nach Ablauf dieser Zeit gedachte er von dieser Beschränkung auch Gebrauch zu machen, da der kommerzielle Erfolg der medicinischen Reform ausgeblieben war. Obwohl der Verkauf im zweiten Quartal auf etwa 230 Exemplare gestiegen war, blieb dies weiter unter dem kostendeckenden Minimum von etwa 350.242 Tatsächlich lag die Auflage der meisten technischen oder medizinischen Fachschriften zwischen 1830 und 1880 zwischen 200 und maximal 1.000 Exemplaren. 4 Virchow appellierte gegenüber den wirtschaftlichen Bedenken des Verlegers an seinen strategischen Weitblick: „Sobald die Wissenschaft wieder bei einer ruhigeren Gestaltung der politischen Verhältnisse größeres Bedürfniss sein wird, so werden wir hier um so mehr ein solches Organ gebrauchen, als schon jetzt die jüngeren Kräfte in wissenschaftliche Stellen einzurücken beginnen." 44 Reimer ging darauf zunächst ein und rechtfertigte dieses Zuschussunternehmen als eine lohnende Investition in die Zukunft. Für die Gegenwart bot er Virchow daraufhin an, das Unternehmen weiterzuführen, sofern dieser bereit sein würde, auf das Honorar zu verzichten. 45 Dennoch musste Virchow, der ab Januar 1849 allein als Redakteur und Herausgeber der medicinischen Reform verantwortlich zeichnete, die Zeitschrift im Juni 1849 einstellen. Gegenüber seinem Vater begründete er dies damit, dass „die Realisirung der demokratischen Forderungen auch in der Medicin noch lange anstehen wird, u. die ewige Opposition jetzt meine Stellung nur erschweren würde." 46 So ging Virchow zwar oft ein hohes persönliches Risiko ein, achtete dabei jedoch stets darauf, dass seine politischen Aktivitäten seine wissenschaftlichen Karriereambitionen nicht nachhaltig gefährdeten. Der Altliberale Reimer traf sich politisch mit Virchow insoweit in der Kritik an den preußischen Verhältnissen, als die staatlichen Maßnahmen gegen die Pressefreiheit, die nach der Revolution durch das Pressegesetz von 1851 erneut drastisch verschärft wurden, auch unter buchhändlerischen Gesichtspunkten von großem Nachteil waren. Jedoch unterschied er sich in der Radikalität von den politischen Auffassungen Virchows und schrieb ihm 1851: „Ob ich noch conservativ sei fragen Sie und ich sehe in Gedanken dabei Ihr feines spöttisches Lächeln." Freilich sei er kein Anhänger der neuen konservativen Regierung des Ministeriums Manteuffel, „aber ich bin doch immer selbst durch dieses Ministerium noch nicht dahin gebracht zu glauben, daß in der Revolution Heil zu finden wäre und man die Freiheit im Sturm über Nacht erkämpfen könnte, sondern bin viel mehr noch immer
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der Ansicht, daß sie nur Schritt f ü r Schritt mit besonnener Ausdauer erlangt w e r den kann; jetzt siehts freilich schlechter damit aus als je."247
Die Beziehung Virchows zu Reimer reichte jedoch über den publizistischen Bereich hinaus. Auch wenn sie manche politische Differenzen trennten, so trafen sie sich im Rahmen der liberalen Reformbewegung,248 die Berlin seit dem Ende der fünfziger Jahre beherrschte. Dazu gehörte etwa die gemeinsame Mitarbeit im Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen oder in dem von Virchow 1869 gegründeten Komitee zur Errichtung eines Denkmals für Alexander von Humboldt.249 Bereits bei der Gründung des Archivs zeigte sich eine eigenartige Ambivalenz: Einerseits zielte diese auf eine wissenschaftliche Ausdifferenzierung und Institutionalisierung einer neuen Disziplin. Andererseits argumentierte Virchow bereits hier, dass es ihm um die Vermeidung der Fragmentierung der Wissenschaften ging.250 Neue Zeitschriftengründungen auf benachbartem Gebiet beklagte Virchow gegenüber Frantzius 1850 als „neue Zersplitterung" oder gar als „Presse-Egoismus"251. In einem programmatischen Leitartikel für sein Archiv erklärte er 1861, dass die an sich bedenkliche „zu große Zersplitterung der Disciplinen" nur so weit zulässig sei, als sie von der Arbeitsteilung bedingt werde. Aber unzweifelhaft sei „es für den Arzt in hohem Maasse wünschenswerth (...), dasjenige, was für sein Wissen erforderlich ist, nicht an verschiedenen Orten suchen zu müssen.252 Neun Jahre später aber beklagte sich Virchow erneut über den ungebrochenen Trend, wonach sich die Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriften jährlich vermehre und jede wissenschaftliche „Spezialität", gleich wie groß sie sei, ihr eigenes publizistisches Organ haben müsse: „Es wird nicht lange dauern, so wird nicht bloss jeder Kanal des Körpers, jede Oberfläche, sondern wahrscheinlich auch jedes Gewebe sein besonderes Journal haben. Ein .Archiv für Krankheiten des Bindegewebes' oder ein .Archiv für farblose Blutkörperchen' gehört nicht mehr zu den unmöglichen Hoffnungen." Zwar seien damit auch Vorteile verbunden, da auf diese Weise wenigstens für einige Zeit eine Intensivierung der Forschung erreicht werde. Jedoch existierte, so Virchow, kein „dauerndes Bedürfnis für eine solche Zersplitterung": „ W e r liest am Ende A r c h i v und Gegenarchiv? Beinahe nur die Specialisten. Haben diese die Absicht und das Interesse, ihre Wissenschaft zu einer Geheimlehre auszubilden und sich aller C o n t r o l e zu entziehen, so ist dieses Verfahren sehr vortrefflich. (...) Die Psychiatrie hat dies schon seit längerer Zeit durchgesetzt und beklagt sich seitdem fortwährend über Mangel an Verständnis bei den übrigen Archiven. Mein A r c h i v hat zu allen Zeiten den Specialitäten, welche sich erst Geltung verschaffen wollten, zum Organ gedient. Es wird dies auch künftig gern thun. A b e r es w i r d dabei nicht aufhören, auch dann noch Artikel der Special-Disciplinen zu bringen, wenn diese letzteren sich ihre Geheim-Organe geschaffen haben." 253
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Solche Warnungen vor der Gefahr eines Auseinandertretens von praktischen Ärzten und wissenschaftlicher Medizin waren Bestandteil eines im 19. Jahrhundert immer wichtiger werdenden Diskurses, der die zunehmende Fragmentierung des Wissens thematisierte.254 Dahinter standen zum einen Befürchtungen um den Verlust eines gemeinsamen Bildungswissens, das eine wichtige Rolle für die Vergesellschaftung des Bürgertums spielte. Zum anderen kamen gerade bei Virchow später auch Befürchtungen vor der Gefährdung einer einmal erreichten Hegemonie innerhalb eines bestimmten wissenschaftlichen Feldes hinzu. Dies traf sich mit verlegerischen Befürchtungen bezüglich der ökonomischen Konkurrenz, die neue Zeitschriftengründungen bedeuteten,255 zumal wenn die Auflagenzahlen noch keine kostendeckende Produktion ermöglichten. So forderte Virchow, die wissenschaftlichen Energien in die Verbesserung der bestehenden Journale anstatt in Neugründungen zu stecken und relativierte damit auch seine frühere Auffassung, wonach das freie Spiel der Kräfte auch in der Wissenschaft das beste Prinzip sei und sich bessere Qualität sozusagen durch die Marktkräfte durchsetzen würde: „Die Concurrenz hat auch auf dem wissenschaftlichen Markte ihre gewisse Gren«256
ze. Eine Antwort auf die zunehmende Spezialisierung und Ausdifferenzierung des medizinischen Wissens waren Zeitschriften, die sich die Aufgabe stellten, Uberblick über die immer mehr zunehmende Literatur zu verschaffen. Zu den ersten dieser Art gehörten Karl Canstatts 1841 begründeter Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Mediän in allen Ländern. 1851 übernahm Virchow gemeinsam mit Johann Joseph von Scherer und Gottfried Eisenmann die Herausgeberschaft, die er dann von 1866 bis 1893 mit August Hirsch und von 1893 an mit Carl Posner teilte. 1866 wurde der Titel in Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesammten Medicin geändert, war jedoch allgemein als Virchows Jahresbericht bekannt. Während das Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin ausschließlich neue Forschungsergebnisse veröffentlichte und „auf alle jene Reizmittel, wie Neuigkeiten, Gesellschaftsberichte, ja sogar, bis auf geringe Ausnahmen, auf kritische Besprechungen"257 verzichtete, handelte es sich bei den Jahresberichten um ein Referateblatt. Hier wurde das gesamte ärztliche Wissen in 18 Fachgruppen aufgeteilt. Ein Spezialist erstellte jährlich jeweils ein Resümee und machte damit - unterstützt durch ein Register - die zunehmende Fülle von Fachliteratur leicht zugänglich.258 Nach diesem Vorbild wurden im Deutschen Reich seit den 1870er Jahren eine ganze Reihe weiterer medizinischer Jahresberichte gegründet.259 Auch die Jahresberichte nutzte Virchow als Instrument zur Stärkung seiner eigenen wissenschaftlichen Positionen. So kritisierte 1854 das Monthly Journal of Medical Science das in dieser Zeitschrift angewandte Verfahren, jeweils einen Experten mit einem Uberblick über sein Fachgebiet zu betrauen. Dies führe 193
dazu, dass manche von ihnen der Versuchung erlägen, ihre eigenen Beiträge herauszuheben und diejenigen, die eine abweichende Meinung besäßen, mit Verachtung zu belegen: „Dies lässt sich besonders an den knurrenden Veröffentlichungen Virchows beobachten, wo jegliche seiner eigenen entgegengesetzte Meinung mit Ausrufezeichen gekennzeichnet und jeder Zweifel an der Richtigkeit seiner eigenen Theorien als einzigartiger Starrsinn charakteri• 1 «260 siert wird. Virchows Stellung als Ordinarius in Würzburg von 1849 bis 1856 und seine Mitgliedschaft in der dortigen Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft hatte es überdies mit sich gebracht, dass er von 1850 bis 1851 gemeinsam mit dem Histologen Rudolf Kölliker und dem Chemiker Johann Joseph Scherer zum Herausgeber der Verhandlungen der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft wurde. Sein Ausscheiden aus der Herausgeberrolle hing dabei vor allem damit zusammen, dass er seit 1851 zum Vorsitzenden dieser Gesellschaft gewählt wurde. 61 Dort begab er sich auf das Gebiet der Vereinszeitschrift, ein Medium, das für ihn besonders wichtig im Hinblick auf die von ihm prinzipiell angestrebte Öffentlichkeit wissenschaftlicher Vereine und ihrer Arbeit war. Allerdings stellte er zugleich die skeptische Frage, welche Gesellschaft Schriften veröffentlicht hätte, „welche dauernd ein großes Publikum gefunden hätten?" So erfreuten sich die Würzburger Verhandlungen zwar großer Anerkennung, doch machte ihr Verleger ein schlechtes Geschäft.262 Exemplarisch zeigten sich die Schwierigkeiten der Gründung von Zeitschriften durch Vereine bei der von Virchow 1869 gemeinsam mit Adolf Bastian und Robert Hartmann als Organ der Berliner anthropologischen Gesellschaft gegründeten Zeitschrift für Ethnologie, die von Paul Parey in Berlin verlegt wurde. Angefügt waren ihr die Verhandlungen dieser Gesellschaft, deren arbeitsintensive Redaktion gleichfalls weitgehend in Virchows Händen lag.26 Diese Zeitschrift beanspruchte einen Großteil der finanziellen Ressourcen der Berliner anthropologischen Gesellschaft, bildete aber auch einen ständigen Konfliktherd. Mit der Mitgliedschaft in diesem Verein war der Bezug der Zeitschrift gekoppelt, was dieser eine weite Verbreitung sicherte. Ein nicht unerheblicher Teil der Auflage ging auf diese Weise in das Ausland. Allerdings begrenzte die deutsche Sprache auch damals schon die Reichweite der Verbreitung gegenüber konkurrierenden Journalen in englischer oder französischer Sprache.264 Aufgrund des ständig wachsenden Umfangs der Zeitschrift mussten regelmäßig Staatszuschüsse an den Verlag gezahlt werden, 1889 beispielweise immerhin 3.351 Mark.265 Der preußische Staat zeigte auf diese Weise aktives Interesse an der Institutionalisierung neuer Disziplinen und initiierte gelegentlich sogar selbst die Gründung neuer wissenschaftlicher Zeitschriften. So regte Kultusminister von Gossler an, dass seit 1890 die Nachrichten über deutsche Alterthumsfunde der Zeitschrift für Ethnologie als weiteres Beiblatt angefügt wurden.266 194
Das phasenweise schwierige Verhältnis zwischen der Berliner anthropologischen Gesellschaft und dem Verlag verweist auf einige grundsätzliche Probleme beim Verlegen wissenschaftlicher Zeitschriften. Das Misslingen eines zufriedenstellenden Verhältnisses, so schrieb ein verärgertes Mitglied, „ist um so ärgerlicher, je bekannter der Grundsatz der deutschen] Buchhändler ist, an den gelehrten Gesellschaften so viel als möglich zu verdienen, weil die Luft von der Menge nicht gefüllt wird."267 Umgekehrt schmälerte aber der preisreduzierte Bezug der Zeitschrift durch Mitglieder die Gewinnspanne des Verlegers gegenüber dem freien Verkauf. Überdies verringerte auch das zunehmende Volumen der Hefte den Gewinn des Verlegers, der deshalb auf eine Einhaltung des vertraglich festgelegten Umfangs pochte. 6 1882 ging das Projekt schließlich von dem Verleger Parey auf die Buchhandlung Asher & Co. über, die sich auf ethnologische und anthropologische Veröffentlichungen zu spezialisieren suchte, und bei dieser Gelegenheit verbesserten sich auch die Konditionen für die Berliner anthropologische Gesellschaft. So konnten nunmehr auch wieder Honorare für die Beiträge gezahlt werden, worauf aufgrund finanzieller Schwierigkeiten seit einiger Zeit verzichtet worden war.269 Virchow investierte viel Zeit in diese wissenschaftlichen ZeitschriftenUnternehmungen und entwickelte bei der Redaktion „die pedantische Sorgfalt eines tüchtigen Kanzleibeamten" . Zugleich bekannte er aber, „daß noch kein Redacteur eines medizinischen Journals dadurch in den Ruf eines bedeutenden Mediciners gekommen ist, daß er Redacteur war."271 Die Bedeutung dieser Position lag deshalb vor allem darin, dass er sich hier als wissenschaftlicher Torwächter betätigen konnte, wovon er auch im Hinblick auf die Anthropologie starken Gebrauch machte. Die Herausgabe und Redaktion wissenschaftlicher Zeitschriften besaß somit für Virchow zwar große Bedeutung als Medium wissenschaftlichen Erfolges, doch konnte dies die Publikation eigener Forschungsergebnisse nicht ersetzen. Wissenschaftliche
Publikationen
Virchow verfasste neben unzähligen wissenschaftlichen Artikeln zahlreiche Monographien, Handbücher und Aufsatzsammlungen.272 Während die Aufsätze meist neue Forschungsergebnisse präsentierten, dienten die übrigen Publikationen vor allem der Synthese. Wichtig waren aber auch programmatische Schriften wie die 1849 bei Georg Reimer erschienenen Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin 7\ Dieses Büchlein bildete „eine Art von Abschieds-Programm" vor seinem Weggang von Berlin nach Würzburg. Es handelte sich gewissermaßen um ein wissenschaftliches „Glaubensbekenntnis", in dem Virchow zeigen wollte, dass er „wirklich im Prinzip über die bestehenden Systeme und Theorien hinausgehe. Es ist damit zugleich der Weg vorgezeichnet, den meine Studien fortan einhalten sollen."274 195
Mit diesem Bändchen, das in die Kapitel „Der Mensch", „Das Leben", „Die Medicin", „Die Krankheit" und „Die Seuche" eingeteilt war, formulierte er sein Konzept einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin in Form eines philosophisch-theoretischen Forschungsprogramms, auch wenn er selbst einräumte, dass es etwas flüchtig formuliert sei.275 Zugleich erkannte Virchow aber die große wissenschaftsstrategische Bedeutung von Handbüchern und Kompendien. Damit stand er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, denen das Verfassen derartiger Werke als wissenschaftlich unproduktiv erschien, weil dies dem durch den Forschungsimperativ geprägten neuen Selbstbild des Naturwissenschaftlers widersprach.276 Seit 1849 plante er für einige Zeit, „ein großes Handbuch der pathologischen Anatomie" zu verfassen, was zum Teil auch ein Reflex auf seine für einige Zeit unsicher gewordenen Berufsaussichten war. Uber die Veröffentlichung verhandelte er wiederum mit Georg Reimer, der dieses Projekt nachdrücklich unterstützte,277 bedeuteten doch Handbücher verlegerisch ein besseres Geschäft als spezielle Forschungsliteratur. Reimer schlug ihm dazu eine Auflage von 1.500 Exemplaren vor und offerierte ein Honorar von 20 Talern bzw. 35 Gulden pro Bogen278 - während er für die Einheitsbestrebungen insgesamt lediglich 30 Taler gezahlt hatte.279 Virchow erschien dies als zu wenig, doch rechtfertigte Reimer seine Kalkulation damit, dass ein auf Studierende zielendes Buch keinen zu hohen Verkaufspreis haben dürfe: Üblich sei bei wissenschaftlichen Büchern im Buchhandel bei einer Auflage von 1.000 Exemplaren ein Honorar von 10 Talern pro Bogen.280 Virchows Publikationspläne waren nicht unerheblich von seiner allgemeinen Lebensperspektive abhängig. So dachte er 1851 über eine englische Ubersetzung des projektierten Handbuchs nach, wobei er vor allem den nordamerikanischen Markt im Auge hatte, denn „in England lesen doch schon sehr viele Aerzte deutsch, in Amerika außer den Eingewanderten fast niemand." Solche Überlegung standen im Zusammenhang der politischen Unterdrückung nach der Revolution, als er, wie gesagt, einige Jahre lang mit dem Gedanken spielte, in die USA auszuwandern. Um sich dort eine Existenz aufbauen zu können, so Virchow 1851, sei „es aber nicht unwichtig, gekannt zu sein."21 Das Handbuch-Projekt schleppte er zwar wenigstens bis 1863 weiter, doch wurde es nie ausgeführt. An dessen Stelle war in gewisser Weise die Mitarbeit an einem sechsbändigen Handbuch der speciellen Pathologie und 282 Therapie getreten, das von 1854 an erschien. Virchow selbst schrieb den allgemeinen Teil und führte die Redaktion dieses unter Beteiligung der bedeutendsten Kliniker Deutschlands zustande gekommenen Werks, das zum Vorbild kollektiv verfasster Handbücher in Deutschland wurde . Der Gemeinschaftscharakter dieser Veröffentlichung bildete aber zugleich auch ein Hindernis dafür, es für die Durchsetzung seines eigenen wissenschaftlichen Ansatzes verwenden zu können. Hinzu kam, dass ihn der Handbuchstil dazu zwang, ausführlich die Ergebnisse anderer Autoren zu referieren. Der 196
Effekt, den Lehrbücher zu bestimmten Zeiten erreichen können, nämlich hilfreich für den Prozess der Begründung einer Disziplin zu sein,284 ließ sich damit nicht erreichen. Entscheidend für die endgültige Durchsetzung seiner medizinischen Auffassungen war sein 1858 bei August Hirschwald erschienenes Buch über Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre285, das eine popularisierte Synthese seiner bisherigen Arbeiten darstellte. Damit vervollständigte, systematisierte und verfestigte Virchow die Orientierung auf die Zelle als Grundeinheit der Pathologie, die sich über Jahre hinweg vorbereitet hatte. An dieser Stelle interessiert jedoch nicht so sehr die umstrittene Frage, inwieweit diese Theorie eine originelle Leistung darstellte, sondern auf welche Weise er seine Ideen als anerkanntes „Wissen" durchsetzen konnte. Damit ging die Leistung einher, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhandenen Ideen zu einem System zu formen und sie dabei durch neue Begriffe auch in einer dramatischen Art und Weise zu präsentieren. 286 Bereits Erwin Ackerknecht bemerkte, dass der „Historiker wahrscheinlich weniger von Virchows Entdeckungen beeindruckt (sei) als von seiner Gabe, die Menschen zu veranlassen, seine Gedanken anzunehmen."287 Dem ist mit Ludwik Fleck hinzuzufügen, dass Wissenschaftspopularisierung nicht lediglich der Stellenwert der Diffusion gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis zukommt, sondern einen eigenen epistemologischen Stellenwert besitzt. Demzufolge erhalten wissenschaftliche Theorien ihre einfache und klare Form durch die Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse durch Handbücher und Darstellungen für Nicht-Fachleute: „Gewißheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort."288 Die Cellularpathologie ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Wie schon gesagt hatte Virchow das Grundkonzept seiner Zellularpathologie bereits 1855 in einem Artikel in seinem Archiv veröffentlicht. Der dort geprägte suggestive Ausspruch „Omnis cellula a cellula "289 wurde zu einem Leitmotiv der neuen biologischen Forschung. Das drei Jahre später folgende Buch entstand dann aus einer Reihe von Vorlesungen in einem Kursus für Berliner praktische Arzte, die Virchow während der Semesterferien gehalten hatte. Diese ließ er durch einen Stenographen, mit dem er den Erlös des Buchs teilen wollte, nachschreiben und schickte die korrigierte Reinschrift in die Druckerei.290 So verdient sich die Prägnanz der Zellularpathologie auch einem Ubersetzungsprozess für ein nicht-spezialisiertes Publikum. Dieses Werk wurde zu einem großen Publikumserfolg und erfuhr bereits zu Virchows Lebzeiten fünf Auflagen im Deutschen sowie fünf Ubersetzungen, die gleichfalls zahlreiche Neuauflagen nach sich zogen.291 1860 verlegte John Churchill eine englische Ubersetzung der Cellular pathology in London, nachdem noch 1858 die nordamerikanischen Verleger Blanchard und 197
Lee in Philadelphia es abgelehnt hatten, einen derartigen spekulativen deutschen Text zu veröffentlichen.292 Gleichfalls 1860 erschien auch eine amerikanische Ausgabe, der in den kommenden Jahren zahlreiche Neuauflagen folgten, sowie eine niederländische Ausgabe. Nach gezielten Anstrengungen Virchows, die Cellularpathologie in Frankreich zu veröffentlichen und damit seinen Ansatz auch dort zu verbreiten,293 erschien 1861 die von Paul Picard übersetzte Pathologie cellulaire, die bis 1874 gleichfalls schon vier Auflagen erreichte. 1863 erschien in Italien La patologia cellulare, deren zweite Auflage schon 1865 folgte. Die Cellularpathologie war somit ein medizinischer Welterfolg, der Virchows Ruhm seit den sechziger Jahren international begründete und auch erhebliche Tantiemeneinkünfte mit sich gebracht haben dürfte. Auch die 1862 im Georg-Reimer-Verlag erschienenen Vier Reden über Leben und Kranksein294 basierten auf Vorträgen teils populärwissenschaftlicher Natur, die Virchow in den Jahren 1858 bis 1862 vor der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte, dem Wissenschaftlichen Verein der Singakademie sowie dem Verein junger Kaufleute „Vorwärts" in Berlin gehalten hatte. Theodor Goldstücker, der sich für Virchow als Literaturagent auf dem englischen Markt betätigte, schlug ihm - nach dem erfolgreichen Vorbild der Cellularpathologie - sogleich eine Ubersetzung der Vier Reden vor. Virchow lehnte dies jedoch ab, da diese Veröffentlichung seiner Meinung nach nicht dem englischen Geschmack entsprach: „Einmal nicht wegen der Richtung des Denkens, die darin steckt, u. zum anderen Male nicht wegen des durchgehend national-deutschen Grundzuges derselben, der sich nirgends verleugnet u. der wahrscheinlich die Engländer beleidigen wird." Deshalb betrachtete er ein solches Unternehmen im besten Falle als Zeitverschwendung, im ungünstigsten Falle aber sogar als schädlich.295 Während Virchow also einerseits die Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis vertrat, unterschied er andererseits unterschiedliche nationale wissenschaftliche Denkstile. Nach der Cellularpathologie erschienen in den sechziger Jahren noch einige weitere seiner großen medizinischen Werke, darunter ein dreibändiges Werk über Tumore, das seit 1863 bei August Hirschwald erschien. 6 Allerdings lieferte Virchow seit dem Ende der 1860er Jahre keine neuen Beiträge mehr für die pathologische Anatomie. Virchows kreative Phase auf diesem Gebiet konzentrierte sich damit auf jene Blütezeit deutscher wissenschaftlicher Produktivität im Bereich der Medizin, die etwa von 1820 bis 1870 reichte, und fiel dann allmählich ab.297 Auffällig ist die sich bereits früh abzeichnende Neigung Virchows zur Wiederveröffentlichung einzeln abgedruckter Aufsätze und Vorträge in Sammelbänden, wie etwa die 1856 im Frankfurter Verlag Meidinger Sohn & Comp, erschienenen Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medizin™. Goldstücker gegenüber hatte er zuvor angekündigt, dort, falls noch Platz sei, mit einem Artikel aus der medicinischen 198
Reform zu schließen, „obwohl das wieder einmal etwas unpolitisch ist. Indeß haben sich die Leute bei mir etwas daran gewöhnt, daß ich von Zeit zu Zeit etwas Unerwartetes leiste, so daß ich hoffe, sie werden das auch ertragen. Deinetwegen möchte ich doch noch am Ende etwas bringen, das dir besser Eindruck macht, als die Mitte." 2 9 Möglicherweise schien ihm dies dann im Hinblick auf die laufenden Berufungsverhandlungen mit Berlin doch als zu riskant - am Ende erschien das zweibändige Werk jedenfalls ohne einen solchen politisch anstößigen Beitrag. Dies holte er erst in den 1879 in zwei Bänden bei August Hirschwald erschienenen Gesammelten Abhandlungen
aus dem Gebiet der öffentlichen
Medizin und der Seuchenlehrem
nach, die er
mit dem Wiederabdruck einer Anzahl seiner kritischen Veröffentlichungen aus den Jahren 1848/49 eröffnete. In seinen späteren Jahren pflegte Virchow gelegentlich mit seinem einstigen jugendlichen Radikalismus zu kokettieren, womit er vermutlich auf Vorwürfe gegen seinen wachsenden politischen und wissenschaftlichen Konservativismus reagierte. Ein wichtiges Motiv für die Wiederveröffentlichung älterer Artikel in Sammelbänden war die von Virchow für notwendig gehaltene Orientierung der Wissenschaft auf die Öffentlichkeit. 1898, am Ende seiner Laufbahn, urteilte er in einem Interview: „Hätte Darwin nicht die Darwinisten gehabt, er würde nie so populär geworden sein. Unsere heutige Wissenschaft hat einen großen Fehler, daß sie viel zu viel untersucht und zu wenig Spektakel macht, eine eigentliche richtige Bewegung ist zur Stunde nicht zu konstatiren." 1 Zu Recht wurde Virchow als medizinischer „Propagandist" bezeichnet, der viel aus seiner politischen Arbeit für seine wissenschaftspublizistische Tätigkeit gelernt habe.302 So dienten etwa seine vielen Leitartikel, Rückblicke und wissenschaftshistorischen Ausführungen dem Zweck, seine eigenen Standpunkte immer wieder erneut zu referieren. Mit Bezug auf seine Kritiker beurteilte er dagegen das Phänomen der Verfestigung von Positionen in der Wissenschaft durch ständige Wiederholungen durchaus kritisch: „Denn nicht bloß in der Politik frisst die Phrase sich ein und geht nachher unter den Leuten um, wie ein Gespenst; auch in der Medizin gibt es Redensarten genug, die ein solch' gespenstisches Bürgerrecht gewonnen haben" . Allerdings stand Virchow unter seinen Zeitgenossen mitunter selbst in dem zweifelhaften Ruf, überaus intensiv von der suggestiven Wirkung der Wiederholung Gebrauch zu machen und seine publizistische Machtposition einzusetzen, um seine Begriffe bzw. seine wissenschaftlichen Anschauungen zu popularisieren. Der Chirurg Theodor Billroth bemerkte 1858, Virchow habe, obwohl er „doch gewiss mehr wie jeder Andere vom wissenschaftlichen Publikum auf Händen getragen wird, (...) eine peinliche Angst, vergessen und übersehen zu werden"304, und Carl Wunderlich hielt ihm die „bis zur Unsitte gesteigerte Gewohnheit" vor, „immer wieder die eigenen Worte zu wiederholen" 305 . Wilhelm Griesinger ließ 1858 in einer Satire auf Virchow, der dort als Menander auftrat, zwei griechische Arzte, Creon und Nikias, 199
über die in der Cellularpathologie propagierte Umorientierung der Grundlagen der Medizin auf die Zelle und vor allem über Virchows Anstrengungen zur Popularisierung dieses Konzepts spotten: „C.: Der grosse Menander hat wieder eine neue Zelle entdeckt. Ganz Athen läuft hin, sie zu sehen." Griesinger karikierte in diesem fingierten Dialog auch die bemerkenswerte Häufigkeit von Selbstzitaten in den Publikationen Virchows: „N.: Ja, im Selbstzitieren ist Menander groß." - C.: (...) Goldene Worte kann man nicht oft genug sagen. Er weiß recht gut, dass man ihn darum um so mehr bewundert. Auch lässt er sich nicht stören und hat sich im letzten Leitartikel auf 63 Seiten 102 mal selbstcitirt."306 Neue wissenschaftliche Konzepte müssen jedoch nicht nur unter Fachleuten durchgesetzt werden, sondern verlangen gelegentlich individuelle und kollektive Verhaltensänderungen des Laienpublikums, weshalb ihre öffentliche Akzeptanz in solchen Fällen durch einen Prozess der Popularisierung erreicht werden muss. Dies galt weniger für das Konzept der „Zelle" als vor allem für die Trichinen, für deren Erforschung und Popularisierung Virchow gleichermaßen eine zentrale Rolle spielte. Bei diesen handelt es sich um sich im Muskelgewebe von Schweinen vermehrende Parasiten, die durch den Konsum von Schweinefleisch auf den Menschen übertragen werden und dort zu gefährlichen Erkrankungen führen können. Die Existenz der Trichinen musste der Öffentlichkeit, die zunächst an einen von Ärzten und der Presse erzeugten künstlichen „Trichinenschwindel" glaubte, gegen vielerlei Widerstände erst als allgemein akzeptierte wissenschaftliche „Wahrheit" vermittelt werden. Diesem Zweck diente ein 1861 von Virchow bei Georg Reimer veröffentlichtes Büchlein über Die Lehre von den Trichinen, mit Rücksicht auf die dadurch gebotenen Vorsichtsmaßregeln für Laien und Aerzte dargestellt, dem schon bald eine zweite Auflage folgte. Diese Publikation wandte sich, wie der Untertitel ausdrücklich hervorhob, gleichermaßen an Ärzte und Laien, um Vorsichtsmaßregeln gegen den Trichinenbefall zu verbreiten. Hier wurde zwar die Grenze zwischen spezialisiertem und nicht-spezialisiertem Publikum übersprungen, doch war diese Veröffentlichung ganz von der Haltung des wissenschaftlichen Experten geprägt, der sein gesichertes Wissen in vereinfachter Form an ein unwissendes Publikum weiterreicht. Im Folgenden wird deshalb der Beitrag Virchows zur Popularisierung von Naturwissenschaft im Rahmen populärwissenschaftlicher Publizistik erörtert. Welche Rückschlüsse auf die Entwicklung des Verhältnisses von Wissenschaft und Öffentlichkeit lassen sich daraus ziehen? Populärwissenschaftliche
Literatur
Virchow gehörte zu der Minderheit von Vertretern des wissenschaftlichen Establishments, die sich auf dem Feld der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens sowohl für andere Fachleute als auch für nicht-speziali200
sierte Laien betätigten.308 Nicht von ungefähr datiert der Beginn seines Engagements auf dem Feld populärwissenschaftlicher Publizistik auf den Anfang der 1860er Jahre: Seit dieser Zeit war seine wissenschaftliche Autorität unangefochten. Zugleich stand sein Einsatz für die Wissenschaftspopularisierung im Zusammenhang mit der zu dieser Zeit an Stärke gewinnenden liberalen Nationalbewegung, für die das Vertrauen in die liberalisierende Macht der Naturwissenschaft eine zentrale Rolle spielte. Seit Anfang dieses Jahrzehnts veröffentlichte Virchow regelmäßig populärwissenschaftliche Artikel in Berthold Auerbachs deutschem Volkskalender. Dazu gehörte etwa sein Beitrag „Wie der Mensch wächst", der die Lebens- und Wachstumsvorgänge von Pflanzen, Menschen und Gesellschaften zueinander in Beziehung setzte.309 An selber Stelle folgten Artikel „Uber Fleischessen und Fleischbrühe"310 und „Uber Bekleidungsstoffe" 3n , worin Virchow die Prinzipien rationeller Ernährung erläuterte bzw. die moderne, bürgerliche Kleidung als vernünftige Bekleidung in einen Gegensatz zur Funktion von Bekleidung zur Markierung einer ständischen Ordnung stellte. Mit diesen Publikationen befand sich Virchow in Gesellschaft prominenter liberaler und demokratischer Autoren wie Gottfried Keller, Adolph Menzel, Berthold Sigismund, Aaron Bernstein und anderen. Die Zusammenarbeit mit Auerbach, die auf eine bis in die 1840er Jahre im Kreise der Familie Mayer entstandene Bekanntschaft zurückreichte, sollte schließlich 1871 nach der Reichsgründung in das - allerdings nicht zustande gekommene - Projekt eines einheitlich an allen deutschen Schulen einzuführenden Schullesebuchs münden. „Dadurch", so warb Auerbach bei Virchow, „soll der gesammten Nation derselbe Jugendeindruck gegeben werden, eine allverbreitete Einheit der Empfindung, womit auch gegeben wäre, daß man bei einer mündlichen oder schriftlichen Ansprache in jedem deutsch redenden Menschen bestimmte Voraussetzungen haben und einen sicheren Wiederklang erwarten kann." Dies zielte darauf, die nach der Reichsgründung geschaffenen nationalen Institutionen und Symbole in wirkungsvoller Weise zu ergänzen. Virchow sollte die Auswahl der naturwissenschaftlichen Teile übernehmen, Friedrich von Holtzendorff das Rechts- und Staatsleben, Heinrich Kiepert die Geographie, Ernst Engel die Statistik, Johann Gustav Droysen oder Heinrich von Sybel die Geschichte und Auerbach selbst „die Poesie"3'2. Virchows Prominenz verschaffte ihm auch in Zukunft immer wieder Anfragen, die auf seine Mitarbeit an populärwissenschaftlichen Unternehmungen zielten. Dazu gehörte die Bitte Henri Dunants, der 1868 um seine Unterstützung für das Projekt einer Bibliotheque internationale universelle anfragte. In dieser geplanten Buchreihe sollten, so Dunant, die wichtigsten Werke der zivilisierten Welt zum Nutzen des „wahren Fortschritts" veröffentlicht werden. Virchow sollte insbesondere geeignete Personen benennen, die die Auswahl der deutschen Literatur besorgen könnten.313 Für eine solche Position bot er sich auch deshalb an, weil er seit Mitte der sechziger Jahre zu 201
einem Hauptorganisator populärwissenschaftlicher Vorträge und Publikationen wurde, die vor allem auf die Verbreitung naturwissenschaftlicher Bildung unter Handwerkern und Arbeitern zielten. Dabei konnte er auf seine zahlreichen Kontakte zu mit ihm bekannten Naturwissenschaftlern zurückgreifen.314 Auf der Naturforscherversammlung in Hannover 1865, wo Virchow einen Vortrag zum Thema der nationalen Entwicklung und Bedeutung der Naturwissenschaften hielt, stellte er einen Antrag zur Abstimmung, der darauf zielte, „Formen zu finden, durch welche die Naturforscherversammlung in nähere Beziehung treten kann mit der Bevölkerung."315 Auf diesem Weg ging er selbst tatkräftig voran, denn im nächsten Jahr gründete Virchow zusammen mit dem Juristen Friedrich von Holtzendorff die Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge. Nach dem Tod des Kompagnons übernahm der Historiker Wilhelm Wattenbach die Mitherausgeberschaft und sorgte zugleich für eine stärker historische Ausrichtung des Programms. Als 1897 auch dieser verstarb, führte Virchow die Geschäfte noch einige Jahre allein weiter. Das bis zur Einstellung der Reihe im Jahre 1901 auf über 700 Hefte angewachsene Programm umfasste Titel zum Thema Naturwissenschaften und Medizin, Geschichte und Kulturgeschichte, Recht, Literatur, Philosophie und vor allem in den ersten Jahren auch zu aktuellen sozialpolitischen Fragen, die aus liberaler Perspektive behandelt wurden. Unter den Autoren fanden sich zahlreiche herausragende Fachleute und anerkannte Wissenschaftler, worin sich das große Renommee der Herausgeber niederschlug. Damit hebt sich diese Reihe von anderen populärwissenschaftlichen publizistischen Unternehmungen ab, die vor allem von solchen Autoren getragen wurden, die keine reguläre wissenschaftliche Karriere eingeschlagen hatten.316 Die ersten Jahrgänge erschienen in Berlin in der C. G. Lüderitz'schen Verlagsbuchhandlung. Als das Unternehmen 1873 zu dem Verlag von Carl Habel wechselte, sah der neue Vertrag vor, dass die Autoren bis zu einer Auflage von 4.500 Exemplaren mit 50 Talern bezahlt würden, Doppelhefte mit dem doppelten Betrag. Jede folgende Auflage von 1.000 Exemplaren sollte mit 20 Talern honoriert werden. 1 1886 wurden diese Honorare gestaffelt und damit stärker vom tatsächlichen Verkaufserfolg abhängig.318 Schon bald nach dem Start besaß die Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge 1.900 feste Abonnenten. Gleichwohl erwies sich diese Reihe als ein finanziell unsicheres Unternehmen. Auch der Verleger Carl Habel verlor schließlich das Zutrauen, weshalb zuletzt der J. J. Richter-Verlag in Hamburg das Projekt übernahm.319 Finanzielle Argumente des Verlags führten aber dazu, dass das Unternehmen nach 35 Jahren schließlich eingestellt J
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wurde. Die Gründe für die nach der Reichsgründung allmählich nachlassende Popularität dieser Reihe, die sich in schwindenden Abonnentenzahlen ausdrückte, lagen dabei gleichermaßen in einem gewandelten thematischen Inte202
resse des Publikums, in strukturellen Veränderungen des literarischen Marktes sowie auch in Schwierigkeiten des hier zugrunde gelegten Modells von Wissenschaftspopularisierung. Die Vorträge waren ursprünglich, wie Virchow erläuterte, darauf zugeschnitten, in Arbeiterbildungsvereinen „vorgelesen und gedeutet zu werden". Dieses dem Modell der Exegese der Heiligen Schrift nachempfundene Muster, das dem Publikum eine weitgehend passive Rolle zuschrieb, wurde bald durch freie Vorträge und Diskussionen verdrängt.321 Das diffusionistische Konzept von Wissenschaftspopularisierung, wonach das Laienpublikum wissenschaftliche Wahrheiten aus den Händen von Experten entgegennehmen solle, 22 stieß so im Zuge der Trennung von Liberalismus und Arbeiterbewegung an eine Grenze. Zudem forderte der Markt zunehmend andere Inhalte und Formen als hier geboten wurden: „Das Publikum verlangte andere Speise; ist es doch niemals möglich geworden, unsere Sammlung in die Reise-Lektüre einzuführen, so sehr sie sich dazu eignete. Auch konnten wir den Weg der Illustration in einer so späten Stunde nicht mehr betreten."323 Virchow selbst bediente dieses populäre Bedürfnis in den 1880er und 1890er Jahren etwa durch Berichte für Die Gartenlaube und Die Nation über seine Reisen mit Schliemann nach Troja und nach Ägypten,324 an denen solche Publikumszeitschriften eine unstillbare Nachfrage besaßen. Auf diese Weise versuchte Virchow zugleich die Akzeptanz der Öffentlichkeit für die Finanzierung wissenschaftlicher Auslandsexpeditionen zu steigern, woran er etwa im Rahmen seiner Tätigkeit als Kurator für die Alexander-von-Humboldt-Stiftung 5 großen Anteil nahm. Wissenschaftspopularisierung mit publizistischen Mitteln diente Virchow somit einerseits zur Verbreitung positiven Wissens über Natur und Gesellschaft und andererseits zur Verbesserung der kulturellen und politischen Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Forschung. Dazu gehörte die Vergrößerung der öffentlichen Akzeptanz für teure Forschungseinrichtungen, aber auch etwa für wissenschaftliche Experimente, wobei Tierversuche ein besonders umstrittenes Thema bildeten. Wissenschaftspopularisierung unterstützte damit den Versuch, die Autorität moderner Naturwissenschaft in der Öffentlichkeit zu sichern, wozu eine strenge Grenzziehung von Laienund Expertenwissenschaft gehörte. Zugleich sollte sie aber auch Gemeinsamkeiten von Laien und Experten herstellen. Dieses Ziel verfolgte Virchow vor allem auf dem Wege der Popularisierung der sogenannten „naturwissenschaftlichen Methode" 3 6, die ihm zufolge die Grundlage moderner naturwissenschaftlicher Arbeit überhaupt darstellte. So sprach er in seinem 1901 verfassten Schlusswort zur Einstellung der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge den Wunsch aus, „daß die durch uns gepflegte Methode der selbständigen Beobachtung und Beurtheilung den kommenden Geschlechtern erhalten bleibe."327 Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle Virchows bei der Verbreitung von Elementen wissenschaftlicher Praxis, der im folgenden Abschnitt nachgegangen wird. 203
e) D a s Pathologische Institut als Schule des „Sehens" Vor seiner Rückkehr von Würzburg nach Berlin veranstalteten Professoren und Studenten am 19. Juli 1856 ein Abschiedsfest für Virchow. In seiner Ansprache an die Anwesenden hob dieser einem Bericht Ernst Haeckels zufolge hervor, dass „sein ganzes wissenschaftliches und menschliches Streben und Denken, Dichten und Trachten einzig allein der rücksichtslosen, unbedeckten Wahrheit, ihrer vorurteilsfreien Erkenntnis und unveränderten Verbreitung gelte; wie er in dem konsequenten Streben nach diesem einen Ziel seine einzige Befriedigung finde, (...) und wie er diesen Weg der rücksichtslosen, lautern Wahrheit stets verfolgen werde, auch in Zukunft, unbeirrt von allen Anfeindungen. D a n n ermunterte er uns, immer in unserem Streben zu beharren, daß die studierende Jugend, und insbesondere die medicinische (...) das einzige kernhafte Element sei, aus dem sich immer wieder ein guter Stamm deutscher Männer voll Wahrheit und K r a f t rekrutieren könne. D a z u ermahnte er uns, immer mehr alle Vorurteile abzulegen, mit denen wir leider von Kind auf an so vollgestopft werden, und die Dinge so einfach und natürlich anzusehen, wie sie sind." 3 2 8
In seinen Abschiedsworten entfaltete Virchow somit ein Programm, das an die zentrale Rolle des Begriffs der „Wahrheit" im naturwissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts anschloss. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und später in den USA war „Wahrheit" seit etwa 1830 zum Kampfbegriff aufgestiegen, mit dem die empirisch orientierten Naturwissenschaften ihre Überlegenheit gegenüber rationalistischen und naturphilosophischen Systemen legitimierten. Die Forderung nach „Wahrheit" unterstützte dabei die Institutionalisierung und Professionalisierung der Naturwissenschaften bzw. der Medizin.329 Die von Virchow auch in seinem berühmten Aufsatz über die Cellular-Pathologie erhobene Forderung nach der „Autorität der Tatsachen", der „Berechtigung des Einzelnen" und der „Herrschaft des Gesetzes" 330 lässt sich freilich auch als ein politischer Machtanspruch des modernen, empirischen Naturwissenschaftlers lesen. Virchow steht somit für jenen Typus moderner naturwissenschaftlicher Autorität, der bis zur Mitte dieses Jahrhunderts eng mit den Idealen und Praktiken der „Wahrheit" verknüpft war. Letztere wurde jedoch unter dem Eindruck der immer schnelleren Ablösung wissenschaftlicher Lehrmeinungen mehr und mehr durch „Objektivität" und „größtmögliche Wahrscheinlichkeit" abgelöst. 1 Solchen relativistischen Ansätzen trat Virchow jedoch beharrlich gegenüber. Noch auf der Naturforscherversammlung 1877 forderte er die strikte Beschränkung auf die Vermittlung gesicherter Wahrheiten im Rahmen des Schulunterrichts, um negative Rückwirkungen auf die Autorität der Naturwissenschaften durch die Erfahrung wechselnder wissenschaftlicher Wahrheiten zu vermeiden.332 Hier wird somit ein wichtiger Teil der herrschenden 204
naturwissenschaftlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts greifbar, die sich zugleich in einer Kultur der „Wahrheit" und in einem spezifischen Habitus niederschlug. Die Verknüpfung dieser verschiedenen Ebenen wird im Folgenden am Beispiel der Forschungs- und Unterrichtspraxis am Berliner Pathologischen Institut, das von 1856 bis 1902 den Mittelpunkt der pathologischen sowie auch anthropologischen Tätigkeit Virchows bildete, diskutiert. Innerhalb der Gruppe der vor der „institutionellen Revolution" (David Cahan) der 1870er Jahre eingerichteten Institute existierten verschiedene Muster der medizinischen Ausbildung: Die nach 1820 gegründeten Institute hatten sich zunächst auf die forschungsorientierte Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe von Studenten mit einem bedeutenden Wissenschaftler konzentriert. Demgegenüber vermittelten spätere Institutsgründungen auch Durchschnittsstudenten praktische Laborerfahrung, die als Grundlage für gewöhnliche medizinische Karrieren diente. Die Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Methoden in der medizinischen Ausbildung wurde besonders an der Universität Heidelberg vorangetrieben, wo Jacob Henle Mitte der vierziger Jahre mikroskopische Übungen als ein wichtiges didaktisches Hilfsmittel einführte." 3 Diese Neuerungen setzten sich im deutschen Universitätssystem bis zu den fünfziger Jahren allgemein durch. In Berlin war der Wendepunkt in der Einbeziehung praktischer Kurse in die medizinische Ausbildung, die den Gebrauch des Mikroskops und anderer naturwissenschaftlicher Techniken lehrten, um 1845 erreicht.334 Noch 1834 hatte die Berliner Universität nur ein einziges Mikroskop besessen, und in seiner Studienzeit hatte Virchow ein einziges dieser Geräte in Müllers Labor mit seinen Mitstudenten geteilt.335 Im Gegensatz dazu besaß sein Berliner Pathologisches Institut von Anfang an mehr als 14 Mikroskope. Während so Virchows eigene medizinische Ausbildung noch dem älteren elitären Modell entsprochen hatte, wurden später in seinem Institut experimentelle Praktiken für alle Studenten üblich. „Wir sollten nie vergessen, dass es unsere Aufgabe ist, nicht Mikroskopiker, sondern Ärzte zu erziehen, die dem täglichen Bedürfnisse zu genügen wissen" 7, schrieb er 1890. Im Mittelpunkt der medizinischen Ausbildung am Berliner Pathologischen Institut stand die Erziehung zum „naturwissenschaftlichen Denken", wozu vor allem das „Sehen Lernen" bzw. „Mikroskopisch sehen lernen" 338 gehörte. Dies bildete Virchow zufolge die Grundlage zur Produktion unvoreingenommener, .objektiver' Fakten, die dann zu induktiven Schlüssen benutzt werden konnten. So war „Wahrheit" für Virchow „nur Das zu nennen, was die fünf Sinne des Menschen, unter Einhaltung der von den exakten Wissenschaften vorgeschriebenen Beobachtungs- und Folgerungs-Methoden uns als wirklich seiend ( e x i s t i r e n d ) erkennen lassen." 33 Schon während der Revolution 1848 hatte er als Kernpunkt einer zukünftigen fundamentalen Reform der medizinischen Universitätsausbildung gefordert, dass diese in Zukunft auf dem Konzept der „Anschauung" basieren sollte: „Jedermann 205
muß die Thatsachen und die Erscheinungen in möglichst größtem Umfange durch eigene Beobachtung kennen gelernt haben und sich gewissermaßen die Gesetze selbst construiren."340 Dies bezog sich direkt auf die sensualistische Erkenntnistheorie John Lockes, wonach nichts im Verstand sei, was nicht vorher in der Sinneswahrnehmung existiert habe. 41 Diese Herangehensweise stand erstens im Kontext der alten Kontroverse zwischen „Sehen" und „Schauen": Während die Auffassung, die sich mit dem Begriff des „Schauens" verband, auf der Idee insistierte, dass die Essenz der Realität unsichtbar sei, gehörte zum „Sehen" das feste Vertrauen in den Gesichtssinn und seine Fähigkeit, Realität zugänglich zu machen. Mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert hatte eine Rehabilitierung des optischen Sinns stattgefunden, wobei die Priorität des Gesichtssinns und die humanistische Auffassung von zur Aufklärung durch Vernunft fähigen Subjekten eng verbunden waren.342 Einen zweiten Zusammenhang bildet der Umbruch der Auffassungen der Wahrnehmung und des Beobachters, der sich unter dem Einfluss der Physiologie seit den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts angebahnt hatte. Seither setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, wonach das Sehen erlernt werden müsse. Eine wesentliche Rolle für diesen Wandel spielten in Deutschland die Arbeiten von Virchows Lehrer Johannes Müller zur Physiologie der Sinnesorgane. Müller beschrieb „eine zutiefst arbiträre Beziehung zwischen Reiz und Empfindung: einen Körper, der mit der Fähigkeit ausgestattet ist (...), falsch wahrzunehmen, und ein Auge, das Verschiedenes gleich aussehen lässt."343 Seine Schüler zogen daraus die Konsequenz: „Dass Sehen gelernt werden muss, lehrt auch die Physiologie" 4 . Allerdings konnte dies Verschiedenes bedeuten: Während sich etwa Hermann Helmholtz von den Prämissen seines Lehrers weit entfernte und die Auffassung entwickelte, dass „die visuelle räumliche Wahrnehmung vollständig erlernt sei"345, blieb Virchow stärker dem Nativismus Müllers verhaftet: Er betonte die natürliche, angeborene Fähigkeit zum Sehen, die nur durch die Zivilisation behindert sei und deshalb durch strenges Training wiedergewonnen werden müsse. „Sehen Lernen" hieß also für Virchow - anders als für Helmholtz, der die bedeutendste Theorie der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert entwickelte - in erster Linie, eine angeborene Fähigkeit zurückzugewinnen. Darauf basierten auch seine Grundsätze des pathologischen Unterrichts, die er 1890 zusammenfasste: „Die Grundlage alles pathologisch-anatomischen Wissens bildet die Anschauung (...) Daraus ergiebt sich die Forderung, dass dem Lernenden in möglichst größter Ausdehnung die Gelegenheit zum Sehen und auch die Anleitung zum Sehen gewährt werden muss. Diese letztere Anleitung ist um so notwendiger, als erfahrungsgemäss die Jugend unserer gelehrten Schulen das wahre Sehen nicht nur nicht lernt, sondern auch zum nicht geringen Teil verlernt. Man darf diesen Satz sogar noch erweitern, denn er gilt nicht bloß vom Sehen, sondern auch vom Füh-
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len, Riechen u. s. w. Statt,Sehen' kann geradezu .sinnliche Wahrnehmung' gesetzt werden." 346
Wie sah nun die didaktische Praxis am Berliner Pathologischen Institut aus? Im Mittelpunkt stand der Grundsatz, die „dogmatische" durch die „demonstrative" Methode zu ersetzen. Deshalb basierte der Unterricht vor allem auf der Beschreibung und Erklärung pathologischer Präparate. Zu diesem Zweck forderte Virchow auch die ständige Verbindung der Wissenschaft mit wirklichen Gegenständen, wozu Museen, Sammlungen, Laboratorien und Institute benötigt würden. 347 Das 1899 eröffnete Pathologische Museum in Berlin, dessen Kern eine umfangreiche Sammlung pathologischer Präparate zu Lehrzwecken bildete, war somit gewissermaßen der institutionelle Schlussstein dieser Konzeption. 4 8 Ein Zeitungsbericht schilderte die Ausbildung am Berliner Pathologischen Institut folgendermaßen: „Mit den Worten: .Beschreiben Sie nur, was Sie sehen', wird dem .jugendlichen Schwärmer', ein Lieblingswort Virchows, jegliche Aussicht auf philosophische Spekulationen, die in den Räumen des Instituts verpönt sind, abgeschnitten" 3 4 . Ein ehemaliger Schüler betonte gleichfalls den Gegensatz zu der „ältere(n), dogmatis c h e ^ ) Medicin", welche ihre Unkenntnis „mit dem Mangel der Autorität oder der naturphilosophischen Speculationen zu verdecken" getrachtet habe: „Hier dagegen war alles Wahrheit, erweitert und geläutert durch scharfsinnigste Beobachtung" 5 . Dabei handelte es sich auch um einen Widerhall der verbreiteten Rhetorik der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts, die sich durch scharfe Abgrenzung von ihren naturphilosophischen Vorläufern legitimierte und dabei die tatsächlich vorhandenen Kontinuitäten bewusst ausblendete. Die am Berliner Pathologischen Institut gepflegte .Kultur der Wahrheit', die ein wichtiges Element des Selbstverständnisses von Naturwissenschaftlern und Ärzten bildete, basierte auf einem Ensemble von Praktiken, die ihrerseits eng mit materialen Ressourcen verbunden waren. Beim Bau dieses Instituts waren zahlreiche Einrichtungen des Würzburger Pathologischen Instituts, w o Virchow von 1853 bis 1856 als Direktor amtiert hatte, kopiert worden. U m die Vorbereitung des neuen Berliner Instituts besser planen zu können, hatte man sogar den Verwaltungsdirektor der Charite, Carl Heinrich Esse, eigens nach Bayern gesandt.351 Zu den Adaptionen gehörte vor allem die „mikroskopische Eisenbahn" 332 , die zwei zentrale Symbole des Fortschritts vereinigte: das Labor und die Eisenbahn 3 ' 3 . Damit hatte Virchow eine 1846 zunächst von Franz von Rinecker in seinem mikroskopisch-physiologischen Institut eingeführte und im Jahr darauf von Rudolf Kölliker übernommene Innovation zunächst in Würzburg aufgegriffen und dann nach Berlin mitgebracht. 4 Derartige Elemente wissenschaftlichen Arbeitens, die von einem Ort an einen anderen transferiert werden können, bilden zugleich ein wichtiges Element der Gemeinsamkeit disziplinärer Formen an verschiedenen Or207
ten.355 Zusammen mit den räumlichen und technischen Einrichtungen wurde so auch ein bestimmter Arbeitsstil und damit ein wichtiges Element der professionellen Kultur von Würzburg nach Berlin übertragen. Die „mikroskopische Eisenbahn" bildete ein zentrales didaktisches Hilfsmittel in Virchows demonstrativem Kurs über pathologische Anatomie und Pathologie.356 Die Studenten saßen an zwei langen Tischen, in deren Mitte in einer Rinne Schienen verlegt waren, auf denen Mikroskope auf Rädern liefen und von einem Studenten zum nächsten geschoben wurden. Auf diese Weise konnten in einer Sitzung 140 Studenten die Objekte betrachten.357 Demgegenüber arbeitete in den praktischen Kursen jeder Teilnehmer an einem eigenen Mikroskop, um damit den Umgang mit diesem Instrument zu erlernen.358 Hier wurde die für die selbständige Arbeit mit dem Mikroskop erforderliche Disziplinierung der Handhabung und Wahrnehmung betrieben. So kontrollierte Virchow anhand von Zeichnungen, die seine Studenten vor dem Mikroskop anfertigen mussten, deren Fähigkeit, ein mikroskopisches ,Bild' richtig lesen zu können. 5 Begleitet wurde dies in seinen Vorlesungen und Übungen durch ausführliche Erklärungen von Techniken des Beobachtens. Virchows didaktische Praxis basierte vor allem auf der Beschreibung und Erklärung anatomischer Präparate, die er für gewöhnlich aus seiner umfangreichen pathologischen Sammlung mitbrachte. Auf diese Weise wollte er die sogenannte „exakte Methode" vermitteln. Berichte seiner Studenten verweisen allerdings oftmals auf eine Diskrepanz zwischen der bewunderten Exaktheit seiner Methode und seiner gewundenen Sprechweise, die mit philosophischen Exkursen und gelehrten Anspielungen gespickt war und es manchmal schwierig machte, seinen Argumentationen zu folgen.360 Gleichwohl war Virchow für seine Fähigkeit zur exakten Beschreibung berühmt.361 Seine Genauigkeit während der Vorlesungen war sprichwörtlich: Die Beschreibung einer Schädeldecke konnte eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. 6 Die von Studenten unter seiner Aufsicht durchgeführten Sektionen dauerten gewöhnlich drei oder vier Stunden und wurden als eine Art moralischer Spießrutenlauf charakterisiert, bei dem es ihm niemand recht machen konnte. 63 Virchow war davon überzeugt, dass Medizinstudenten die Fähigkeit verloren hatten, ihre Sinne zu gebrauchen und beispielsweise exakte Farbbestimmungen und Größenschätzungen vorzunehmen. Deshalb gebrauchte er verschiedene didaktische Hilfsmittel, um ihnen die ihm vorschwebende exakte Beschreibung beizubringen. So füllte er Gläser mit verschiedenfarbigen Bohnen und anderen Gegenständen und ließ die Studenten die Farben bestimmen.364 Zudem hatte er im Pathologischen Institut Glasschränke anbringen lassen, in denen Vergleichsgegenstände zur Übung der Abschätzung von Maßverhältnissen ausgestellt waren.365 Auf diese Weise sollten sie die von ihm angenommene natürliche Fähigkeit zur Beobachtung wiedergewinnen. Während Virchow so den Gebrauch des Mikroskops in der Ausbil208
dung an seinem Institut stark förderte, legte er zugleich großes Gewicht auf die Schulung der Fähigkeit, mit dem bloßen Auge zu sehen. Einer seiner Studenten berichtete, wie er von Virchow lächerlich gemacht wurde, weil er verneint hatte, dass es möglich sein würde, Trichinen mit dem bloßen Auge zu beobachten - sein Lehrer demonstrierte ihm das Gegenteil. 66 Indem Virchow die Bedeutung des Sehens mit „nacktem Auge" hervorhob, zeigte er sich empfänglich für die verbreiteten Bedenken, wonach die natürliche Fähigkeit des Auges als Folge der Verbesserung optischer Instrumente geschwächt würde.367 So lehnte er es auch ab, bei seiner eigenen Präpariertätigkeit von technischen Innovationen wie leistungsfähigeren Mikroskopen, Doppelmessern und Färbemitteln zu profitieren. Vielmehr blieb er bei seinem Arbeitsstil, den er sich in seinen frühen Jahren angewöhnt hatte: Er arbeitete in erster Linie mit einem einfachen Rasiermesser und genoss seine Geschicklichkeit, damit präzise mikroskopische Schnitte anzufertigen. Der damit verbundene Stolz auf seine handwerkliche Fertigkeit und seinen ,scharfen Blick' gehörte auch zu seiner Selbstdarstellung, 6 wie er andere weniger erfahrene Schüler oft in demütigender Weise erfahren ließ. In seinem 1876 veröffentlichten Werk über Die Sections-Technik im Leichenhause des Charite-Krankenhauses beschrieb Virchow das genaue Vorgehen bei einer gerichtsmedizinischen Leichenöffnung, wie es auch an seinem Pathologischen Institut gelehrt wurde,369 und förderte damit zugleich die weite Verbreitung der von ihm entwickelten Prozedur. Diese bildete auch die Grundlage des 1875 erlassenen preußischen „Regulativs für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichen", dem die Verordnungen der anderen deutschen Bundesstaaten nachgebildet wurden. Auch international besaß Virchow für lange Zeit großen Einfluss auf die Normierung von Standards bei wissenschaftlichen Sektionen, wozu 1876 bzw. 1877 Ubersetzungen der Sections-Technik für den englischen und amerikanischen Markt beitrugen.370 Virchow erläuterte in diesem Werk die genaue Abfolge einer Obduktion, deren Ideal darin bestand, durch große Schnitte die zu untersuchenden Organe so aufzuschneiden, dass man in ihnen wie in einem Buch blättern könne. Dazu gehörten detaillierte Anweisungen zur Technik des pathologischen Schneidens sowie zur Haltung des Körpers und der Hand bei dieser Prozedur, aber auch zu den von ihm selbst aufgrund eigener Erfahrung wie der Beobachtung der Arbeit von Fleischern entwickelten Schneideinstrumenten und ihrer korrekten Handhabung. Ebenso gab Virchow Anweisungen zur Anfertigung der von ihm eingeführten Sektionsprotokolle, die den genauen Ablauf der Untersuchung Schritt für Schritt dokumentieren sollten. Damit formulierte Virchow ein Modell der Fallstudie und normierte dabei eine induktive Herangehensweise bei der Suche nach der Todesursache. Dies unterstützte er durch angefügte Beispiele von Sektionsprotokollen, die mehrfach zeigten, dass die untersuchte Leiche nicht an der offensichtlichen Wun209
de, sondern an zunächst verborgenen Organschädigungen verstorben war. Schritt für Schritt, bzw. Schnitt für Schnitt tastete sich der Pathologe von außen nach innen an eine zunächst verborgene Erkenntnis heran, wobei der genaue Ablauf durch das Protokoll festgehalten wurde. Das Resultat sollte nicht durch vorangehende Hypothesen und Indizien gesteuert sein, sondern erst am Ende als Resultat einer vollständigen Untersuchung festgestellt werden, wenn alle Beweise vor dem kritischen Auge des Pathologen auf dem Tisch lagen. Die „objektive Erkenntnis" unterschied sich somit für Virchow gerade darin von der „subjektiven", d. h. der doktrinären und deduktiven Erkenntnis, dass nicht von vornherein bestimmte Elemente als wesentlich oder unwesentlich für eine Erklärung der Ursachen privilegiert wurden.371 Die Sections-Technik legte somit ein Leitbild disziplinierter Wahrnehmung und Erkenntnis fest, das Virchows epistemologisches Modell in einzuübende und zu verinnerlichende Praktiken zu überführen suchte. So stellt sich die Frage, inwieweit die Ausbildungspraktiken am Würzburger bzw. Berliner Pathologischen Institut dazu beitrugen, einen spezifischen naturwissenschaftlich-exakten Habitus 7 zu formen, für den Virchow selbst, den sein Schüler Carl Schleich als „Heros des Beobachtens und Registrierens" 73 bezeichnete, ein Vorbild abgab. Schilderungen seiner Schüler heben immer wieder darauf ab, dass hierzu auch ein Moment der Arroganz und des Zynismus trat, oder, wie es Haeckel nannte: sein „kalter Verstand"374. Seine Assistenten kopierten ihn bewusst oder unbewusst bis in seinen Redegestus hinein, und auch seine Frau soll nach vielen Ehejahren schließlich seinen körperlichen und sprachlichen Gestus gänzlich übernommen haben. 5 Christopher Lawrence verweist auf die Bedeutung körperlicher Selbstpräsentationen im Gefolge der Professionalisierung von Ärzten. Er zeigt, wie die Chirurgen im Großbritannien des 19. Jahrhunderts „Naturwissenschaft dazu benutzten, um sich selbst in Gentlemen zu verwandeln" und sich auf diese Weise von ihrem älteren Image als Fleischer zu befreien. 6 Im Anschluss daran lässt sich vermuten, dass auch in Deutschland Elemente eines .naturwissenschaftlichen Habitus' dazu beitrugen, wissenschaftliche Autorität in der Öffentlichkeit zu demonstrieren und damit auch eine wichtige Rolle bei dem bemerkenswerten Aufstieg der deutschen medizinischen Profession in den späteren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielten. 7 Dabei bliebe allerdings zu berücksichtigen, dass sich im Falle der deutschen Ärzte ein solcher naturwissenschaftlicher Habitus stärker in einem Spannungsverhältnis zum neuhumanistischen Ideal der „Bildung" befand.378 Für Virchow (unter dessen persönlichen Vorfahren Fleischer übrigens eine wichtige Rolle gespielt hatten) lässt sich jedenfalls davon sprechen, dass sich das Ideal der „Wahrheit" in einem solchen Habitus niederschlug und dabei gleichermaßen zum Kern seines Selbstverständnisses, seiner öffentlichen Selbstdarstellung und auch seiner Außenwahrnehmung gehörte. Dies galt auch und gerade, als sich im Kreis von Naturwissenschaftlern seit Mitte des 19. Jahrhunderts das 210
in mancherlei Hinsicht bescheidenere Modell der „Objektivität" verbreitete, das in stärkerem Maße der Vergänglichkeit wissenschaftlicher Positionen Rechnung trug.379 Die Autorität der Naturwissenschaften, wie sie in Praktiken des exakten Wissenschaftlers verkörpert waren, konnte auf diese Weise aber auch im politischen Feld eingesetzt werden. Als Virchow 1891 anlässlich seines 70. Geburtstags durch den fortschrittsliberalen Verein „Waldeck" mit einer Festveranstaltung in der Berliner Tonhalle geehrt wurde, versicherte er, „daß, wenn er selbst etwas dazu beitrage die materielle Wahrheit zu erforschen, dies das Beste sei, was er habe tun können." 380 Auch Virchows Selbstverständnis als Politiker war somit eng an sein Selbstverständnis als der „Wahrheit" verpflichteter Naturwissenschaftler gebunden. Damit stellt sich die Frage nach einer spezifisch naturwissenschaftlichen „Gelehrtenpolitik", die im folgenden Teil untersucht wird.
2. Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik Virchows politische Tätigkeit wurde bislang in erster Linie darauf hin untersucht, welche politische Auffassungen er zu welchem Zeitpunkt vertrat und inwieweit er gegebenenfalls in der Lage war, sie politisch zu realisieren oder nicht. 3 1 Gegenüber solchen gewiss wichtigen Versuchen, ihn in die politische Landschaft seiner Zeit einzuordnen, kamen jedoch andere Perspektiven bislang zu kurz. So soll es im Folgenden nicht so sehr darum gehen, was Virchow zu diesem oder jenem politischen oder gesellschaftlichen Problem dachte. Vielmehr konzentriert sich der nächste Abschnitt darauf zu fragen, welche Rollen er einnahm, wenn er als Wissenschaftler in das von ganz anderen Spielregeln strukturierte „Machtfeld" der Politik wechselte und welche Probleme dabei auftraten. 382 In welcher Weise intervenierte Virchow also in gesellschaftliche und politische Konflikte, und in welchem Verhältnis stand dies zu seiner Rolle als Wissenschaftler? Dabei geht es darum, an ihm die Bedeutung von Naturwissenschaftlern für die bildungsbürgerliche Gelehrtenpolitik des 19. Jahrhunderts zu diskutieren, die hier als Teil einer Geschichte der politischen Intellektuellen in Deutschland begriffen werden soll. Gangolf Hübinger entwarf jüngst eine Typologie der Handlungsebenen, auf denen Wissenschaftler und andere Intellektuelle im politischen Kommunikationsfeld agieren, wobei es ihm um die Spannung zwischen der „relativen Autonomie" des Intellektuellen und seinem praktischen politischen Engagement geht: Dazu gehören erstens Kommunikationsnetze, in denen Intellektuelle als Organisatoren politischer Öffentlichkeit wirken, zweitens Expertengremien, in denen Intellektuelle als Politikberater handeln, drittens Mandate, die Intellektuelle als Volksvertreter einnehmen und schließlich Amter, 211
in mancherlei Hinsicht bescheidenere Modell der „Objektivität" verbreitete, das in stärkerem Maße der Vergänglichkeit wissenschaftlicher Positionen Rechnung trug.379 Die Autorität der Naturwissenschaften, wie sie in Praktiken des exakten Wissenschaftlers verkörpert waren, konnte auf diese Weise aber auch im politischen Feld eingesetzt werden. Als Virchow 1891 anlässlich seines 70. Geburtstags durch den fortschrittsliberalen Verein „Waldeck" mit einer Festveranstaltung in der Berliner Tonhalle geehrt wurde, versicherte er, „daß, wenn er selbst etwas dazu beitrage die materielle Wahrheit zu erforschen, dies das Beste sei, was er habe tun können." 380 Auch Virchows Selbstverständnis als Politiker war somit eng an sein Selbstverständnis als der „Wahrheit" verpflichteter Naturwissenschaftler gebunden. Damit stellt sich die Frage nach einer spezifisch naturwissenschaftlichen „Gelehrtenpolitik", die im folgenden Teil untersucht wird.
2. Naturwissenschaftliche Gelehrtenpolitik Virchows politische Tätigkeit wurde bislang in erster Linie darauf hin untersucht, welche politische Auffassungen er zu welchem Zeitpunkt vertrat und inwieweit er gegebenenfalls in der Lage war, sie politisch zu realisieren oder nicht. 3 1 Gegenüber solchen gewiss wichtigen Versuchen, ihn in die politische Landschaft seiner Zeit einzuordnen, kamen jedoch andere Perspektiven bislang zu kurz. So soll es im Folgenden nicht so sehr darum gehen, was Virchow zu diesem oder jenem politischen oder gesellschaftlichen Problem dachte. Vielmehr konzentriert sich der nächste Abschnitt darauf zu fragen, welche Rollen er einnahm, wenn er als Wissenschaftler in das von ganz anderen Spielregeln strukturierte „Machtfeld" der Politik wechselte und welche Probleme dabei auftraten. 382 In welcher Weise intervenierte Virchow also in gesellschaftliche und politische Konflikte, und in welchem Verhältnis stand dies zu seiner Rolle als Wissenschaftler? Dabei geht es darum, an ihm die Bedeutung von Naturwissenschaftlern für die bildungsbürgerliche Gelehrtenpolitik des 19. Jahrhunderts zu diskutieren, die hier als Teil einer Geschichte der politischen Intellektuellen in Deutschland begriffen werden soll. Gangolf Hübinger entwarf jüngst eine Typologie der Handlungsebenen, auf denen Wissenschaftler und andere Intellektuelle im politischen Kommunikationsfeld agieren, wobei es ihm um die Spannung zwischen der „relativen Autonomie" des Intellektuellen und seinem praktischen politischen Engagement geht: Dazu gehören erstens Kommunikationsnetze, in denen Intellektuelle als Organisatoren politischer Öffentlichkeit wirken, zweitens Expertengremien, in denen Intellektuelle als Politikberater handeln, drittens Mandate, die Intellektuelle als Volksvertreter einnehmen und schließlich Amter, 211
in denen Intellektuelle als Minister oder Staatsmänner auftreten.383 Damit erweitert er das Untersuchungsspektrum bisheriger Studien zur „Gelehrtenpolitik", die die zentrale Erscheinungsform der politischen Intervention von Intellektuellen in Deutschland im 19. Jahrhundert darstellte.384 Allerdings teilen die älteren Ansätze zur Gelehrtenpolitik und die neueren Ansätze zur Geschichte der „Intellektuellen" in der Regel die Konzentration auf die Kulturwissenschaften, während die Naturwissenschaften meist ausgeschlossen bleiben.385 Hier soll dagegen die bislang unterbelichtete Frage im Mittelpunkt stehen, inwieweit Virchow das Modell einer zugleich naturwissenschaftlichen und liberalen Gelehrtenpolitik vertritt, gleichsam einen naturwissenschaftlichen „Professorenliberalismus". Wie wandelte sich dieser im Untersuchungszeitraum dieser Studie? Inwieweit war dieser dabei von dem gegen Ende dieses Zeitraums einsetzenden, für die Gelehrtenpolitik insgesamt konstatierten Bedeutungsverlust betroffen, der zugleich mit der Entstehung des Intellektuellen in seiner modernen Variante einherging? Und welche Bedeutung besitzt ein derartiger naturwissenschaftlicher Professorenliberalismus im Hinblick auf die allgemeinere Frage nach einem spezifischen Modus liberaler Politik und den damit verbundenen unterschiedlichen Formen öffentlicher Glaubwürdigkeit? 3 6 Diese Fragen werden in drei Schritten verfolgt: Erstens wird Virchows politische Karriere unter dem Gesichtspunkt der Verberuflichung von Politik im 19. Jahrhundert untersucht. Wie ist Virchow also in der Spannung zwischen Honoratioren- und Berufspolitik einzuordnen? Die beiden folgenden Abschnitte widmen sich dagegen verschiedenen politischen Handlungsfeldern und -formen. Dazu gehört zunächst die Frage der Bedeutung naturwissenschaftlicher Autorität im praktischen politischen Handeln zwischen traditioneller Honoratiorenpolitik und den im Zusammenhang der Entstehung moderner Leistungsverwaltungen immer mehr an Bedeutung gewinnenden professionellen Experten. Der letzte Abschnitt diskutiert schließlich den Wandel Virchows vom deutschen Gelehrten zum europäischen Intellektuellen am Ende des 19. Jahrhunderts.
a) Politik als „Nebenberuf" Virchows politische Tätigkeit fällt in die Zeit des Ubergangs von einer „periodisch und elitär begrenzten Honoratiorenpolitik" in das Zeitalter des national organisierten politischen Massenmarktes.387 Damit einher ging die Ablösung von Honoratioren in Parlamenten und Verwaltungen durch Berufspolitiker und professionelle Experten, während zugleich der Anteil der Professoren in den Volksvertretungen kontinuierlich abnahm.388 Nach erster politischer Betätigung während der Revolution 1848/49, als lediglich sein zu gerin 212
ges Alter seinen Einzug in die preußische Nationalversammlung verhindert hatte, zog sich Virchow zunächst für einige Jahre politisch zurück, um dann nach dem Beginn der „Neuen Ära" in Preußen Ende der fünfziger Jahre wieder aktiv ins politische Leben zurückzukehren. 1859 wurde er Abgeordneter der Berliner Stadtverordnetenversammlung und 1862 des Preußischen Abgeordnetenhauses - beiden Häusern gehörte er bis zu seinem Tode 1902 an. Von 1880 bis 1893 war er auch Mitglied des Deutschen Reichstags. In all diesen Parlamenten wirkte er jeweils nicht nur im Plenum, sondern auch in einer Vielzahl von Ausschüssen und Kommissionen vor allem auf den Gebieten der öffentlichen Hygiene und der Bildung. Besonders wichtig war auch seine jahrzehntelange Tätigkeit als Mitglied der Budgetkommission bzw. als Vorsitzender der Rechnungskommission des Preußischen Abgeordnetenhauses. Max Weber lieferte die geläufige Unterscheidung in „Gelegenheitspolitiker", „nebenberufliche" Politiker und „Berufspolitiker", wobei er ein ökonomisches Unterscheidungskriterium wählte. Legt man diese idealtypische Einteilung zugrunde, so entspricht Virchow dem Typus des nebenberuflichen Politikers, zu denen Weber „ziemlich breite Schichten unserer Parlamentarier" zählt, „die nur in Zeiten der Session Politik treiben."389 Damit entsprach Virchow zugleich dem Typus des „Honoratioren", dessen Hauptbedeutung darin besteht, „für die Politik leben zu können, ohne von ihr leben zu müssen", wofür Weber einen „spezifische(n) Grad von .Abkömmlichkeit' aus eigenen privaten Geschäften" als Hauptvoraussetzung nennt3'0. Erst allmählich entwickelte sich aus dieser Gruppe eine Schicht von „Berufspolitikern".391 Uber den Verlauf dieses Ubergangs von Honoratioren zu Berufspolitikern gehen die Meinungen allerdings auseinander. Eine erste Auffassung unterscheidet zwei unterschiedliche Karrieremuster von Abgeordneten in Deutschland, die sich nacheinander entwickelt hätten: Das ältere Karrieremuster sei bis in das Kaiserreich hinein gültig gewesen, wobei das Amt des Abgeordneten in der Regel Honoratioren angetragen oder gar nachgetragen wurde (was in der Regel einen außerparlamentarischen Beruf bereits voraussetzte). Dem sei ein jüngeres Karrieremuster gefolgt, bei dem der Sprung in eine parlamentarische oder gouvernementale Position einen schrittweisen Aufstieg und eine sukzessive Bewährung innerhalb einer Parteiorganisation voraussetze, die sogenannte „Ochsentour" 392 . Demgegenüber wird mit guten Gründen argumentiert, dass der Übergang vom Typus des Honoratiorenpolitikers zum modernen, „professionalisierten" Typus des Abgeordneten, für den Politik eine Art von Karriere bedeutet, bereits in der Ära zwischen der Revolution und der Reichsgründung erhebliche Ausmaße angenommen habe und sich erste Ansätze dazu bereits im Vormärz finden ließen.393 Die politische Karriere Virchows soll im Folgenden dazu dienen, um die Veränderungen politischer Laufbahnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Dazu wird danach gefragt, in welcher Weise er sich 213
als Volksvertreter legitimierte, wozu vor allem die Rolle von Wahlen und Wahlstrategien sowie seine Einbindung in politische Netzwerke untersucht werden. Wie unterschieden sich dabei der kommunalpolitische Bereich von dem der landes- bzw. reichsweiten Politik? Und welchen wechselnden Stellenwert besaß die politische Betätigung für Virchows Selbstverständnis? Politikabstinenz
und politischer
Wiedereinstieg
Im Revolutions) ahr hatte Virchow, wie schon ausführlich geschildert, Wissenschaft und Politik in eins gesetzt und sich dabei intensiv in den Reihen der Berliner Demokraten sowie der medizinischen Reformbewegung, aber auch der Befürworter einer Universitätsreform engagiert. Dabei beteiligte er sich an der Organisation der politischen Öffentlichkeit, bis er als Folge des Scheiterns der Revolution wieder den Rückzug aus der politischen Betätigung in die wissenschaftliche Arbeit anstrebte. 1849 engagierte er sich noch für den demokratischen Wahlboykott in Preußen, der schließlich in die langjährige Politikabstinenz der Demokraten mündete. Auch Virchow zog sich von allen politischen Aktivitäten zurück, zumal sich diese zu einer ernsthaften Bedrohung seiner wissenschaftlichen Karriere zu entwickeln drohten. So trennte er nunmehr Politik und Wissenschaft wieder in eigene Sphären, was gleichermaßen psychologisch entlastend und hilfreich für die Verteidigung seiner beruflichen Position war. Dass sich Virchow bewusst davon distanzierte, Berufspolitiker zu sein, macht zugleich deutlich, wie sehr dieses Modell bereits während der Revolution präsent war. Dies zeigt etwa sein Verhalten während der verschiedenen im Frühjahr 1849 laufenden Bemühungen um eine akademische Berufung, bei denen der Konflikt zwischen wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit eine zentrale Rolle spielte. Seinen Gießener Freund Adolf Bardeleben, der ihn über die Berufungsberatungen der dortigen Fakultät auf dem Laufenden hielt, versuchte Virchow zu beruhigen: „Ich habe keine Absicht, Politiker von Profession zu werden. Meine Betheiligung an der Politik bis z u m N o v e m b e r war nur eine accidentielle, nur Arbeit der M u ßestunden. Daß ich mich nicht davon zurückhalten konnte, w o alles so lebhaft dazu drängte u. die Möglichkeit gegeben schien, wissenschaftlich vernünftige Principien auf einen fruchtbaren Boden auszustreuen, war sehr natürlich."" 4
Er habe es „für einfache Bürgerpflicht gehalten", dass er sich nach der Auflösung der Preußischen Nationalversammlung und der Ausrufung des Belagerungszustands in Berlin an der Wahlbewegung für die Zweite Kammer des Preußischen Abgeordnetenhauses engagierte. Ahnlich wie bei seiner gleichzeitigen Auseinandersetzung mit der preußischen Kultusbürokratie um die möglichen Konditionen eines Verbleibs in seiner Berliner Stellung trennte Virchow hier Wissenschaft als Beruf und Po214
litik als staatsbürgerliche Verpflichtung und zugleich als Privatangelegenheit. Jedoch beendete er diesen Brief mit der Versicherung, dass er sich zwar an künftigen wissenschaftlichen Wirkungsstätten politisch zurückhalten wolle, sich aber unter den Berliner Verhältnissen sehr wohl weiter an politischen Angelegenheiten beteiligen könnte. So verzichtete Virchow nach dem Ende der Revolution zunächst lediglich auf öffentliche politische Betätigung, die ein Resultat der spezifischen Gegebenheiten in Berlin gewesen sei: „Sie sehen, nicht ich habe mich in die Politik gedrängt, sondern die Ereignisse haben mich hinein getrieben. Bleibe ich hier, so kann ich keineswegs dafür einstehen, ob ich mich dann ferner halten kann oder ob ich tiefer hinein gezogen werde. W e n n ich die moralische Verpflichtung fühle, so gebe ich ihr nach. A n d e r s w o wird sich das wahrscheinlich ganz anders machen. W e n n ich in Verhältnisse komme, die mir fremder liegen, in neue Bewegung, die ihre treibenden K r ä f t e hat, so wird es mir nicht einfallen, mich hineinzumischen. Ich hasse alle K r a f t u. Zeitverschwendung, u. w e n n ich etwas besseres als Politik treiben kann, so bleibe ich dem treu. Bis jetzt habe ich weder politischen Ehrgeiz, noch politischen Fanatismus, w o h l aber eine tiefe politische Überzeugung." 3 9 5
Und auch gegenüber seinem Vater versicherte Virchow, der sich zugleich vom Kommunismus und den Systemen der französischen Sozialisten distanzierte, dass sein Stillschweigen keine Abkehr von seinen Uberzeugungen beinhalte: „Aber ich enthalte mich nicht deßhalb von der Politik, weil ich meine frühere Politik perhorrescire, sondern einfach, weil ich mich enthalten will, weil ich keine aktive Politik treiben will."396 Bei all dem darf die Bedeutung der nachmärzlichen Repressionswelle nicht unterschätzt werden. So waren etwa mehr als die Hälfte der oppositionellen Paulskirchenabgeordneten von „Verurteilungen, Dienstentlassungen usw. unmittelbar betroffen; mehr als ein Drittel ging vorübergehend oder endgültig außer Landes" 7. Eine solche Atmosphäre der Repression herrschte auch in Würzburg. Virchow hielt dort an seinen früheren politischen Ansichten fest,398 wenngleich er diese in einer von Misstrauen und Bespitzelung geprägten Atmosphäre verbergen musste. In der ersten Zeit nach seiner Ubersiedlung leistete ihm bei seinen Mittagessen in einem Würzburger Gasthaus der Regierungsdirektor von Unterfranken Tischgesellschaft, der dabei seine Umgebung kontrollierte. „Ich spreche daher bei Tische fast gar nicht, lese während des Essens immer die Würzburger Zeitungen"399, berichtete Virchow und wies damit auf die Unterdrückung der demokratischen Öffentlichkeit hin. Die politische Kommunikation war dadurch erheblich beeinträchtigt: Anders als in Berlin war Virchow in Würzburg von politischen Informationen weitgehend abgeschnitten und hielt deshalb seit Anfang 1850 wenigstens die liberale National-Zeitung, damit er „nicht ganz verbauere"400, wie er Goldstücker schrieb. Dennoch bekannte er seinem Freund wenig später: „Von der Politik weiß ich nichts, als Fetzen." 41 Zwar war er in das weitgespannte per215
sonelle Netzwerk eingespannt, das die Demokraten nach der Revolution über ganz Europa hinweg über Jahre hinweg aufrecht erhielten.402 Für Virchow wurde es dabei aber gelegentlich beschwerlich, mit seinen alten Gesinnungsgenossen zu diskutieren, da er sich wegen der schlechten Nachrichtenversorgung politisch nicht mehr auf dem Laufenden halten konnte.403 Damit brachte die Ära der Restauration für die Demokraten die doppelte Tendenz der Provinzialisierung und der Europäisierung des politischen Horizonts mit sich. In Würzburg widmete Virchow seine Zeit in erster Linie seiner jungen Familie und der Wissenschaft. So erlebte er dort seine Tage, wie er seinem Vater im Mai 1850 schrieb, „im allgemeinen friedlich." Vor allem in den frühen fünfziger Jahren berichtete er aber von heftigen Angriffen der „ultramontanen Partei" in der Augsburger Postzeitung gegen Protestanten, die sich insbesondere gegen Kölliker und ihn richteten. Ihre Medizinstudenten hätten jedoch als Antwort darauf einen Fackelzug für sie veranstaltet. Dabei sei Vieles geredet worden, „was vielleicht nicht allen Ohren angenehm war, auch nicht dem Staat, doch das ließ sich nicht vermeiden." Im übrigen könne sein Vater „darauf rechnen, daß ich ohne Betheiligung an politischen und religiösen Parteikämpfen lebe, und wenn ich auch in meinen Ansichten nichts geändert habe, so habe ich doch etwas mehr schweigen gelernt."404 Während er sich verteidigen wollte, falls er in seiner Existenz angegriffen würde, gedachte er „gewöhnliche Angriffe (...) schweigend (zu) ertragen, um friedlich fortzuarbeiten."405 Zwar zeigten sich nicht nur die Studenten solidarisch, sondern auch der bayerische Kultusminister versicherte Virchow seine Wertschätzung und Unterstützung. Allerdings wiederholten sich Attacken der „ultramontanen Partei" auf ihn und Kölliker so regelmäßig und hartnäckig, dass er fürchtete, diese könnten endlich doch erfolgreich sein. So berichtete er seinem Vater am Ende des Jahres 1851, dass vor kurzem in der Augsburger Postzeitung gar der Plan entworfen worden sei, „Kölliker u. mich, die beiden Hauptketzer, nach München zu versetzen, u. dafür Katholiken hierher zu bringen. In München fühlen sie sich stark genug, um Ketzer ertragen zu können."406 Für seine spätere Haltung im Kulturkampf dürfte die Würzburger Erfahrung mit dem bayerischen, politisch selbstbewussten Katholizismus von großer Bedeutung gewesen sein. Vor allem aber führten die Würzburger Jahre von 1849 bis 1856 zu einer großen Entfernung von allen politischen Aktivitäten. Dies änderte sich erst wieder nach seiner Rückkehr nach Berlin, die im Vorfeld einer Änderung der politischen Großwetterlage stattfand. Seit Mitte der fünfziger Jahre wuchs unter den führenden Demokraten wieder die seit ihrem Wahlboykott 1849 weitgehend verloren gegangene Bereitschaft, sich am parlamentarischen Leben zu beteiligen. Dafür war nicht allein der Beginn der sogenannten „Neuen Ära" in Preußen verantwortlich, die 1858 mit der Übergabe der Macht auf den Kronprinzen Wilhelm I. und der von ihm verfügten Ablösung des hochkonservativen Ministeriums Man216
teuffei durch das moderat-konservative Ministerium Hohenzollern-Sigmaringen verbunden war. Bereits zuvor hatten neben dem realpolitischen Perspektivenwechsel der Linken vor allem die Folgen des Krimkrieges zu einer Wiederbelebung politischer Hoffnungen geführt. Dieser hatte der europäischen Öffentlichkeit nicht nur erstmals die Schrecken eines modernen Stellungskriegs vor Augen geführt, sondern mit der Niederlage Russlands und dem Zerbrechen der Heiligen Allianz Hoffnungen auf ein Ende von Legitimismus und Reaktion geweckt. Damit endete auf Seiten der deutschen Linken die Phase der Depression, und zugleich zerstoben ihre Zweifel an der Gültigkeit des Fortschrittsprinzips. 4 Im Zuge der Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Lockerung der Unterdrückung der oppositionellen Vereine und Presse entfaltete sich wieder eine politische Öffentlichkeit, und zugleich bildeten sich nunmehr wieder neue politische Organisationen, an denen sich vor allem Demokraten und Liberale aktiv beteiligten. Dabei wurden vielfach alte Bekanntschaften und Beziehungen reaktiviert, und auf diese Weise wurde auch Virchow bald wieder in die politische Reorganisation der Linken einbezogen. So gehörte er zu dem internationalen Kreis der „Zelebri täten", an die sich Arnold Rüge 1857 bei seinem freilich vergeblichen Versuch wandte, die ehemaligen Hallischen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst wiederzubegründen und damit der Linken wieder ein theoretisches Organ zu verschafC
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ren. Die Rückkehr der preußischen Demokraten in die Politik stand programmatisch und organisatorisch im Zeichen einer Annäherung an die Liberalen, wobei sich Prozesse auf kommunaler sowie auf einzelstaatlicher und auch nationaler Ebene überschnitten und verstärkten. 1858 hatten es viele alte 1848Demokraten wie Karl Rodbertus, Johann Jacoby, Viktor von Unruh und Hermann Schulze-Delitzsch, aber auch Virchow abgelehnt, für das Preußische Abgeordnetenhaus zu kandidieren. Ihnen erschien es noch als zu riskant, die durch die Rede des Prinzregenten Wilhelm ausgelösten Hoffnungen, die er unter anderem durch seine Forderung nach „moralischen Eroberungen" Preußens in Deutschland ausgelöst hatte, durch ihr öffentliches politisches Auftreten vorschnell zu gefährden.4 Unter dem Eindruck des italienischen Krieges sowie der wachsenden Unzufriedenheit mit der innen- und außenpolitischen Entwicklung in Preußen im Zeichen der „Neuen Ära" formierte sich jedoch 1859 in ganz Deutschland eine liberale Nationalbewegung. Zugleich stieg der Reformdruck innerhalb Preußens, wobei beide Prozesse sich gegenseitig beeinflussten und verstärkten. In dieser Situation erfolgte auch Virchows Wiedereinstieg in die Politik. Ende 1859 wurde er in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt, und gleichzeitig begann er sich in der Berliner Lokalgruppe des deutschen „Nationalvereins" zu engagieren. In beiden Fällen zeigte sich hier ein Politikverständnis, das anders als während der Revolution die Aktivitäten von Honoratioren in den Mittelpunkt stellte. So wurde Virchow, wie er noch Jahr217
zehnte später immer wieder hervorhob, auf Vorschlag Salomon Neumanns ohne eigenes Zutun und Wissen in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt, während er sich gerade auf einer Auslandsreise in Norwegen befand.410 Auch der im selben Jahr gegründete Nationalverein war eine Veranstaltung mittelständischer Honoratioren, die nicht zuletzt die wichtige Funktion besaß, Brücken zwischen Demokraten und Liberalen zu bauen. Dieser diente nicht nur der Repolitisierung, sondern gewissermaßen auch der politischen Resozialisierung der als Revolutionäre verfemten Demokraten.411 Dies traf auch auf Virchow zu, der 1875 erklärte: „Der im Jahre 1859 gegründete deutsche Nationalverein wurde für die Männer der Demokratie und für die gemäßigten Liberalen das gemeinsame Werkzeug, um sowohl das Volk zu neuer Arbeit im Dienste der Freiheit und der nationalen Einigung aufzurufen, als auch die Regierungen und vor allem die preußische zu energischer That zu treiben. Seit langer Zeit zum ersten Male reichen sich hier Norddeutsche und Süddeutsche die Hand zu gemeinsamer politischer Thätigkeit. Der Ausschluss Österreichs aus Deutschland, die Einigung des Vaterlands unter preußischer Führung, die endliche Constituierung des Reiches durch ein deutsches Parlament,- das war das Programm, welches offen dargelegt wurde." 412
Die politische Passage der Demokraten basierte also auch bei Virchow vor allem auf einer Neubewertung der Rolle Preußens, das nunmehr als Schlüssel zur nationalen Einigung unter freiheitlichen Vorzeichen angesehen wurde, wofür die Rolle Piemonts bei der Einigung Italiens das Vorbild war. Virchow gehörte zu den großpreußisch-gouvernementalen Linken, die Osterreich aus diesem Prozess ausschließen wollten, falls nötig auch im Gefolge eines europäischen Krieges, der die frühere Rolle der Revolution eingenommen hatte. Diese Position vertrat er auch im Rahmen des Nationalvereins, wie einer Resolution, die auf einer unter seinem Vorsitz im Januar 1861 durchgeführten Versammlung der Berliner Mitglieder des Nationalvereins verabschiedet wurde, zu entnehmen ist. Gefordert wurde, erstens, dass Preußen sich nicht an einem möglichen Krieg Österreichs um den Besitz Venetiens beteiligen solle, zweitens, dass im Falle einer gegen Dänemark zu unternehmenden Bundesexekution die Rechte Schleswigs und Holsteins gewahrt werden sollten, und schließlich, dass zur Bildung eines deutschen Bundesstaats unter Führung Preußens geschritten werden solle. Die circa 570 im Meserschen Saale unter den Linden versammelten Teilnehmer der Versammlung kamen laut Polizeibericht „aus den besseren Schichten der Gesellschaft", während „Handwerker und Arbeiterstand dabei gar nicht vertreten waren"413. Viele der Namen aus dem engeren Führungskreis der Berliner Lokalgruppe des Nationalvereins, darunter neben Virchow etwa Viktor von Unruh, Franz Duncker und Werner von Siemens, befanden sich auch unter dem am 6. Juni 1861 verabschiedeten Wahlprogramm der deutschen Fortschrittspartei, was die personelle und programmatische Nähe der beiden Organisati218
onen unterstreicht. 414 In der Fortschrittspartei hatte sich um den Kern von 19 Abgeordneten aus der bisherigen liberalen Landtagsfraktion Vincke „ein Zwitter aus liberalen und demokratischen Forderungen und ebenso aus liberalem Honoratiorenkomitee und moderner Programmpartei" 415 gebildet. Virchow hatte die Sitzung geleitet, auf der das Parteiprogramm der Fortschrittspartei beschlossen worden war, das zunächst als Grundlage des kommenden Wahlkampfs in Preußen dienen sollte. Darin war die feste Einigung Deutschlands mit starker Zentralgewalt in den Händen Preußens und eine deutsche Volksvertretung gefordert worden, wozu eine Reihe innenpolitischer Forderungen kamen. 416 Der Kompromisscharakter des Programms der Fortschrittspartei zwischen Demokraten und Liberalen erwies sich vor allem daran, dass die Problematik des Dreiklassenwahlrechts nicht thematisiert worden war. Dieses sorgte durch die Einteilung der Wähler in drei nach Steuerklassen gebildete Abteilungen dafür, dass die wohlhabenderen Schichten einen überproportionalen Stimmenanteil besaßen. Gleichwohl wurde von konservativer Seite immer wieder versucht, die Fortschrittspartei als demokratische Tarnorganisation zu diffamieren. Auf einen entsprechenden Vorwurf des preußischen Kriegsministers erklärte Virchow am 5. Juni 1862 im Preußischen Abgeordnetenhaus: „Wir Einzelnen, die w i r auf dem demokratischen Prinzip innerhalb dieser Partei stehen, haben niemals Veranlassung gehabt, dieses Prinzip zu verleugnen, aber daß die Partei im Ganzen identifiziert werden könnte mit der demokratischen Partei, muß ich doch entschieden dem Königlichen Staats-Ministerium bestreiten. W i r A l l e haben, indem w i r die Verfassung offen und ehrlich acceptirt, indem w i r den Eid auf die Verfassung abgelegt haben, damit alle weiter gehenden Parteitendenzen abgeschworen (..,)." 417
Der Wiedereinstieg Virchows in die Politik seit Ende der fünfziger Jahre beruhte also zunächst auf einem politischen Kompromiss der Demokraten mit dem Liberalismus, der während der Revolution noch als Gegner bekämpft worden war. Dies bedeutete jedoch nicht allein Veränderungen seiner politischen Ideen, sondern auch seines Selbstverständnisses als Politiker. Dabei konkurrierten unterschiedliche Politikmodelle auf der kommunalen Ebene und auf der Ebene der Landes- bzw. später der Reichspolitik, doch kreuzten sich diese verschiedenen politischen Handlungsebenen alle in Berlin. Das Berliner Milieu des „ Fortschritts
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Die Fortschrittspartei stützte sich in Berlin auf ein dichtes soziales und organisatorisches Netzwerk, in dem eine gemeinsame Weltanschauung auch lebensweltlich Rückhalt fand. Damit lässt sich von einem fortschrittsliberalen Milieu sprechen, das seine größte Stärke in den 1860er Jahren erreichte. In 219
diesem Jahrzehnt basierte es noch auf dem frühliberalen Gegensatz von „Volkspartei" und Staat und definierte sich somit nicht im Gegensatz zu einer anderen Partei, sondern vor allem durch kulturelle und politische Gemeinsamkeiten. Nachdem seit den siebziger Jahren jedoch zunehmend andere Parteien in Berlin mit dem „Fortschritt" konkurrierten, erfolgte der Zusammenhalt mehr und mehr durch politische Abgrenzung von diesen, so dass sich von einer fortschreitenden Lagerbildung sprechen lässt.418 Die seit den sechziger Jahren bestehende kulturelle Hegemonie des Fortschrittsliberalismus in Berlin wurde vor allem auch durch die liberale Presse gestützt. Dazu gehörten die bildungsbürgerliche National-Zeitung sowie die aus der demokratischen Urwähler-Zeitung hervorgegangene Berliner VolksZeitung, seit 1871 auch das Berliner Tageblatt und seit 1889 die volkstümlicher gehaltene Berliner Morgen-Zeitung, die beide Rudolf Mosse verlegte.419 Hinzu kam das dichte liberale Vereinsnetz, das durch den Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Wiederaufbau der seit 1850 zerschlagenen politischen Vereine entstanden war. Während dabei anfänglich breite Bevölkerungsgruppen integriert werden konnten, blieb es zugleich beim honoratiorenpolitischen Modell, wonach bürgerliche Führer die Leitung dieser Vereine übernahmen. Auf der 18. Polizeikonferenz in Karlsruhe 1864 wurde ein anschauliches Bild dieser Entwicklung gezeichnet, die dort mit großer Besorgnis aufgenommen wurde. So hätten die letzten Jahre „eine neue Organisation von Vereinen entstehen sehen, welche an äußerer Ausdehnung wie an innerer Kraft der des Jahres 1848 gleichkommt, dieselbe aber in der Kunst weit übertrifft, bei pünktlicher Beobachtung der äußern Form des Gesetzes, sich sachlich den Beschränkungen desselben möglichst zu entziehen."420 In besonderer Weise traf dies auf die Bezirksvereine zu, die sich in Berlin nach Stadtbezirken organisierten und dabei organisatorisch selbständig und ohne zentrale Leitung blieben. Diese standen aber, wie der oben genannte Polizeibericht beklagte, „durch den persönlichen Verkehr ihrer Vorsteher und Leiter in dem engsten Zusammenhange miteinander und folgten, obwohl ohne sichtbares Zentralorgan und äußerlich völlig getrennt und selbständig, dennoch in allen wichtigen politischen Fragen einer gemeinsamen Parole." Unter der statutengemäßen Beschränkung der Aufgaben der Bezirksvereine auf „gesellige und belehrende Unterhaltung" wurden „alle in der inneren und äußeren Politik vorkommenden Ereignisse, sowie alle kommunalen Angelegenheiten, Wahlen, Petitionen pp. in ihnen besprochen, beraten und zum Gegenstande von Beschlüssen gemacht." Auch blieben die Berliner Bezirksvereine in enger Verbindung mit den in ihren Bezirken gewählten Landtagsabgeordneten, die sie „durch deren Vorträge über alle wichtigen Vorgänge innerhalb der Kammern und der Kommissionssitzungen" unterrichteten. Zudem erteilten sie öffentlichen Tadel und Lob und forderten „Rechenschaft von allen mit ihrer Hilfe gewählten Vertretern im Staats- und Kommunaldienst."421 So verabschiedete 1865 eine Reihe von Berliner Bezirksvereinen 220
Solidaritätsadressen für Virchow, als er im Zusammenhang einer politischen Auseinandersetzung im Preußischen Abgeordnetenhaus von Bismarck zu einem Duell aufgefordert wurde, das er jedoch zurückwies. 422 Virchow, der während der Revolution selbst aktiv an der Organisation von Bezirksvereinen mitgewirkt hatte, erschien auf solchen Versammlungen regelmäßig zu Vorträgen über aktuelle politische Themen. Ihren Höhepunkt besaßen die Bezirksvereine in den 1860er Jahren, als sie Berlin, wie Isidor Kastan rückblickend schrieb, „netzartig überzogen" und „eine wirklich politische Bedeutung wie nie zuvor und auch nie wieder später" gewannen. So dienten die Bezirksvereine vor allem in diesen Jahren und zum Teil auch darüber hinaus als „Lokalorganisationen der Fortschrittler und des demokratischen Flügels der Liberalen am Ort" und zugleich als „ihr Instrument der Organisierung von Handwerkern und Facharbeitern." 4 Sie verkörperten überdies das demokratische Ideal der Identität von Partei und Volk, weshalb Parteientscheidungen wie vor allem die Kandidatenauslese in öffentlichen Wählerversammlungen getroffen wurden. 424 Allerdings wurde unter den herrschenden Bedingungen des indirekten Wahlrechts der Wählerwille durch ein zweistufiges Wahlverfahren gefiltert, wonach die zunächst von den U r w ä h lern zu bestimmenden Wahlmänner die eigentliche Abgeordnetenwahl vornahmen. Neben den Bezirksvereinen fand das Berliner Milieu des „Fortschritts" lange Jahre eine weitere zuverlässige organisatorische Stütze in den Versammlungen der Wahlmänner und Urwähler in den einzelnen Wahlbezirken, die vor allem während der Sessionen von einzelnen Parteiführern einberufen wurden. Dort ließen sie den von ihnen gewählten Abgeordneten Lob und Tadel für ihr Verhalten zukommen und forderten Rechenschaft über ihre Tätigkeit. Dabei umgingen sie die Beschränkungen politischer Vereine, indem sie nur zu freien zwanglosen Vereinigungen zusammentraten. 425 Ein Beispiel dafür ist eine Versammlung von etwa 400 Wahlmännern des von Virchow vertretenen 3. Berliner Wahlbezirks im Borsigschen Saale am 12. Februar 1868. Der Stadtverordnete Streckfuß eröffnete diese mit der Ankündigung, „daß die Abgeordneten Virchow und Schulze-Delitzsch sich bereith erklärt hätten, ihren Wahlmännern Aufschluss über die Lage der öffentlichen Angelegenheiten zu geben und über den Verlauf der gegenwärtigen Kammersession zu berichten", worauf die beiden nacheinander das Wort ergriffen. 426 Aber bereits wenige Jahre später veränderte sich der Charakter dieser ursprünglich offenen Versammlungen. Ein ähnlicher Rechenschaftsbericht der beiden Abgeordneten auf einer Versammlung von circa 500 Wahlmännern am 2. November 1870 am selben Ort musste vorzeitig abgebrochen werden. Zuvor waren etwa vier- bis fünfhundert Sozialdemokraten in den Saal eingedrungen, die dann durch verschiedene Anträge zur Geschäftsordnung, die vom Versammlungsvorsitzenden zurückgewiesen wurden, empfindlich den
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Ablauf der Veranstaltung störten, die schließlich in einen Tumult überzugehen drohte.427 Im Rückblick auf diese Entwicklung schilderte Virchow später: „Wenn wir eine Versammlung einberiefen, wenn wir uns vertheidigen, wenn wir Rechenschaft geben wollten vor unseren Wählern, dann drangen die Sozialdemokraten ein, bemächtigten sich des Präsidiums und warfen endlich die Unsrigen zur Thür hinaus, und man mußte froh sein, daß man überhaupt noch mit gesunden Gliedern nach Hause kam. Das war die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, die uns beschieden war und die uns schließlich genöthigt hat, uns immermehr in eine Art von geschlossenen Kreis zurückzuziehen, besondere Karten auszugeben, Einladungen ergehen zu lassen, damit ja nicht unter dem Vorwand, es sei eine öffentliche Versammlung, Leute eindringen könnten, welche einer feindlichen Par| .. «428 tei angehorten.
So wurden fortschrittsliberale Wahlveranstaltungen seit 1871 in ihrer Öffentlichkeit beschränkt, um Sozialisten und Bezirksfremde auszuschließen und eine bürgerlich-liberale Mehrheit zu sichern. Aber wenigstens bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre konnten fortschrittsliberale Parteiführer in Berlin auf sichere Mehrheiten in solchen Veranstaltungen vertrauen, und erst Ende des Jahrzehnts verlor dieses System seine Funktionsfähigkeit, weshalb die Kandidatenauswahl immer weiter in abgeschlossene Führungsgremien verlagert wurde. Zugleich „hörten auch die Bezirksvereine auf, Basis der Parteiorganisation zu sein (...). Die offene demokratische Bewegung wurde durch einen geschlossenen Vereinsbetrieb abgelöst", indem seit 1878 liberale bzw. fortschrittliche Wahlvereine gegründet wurden. 4 9 Dazu gehörte vor allem der nach dem legendären preußischen Demokraten der Revolutionszeit benannte fortschrittliche Verein „Waldeck". Diese Organisation machte sich die politischen Grundsätze der Fortschrittspartei bzw. später der Deutschen Freisinnigen Partei und Freisinnigen Volkspartei zu eigen und stellte sich diesen vor allem zu Wahlkampfzeiten als „zuverlässige und gern gesehene Hilfstruppen" zur Verfügung. Darüber hinaus organisierte er Wahlkampfveranstaltungen für die Linksliberalen (1891 wurde ein eigener Wahlagitations-Ausschuss gegründet) und unterstützte sie durch finanzielle Spenden. Umgekehrt hielten dort fortschrittsliberale Abgeordnete, darunter auch Virchow, der 1891 zum Ehrenmitglied ernannt wurde, regelmäßig Vorträge.430 Ähnlich wie der „Waldeck"-Verein, dessen Mitgliederzahl seit einem Höhepunkt Anfang der 1880er Jahre kontinuierlich zurückging, 41 litten auch die übrigen Säulen der liberalen Vereinslandschaft unter der sinkenden Anziehungskraft des Linksliberalismus auf die nachwachsende Generation. Zu diesen Vereinen gehörte insbesondere der 1859 im Zusammenwirken mit dem „Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" unter Mitwirkung Virchows wiedergegründete Berliner Handwerkerverein, der 1850 aufgelöst worden war. Dieser entwickelte sich nach seiner Neugründung zum größten deutschen Handwerkerverein und stand dabei gänzlich unter bürgerlich-libe222
ralem Einfluss. Dem neuen Berliner Handwerkerverein standen zunächst der Schulvorsteher Steinert und seit 1865 Franz Duncker, der spätere Mitbegründer der liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, vor. Mitte der sechziger Jahre besaß er etwa sieben- bis achttausend Mitglieder, von denen normalerweise etwa zwei- bis dreitausend die Vorträge im Vereinsheim in der Sophienstraße besuchten. Zu den regelmäßigen Gästen gehörte neben den Spitzen der fortschrittsliberalen Parlamentsfraktion auch der Kronprinz Friedrich. Der Berliner Handwerkerverein, der zahlreiche Zweigvereine in anderen Berliner Bezirken, aber auch Ableger in anderen Städten von Riga bis Lissabon gründete, stand im Zusammenhang der liberalen Arbeiterbildungsbewegung. Zu diesem Zweck bot er Vorträge und Diskussionen von führenden Vertretern der Wissenschaft, der Kunst, Literatur sowie von Landtagsabgeordneten, und an vereinsfreien Abenden fanden dort vielfach auch politische Veranstaltungen statt. Im Zuge der Trennung von Fortschrittsliberalismus und Arbeiterbewegung durch das Erstarken der Lassalleaner verlor der Handwerkerverein jedoch nach und nach seine überragende öffentlich-politische Bedeutung, da auch hier die jüngere Generation mehr und mehr fortblieb,432 und so blickte Virchow 1901 auf das einstige Bollwerk der liberalen Arbeiterbildung wehmütig zurück: „Die tief eingreifende Woge des Sozialismus hat ein großes Stück dieser Schöpfung vernichtet. Trotzdem ist der Berliner Handwerkerverein am Leben geblieben" 433 . Letzterer bildet zugleich einen Musterfall jener zutiefst paternalistischen Tendenz der liberalen Arbeiterbildungsbewegung, die Virchow in höchstem Maße verkörperte. Die Führung durch bürgerliche Honoratioren war all diesen Vereinen gemeinsam, sofern nicht auch die Mitgliedschaft ohnehin auf diese beschränkt war. Der Nationalverein, in dessen Berliner Sparte Virchow eine zentrale Rolle spielte, war typisch dafür, doch ging dessen Bedeutung bereits seit 1863 stark zurück. 4 4 Im selben Jahr wurde unter Beteiligung Virchows der allerdings nur kurzlebige „Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Pressfreiheit in Preußen" gegründet, der teilweise einen Ersatz für eine liberale Parteiorganisation darstellte und gleichfalls eine starke Berliner Sparte besaß. Zum Typus des sozialintegrativen Massenvereins unter bürgerlicher Führung gehörten dagegen die Turnvereine, die vor allem in den 1860er Jahren in enger Verbindung mit der Nationalbewegung standen. Damals beteiligte sich auch Virchow - obwohl selbst eher unsportlich - an der Vereinsorganisation der Berliner Turner, bevor er seine Aktivitäten dann stärker dem Schulsport zuwandte. 6 Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Vereinen, von denen bereits die Rede war, engagierte sich Virchow auch in einer ganzen Reihe weiterer Vereine, die allesamt Knoten im fortschrittsliberalen Netzwerk Berlins bildeten, und so stößt man bei der Durchsicht der Mitglieder und insbesondere der Vorstände immer wieder auf dieselben Namen.
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Die Mehrzahl dieser Vereine, in denen Virchow aufgrund seines Prestiges vielfach an herausgehobener Stelle mitwirkte, dienten der bürgerlichen Bildungs- und Sozialreform.437 Dazu gehörten etwa der von Virchow 1866 mitgegründete „Verein der Berliner Volksküchen"438 oder der von ihm seit Mitte der 1880er Jahre präsidierte „Verein für die Errichtung des Kaiserinund-Kaiser-Friedrich-Kinderkrankenhauses" 439 . Eine liberale Domäne war auch der 1866 gegründete „Berliner Hülfsverein für die deutschen Armeen im Felde". Dieser wie andere Vereine spielten eine wichtige Rolle für das liberale Konzept einer Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft, die zugleich auch die Lösung der sozialen Frage bewältigen sollte. Zudem dienten verschiedene Denkmalskomitees dazu, der Dominanz der symbolischen Präsenz der preußisch-monarchischen Tradition im öffentlichen Raum Berlins bürgerliche Helden entgegenzustellen. Virchow spielte hier insbesondere bei den Denkmälern für demokratische und liberale Helden wie Alexander von Humboldt, Benedikt Waldeck und Hermann Schulze-Delitzsch eine führende Rolle. Allerdings waren diese seit den 1880ern bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgestellten Denkmäler schon bei ihrer Einweihung in hohem Maße rückwärtsgewandte Beschwörungsversuche der einstigen fortschrittsliberalen Hegemonie in Berlin.440 Jedoch hatte der Fortschrittsliberalismus in Berlin auf der Ebene der Kommunalpolitik immer noch eine starke Stellung inne, die er bis zum Ende des Kaiserreichs behalten konnte. Im Folgenden soll es daher zunächst um Virchows kommunalpolitische Rolle und das damit verbundene Politikverständnis gehen. Kommunalpolitik
als „unpolitische
Politik"
Die intensive Beschäftigung Virchows mit Kommunalpolitik führte bereits bei seinen Zeitgenossen zu gegensätzlichen Bewertungen. Auf der einen Seite konnte es etwa Friedrich Engels nicht fassen, dass „ein Mann von dem wissenschaftlichen Ruf Virchows seinen höchsten Ehrgeiz darin" suche, „Stadtverordneter zu werden!"441 Auf der anderen Seite wurde diese Tätigkeit Virchows gerade für die sich darin erweisende Fähigkeit gefeiert, „das Kleine und das Große mit gleicher Gewissenhaftigkeit zu fördern und zu erledigen."442 Aber auch aus zeitlicher Entfernung scheint es so, dass nicht nur das Bürgertum, sondern auch liberale Herrschaft in Deutschland dort am wirksamsten war, wo sie am stillsten und unsichtbarsten auftrat.44 So bewegte sich Virchow selbst zwischen der Einschätzung, dass Kommunalpolitik eine entscheidende Ebene liberalen politischen Handelns darstelle, und der Auffassung, dass es sich bei dieser gar nicht um Politik im eigentlichen Sinne handle. Dieses Paradox gehört aber zum Wesen des liberalen kommunalpolitischen Verständnisses. Nach seinem Wiedereinstieg in die Politik hatte sich Virchow der während des liberalen Aufschwungs Ende der 1850er Jahre gegründeten „Ter224
busch-Gesellschaft" angeschlossen. Bei dieser handelte es sich um die nach ihrem Stammlokal benannte liberale Fraktion der Stadtverordnetenversammlung, an der unter anderem so prominente Liberale wie Viktor von Unruh, Karl Twesten, Franz Duncker, Adalbert Delbrück und Heinrich Eduard Kochhann beteiligt waren. Aus dieser Fraktion bildete sich zudem ein kleinerer informeller Zirkel, w o im privaten Kreis staatliche und kommunalpolitische Fragen besprochen wurden. 1867 löste sich diese von Seydel spöttisch „Die Vorsehung" getaufte Gruppe aufgrund aufbrechender politischer Differenzen jedoch auf.444 Virchow begründete seine Rückkehr in die Politik zunächst mit seinem Interesse an der Verbesserung des Berliner Schulwesens, das eines seiner zentralen kommunalpolitischen Tätigkeitsfelder wurde. Zusammen mit anderen Mitgliedern der „Vorsehung" wie dem jüdischen Armenarzt Salomon Neumann und dem mit ihm befreundeten Arzt Paul Langerhans unternahm er bald erste Vorstöße auf dem Gebiet der Stadthygiene, die einen weiteren Schwerpunkt seiner kommunalpolitischen Tätigkeit bildete. Eine seiner ersten Aktionen in der Berliner Stadtverordnetenversammlung zielte auf die Rückkehr zur Städteordnung von 1808 und die Abschaffung der zwischenzeitig erfolgten Veränderungen, wozu vor allem das Dreiklassenwahlrecht gehörte. 445 Bis Anfang der siebziger Jahre kämpfte Virchow auch im Preußischen Abgeordnetenhaus für möglichst weitgehende kommunale Selbstverwaltung, ein demokratisches kommunales Wahlrecht sowie für die Einführung des Reichstagswahlrechts bei den Landtagswahlen. 1869 unterstützte er die Forderung nach Ablösung des Dreiklassenwahlrechts durch das allgemeine und gleiche Wahlrecht mit geheimer Abstimmung, obwohl er mit Blick auf die historische Erfahrung in Frankreich als Folge einen Rückgang der liberalen Mandate erwartete. Jedoch überwog damals für ihn die Erwartung, dass der langfristige politische Erziehungseffekt sowie der damit verbundene Schritt auf dem Wege zur Befreiung des Einzelnen höher wiege. 446 Nachdem das Reichstagswahlrecht aber den Liberalen zunehmend zusetzte - wofür der Verlust von zwei der sechs Berliner Reichstagsmandaten an die Sozialdemokraten 1877 ein Fanal darstellte - , wankte jedoch auch Virchow in seinem Bekenntnis zu einem demokratischeren Wahlrecht. In seiner Eröffnungsansprache auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei in Berlin 1879, auf dem das alte Parteiprogramm von 1861 durch ein neues ersetzt wurde, plädierte er für das Festhalten am Dreiklassenwahlrecht in Preußen und verbrämte dies mit der üblichen liberalen Rhetorik der Unreife und Manipulierbarkeit der niederen Schichten, die erst durch Bildung zur Wahlmündigkeit geführt werden müssten: Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht auch auf kommunaler Ebene sei eine theoretische Möglichkeit, die nur dann realisiert werden könne, „wenn durch die fortschreitende Bildung die inneren Vorstellungen der Menschen von dem, was gut und recht und nützlich ist, sich mehr harmonisch und gleichmäßig entwickelt haben, als augenblicklich der Fall ist."447 Bis dahin sollte also nicht nur die Einteilung der 225
Wähler in drei Steuerklassen, sondern auch das indirekte Wahlrecht, das den Wahlmännern die eigentliche Abgeordnetenwahl übertrug, die erforderlichen politischen Sicherheiten gewähren. Anfang der 1860er Jahre hatte es noch danach ausgesehen, dass dem Fortschrittsliberalismus an allen politischen Fronten der Durchbruch gelingen würde. Freilich wurde dabei die Bedeutung der den liberalen Erfolgen zugrunde liegenden Kombination von Dreiklassen-Wahlrecht und niedriger Wahlbeteiligung ignoriert. Während die preußische Landtagsfraktion ihren Stimmenanteil in dicht aufeinanderfolgenden Wahlen mehr und mehr ausbauen konnte, gelang es 1862 der Fraktion der „Vorsehung", in Berlin die liberale Wende auch auf kommunaler Ebene durchzusetzen: Geschäftsleute und Unternehmer wie Adalbert Delbrück, Werner von Siemens und Ludwig Loewe zogen in die Stadtverordnetenversammlung ein, Kochhann aus dem Kreis der „Vorsehung" wurde Stadtverordnetenvorsteher. Das kaiserliche Bestätigungsrecht verhinderte, dass die fortschrittsliberale Mehrheit der Berliner Stadtverordnetenversammlung einen Mann ihrer Couleur zum Oberbürgermeister wählen konnte, wäre doch ein solcher niemals akzeptiert worden.44 So folgten auf den 1863 ernannten Karl Theodor Seydel weitere nationalliberale Berliner Oberbürgermeister, darunter Arthur Hobrecht und Max von Forckenbeck. Seydel, der zuvor preußischer Regierungspräsident in Sigmaringen gewesen war, wurde von der „Vorsehung" gegen den bisherigen Oberbürgermeister Krausnick durchgesetzt,449 wobei sich der mit ihm verschwägerte Virchow als Vermittler betätigt hatte, um ihn nach Berlin zu holen. Seydel erfüllte aber die Erwartungen seiner ursprünglichen politischen Mentoren nicht. Auseinandersetzungen über kommunalpolitische Fragen führten schließlich zeitweilig auch zu frostigen Beziehungen zwischen ihm und Virchow,450 was sich erst nach 1866 allmählich wieder besserte. Dies war eine indirekte Folge des preußischen Verfassungskonflikts, während dessen zwischen 1862 und 1866 am Gegenstand des Militäretats im Preußischen Abgeordnetenhaus die Machtfrage zwischen Parlament und Monarchie ausgekämpft wurde. Nach anfänglichen Erfolgen zogen die Liberalen schließlich den Kürzeren, woraus sich langfristig schwerwiegende Konsequenzen für die deutsche Verfassungsentwicklung ergaben. Eine wichtige Nebenwirkung war zudem die starke Politisierung der kommunalen Angelegenheiten Berlins. Dies widersprach jedoch Seydels Verständnis von Kommunalpolitik, der diese von Parteipolitik freihalten wollte. Virchow hatte dagegen schon während des Verfassungskonflikts die Auffassung vertreten, dass die politische Umgestaltung des Staates von unten nach oben, d. h. von den Kommunen ausgehen sollte. So hatte er 1862 im Verlauf seiner Bemühungen, Seydel nach Berlin zu holen, diesem zugeredet:
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„(...) die Hauptsache ist und bleibt doch die, ob D u diese seltene und vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit ergreifen willst, an die Spitze einer großen, intelligenten und zukunftsgewissen Gemeinde zu treten, ihre Entwickelung zu leiten und den Geist freier Selbstverwaltung, dem schon so viel vorgearbeitet ist, zu einer sicheren und dauernden Grundlage f ü r unsere politische Befreiung zu ma-
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Als Berlin schließlich im Kaiserreich zu einer der städtischen Refugien des Liberalismus in einer zunehmend illiberalen politischen Umwelt wurde, erklärte Virchow diese Stadt zu einem Schaufenster des Liberalismus, wozu besonders der Verweis auf die beeindruckenden Erfolge der Stadtsanierung diente. Gegen die Angriffe Bismarcks und Stoeckers gewandt erklärte Virchow 1881 im Reichstag: „Für uns ist dieses Berliner Stadtregiment die eigentliche Quelle unseres Ruhmes." 452 Dies führt zurück zu dem eingangs erwähnten Paradox der liberalen Auffassung von Kommunalpolitik. Jan Palmowski zufolge hätte zwischen 1850 und 1900 eine Einschätzung der Berliner Stadtverordnetenversammlung als „unpolitisch" die Zeitgenossen gewiss sehr erstaunt und wäre nur mittels einer extrem engen Definition von Politik möglich gewesen. 45 Jedoch bildete eben ein solches Verständnis von Kommunalpolitik als „unpolitischer Politik" ein zentrales Element des liberalen Selbstverständnisses, womit zugleich versucht wurde, den zunehmend ausgeprägteren bürgerlichen Klassencharakter der kommunalen Selbstverwaltung 454 zu ignorieren. Hierher gehörte auch die Auffassung, dass ein struktureller Unterschied von Kommunalpolitik und Politik auf Länder- oder Reichsebene existiere, wozu vor allem die zentrale Bedeutung der städtischen „Selbstverwaltung" gehörte. 4 1891, bei einem gemeinsamen städtischen Fest für Virchow und den ehemaligen Berliner Oberbürgermeister Max von Forckenbeck, bei dem ersterem die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen wurde, erläuterte Virchow sein und zugleich auch das herrschende liberale Selbstverständnis von Kommunalpolitik: „Ich kann von mir eins wenigstens behaupten, dass ich nie dazu beigetragen, die städtischen Angelegenheiten im Sinne einer politischen Partei zu dirigiren (Sehr gut). W i r , und ich glaube, ich kann hier ,wir' sagen, w i r können v o n uns sagen, w i r haben nie Koterie oder Parteipolitik in die Stadt hineingetragen, w e n n wir auch freisinnige Männer waren. Ich behaupte hier nach einer so langen Zeit des Dienstes, ich w ü r d e es nicht wagen, die W ü r d e eines Ehrenbürgers anzunehmen, w e n n ich nicht sagen könnte, w i r haben ohne Rücksicht auf politische Zwecke immer nur ausgehend von dem Gedanken gehandelt, f ü r das Beste der Stadt und des Vaterlandes zu wirken. (Stürmischer Beifall.)" 4 ' 6
Das hier von Virchow exemplarisch artikulierte Modell einer städtischen, liberalen Honoratiorenpolitik, die sich jenseits der vorgeblichen Niederungen der Parteipolitik wähnte, geriet jedoch im Kaiserreich im Gefolge der Entstehung eines „politischen Massenmarktes", der die strukturellen Bedin22 7
gungen auch von Kommunalpolitik tiefgreifend veränderte, in eine Krise.457 Nicht einmal mehr in Hochburgen wie Berlin waren die Liberalen ihrer bisherigen Stimmanteile sicher.458 In Kommunalwahlen bzw. den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus, in denen das Dreiklassenwahlrecht galt, blieb Berlin zwar eine Hochburg des Linksliberalismus. Bei den nach dem allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht abgehaltenen Reichstagswahlen entwickelte sich dagegen die Sozialdemokratie bereits seit Anfang der siebziger Jahre zu einer ernsten Konkurrenz. 1883 beteiligten sich die Sozialdemokraten erstmals an den Berliner Stadtverordnetenwahlen, und gleich im ersten Anlauf gewannen sie einige Sitze. 1885 nahmen auch die Nationalliberalen, die sich erst im Vorjahr in dieser Stadt selbständig organisiert hatten, erstmals an Berliner Kommunalwahlen teil.45 So ging in Berlin auch die strukturelle Eigenständigkeit des kommunalen Liberalismus verloren, der eine zentrale Rechtfertigung für das Modell der „unpolitischen Politik" ebenso wie für die Wahlrechtsbeschränkungen auf kommunaler Ebene gebildet hatte.460 In einer 1884 veröffentlichten statistischen Übersicht über die Wahlergebnisse im Kaiserreich in Berlin wurden die Parteien erstens in „Fortschrittler", zweitens „Antifortschrittler" bzw. „Konservative" oder „Bürgerpartei" sowie drittens „Sozialdemokraten" bzw. „Arbeiterpartei" eingeteilt; das Zentrum rangierte hier unter „ferner liefen".461 Darin spiegelte sich die Selbstwahrnehmung der Fortschrittsliberalen wider, die durch das Auftreten der Sozialdemokraten und der Stoeckerschen „Christlich-Sozialen Arbeiterpartei" tief erschreckt wurden. Zugleich drückte sich hier die zunehmende politische Lagerbildung aus, wobei für Virchow seit den späten 1870er Jahren noch mehr als die Konservativen die Sozialdemokraten als Gegner im Mittelpunkt standen: Diese betrachtete er nicht allein als Verfechter eines Polizeistaats, der die Unterdrückung selbst des konservativsten, absolutistisch regierten Staates in den Schatten stellen würde, sondern auch als Reservoir der „unreifen, halbwüchsigen und drittelwüchsigen" Wähler.462 Zwar gehörte Virchow in den 1880er Jahren zu der aus dem Kreis der demokratischen Linken innerhalb des Freisinns zusammengesetzten sozialpolitischen Arbeitsgruppe, aus der heraus sich langfristig Perspektiven für eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie entwickelten. Jedoch blieb die Kluft zu den Sozialdemokraten für ihn wie für die meisten anderen Linksliberalen seiner Generation unüberwindlich, und so blieb er ablehnend gegenüber den seit den neunziger Jahren von jüngeren Linksliberalen wie Wilhelm Barth entwickelten Annäherungstendenzen von Liberalismus und Sozialdemokratie. 463 Die Veränderungen der politischen Lage im Kaiserreich erzwangen zugleich Erneuerungen des politischen Stils. So mussten liberale Honoratioren wie Virchow seit Anfang der 1880er Jahre auch bei der Auseinandersetzung um Stadtverordnetensitze mit Flugblättern und öffentlichen Wahlveranstaltungen um Wählerstimmen kämpfen, während er, wie gesagt, 1859 noch gewählt werden konnte, ohne überhaupt zuvor von seiner Kandidatur 228
erfahren zu haben. Zu der Anfang der achtziger Jahre einsetzenden Modernisierung des Wahlkampfstils, für die freilich Ansätze schon zuvor bestanden hatten,464 gehörten auch Versuche der Charismatisierung Virchows. Als liberale Führergestalt sollte er sozusagen zu einem Anti-Bismarck aufgebaut werden. Dies bot sich insofern an, als Virchow seit der Duell-Affäre im Jahre 1865 in der Öffentlichkeit zu einem liberalen und bürgerlichen Gegenmodell zu Bismarck geworden war. Ein wichtiges Element einer solchen charismatischen Stilisierung waren die „Virchow-Lieder", die seither ein wichtiges Element seiner öffentlichen politischen Auftritte bildeten. So wurde 1881 eine Wahlkampfveranstaltung im Berliner „Tivoli" mit einem auf der Melodie des Deutschland-Lieds gesungenen Virchow-Lied eröffnet. 465 Und 1892 fand in Berlin eine freisinnige Festveranstaltung zu seinen Ehren statt, auf der zu der Melodie von „Zu Mantua in Banden" ein von Albert Sachs gedichtetes Festlied gesungen wurde. Der letzte, von der Festversammlung stehend gesungene Vers lautete: „So führe Deine Scharen Stets neuen Siegen zu, Du Jüngling weiß an Haaren, Du „Marschall Vorwärts" Du! Wir stehen zu Dir, wo Du auch stehst, Wir folgen Dir, wohin Du gehst! Und um des Weltalls Runde Hallts wetterbrausend schier, Ein Gruß aus jedem Munde: Heil! Rudolf Virchow, Dir!"
Virchow mit den Klängen des Hoferliedes zu feiern und dann mit Heilrufen zu schließen, kritisierten bereits manche Zeitgenossen als problematischen „Autoritätskultus und Verhimmelung" 466 . Allerdings eignete er sich ohnehin schlecht zum politischen Charismatiker, nicht nur, weil er mit seiner leisen und oft unverständlichen Stimme kein mitreißender Redner war,467 sondern auch, weil die dafür erforderliche charismatische Situation nicht gegeben war. Seit den 1880er Jahren gelang es der Fortschrittspartei und ihren Vertretern in Berlin immer weniger, ihre Selbststilisierung als eine über den gegensätzlichen Klasseninteressen stehende politische Kraft aufrecht zu erhalten, auch wenn die Zurückweisung von angeblich von demagogischen Kräften künstlich unter die Wähler getragenen Zerklüftungen zu einem Hauptargument wurde. Der vorgeblichen Einheit von Volk und liberaler Partei standen mehr und mehr die Sozialdemokraten und konservative bzw. antisemitische Kräfte entgegen, die nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Stadtverordnetenversammlung insbesondere auf die soziale Karte setzten, um die liberale Stadtherrschaft zu diffamieren. Den Startschuss zu einer heftigen Agitation gegen die führende Rolle der Fortschrittspartei in der Berliner Kommunalpolitik hatte Bismarck gegeben. Als seine Berliner Dienstwoh-
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nung zu der vielfach als unsozial kritisierten kommunalen Mietsteuer veranlagt wurde, nahm er dies 1881 zum Anlass, vor dem Reichstag gegen die Rolle der Fortschrittspartei in Berlin zu wettern: „Ja, ich glaube, es ist eine weltbekannte Sache, daß in Berlin der Fortschritt regiert, ein fortschrittlicher Ring die Stadt beherrscht, der garnicht zu durchbrechen ist. Wie kommt da irgend eine andere Partei auf? Sehen Sie bei den Wahlen, bei den Anstellungen, bei den Stadtverordneten - alle Instanzen gehören in ihrer Majorität der gleichen Fortschrittspartei an"468.
Bismarck polarisierte den angeblich unsozialen Charakter der liberalen Stadtverwaltung gegenüber dem Staat als Retter der Armen, wobei er mit dem Begriff des „fortschrittlichen Rings" auf die von Korruptionsskandalen erschütterten Verhältnisse in New York anspielte.469 Solche Angriffe auf die liberale Stadtherrschaft in Berlin verbanden sich immer stärker mit antisemitischen Attacken, die Fortschrittsliberalismus und Judentum gleichsetzten. So wurde die Rede Bismarcks in 100.000 Exemplaren gedruckt und als Beilage zu der antisemitischen Ostendzeitung in allen Wohnungen Berlins verteilt, wobei sie als „Kanonenschuß zur Eröffnung der Schlacht gegen das Fortschrittsjudentum" kommentiert wurde.470 Solche Angriffe auf die, wie es hier weiter hieß, „jüdische Stadtclique" schlossen ausdrücklich auch Virchow ein, der sich schließlich genötigt sah, öffentlich zu erklären, kein Jude zu sein.471 Auf kommunaler Ebene wurden die bisherigen Strukturen der Honoratiorenpolitik zudem von der zunehmenden Professionalisierung und Bürokratisierung der städtischen Verwaltung sowie der Zentralisierung der Entscheidungsgewalt bei den Bürgermeistern betroffen. Diese Entwicklungen untergruben das bislang gültige Leitbild des städtischen Ehrenamtes, das die Stadtverwaltung in die Hände von Amateuren gelegt hatte.47 Virchow war dabei insofern gewissermaßen eine Ubergangsgestalt, als er das politische Honoratiorenmodell der städtischen Selbstverwaltung mit seinen spezifischen professionellen Kompetenzen verbinden konnte. 1895 erklärte er in seinem Rechenschaftsbericht auf einer Versammlung der liberalen Kommunalwähler der dritten Abteilung des 7. Berliner Wahlbezirkes, man „könne es ihm nicht verdenken, wenn er auch in der Stadtverordneten-Versammlung hauptsächlich als Mediziner wirke, der Uneingeweihte glaube nicht, wie vielfach er als solcher von der Stadt in Anspruch genommen werde und wie viele hygienische Einrichtungen Berlin besäße."47 So war er in dieser Zeit Mitglied in den Deputationen für Gesundheitspflege, für die Krankenanstalten, für die Statistik, für die innere Ausschmückung des neuen (roten) Rathauses sowie in der Verwaltung der Kanalisationswerke, der Direktion des Märkischen Provinzialmuseums, des Kuratoriums zur Verwaltung der Heimstätten für Genesende und der Sanitätskommission.474 In der Person Virchows verbanden sich so zwei moderne Tendenzen, die beide dem Modell des liberalen städtischen Honoratioren entgegengesetzt 230
waren: der wissenschaftliche Experte und - mit weitaus weniger Erfolg — der charismatische „Führer". 475 Hinzu kam, dass er ein zentrales Kriterium des Honoratiorenmodells, nämlich das der „Abkömmlichkeit", nur sehr begrenzt erfüllte. Auch Max Weber, dessen Vater seit 1869 besoldeter Stadtrat in Berlin gewesen war, zählte später die Leiter medizinischer Institute zu denjenigen Gruppen, die aufgrund mangelnder Abkömmlichkeit von ihren beruflichen Verpflichtungen nicht für eine Honoratiorenposition geeignet seien.476 So lassen sich an Virchow die wachsenden Schwierigkeiten des Modells der Honoratiorenpolitik sowie die zunehmende Uberforderung ihrer Trägerschicht deutlich erkennen. Die Überforderung
der liberalen
Honoratioren
Inwieweit unterschieden sich die strukturellen Bedingungen für Virchows politische Tätigkeit in Länderparlamenten bzw. im Deutschen Reichstag von der kommunalen Ebene? Bei den Wahlen im Dezember 1861 zum Preußischen Abgeordnetenhaus, die nach dem indirekten Dreiklassenwahlrecht erfolgten, gehörte Virchow zu den erfolgreichsten Kandidaten der Fortschrittspartei. Da es möglich war, gleichzeitig in verschiedenen Wahlkreisen zu kandidieren, wurde er - wie neben ihm nur noch drei andere Bewerber gleich in drei Wahlkreisen gewählt, nämlich im zweiten und vierten Wahlbezirk in Berlin sowie im - überwiegend katholischen - Wahlkreis Saarbrücken-Ottweiler-St. Wendel. 4 Er entschied sich für das saarländische Mandat und konnte dieses auch 1866 noch einmal erringen.478 Virchow widmete seinem saarländischen Wahlkreis während des preußischen Verfassungskonflikts große Aufmerksamkeit und veranstaltete dort vor anstehenden Wahlen regelrechte Wahlkampagnen, wozu auch persönliche Auftritte vor den Wählern und Urwählern gehörten. So schrieb er an Goldstücker, er habe im Oktober 1861 in Saarbrücken „Wahlagitation gemacht, anfangs mit großem Widerstreben, dann aber, als ich die überaus intelligente u. politisch (...) geschulte Bevölkerung kennen lernte, mit wirklichem Vergnügen." 479 Auch vor den Neuwahlen im folgenden Jahr unternahm er eine mehrtägige Wahlkampfreise in seinen saarländischen Wahlkreis, wo ihm in den verschiedenen dazugehörigen Gemeinden ein triumphaler Empfang bereitet wurde. Er wurde jeweils von Delegationen der einzelnen Gemeinden empfangen und zu den einzelnen Versammlungen der Wähler und Wahlmänner gebracht, wo er von den lokalen Bürgermeistern begrüßt wurde und wo dann „natürlich viel geredet, gesungen u. getrunken, Adressen edirt und empfangen u. alles höchst einig u. herzlich wurde." 480 Ahnlich wie die Abgeordnetenwahl verliefen auch die Wahlkampfveranstaltungen in der Form eines politischen Festes, bei dem die Teilnehmer den politischen Konsens „als Gruppenritual und Gruppenerlebnis zelebrierten" 481 . Doch fehlte hier im Gegensatz zu den sich später unter den Bedin231
gungen des „politischen Massenmarktes" herausbildenden Formen noch das Moment der Konkurrenz verschiedener Parteien: In den 1860er Jahren konnte die Fortschrittspartei in vielen Regionen Preußens als die Partei des Volkes überhaupt auftreten und dies durch Einheitsrituale untermauern. Umgekehrt versuchten die staatlichen Behörden in dieser Zeit und darüber hinaus, derartige Wahlveranstaltungen massiv zu behindern. Zur amtlichen Wahlbeeinflussung in Virchows saarländischem Wahlkreis gehörten nicht nur Versuche, Staatsbeamte und Staatsangestellte zu regierungstreuem Wahlverhalten anzuhalten, sondern auch disziplinarische Maßnahmen gegen Feuerwehrleute, die an einem festlichen Empfang für den Kandidaten teilgenommen hatten.482 1867 verzichtete Virchow vor der Landtagswahl siegesgewiss auf einen Auftritt in seinem saarländischen Wahlkreis, und dies mag dazu beigetragen haben, dass er die Wahl knapp gegen einen konservativen Herausforderer verlor, der von einer intensiven Regierungskampagne unterstützt worden war.483 Deshalb nahm er nunmehr das Mandat im dritten Berliner Wahlbezirk an - aufgrund des dort stark vertretenen Maschinenbaus einer der industriereichsten Bezirke des Landes mit starker Arbeiterbevölkerung-, den er bis 1902 regelmäßig wiedergewann. Bereits 1849, als er Berlin nach Würzburg verlassen hatte, war ihm versprochen worden, dass man ihn bei nächster Gelegenheit zum Abgeordneten machen werde,484 und nun war die Gelegenheit gekommen. In Berlin konnte er sich auf das liberale Vereinsnetzwerk stützen, das ihn bei seinen Wahlkampfauftritten tatkräftig unterstützte, während er zugleich durch regelmäßige öffentliche Rechenschaftsberichte bei Wahlmännerversammlungen den Kontakt zur politischen Basis zu halten suchte.4 5 Bereits seit den frühen sechziger Jahren vertrat Virchow ein ,modernes' Konzept von Wahlagitation und politischer Öffentlichkeit. Im August 1862 ließ sich die von den Fortschrittsliberalen beherrschte Budget-Commission des Preußischen Abgeordnetenhauses, der neben Virchow auch Franz Duncker, Heinrich von Sybel, Max von Forckenbeck und Karl Twesten angehörten, fotografieren. Dabei ging es bereits darum, das Medium der Fotografie als politisches Instrument zu nutzen, wie Virchows Kommentar an seine Frau verrät: „Es ist ein Gesamtbild gemacht worden, das nach Aussage des Photographen sehr gelungen sei: Ist das richtig, so muß es viel Absatz fin1 «486 den. Der preußische Verfassungskonflikt, in den diese Episode fiel, war in vielerlei Hinsicht ein zentraler Einschnitt in der liberalen Erfahrungsbildung. Jenseits seiner großen Bedeutung für die verfassungspolitische Entwicklung Deutschlands veränderte er auch das Rollenverständnis des modernen Parlamentariers. Wie Virchows Korrespondenz zeigt, brachten ihn die zeitlichen Anforderungen des modernen Partei- und Parlamentsbetriebs, die während des Verfassungskonflikts ein Maximum erreichten, in erhebliche Schwierigkeiten, da er sowohl die Wissenschaft als seine Familie für längere Zeit hintanstellen musste. Auch auf dem scheinbaren Höhepunkt der liberalen Erfolge 232
- noch bevor Bismarck als neuer Ministerpräsident berufen wurde - machte er sich keine großen Illusionen. So schrieb er seiner Frau am 27. August 1862 nach Sigmaringen, w o sie bei der Familie ihres Schwagers Seydel weilte: „Unsere politischen Aussichten sind eher unter, als über Null. W i r arbeiten, wie es scheint, rein f ü r die Zukunft. A b e r es kann auch jeder Tag einen U m s c h w u n g bringen, u. dann weiss die Nation, was sie soll u. will. Garibaldi's Vordringen ist so ein unerwarteter Erfolg, dem leicht andere folgen können. Das Wichtige ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die wachsende Einsicht des Volkes, die Zunahme an politischer Bildung, die Bekanntschaft mit dem Staat. U n d das schafft unsere langsame Arbeit sicherer, als der schnelle G e w i n n einer stürmischen Session." 487
Charakterisierte Virchow hier Politik als langfristige Erziehungsaufgabe, so rechtfertigte er seine anhaltende Abwesenheit von seiner Frau drei Wochen später mit aktuellen Notwendigkeiten. Dazu versuchte er ihr die privaten Konsequenzen seiner politischen Tätigkeit vor Augen zu führen, denn ein „starkes u. freies Deutschland wird auch die Familie erst zu echter behaglicher Ruhe des Genusses kommen lassen." Seine Tröstungen gipfelten darin, dass allein die deutsche Einigung Sicherheit vor einem möglichen Angriff Frankreichs über den Rhein schaffen würde. 48 Darin artikulierten sich die Ängste vor einer französischen Osterweiterung, die ein wichtiges Element der integrierenden Wirkung defensiv-nationaler Vorstellungen des Liberalismus in den sechziger Jahren bildeten. 489 Die Überlastung mit Aufgaben veranlasste Virchow bereits im Oktober 1862 - kurz nachdem Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten berufen worden war - in einem privaten Brief zu weitreichenden Schlussfolgerungen: „ A b e r eines ist mir klar geworden, was ich bis dahin bezweifelte, nämlich daß sich praktische Politik u. praktische Wissenschaft auf die Dauer nicht vereinigen lassen u. daß mir nur die W a h l der einen oder der anderen bleibt. Du weißt, wie sehr ich von äußeren Gelegenheiten abhängig bin, u. ich fühle, daß Fälle eintreten könnten, welche mir individuell nur die Wahl der praktischen Politik übrig ließen, aber ich wünsche u. h o f f e es nicht. Vielmehr empfinde ich das lebhafte Bedürfnis, zur praktischen Wissenschaft zurückzukehren, u. meine Absicht geht dahin, in dem Maaße, als die Parteiorganisation fester wird, mich aus diesen Banden loszumachen u. anderen das Feld zu überlassen, welche mehr Zeit u. Neigung haben, alle jene persönlichen Beziehungen zu cultiviren, ohne welche sich, wie ich sehe, keine dauerhafte politische Wirksamkeit ausüben lässt." 490
In der als Verfassungskonflikt bekannt gewordenen Auseinandersetzung um das Budgetrecht des preußischen Abgeordnetenhauses, die sich an der Frage des Militäretats entzündet hatte, stieß das liberale Modell der Honoratiorenpolitik somit an seine Grenzen. Diese Entwicklung wurde durch die von der preußischen Regierung provozierte schnelle Abfolge von Wahlen bewusst verschärft. Mehrfach führte dies dazu, dass Virchow zumindest im privaten 233
Kreis seinen politischen Rückzug ankündigte. Nach dem Sieg Bismarcks in der Auseinandersetzung um die Indemnitätsvorlage, wodurch die Mehrheit des Preußischen Abgeordnetenhauses das Vorgehen des Ministerpräsidenten im Verfassungskonflikt nachträglich billigte, und der Abspaltung der Nationalliberalen von der Fortschrittspartei war Virchows politische Frustration so groß wie vielleicht nur noch 1849 nach dem Ende der Revolution. Dies zeigt auch die ungewöhnliche Dichte der Überlieferung, mit der seine diesbezüglichen Überlegungen dokumentiert sind. So weigerte er sich 1867, für den Reichstag des Norddeutschen Bundes zu kandidieren, dessen Verfassung er ohnehin abgelehnt hatte:491 „Jemand, der seit Jahren wie in einer Tretmühle gearbeitet hat, empfindet die Eröffnung des Reichstages, die ihn zunächst ungestört lässt, wie einen Tag der Erlösung. Es hat etwas persönlich so Angenehmes, Politiker a. D . zu sein, daß alle anderen Sorgen für Augenblicke schwinden. Ueberdies gibt es Zeiten, wo auch in der Politik die Naturkräfte ζ. B. die Gravitation mehr machen, als die Menschen, u. ich habe die Vorstellung, daß diese Zeit für uns gekommen ist." 492
Virchow sehnte sich wieder einmal nach der geordneten Welt der Wissenschaft, während der Kairos für mögliche politische Veränderungen scheinbar vorbeigegangen war. Im April 1867 schrieb er deshalb: „In den politischen Dingen habe ich nach u. nach mich von der harten Ekelkur erholt, die wir durchzumachen hatten. O b ich mich für lange oder für immer ganz von der Politik zurückziehen werde, habe ich noch nicht ausgemacht, doch habe ich große Neigung dazu. Da ich keine Versuchung in mir verspüre, für die Revolution zu arbeiten, so betrachte ich meine Rolle unter der Regierung König Wilhelms als ziemlich abgeschlossen. Zum National-Liberalen bin ich verdorben, u. wenn ich für die Zukunft arbeiten muß, so thue ich es lieber im Wege der Wissenschaft, als in Pseudoparlamenten." 493
Seine politische Reaktion ähnelte auch in anderer Hinsicht der Zeit am Ende der Revolutionsepoche: Zunehmend löste er sich von der Tagespolitik und stellte sich auf lange Entwicklungsepochen in der Psychologie der Massen ein. Die lange Zeit, derer es nach dem „Abfall der Nationalen" seiner Meinung nach bedurfte, um wieder eine Sammlung der liberalen Kräfte vorzunehmen, wollte er lieber anders nutzen als zu mühsamer parlamentarischer Arbeit, und so dachte er 1867 daran, sich „ganz aus der Parlaments-Jacke herauszuziehen. Ich kann es gegenwärtig noch nicht, weil die Opposition noch nicht hinreichend geschlossen ist, als das dort ein Austritt ihrer Sicherheit nicht nachtheilig werden könnte. Aber es ist mir eine drückende Last, u. ich empfinde es als eine unwürdige Fessel, mit einer Majorität, wie wir sie jetzt haben, verhandeln zu müssen. Meine anderen Aufgaben sind ungleich größer, u. ich werde den Tag grüßen, wo ich mich ihnen ganz hingeben, u. dann zugleich meiner Familie u. meinen Freunden leben kann.- Ein langer Sermon! O f t genug gehalten, u. doch noch immer fruchtlos!" 4 9 4
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Dass sich Virchow im voraus bereit erklärt hatte, erneut für das Preußische Abgeordnetenhaus zu kandidieren, erschien ihm in diesem Jahr „fast wie eine Thorheit", da er mit Schrecken dem Moment entgegensah, da er wieder seinen ehemaligen Parteifreunden gegenüberstehen würde, die sich nun in der Nationalliberalen Partei zusammengeschlossen hatten.495 Sein politisches Pflichtgefühl gab schließlich aber doch den Ausschlag dafür, weiter in der Politik auszuharren. Das Gefühl der Verpflichtung zu öffentlicher politischer Tätigkeit bildete damit bei ihm noch Teil der bürgerlichen Identität, auch wenn ihm die daraus resultierende zeitliche Belastung oft unerträglich erschien. Angebote, auch für den Reichstag zu kandidieren, lehnte Virchow immer wieder ab, wobei er vor allem zeitliche Gründe geltend machte. Allerdings mochte er 1873, auf dem Höhepunkt des preußischen Kulturkampfs, in dem er wie schon im Verfassungskonflikt eine zentrale Rolle spielte, schon nicht mehr gänzlich ausschließen, doch „der Verlockung (zu) erliegen", sofern erst einmal die Auseinandersetzungen um die Kirchenfragen und um die preußische Provinzialverfassung, die ihn zu dieser Zeit politisch hauptsächlich in Anspruch nahmen, einen gewissen Abschluss gefunden haben würden. 496 Schließlich war es aber die von Hofprediger Adolf Stoecker ausgehende politische Herausforderung, die seinen Widerstand gegen eine Reichstagskandidatur überwand. Dabei litt Virchow unter der zunehmenden Verschärfung des Wahlkampfstils, die bei dieser Konkurrenz besonders scharf zu Tage trat, wie er 1881 kommentierte: „Die Agitation hat eine Stärke und Formen angenommen, wie sie bisher fast gänzlich unbekannt bei uns waren." 4 7 Bei den folgenden Reichstagswahlen drei Jahre später wiederholte sich diese Erfahrung, und Virchow musste, wie er gegenüber Heinrich Schliemann klagte, „einen Tag um den anderen in eine Volksversammlung gehen, aber das Volk der Berliner ist jetzt so wankelmütig, wie die Achäer, und keine Athene tritt mir zur Seite. Ich muss also den Kampf gegen Hrn. Stoecker allein durchfechten." 498 Virchow artikulierte damit zugleich eine neuartige Erfahrung, die für politische Abgeordnetenkarrieren von größter Bedeutung war. Wie er einem unbekannten Korrespondenzpartner mitteilte, begann „der überschwängliche Parlamentarismus des Fürsten Bismarck (...), den politischen Eifer zu schwächen und den Vorrath an Politikern zu erschöpfen." 499 Damit wies er auf einen wichtigen Nebeneffekt der Parlamentarisierung des Deutschen Reiches hin, der die insgesamt noch wenig professionalisierte Fortschrittspartei empfindlich traf: Die verstärkten personellen und sachlichen Anforderungen ließen sich aus dem begrenzten Reservoir an bürgerlichen Honoratioren, die wie Virchow Politik meist als Nebenberuf betrieben, immer schwerer befriedigen. Zwar blieb das honoratiorenpolitische Modell bis zum Ersten Weltkrieg Grundlage der liberalen Politik nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf der Ebene der Landes- und Reichspolitik. Und so wird auch argu235
mentiert, dass „sich die Honoratiorengesellschaft der Linksliberalen als flexibler und überlebensfähiger als oft behauptet" erwiesen habe.500 Jedoch zeigten sich schon früh die Grenzen der Funktionsfähigkeit dieses Politikmodells, was Virchow wiederholt thematisierte. So erklärte er bei seiner Gedenkrede auf den 1875 plötzlich verstorbenen Parteiführer der Fortschrittspartei Leopold Freiherr von Hoverbeck diesen zum Opfer der mit der verschärften Parlamentarisierung verbundenen Mehrbelastungen: „Der forcirte Parlamentarismus unserer Tage fordert die Arbeitstheilung. Wer die Politik nicht als Handwerk betreibt, der ist nicht mehr in der Lage, allen Ansprüchen des öffentlichen Lebens zu genügen. Selbst für die ausschließlichen Politiker ist es eine fast unerträgliche Anstrengung. Wenn das W o r t wahr ist, was man (...) erzählt, es solle der Parlamentarismus durch den Parlamentarismus zerstört werden, so kann man sagen, daß es sich wirklich nicht bestätigt hat. Aber das ist wahr, daß der Parlamentarismus die Parlamentarier tödtet. Wie viele der teuersten Männer hat das Vaterland zu betrauern, die ihr Leben gelassen haben auf der Walstatt der parlamentarischen Kämpfe! Auch Hoverbecks stählerne Natur erlag den Anstrengungen."
Nach dem Tod Hoverbecks begann der innerparteiliche Aufstieg Eugen Richters, der den Typus des Berufspolitikers verkörperte, an die Spitze der Fortschrittspartei. Als Konsequenz der in den späten 1870er Jahren einsetzenden Professionalisierung der Führungsspitze der Fortschrittspartei verringerte sich auch die anfänglich zentrale innerparteiliche Rolle Virchows mehr und mehr. Innerhalb der linksliberalen Parteiorganisation gehörte er zum engeren Führungskreis, der sich aus den in Berlin ansässigen führenden Liberalen zusammensetzte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das enge Verhältnis zu dem politischen Journalisten und Parteisekretär Ludolf Parisius, mit dem er denselben Berliner Landtagswahlkreis teilte. Allerdings konnte sich Virchow in späteren Jahren aufgrund seiner beschränkten Abkömmlichkeit nur begrenzt an den laufenden Geschäften der Parteiführung beteiligen. In den späteren Jahren agierte er immer mehr nur noch als Galionsfigur und wurde deshalb 1891 von der den Nationalliberalen nahestehenden Kölnischen Zeitung spöttisch zum „weißen Elefant der Partei"502 erklärt. Bereits von Anfang an war Virchow Mitglied des Zentralwahlkomitees der Fortschrittspartei gewesen, das deren Kurs zwischen den Parteitagen bestimmte, und auch dem 1866 gegründeten engeren geschäftsführenden Ausschuss der Fortschrittspartei gehörte er an.503 Seit ihrer Neuorganisation im November 1878 amtierte er als stellvertretender Vorsitzender des Zentralwahlkomitees. Zudem war er unter den drei Abgeordneten, die dem geschäftsführenden Ausschuss der Fortschrittspartei in wichtigen politischen Fragen hinzutraten. Virchow hatte im Gegensatz zu Richter die 1884 erfolgte Fusion von Fortschrittspartei und Liberaler Vereinigung zur deutsch-freisinnigen Partei gewünscht.504 In der neuen Partei wurde er zweiter Stellvertreter des Vorsitzenden des Centraikomitees sowie stellvertretender Vorsitzender 236
des weiteren geschäftsführenden Ausschusses, 505 doch lag die Macht mehr und mehr bei Richter. Virchow unterstützte diesen loyal bei seinem Kurs, der die Linksliberalen nicht auf den Weg einer Volkspartei, sondern einer elitären mittelständischen Programmpartei führte. So kam er diesem nicht nur bei der Parteikrise der Deutsch-Freisinnigen 1890 zur Hilfe, sondern trug auch die 1893 erfolgte Abspaltung der Freisinnigen Volkspartei mit, in der er aber keine Parteiämter mehr übernahm. 506 Neben individuellen Gründen zeichnete sich hierin aber auch eine allgemeine Tendenz ab, wonach „führende Männer der Wissenschaft" und andere Honoratioren nur noch als „Reklamemittel" von Bedeutung waren, während die praktische Arbeit mehr und mehr in die Hände bezahlter Parteiangestellter überging. 3 Virchow registrierte die Erfordernis der Professionalisierung der Parlaments- und Parteitätigkeit und akzeptierte auch die Notwendigkeit dieser Entwicklung. Dass er nicht die Konsequenz einer stärkeren Beschränkung seiner parlamentarischen Tätigkeit zog, sondern diese 1880 auf Drängen seiner Partei durch die Übernahme eines Berliner Reichstagsmandats sogar noch ausweitete, lag deshalb nicht nur an der durch die Kandidatur Stoeckers aufgetretenen konkreten Bedrohung, sondern vor allem auch an dem aufgrund der nachlassenden Attraktivität der Linksliberalen für den politischen Nachwuchs entstandenen Mangel an geeigneten Kräften. Anfang der 1890er Jahre beklagte Virchow die personellen Schwierigkeiten seiner Partei: „Die Zahl der Abgeordneten, welche f ü r agitatorische Thätigkeit zu haben sind, verkleinert sich in dem Maaße, als die Ansprüche an eine solche Thätigkeit sich weit über die Leistungsfähigkeit steigern. (...) Sie dürfen nicht vergessen, daß eine Partei, welche 3 0 Jahre lang in der Opposition steht, keinen großen Vorrath an Männern haben kann, welche sich ausschließlich mit Politik beschäftigen - Jedenfalls gehöre ich zu diesen Männern nicht. Das wissen Sie u. jedermann. Passt das den W ä h l e r n nicht, so bin ich gern bereit, auf eine Wiederwahl zu verzichten. Ich habe andere Aufgaben im Dienste der Menschheit zu erfüllen u. es giebt viele gute Männer, welche die Meinung haben, es wäre nützlicher gewesen, wenn ich mich auf diese Aufgaben beschränkt hätte. Wahrscheinlich hätte ich es auch gethan, w e n n ich nicht erwartet hätte, daß die Wähler mit der Zeit lernen würden, sich über ihre Angelegenheiten selbst zu unterhalten." 508
Die Linksliberalen wie die Nationalliberalen kämpften mit zunehmenden Schwierigkeiten, Männer zu finden, die bereit waren, politische Verantwortung und Aufgaben zu übernehmen. 509 Neben der mit solcher Tätigkeit verbundenen wachsenden zeitlichen Belastung hatte dies auch mit der Empfindung zu tun, dass der Ton und Stil der politischen Aktivität nicht mehr länger mit dem Selbstverständnis einer respektablen bürgerlichen Existenz verträglich waren, wodurch das liberale Modell der Honoratiorenpolitik an der Wurzel getroffen wurde. 510 Dies mündete schließlich 1908 in eine von Werner Sombart ausgelöste Debatte, der seine Analyse zugrunde lag, wonach der Anspruch auf „Persönlichkeit" und öffentliche politische Betätigung in 237
einen Widerspruch geraten seien.511 Für Virchow gehörte zwar beides noch zusammen, doch brachte dies erhebliche persönliche Belastungen mit sich. Während er die Uberforderung des traditionellen Honoratiorenmodells an seinem eigenen Beispiel deutlich vor Augen hatte, fühlte er sich vor allem durch den Mangel an geeignetem Personal immer wieder genötigt, sich erneut vor den Karren seiner Partei spannen zu lassen. „Pflichtgefühl" bildete im bürgerlichen Wertehaushalt des 19. Jahrhunderts einen nicht zu unterschätzenden Posten. So erklärte er im Juni 1893 auf einer Wahlkampfrede für die bevorstehenden Reichstagswahlen, jemand habe ihm geschrieben, dass er nun doch besser zu Hause bleiben solle, „er müsse doch einsehen, dass er kein Politiker sei. Nun gäbe er zu, dass er kein Berufspolitiker sei, ein solcher sei in der freisinnigen Partei nur Eugen Richter. Da aber ein solcher Mangel an Berufspolitikern herrsche, so habe er sich zu einer nochmaligen Candidatur verstanden und wolle auch auf seinem Posten ausharren."512 Jedoch verlor Virchow diese Wahl gegen den sozialdemokratischen Kandidaten, was er unter anderem mit einem Rücktritt von allen Parteiämtern quittierte.513 Hier überschnitten sich somit mehrere Entwicklungstendenzen: die Krise des Liberalismus und der gegenläufige Aufstieg der Sozialdemokratie, die Professionalisierung der Politik und das daraus resultierende wachsende Spannungsverhältnis zu dem liberalen Modell der auf „Persönlichkeit", „Bildung" und „Unabhängigkeit" gegründeten Politik als Nebenberuf sowie schließlich auch der Rückgang der Bedeutung naturwissenschaftlicher Gelehrtenpolitiker. Vor allem in den sechziger, aber auch noch in den siebziger Jahren hatten Naturwissenschaftler und Ärzte noch eine wichtige Rolle unter den Führern der Liberalen gespielt, doch traf dies seit den achtziger Jahren zunehmend weniger zu.514 Worin hatte die besondere Rolle dieser Gruppe für liberale Politik bestanden? Welche Bedeutung hatte ihre professionelle Rolle als Naturwissenschaftler und Ärzte für ihre politische Autorität und Kompetenz gespielt? Und inwieweit ergab sich hier schließlich ein spezieller Beitrag für einen liberalen Politikstil? Diesen Fragen wendet sich der nächste Abschnitt am Beispiel von Virchows Abgeordnetentätigkeit zu.
b) Naturwissenschaftliche „Wahrheit" und Politik Im Folgenden soll es nicht darum gehen, Virchows über mehr als vier Jahrzehnte ausgeübte politische und parlamentarische Tätigkeit detailliert zu beschreiben, würde dies doch bedeuten, eine Geschichte des Linksliberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verfassen. Vielmehr soll hier die Frage im Mittelpunkt stehen, welche Bedeutung die für ihn charakteristische Verknüpfung von politischer Tätigkeit und wissenschaftlicher Autorität für die Frage nach dem Stil liberaler Politik in diesem Zeitabschnitt besaß. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Frage nach dem liberalen Ge238
halt seines Politikstils zu stellen: Zunächst lässt sich erörtern, inwieweit dieser im Zusammenhang mit spezifisch liberalen Inhalten stand. Während dies bei den klassischen politischen Großkonflikten wie dem Verfassungskonflikt und dem Kulturkampf in Preußen, wo zentrale Punkte der liberalen Agenda unmittelbar betroffen waren, auf der Hand liegt, ist dies bei anderen Themen wie der Stadtsanierung schwerer zu beantworten. Virchow selbst erklärte 1889 in einer Wahlrede in seinem Wahlbezirk als Stadtverordneter der dritten Abteilung in Berlin, „man pflastere Straßen nicht politisch und baue auch keine Krankenhäuser nach politischen oder religiösen Gesichtspunkten, sondern lasse sich nur von Gesichtspunkten des allgemeinen Nutzens leiten. (...) Man könne natürlich seine politische Meinung nicht abköpfen, wie einen Ueberrock", doch könne die Stadtverordnetenversammlung „als Muster der Objektivität und Unbefangenheit betrachtet werden"'15. Dabei stellt sich jedoch auch die Frage, inwieweit hier politische Gesichtspunkte lediglich als Sachlogik ausgegeben wurden.516 Und inwieweit versuchte Virchow bestimmte Themen zu entpolitisieren, indem er sie auf das Gebiet wissenschaftlicher Expertise verschob ? Zudem lässt sich aber auch fragen, inwieweit der Stil der Entscheidungsfindung selbst eine politische Qualität besaß. In welcher Weise wurden also scheinbar unpolitische Projekte legitimiert und durchgesetzt, und welche Rolle spielte dabei Virchows naturwissenschaftliche Expertenrolle? Und was lässt sich daraus über das liberale Politikverständnis sowie über das Potenzial liberaler Gesellschafts- und Sozialreform erfahren? Es geht hier also vor allem um Veränderungen des Liberalismus im Spannungsfeld zwischen dem Modell der auf Honoratioren basierenden „unpolitischen Politik" einerseits und dem Aufkommen des modernen, professionellen Experten andererseits. Im Folgenden soll argumentiert werden, dass Virchow seinen eigenen Beitrag zu jenem Reformprozess, der auf die Liberalisierung der politischen und gesellschaftlichen Strukturen Preußens bzw. Deutschlands zielte, mehr und mehr auf die von ihm selbst so bezeichnete „halbpolitische Tätigkeit"517 konzentrierte. Dabei zeigt Virchows Politikstil vor allem auf kommunaler Ebene, aber auch auf der Ebene der Landes- und Reichspolitik eine deutliche Tendenz, politische Fragen nicht als politische Wertentscheidungen, sondern als wissenschaftliche Sachentscheidungen zu formulieren. Ein entscheidende Frage ist, in welcher Weise sich dabei die Legitimation politischer Entscheidungen veränderte. Jürgen Habermas definierte idealtypisch drei Modelle des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik. Er unterscheidet dabei ein dezisionistisches, ein technokratisches und ein pragmatistisches Modell. Das dezisionistische Modell basiert auf der strikten Trennung der Funktionen des Experten und des Politikers. Letzterer bediene sich dabei zwar des technischen Wissens, doch handle es sich bei einer politischen Entscheidung um eine willkürliche Auswahl aus mehreren konkurrierenden und letztlich nicht rational begründbaren Wertordnungen und Glaubensmächten. 239
In neuerer Zeit, so Habermas, sei das Verhältnis von Fachwissen und politischer Praxis hingegen durch das technokratische Modell abgelöst worden, bei dem der Politiker zum Vollzugsorgan der wissenschaftlichen Expertise werde. Diesen beiden Modellen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Politik konträr ordnen, stellt er schließlich das pragmatistische Konzept gegenüber, das ihm als das adäquate Modell für die Demokratie gilt. Dort herrsche „anstelle einer strikten Trennung der Funktionen des Sachverständigen und des Politikers" ein „kritisches Wechselverhältnis"518, womit er der politischen Öffentlichkeit eine wesentliche Rolle bei solchen Aushandlungsprozessen zuweist. Mit Hilfe dieser Typisierung soll Virchows politische Handlungsstruktur dahingehend untersucht werden, welche Rolle Wissenschaft bei ihm als Faktor bzw. als Modell politischer Entscheidungsverfahren spielte. Daran schließt sich als weitere Frage an, in welcher Weise Virchow die Wertmaßstäbe begründete, aufgrund derer politische Entscheidungen im Konfliktfall zu treffen waren. Hier stellt sich das im Hinblick auf den Liberalismus zentrale Problem, wie Virchow mit dem für moderne Gesellschaften charakteristischen Pluralismus umging, d. h. dem Umstand, „dass es eine Vielzahl vernünftiger und gleichwohl miteinander unvereinbarer Konzeptionen des Guten gibt."519 Inwieweit kollidierte also die Berufung auf die mit naturwissenschaftlichen Mitteln begründete „Wahrheit" in politischen Konflikten mit pluralistischen Werten? Unter diesen Gesichtspunkten werden im Folgenden eine Auswahl exemplarischer politischer Konflikte gemustert, in denen Virchow eine besondere Rolle spielte. Der preußische
Verfassungskonflikt
Der von 1862 bis 1866 ausgetragene preußische Verfassungskonflikt gilt bis heute vielfach als eine Weichenstellung in der Geschichte des deutschen Liberalismus. Der Konflikt endete durch die von der Mehrheit der liberalen Abgeordneten erteilte parlamentarische Indemnität, mit der das außerkonstitutionelle Vorgehen des preußischen Ministerpräsidenten in der Frage des Militäretats nachträglich gebilligt wurde und die zugleich die Aussöhnung eines Teils der Liberalen mit Bismarcks kleindeutschem, semikonstitutionellem Reich markierte. Dies wurde lange Zeit je nach politischer Perspektive als Gebot des politischen Realismus oder als ein Akt liberaler Selbstpreisgabe angesehen.520 Dementsprechend wechselt das Bild Virchows, der sich dieser Aussöhnung mit Bismarck widersetzte, wahlweise vom störrischen Prinzipienpolitiker521 zum Fels in der Brandung des liberalen Opportunismus.5 Die Folie dieser Interpretation bildet das Modell des deutschen „Sonderwegs" sowie die damit eng zusammengehörige Interpretation einer mit dem Ende des Verfassungskonflikts einsetzenden Agonie eines geschwächten deutschen Liberalismus. Beides ist allerdings mittlerweile umstritten.523
240
Mit Blick auf die individuelle Erfahrungsbildung bei Virchow lässt sich die Rede vom Verfassungskonflikt als Weichenstellung zunächst bekräftigen. Doch wird das Problem der langfristigen Bedeutung dieser Auseinandersetzung im Folgenden aus einer anderen Perspektive thematisiert. Die Konfrontation zwischen Virchow und Bismarck im preußischen Verfassungskonflikt soll hier unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik betrachtet werden. Die beiden Kontrahenten verkörpern exemplarisch zwei gegensätzliche Modelle dieses Verhältnisses, die während dieses Konflikts aufeinander prallten. Auf der einen Seite forderte Bismarck, der stets den potentiellen Wissenschaftscharakter von Politik bestritt, 5 4 die Professionalisierung der Außenpolitik, wie sie von ihm selbst verkörpert wurde. Deshalb attackierte er immer wieder, etwa 1863 während der SchleswigHolstein-Krise, den außenpolitischen Dilettantismus Virchows und anderer Fortschrittsliberaler. 5 " Damit wies er zugleich die fortschrittsliberale Forderung nach mehr Transparenz der Außenpolitik zurück. Dem stellte Virchow eine eigene Herausforderung entgegen, mit der er zugleich seine Autorität als Naturwissenschaftler zugunsten der Stellung des Parlaments mobilisierte. Dazu operierte er mit einem diskursiven Gegensatz: Auf der einen Seite stand dabei „Wahrheit" und „Öffentlichkeit", auf der anderen dagegen „Unwahrheit", „Geheimnis" und „Täuschung", womit er die von Bismarck vertretene Geheimdiplomatie belegte.326 1865 brach dieser Konflikt anlässlich der Debatte um eine Gesetzesvorlage der preußischen Regierung zum außerordentlichen Geldbedarf der Militärund Marineverwaltung offen aus. Inhaltlich ging es dabei darum, dass die Regierung das Preußische Abgeordnetenhaus zur Bewilligung einer Anleihe zum Ausbau der Marine aufforderte. Die Fortschrittspartei war bereit, diesem Ansinnen zu folgen, jedoch nur unter der Voraussetzung der Anerkennung des parlamentarischen Haushaltsbewilligungsrechts. Bismarck diffamierte diese von der zuständigen parlamentarischen Kommission formulierte Stellungnahme als Verweigerung der erforderlichen Mittel und somit als unpatriotische Handlung. Virchow als dafür verantwortlicher Ausschussvorsitzender konterte damit, dass der Ministerpräsident den Bericht der Kommission entweder nicht vollständig gelesen habe oder aber nicht die Wahrheit sage, 5 womit er ihn indirekt der Lüge bezichtigte. Nachdem sich die beiden nicht auf die Form einer von Bismarck verlangten Entschuldigung einigen konnten, forderte dieser Virchow zum Duell. Für diesen Vorgang existierte als Vorbild der 1861 ausgeführte Waffengang zwischen Virchows Fraktionskollegen Karl Twesten und dem Chef des Preußischen Militärkabinetts Generalmajor Edwin Baron von Manteuffel, der sich durch eine politische Kritik Twestens in seiner Ehre gekränkt sah und diesen daraufhin gefordert hatte.528 Dagegen lehnte Virchow Duelle grundsätzlich ab. Zudem wollte er die Auseinandersetzung im Rahmen des Entstehungskontexts des Konflikts lö241
sen und verteidigte damit auch das Recht der Meinungsfreiheit des Parlamentariers.529 Bismarck hingegen sah hier einen Angriff auf seine Persönlichkeit und forderte, diese Angelegenheit außerhalb des Parlaments auszutragen. Auf beiden Seiten zeigten sich somit nicht allein unterschiedliche Konzepte der Ehre, sondern auch ein unterschiedliches Verhältnis zur Stellung der parlamentarischen Kritik.530 Nicht zuletzt ging es hier aber um die grundsätzliche Frage, in welcher Weise „Wahrheit" und „Lüge" sanktioniert und „Vertrauen" hergestellt werden könne: Auf der einen Seite stand - vertreten durch Bismarck - ein Modell, das „Wahrheit" und „Vertrauen" mit ständischer Ehre verknüpfte, insofern es an einen aristokratischen Ehrenkodex gebunden war. Auf der anderen Seite stand hingegen - vertreten durch Virchow - die Forderung, „Wahrheit" und „Vertrauen" auf empirische Uberprüfung von Fakten unter Beachtung logischer Regeln zu stützen. Damit wurde das Modell der modernen Naturwissenschaft zum impliziten Maßstab. Während aber im Zuge der Entstehung der modernen Naturwissenschaft im England des 17. Jahrhunderts die Wahrheit des Experiments gerade durch die persönliche Integrität des Gentlemans garantiert worden war,531 stand hier der von Bismarck vertretenen Einheit von persönlicher Integrität und „Wahrheit" ein Modell entgegen, das „Wahrheit" nicht mehr an die persönliche Glaubhaftigkeit des Urhebers, sondern an universale Grundsätze von „Wissenschaftlichkeit" zurückzubinden suchte. Uber diesen Vorgang entstand die öffentliche Legende, dass Virchow zwar das Duell angenommen habe, aber gleichzeitig statt Säbel oder Pistole den Kampf mit einer trichinösen Wurst vorgeschlagen habe.532 In diesem populären Mythos schlug sich vermutlich die Erfahrung nieder, dass Virchow in die Debatten des preußischen Abgeordnetenhauses einen spezifisch naturwissenschaftlichen Ton eingebracht hatte, der von ausführlichen Exkursen über die physiologische Rolle des Salzes im Zusammenhang von Debatten über die Salzbesteuerung bis hin zu eher peripheren Ausführungen über die physikalischen Ursachen der lästigen Zugluft im Sitzungssaale reichte.534 Damit brachte er neben dem Anspruch auf „Wahrheit" zugleich die Autorität des Naturwissenschaftlers in seine Rolle als Parlamentarier ein, die er dem Selbstverständnis Bismarcks als professioneller Diplomat während des Verfassungskonflikts und auch darüber hinaus entgegenstellte. Virchow begriff Demokratie damit als „Wahrheitspolitik" , wobei auf diese Weise der Bereich der Politik und der Wissenschaft nicht auseinandergehalten, sondern der naturwissenschaftliche Wahrheitsanspruch dem Politischen als Maßstab zugrunde gelegt wurde. Dieser Wahrheitsdiskurs spielte am Ausgang des Verfassungskonflikts eine wichtige Rolle für den Bruch zwischen den beiden Lagern des Liberalismus. In seiner 1866 veröffentlichten Studie Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik begründete Hermann Baumgarten den Schwenk eines Teils der Liberalen zu Bismarck und damit das Ende des seit 1861 bestehenden 242
Bündnisses zwischen Demokraten und gemäßigten Liberalen in der preußischen Fortschrittspartei, das bald darauf in die Gründung der Nationalliberalen Partei mündete. Dort argumentierte er vor allem mit der Notwendigkeit einer stärkeren Machtorientierung des Liberalismus, der endlich regierungsfähig werden müsse, während er in den vergangenen Jahren des Verfassungskonflikts auf Opposition und Kritik fixiert gewesen sei. Dies erklärte Baumgarten unter anderem damit, dass in dieser Zeit wissenschaftliche Arbeit als „naturgemäße Vorbereitung für politisches Thun" begriffen worden sei. Unbewusst sei „die wissenschaftliche Methode auf die politische Praxis übertragen" worden. Baumgarten betrachtete dies nunmehr aber als problematisch: „Die Wissenschaft hat ihre Arbeit gethan, wenn sie die Wahrheit gefunden und ausgesprochen hat: die Politik fängt dann an." Dass dies verkannt worden sei, habe dazu geführt, dass liberale Politik in den vergangenen Jahren „auf die Formulirung theoretisch correcter Sätze das größte Gewicht" gelegt habe und deshalb so wirkungslos geblieben sei: „So absorbirte die Discussion unsere beste Kraft: hatten wir in der Debatte gesiegt, so waren wir zufrieden. (...) Die ganze unselige Politik der Resolutionen, welche in den letzten Jahren so schrecklich grassirt und uns vor den praktischen Völkern so lächerlich gemacht hat, ist in gewissem Maße eine Frucht dieser Verwechslung von Wissenschaft und Politik, die sich auch noch in einem anderen Punkte fühlbar gemacht hat, in der politischen Thätigkeit unserer Professoren. Es ist sicherlich sehr wünschenswerth und erfreulich, wenn die Vertreter unserer Wissenschaft am politischen Leben eifrig Theil nehmen. Aber es sollte dabei eins nicht vergessen werden. Wissenschaftliche Leistungen setzen wesentlich andere Geisteseigenschaften voraus als politische Handlungen. (...) Unsere bisherigen Erfahrungen lassen es wünschenswerth erscheinen, dass die Wissenschaft mit gespanntester Aufmerksamkeit das handelnde Leben begleitet, ihm mit ihrem Wissen und ihrer Einsicht zur Seite steht, aber nur mit Vorsicht das Wagnis unternimmt, selber handeln zu wollen."' 3 6
Baumgarten entwarf hier eine Position, die später von seinem Neffen Max Weber weiter verarbeitet wurde, der eine strenge Unterscheidung von akademischer Forschung und Lehre sowie politischer Tätigkeit forderte. 537 Virchow dagegen hatte im Verfassungskonflikt versucht, dem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch auch in der Politik Geltung zu verschaffen. Stellten derartige Aktionen somit - unter Berufung auf das Argument einer universalen naturwissenschaftlichen Vernunft - jene Institutionalisierung von Rationalitätskriterien in Frage, wie sie mit der Entwicklung moderner Gesellschaften eng verbunden ist538? Und welche Probleme resultierten aus dem Beharren auf einen naturwissenschaftlich begründeten Wahrheitsanspruch in der Politik für den Umgang mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen? Was bedeutete es also, wenn die im Labor bzw. im Experiment institutionalisierten Wahrheitskriterien der Naturwissenschaft in den Kompetenzraum des Parlaments verlagert wurden? Diese Fragen sollen im Folgenden am Beispiel 243
des Kulturkampfs weiter diskutiert werden. Welche Rolle spielte also die Wissenschaft in jener Auseinandersetzung um die institutionelle Differenzierung von Staat und Kirche, die seit den 1870er Jahren im Deutschen Reich entbrannte? Der
Kulturkampf
Hatte der Rückgriff auf die naturwissenschaftlich begründete „Wahrheit" im Verfassungskonflikt zur Begrenzung der Macht traditionaler Eliten gedient, so erwies er sich später gleichermaßen bedeutsam zur Eindämmung einer neuartigen Bedrohung der Stellung der liberalen Honoratioren. Auf dem ersten Parteitag der Fortschrittspartei 1879 erklärte Virchow: „Wir müssen uns als unabhängige Männer, nach oben gegen die Regierungsgewalt, nach unten gegen die Massen, welche die Gesellschaft bedrohen, hinstellen."539 In der Kategorie der „Masse" bündelten sich zahlreiche liberale Ängste im Hinblick auf den sozialen und politischen Wandel: das Auftauchen neuer Akteure in der öffentlichen Sphäre - etwa Unterschichten und Frauen aber auch deren Erweiterung und Demokratisierung sowie der damit einhergehende Einflussverlust bürgerlicher Honoratioren.540 Dies war vor allem während des Kulturkampfs deutlich geworden, der deshalb zu Recht als Rettungsversuch der liberalen Honoratioren vor den Folgen der mit dem Katholizismus identifizierten „Massendemokratie" interpretiert wurde.541 Der Kulturkampf, der zwischen 1870 und 1914 ein gemeineuropäisches Phänomen darstellte, konzentrierte sich im Deutschen Reich auf die siebziger Jahre und fand 1878 einen vorläufigen Abschluss. Virchow gehörte auf liberaler Seite zu den Hauptprotagonisten dieses Konflikts. Vorgeblich ging es ihm dabei darum, den Ubergriff der katholischen Kirche auf den Handlungsraum der immanenten Welt abzuwehren, welcher der privilegierten Erkenntnis der Naturwissenschaften vorbehalten sein müsse. Den politischen Kampf des Liberalismus mit dem Zentrum transformierte Virchow so auf die Ebene eines Konflikts zwischen Katholizismus und moderner Naturwissenschaft. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Liberalismus lässt sich insofern in gewisser Weise als ein Gegenstück zum politischen Katholizismus begreifen, als in beiden Fällen die Verbindung eines außerpolitischen Wahrheitsanspruchs mit einem politischem Gestaltungsanspruch gegeben war wobei freilich die Quellen des Wahrheitsanspruches diametral entgegengesetzt waren. Für Virchow herrschte hier eine unerträgliche Konkurrenz, weshalb der Kulturkampf für ihn zu einem lebenslangen Projekt wurde. In liberaler Perspektive ging es bei dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche somit nicht allein um die Verwirklichung der Trennung von Kirche und Staat, sondern zugleich um die Bedeutung naturwissenschaftlicher Autorität als zentrale politische Legitimationsressource. In einer direkten Ansprache an seine Zentrumskollegen am 18. Januar 1879 im Preu244
ßischen Abgeordnetenhaus formulierte Virchow die mit dieser Auseinandersetzung verbundene Machtfrage und erhob als „ein Vertreter der Wissenschaften" offen den Anspruch, „dem Glauben Schranken zu ziehen" und bekräftigte dies: „Sie müssen sich fügen, und ich sagen Ihnen, Sie werden sich fügen."542 Die liberale Grundforderung, wonach Religion Privatsache sein müsse, interpretierte er dabei in der Weise, dass sich das Gebiet des Glaubens ausschließlich auf Gegenstände „außerhalb dieser Welt" beziehen müsse. „Alles dasjenige, was wir direct erfahren können," so Virchow, „ist nicht Gegenstand des Glaubens, sondern dieses ist Gegenstand der Untersuchung, der Forschung, der Beobachtung, der wirklichen directen Ueberzeugung und schließlich des Wissens."543 Virchow wandte sich - zumindest vorderhand - lediglich gegen bestimmte Formen der kirchlichen Hierarchie. Dazu gehörte vor allem das zentralistische System der römisch-katholischen Kirche, auch wenn er zeitweise manche Entwicklungen der protestantischen Kirchen angriff, die für ihn in eine ähnliche Richtung wiesen.544 Wie bei vielen Liberalen besaß ein idealisiertes amerikanisches Modell des Verhältnisses von Staat und Kirche auch für Virchow Vorbildcharakter. Dieses erschien ihm nicht allein als konsequente Trennung von kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten, sondern beförderte geradezu, wie er feststellte, das Gedeihen des religiösen Lebens, indem es die Gemeindefreiheit herstelle.545 Zugleich beklagte Virchow die Spaltung der deutschen Nation, die ihm zufolge aus der „vollständigste(n) Differenz der Grundanschauung" resultierte. Diese gegen den Pluralismus von Wahrheitsansprüchen gerichtete Äußerung bezog sich vor allem auf die Verurteilung von Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation durch Papst Pius IX. im Syllabus errorum von 1864, den Virchow so häufig erwähnte, dass es ihm gelegentlich den Spott seiner Abgeordnetenkollegen eintrug. In einer dieser Parlamentsreden, in der er auch den Begriff „Kulturkampf" in die politische Sprache einführte, erklärte er mit Bezug auf die 1870 verkündete päpstliche Unfehlbarkeit, die dem naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruch diametral entgegengesetzt war: „wir befinden uns schon gegenwärtig im offenen Kriege, das ist ja kein Zweifel, und dieser Krieg beruht unzweifelhaft auf jener letzten Formulirung des italienisch-päpstlichen Staats-Gedankens, der in der Infallibilität ausgedrückt ist."546 Virchow identifizierte somit die naturwissenschaftliche Weltanschauung implizit mit Protestantismus und Liberalismus, die er der religiösen Weltanschauung der römischen Katholiken bzw. der Zentrumspartei gegenüberstellte. Die ablehnende Haltung der Katholiken, sich das naturwissenschaftliche Wissen zu eigen zu machen, indem sie von ihren „traditionellen Vorstellungen" nicht abließen, betrachtete er nicht allein als eine Gefahr für die nationale Einheit, sondern sogar als „inhuman, vollkommen wider die Natur"347. Seine Argumentation basierte auf einer manichäischen Unterscheidung von Fortschritt versus Anti-Fortschritt, Mensch versus Unmensch, Deutsch ver245
sus Nicht-Deutsch, wobei die eine Seite mit dem Liberalismus und die andere mit dem Katholizismus gleichgesetzt wurde.548 Mit seinen parlamentarischen Aktionen unterstützte Virchow die von der preußischen Regierung in den 1870er Jahren ergriffenen Maßnahmen gegen die Katholiken, auch wenn er dies im Nachhinein als Fehler ansah: Er rechtfertigte sich später damit, dass er damals den massiven Einsatz staatlicher Machtmittel lediglich unter der Annahme gebilligt habe, dass dies die Trennung von Kirche und Staat befördern würde, doch sei er darin getäuscht worden. 4 Vermutlich trug seine Einsicht, wonach die Unterdrückung politischer Gegner Risiken für die Freiheitsrechte aller anderen Parteien enthalte, auch dazu bei, dass er das 1878 von Bismarck eingebrachte „Sozialistengesetz" ablehnte, obwohl er die Sozialdemokratie politisch als Hauptgegner betrachtete. So war Virchow überzeugt, dass Bismarck unter dem Vorwand der Bekämpfung der Sozialdemokratie in Wirklichkeit das Ziel verfolge, „die liberalen Parteien zu vernichten"™. Ungeachtet solcher späterer Einsichten in die ambivalenten Folgen der Beschränkung der Meinungsfreiheit weltanschaulicher Gegner hatte der Kulturkampf aber ein liberales Dilemma offenbart: Dieser lässt sich als ein Versuch verstehen, einem auf eine metaphysische Begründung gestützten antipluralistischen politischen Wahrheitsanspruch mit staatlichen Machtmitteln zu begegnen. Doch vertrat Virchow im Kulturkampf selbst einen ähnlich rigorosen Wahrheitsanspruch im Bereich des Politischen, der sich in seinem Fall auf die Naturwissenschaft stützte. So fehlte in seinem Verständnis von liberaler Politik die Möglichkeit, mit der Pluralität unterschiedlicher Konzeptionen des „Guten" umzugehen.551 Fischzucht und öffentliche
Gesundheitspflege
Wie versuchte nun Virchow, seine auf naturwissenschaftliche „Wahrheit" gestützte Expertenautorität in politischen Entscheidungsprozessen konkret einzusetzen? Und welche Rolle spielte dabei der Konflikt zwischen konkurrierenden wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen? Wie schon geschildert, hatte Virchow bereits in der Zeit der Revolution Politik als „Medicin im Grossen" definiert. Von dieser technokratischen bzw. eigentlich .iatrokratischen' Vision, in der die Sozialmedizin zur Avantgarde einer demokratischen Gesellschaftsordnung wurde, rückte er freilich nach dem Ende seiner zeitweiligen politischen Abstinenz und der Rückkehr in die aktive Politik ein Stück weit ab. Seit den 1860er Jahren stand für ihn nicht mehr die Forderung nach direkter politischer Mitherrschaft der (naturwissenschaftlichen) Ärzte auf der Tagesordnung. Vielmehr konzeptualisierte Virchow nun das Verhältnis von wissenschaftlicher Expertise und praktischer Politik so, dass Wissenschaft aufgrund ihrer Untersuchungen gesellschaftlicher Zustände politische Zielvorgaben wie Lösungsvorschläge formuliere, wofür vor allem die Statistik ein wertvolles Instrument sei.5 Die moderne Naturwissenschaft und 246
Medizin sei damit „Helferin der Staatsmänner", erklärte er 1861 auf der Naturforscherversammlung in Speyer. Ein aufschlussreiches Beispiel für die praktische Seite solcher Deklarationen bildet die Entwicklung der künstlichen Fischzucht und Binnenfischerei, mit der sich Virchow im Preußischen Abgeordnetenhaus jahrzehntelang beschäftigte, da er dies als zentralen Beitrag zur Lösung des Ernährungsproblems und damit der sozialen Frage betrachtete. Im Zusammenhang einer Debatte über diese Frage im Preußischen Abgeordnetenhaus verkündete er 1862: „Aber gerade dieser Fall lehrt am besten, daß hier nicht vom grünen Tische aus Gesetze gegeben werden können, sondern daß man Leute gebraucht, die wirklich die Beobachtungen fortwährend fortsetzen und die unmittelbar aus der Erfahrung der Naturwissenschaften heraus auch die Grundlagen für die Gesetzgebung schaffen."554 Als einer der führenden Vertreter des 1870 gegründeten „Deutschen Fischereivereins", in dem er auch mit konservativen Politikern erfolgreich zusammenarbeitete, engagierte sich Virchow als Lobbyist für die künstliche Fischzucht und die Binnenfischerei.'55 Zugleich unternahm dieser Verein unter seiner Leitung umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen der natürlichen Reproduktion von Binnenfischen, um dann vor allem durch die Zucht und das Aussetzen von Fischlaichen gezielt in diesen Vorgang einzugreifen. Dieses Projekt beschritt somit den Ubergang von der natürlichen zur künstlichen Vermehrung von Fischen. Fragen der wissenschaftlichen Forschung, der Ökonomie sowie der Innen- und Außenpolitik waren dabei auf das Engste verknüpft. Hier handelte es sich gewissermaßen um einen jener „Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Technik und Fiktion"" 6 , die in der Gegenwart so vertraut geworden sind. Virchows Aktivitäten umfassten neben seiner Forschungstätigkeit im Auftrag des Deutschen Fischereivereins und beharrlicher Mitwirkung an den parlamentarischen Gesetzgebungsprozeduren auch große öffentliche Ausstellungen wie die internationale Fischerei-Ausstellung 1880 in Berlin, deren Direktorium er angehörte. 57 Sein Engagement für die künstliche Fischzucht und Binnenfischerei bildet somit einen Modellfall für die Verknüpfung der Rollen des wissenschaftlichen Experten und des im Gesetzgebungsprozess engagierten Parlamentariers. Dies stand im Zusammenhang mit den im Kaiserreich immer wichtiger werdenden Bestrebungen von Gelehrten und professionellen Experten, vereinsmäßig organisiert Regierungskreise politisch zu beeinflussen. So trat Virchow im Zusammenhang des Deutschen Fischereivereins als Fürsprecher einer technokratischen Sozialreform auf, ähnlich wie sie auch im „Verein für Socialpolitik" propagiert wurde,558 zu dem er aber in keiner direkten Beziehung stand. Im Gegensatz zu den in letzterem Verein organisierten „Kathedersozialisten" war er aber gleichzeitig als Parlamentarier tätig und beschränkte sich nicht wie diese auf die Beeinflussung von Bürokratie, Regierung und Öffentlichkeit durch wissenschaftliche Expertisen. 247
Dabei versuchte Virchow im Rahmen seines gelehrtenpolitischen Engagements zugleich in vielen Fällen, politische Fragen in unpolitische Sachfragen umzudefinieren bzw. zumindest den Anteil der von wissenschaftlichen Experten zu beantwortenden Entscheidungen an politischen Fragen auszudehnen. So verlagerte er etwa im Streit über die Frage des kolonialen Engagements des Deutschen Reichs in den 1880er Jahren die Debatte in das Feld der wissenschaftlichen Kontroverse. Dazu diskutierte er die Frage der Ansiedlung deutscher Kolonisten in tropischen Ländern in der Öffentlichkeit nicht auf der Ebene einer Auseinandersetzung um Pro und Kontra des Kolonialismus bzw. der dafür oder dagegen sprechenden Wertideen, sondern eröffnete eine Debatte über die medizinischen Probleme der Akklimatisation. 559 Virchow registrierte jedoch die Probleme, die mit der Verlagerung von politischen Entscheidungen auf nicht demokratisch legitimierte Expertengremien einhergingen. Dies zeigt etwa seine Auseinandersetzung mit den im Umfeld der deutschen Reichsgründung formulierten Vorschlägen zur Etablierung eines Reichsgesundheitsamts. Deren Hauptwortführer war der Nationalliberale Georg Varrentrapp, der als ein deutscher Apostel der Thesen des englischen Sanitärreformers Edwin Chadwick unter anderem eine Schlüsselrolle bei der Stadtsanierung von Frankfurt a. M. spielte.560 Er gehörte zum Initiatorenkreis einer 1869 bzw. 1870 beim Reichstag eingereichten Petition, welche die Einrichtung eines Reichsgesundheitsamts forderte,561 das 1876 schließlich zustande kam. Zum Podium dieser Vorschläge wurde die Sektion für öffentliche Gesundheitspflege der deutschen Naturforscherversammlung, aus der wiederum unter Varrentrapps maßgeblicher Mitwirkung 1873 auch der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hervor562
gmg· Letzterer war neben dem kathedersozialistischen Verein für Socialpolitik vermutlich das bedeutendste Beispiel für das Modell der technokratischen Sozialreform. Das Tätigkeitsfeld des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege kam Virchows Interessen sehr nahe. Um so bemerkenswerter ist die feindliche Haltung, die er diesem gegenüber einnahm. Virchow führte als Gutachter der preußischen Königlichen Wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen, in der er seit seiner Ernennung 1860 jahrzehntelang eine führende Rolle spielte, eine heftige öffentliche Auseinandersetzung mit Varrentrapp. Dieser hatte im Vorfeld seiner Initiativen für ein Reichsgesundheitsamt vergeblich versucht, Virchow persönlich davon zu überzeugen, dass der Vorstoß die „weitestgehende communale Autonomie", ohne welche „wir in Deutschland auch zu keiner gesicherten, eigentlich politischen Autonomie" kommen würden, nicht angreifen solle.56 Die sich über Jahre hinwegziehende Auseinandersetzung zwischen Virchow und Varrentrapp ist für die Frage nach der Rolle professioneller Experten in der Politik in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst betonten beide Kontrahenten stets die unpolitische Natur des zur Verhandlung ste248
Abb. 1
Zeichnung Rudolf Virchows von Ludwig Pietsch, ca. 1849
Abb. 2
In Würzburg, 1850: stehend Rudolf Virchow (links) und der Physiologe Rudolf Albert Kölliker, sitzend der Chemiker Johann Joseph von Scherer, der Gynäkologe Franz von Kiwisch und der Rektor der Universität, Franz von Rinecker (von links nach rechts).
Abb. 3
Ferdinande, gen. Rose, und Rudolf Virchow, 1851 in W ü r z b u r g
Abb. 4
Budgetkommission des Preußischen Abgeordnetenhauses im Sommer 1862. Rudolf Virchow ist die zweite Person in der zweiten Reihe (links).
Abb. 5
Lithographie Rudolf Virchows von F. Hecht, vermutlich aus der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts. Dreizeiliges Autograph Virchows: „Es gibt keine höhere Treue, als die gegen/das Recht, und kein höheres Recht, als das der Wahrheit".
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Abb. 6
Flugblatt zu den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung am 18. Oktober 1883
Abb. 7
Rudolf Virchow im Pathologischen Institut der Charite
Abb. 8
Sektionsraum im Pathologischen Institut der Charite
Abb. 9
Virchows Schreibtisch im Pathologischen Institut der Charite
Abb. 10 Skelette und Gipsabdrücke von Köpfen aus der Sammlung Rudolf Virchows
A b b . 11 „Freisinnige Zukunftsbilder". Politischer Bilderbogen N o . 3, Dresden 1892
Abb. 12 „Das Gastmahl der Familie Mosse". Wandbild im Speisesaal der Villa Mosse am Leipziger Platz von Anton von Werner (1899). In der Mitte mit erhobenem Pokal steht der Abgeordnete der Freisinnigen Vereinigung Albert Traeger, an der Längsseite der Tafel, mit Blick zum Betrachter und weißer Halskrause, der Abgeordnete der Fortschrittspartei Albert Hänel, in der Mitte sitzt Rudolf Virchow, der einem weiteren Gast einschenkt. Der Auftraggeber des Bildes Rudolf Mosse steht rechts hinter Virchow.
Abb. 13 Rudolf Virchow in seinem privaten Arbeitszimmer, 1901
Abb. 14 Der „Riese" Lewis Wilkins bei einer Demonstration vor Virchows Studenten im Pathologischen Institut (1901)
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