Weißkittel und Braunhemd: Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop 9783666300561, 9783525300565, 9783647300566


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German Pages [290] Year 2014

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Weißkittel und Braunhemd: Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop
 9783666300561, 9783525300565, 9783647300566

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Katharina Trittel / Stine Marg / Bonnie Pülm

Weißkittel und Braunhemd Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Mit 12 Abbildungen Umschlagabbildung: Gestaltung: Julia Kiegeland Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30056-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de  

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Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Quellen- und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Im Kaleidoskop: Unbelastet nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Der Bürger R ­ udolf Stich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Im Kaleidoskop: Nationalliberale Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Im Kaleidoskop: »Überzeugter Nationalsozialist« . . . . . . . . . . . . . 63

Der Mediziner R ­ udolf Stich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Vorbild I: Der Arzt-Vater Eduard Stich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Im Kaleidoskop: Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Nürnberg . . . . 88 Im Kaleidoskop: Der Bahnarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Vorbild II: Der akademische Vater Carl Garré . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Selbstverständnis der chirurgischen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 99 Führer zur »Volksgesundheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Seine Haltung als Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Stich und historische Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Eugenische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 An der Chirurgischen Klinik in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Im Kaleidoskop: Zwangssterilisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Im Kaleidoskop: Halbgott in Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Inhalt

Arzt in der Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Beratender Chirurg im Wehrkreis IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Stich als Beratender Chirurg im Ersten und Zweiten Weltkrieg . . . . 153 Arzt und Soldat: Spannungsfeld oder Synthese? . . . . . . . . . . . . . 156 Stichs Versuch einer Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Im Kaleidoskop: Das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern für »kriegswichtige« Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Im Kaleidoskop: Auseinandersetzung mit der Heeressanitätsinspektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Der Hochschullehrer ­Rudolf Stich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 An der Medizinischen Fakultät der Georgia Augusta . . . . . . . . . . . . 177 Im Kaleidoskop: Die Koryphäe der Gefäßchirurgie . . . . . . . . . . . 177 Im Kaleidoskop: Dekan als Führer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler . . . . . . . . 221

Im Kaleidoskop: Belastet nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Verzeichnis der verwendeten Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . 274 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Onlineressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Prolog

Fragestellung Rudolf Stich, 1875 als Sohn eines Arztes in Nürnberg geboren, war von 1911 bis 1945 Inhaber des Lehrstuhls für Chirurgie an der Georg-August-Universität Göttingen und der Leiter der dortigen Chirurgischen Klinik. Er war Träger zahlreicher Medaillen und Ehrungen, darunter die Göttinger Ehrenbürgerschaft und das Große Verdienstkreuz (Halskreuz) der Bundesrepublik. Doch Rudolf Stich war nicht nur ein erfolgreicher Operateur und geschätzter Hochschullehrer, sondern auch »Förderndes Mitglied« der SS seit 1933 und SASanitätssturmführer, Mitglied in der NSV, in der Reichsdozentenschaft, dem NS -Ärztebund und dem NS -Altherrenbund, sowie der NSDAP. Unter seiner Verantwortung als Dekan der Medizinischen Fakultät von 1939 bis 1945 und Leiter der Chirurgischen Klinik wurden auf der Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung zur »Verhütung erbkranken Nachwuchses« Zwangssterilisationen durchgeführt, außerdem Zwangsarbeiter beschäftigt, »kriegswichtige Forschung« geleistet. Rudolf Stich wird überaus positiv im Gedächtnis der Stadt erinnert, noch im Jahr 1985 wurde ihm zu Ehren an einem Universitätsgebäude, seinem langjährigen Wohnhaus, eine öffentliche und weithin sichtbare Gedenktafel angebracht. Doch in der Forschungsliteratur über die Geschichte der Medizinischen Fakultät im Allgemeinen und während der Zeit des Nationalsozialismus im Besonderen finden sich häufig nur kleinere Lebensbeschreibungen und Andeutungen über das langjährige Mitglied der Universität. Dabei war Rudolf Stich zweifelsohne eine bedeutende Persönlichkeit: Als Professor der Chirurgie bildete er hunderte von Ärzten aus. Als Wissenschaftler war er international anerkannt. Als Hochschullehrer wirkte er schulbildend, half durch seine Empfehlungen Lehrstuhlinhaber und Assistenten auszuwählen. Als Teil der Göttinger Bildungselite schuf er gemeinsam mit seiner Frau Margarete Stich ein offenes Haus, in dem sich das Göttinger Bürgertum zu kleinen Hauskonzerten und großen Abendgesellschaften einfand, miteinander Gespräche führte und freundschaftliche Verbindungen knüpfte. Als Burschenschafter unterhielt und beförderte er private und berufliche Netzwerke, deren Mitglieder er mitunter bevorzugt behandelte. Als politisch interessierter Arzt, als angesehener Multiplikator inmitten eines bürgerlichen Beziehungsgeflechts und als Beamter bewunderte er die »Tatkraft« der Nationalsozialisten und hatte offenbar wenig Skrupel, sich in ihren Dienst zu stellen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Prolog

Doch all das gilt es, genauer zu analysieren und zu hinterfragen. Dabei wird Stich zwar als Einzelfall, jedoch gleichzeitig als Repräsentant der Hochschullehrer, des ärztlichen Standes und des Bürgertums betrachtet, somit werden nicht nur Aussagen über seine Person, sondern auch über sein Milieu und seine Profession formuliert.1 Doch damit die konkreten Zusammenhänge tatsächlich offenbar werden können, soll mit der vorliegenden Untersuchung ein Beitrag jenseits der Fokussierung auf die Kollektivsubjekte »Täter«, »Opfer« und »Mitläufer« geleistet, sondern vielmehr ins Detail hinein gezoomt werden: Denn um Menschen, ihre Leiden und ihre Verbrechen, ihre Handlungsspielräume und die Grenzen ihres Einflussbereiches konkret sichtbar werden zu lassen, bedarf es Einzelfallbetrachtungen.2 Die untersuchungsleitende Frage für die hiesige lautet: Wie hat Rudolf Stich aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen als Hochschullehrer, Arzt und Vertreter der bürgerlichen Lebensweise seine biographischen Prägungen und die Traditionen seines Faches mit der NS -Ideologie verknüpft? Und: Welche Faktoren sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass Stich trotz seiner im Nationalsozialismus eingenommenen Rollen positiv in das Gedächtnis von Universität, Stadt und Berufsstand eingegangen ist? Dabei verstehen wir hier Familie, Erziehung, Sozialisation, beispielsweise als Burschenschafter der Erlanger Bubenreuther oder als Angehöriger des Nürnberger Bürgertums, als biographische Prägungen, während wir unter den Traditionen seines Faches seine spezifische Standestradition als Arzt und Chirurg, auch sein Selbstverständnis als Mediziner sowie die von ihm vertretenen inhaltlichen Konzepte der Humanwissenschaften begreifen möchten.3 1 Vor allem wies Michael Pohlig jüngst auf das komplizierte und letztlich kaum abgrenzbare Verhältnis von Beispiel und Fall zum Allgemeinen hin und argumentierte, dass selbst in einem Extremfall immer die Möglichkeiten und Grenzen der allgemeinen Struktur sichtbar werden und dass das Untersuchungsziel eines Partikularphänomens darin bestünde, ein generelles Problem plausibel zu machen. Michael Pohlig, Vom Besonderen zum Allgemeinen. Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: Historische Zeitschrift 297 (2013) H. 2, S. 297–319, hier S. 315 f. Vgl. auch Sabine Schleichermacher u. Udo Schagen, Enthumanisierung der Medizin und die Charité im »Dritten Reich«, in: Dies. (Hg.), Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus, Paderborn 2008, S. 9–22, hier S. 9. Die Autoren stellen auch heraus, dass sich die NS-Forschung zunehmend nicht mehr mit Kollektivsubjekten wie Täter, Opfer und Mitläufer, sondern mit Menschen, ihren Verbrechen, Leiden, Handlungsspielräume und Grenzen beschäftigt. Dies diene letztendlich der Konkretisierung und Anschauung. In diesen Zusammenhang ordnet sich auch die vorliegende Studie ein. 2 Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 9. 3 Bei der Untersuchung des Verhaltens von Stich im Nationalsozialismus muss schließlich weiter gefragt werden, ob er mit dieser Haltung und dem Einnehmen seiner zahlreichen Funktionen zwischen 1933 und 1945 das NS-Regime stabilisierte und ob er sich nach 1945 kritisch mit seinen Tätigkeiten auseinandersetzte, die gegebenenfalls ein positives Erinnern an ihn rechtfertigen könnten. In Anlehnung dazu: Hannah Bethge, Theodor Eschenburg in der NS-Zeit. Gutachten im Auftrag von Vorstand und Beirat der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Fragestellung Fragestellung

Betrachtet man die Verknüpfungen, die Stich mit dem Nationalsozialismus herstellte, tauchen immer wieder zwei Begriffe auf, die ihm als Argumentationskategorien dienen: »Führer« und (Volks-)Gemeinschaft. Diese sollen daher daraufhin analysiert werden, wie Stich sie verstand und gleichzeitig als heuristische Instrumente Verwendung finden. Spricht man in der gegenwärtigen Politik- und auch Geschichtswissenschaft von einem »Führer«, wird auf der Makroebene unter dem Begriff häufig die charismatische Führung gefasst. Sie dient dann als Analyseinstrument von politischer Führung in modernen Gesellschaften beziehungsweise als Legitimation von Herrschaft.4 Erstmals ausführlich hat Max Weber den charismatischen Führer beschrieben, als eine Person, der von seinen Anhängern persönliches Vertrauen und Glauben geschenkt wird.5 Somit gilt Charisma nicht als eine Eigenschaft, sondern als eine soziale Beziehung zwischen dem »Führer« und seinen Anhängern.6 Neben der idealtypischen Konstruktion eines Charismatikers lassen sich auch verschiedene Stufen der Betroffenheit von Charisma identifizieren, die vom Berührtsein und einer emotionalen Beziehung über die eigentliche Bindung bis hin zur hierarchischen Abhängigkeit und schließlich der charismatischen Herrschaft reichen.7 Versteht man auf der Mikroebene einen »Führer« zunächst als jemanden, der einer Gemeinschaft vorsteht, der diese Gemeinschaft aufgrund spezifischer Eigenschaften oder auch Zuschreibungen zusammenhält, Macht auf die einzelnen Glieder der Gemeinschaft ausüben kann, der zwischen sich und seinen Anhängern eine Gefolgschaftsbeziehung herzustellen vermag, die nicht auf einen Nachfolger übertragbar, sondern an seine Person gebunden bleibt, so lässt sich dieses Konzept der charismatischen Führung auch auf kleinere Gemeinschaften anwenden.8 In der Periode vom Ende der Regierung Bismarcks bis zur Abdankung des Deutschen Kaisers hegten breite Teile bürgerlicher Schichten eine

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Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, online einsehbar unter http://www. dvpw.de/fileadmin/docs/Kongress2012/Paperroom/Eschenburg-Gutachten.pdf [eingese­ hen am 6.3.2014], S. 26 f. Frank Möller, Einführung. Zur Theorie des charismatischen Führers im modernen Nationalstaat, in: Ders. (Hg.), Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, S. 1–8, hier S. 2. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980 [1921], vor allem: Teil 1 Soziologische Kategorienlehre, Kapitel III Typen der Herrschaft S. 129–176. Christian Jansen, Otto von Bismarck: Modernität und Repression, Gewaltsamkeit und List. Ein absolutistischer Staatsdiener im Zeitalter der Massenpolitik, in: Frank Möller (Hg.), Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, S. 63–83, hier S. 64. Walter Jacob, Charisma. Die »Gnadengabe« als revolutionäre Macht im individuellen Erleben, in: Ders. (Hg.), Charisma. Revolutionäre Macht im individuellen und kollektiven Erleben, Zürich 1999, S. 7–46, hier S. 42 f. Vgl. hierzu Franz Walter: Abschied von den Gurus? Wo niemand mehr Jünger sein will, da werden auch die Meister rar, in: INDES 3 (2013), S. 54–64. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Prolog

Sehnsucht nach Führern jeglicher Art.9 Stichs Bild von einem Führer scheint eher durch das Verständnis einer Autorität ausübenden und patriarchalisch agierenden Persönlichkeit geprägt zu sein. Inwiefern Rudolf Stich sich selbst als einen »Führer«, beispielsweise als akademischer Lehrer gegenüber seinen Schülern oder als »Gesundheitserzieher« gegenüber der »Volksgemeinschaft«, begriffen hat, auch ob er sich als väterlicher »Führer« innerhalb einer Subgruppe bezeichnet, so wie angenommen wird, und mit welchen inhaltlichen Konnotationen er dieses Führerbild ausfüllte, muss in der näheren Betrachtung seiner einzelnen Rollen als Vertreter des Bürgertums, als Arzt und schließlich als Hochschullehrer untersucht werden. Ein zweiter, von Stich häufig betonter Begriff, der hier ebenfalls als ana­ lytischer Zugang dienen soll, ist jener der Gemeinschaft. Näher definiert wird diese in den modernen Kulturwissenschaften beginnend mit der Formulierung des Gegensatzpaares von Gemeinschaft und Gesellschaft durch Ferdinand Tönnies. Während Tönnies die Gesellschaft einem Verfallsprozess durch die Modernisierung ausgesetzt sieht, in dem die Individuen vereinzelt und in Konkurrenzsituation zueinander stehen, versteht er die Gemeinschaft als Summe der sozialen Glieder, die einander Sympathie entgegenbringen, eine gemeinsame Gesinnung haben und daher eine soziale Einheit bilden.10 Ähnlich interpretiert Max W ­ eber die Gemeinschaft, beziehungsweise fasst den Prozess als aktive Herstellung ihrer Mitglieder mit dem Terminus der Vergemeinschaftung auf.11 Während die Gesellschaft für die negativen Assoziationen der Moderne herhalten musste, die ein »begrifflicher Platzhalter für die Ausbreitung kapitalistischer Erwerbslogik, Massenverelendung des Proletariats und die Zerstörung traditionaler Lebensformen wurde, [avancierte die] Gemeinschaft vielerorts zur Projektionsfläche für die im Zuge der Modernisierung verlorenen Sicherheiten«12. Auch daher hat die Gemeinschaftskonzeption nicht bloß zufällig ihre Hochphase in Krisenzeiten erfahren. Diese lösen offenbar eine Sehnsucht nach einer Gemeinschaft aus, die über dem Einzelnen steht sowie diesen überdauert und »die Möglichkeit darstellt, die spezifische Sinnlosigkeit und Diesseitigkeit des modernen Daseins zu überschreiten«.13 9 Vgl. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 400; Christian Jansen, Otto von Bismarck, S. 64, 82 f. 10 Vgl. Günter Rieger, Gemeinschaft in: Lexikon der Politikwissenschaft, Bd.  1, Dieter Nohlen u. Rainer-Olaf Schultze (Hg.), München 2004, S. 267; vgl. zur Gemeinschafts­ vorstellung von Ferdinand Tönnies auch: Peter Ruben, Grenzen der Gemeinschaft, online abrufbar unter: http://www.peter-ruben.de/frames/files/Gesellschaft/Ruben%20%20Grenzen%20der%20Gemeinschaft.pdf [eingesehen am 22.12.2013], S. 3–6. 11 Lars Gertenbach u. Henning Laus, Theorien der Gemeinschaft. Zur Einführung, Hamburg 2010, S. 176. 12 Ebd., S. 34. 13 Ebd., S. 35. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Fragestellung Fragestellung

Nachdem die »Volksgemeinschaft« von den bildungsbürgerlichen Interpreten des Ersten Weltkrieges beschworen wurde und in den 1920er Jahren einen zentralen Diskursbegriff darstellt, an den alle politischen Lager anknüpfen wollten14, wurde im Nationalsozialismus eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung angestrebt, die die Klassengesellschaft überwinden sollte.15 Dabei wurde das Ideal der Gleichheit aller »Volksgenossen« propagiert, das nur funktionieren konnte, wenn man die »rassenpolitisch stigmatisierten Staatsbürger«16 ausschloss. So fungierte die »Volksgemeinschaft« als ein Versprechen,17 das gleichzeitig auf die aktive Mitwirkung eines jeden »Volksgenossen« insistierte, da sich der Bürger selbst als Teil  der »Volksgemeinschaft« begreifen wollte und in dieser Logik Juden, Prostituierte, Zwangsarbeiter, Homosexuelle, schließlich auch Kranke ausschließen musste.18 Inwiefern für Rudolf Stich die Gemeinschaft ein Sehnsuchtsort war, in welchen Gemeinschaften er sich selbst verortete, wen er dazu zählte und welche Personengruppen er aus diesen verbannte, ob er sich diesbezüglich der Konsequenzen bewusst war, ob schließlich seine Gemeinschaft eine »Volksgemeinschaft« im Sinne der NS -Ideologie gewesen ist, soll hier ebenso analysiert werden. Die Termini »Führer« und Gemeinschaft haben eine lange Begriffsgeschichte, scheinen jedoch vor allem im deutschen Sprachgebrauch durch den Nationalsozialismus diskreditiert. Dabei muss die Vorstellung von Führerbildern nicht zwangsläufig im antidemokratischen Denken beziehungsweise einer konservativen Revolution münden. Und auch die Gemeinschaftskonzeptionen in der Wilhelminischen Gesellschaft und der Weimarer Republik sind nicht der Anfangspunkt einer Geraden, an deren Ende die radikale »Volksgemeinschaftsidee« der Nationalsozialisten steht. Daher müssen nicht nur die Verknüpfungen, die Stich zwischen seiner biographischen Tradition sowie der Prägung seines Faches mit dem Nationalsozialismus herstellt, betrachtet werden, sondern auch die Verbindungen, die er offen lässt, die er nicht eingeht, die er übergeht und auch ablehnt. So kritisierte er beispielsweise die nationalsozialistische Hochschulpolitik, sprach sich nicht offensiv für »Euthanasie« aus und nahm während der gesamten nationalsozialistischen Herrschaft seinen Schüler Karl Heinrich 14 Vgl. Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen fünfziger Jahren, erw. Neuausg., Göttingen 2009. 15 Hans-Ulrich Wehler, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd.  4, München 2003, vor allem S. 600–690. 16 Ebd. 17 Vgl. hierzu: Hans-Ulrich Thamer, Nation als Volksgemeinschaft. Völkische Vorstellungen, Nationalsozialismus und Gemeinschaftsideologie, München 1986, S. 122–128. 18 Vgl. hierzu: Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, Gewalt gegen Juden in der Deutschen Provinz, Hamburg 2007 sowie Maria Mitchell, Volksgemeinschaft in the Third Reich, Concession, Conflict, Consensus, in: Norbert Finzsch u. Hermann Wellenreuther (Hg.), Visions of the Future. Germany and America, Oxford u. a., S. 375–401. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Prolog

Bauer19, der mit einer Jüdin verheiratet war, in Schutz. Auch in diesem Zusammenhang sah er sich als führende Figur verantwortlich für ein Mitglied seiner Gemeinschaft, schließlich war Bauer nicht nur sein Schüler, sondern auch Chirurg und Bubenreuther. Neben der Frage, wie Rudolf Stich Anknüpfungspunkte zwischen seinen Traditionen und Prägungen mit dem Nationalsozialismus herstellte und diesen somit unterstützte und trug, beziehungsweise sich den Verbindungen verweigerte, soll im Anschluss danach gefragt werden, warum er nach 1945 derart positiv in das Gedächtnis der Stadt, auch der chirurgischen und universitären Gemeinschaft aufgenommen worden ist. Da eine Gesellschaft nicht wie das Individuum über einen Speicherort für Erinnerungen verfügt,20 konstituiert sich das kollektive Gedächtnis innerhalb einer Gemeinschaft über die Interaktion ihrer Mitglieder. Jan Assmann unterscheidet hier zwischen dem »kommunikativen Gedächtnis«, welches individuell geprägt und auf eine bestimmte Gruppe bezogen ist und sich somit in der Alltagsinteraktion sowohl formt als auch reproduziert.21 Demgegenüber ist das »kulturelle Gedächtnis« auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt und hat einen offiziellen Charakter. Es stützt sich auf eine gemeinsame Vergangenheit, kollektive Erinnerungen, einen Kanon an Inhalten und sinnstiftenden Momenten, aus denen eine Gemeinschaft ihre Identität ableitet.22 Mit anderen Worten definiert sich demnach eine Gesellschaft – unter anderem  – über die Erinnerung an positive wie negative Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit, indem sie diese generationenübergreifend in schriftlicher Überlieferung, durch Traditionen und Festakte, in Symbolen und Denkmälern bewahrt und organisiert auffrischt. Durch die offizielle und institutionalisierte Form des Erinnerns entwickelt sich eine Verbindlichkeit für die jeweilige Gesellschaft, gleichzeitig schafft dies aber auch ein Einheitsbewusstsein, aus dem heraus man sich selbst von anderen abgrenzt.23 19 Karl Heinrich Bauer, 26.9.1890–7.7.1987, Studium der Medizin in Erlangen, Heidelberg und München, Assistent von Ludwig Aschoff, Habilitation in Göttingen, Herausgeber der Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre, im Beirat der 1943 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Konstitutionsforschung, im wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, 1946 erster Nachkriegsrektor der Universität Heidelberg, 1964 Gründer des Deutschen Krebsforschungszentrums. 20 Peter M. Hejl, Wie Gesellschaften Erfahrungen machen oder: Was Gesellschaftstheorie zum Verständnis des Gedächtnisproblems beitragen kann, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung, Frankfurt a. M. 1991, S. 293–336, hier S. 324. 21 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders. u. Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19, hier S. 10. 22 Ebd., S. 13. 23 Johanna Sänger, Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006, S. 34. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Untersuchungsmethode Untersuchungsmethode

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Jedoch ist die Erinnerung kein »Spiegel der Vergangenheit«,24 sie gibt nicht objektiv das Erlebte wieder, sondern ist ein Konstrukt aus der Gegenwart, das sich im Moment des Erinnerns situationsabhängig zusammensetzt und sogar verändert. So verblassen mit der Zeit Aspekte des Erlebten durch kontinuierliche Rekonstruktion des Vergangenen, während andere dagegen stärker hervorgehoben werden. Im Rekonstruktionsvorgang werden die Erinnerungen mitunter sortiert, verknüpft und in einen Zusammenhang gestellt, um sie in einer kohärenten Erzählung zu verdichten. Innerhalb von Gruppen können sich aus den gedenkenden Erzählungen aufgrund von eigendynamischen Prozessen starke gruppenspezifische Narrative über das Erfahrene entwickeln,25 denn durch die Kohärenz der Erzählung »wird das kognitive System gewissermaßen ein Opfer seiner eigenen Verführungskünste; es kann die Kohärenz, die es erzeugt, nicht leugnen, und erliegt dadurch selbst der Überzeugungskraft, auf die hin seine Konstruktionen angelegt sind«26. Genau diese Narrative innerhalb der Göttinger Hochschule, der Stadt, aber auch innerhalb eines Teils der chirurgischen Gemeinschaft der Bundesrepublik, die im Zusammenhang mit Rudolf Stich zu sehen sind, sollen hier aufgezeigt und dadurch aufgebrochen werden. Schließlich zeigt sich am Beispiel von Stich auch, dass sich »biographische Evidenz« selten auf die Zeitspanne eines individuellen Lebens zusammenfassen lässt27 und dass eine Biographie mindestens ebenso das Erinnern an und über die Person berücksichtigen muss. Daher soll analysiert werden, wie die jeweiligen Mitglieder der Subgruppen miteinander interagiert haben, um beispielsweise Prozesse anzustoßen, die der Erinnerung an Stich einen offiziellen Charakter und damit eine bestimmte Deutung verliehen haben.

Untersuchungsmethode Nach den postpositivistischen, postmodernen und poststrukturalistischen Debatten der letzten Jahrzehnte, nach den Diskussionen um Haydn White und den New Historicism, steht die Erkenntnis, dass es mehrere (historische) Wahrheiten geben kann und es weniger die Eindeutigkeit ist, sondern eher die 24 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2011, S.7. 25 Konrad H. Jarausch, Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Ders. u. Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–38, hier S. 14. 26 Gebhard Rusch, Erkenntnis, Wissenschaft, Geschichte. Von einem konstruktivistischen Standpunkt, Frankfurt a. M. 1987, S. 374. 27 Bernhard Fetz, Struktur statt Psychologie. Die »Anti-Biographie« als biographisches Modell, in: Ders. u. Wilhelm Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin 2001, S. 361–366, hier S. 361. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Prolog

»Vielsinnigkeiten«28 sind, die unser Bild von der (vergangenen) Welt prägen. Diese Einsicht ist nicht neu und steht häufig am Anfang vieler Arbeiten. In der Biographik wird jenes Bewusstsein durch das Wissen ergänzt, dass es vor allem der Autor ist, der den Lesern ein Bild von der porträtierten Figur vermittelt und dass diese sich nicht aus den sogenannten primären Quellen der Gegenwart selbst zu erkennen gibt. Lebensgeschichten sind nicht eindeutig, lassen sich in den seltensten Fällen in einen interpretatorischen Rahmen pressen, denn Menschen agieren in den unterschiedlichen Zusammenhängen völlig verschieden, unerwartet, abwegig, eben menschlich. Daher sind Biographien im 21.  Jahrhundert eher als divergierende, sich präsentierende Rollen erzählbar, denn als durchkomponierte fabelhafte Erzählung – eine Funktion, die dem Genre noch im 19. Jahrhundert zugesprochen wurde. Doch allzu häufig bleibt es bei dieser Einsicht und es wird einer Umsetzung in die Forschungspraxis, sowie einer der Prämisse angemessenen Darstellungsweise der Ergebnisse aus dem Weg gegangen. Ein Großteil der jährlich erscheinenden Biographien wird weiterhin chronologisch präsentiert, das Leben der Person unter eine These gestellt. Eigentliche Unsicherheiten, Widersprüche und Uneindeutigkeiten werden höchstens andiskutiert, aber selten dem Rezipienten in ihrer Gesamtheit offengelegt. Hier dagegen soll durch eine spezielle Darstellungsweise dem Leser die Möglichkeit gegeben werden, sich mit dem widersprüchlichen Material zur Person Rudolf Stich auseinanderzusetzen, die dokumentarischen Unsicherheiten nachzuvollziehen und in einem möglichst weiten und offenen Interpretationsrahmen sein eigenes Bild von Rudolf Stich zusammenzusetzen. Die Erzählung wird daher nicht als Biographie mit ihrer klassischen Darstellungsform, sondern als »biographisches Kaleidoskop« präsentiert. In Anlehnung an die »biographische Studie« von Simon Karstens über Joseph von Sonnenfels soll das Leben nicht von Anfang bis Ende mit einer zentralen These erzählt, sondern thematisch zusammengetragen werden.29 Das bedeutet, einzelne Abschnitte oder Begebenheiten aus dem Leben von Stich, seine Funktionen als Klinikleiter, Dekan, NSDAP-Mitglied, Hochschullehrer, Lazarettleiter, SA-Mann oder Soldat im Ersten und Zweiten Weltkrieg als einzelne Puzzleteile möglichst in sich abgeschlossen zu erzählen. Schüttelt man in einem Kaleidoskop die einzelnen Elemente durcheinander und schaut durch das Okular, präsentiert sich dem Betrachter ein völlig neues Muster. Auf die Methode der biographischen Kaleidoskopie angewendet, bedeutet es zunächst, dass der Autor dem Leser – je nach Erzählung – ein unterschiedliches Bild der porträtierten 28 Vgl. Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Berlin 2010, S. 28. 29 Simon Karstens, Lehrer  – Schriftsteller  – Staatsreformer. Die Karriere des Joseph von Sonnenfels, Wien 2011. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Person zu zeigen vermag, je nachdem, welche Elemente aus dem Leben erzählt, welche weggelassen und wie sie miteinander verknüpft werden. Damit das biographische Kaleidoskop kein ungeordnetes Chaos wird, sondern ein sinnhaftes Muster ergibt, braucht es eine erklärende Struktur. Im vorliegenden Beispiel fungiert die Fragestellung als strukturierendes Moment. Sie soll die einzelnen Elemente des Kaleidoskops insofern miteinander in Beziehung setzen, wie Stich aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen seine biographische Prägung und die Tradition seines Faches mit der NS -Ideologie verknüpft hat und welche Verbindungen er mit dem Nationalsozialismus offen lässt, bewusst nicht eingeht, vielleicht übergeht oder gar ablehnt. Während in einem zweiten Schritt nach den Gründen dafür gefragt wird, warum sich an Rudolf Stich – trotz seiner im NS eingenommenen Funktionen und Rollen – nach 1945 so positiv erinnert wird. Die einzelnen Elemente, die ein Bild von der Person Rudolf Stich vermitteln sollen, umfassen daher, erstens, sein Wirken im Nürnberger Bürgertum, also seine Kindheit, sowie seine Rolle in Göttingen, seine Sozialisation in Bayern und bei den Bubenreuthern. Zum zweiten soll Rudolf Stich als Arzt betrachtet werden. Das umfasst die fachliche Prägung durch seinen Vater, den Bahnarzt, seine ärztliche Ausbildung, seine Erfahrungen als Kriegschirurg, sein Selbstverständnis als angesehener Operateur und als Leiter einer chirurgischen Klinik, in der Zwangssterilisationen durchgeführt wurden. Und schließlich, drittens, wird Stich als Hochschullehrer untersucht, als Dekan einer NS -treuen Medizinischen Fakultät, als jemand, der zahlreiche Schüler um sich versammelte und der im Zusammenhang mit dem Nobelpreis genannt wird. All diese Funktionen, Stich als Vertreter des bürgerlichen Milieus, als Arzt und als Hochschullehrer, sind immer darauf zu untersuchen, wo er aus seinen Traditionen und Prägungen Anknüpfungspunkte zum Nationalsozialismus herstellt und wo er diese verweigert. Daher sind, zumindest dort wo es möglich beziehungsweise aufgrund der Quellenlage nötig ist, zwei Interpretationsstränge zu verfolgen. Diese werden hier jedoch nicht argumentativ innerhalb eines Kapitels miteinander verknüpft, sondern separat nebeneinander gestellt und als zwei getrennte Erzählungen innerhalb der einzelnen Kapitel präsentiert; beispielsweise Rudolf Stich, der sich mit seiner Vorstellung vom Arzt als Führer einer Gemeinschaft passgenau in die nationalsozialistischen Vorstellungen der Volksgemeinschaft einfügte und diese Idee unterstützte, oder Rudolf Stich, der in treuer Gemeinschaft zu seinen Schülern und Burschenschaftern nicht viel auf die NS -Rassenpolitik zu geben schien. Gleiches gilt für den Verlauf der Biographie von Stich nach 1945, die hier zu Beginn einmal als heldenhafte Narration erzählt wird, wie sie sich im Gedächtnis der Stadt Göttingen, der Universität und eines Großteils der Chirurgen in der Bundesrepublik abgelagert hat, und die ein weiteres Mal anhand von Quellen am Ende präsentiert wird, die der ursprünglichen Erzählung teilweise diametral widersprechen. Die parallelen Interpretationsstränge sind nicht willkürlich, sondern werden immer dort © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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verfolgt, wo es nach der Quellenlage nötig und nach dem Stand der Forschung möglich ist. Für den Leser sollen sie durch Sternchen (***) sowie den Begriff des »Kaleidoskops« in der Überschrift sichtbar sein. Dabei sollen die einzelnen Elemente des biographischen Kaleidoskops zwar für sich stehen, jedoch die jeweiligen Fakten aus dem Leben von Stich sich nicht wiederholen, sondern sich gegenseitig ergänzen beziehungsweise kontrastiert werden. Dieser unkonventionelle Versuch eine Biographie nicht im klassischen Sinn zu präsentieren, sondern als biographisches Kaleidoskop, bedarf einer weiteren Erklärung: Mit der Darstellungsweise sollen, erstens, die Debatten aus der Historik und Biographik ernst genommen, zweitens, den der NS -Forschung inhärenten Problemen, wie der moralischen Verurteilung durch die Nachgeborenen oder dem Disput zwischen Zeitzeugenschaft und historischer Wissenschaft, begegnet und schließlich, drittens, ein vertretbarer Umgang mit der weiterhin unerwartet disparaten Quellenlage zu Rudolf Stich gefunden werden. Selbstverständlich bleibt, um bei dem ersten Punkt zu beginnen, dass jedes Element innerhalb des biographischen Kaleidoskops für sich an das Einspruchsrecht der Quellen30 gebunden ist. Jedoch kann jede Quelle mit einer anderen Fragestellung in einer anderen Zeit von einer anderen Person mit einem anderen Kontextwissen deutlich anders interpretiert werden. Die hier anvisierte kaleidoskopartige Darstellungsweise verfolgt daher auch einen didaktischen Zweck. Mit ihr kann hervorragend gezeigt werden, dass Quellen an sich nichts erklären und von sich aus nichts erzählen können, sondern dass sie nur auf die unterschiedlichen Fragen des Historikers Antworten bereithalten. Wie bereits Renato Serra anführte: »Es gibt Leute, die ernsthaft glauben, daß ein Dokument Ausdruck der Realität sein kann. […] Ein Dokument ist ein Fakt. Die Schlacht ist ein anderer Fakt (eine unendliche Folge anderer Fakten).«31 Der Historiker ist der Vermittler, der die Fakten erst zu solchen macht, der die Dokumente erst etwas erklären lässt, wenn er sie in eine Geschichte einbindet. Wir sehen, dass das Material von sich aus nichts über die Vielschichtigkeit und Komplexität der zusammenhängenden diachronen, mittel- oder langfristigen historischen Prozesse sagt und dass Dokumente häufig genau dort fehlen, wo wir sie eigentlich bräuchten, so auch in Bezug auf Rudolf Stich. Aber wir werden auch gewahr, dass man zu einer Forschungsfrage nie alle Quellen restlos erschließen kann und dass durchaus an einem anderen Ort von einer anderen Person in einem anderen Zusammenhang ein Fund gemacht werden könnte, der die 30 Reinhart Koselleck spricht von einem »Vetorecht der Quellen«, vgl. Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 176–207. 31 Renato Serra zitiert nach Carlo Ginzburg, Unus Testis – Nur ein Zeuge. Die Judenvernichtung und das Realitätsprinzip, in: Ders., Faden und Fährten. Wahr, falsch, fiktiv, Berlin 2013, S. 60–75, hier S. 74. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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eigene Interpretationsvariante eines Ereignisses oder eben einer Person völlig durcheinanderwürfelt. Doch auch in einem solchen Fall besteht die Möglichkeit, dass die Quelle, die wir für eine solche halten, nicht authentisch ist, dass sie möglicherweise nachträglich »produziert« oder »bearbeitet« wurde. Daher sollen hier die unterschiedlichsten und an der Biographie von Rudolf Stich durchaus plausiblen Deutungsvarianten konsequent dargestellt werden.32 Die einzelnen Versionen werden sodann durch bestimmte »Erzählfäden«33 miteinander verbunden. So können die verschiedenen »Wahrheiten« der Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Leben von Stich auch für den Leser erfahrbar werden, ohne dass jede einzelne Quelle einer eingehenden Diskussion unterzogen wird. Zum Zweiten ist anzumerken, dass vor allem im Zusammenhang mit Lebensbeschreibungen im Nationalsozialismus Historiker auch heute noch auf Zeitzeugen stoßen: Ehemalige Arbeitskollegen und Wegbegleiter, Familienangehörige. Diese liefern oft interessante Hinweise, wertvolle Quellen oder auch nur anreichernde Anekdoten, haben aber in den meisten Fällen – so auch sehr ausgeprägt im vorliegenden – eine eigene Vorstellung davon, wie die Leistungen und Taten der untersuchten Person zu bewerten sind. Oftmals treten die Zeitzeugen und die historische Forschung hernach in ein Konkurrenzverhältnis miteinander. Während sich die Forschung als sachlich erklärende Instanz präsentiert, wähnen sich die emotional engagierten und oftmals moralisierenden Zeitzeugen meistens im Recht und sind empört über die Wertungen der Wissenschaft.34 Mit Hilfe der Präsentation als biographisches Kaleidoskop, welches Elemente in unterschiedlichen Varianten beziehungsweise möglichen Erzählmodi präsentiert, kann dieser Dualismus aufgebrochen werden, wird er zumindest nicht offensiv perpetuiert. Gleichfalls legt Stichs Persönlichkeit, beziehungsweise das Bild, welches man von ihm gewinnen kann, eine solche kaleidoskopische und variierende Darstellungsweise nahe, denn er tritt uns als Repräsentant und als Individuum äußerst ambivalent entgegen. In diesem Zusammenhang wurde von der Geschichtswissenschaft der Begriff der »oszillierenden Persönlichkeit«35 formuliert, um das 32 Vgl. hierzu auch grundlegend: Thomas Etzemüller, Biographie. Lesen – Erforschen – Erzählen, Frankfurt a. M. 2012. 33 Carlo Ginzburg, Einführung der Originalausgabe, in: Ders., Faden und Fährten. Wahr, falsch, fiktiv, Berlin 2013, S. 9–14, hier S. 9. 34 Zum Dualismus zwischen Zeitzeugenschaft und der historischen Forschung vgl.­ Jarausch, S. 29. 35 Bereits seit den 1990er Jahren zeigt die »Täterforschung« die Tendenz einer stärkeren Differenzierung bei der Betrachtung von Biografien. Die Abkehr von einer SchwarzWeiß-Zeichnung, welche mehr das Umfeld und die Handlungsspielräume des Individuums ins Blickfeld rückt, ist also eine konsequente Weiterführung dieser Tendenz und eingebettet in allgemeinere Entwicklungen der Forschung. Vgl. auch Michael Wildt, Generation des Unbedingten, Hamburg 2002. Erkennbar ebenso bei Gerhard Paul, KlausMichael Mallmann und Harald Welzer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Handeln Einzelner vor allem im Nationalsozialismus erklärbar zu machen. Dieser Ansatz mag auch für Stich Relevanz besitzen. Damit gemeint ist die Widersprüchlichkeit zwischen Selbstaussagen und -wahrnehmung, aber auch von Lebensereignissen, Mentalitäten und Diskursprägungen, die auf den ersten Blick unvereinbar in einer Biografie nebeneinander stehen. Für Stich ist beispielsweise die frühe Mitgliedschaft in der SA mit seiner Herkunft und Verortung im bürgerlichen Milieu zunächst absolut unvereinbar. Ambivalenzen wie diese sind für sein Leben und Persönlichkeit charakteristisch und sie verdichten sich anschaulich in einer retrospektiven Aussage Stichs gegenüber Georg Benno Gruber36, die er 1945, unter dem Eindruck seiner Haftentlassung, der großen Erleichterung der Göttinger Bürger darüber und der Behandlung durch die Engländer, trifft: Nach all den Zuschriften anlässlich seiner Rückkehr könne er »tatsächlich glauben […], ich sei allenthalben geliebt und verhätschelt, ja, ich sei geradezu ein ganz besonderer Kerl.« Er habe aber eben nicht die Gabe dies zu glauben, kokettiert er, und selbst wenn, »hätten mich die Engländer trotz aller Zeichen des Vertrauens und der Anteilnahme anderer Mitmenschen inzwischen zu der Ansicht belehrt, dass ich weiter nichts als ein gefährlicher Nationalsozialist sei. So laufe ich denn nicht Gefahr, stolz oder gar eingebildet zu werden.«37 Stich steckt hier treffend die Pole ab, zwischen denen sich seine Biografie und der Blick der Nachwelt auf dieselbe bewegen kann: der »allenthalben geliebte Kerl« auf der einen Seite, der »gefährliche Nationalsozialist« auf der anderen Seite. Und genau jene Pole sollen auch die Horizonte dieser Untersuchung markieren. Und schließlich ergibt sich aus den Quellen, mit denen das Leben von Rudolf ­­ Stich rekonstruiert und beschrieben werden kann, ein dritter inhärenter Grund für die hier gewählte Darstellungsweise als biographisches Kaleidoskop. R ­ udolf Stich hat – ganz im Gegensatz zu vielen anderen Professoren oder Vertretern des Bürgertums  – kein Depositum hinterlassen. Überdies sind Verwaltungsakten aus seiner Zeit als Dekan der Medizinischen Fakultät, von seiner Tätigkeit als Klinikleiter oder aus seiner Privatpraxis nicht überliefert. So müssen fragmentarische Informationen über die Hinterlassenschaften von Freunden und Kollegen zusammengetragen werden, deren Vor- und Nachlässe nicht selten von der nationalsozialistischen Vergangenheit bereinigt wurden. Eben weil einige Quellen einfach fehlen – so wissen wir beispielsweise nichts über die Familie seiner Frau, recht wenig über seine Kindheit und Schulzeit, das gleiche gilt auch für Studienerlebnisse, seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg oder für seinen 36 Georg Benno Gruber, 1884–1977, Mediziner, Pathologe, Medizinhistoriker, 1917–1923 Direktor des Instituts für Pathologie in Mainz, danach Lehrstuhlinhaber zunächst in Innsbruck und dann in Göttingen. 37 Brief von Stich an Gruber, September 1945, Dank für Glückwünsche zum 70. Geburtstag, Lebensrückblick, Universitätsarchiv Göttingen, (Teil)nachlass Gruber, Cod.  Ms.  ­ Gruber 1 : 1,258, Inventarnummer: Acc. Mss. 1984.20. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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engen Freund Gustav Delkeskamp38 – müssen Erzählungen über Teile des Lebens von R ­ udolf Stich einfach ausgespart werden. In der Arbeit sind wir angewiesen auf Zeugnisse von Schulen und Universitäten, Gutachten von Lehrern, Briefe von Vorgesetzen sowie Entnazifizierungsakten, die mehr als so manch andere Quellengattung einer umfangreichen Diskussion und eines prüfenden Blickes bezüglich ihres Aussagewertes bedürfen. Oftmals war die Quellenlage so dünn und widersprüchlich, dass eine Diskussion, Abwägung und Entscheidung – wie sie üblicherweise vorgeführt wird – im Fall von Stich nicht möglich war. Es ließ sich nicht ermitteln, ob er tatsächlich Mitglied in der DDP gewesen ist, bei den Bubenreuthern, einer schlagenden studentischen Verbindung, der Stich während seiner Studienjahre in Erlangen angehörte, tatsächlich ausgetreten ist oder innerhalb der SA nur wenige Ränge unterhalb von Hitler rangierte. Dazu scheint auch für R ­ udolf Stich das zu gelten, was für eine Vielzahl an Biographien nach 1945 zutrifft: Über nicht wenige Stationen im Lebensweg, über eingenommene Positionen und ausgeübte Tätigkeiten, auch Überzeugungen, wurde nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus geschwiegen. Doch all das wurde oftmals nicht nur verheimlicht, sondern auch gänzlich auf den Kopf gestellt und der Lebensweg zwischen 1933 und 1945 als Inversion erzählt.39 Auch weil sich die Biographie Stichs als eine Art Inversion präsentierte, ist hier die Methode der Umkehrung, der doppelten Erzählung eine sinnvolle Darstellungsvariante. Überdies haben uns Andeutungen von Enkeln und Urenkeln von ­Rudolf Stich erreicht, die offensichtlich über Material verfügen, dieses aber bedauer­ licherweise nicht der Forschung zur Einsicht überlassen möchten. Daher besteht hier – wie im Grunde bei allen historischen Forschungsprojekten – die Möglichkeit, dass neue Dokumente den Untersuchungsgegenstand in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen könnten. Es kann – sobald neue Quellen hinzukommen sollten – sich das Muster im biographischen Kaleidoskop verschieben und so auch jederzeit die Lebensbeschreibung von R ­ udolf Stich eine andere Form einnehmen. Nochmals: Mit der radikalen Erzählung, in der nach Anknüpfungspunkten für den Nationalsozialismus gesucht wird, soll Stich nicht dämonisiert werden, sondern sein Handlungsrahmen  – bei allen Unsicherheiten  – umfassend ab­ geschritten und die Konsequenzen beleuchtet werden. Bei den Darstellungen, die sich auf die Verweigerung zur Herstellung einer Interessensgemeinschaft mit der nationalsozialistischen Ideologie fokussieren, geht es nicht um eine Entschuldung von ­Rudolf Stich, sondern auch um die Demonstration, warum es 38 Gustav Delkeskamp, am 3.4.1874 in Hannover geboren, Chirurg, leitender Arzt des Krankenhauses Landsberg a. W., vgl. Zentralblatt für Chirurgie (Chirurgenkalender), 1926. 39 Vgl. Christoph Maier, Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns, München 2010, S. 59. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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ausgerechnet bei seiner Biographie nach 1945 möglich war, trotz seiner Rollen und Ämter zwischen 1933 und 1945, zahlreiche Ehrungen zu erhalten, als anerkannte Person zu gelten und letztlich die Biographie umzudeuten. Dabei soll einem abschließenden Urteil, welches im Epilog präsentiert wird, nicht ausgewichen, sondern durch die vorliegende Präsentationsform gleichsam veranschaulicht werden, wie stark die Historik auf Quellen und Überlieferungen angewiesen ist, die Erzählungen von Geschichte letztlich jedoch zentral durch den Autor beziehungsweise Historiker bestimmt werden.

Quellen- und Forschungsstand Doch all diesen Unsicherheiten zum Trotz ist die Erforschung der Rolle von­ Rudolf Stich während des Nationalsozialismus auch deshalb lohnenswert und notwendig, weil die universitäre Medizingeschichte zwischen 1933 und 1945 sowie die daran anschließende Elitenkontinuität in der jungen Bundesrepublik bisher eher zögerlich aufgearbeitet worden ist.40 Während andere gesellschaftliche Trägerschichten, wie beispielsweise Juristen, Geisteswissenschaftler oder Politiker seit den 1960er Jahren immer wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerieten, dauerte es bis in die 1980er Jahre hinein, bis die Verstrickungen der medizinischen Fakultäten und ihres Personals eingehender untersucht worden sind.41 Die Gründe für diese zögerliche Konzentration auf Professoren, Ärzte und das medizinische Personal insgesamt mögen vielfältig sein. Zunächst gelang es der Profession im Zuge der Nürnberger Ärzteprozesse einige wenige 40 Umfassende biographische Studien fehlen weitgehend, Monographien von Universitäten handeln die Medizinischen Fakultäten nebenbei ab, wobei in den letzten zehn Jahren diesen eigene Arbeiten gewidmet worden sind. Nach wie vor stehen jedoch die Medizinverbrechen und die Akteure aus diesen Zusammenhängen im Zentrum der Forschung. Vgl. auch Robert Jütte, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Auf die Schwierigkeiten, konkreten Persönlichkeiten und ihren Verwicklungen im universitären Bereich nachzugehen weist auch Karl-Heinz Leven in Bernd Grün u. a. (Hg.), Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, Frankfurt a. M. 2002, hin. Er spricht sogar von einer bewussten Vertuschung, die eine Aufarbeitung zusätzlich erschwere. Ähnliches erwähnt Uwe Hossfeld, Kämpferische Wissenschaft. Studien zu Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003. Dass gerade eine Aufarbeitung in geschlossenen Gemeinschaften wie dem ärztlichen Berufsstand oder dem Militär unter erschwerten Bedingungen versucht wird, betont Alexander Neumann, »Arzttum ist immer Kämpfertum«: Die Heeressanitätsinspektion und das Amt des »Chef des Wehrmachtssanitätswesens« im Zweiten Weltkrieg (1939–1945), Düsseldorf 2005, am Beispiel des Mythos der »sauberen Wehrmacht«. 41 Vgl. Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Überblicksdarstellungen, Quellensammlungen, bibliographische und biographische Hinweise, in: Jütte, S. 11–23, hier S. 14. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Standesvertreter als »Verbrecher« zu dämonisieren. Während in der Selbstwahrnehmung und der Repräsentation nach außen die öffentlich Angeklagten somit als beschämende Ausnahmen und Einzelfälle gebrandmarkt wurden, präsentierte sich ein Großteil der Ärzteschaft als rechtschaffend und verantwortungsvoll, einige gar als »unschuldige Opfer« des Nationalsozialismus.42 Diese Narration etablierte sich auch deshalb so lange, weil Verbrechen an Kranken und die bewusste Schädigung der anvertrauten Patienten der eigentlichen Rolle des Arztes diametral widersprechen.43 Denn jenem wird in der Gesellschaft die Funktion des fürsorgenden Heilers zugeschrieben. Überdies gelang die Tabuisierung der medizinischen Schuld und des Verbrechens in der Bundesrepublik ausgesprochen gut, weil die Gesamtärzteschaft stärker involviert gewesen war, als man bisher zugeben wollte.44 Doch für die besonders späte Aufarbeitung der Biographie von R ­ udolf Stich sprechen auch spezifische Ursachen, die einzig in seinem individuellen Umfeld zu suchen sind. Denn er lebte und wirkte in einem kleinräumigen, relativ abgeschlossenen Milieu. Göttingen war und ist außergewöhnlich stark durch die Universität und das zugehörige Personal geprägt. Beinahe alle praktizierenden Ärzte, in privaten Praxen oder Kliniken sind dem Hochschullehrer Stich in ihrer Ausbildung begegnet: »Stich kannte jeder seiner Studenten. Jeder mußte 3 Semester lang wöchentlich 4mal 1¼ Stunden Kolleg bei ihm hören.«45 Und Stich war als Dozent äußerst beliebt. Ihm gelang es, dass seine Schüler sich mit ihm und seinen Lehrmeinungen identifizierten, seine Ausbildung als prägend empfanden. Daher blieben ihm viele – auch weit über seinen Tod hinaus – freundschaftlich zu­ geneigt. Eine Aufarbeitung seines Handlungsspielraums als »Führer« einer Fakultät und Klinikleiter zwischen 1933 und 1945 wird durch ein solches Klima eher erschwert als begünstigt. Doch die genauen Mechanismen, die dahinter stehen, müssen noch untersucht werden. Die vorhandene Literatur über R ­ udolf Stich enthält einige hagiographische Elemente und ist nicht selten von seinen Freunden und Schülern verfasst worden. All jene, meist selbst Ärzte, Professoren oder Klinikleiter, fanden sich noch in den 1980er Jahren regelmäßig in einem Stich’schen Verehrerkreis zusammen. Und genau deren Berichte und Zeitungsartikel über den »Meister«46 stehen der Dekonstruktion der »Legende Stich«, als hervorragender Operateur und aus42 Walter Wuttke-Groneberg, Medizin im NS. Ein Arbeitsbuch, Tübingen 1980, S. 113–115. 43 Medizin und Nationalsozialismus, Tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition, Dokumentation des Gesundheitstages 1980, Gerhard Baader u. Ulrich Schultz (Hg.), Berlin 1980, S. 17. 44 Ebd., S. 15. 45 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich, in: Bruns’ Beiträge zur Klinischen Chi­ rurgie 203 (1961), S. 393–403, hier S. 395. 46 Als »Meister« wurde Stich von seinen Schülern und Studenten bezeichnet, vgl. exempl. Georg Benno Gruber, R ­ udolf Stich, in: Göttinger Tageblatt, 21.12.1960. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gezeichneter medizinischer Lehrer, sowie der Erschließung weiterer Materialien von akademischen Schülern, Freunden oder der Familie, sowie schließlich der Annäherung an eine umfassendere Lebensgeschichte noch heute im Wege. Auch unabhängig von der speziellen Konstellation in Göttingen brauchte die Ärzteschaft für die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit den Druck von außen, erst seit den späten 1980er Jahren entwickelte sich auf diesem Feld eine boomende Forschungslandschaft.47 Vor allem vor diesem Hintergrund ist die nachträgliche Ehrung ­Rudolf Stichs durch eine Gedenktafel an seinem Göttinger Wohnhaus im Jahre 1985 eher ungewöhnlich und muss daher in die vorliegende Untersuchung miteinbezogen werden. Im Fokus der historischen Bearbeitung der Medizingeschichte im Nationalsozialismus in den letzten drei Jahrzehnten standen vor allem die »Täter«: Professoren, Ärzte und Hochschullehrer. Deren Verhalten wird oftmals in den Kategorien »Opposition, Verweigerung, Widerstand und der Nutzung von Freiräumen« bewertet, was zahlreiche Probleme birgt48. Demgegenüber sind die Patientengeschichte, die Sozialberufe und die nicht-ärztlichen Heilberufe bisher eher unzureichend beleuchtet worden. Insofern mag die Untersuchung der Biographie von ­Rudolf Stich auf den ersten Blick kein Forschungsdesiderat darstellen. Jedoch liegen drei Bedingungen vor, die eine eingehende Betrachtung des »Göttinger Falls« notwendig machen: Erstens ist die nationalsozialistische Vergangenheit von ­Rudolf Stich bis in jüngste Publikationen hinein bisher unzureichend bearbeitet worden, zweitens passen zunächst gängige Erklärungsmuster der Forschung, wie beispielsweise die Beförderung der Karriere für eine den Nationalsozialismus unterstützende Haltung, nicht auf den Göttinger Professor49 und drittens soll Stich hier nicht ausschließlich isoliert als Arzt im Nationalsozialismus untersucht werden, sondern seine bürgerliche Herkunft als Arztsohn sowie seine fachlichen Prägungen mit in den interpretatorischen Rahmen aufgenommen und ebenso die Erinnerung an ihn bis in die Gegenwart untersucht werden. Gleichzeitig können ideologische Grunddispositionen, die im Zuge der Elitenkontinuität und der Erforschung eines gruppenspezifischen Standesethos wirkmächtig werden, an R ­ udolf Stich nachvollzogen werden. 47 Jütte, S. 7. 48 Susanne Zimmermann und Thomas Zimmer, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena im »Dritten Reich«. Ein Überblick, in: Uwe Hoßfeld u. a. (Hg.), »Im Dienst an Volk und Vaterland«, Die Jenaer Universität in der NS-Zeit, Köln 2005, S. 127–164, hier S. 129. 49 Als Mediziner in einer sicher verbeamteten und gesellschaftlich angesehenen Position war Stich nicht von der, in der Weimarer Republik viel beklagten, »Ärzteschwemme« betroffen. Auch aus »Karrierismus«, wie so viele seiner Kollegen, ist er nur schwerlich Nationalsozialist geworden. Im Jahr 1933 war er beinahe sechzig Jahre alt, hatte mit der ordentlichen Professur, einer gut laufenden privaten Praxis sowie der Leitung einer großen Klinik vieles erreicht. Es müssen andere Motive gewesen sein, die ihn zum überzeugten Unterstützer des Nationalsozialismus machten und diese gilt es, herauszuarbeiten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Neben der Biographie von R ­ udolf Stich besteht ein Forschungsdesiderat bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit der Göttinger Hochschule insgesamt. Zwar haben sich Heinrich Becker, Hans-Joachim Dahms und Cornelia Wengler 1987 erstmals in dem Sammelband »Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte« dieser Zeit angenähert,50 jedoch fehlt in jener ersten Auflage eine Studie über die Medizinische Fakultät. Diese wurde elf Jahre später in der zweiten Auflage mit einem Aufsatz von Ulrich Beushausen u. a. über »Die Medizinische Fakultät im Dritten Reich« nachgeholt.51 Hier konnten erste Erkenntnisse zusammengetragen werden, die vorrangig aus den Akten des Universitäts­archivs gewonnen wurden beziehungsweise auf vereinzelten Detailuntersuchungen basieren.52 Stich selbst wurde nur am Rande erwähnt. Darüber hinaus widmete sich Volker Zimmermann in einigen Aufsätzen der Medizinischen Fakultät zwischen 1933 und 1945.53 Allerdings wurde auch hier nur ein erster Überblick geliefert, während eine systematische Auswertung der noch vorhandenen Akten der chirurgischen Klinik nicht betrieben werden konnte. Eine umfassende Betrachtung beispielsweise seiner Tätigkeit als Dekan während des Nationalsozialismus liegt bisher noch nicht vor. Ferner sind unter der Betreuung von Volker Zimmermann einige Dissertationen über das Personal der Medizinischen Fakultät im Nationalsozialismus, beispielsweise über Gottfried Ewald54, Lehrstuhlinhaber für Neurologie und Psychologie sowie Leiter der Universitätsnervenklinik und der Landesheil- und Pflegeanstalt, oder Hermann Friedrich Rein, Inhaber des Lehrstuhls für Physiologie, angefertigt worden.55 Die Arbeit über Rein beschränkt sich auf seine 50 Heinrich Becker u. a., Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München u. a. 1987. 51 Ulrich Beushausen u. a., Die Medizinische Fakultät im Dritten Reich, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, hg. von: Heinrich Becker u. Hans-Joachim Dahms. Cornelia Wengler, München 1998, S. 183–286. 52 Vgl. exempl. Thomas Koch, Zwangssterilisation im Dritten Reich. Das Beispiel der Universitätsfrauenklinik Göttingen, Frankfurt a. M. 1994. Hier geht es ausschließlich um die Frauenklinik. Die Rolle Stichs findet keine Erwähnung. 53 Volker Zimmermann, Die Medizinische Fakultät der Göttinger Georgia Augusta während der NS-Diktatur, in: Leiden verwehrt Vergessen. Zwangsarbeiter in Göttingen und ihre medizinische Versorgung in den Universitätskliniken, hg. von: Ders., Göttingen 2007, S. 17–54; Ders., »Eine Medicinische Facultät in Flor bringen«. Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2009, hier S. 93–99. 54 Gottfried Ewald, 22.2.1884–17.7.1963, Ordinarius für Neurologie und Psychiatrie, seit 1934 in Göttingen und gleichzeitig Leiter der Universitätsnervenklinik sowie der Landesheilanstalt Göttingen-Rosdorf, Befürworter der Sterilisation, Ablehung als »T4-Gutachter« tätig zu werden, 1953 Emeritierung. 55 Sebastian Stroeve, R ­udolf Stich, Göttinger Chirurg von 1911 bis 1945, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Tätigkeiten am Physiologischen Institut, die nacheinander dargestellt werden. Querverbindungen zu anderen Forschern im NS -Reich werden nicht untersucht, eine Einordnung in den weiteren Forschungsstand fehlt, die Person Rein als Wissenschaftsorganisator und Mann mit Freunden, Kollegen und Familie wird nicht behandelt. Die Darstellung ist zwar als Materialsammlung teilweise nützlich, muss aber insgesamt als wenig brauchbar für die hier entwickelte Fragestellung gewertet werden. Ricarda Stobäus ist bemüht, sich dem Neurologen Gottfried Ewald umfassender zu nähern, stellt jedoch Ewalds Aktivitäten gegen die »Aktion T4« in den Vordergrund. Dass die Darstellung Ewalds als »Held« aus mehreren Gründen einseitig ist, merkte bereits der für die Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus zwar nicht unumstrittene, aber durchaus profilierte Publizist Ernst Klee an.56 Darüber hinaus liefern die Arbeiten von Thorsten Suesse und Heinrich Meyer und das beachtenswerte Werk von Anikó Szabó wertvolle Hinweise und Ansatzpunkte.57 Ihnen geht es jedoch weder ausschließlich um Göttingen, noch spielt Stich ein Rolle. Lediglich Suesse und Meyer, die die Tätigkeiten der niedersächsischen Anstalten für geistig und körperlich behinderte Patienten im Rahmen der sogenannten »T4-Aktionen« untersuchen, legen den Kenntnisstand, den Ewald, Stich und andere bereits 1940 über diese gezielten Tötungsmaßnahmen besaßen, deutlich offen. Szabó ergänzt dies mit ihren Forschungen über die Vertreibung und Reintegration Göttinger Hochschullehrer. Zwar untersucht sie die Medizinische Fakultät nur als eine von vielen Teileinrichtungen und hat den Fokus mehr auf der »Opfer-« als auf der »Täterperspektive«, jedoch werden so erste Zusammenhänge gerade über die Kontinuitäten nach 1945 sichtbar. Aus diesem Literaturüberblick wird ersichtlich, dass über die Biographie des Hochschullehrers, Chirurgen, Klinikleiters und Göttinger Bürgers für die Zeit

Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2001; Ricarda Stobäus, Gottfried Ewald, Neurologe und Psychiater in Göttingen, Ein biographischer Versuch, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereichs Medizin der Georg-AugustUniversität zu Göttingen, Göttingen 1995; Kai-Thorsten Brettschneider, Friedrich Hermann Rein, Wissenschaftler in Deutschland und Physiologe in Göttingen in den Jahren 1932–1952, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 1997. 56 Vgl. Ernst Klee, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt a. M. 1985, S. 226. 57 Thorsten Suesse u. Heinrich Meyer, Abtransport der »Lebensunwerten«. Die Konfrontation niedersächsischer Anstalten mit der NS-»Euthanasie«, Hannover 1988; Anikó Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung. Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus mit einer biographischen Dokumentation der ent­ lassenen und verfolgten Hochschullehrer, Universität Göttingen, TH-Braunschweig, TH-Hannover, Tierärztliche Hochschule Hannover, Göttingen 2000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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des Nationalsozialismus erhebliche Lücken und Widersprüche bestehen, die hier geschlossen und erklärt werden sollen. Eine Ursache für die bisher unbefriedigenden Darstellungen ist sicher auch die disparate Quellenlage. Es fehlen nicht nur persönliche Hinterlassenschaften, sondern auch Verwaltungsakten aus seiner Zeit als Klinikleiter und Dekan. Diese sind im Universitätsarchiv der Georgia Augusta nur unzureichend und lückenhaft überliefert. Sie konnten jedoch teilweise mit Beständen aus dem Ge­ heimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin ergänzt werden, wo Organisations- und Verwaltungsakten der Chirurgischen Klinik bis 1930 lagern. Neben den unvollständigen Verwaltungsakten fanden sich im Universitätsarchiv Teilnachlässe von R ­ udolf Stich und seinen Kollegen, die ebenfalls ausgewertet werden konnten. Ein größerer Teilnachlass von Georg Benno Gruber, Kollege von Stich auf dem pathologischen Lehrstuhl, befindet sich im Archiv des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin in Göttingen. Gruber, Jahrgang 1884 und später selbst Medizinhistoriker, verstarb 1977 in Göttingen und hinterließ seinem ehemaligen Institut einen selbst paginierten, kommentierten und gereinigten Nachlass. Weitere Nachlässe von engen Kollegen Stichs wurden in den Universitätsarchiven von Freiburg, Düsseldorf und Bonn gesucht. Eine größere Quelle stellt hierbei das Depositum eines Schülers und langjährigen Freundes von Stich, Karl Heinrich Bauer, in der Universitätsbibliothek Heidelberg dar, das für das Projekt umfassend rezipiert worden ist. Für Stichs Bedeutung innerhalb der Medizinischen Fakultät konnten darüber hinaus die Tagebücher von Wolfgang Heubner, der von 1908 bis 1928 den Lehrstuhl für Pharmakologie in Göttingen innehatte, herangezogen werden. ­Rudolf Stich wuchs in Nürnberg auf, besuchte dort das traditionsreiche humanistische Gymnasium und nahm direkt nach dem Abitur zum Wintersemester 1894/95 sein Studium in Erlangen auf, wo er – wie bereits sein Vater – der Burschenschaft der Bubenreuther beitrat. Um den Quellenbestand zu Stich selbst zu ergänzen, sind das Stadtarchiv Nürnberg und das Universitätsarchiv Erlangen kontaktiert worden. Während sich in Nürnberg kaum etwas über die Familiengeschichte von ­Rudolf Stich herausfinden ließ, fanden sich in Erlangen zumindest Zeugnisse seines Studiums und seiner Dissertation. Demgegenüber bot das Archiv der studentischen Verbindung der Bubenreuther ein wenig mehr Material. Zwar existieren für die Zeit, in der ­Rudolf Stich aktives Mitglied war, keine Versammlungsprotokolle oder dergleichen, auch die »Bubenreuther Zeitung« erscheint erst seit dem Jahr 1917 regelmäßig. Jedoch ließen sich über dieses von Mitgliedern und Ehemaligen verfasste Periodikum über Erinnerungsund Jubiläumsessays einige Ereignisse und Feste rekonstruieren, an denen Stich ab dem Wintersemester 1894/95 teilgenommen hatte. Schließlich bot das Bundesarchiv in Berlin über die Akten der SA-Standarte, in der Stich verzeichnet war, und über die Bestände des Reichsministeriums für Wissenschaft weitere Quellen, die – ergänzt durch eine BDC -Recherche über Stich und seine Freunde, © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sowie Kollegen – das vorhandene Material auffüllten. Daneben wurde im Stockholmer Nobelpreisarchiv die Verbindung zwischen Stich und dem anerkannten Preis rekonstruiert. Da im Jahr 1912 Alexis Carrell58 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie für eine Methode erhielt, die in der Literatur auch als »Carrel-Stich-Naht« bezeichnet wird, bestand der Verdacht, dass auch Stich für diese Ehrung gehandelt wurde. Darüber hinaus wurden aus dem Göttinger Stadtarchiv die Akten des »Ausschusses zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation Göttingens« ausgewertet, da in der Literatur ­Rudolf Stich bei der Rettung der Stadt zum Zeitpunkt des Einmarsches der Amerikaner im April 1945 eine tragende Rolle zugeschrieben wird. Ebenso konnten in diesem Archiv die Materialien über die Vorgänge rund um Stichs Ehrenbürgerschaft und die posthume Würdigung durch die Tafelanbringung bearbeitet werden. Daneben wurde der Bestand der Entnazifizierungsakten von Göttinger Hochschullehrern im Niedersächsischen Landesarchiv (Hauptstaatsarchiv Hannover) eingehend gesichtet. Entgegen der in der Literatur verbreiteten Annahme, dass Stich nicht entnazifiziert worden sei, konnten hier die Entnazifizierungsakten von ­Rudolf Stich und seinem Sohn eingesehen werden. Deren Existenz und damit die Tatsache, dass ­Rudolf Stich sich offenbar einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen musste, wurde in der bisherigen Forschung zu ihm übersehen. So auch in der Dissertation von Stroeve über­ Rudolf Stich, die an der Medizinischen Fakultät in Göttingen angefertigt worden ist. Daneben weist die Arbeit weitere Mängel auf, sodass sie einer Ergänzung und Erweiterung bedarf. So werden die klinischen Arbeiten Stichs lediglich aus der von ihm selbst veröffentlichten Literatur heraus beurteilt, persönliche Hintergründe, Motive, Prägungen sowie Einstellungen geraten dabei aus dem Blick. Auch die jüngste Darstellung über Stich von Michael Sachs aus dem Jahr 2011, publiziert im Sammelband »Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945«, skizziert lediglich den akademischen Werdegang von Stich und rezipiert den bisherigen Forschungsstand zu seiner Person. All jenen Arbeiten ist gemein, dass sie die Ereignisse und Diskurse nach seiner Emeritierung, die – so hier eine These – wesentlich zu seinem Bild als unbelasteter Chirurg beigetragen haben, nicht in die Betrachtung einbeziehen.

58 Alexis Carrell, 28.6.1876–5.11.1944, französischer Chirurg, 1912 Nobelpreis für Medizin und Physiologie, starke Orientierung an der »Rassenlehre« und Eugenik, gegen die Emanzipation der Frau eingestellt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Als sich in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 die amerikanischen Truppen von Süden kommend der Stadt Göttingen näherten, herrschte unter den führenden Persönlichkeiten noch immer Unklarheit über das strategische Vorgehen bei Feindnäherung. Sollte die Stadt verteidigt, dabei unzählige Leben sinnlos geopfert werden oder sollte man die Stadt besser den Amerikanern kampflos übergeben? Offiziell lautete der Wehrmachtsbefehl, dass Göttingen »unter Aufbietung aller Kräfte bis zum Untergang kämpfend Widerstand leisten«1 solle. »Tausend Gerüchte und Vermutungen laufen um. Es heißt, dass Oberbürgermeister Gnade2 die Stadt kampflos übergeben will, der Kreisleiter aber auf Verteidigung besteht. Der Kreisleiter soll Sitzungen einberufen haben und den Vorschlag gemacht haben, alle Institute zu sprengen«3, schrieb die Göttin­gerin Hannah Vogt4 am 8. April, als die amerikanischen Truppen bereits vor den Toren der Stadt standen, in ihr Tagebuch. Ebenso chaotisch waren die Anweisungen an die Bevölkerung: Es war die Rede davon, dass der Kreisleiter Thomas Gengler5 alle Frauen, Kinder und Alte unmittelbar vor Einmarsch der Truppen evakuieren lassen wolle, was kurz darauf in einer Radioansprache jedoch wieder revidiert wurde.6 Für eine Verteidigung war die Stadt allgemein nicht gerüstet, denn den modern ausgestatteten Amerikanern hatte die ortsansässige Armee nichts entgegenzusetzen, zumal sie zahlenmäßig unterlegen und das Gebiet zu weitläufig 1 Walther Hubatsch, Wie Göttingen vor der Zerstörung bewahrt wurde. Die Vorgänge vom 1. bis 8. April 1945, in: Göttinger Jahrbuch 1961, Göttingen 1961, S. 87–137, hier S. 101. 2 Albert Gnade, 25.1.1886–4.7.1966, Offizier, seit 1922 Mitglied der NSDAP, durch die Teilnahme 1923 am »Hitlerputsch« ein »Alter Kämpfer«, seit 1931 Mitglied der SS, ab 1934 Bürgermeister beziehungsweise ab 1938 Oberbürgermeister der Stadt Göttingen, bei der Bundestagswahl 1953 Kandidat für den Dachverband der Nationalen Sammlung, 1957 und 1961 Kandidat für die Deutsche Gemeinschaft. 3 Tagebucheintrag Hannah Vogt vom 8.4.1945, Stadtarchiv Göttingen, Kleine Erwerbungen, Kl. E. 149, Nr. 50, Cordula Tollmien, Nationalsozialismus in Göttingen (1933–1945), in: Rudolph von Thadden u. Günter Trittel (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3, Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Göttingen 1999, S. 124–274, hier. S. 271. 4 Hannah Vogt, 3.3.1910–13.2.1994, als KPD Mitglied verhaftet und im KZ Moringen festgehalten, Autorin. 5 Thomas Gengler, 1901–1974, Astronom, 1933–1945 Kreisleiter der NSDAP in Göttingen. 6 Ebd., 7.–8.4.1945, Tagebucheintrag Hannah Vogt vom 8.4.1945, Stadtarchiv Göttingen Kl. E. 149, Nr. 50. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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war. Dass die Kliniken der Stadt mit Verwundeten überbelegt waren, machte die Lage noch prekärer: Zum Kriegsende befanden sich circa dreitausend bis viertausend Verletzte und Kranke neben zahlreichen Flüchtlingen und Evakuierten in der Stadt, da Göttingen im bisherigen Kriegsverlauf von Luftangriffen weitestgehend verschont geblieben war. Aus demselben Grund waren darüber hinaus in den Monaten zuvor wissenschaftliche Institute aus zahlreichen deutschen Städten wie Aachen, München, Königsberg, Dresden und anderen nach Göttingen ausgelagert worden.7 Um eine Zerstörung der Forschungseinrichtungen einerseits durch die Alliierten und andererseits durch geplante Sprengungsmaßnahmen bei Feindnäherung zu verhindern, setzten sich Angehörige der Universität dafür ein, dass eine offizielle Erklärung Göttingens zur Lazarett- und Forschungsstadt beim Gauleiter erwirkt werde. Unter ihnen war auch Stich, dessen beherztes Handeln einen tiefen Eindruck bei den Göttinger Bürgern hinterlassen hat. Gemeinsam mit dem Universitätsrektor Professor Hans Drexler8 unternahm Stich im Herbst 19449 einen ersten Versuch eine solche Erklärung durchzusetzen, als bekannt geworden war, dass Teile des Heeresoberkommandos nach Göttingen verlegt werden sollten.10 Sie befürchteten, dass diese Verlegung die Stadt als strategisches Ziel für Luftangriffe stärker ins Visier der Alliierten rücken würde und versuchten daher den Gauleiter Hartmann Lauterbacher11 davon zu überzeugen, die Stadt zur Lazarett- und Forschungsstätte erklären zu lassen. Nach Drexlers Aussagen habe der Gauleiter versprochen, sich dafür einzusetzen, doch Stichs Haltung zum Erfolg dieser Anfrage wird von Professor Eduard Baumgarten12, der sich ebenfalls für eine Übergabe der Stadt einsetzte, eher pessimistisch beschrieben: »Ich suche Stich auf, der sich sehr vorsichtig und zurückhaltend äussert. Offenbar hat

7 Hubatsch, S, 39 f. 8 Hans Drexler, 11.3.1898–10.4.1984, Ordinarius für klassische Philologie, seit 1940 Lehrstuhl in Göttingen und Führer des NS-Dozentenbundes, Rektor der Georgia-Augusta ab 1943. 9 Ein genaues Datum konnte Prof. Drexler nicht nennen, aber er erwähnte, dass es nach einer schweren Grippe von Herrn Stich gewesen sei: Stadtarchiv Göttingen, Ausschuss zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation, Protokoll vom 6.3.1956, Dep. 14, Nr. B2. 10 Stadtarchiv Göttingen, Ausschuss, Protokoll vom 9.2.1956, Dep 14, Nr. B2, Dr. Kurt Binding, Erklärung vom 5.1.1948, Dep. 14, Nr. C3, vgl. Stroeve, S. 62 f. 11 Hartmann Lauterbach, 24.5.1909–12.4.1988, Drogist, seit 1927 Mitglied der NSDAP, seit 1930 Gauführer HJ Süd-Hannover-Braunschweig, seit 1934 stellv. Reichsjugendführer und Stabsführer der HJ, Oberpräsident der Provinz Hannover, SS-Obergruppenführer ab 1944, 1948 Flucht aus dem Internierungslager Sandborstel, Flucht nach Argentinien, 1977–1979 Berater im Jungendministerium des Sultanats von Oman. 12 Eduard Baumgarten, 26.8.1898–15.8.1982, Soziologe, 1933 Dozent in Göttingen, seit 1937 Mitglied der NSDAP, Blockleiter, 1940 Lehrstuhl in Königsberg, 1945 Gastprofessur in Göttingen, ab 1948 in Freiburg, 1953 Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Stuttgart, 1957 Wirtschaftshochschule Mannheim, 1963 Emeritierung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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er irgend ein Gutachten (?) bereits eingereicht. Er hält weitere Aktionen für unnötig oder zwecklos«13. Mit dieser Einschätzung sollte Stich Recht behalten, denn auch ein weiterer Besuch von einigen Professoren beim Gauleiter in Rothenkirchen konnte diesen mit dem Hinweis auf die in Göttingen untergebrachte wissenschaftliche Rüstungszentrale mit Windkanal und der Luftfahrtsphysiologie nicht zu einer verbindlichen Zusage bewegen.14 Für eine derartige Entscheidung bedurfte es eines Führerbefehls, sodass auch diese Delegation von Professoren mit einem Versprechen, man werde sich in der Angelegenheit bemühen, vom Gauleiter abgespeist wurde. Somit war diese Anstrengung ebenso wie die erste, auch weil Kreisleiter Gengler, als inbrünstiger Nationalsozialist, niemals die Partei durch einen solchen Antrag an Hitler verraten hätte wenig erfolgversprechend. Demnach war er weiterhin fest entschlossen, die Verteidigungslinie zu halten und drohte im Angesicht des »liberalen Defaitismus der Göttinger Professoren«15 mit Erschießungen. Die amerikanischen Truppen sollten in Göttingen mit allen Mitteln gestoppt werden, wenn nötig auch mit töpfeweise heißem Wasser, welches die Zurückgebliebenen vorbereiten und aus den Fenstern dem Feind schließlich überschütten sollten.16 Durchhalteparolen wie: »Lieber tot als Sklav‹!« wurden, unter anderem auch vom Gauleiter, verbreitet, für Parteigebäude, wissenschaftliche Institute sowie Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke wurden Sprengungen vorbereitet. Es herrschte eine »unheimliche Atmosphäre, Untergangsstimmung«17. Die Bevölkerung war nervös, einige packten ihr wichtigstes Hab und Gut auf Hand­ karren, flüchteten aus der Stadt. Und Parteifunktionäre liefen mit Aktenstapeln unterm Arm durch die Straßen, um belastende Unterlagen in der Strömung der Leine fortzuspülen, »in den Gossen [wurden] Unmengen von Hakenkreuzabzeichen«18 beseitigt. Lange konnte es also nicht mehr dauern. Es ist der 7. April 1945, als amerikanische Fliegerbomber einen letzten Angriff kurz vor dem Einmarsch der Truppen auf die Stadt flogen, wobei der Güterbahnhof zerstört wurde und siebzig Menschen ums Leben kamen. Während der Kreisleiter noch am selben Tag den Volkssturm zum Bau von Verteidigungsanlagen aufrief, bevor er sich selbst in Richtung Harz absetzte, wurden in der Stadt durch eine Gruppe von Bürgern, Professoren und Militärs zusammen mit dem Oberbürgermeister Albert Gnade Maßnahmen zur verteidigungslosen 13 14 15 16

Tagebucheintrag Baumgarten 26.3.1945, Stadtarchiv Göttingen, Dep 14 C2. Tagebucheintrag Baumgarten 27.3.1945, ebd. Ausschuss, Protokoll vom 29.4.1955, Stadtarchiv Göttingen, Dep. 14, B1. Ilse Lege, Herr Kramer, Gespenster, Erinnerungen 1933–1949, Göttingen 1995, S.  121, vgl. Tollmien, Nationalsozialismus in Göttingen (1933–1945), Göttingen 1999, S. 270. 17 Lege, S. 121. 18 Matthias Heinzel, 1945  – Kriegsende in Göttingen, Zeitzeugen berichten, Göttingen 2005, S. 15. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Übergabe der Stadt getroffen. Erleichtert notierte Hannah Vogt: »Endlich ermannt sich die Intelligenz: Professor Stich, der Chirurg, spricht von 3.600 Verwundeten, deren Abtransport unmöglich ist. Die Institutsdirektoren erklären, daß Rollkommandos zum Zerstören ihrer Anstalten den Weg über ihre Leichen nehmen müssen.«19 Zum Schutz der Kliniken brachten Stich und Professor Herlyn20 darüber hinaus »Kennzeichnungen ähnlich wie mit dem Roten Kreuz« an.21 Um sicherzugehen, dass die amerikanischen Truppen nicht zum Beschuss veranlasst wurden, verfassten die Professoren Baumgarten und Rein22 am späten Abend des 7. April einen Aufruf an die Bevölkerung, welcher »von den Herren Gnade, Stich, Baumgarten unterzeichnet« wurde und bei dem Göttinger Verleger Ruprecht heimlich gedruckt werden sollte.23 Es war essentiell, dass dieser noch vor dem Einmarsch der Amerikaner in Umlauf gebracht werden würde. In dem Aufruf wurden die Göttinger Bürger aufgefordert, sich ruhig zu verhalten und keinen Widerstand zu leisten, da Göttingen als »offene Stadt« übergeben werden sollte: »Unter den gegenwärtigen Umständen gilt für unsere Stadt das Wort des Führers, dass nunmehr dafür zu sorgen ist, dass das Volk nicht heroisch untergeht, sondern praktisch erhalten wird […].«24 Doch neben all diesen Anstrengungen, die Stich bereits im Vorfeld für den Schutz der Stadt im Allgemeinen und seiner Patienten im Besonderen unternommen hatte, war es vor allem sein Handeln unmittelbar vor Einmarsch der Truppen, das sich im Gedächtnis der Göttinger Bürger bis heute verfestigt hat: So fuhr er gemeinsam mit dem Direktor der Universitätsfrauenklinik, Heinrich Martius25, in einem Jeep, die weißen Fahnen aus dem Fenster flatternd, den 19 Tagebucheintrag Hannah Vogt vom 8.4.1945. 20 Karl Ewald Herlyn, 10.3.1903–2.6.1976, Medizinstudium in Tübingen, Göttingen, Greifswald und München, Staatsexamen und Promotion in Göttingen, seit 1933 Mitglied der NSDAP, SA und des NS-Ärztebundes, seit 1937 Oberarzt in Göttingen, seit 1943 Beratender Chirurg, auch nach 1945 weiterhin als Oberarzt in Göttingen tätig. 21 Ausschuss zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation Göttingens, Stadtarchiv Göttingen, Protokoll vom 9.2.1956, Dep 14 B2. 22 Hermann Friedrich Rein, 8.2.1898–14.5.1953, seit 1932 Lehrstuhlinhaber in Göttingen für Physiologie, Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, Förderndes Mitglied der SS, Direktor des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts, Beratender Physiologe beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe, von Hitler zum ao. Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens ernannt, 1946 Rektor der Georgia Augusta, Gründungsmitglied der MPG. 23 Michaela Böttcher, »Was am folgenden Morgen beginnt ist ein neues Kapitel« – Die ersten Tage unter alliierter Besatzung, in: Maren Büttner u. Sabine Horn, Alltagsleben nach 1945. Die Nachkriegszeit am Beispiel Göttingen, Göttingen 2010, S. 11–31, hier S. 13 f. 24 Ausschuss, Manuskript Baumgarten, Stadtarchiv Göttingen Dep. 14 C2. 25 Heinrich Martius, 2.1.1885–17.2.1965, Ordinarius und Direktor der Universitätsfrauen­ klinik Göttingen, als »Frontkämpfer« einzig nicht entlassener »jüdischer« Hochschul© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Amerikanern entgegen, um sie über die große Anzahl an in der Stadt befindlichen Verwundeten und Verletzten zu informieren. Tatsächlich nahmen die amerikanischen Truppen am Vormittag des 8.  April 1945 die Stadt ein, ohne dass es dabei zu Gefechtshandlungen und großen Zerstörungen gekommen war. Wenngleich der amtliche Wehrmachtsbericht zwei Tage später meldete, dass Göttingen im »harten Kampf verloren«26 gegangen sei, hatte eine kampflose Übergabe stattgefunden. Diese dramatisierende Darstellung war insofern von großer Bedeutung, als nicht der Verdacht erweckt wurde, man hätte gegen den Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht verstoßen. Obwohl ­Rudolf Stich an der »Rettung der Stadt« maßgeblich beteiligt war, veranlasste die britische Militärregierung, die die amerikanische Besatzungsmacht im Mai des Jahres 1945 abgelöst hatte, am 13. Juni seine Verhaftung.27 Stich wurde nicht – wie in der Literatur bisher angenommen – sofort »nach der Einnahme Göttingens«28 im April, sondern mehr als zweieinhalb Monate danach arrestiert. Über ein Gefängnis in Hildesheim brachten die Briten ihn in das Lager Westertimke, wo er als 70jähriger zunächst Hilfsdienste in der Küche leisten, sowie »Zellen und Höfe fegen«29 musste, bevor er als Arzt andere Lagerinsassen versorgen durfte.30 Nach dem Zusammenbruch des »tausendjährigen Reiches« war die Lagerhaft für viele ein persönlicher Tiefpunkt. Der Arrest war eine der härtesten Sanktionen im Rahmen der politischen Säuberung seitens der Besatzungsmächte, für die Betroffenen geprägt durch Ungewissheit, Demütigung, sowie Deklassierung, und galt als vorweggenommene Strafe für mögliche Verbrechen zwischen 1933 und 1945.31 Gerade in den ersten Monaten waren die Lager der Briten behelfsmäßig organisiert. Zunächst wurden die Wachmannschaften aus ehemaligen Zwangsarbeitern und Opfern des NS -Regimes rekrutiert, sodass es nicht selten zu Racheakten und Misshandlungen in den Lagern kam. Darüber hinaus ließ man die Insassen über den konkreten Grund ihrer

26 27 28 29 30 31

lehrer, Unterzeichner des Aufrufes Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler vom 19.4.1934 im Völkischen Beobachter, Bundesverdienstorden, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Krebsforschung. Zit. nach Hubatsch, S. 100. Vgl. Beushausen u. a., S. 245. Vgl. ebd. Siegfried A. Kaehler an Martin Kaehler am 24.9.1945, in: Walter Bußmann u. Günther Grünthal (Hg.), Siegfried A. Kaehler, Briefe 1900–1963, Boppard am Rhein 1993, S. 327– 329, hier S. 328. Vgl. Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich, S. 402. Christina Ulrich, Ich fühl mich nicht als Mörder! Die Integration von NS-Tätern in die Nachkriegsgesellschaft, Stuttgart 2010, S. 35; Klaus-Dietmar Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, »Entnazifizierung«, Strafverfolgung, in: Ders. u. Hans Woller (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit dem Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 21–83, hier S. 33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Verhaftung im Unklaren und untersagte auch jeglichen Kontakt mit den Familien, die oftmals wochen- und monatelang nicht wussten, wo ihre Väter, Brüder und Söhne inhaftiert waren. Das galt auch für Frau Stich und die bei ihr wohnenden Kinder und Enkelkinder, die im Juli in Ungewissheit darüber ausharrten, wo sich ihr Mann, Vater und Urgroßvater an seinem siebzigsten Geburtstag befand. Während das Göttinger Bildungsbürgertum die Gefangennahme Stichs mit Entsetzen zur Kenntnis nahm,32 taten seine ehemaligen Kollegen alles, um ihn über das Oberpräsidium, den neuen Rektor der Universität und die Militärregierung freizubekommen. Sein »plötzliches Ausscheiden gefährdet Leben und Gesundheit der ihm anvertrauten Patienten«, schrieb etwa der bei Stich examinierte und promovierte Oberarzt der Chirurgie, Karl Ewald Herlyn, am 14. Juni 1945.33 Auch ein Herr Dr. Schreiber34, der sich selbst als »großer Vertreter der Sozialdemokratie« bezeichnete und nach eigener Auskunft von 1938 bis 1945 im Konzentrationslager in Buchenwald interniert gewesen war, setzte sich für Professor Stich ein, der sich »nie politisch betätigt« und nur »seine Wissenschaft und die Krankheit seiner Patienten« gesehen habe.35 All diese Bemühungen waren offenbar erfolgreich – schließlich wurde Stich nach knapp drei Monaten wieder entlassen. Somit wurde ­Rudolf Stich nicht aufgrund bestimmter Verdachtsmomente oder konkreter Vorwürfe von den Alliierten verhaftet, sondern war ein »Opfer« der Politik des automatic arrest. Unter dieser Kategorie wurden 1945/46 im Einflussgebiet der Westmächte zwischen einhundert- und zweihunderttausend ehemalige Parteifunktionäre, Angehörige von SD36 und Gestapo, SS -Mitglieder und eben die hohen Beamten gefasst,37 allein in der britischen Besatzungszone wurden zwischen Mai 1945 und Juni 1947 rund 90.800 Personen in einem Civil Internment Camp inhaftiert. Bereits im Oktober des Jahres 1944 legten die Briten in einem so genannten Deutschlandhandbuch die Richtlinien fest, an denen sich ihre Besatzungspolitik orientierte und begannen die ersten Listen mit Personen zu führen, die bei der Besetzung sofort festzunehmen sind, beziehungsweise mit denjenigen

32 Vgl. Siegfried A. Kaehler, Briefe, in: Bußmann. 33 Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Nds. 401 acc. 112/83 Akten – Nr. 819 – Blatt 2. 34 Da ein Vorname in den Akten fehlte, ließ sich leider nicht mehr zu Herrn Dr. Schreiber ermitteln. 35 Dr. Schreiber am 16.6.1945, in: Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 401 acc. 112/83 Akten – Nr. 819 – Blatt 8. 36 SD als Abkürzung des Sicherheitsdienstes des Reichsführer-SS, als Geheimdienst der NSDAP ein wichtiger Bestandteil des NS-Machtapparates. 37 Vgl. Frei, 1945 und wir, S.  28f; Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1996, S. 254 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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man in Deutschland Ruhe und Ordnung aufrechterhalten könne.38 Die Engländer verhafteten zunächst all diejenigen Nationalsozialisten, von denen sie eine Bedrohung der Besatzungstruppen befürchteten und schließlich alle politischen Leiter der NSDAP, Angehörige der SS und Waffen-SS , Gestapo, SD, sowie Führer der SA, HJ, NSKK, NSFK, RAD, DAF, BDM und NS -Frauenschaft, ebenso Polizisten, Angehörige der deutschen Abwehr und viele höhere Verwaltungsbeamte.39 Eben weil Stich nicht sofort, sondern erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung verhaftet worden war, ist davon auszugehen, dass er weder ein vorrangiges Ziel der Amerikaner gewesen, noch von der britischen Militärbehörde als sofort zu beseitigender Feind eingestuft worden war.40 Diese Tatsache unterstreicht noch einmal, dass er im Vorfeld nicht als nationalsozialistisch belastet beziehungsweise als skrupelloser Täter gesehen wurde. Überdies wurde Stich bereits nach wenigen Wochen wieder entlassen, was eher darauf hindeutet, dass er zu Unrecht in die Kategorie des automatic arrest gefallen war. So war es nur folgerichtig, dass er zeitnah mit der ersten Revision des automatischen Arrestes, die vorsah, dass Kranke, Junge unter 17 Jahren und Alte über 65 Jahren nicht weiter interniert bleiben sollten, aus dem Lager bei Bremen entlassen worden ist. Auch daher äußerte sich noch im Jahr 1990 ein ehemalige Schüler von Stich dahingehend, dass die Inhaftierung des Chirurgen »großes Unrecht« gewesen sei. In der Bewertung gilt dieser Fall als Paradebeispiel für die Verunglimpfung der britischen Besatzungsmacht, da ein »ehrbarer und keinesfalls nationalsozialistischer« Hochschullehrer verhaftet worden war.41 Die Vorstellung des »ehrbaren« Dozenten wird auch dadurch unterstrichen, dass Stich – im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen – im September 1945 ordnungsgemäß bei vollen Bezügen, mit Rücksicht auf sein Alter und unterstützt durch die britische Militärregierung, emeritiert wurde.42 Dass der Krieg für die Göttinger Bürger und ihre Stadt am Ende weitestgehend glimpflich ausging, prägte das Stadtgedächtnis nachhaltig, ja, verdichtete sich retrospektiv sogar zu einer Erzählung von Helden und Antihelden. 38 Vgl. Ullrich Schneider, Niedersachsen 1945. Kriegsende, Wiederaufbau, Landesgründung, Hannover 1985, S. 40 f. u. S. 64. 39 Heiner Wember, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung der National­ sozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1992, S. 7. 40 So wird immer wieder betont, dass erst nach einer Konsolidierung der Militärregierung im Sommer und Herbst 1945 eine systematische Verhaftung der einzelnen verantwortlichen Personengruppen durchgeführt werden konnte. Vgl. Henke, Die Trennung vom Nationalsozialismus, S. 33. 41 Waldemar Krönig u. Klaus-Dieter Müller, Nachkriegssemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990, S. 105–107. 42 Stich an den Kurator der Universität am 3.9.1945, Adolf Grimme, Oberpräsident der Provinz Hannover, stellt am 20.9. die Entpflichtungsurkunde rückwirkend zum 1.9. aus. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Stich Kuratorium, PA Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Während der Kreisleiter, bisweilen als brutaler, fanatischer »Nazi« beschrieben,43 wie auch der Gauleiter in dieser Narration die Antihelden repräsentieren, treten all jene Personen als positive Identifikationsfiguren hervor, die den Plänen widersprachen oder sich auf unterschiedliche Weise widersetzten. Daher wurden sie zu den »Rettern Göttingens«, deren Realitätssinn, Besonnenheit und entschlossenes Handeln die Stadt vor der Zerstörung bewahrt hatten. Wenngleich viele der Protagonisten bei der Aufarbeitung der Ereignisse einige Jahre später versuchten, ihr eigenes Verdienst besonders hervorzuheben, war es nicht der Anstrengung einer einzelnen Person zu verdanken, dass der Stadt ein verlustreicher Verteidigungsversuch erspart geblieben war.44 Vielmehr war das Zusammenwirken von Akteuren unterschiedlicher Couleur, die innerhalb ihres jeweiligen Einfluss- und Machtbereiches agierten, wie auch der Wunsch der Bevölkerung insgesamt ausschlaggebend dafür, dass es zu einer kampflosen Übergabe gekommen war. Dennoch überschlugen sich die Berichte von Zeitzeugen in der lokalen Zeitung insbesondere an Jahrestagen mit eigenen, ergänzenden oder andere Erzählungen korrigierenden Darstellungen. Zehn Jahre später erschien beispielsweise ein Bericht im Göttinger Tageblatt zu den Ereignissen im April 1945, um »zahlreiche Gerüchte und Phantasieprodukte«45 auszuräumen. Der anonyme Verfasser betont darin die Rolle des Oberbürgermeisters Gnade, der sich dafür eingesetzt habe, dass Göttingen militärisch geräumt, Sprengladungen an wichtigen Gebäuden entfernt und die Übergabe der Stadt vorbereitet würde. Zeitgleich war vom Rat der Stadt Göttingen ein Ausschuss zur Klärung der Ereignisse ins Leben gerufen worden, der »eine der geschichtlichen Realität entsprechende«46 Aufarbeitung mit Hilfe von Zeitzeugenbefragungen und schriftlichen Dokumenten anfertigen sollte. Tatsächlich meldeten sich in Folge der Veröffentlichung im Göttinger Tageblatt und der Aufarbeitung durch den Ausschuss eine Reihe von Zeitzeugen zu Wort, die ex post Berichte über das Kriegsende in Göttingen und ihre eigenen Leistungen verfasst hatten. Stich hingegen hielt sich aus diesem Gerangel nach Ruhm und Ehre heraus, veröffentlichte weder eine eigene Darstellung, noch drängte er sich dem Untersuchungsausschuss oder den Medien mit Zeugnissen aus seiner Perspektive auf. Das war insofern auch nicht notwendig, als sich die Erzählung von seinem Einsatz in der Erinnerung der Göttinger Bürger kontinuierlich reproduzierte: Zwanzig Jahre nach Kriegsende erschien sein Name beispielsweise ein weiteres 43 Vgl. z. B. Befragung Gerls, 25.11.1975, Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77, I, Nr. 20. 44 Ausschuss zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation Göttingens, Stadtarchiv Göttingen, Dep 14 . 45 O. A., Der Einmarsch der amerikanischen Truppen in Göttingen, in: Göttinger Tageblatt 2./3.4.1955. 46 Ausschuss zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation Göttingens, Stadtarchiv Göttingen, Dep 14 A2. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Mal in der Liste der Retter Göttingens in einem Artikel der Göttinger Presse,47 so wie in einem folgenden Bericht sein Protest gegen die Verlegung des Oberkommandos des Heeres nach Göttingen nochmals unterstrichen wurde.48 Auch bei einer großangelegten Zeitzeugenbefragung zum Kriegsende im Jahr 1976 beharrte der Göttinger Bürger Wilhelm Ebel49 vehement darauf, dass im Nachhinein »[Prof.] Plischke und andere das Verdienst für sich verbuchen« wollten, aber »Gnade und Stich […] das getan«50 haben. Gleichermaßen überzeugt schien auch der Interviewer, als er im gleichen Zusammenhang General Friedrich Hoßbach fragte: »Sind Sie um militärischen Rat gefragt worden zu dem, was Gnade und Stich dann getan haben, nämlich den Amerikanern entgegenzufahren?«51 Ohne dass Stich dies also selbst forciert hätte oder vielleicht auch gerade aus diesem Grund, wurde sein Handeln in den letzten Tagen vor Kriegsende bei den Göttingern legendär, erzählt man davon noch bis in die Gegenwart.52 Schließlich wurde Stichs Bedeutung für die Stadt Göttingen auch von offizieller Seite honoriert, als ihm eigens zu seinem 80. Geburtstag, am 19. Juli 1955, das Ehrenbürgerrecht der Stadt verliehen wurde. Die Verleihung fand im Rahmen der Geburtstagsfeierlichkeiten im Universitätsklinikum statt, die für den ehrwürdigen Professor in einem großen Festakt inszeniert wurden: »Blumen und Grün im nüchternen Hörsaal der Chirurgischen Klinik […] Außer den Vertretern der Universität und des öffentlichen Lebens füllten ehemalige Schüler, Mitarbeiter, Patienten und Freunde das Halbrund.«53 Reden wurden gehalten und Geschenke überreicht, es gab musikalische Darbietungen, weshalb »das mit zahlreichen Superlativen geehrte 80jährige Geburtstagskind […] tiefbewegt 47 O. A., Göttinger Presse 8.4.1965. 48 O. A., Göttinger Presse 14.4.1965. 49 Wilhelm Ebel, 7.6.1908–22.6.1980, Jurist und SS-Untersturmführer, ab 1936 Dozent in Bonn, später in Rostock, Lektor im Amt des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP (Amt Rosenberg), seit 1939 Lehrstuhl in Göttingen, ab 1941 Abteilungsleiter für indogermanisch-deutsche Rechtsgeschichte im SS-Rasse- und Siedlungshauptamt, nach 1945 entlassen und ab 1953 wieder im Amt, 1956 Emeritierung, bis 1978 Direktor des Göttinger Universitätsarchivs. 50 Augenzeugenbefragung von Göttinger Bürgern, Stadtarchiv Göttingen, Dep. 77, I, Nr. 8. Hans Plischke, 12.2.1890–28.4.1972, Ethnologe, 1924 Habilitation in Leipzig, seit 1929 ao. Professor in Göttingen, Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, 1934–1959 Professor und Direktor des Instituts für Völkerkunde in Göttingen, Mitglied der NSDAP seit 1933, Leiter des Wissenschaftlichen Amtes der Dozentenschaft der Universität Göttingen, Förderndes Mitglied der SS, Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrer- und Dozentenbund, Dekan der Philosophischen Fakultät, Rektor der Georgia Augusta von 1941–1943. 51 Augenzeugenbefragung, Dep. 77, I, Nr. 40. 52 Vgl. exempl. Gespräch mit Ernst Schütt (Assistent am Physiologischen Institut Göttingen), am 2.3.2013 und Stroeve, S. 63 f. 53 O. A., Göttinger Tageblatt, 20.7.1955. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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und erschüttert über so viel Freundschaft und Zuneigung«54 war. In einem Dankesbrief an den seinerzeit amtierenden Oberbürgermeister schrieb Stich drei Tage später, dass ihn die Ehrung der Stadt, welche er selbst als seine »Wahlheimat« bezeichnete, vollkommen unerwartet getroffen und ihm daher umso größere Freude bereitet habe.55 Darüber hinaus wurde Stich am gleichen Tag noch eine weitere, besondere Ehrung zuteil, die seine Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland insgesamt unterstreichen sollte: Überreicht vom Staatssekretär erhielt der Jubilar in feierlicher Geste das »Große Verdienstkreuz des Bundesverdienstordens mit Halskreuz«. Mit dem Orden sollten vor allem Stichs Leistungen als Mediziner gewürdigt werden, aufgrund derer er auch einen internationalen Ruf genoss.56 Allgemein wird das Verdienstkreuz großen Personen übergeben, die sich auf politischem, wirtschaftlich-sozialem oder geistigem Gebiet für den Wiederaufbau des Landes in besonderem Maße eingesetzt haben. Dabei reicht es nicht, wenn es sich um eine einmalige Leistung handelt, sondern das Verdienst muss für einen längeren Zeitraum erbracht worden sein. Es erstaunt allerdings, dass Stich einen Orden auf hoher Rangstufe erhielt, denn in der Regel wird bei einer Erstauszeichnung entweder eine Verdienstmedaille oder das Verdienstkreuz am Bande der untersten Stufe verliehen. Einen höheren Orden erhält eine Person dann für weitere ehrenwerte Leistungen, nicht aber automatisch. Im Falle Stichs trat nun jene Regelung ein, die es erlaubt, bei »besonders herausragenden Leistungen eine Ausnahme«57 von den Vergabebestimmungen zu machen. Vorgeschlagen wurde Stich von Professor Hans Hellner58, der 1945 die Leitung der chirurgischen Klinik übernommen hatte, also Stichs direkter Nachfolger war. Als Ausdruck der Anerkennung und des Danks wurde der Orden am 7. September 1951 vom Bundespräsidenten Theodor Heuss gestiftet und wurde bis Juni 1955 bereits 8.195. Mal verliehen. Unter den Dekorierten waren 26 Prozent pensionierte Beamte, Professoren und Lehrer, wovon wiederum die Hälfte Ärzte waren. Somit gehörte Stich neben seinem Göttinger Kollegen Professor Heinrich Martius, seinerzeit Direktor der Universitätsfrauenklinik, zu einer kleinen Gruppe, die nicht per se ihres Berufsstands wegen mit dem Orden gewürdigt worden war. 54 O. A., Göttinger Presse, 20.7.1955. 55 Stadtarchiv Göttingen, Ehrenbürgersachen: Stich, AHR I A Fach 6 Nr. 22. 56 Bundesarchiv Koblenz, Bundespräsidialamt, Vorschlagsbegründung Bundesverdienstkreuz Stich, B 122/38574 (VL 94). 57 Vgl. Bundespräsidialamt, Der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2001. 58 Hans Hellner, 24.10.1900–5.2.1976, Medizinstudium in Freiburg, Berlin, Göttingen und München, seit 1938 ao. Professor in Münster, seit 1939 ordentlicher Professor, 1939–1942 Beratender Chirurg, 1945–1969 Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen und dort Ordinarius. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 1: Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in der Aula der Georgia-Augusta, links neben R ­ udolf Stich sein Freund und Kollege Georg Benno Gruber (Quelle: Stadtarchiv Göttingen)

Wie viel Bedeutung man Stich in Göttingen beimaß, manifestiert sich in zahlreichen weiteren Ehrungen und Gedenkanlässen, die man ihm außerdem widmete: Zu seinem 85. Lebensjahr erhielt er von der Universität für seine nachhaltigen Verdienste für die Medizinische Fakultät, die er auf unterschiedliche Weise als Wissenschaftler, Hochschullehrer und Dekan erwiesen hatte, die Albrecht von Haller-Medaille. Damit der berühmte Chirurg auch in den Räumlichkeiten der Universitätsklinik weiterhin präsent blieb, benannte man eine Station nach ihm und errichtete eine Stehle mit seinen Lebensdaten vor den Gebäuden. Auch in der lokalen Presse erschien sein Name regelmäßig, sodass beispielweise die hiesigen Zeitungen dem berühmten Professor mit jeweils einseitigen Artikeln über sein Leben und Wirken zum 85. Geburtstag gratulierten,59 während sie gleichermaßen umfangreich nach seinem Ableben Zeilen des Gedenkens und der Trauer veröffentlichten. Nach seinem Tod entschied sich nach einer Anregung von Margarete Stich die Stadt Göttingen im Jahr 1971 dazu, Stich mit der Benennung einer Straße zu ehren und dadurch seine Präsenz auch im öffentlichen Raum zu stärken. In der 59 Stadtarchiv Göttingen, Ehrenbürgersachen: Stich AHR I A Fach 6 Nr. 22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Benennungspraxis von Straßen stehen häufig lokale Protagonisten Pate, denn neben einer räumlichen Orientierung können Straßennamen ebenso eine kulturelle Orientierung bieten.60 Mit der Namensgebung nach Personen erinnern die Straßenschilder an bestimmte Persönlichkeiten, die als identitäts- und sinnstiftend für eine Gesellschaft, beziehungsweise im kleinen Rahmen ebenso für eine Stadt, betrachtet werden. Die Benennung des R ­ udolf-Stich-Weges war demzufolge ein symbolischer Akt der Wertschätzung, der sicherstellen konnte, dass die Erinnerung an den anerkannten Chirurg im Stadtgedächtnis wachgehalten wird. Stich war derart präsent im Gedächtnis der Stadt, dass weit nach seinem Tod der Präsident der Georgia-Augusta im Jahr 1984 die Anbringung einer Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Weender Landstraße 14 anregte, das als »Villa-Stich« bekannt war. So sollte die Erinnerung an die Koryphäe der Chirurgie weiterhin wach gehalten werden. Neben den wissenschaftlichen Leistungen nannte der Präsident als Begründung auch wieder seine »Verdienste um die Stadt […] etwa im Zusammenhang mit der Rettung Göttingens 1945«61. Die Anregung wurde von der Stadt angenommen, allerdings sollte die feierliche Enthüllung zwecks symbolischer Aufwertung erst im folgenden Jahr, nämlich zum 110. Geburtstag des Professors, stattfinden. Hierzu wurden zahlreiche Gäste aus Wissenschaft, Politik und Medien sowie den Verwandtschafts- und Anhängerkreisen geladen, bevor im Juli 1985 die Ehrung mit einer Laudatio auf­ Rudolf Stich offiziell vollzogen wurde.62 Doch auch über die Grenzen der Stadt hinaus bewertete man Stichs me­ dizinische Arbeit als herausragend, weshalb die Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie ihm einen Preis widmete. Der RudolfStich-Preis wurde »alljährlich für eine herausragende Arbeit aus dem Gebiet der Gefäßchirurgie vergeben.63 Nach unserer Anfrage teilte die Gesellschaft mit, dass sich der Vorstand nach »differenzierter Beratung« entschlossen habe, den R ­ udolf-Stich-Preis zukünftig als gefäßchirurgischen wissenschaftlichen Preis der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie auszuschreiben.64 60 Sänger, S. 11. 61 Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 152. 62 Zur Feier eingeladen waren u. a. Das Präsidium der Georgia-Augusta, die Göttinger Bürgermeister Artur Levi und Karl Eckold, Professor Dr. ­Rudolf Vierhaus, Leiter des MPI für Geschichte, der Kreisrat, Walter und Hans Stich, Freiherr von Oeyenhausen als Vertreter des »Stich-Kreises« und zehn weitere Einladungen an ihn. Vgl. Stadtarchiv Göttingen, Akten zur Tafeleinweihung ­Rudolf Stich. 63 Online einsehbar unter: www.dgthg.de/­Rudolf-Stich-Preis.de [eingesehen am 7.3.2013]. 64 Vgl. Schreiben vom 27.12.2012 von Professor Dr. Arno Krion, Chronist der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie an das Institut für Demokratie­ forschung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Somit wurde Prof. R ­ udolf Stich, der berühmte Chirurg mit internationalem Ruf, welcher der »Chirurgischen Universitätsklinik als auch der Stadt Göttingen Ansehen und Ruhm«65 eingebracht hatte, zum Vorbild nicht nur seiner Schüler und ihm nachfolgender Mediziner und Wissenschaftler, sondern auch für die Göttinger Bürger. Insbesondere weil Stich als renommierter Arzt und bekannter Bürger der Stadt eine anerkannte Persönlichkeit war, konnte sich die Legende vom Retter Göttingens in der kollektiven Erinnerung verfestigen, konnte sie so eine starke Suggestionskraft entwickeln, dass sie sich auch gegenüber anderen Darstellungen bis in die Gegenwart durchsetzte. Dabei bleibt die Frage, was sich jenseits dieser heldenhaften Erzählungen über den Göttinger Arzt und Hochschullehrer ­Rudolf Stich wissen lässt.

65 Stadtarchiv Göttingen, Ehrenbürgersachen: Stich, AHR I A Fach 6 Nr. 22. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

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Der Bürger ­Rudolf Stich

Im Kaleidoskop: Nationalliberale Wurzeln ­ udolf Stich wird am 19.  Juli 1875  – im selben Jahr wie Thomas Mann  – R ge­boren. Genau wie der spätere Autor der Buddenbrooks wuchs auch Stich in einem bürgerlich-protestantischen Milieu auf. Doch während Mann seine Kindheit in einer norddeutschen Hansestadt verbrachte, lebte Eduard1 mit seiner Frau S­ ophia Stich2 und ihrem Erstgeborenen R ­ udolf am südlichen Ende des neu geschaffenen Deutschen Kaiserreichs, in Nürnberg. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit war Nürnberg eine Großstadt, die von begüterten und privilegierten Familien dominiert wurde.3 Obwohl die Stadt im Jahr 1806 ihren Status als Reichsstadt und damit ein Großteil ihrer Freiheiten durch die Integration in das Bayerische Königreich verloren hatte,4 behielten die großen Familien ihre kommunalpolitischen Führungspositionen. Dies galt ebenso für ihr in der Freiheit gewachsenes Selbstbewusstsein. Überhaupt war Nürnberg eine Hochburg des »Liberalismus in Bayern«5. Das Bürgertum war kaufmännisch geprägt: Durch eine liberale Handels- und Gewerbegesetzgebung schienen sich hier in den späten 1870er Jahren die führenden Schichten rascher als in den monarchisch-konservativ geprägten Landstrichen damit auszusöhnen, dass durch die Bismarck’sche Reichseinigung 1871 das Bayerische Königreich seine staatliche Eigenständigkeit verloren hatte und nun nach und nach in das deutsche Kaiserreich integriert wurde.6 Eduard Stich war ein Teil dieses liberalen Nürnberger Milieus. Er erwarb sich als niedergelassener Arzt einen respektablen Ruf und war Gründungsmitglied des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, der sich im Jahr 1874 konstituierte. Somit war Eduard Stich über seine Vereinstätigkeit, als Hausarzt des städtischen Alters- und Siechenhauses und als ärztlicher Betreuer des Waisenhauses 1 Eduard Stich, 17.5.1848–1.10.1938, Studium in Erlangen, seit 1970 Praxis in Nürnberg, Bahnarzt, Hausarzt des Altersheimes und Siechenhauses zum Heiligen Geist in Nürnberg, seit 1903 Hofrat, seit 1916 Geheimer Sanitätsrat. 2 Sophia Stich, geboren als Maria Sophia Wilhelmina Tröltsch am 8.1.1856, Heirat mit Eduard Stich am 4.8.1974, verstorben am 30.6.1916 in Nürnberg. 3 Martina Bauernfeind u. a., Kleine Nürnberger Stadtgeschichte, Nürnberg 2012, S. 25. 4 ­Rudolf Endres u. a., Nürnbergs Weg in die Moderne. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Nürnberg 1996, S. 11. 5 Bauernfeind, S. 11. 6 Hans-Michael Körner, Geschichte des Königreich Bayerns, München 2006, S. 151. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Bürger R ­ udolf Stich

eng an die kommunale Verwaltung der Stadt angebunden. In diesem Milieu wuchs R ­ udolf Stich heran. Ein Großteil der politischen Führungspersönlichkeiten Nürnbergs war im Liberalismus zu Hause, genauer: im Linksliberalismus. Neben Ärzten fanden sich hier Anwälte, die freiberufliche Intelligenz, Redakteure, das akademisch geprägte Bürgertum und Kaufleute.7 »Der Nürnberger Linksliberalismus war […] eine Haltung von überzeitlichem Charakter, […] deren Wesen in den Ideen von Freiheit des Individuums, der konstitutionellen Demokratie und der Humanisierung des politischen Prozesses besteht.«8 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch Eduard Stich diese, innerhalb des Nürnberger Bürgertums offenbar selbstverständliche, Haltung in der täglichen Praxis an seinen Sohn weitergegeben hat. Eduard Stich war nicht nur über seine Profession in das bürgerliche Vereinswesen der Stadt integriert, sondern auch in klassischen bildungsbürgerlichen Einrichtungen aktiv. Er war, ebenso wie sein Bruder Karl und vermutlich auch ihr gemeinsamer Vater, Johann Lorenz Stich9, Mitglied im Pegnesischen Blumenordnen.10 Der Blumenorden, benannt nach der Tradition, dass sich jedes Mitglied eine Lieblingsblume erwählen sollte, wurde im Jahr 1644 gegründet. Wie andere barocke Sprachgesellschaften wollte man mit der Vereinigung nach dem Dreißigjährigen Krieg einen Beitrag zum kulturellen und moralischen Wiederaufbau leisten. Obwohl aus dem Verein keine großen Poeten oder Lyriker hervorgingen, verfügt er über eine traditionsreiche, lokalhistorische Bedeutung und nahm seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr den Charakter einer Gelehrtengesellschaft ein.11 Im ausgehenden 19.  Jahrhundert bot der Pegnesi­ sche Blumenorden zunehmend einen Rahmen, innerhalb dessen städtische Geselligkeiten des Bürgertums organisiert wurden, wie beispielsweise gemeinsame Lesungen oder auch Ausflüge in das Nürnberger Umland.12 Daneben widmeten sich die Mitglieder laut Vereinssatzung der Sprachpflege »und der Geschichte, überhaupt der schönen Wissenschaft«. Hier versammelte sich die bildungsund wirtschaftsbürgerliche Elite der Stadt. Sie trafen sich zu wöchentlichen Lese­k reisen, organisierten öffentliche Veranstaltungen und »Familienunterhaltung[en]«.13 Somit war der Blumenorden auch für Eduard Stich ein »Raum zur 7 Petrus Müller, Liberalismus in Nürnberg 1800 bis 1971. Eine Fallstudie zur Ideen- und Sozialgeschichte des Liberalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert, Nürnberg 1990, S. 242. 8 Müller, Liberalismus in Nürnberg, S. 249. 9 Johann Lorenz Stich, 1.9.1818–6.11.1896, Buchdrucker. 10 Stadtarchiv Nürnberg, Einwohnermeldekartei. 11 Wolfgang Meyer, Das Vereinswesen der Stadt Nürnberg im 19. Jahrhundert. Nürnberg 1970, S. 227 f. 12 Vgl. Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2002, S. 129. 13 Vgl. Satzung des Pegnesischen Blummenordens § 2 von 1912, Stadtarchiv Nürnberg, E7/709 Nr. 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 2: Eduard Stich (Quelle: Privat)

Kontaktpflege«,14 in dem er mitunter neue Patienten gewann15, Informationen austauschte, aber allein durch seine Präsenz seine Zugehörigkeit zur städtischen Führungsschicht demonstrierte.16 14 Andreas Meyer, In guter Gesellschaft. Der Verein der Freunde der der Nationalgalerie Berlin von 1929 bis heute, Berlin 1989, S. 160. 15 Über den Verein als Honorierung von Karrierechancen vgl. auch Andreas Schulz, Mäzenatentum und Wohltätigkeit – Ausdruck bürgerlichen Gemeinsinns in der Neuzeit, in: Jürgen Kocka u. Michael Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 240–263, hier S. 251. 16 Dass der Verein als entscheidende Organisationsform zur Stabilisierung bürgerlicher Herrschaft gilt, vgl. auch Christiane Eisenberg, Arbeiter, Bürger und der »bürgerliche Verein« 1820–1870. Deutschland und England im Vergleich, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. III. Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 48–80, hier S. 49. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Bürger R ­ udolf Stich

Wenn man nicht aus einer Familie stammt, die seit Generationen Ansehen und Reichtum an die Nachfolgenden vererbt, sondern diese Güter erst jüngst hart erarbeitet worden sind, lässt sich die Zugehörigkeit zum Bürgertum weiterhin über den Erwerb von Bildung beziehungsweise die Auswahl der Bildungseinrichtungen für den Nachwuchs manifestieren. Dies galt auch für R ­ udolf Stich. Er besuchte die Königliche Studienanstalt in Nürnberg, die »Obere Schule« der Stadt, auf der bereits sein Großvater und Vater Schüler gewesen waren. Die Wurzeln dieses Humanistischen Gymnasiums reichen bis ins 12.  Jahrhundert zurück. Neu gegründet wurde die Einrichtung am 23.  Mai 1526 auf Anregung von Philipp Melanchthon17 durch den Stadtrat.18 Die Nürnberger waren sehr eng mit der Schule verbunden und stolz auf ihre Institution – eine der wenigen, die noch aus den Zeiten stammte, als Nürnberg eine Freie Reichsstadt gewesen war.19 In der Lehranstalt von Stich wehte der »Geist von Horaz, Homer, Schiller, Goethe und Humboldt«. Selbstverständlich rekrutierten sich die Schulleiter dieser Einrichtung, in der Latein und Griechisch deutlich vor Mathematik und Naturlehrkunde rangierten, aus einer in Bayern handverlesenen pädagogischen und fachwissenschaftlichen Elite. So wurde beispielsweise im Jahr 1808 Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit der Leitung und Reorganisation des Hauses beauftragt. Die Söhne und Töchter in diese, weit über Nürnberg hinaus bekannte, Bildungseinrichtung schicken zu können, bedeutete demnach, dass die Familie in der Tat zur städtischen Führungsschicht gehörte und dass man diesen Anspruch auch an die nachfolgende Generation weitergeben wollte. Hier manifestierte sich neben dem Besitz die Bildung als wichtiges Kriterium für das Bürgertum.20 Im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts befand sich Bayern im Übergang vom Agrar- zum Industriestaat.21 Dies bedeutete auch ein enormes Bevölkerungswachstum in den industriellen Zentren des Landes: Nürnberg wuchs auf 260.000 Einwohner heran und war somit um 1900 die neuntgrößte Stadt im Deutschen Reich.22 Auch an der Königlichen Studienanstalt explodierten die 17 Phillip Melanchton (16.2.1497–19.4.1560), eigentlich Philipp Schwartzerdt, Theologe, Philosoph, Dichter, treibende Kraft der Reformation. 18 Otto Barthel, Die Schulen in Nürnberg 1905–1960. Mit Einführung in die Gesamtgeschichte, Nürnberg 1964, S. 329. 19 »Beispielhaft für die enge Beziehung der Stadt zum Gymnasium ist die Inszenierung der Dreihundertjahrfeier des Gymnasiums 1826: Am Tag der Feier blieben den gesamten Vormittag in Nürnberg die Geschäfte geschlossen und alle Gewerbe sollten ruhen.« Zitiert nach: Habermas, S. 127. 20 Hierzu vgl. exempl. Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. I., Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–75. 21 Körner, S. 167. 22 Vgl. die Einwohnerzahlen bei Hans-Walter Schmuhl, Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998, S. 215 und Endres u. a., S. 64. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Schülerzahlen, sodass zum 1.  Oktober 1889 das Neue Gymnasium zu Nürnberg eingerichtet worden war. Der sich durch Nürnberg ziehende Fluss, die Pegnitz, trennte die Schulsprengel, sodass Stich seine vormalige Schule wechseln und fortan das neue humanistische Gymnasium besuchen musste. Obwohl dieses in einem modernen Gebäude unweit seines Wohnortes errichtet worden war,23 scheint sich der mittelmäßige Schüler dort nicht besonders wohl gefühlt zu haben. Seine freie Zeit, vor allem die Sommer, verbrachte er daher in Weißenburg.24 Das dortige Anwesen mit seinem rund anderthalb Hektar großen englischen Park erwarb sein Vater, Eduard Stich, im Jahr 1886 von der Familie seiner Frau Maria Sophia Wilhelmina Stich. Sie wurde am 8.  Januar 1856 in Weißenburg als Tochter von Christian Friedrich Tröltsch geboren. Die Tröltschs waren seit mehreren Generationen in Weißenburg ansässig, eine der wohlhabendsten und angesehensten Familien des kleinen Ortes in Mittelfranken mit rund achttausend Einwohnern. In dem circa siebzig Kilometer südlich von Nürnberg gelegenen Städtchen baute der Großvater von ­Rudolf Stich, Christian Friedrich Tröltsch25, als junger Alleininhaber von Tröltsch&Hanselmann eine Leonische Gespinstfabrik auf. Dort wurden Borten, Bänder, Spitzen und Quasten aus textilen Rohstoffen in Verbindung mit Metallen wie Gold, Silber, Kupfer, Messing und Aluminium hergestellt. Tröltsch&Hanselmann war mit 142 Mitarbeitern auf diesem Gebiet im Deutschen Reich das führende Unternehmen. Friedrich Tröltsch war so erfolgreich, dass im Jahr 1870 eine neue Produktionsstätte in Weißenburg eingeweiht werden konnte, 1879 eine Filiale in Berlin eingerichtet wurde und Erzeugnisse nach Ostasien und Südamerika exportiert werden konnten. In Weißenburg konnte Stich nicht nur unbeobachtet durch das weitläufige Parkgelände seiner Familie streifen, sondern genoss gleichzeitig die Annehmlichkeiten eines Fabrikantenenkels. Ähnlich wie das politische Milieu in Nürnberg war auch die Atmosphäre in Weißenburg liberal geprägt. Der Großvater von R ­ udolf Stich war nicht nur Unternehmer, sondern auch Magistratsrat und von 1859 bis 1861 Abgeordneter der Bayerischen Kammer. Mit dem Tod von Friedrich Tröltsch erwarb Eduard Stich das Anwesen mit dem Haupthaus, welches von der Familie »Friedenau« genannt wurde, sowie ein kleines Nebenhaus namens »Drachenheim«, während die Fabrik weiterhin von den Söhnen des Verstorbenen geführt wurde. Einer davon war Heinrich Wilhelm

23 Vgl. hierzu auch Hugo Steiger, Das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg 1526–1926, Berlin 1926. 1934 wurde das »Königliche Alte Gymnasium zu Nürnberg«, wie die Schule seit 1905 genannt wurde, in Melanchthon-Gymnasium umbenannt. Diesen Namen trägt sie noch heute. 24 Vgl. Gespräch mit Dr. Wendelin Dames (Enkel von R ­ udolf Stich), am 15.4.2011. 25 Christian Friedrich Tröltsch (3.1.1812–18.3.1888), Fabrikant, Mitglied in der Bayerischen Kammer der Abgeordneten, Kommerzienrat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Tröltsch26, Reichstagsabgeordneter für die Nationalliberale Partei in den 1890er Jahren. Da dieser und auch der Vater von R ­ udolf Stich häufig in Weißenburg die Sommer verbrachten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Stich bei Tischgesprächen sowie gemeinsamen Ausflügen und Wanderungen Zeuge von politischen Diskussionen mit liberalem Tenor gewesen ist. Einig waren sich der nationalliberale Reichstagsabgeordnete und der im linksliberalen Nürnberger Milieu geprägte Arzt sicher bezüglich der Freiheit der Kultur, der Wissenschaft und der Presse sowie über die grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates, möglicherweise auch über die Vorteile, die die Reichseinigung mit sich gebracht hatte, während sie sich womöglich über den Umfang von Staatsinterventionen oder auch über den Freihandel gestritten haben mögen.27 ­Rudolf Stich wird diese familiäre Gemeinschaft in Weißenburg sehr geschätzt haben. So war er bis in die 1930er Jahre häufig Gast auf Friedenau, wo er später immer weniger Vertreter seiner Familie mütterlicherseits antraf, sondern vermehrt seinen Eltern und Geschwistern begegnete, die im Laufe der Jahre ihren Wohnsitz dorthin verlegt hatten. Fortan zog es ihn auch in den Sommermonaten während seines Medizinstudiums in Erlangen und Freiburg in das Frankenland. Während der Semester fernab vom Elternhaus in Nürnberg und dem Familiendomizil in Weißenburg suchte R ­ udolf Stich bei der Burschenschaft der Bubenreuther eine neue Gemeinschaft, eine Art Ersatzfamilie.28 Bei den Bubenreuthern lernte R ­ udolf Stich, wie bereits sein Vater vor ihm, der von den Verbindungsbrüdern »Iltus« genannt wurde, das Fechten, »Sittlichkeit« und »Vaterlandsliebe«.29 Dabei hatte die Verbindung eine ähnliche Funktion wie das humanistische Gymnasium in Nürnberg: Mit der Zugehörigkeit zum Bund weisen sich deren Mitglieder nicht nur in dem Ort, an dem die Studentenverbindung zu Hause ist, sondern reichsweit als Zugehörige zum Establishment, zur Oberschicht allgemein, aus.30 ­Rudolf Stich strebte seinem Vater also in der schulischen Laufbahn, der Wahl des Studienfaches und -ortes und der

26 Heinrich Wilhelm Tröltsch (27.21840–22.12.1925), Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei, Fabrikant. 27 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. II. Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, S. 524 f. 28 Häufig ist in kooperierten Verbindungen die Gemeinschaft ein Ort, der man um ihrer selbst willen beitritt, in dem Gemeinschaft selbst zum Erlebnis wird. Vgl. Dietrich Heither, Traditionsbestände studentischer Männerbünde, in: Akademische Rituale, symbolische Praxis an Hochschulen, Leipzig 104–122 (Zeitschrift Hochschule ost H. 3–4/1999), hier S. 109. 29 Vgl. Ernst Höhne, Die Bubenreuther, Geschichte einer deutschen Burschenschaft, Erlangen 1936, S. 186. 30 Dietrich Heither, Blut und Paukboden. Eine Geschichte der Burschenschaften, Frankfurt a. M. 1997, S. 63. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Studentenverbindung nach. Für erstgeborene Söhne aus dem Bürgertum, zumal aus Arztfamilien, scheint dies nicht unbedingt als ungewöhnliches Vorkommnis zu gelten, zeugt jedoch bestimmt von einem engeren Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Die Nähe zu seiner Familie schien R ­ udolf Stich, trotz einer ihm nach dem Abschluss des Studiums bevorstehenden Karriere als Mediziner, nicht aufgeben zu wollen. Daher bemühte er sich nach seiner Promotion und Approbation um eine Anstellung in Bayern. Doch seine Bewerbung auf den Chefarztposten am Nürnberger Krankenhaus im Jahr 1908 war erfolglos31, sodass er zunächst im ihm unbekannten Norden des Deutschen Reiches, in Kiel, als Assistenzarzt unterkam – bei Arnold Heller32, einem alten akademischen Lehrer seines Vaters. Jedoch schien er sich auch hier gut in das bürgerliche Milieu einzupassen und Bekanntschaften zu pflegen, sowie Kontakte zu knüpfen. So lernte Stich in Kiel Margarethe Bertha Wilhelmine Becker kennen, die dort bei dem Rechtsanwalt Hermann Carl Friedrich Thomsen und dessen Ehefrau lebte.33 Sie heirateten drei Tage vor ihrem 24. Geburtstag, am 6. September 1906 fernab der Familie in Kiel. Nach Stationen in Königsberg, Breslau und Bonn erhielt Stich schließlich im Jahr 1911 einen Ruf nach Göttingen. Obwohl die kleine Universitätsstadt für viele nur eine Durchgangsstation war,34 sollte ­Rudolf Stich bis zum Ende seines Lebens der Georgia Augusta und der Stadt treu bleiben. Das Gleiche gilt auch für sein bereits im Jahr 1912 mit der Familie bezogenes Wohnhaus an der Weender Landstraße 14. Dabei war das im Jahr 1852 erbaute Gebäude auf den ersten Blick ungünstig gelegen – weit weg vom sogenannten Ostviertel, wo Professoren und Honoratioren für gewöhnlich ihr Quartier aufschlugen. Kurzum: Die Weender Chaussee, wie sie noch zu Beginn des 20. Jahrhundert hieß, war nicht gerade die erste Adresse für den aufstrebenden jungen Professor.35 Dennoch hatte die so genannte »Chirurgenvilla« einige unbestreitbare Vorteile, die auch schon die Vorgänger von Stich im Amt als Leiter der Chirurgischen Klinik und Lehrstuhlinhaber für Chirurgie, Franz

31 ­Rudolf Geissendörfer, Zum Gedenken an Prof. Dr. ­Rudolf Stich, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 202 (1961), S. 1–5. 32 Arnold Ludwig Gotthilf Heller, 1.5.1840–1913, Pathologe, seit 1872 Ordinarius in Kiel. 33 Margarethe Becker wurde am 8.9.1882 als Tochter des Braunschweiger Schriftstellers Friedrich Gerhard Wilhelm und Meta Becker (geb. Thomsen) geboren. Warum ihre Eltern 1884 nach Oeyenhausen zogen und Margarethe seit dem 17.11.1892 von Hamburg (!) offenbar bei der Familie ihrer Mutter unterkam, ließ sich nicht ermitteln. 34 Vgl. Ulrich Tröhler u. Volker Zimmermann, 250 Jahre Medizin an der Georgia Augusta, in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereich der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, S. 66–85, hier S. 81. 35 Vgl. Adelheit von Saldern, Göttingen im Kaiserreich, in: ­Rudolf von Thadden u. Günter Trittel (Hg.), Göttingen, Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3, S. 5–62. Ab 1875 suchten die Professoren mehr und mehr ihren Wohnort im Hainberg, vgl. ebd., S. 23. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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König36 und Heinrich Braun37, zu schätzen wussten. Zum Haus gehörte ein rund fünftausend Quadratmeter großer Garten mit einem Gewächshaus und einem Hinterhaus für Pferde und Wagen sowie Wohnungen für das Personal. Überdies war eine rundherum verglaste Veranda sowie eine Küche angebaut worden, auch verfügte das Gebäude über einen zweckmäßigen Kellerbereich und moderne sanitäre Anlagen. Am praktikabelsten jedoch war die Anbindung zur Universität: ging man durch den Garten über das Versuchsfeld der Universität, gelangte man auf kürzestem Weg zur Chirurgischen Klinik, der Arbeitsstätte von Stich. So war er im Notfall für seine Kollegen sowie Patienten immer rasch erreichbar und konnte sich gleichzeitig im Laufe des Tages für ein paar Stunden zurückziehen, was er meist zwischen ein und drei Uhr tat – währenddessen es im Hause auch unbedingt leise zugehen musste.38 Von dieser Mittagspause abgesehen war Stich ein höchst disziplinierter Arbeiter, der früh und immer zur gleichen Zeit aufstand, dann in der Klinik seine Patienten aufsuchte, Vorlesungen, Operationskurse und Übungen hielt, sich nach der Mittagspause um Studenten, Assistenten oder Patienten kümmerte und am Abend gemeinsam mit seiner Sekretärin, Fräulein Thea Tschackert39 – die in seiner Privatklinik gleichzeitig als Sprechstundenhilfe und Anästhesistin arbeitete – die Schreibarbeiten erledigte.40 Freunde und Kollegen schildern Stich dann vor allem am späten Abend als anregenden und nachdenklichen Gesprächspartner, mit dem man offenbar gern den Tag ausklingen ließ. Wenn nicht bei ihm zu Hause in der Weender Chaussee, so auch beim Bier, was für­ Rudolf Stich aus Franken kommen sollte. Am liebsten traf man sich hierzu in der Krone, einem von Universitätsangehörigen stark frequentierten Lokal in der Weender Straße. Obwohl sich Stich mit den Jahren beruflich und privat in Göttingen einzurichten schien, hielt er weiterhin Kontakt zu seinen alten Verbindungen. Dies galt insbesondere für die Angehörigen der Bubenreuther. Die Verwurzelung in der Burschenschaft schien ihm als Element der Identitätsstiftung viel zu bedeuten. Immerhin finden sich unter seinen Schülern mindestens zehn oder elf Bubenreuther, auch sprach er als Herausgeber einer fachwissenschaftlichen Zeitschrift, Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie, gezielt Bubenreuther als 36 Prof. Dr. Franz König (16.2.1832–12.12.1910), studierte Medizin in Marburg und Berlin, ab 1875 Professor für Chirurgie an der Georgia Augusta. 37 Prof. Dr. Christian Heinrich Braun (18.2.1847–10.5.1911), herausragender Chirurg des 19. Jahrhunderts, Studium in Gießen und Berlin, Habilitation in Heidelberg, seit 1895 in Göttingen, 1905 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 38 Vgl. Gespräch mit Dr. Wendelin Dames. 39 Thea Tschackert, Schwester von Edith Tschackert, Oberin von 1927–1954 der Georgia Augusta. 40 Zur Disziplin als Merkmal der bürgerlichen Lebensweise vgl. Gunilla-Friederike Budde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 113. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Autoren und Rezensenten an. Der Umgang mit den Bundesbrüdern mag auch den Vorteil gehabt haben, dass sich Stich hier auf bekanntem Territorium bewegte: innerhalb dieser Verbindung wusste jeder, was man von dem anderen erwarten kann, was man einander schuldet und dass man zueinander steht. Denn gerade in den Burschenschaften wurden die »Bürgersöhne auf einen neoaristokratischen Ehren- und Verhaltenskodex«41 eingeschworen. Es war daher auch leichter für Stich, Bubenreuther als Assistenten anzunehmen oder als Oberärzte anderweitig zu empfehlen, denn man war in der gleichen Gemeinschaft mit den gleichen Werten geprägt worden, der Vorschuss des Vertrauens war hier recht risikoarm und wurde selten enttäuscht. Bei all jenen fiel es Stich auch leicht, die Personen – zumindest übergangsweise – auch in seinem eigenen Wohnhaus aufzunehmen, so lange sie in Göttingen weilten.42 Wenngleich die Chirurgenvilla auf den ersten Blick recht schlicht wirkt und ein Haus ist, wie sich viele in Göttingen finden lassen, mit einer kubischen Form, ausgewogenen Verhältnissen, symmetrischer Fassade mit Betonung auf der Beletage, war es  – vor allem in den Jahren der Weimarer Republik  – ein Mittelpunkt der örtlichen bürgerlichen Geselligkeiten. Dazu trug insbesondere Grete, wie sie sich als Abkürzung von Margarethe selbst nannte, die Ehefrau von ­Rudolf Stich, bei. Sie war sehr musikalisch und verfügte offenbar über schauspielerisches Talent. Grete Stich setzte diese Fähigkeiten nicht nur, wie es in der bürgerlichen Gesellschaft durchaus üblich war, für häusliche Aufführungen ein, zu denen eine kleinere Abordnung von Freunden geladen war, sondern engagierte sich auch auf den Bühnen der Stadt.43 Dadurch knüpfte sie zahlreiche Kontakte zu Schauspielern und Musikern, die – wenn sie am Deutschen Theater in Göttingen wirkten – auch gerne für ein kleines Gastspiel in die Villa Stich kamen, wo sie umfassend verköstigt wurden und gleichzeitig die Besucher des Professors durch ihre Darbietungen erfreuten. Die Gesellschaften im Saal der Weender Landstraße waren legendär und Stich lud hierzu nicht nur Freunde ein, sondern auch Assistenten und Kollegen. Dabei beschränkte er sich nicht auf Mediziner, sondern verkehrte auch oftmals mit Mitgliedern anderer Fakultäten. Doch Stichs gaben nicht nur kleine Gesellschaften in ihren privaten Räumen, sondern organisierten und finanzierten auch häufiger große Bälle in den 41 Heither, Blut und Paukboden, S. 63. 42 Diese Netzwerk- und Beziehungspflege wird gelegentlich auch als »VerbindungsNepotismus« bezeichnet, vgl. Heither, Traditionsbestände studentischer Männerbünde, S. 106. 43 Vgl. Tagebücher von Wolfgang Heubner (1877–1957, Pharmakologe, der in den 1920er Jahren in Göttingen forschte und lehrte) THB 1, Eintrag vom 16.8.1918. Transkription von Erich Muscholl. Die Tagebücher wurden uns freundlicherweise von Professor Heinz Kilbinger, Archiv der Deutschen Gesellschaft für experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie (DGPT) zur Verfügung gestellt. Heubner schreibt, dass Frau Stich im »Judas Maccabäus« mitgespielt habe und sich bei den Händel-Festspielen engagiere. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Festsälen der Georgia Augusta, auf denen dann zur Freude ihrer Gäste beispielsweise Schauspieler der Berliner Kammerbühne oder andere Künstler auftraten.44 ­Rudolf Stich schien das Führen eines offenen Hauses unter der Regie seiner Ehefrau gemocht zu haben. Und obwohl das gesellige Leben der Universitätsangehörigen im Kaiserreich und der Weimarer Republik durch viel engere Kontakte und Begegnungen vor allem im privaten Raum gekennzeichnet war, schien R ­ udolf Stich diese Zusammenkünfte über die Maßen hinaus, in einem umfangreicheren Rahmen als seine professoralen Kollegen, veranstaltet zu haben. So war er beispielsweise der Gastgeber des »Fakultätskränzchens«, einer regelmäßigen Zusammenkunft der ordentlichen Professoren der Fakultät, obwohl er gar nicht als Dekan amtierte. Der Dekan, ein in der Weimarer Republik innerhalb der Professorenschaft rotierender Posten, unterrichtete in regelmäßigen Abständen die Kollegen seiner Fakultät über die laufenden Geschäfte, beziehungsweise er berief ein Treffen zum gemeinsamen Austausch über die Angelegenheiten der einzelnen Fachbereiche ein. Obwohl Besprechungen dieser Art im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zunehmend in den Dienstgebäuden der Universität durchgeführt wurden, lud der Dekan der Medizinischen Fakultät schriftlich und mit Tagesordnung auch weiterhin in die privaten Räume ein. Die »Fakultätskränzchen« fanden meist am späten Abend, nach dem Essen, statt und die Professoren plauderten bei einem Glas Wein oder auch Cognac über Reformen des Lehrplanes, Entwicklung des Faches oder dergleichen.45 Oftmals fanden diese in der Weimarer Republik nicht im Hause des jeweiligen Dekans, sondern bei Stich statt. Noch während des Kaiserreichs war es üblich, dass von den Ehefrauen der Professoren eine ergänzende Zusammenkunft organisiert wurde, die nicht nur den Austausch untereinander fördern, sondern auch Neuankömmlinge einführen sollte. So war das »Fakultätskränzchen« der Professoren und ihrer Gattinnen nicht nur eine Gelegenheit, um gesellig beieinander zu sitzen, sondern auch um Kontakt- und Verkehrskreise aufrechtzuerhalten, innerhalb derer man sich mit der Gemeinschaft identifiziert und ein gewisses Maß an gegenseitiger sozialer Kontrolle ausgeübt wurde. Hier wurden Umgangsformen, Verhaltenskodices und der jeweilige Geschmack des Gastgebers und der Besucher beobachtet, mit dem eigenen Stil und Habitus abgeglichen und über Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft entschieden.46 Schließlich erforderten die häuslichen Gesellschaften nicht unerhebliche mate44 Vgl. Tagebuch von Wolfgang Heubner, Eintrag vom 27.1.1928. 45 Die Zusammenkünfte wurden nicht nur in Göttingen »Fakultätskränzchen« genannt. Vgl. Ulrich Köpf, Die theologischen Tübinger Schulen, in: Ders. (Hg.), Historisch-kritische Geschichtsbetrachtungen. Ferdinand Christian Baur und seine Schüler, Sigmaringen 1994, S. 9–51, hier S. 23. 46 Vgl. hierzu auch Hans-Ulrich Wehler, Deutsches Bürgertum nach 1945, Exitus oder Phoenix aus der Asche?, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 27 (2001) H. 4, S. 617–634, hier S. 623; Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln u. a. 2009, S 78 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 3: Villa Stich – das Universitätsgebäude in der Weender Landstraße beherbergt heute das Institut für Demokratieforschung (Quelle: Stadtarchiv Göttingen)

rielle Ressourcen: guter Wein und gutes Essen mussten verfügbar, Dienstboten zum Zubereiten und Servieren der Speisen bezahlbar und die entsprechenden repräsentativen Räume vorhanden sein.47 ­Rudolf Stich jedenfalls war sehr tief und vielfältig in die bürgerliche Gesellschaft Göttingens eingebunden und gut vernetzt48 und stand mit seinem als Professor erworbenen Sozialprestige an der Spitze der Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft.49 Sein Haus war eine permanente Anlaufstelle für musikalische und unterhaltsame Geselligkeiten, er pflegte Freundschaften zu Kollegen sowie Assistenten seiner Fakultät und zu Professoren anderer universitärer Einrichtungen, war gleichermaßen beispielsweise mit dem Kunsthistoriker 47 Schäfer, Bürgertum, S. 114. 48 Vgl. zum Empfang von Gästen im eigenen Haus als Aspekt der bürgerlichen Geselligkeitskultur bzw. die Pflege häuslicher Geselligkeitskultur als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Reputation auch bei Gisela Mettele, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Dieter Hein u. Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert, München 1996, S. 155–169, hier S. 155. 49 Vgl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht 1871–1918. Aufstieg und Untergang des Deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 2007, S. 350. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Heinrich Alfred Schmid, dem Historiker Siegfried A. Kaehler50 oder mit dem Kurator der Universität, Theodor Valentiner51, später auch mit Otto Hahn bekannt und verkehrte mit ihnen. Kurzum: ­Rudolf Stich gefiel es in Göttingen, er fühlte sich wohl in seinem Haus, genoss seinen Ruf als angesehener Chirurg, sowie den stetigen Zulauf in seiner Privatpraxis. Diese in der Goßlerstraße 9 auf direktem Weg zwischen Chirurgie und Wohnhaus eingerichtete Praxis sicherte ihm im Laufe der Jahre neben dem Hörergeld und dem Einkommen als Klinikleiter weitere großzügige Einnahmen. Stich hatte sich also eine Heimstätte in Göttingen errichtet und unternahm nichts, um die Stadt zu verlassen. Er baute sich zielstrebig und effektiv ein Leben und eine gesellschaftliche Führungsposition in Göttingen auf. Und noch Jahrzehnte nach seinem Tod erinnern sich Göttinger Bürger an die schönen Stunden, die sie in der Weender Landstraße 14 verbracht haben und an den erfolgreichen Chirurgen mit dem »jugendlichen Aussehen«, der auf dem Moped oder dem Fahrrad durch die Stadt fuhr. Allerdings nutzte Stich  – ganz wie sein Vater  – seine lokale Führungs­ persönlichkeit nicht, um sich ernsthaft in der Politik zu engagieren. Im Gegenteil: er war zwar, seiner politischen Prägung folgend, Mitglied der DDP, trat für diese jedoch nie öffentlich in Erscheinung und verließ die Demokratische Partei 1925. Grund hierfür war – nach Selbstaussage von Stich – die fehlende Unterstützung des Kandidaten Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl durch die DDP. Mit dieser Reaktion war Stich offenbar einer von vielen, die der den linksliberalen Traditionen verpflichteten Partei den Rücken zukehrten.52 Bereits in den frühen 1920er Jahren wurden in der DDP sämtliche Kontroversen der Liberalen sichtbar und sie verlor mehr und mehr Wähler, Mitglieder, Mandatsträger und Funktionäre.53 Letztlich passte es zu Stich, für Hindenburg als dem »Symbol der Volksgemeinschaft« » – wie die den Kandidaten unterstützende Presse ihn titulierte54, zu votieren. Denn schließlich stand er dieser Idee habituell sehr nah. Den zunehmenden Wahlgewinnen und schließlich der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten 1933 stand Stich reserviert und »indifferent«55 gegen50 Siegfried A. Kaehler an Martin Kaehler am 24.9.1945, in: Bußmann, S. 328. 51 Theodor Justus Valentiner, 9.8.1869–26.5.1952, Jurist, Regierungsassistenz, ab 1919 Ministerialrat, seit 1920 Ministerialdirigent, 1921–1932 Kurator der Universität Göttingen, 1932 Ministerialdirigent im Preußischen Wissenschaftsministerium, 23.12.1932 Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Göttingen, 1933–1937 vertretungsweise Kurator der Universität Göttingen. 52 Wehler, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs, S. 356. 53 Peter Lösche, Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart 1994, S. 82–86. 54 Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 475. 55 Hochschulgruppe des Dozentenbundes 11.5.1936, Bundesarchiv Berlin, Lichterfelde, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, VBS 1 1120001356. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 4: ­Rudolf Stich mit seinem Moped (Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Foto: Thea Herfeld)

über. Schließlich erreichte er im Jahr 1935 bereits das sechzigste Lebensjahr und gehörte somit zu den älteren Bildungsbürgern, die der »NS -Bewegung mit ihren uniformierten Schlägertrupps, ihrer marktschreierischen Propaganda und ihrer intellektuell dürftigen Programmatik wohl eher mit Skepsis«56 begegneten. Da er jedoch nicht aus der bürgerlichen Gemeinschaft, die mehr und mehr eine nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« wurde, heraus­fallen, sondern weiterhin ein Teil  von ihr sein wollte, engagierte er sich in der NSV, dem NS -Ärztebund, der Reichsdozentenschaft, der NSDAP, schließlich auch in der SS und SA . ­Rudolf Stich wurde im Jahr 1933 förderndes Mitglied der SS , der

56 Schäfer, Geschichte des Bürgertums, S. 209. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Schutzstaffel der NSDAP, – eine Strategie, derer sich viele bedienten, die nicht mehr als unbedingt nötig für das neue Regime tun, aber ebenso unbehelligt bleiben wollten.57 Sein Eintritt in die SA, die als Sturmabteilung eine paramilitärische Kampforganisation der Nationalsozialisten darstellte, mutet dagegen für den auf einem humanistischen Gymnasium geprägten Bildungsbürger R ­ udolf Stich schon etwas seltsam an, da dieser so gar nicht zu der vor allem anfangs brachial auftretenden Gruppe passen mochte, die mit unnachsichtiger Brutalität den politischen Gegner traktierte.58 Daher ist das Motiv für seinen Eintritt in die SA im Jahr 1934 in seinem Heilberuf zu suchen: es war für Stich selbstverständlich, ehrenvolle Wohlfahrt zu üben und Sammlungen für die SA zu übernehmen, denn er war ein hilfsbereiter Mann. Seine Uniform habe er dabei allerdings nie gern getragen, erinnert sich sein Enkel. Die SA hatte eine hohe Attraktivität für Arbeitslose, weil sie soziale Versorgungsnetze zur Verfügung stellte, in denen eine SA-Subkultur entstand. Stich war natürlich nicht auf diese Netze angewiesen, wohl aber half er tatkräftig dabei, sie aufzubauen. Somit trat er für jene Gemeinschaften ein, die er für sinnvoll hielt und die er in unterschiedlichster Form sein ganzes Leben lang auf- und ausbaute. Er bewährte »sich in jeder Weise als guter SA Mann und Kamerad. […] Insbesondere ist seine finanzielle und un­ entgeltliche Hilfe armen Kameraden gegenüber zu erwähnen.«59 Denn Stich maß der Gemeinschaft vor allem eine charitative Bedeutung bei. Diese dankte es ihm und charakterisierte ihn als »opferfreudig ohne davon irgendwie Aufhebens zu machen«60. Zusätzlich dazu beförderten seine großzügigen Spenden und sein ehrenamtliches Engagement nicht nur die Gemeinschaft, sie ermöglichten es auch, Stich als einen helfenden »Kümmerer« wiederum in eine Art führende Position, ja Vaterrolle zu bringen. Charakterisiert man Stich über seine SA-Stammrolle Nr. 60, die am 11. Dezember 1934 erstellt wurde, also direkt nachdem er Sturmmann der SA beim Sturm 2/R. 91 wurde, zeichnet sich das Bild eines 59-jährigen Mannes, der 57 Über die politische Bedeutung der fördernden Mitgliedschaft heißt es in einer Denkschrift der Militärregierung für Bayern: »Fördernde Mitgliedschaft in der SS oder im NSFK war noch nicht ausreichend zur Anerkennung der politischen Zuverlässigkeit. Der Hauptgrund (…) durfte in der Zeitersparnis zu suchen sein, die sich durch fördernde Mitgliedschaft gegenüber aktiver Mitgliedschaft ergab«. Vgl. Rainer Driever, Gutachten über R ­ udolf Stich (1875–1960) im Auftrag des Stadtarchivs Göttingen vom 3.9.2012, online einsehbar unter: http://www.stadtarchiv.goettingen.de/strassennamen/­ Rudolf-Stich.pdf [eingesehen am 10.11.2013]. 58 Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Deutschland Verführung und Gewalt. Deutschland 1933– 1945, München 1998, S. 265 f. 59 Dienstleistungszeugnis vom 3.4.1935 der SAR der NSDAP Standarte R 82, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich. 60 Gutachten vom Ärztebund 18.6.1936, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich, VBS 1 1120001356. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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1,65  groß ist, blaue Augen und graue Haare hat, ein »gewöhnliches« Gesicht, an dem nur die Narbe über dem linken Auge auffällt. Die Narbe ist auf den Fotos von Stich nicht auffällig, es ist nicht erkennbar, ob es sich um einen Schmiss handeln könnte, der aus seiner Zeit in der studentischen Korporation der Buben­reuther stammt. Er trägt keinen Bart und bezeichnet seine Mundart als bayrisch. Er ist von schlanker Gestalt, trägt Schuhgröße 41 und hat gesunde Zähne – das wird sich ändern. Er gibt an, dass er ortsgebunden sei und den Führerschein der Klasse 3b für Personenkraftwagen besitzt. Er habe keine spezielle Waffenausbildung, könne jedoch gut reiten. Es ist zu lesen, dass ihm die rechte Niere entfernt worden ist, dass seine Mutter an einem Schlaganfall gestorben war, dass sein sonstiger »Kräftezustand und seine Körpermuskulatur« jedoch gut ist. Stich lebt gesund und gibt penibel an, ½ Liter Bier am Tag zu trinken und eine Zigarre zu rauchen. Links hat er einen leichten Plattfuß, ein Krankheitsbild, welchem er in seinen Rezensionen des Öfteren Aufmerksamkeit schenkt.61 Der Sohn eines Kollegen, der als Kind von Stich operiert worden war, hat »einen sehr freundlichen, alten, sicheren und erfahrenen Menschen in Erinnerung.«62 Da Stich vor allem in der SA-Reserve im Sanitätsdienst tätig war, war es seine Aufgabe bei Versammlungen, die durch die SA geschützt wurden, eine Rettungs­wache aufzustellen, »welche Obliegenheit der Sanitätsorganisation der SA ist. Die Oberleitung hat der hierfür bestimmte SA-Arzt«, in Göttingen also auch Stich. Der Sanitätsdienst der SA übernahm zusätzlich Aufgaben im Bereich des Luft- und Katastrophenschutzes und stand bei Großveranstaltungen zur Verfügung. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Stich eher den Sanitätsdienst organisierte und als erfahrener Arzt beratend zur Seite stand,

61 An einer Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 160 (1934) zu einem Buch über Fußbeschwerden von Schotte lässt sich beispielhaft illustrieren, wie genau Stich seine Rezensionstätigkeit nimmt: »Ich muss gestehen, dass ich zunächst mit einer gewissen inneren Hemmung an die Lektüre dieses Buches herangegangen bin. ›Wieder eine Monographie über den Plattfuß‹, dachte ich, ›die man zu den anderen legen wird, die Deine Separatensammlung füllen.‹ Ich bin aber doch beim Lesen anderer Ansicht geworden. […] Einen Haken hat die Fersen-Ballenstütze zunächst noch«, sie werde nur in einer Firma gefertigt und Stich »ist skeptisch, ob die Einlagen […] dem Kranken in X-Dorf auch wirklich passen. Und was dann, wenn sie nicht passen? Dann gibt es einen Rattenschwanz von Beschwerden, Briefen, Missverständnissen, die dem Arzt und dem Kranken sehr bald die Lust verderben werden. Von dieser Sorge hat mich bisher auch ein persönlicher Briefwechsel mit dem Autor noch nicht befreit. Um keine Miss­verständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich ausdrücklich betonen, dass mir der Verfasser mitgeteilt hat, persönlich keineswegs finanziell an der Herstellung und dem Vertrieb der Einlagen interessiert zu sein.« Dieses Vorgehen ist wohl mehr, als man üblicherweise bei dem Verfassen einer Rezension erwarten würde. Es verweist darauf, dass Stich seine Integrität und Unbestechlichkeit als Arzt erstens sehr am Herzen liegt und er sie zweitens auch nach außen darstellen möchte. 62 Gespräch mit Prof. Wolfgang Ewald (Sohn von Gottfried Ewald), am 18.2.2013. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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als dass er sich direkt an den Aktionen der Rettungswache bei Versammlungen beteiligte. Erst im Jahr 1933 wurde eine detailliert ausgearbeitete Gesundheitsordnung der SA herausgegeben – Stich stieg also zu einem Zeitpunkt in die SA ein, als das Sanitätswesen dort endlich fertig strukturiert war. In dieser Verordnung wurden über den Sanitätsdienst hinaus, der vor allem die ärztliche Versorgung der im SA-Dienst verletzten oder erkrankten SA-Männer vorsah, auch die Aufgaben der SA-Ärzte bei der Gesundheitsfürsorge für SA-Männer und ihre Familien beschrieben. Damit kommt die interne Aufgabenverteilung Stichs immer wieder geäußertem Selbstverständnis entgegen, man müsse sich um die Familien kümmern und eine selbstverständliche Hilfsbereitschaft zeigen. Stichs Engagement, seine SA-Karriere voranzutreiben, war gering. Während ein eifriger SA-Mann wenige Wochen für die Formalia brauchte, um innerhalb der SA weiter in eine Führungsposition aufzusteigen, zog sich Stichs Vereidigung als SA-Führer trotz aller erfüllten Voraussetzungen über mehr als anderthalb Jahre hin. Am 31. Mai 1938 forderte der Führer der SA-Gruppe Niedersachsen von Stichs SA-Brigade 57 einen Staatsangehörigkeitsausweis, die SA-Führervereidigungsurkunde und eine Erklärung über die Bemühungen zum Nachweis der »arischen Abstammung«, alles in zweifacher Ausführung, an, einzureichen bis zum 10. Juni 1938. Hierbei handelte es sich um eine rein formale Angelegenheit, einen bürokratischen Vorgang. Am 28. Juni, also knapp drei Wochen nach Verstreichen der Frist, bat der Führer der SA-Brigade 57 die SA-Gruppe Niedersachsen um Terminverlängerung für die Einreichung der Vereidigungsunterlagen, weil Stich »durch den Chirurgenkongress sehr stark in Anspruch genommen ist«. Am 29. Juni, einen Tag später, genehmigte der Führer der SA Gruppe Niedersachsen eine Terminverlängerung bis zum 10.  Juli, »ausnahmsweise noch einmal«, merkte aber säuerlich an: »Da die Angelegenheit bereits seit dem 8. September 1937 läuft, konnte diese längst erledigt sein.« Stich braucht also mehr als anderthalb Jahre, um die nötigen Unterlagen beizubringen und als SA-Führer vereidigt zu werden. Doch damit nicht genug: Am 12. Juli übersandte der Führer der SA-Brigade Stichs »Ariernachweis« und meldete, dass Stich bis Anfang August nicht in Göttingen sei und bittet, den Termin seiner Vereidigung wegen »dienstlicher Unabkömmlichkeit« in der Chirurgischen Klinik zu verschieben. Stich legte eine sture Haltung gegenüber den bürokratischen Vorgängen an den Tag und er lässt sich im Umgang mit den Behörden viel Zeit. Letztlich findet seine Vereidigung erst am 7. März 1939 statt. Ähnlich problematisch verlief sein Eintritt in die NSDAP. Zunächst lehnte die Partei den angesehenen Professor und vormalige DDP-Mitglied als Parteianwärter ab. Ursache hierfür war eine mysteriöse Angelegenheit vor dem Arbeitsgericht im damaligen Reichenberg (heute Liberec in der Tschechischen Republik) und die Falschaussage einiger Kollegen. Womöglich auch, weil diese Erklärungen laut Stich »nicht in böser Absicht« geschehen seien, zogen die © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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zuständigen Hoheitsträger die Ablehnung der Parteiaufnahme unmittelbar wieder zurück.63 Stichs Engagement innerhalb der nationalsozialistischen Verbände unterschied sich darüber hinaus kaum von anderen Angehörigen des protestantischbürgerlichen Milieus beziehungsweise von dem Rest seiner Berufsgruppe. Immerhin war der Anteil der Heilberufe in der NSDAP überdurchschnittlich hoch. Zu diesem Befund passt64, dass Stich sich als leitender Mediziner, wie so viele andere Ärzte, zur elitäreren SS hingezogen fühlte. Hier wurde er – wie viele andere Chirurgen neben ihm – förderndes Mitglied, denn »das Fach der Chirurgie entsprach am ehesten dem ›heroischen Kämpferideal‹ eines totalitären Regimes, das sich für den Krieg rüstete.«65 Auch der Parteieintritt von ­Rudolf Stich im Jahr 1937 zeugt davon, dass er, wie viele Ärzte, erst eine Etablierung des NS -Regimes und die Reorganisation ihres Berufsstandes durch dieses abwartete, bevor er selbst sich dieser Organi­ sation als Mitglied anschloss. Dieses abwartende Verhalten mag seinem Alter geschuldet sein, wie auch seine nicht restlos positiv bewertete Einstellung zum Nationalsozialismus. Zwar gibt Stich sich, so ein politisches Zeugnis über ihn aus dem Jahre 1936, »heute die größte Mühe, den NS zu verstehen und mitzumachen. Wenn ihm das nicht 100prozentig restlos gelingt, so ist das einzig darauf zurückzuführen, dass er über 60 Jahre alt ist. Wäre Stich um 10–20 Jahre jünger, so wäre er entschieden heute einer unserer aktivsten Männer. Von den alten Ordinarien ist er immer noch einer der besten.«66

Zweifel sprechen aus diesen Zeilen, die von einem Vertreter der Hochschulgruppe des Dozentenbundes der Göttinger Universität angefertigt wurden. Zweifel, über den Stichs Charakter allerdings auch in den Augen des Verfassers erhaben ist: »Charakterlich lässt sich über Prof. Stich sagen, dass er energisch u. zielbewusst ist und einen überaus stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besitzt«.67

Zweifel an seiner politischen Integrität bestanden auch schon, bevor Stich in die SA eintrat, es gelang ihm jedoch, sie in einem persönlichen Gespräch auszuräumen und auch dort den Fokus eher auf seinen guten Leumund und seinen

63 Vgl. Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, VBS 1 1120001356. 64 Vgl. Birgit Methfessel u. Albrecht Scholz, Ärzte in der NSDAP. Regionale Unterschiede, in: Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), H. 16, A 1064–5. 65 Ebd. 66 Hochschulgruppe des Dozentenbundes 11.5.1936, Bundesarchiv Berlin, Personalunter­ lagen ­Rudolf Stich, VBS 1 1120001356. 67 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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einnehmenden Charakter zu lenken. So ist in einem Fragebogen anlässlich seiner Aufnahme68 protokolliert: »Wenn Stich auch in früheren Zeiten nicht die NSDAP unterstützte mit seiner Person, so halte ich jetzt Stich nach einer sehr offenen und freien Aussprache, die ich mit ihm hatte, für politisch zuverlässig [doppelt unterstrichen]. Er sagte mir, er habe sich seit 1925 auf grund [sic!] innerer Überzeugung von der lk.gerichteten Partei losgesagt und stehe nun völlig auf dem Boden der nationalen Erhebung. Ich glaube ihm, da ich Stich durch schriftlichen wie mündlichen Umgang als eine höchst wahrheits­liebende, aufrichtige Persönlichkeit kennengelernt habe. Hervorzuheben ist neben seinem ehrlichen, rechtschaffenden Charakter sein mustergültiges Organisationstalent sowie seine scharfen […] Anweisungen und Urteile. Bei seiner feinen chirurgischen Technik […] wird er den Patienten seiner Klinik von größtem Nutzen sein. Ich würde mich ihm getrost zu jeder Zeit anvertrauen, der Umgang mit den Patienten zeugt von bestimmtem Auftreten und Güte. Die hohe Wertschätzung seiner Person und seiner wissenschaftlichen Leistungen ist in allen Fachkreisen bekannt und anerkannt.«

Einer solchen Persönlichkeit wurde die Aufnahme in die Gemeinschaft der Nationalsozialisten nicht verwehrt, auch wenn Zweifel an seiner politischen Einstellung nicht umfassend ausgeräumt werden konnten. Und genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich ­Rudolf Stich im Nationalsozialismus. Er begrüßt diesen nicht euphorisch, passt sich jedoch an und bringt sich auch in diese Gemeinschaft ein, womit er als sichtbare Persönlichkeit in Göttingen durchaus einen gangbaren Weg aufzeigt, den sich andere zum Vorbild nehmen konnten. Dennoch schien die Gemeinschaft, sei es die »Volksgemeinschaft« oder auch die der Bubenreuther, nicht über allem zu stehen. So verteidigte Stich seinen Bundesbruder, einstigen Schüler und späteren Kollegen Karl Heinrich Bauer, dem zu »1/4 [eine] nicht-arische Versippung«69 angelastet wurde, gegen die rassistisch motivierten Ausschlussbemühungen aus der gemeinsamen Studentenverbindung. Die Erlanger Bubenreuther hatten sich dem Lebensbundprinzip verschrieben. Das bedeutet, dass alle Mitglieder, egal, ob Füchse, Philister oder Alte Herren, an die Prinzipien des Bundes gebunden sind und sie sich gegenseitig die lebenslange Treue geschworen haben. Wie so viele Verbindungen waren auch die Bubenreuther in die Deutsche Burschenschaft integriert, die sich wiederum den Forderungen bezüglich des »Ariernachweises« des Allgemeinen Deutschen Waffenrings anschlossen. Praktisch sollten die Mitglieder der Buben­reuther bis Februar 1934 nachweisen, dass von ihren acht Urgroßeltern maximal einer Jude gewesen war. Diese Regelung galt auch für die 68 Fragebogen P. O./N. D. vom 15.10.1934 aus der SA-Akte, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich. 69 Wie es Bauer selbst nannte, vgl. Universitätsbibliothek Heidelberg, Heid. Hs. 3923: Nachlass Prof. Karl Heinrich Bauer, Dokumentation Breslau 1934 »Die politisch stärkste Bedrohung meines Lebens«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Ehefrauen der Bundesbrüder70 und war damit deutlich strenger als der so genannte »Arierparagraph«, § 3, des am 7.  April 1933 erlassenen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, bei dem die Betroffenen lediglich dazu verpflichtet waren, die »arische Abstammung« ihrer vier Großeltern nachzuweisen. Der bis zur Auflösung im Jahr 1935 amtierende Bundesleiter der Bubenreuther, Dr. med. Wilhelm Hagen, war gegenüber der Deutschen Burschenschaft bereit, für die Erlanger Bubenreuther den »Ariernachweis« nach dem Reichsgesetz, nicht aber nach den deutlich härteren Vorschriften des Allgemeinen Deutschen Waffenrings, anzuerkennen. Grund hierfür war, dass der Großvater von Ingeborg Bauer, mit der Karl Heinrich Bauer seit dem Jahr 1927 verheiratet war, nicht »arisch« gewesen, »wenn auch in seiner Jugend getauft« worden war – wie die Bubenreuther Chronik aus den 1960er Jahren zum »Fall Bauer« betont.71 Daraufhin wurde die Erlanger Verbindung aus dem Allgemeinen Deutschen Waffenring ausgeschlossen, was einer Auflösung des Bundes gleichkam, da dieser tief in den Prinzipien einer schlagenden Burschenschaft verankert war und durch den Ausschluss einem Fechtverbot unterlag. Vor allem jüngere Bundesbrüder missbilligten den Schritt ihres Vorsitzenden und zogen das Nachgeben der radikal rassisch-nationalsozialistischen Forderungen einem Bruch des Lebensbundprinzips vor. Sie befürchteten durch die Duldung von Bundes­ brüdern mit »nichtarischen« Vorfahren in ihren Reihen Nachwuchsmangel für die eigene Organisation. Mit jenen rechnete Karl Heinrich Bauer in einem für die Alliierten im Jahr 1946 verfassten Lebenslauf drastisch ab: »Das Leben in der Burschenschaft war mit viel Gegensätzlichkeit verbunden. Wohl schätzte ich die Geselligkeit, Kameradschaft und die Gründung von Freundschaften fürs ganze Leben hoch ein. Doch stand ich dem Mensur- und Kneip-Betrieb von allem Anfang innerlich ablehnend gegenüber. Ich habe aber doch 6 Bestimmungsmensuren gefochten und ins Leben vor allem eine Reihe von dauerhaften Freundschaften mitgenommen. Später allerdings sollte ich eine schwere Enttäuschung erleben.«72

In dem Streit über die »jüdische Versippung« des Mitglieds Bauer, der die Buben­reuther »bis an den Rand ihrer Existenz brachte«73, mischte sich auch Stich ein. Er reiste hierfür im Sommer des Jahres 1935 eigens nach Erlangen, um für die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Treue mit allen Bundesmitgliedern, also auch mit seinem Freund Karl Heinrich Bauer, zu plädieren 70 Vgl. Heither, Blut und Paukboden, S. 121. 71 Julius Andreae u. Fritz Griessbach, Die Burschenschaft der Bubenreuther 1817–1967, Erlangen 1967, S. 55. 72 Karl Heinrich Bauer, Prof. Dr. med. Bauer K. H., Rektor der Universität, Lebenslauf, Heidelberg, den 8.6.1946, in: Karl Jaspers u. Karl Heinrich Bauer, Briefwechsel 1945–1968, Renato de Rosa (Hg.), Berlin u. a. 1983, S. 8–15, hier S. 9. 73 Andreae, S. 55. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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und drohte mehrmals an, selbst aus dem Bund auszuscheiden. Schließlich teilt Stich Bauer in einem Brief vom 28. September 1935 mit, dass er aus Protest gegen den Umgang mit ihm den »Trennungsstrich« vollzogen und sein Band zurückgesandt habe. Dieser Schritt wird Stich enorm belastet haben und er wird sich die Entscheidung, da die Diskussion mithin bereits zwei Jahre schwelte, auch keinesfalls leicht gemacht, sondern oftmals abgewogen und bedacht haben. Schließlich jedoch war dies für ihn der einzig gangbare Weg, denn nur so konnte er loyal gegenüber dem Bundesbruder bleiben, dem er einst die Treue geschworen hatte, wohl wissend, dass im »Grunde ihres Herzens […] die überwältigende Mehrzahl der älteren Leute unserer [seiner und Bauers] Ansicht sind«, wie Stich Bauer in der Benachrichtigung über seinen Austritt aus den Bubenreuthern mitteilt.74 Ausgetreten ist Stich letztlich aus einem Bund, der von ein paar jungen, ihm unbekannten, Radikalen geleitet wurde – so erkundigte er sich schriftlich, wer überhaupt den Bund derzeit leitet und sandte sein Band schließlich nicht nach Erlangen, sondern an den für Göttingen zuständigen »Gaugrafen« Gebert, der es an »entsprechender Stelle« – über die Stich nicht orientiert war – weiterleiten sollte. Diese jungen Extremisten handelten aus Stichs Perspektive lediglich aus »irgendwelchen Konjunkturabsichten« heraus, statt die Grundprinzipien des Bundes, wie die wahre und lebenslängliche Loyalität gegenüber allen Bundesbrüdern, ernst zu nehmen und zu verwirklichen. Insofern trennte sich Stich zwar von der offiziellen, bereits zunehmend durch die Nationalsozialisten vereinnahmten Studentenverbindung, hielt aber gleichzeitig das »wahre alte« Wesen der Bubenreuther aufrecht. Indem Stich zu seinem Bundesbruder, Schüler und Kollegen stand, der auf seinem Ordinariat in Breslau unter »politische[r] Abschaltung«75 litt, konnte er der Gemeinschaft und ihren Werten innerlich die Treue halten, Teil des Verbundes bleiben und sich nicht ausgeschlossen fühlen, obwohl er vordergründig mit der Organisation brach. * * * Diese Erzählung über ­Rudolf Stich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft muss mit einem weiteren Blick durch das Kaleidoskop ergänzt werden. Während zunächst vorwiegend die Traditionslinien und Handlungsspielräume von­ Rudolf Stich betont wurden, bei denen eine Verbindung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung eher nicht zwingend ersichtlich ist – die Biographie Stichs also eher aus der Perspektive seiner Schüler und Arzt-Kollegen dargestellt worden ist  –, soll im Folgenden eine ergänzende Geschichte seiner Jugend in 74 ­Rudolf Stich an Karl Heinrich Bauer am 28.9.1935, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 75 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, Stich-Schüler-Treffen in Göttingen, 22.11.1975, Kopie in Privatbesitz. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Nürnberg, seiner Prägungen durch die studentische Verbindung der Bubenreuther, seiner Etablierung in Göttingen und schließlich seiner Mitgliedschaften in den nationalsozialistischen Vereinigungen präsentiert werden. Dabei mag der Leser auf den einen oder anderen mehr oder weniger offensichtlichen Widerspruch treffen – wie R ­ udolf Stichs Haltung im Jahr 1933, seine Mitgliedschaft in der DDP oder auch seinen Rang in der SA . Die Entfaltung dieser Widersprüche ist gewollt  – konnten sie doch, mit dem vorliegenden Quellen­ material nicht restlos aufgelöst werden. * * *

Im Kaleidoskop: »Überzeugter Nationalsozialist« Als ehemalige freie Reichsstadt war die Wirtschaft Nürnbergs noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Kaufleute und kleine Handwerksbetriebe geprägt. Im Zuge der Industrialisierung erhöhte sich die Bevölkerungszahl drastisch, während sich gleichzeitig die Stadt weiträumig ausdehnte. Die Betriebe stellten nach und nach auf moderne Maschinen und neue Produktionsformen um, es entstanden zahlreiche Großbetriebe und Fabriken.76 Dies veränderte zum Ausgang des 19. Jahrhunderts ebenso die politischen Verhältnisse. Seit 1881 wurde der liberale Nürnberger Reichstagsabgeordnete regelmäßig von dem sozialdemokratischen Kandidaten besiegt und das städtische Bürgertum richtete sich zunehmend in einer die eigenen Vorrechte und Privilegien verteidigenden Rolle ein und grenzte sich gleichermaßen nach unten, gegen die nichtbürgerlichen Schichten, ab. Gleichzeitig waren die Grenzen zwischen den sozialen Schichten so durchlässig, dass ein Aufstieg in das Bürgertum über mehrere Geschlechterfolgen hinweg möglich war: Ein Weg, den die Vorfahren von ­Rudolf Stich beschritten hatten. Seine Familie war seit Generationen in Nürnberg ansässig, jedoch gehörte sie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs in den Kreis der respektablen Familien der Stadt. Seine Großeltern väterlicherseits kamen aus Wöhrd, einem Vorort Nürnbergs, der im Jahr 1818 eingemeindet worden war. Seine Großmutter, Anna Luise Franziska Müller77, war Tochter eines Handwerkers, der sich mit einer kleinen Manufakturwerkstatt auf die Herstellung von Spielwaren spezialisiert hatte, während sein Großvater, Johann Lorenz Stich78, mit 27 Jahren von M. J. Milbradt eine Buchdruckerei erwarb. Die Buchdruckerei, die unter dem Namen J. L. Lorenz Stich firmierte, schien durch den Druck von Monographien, Jahres- und Geschäftsberichten, gelegentlich auch Tageszeitungen, 76 Bauernfeind, S. 123. 77 Anna Luise Franziska Müller (1.6.1818–4.4.1894). 78 Johann Lorenz Stich (1.9.1818–6.11.1896). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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einen stetigen Gewinn abzuwerfen,79 sodass das Unternehmen im Jahr 1888 in ein ansehnliches Geschäftshaus, welches zentral in der Nürnberger Breiten Gasse gelegen war, umziehen konnte.80 Die Handwerkerstochter Anna Stich schien den gesellschaftlichen Aufstieg klar vor Augen zu haben: So wünschte sie sich von ihrem ersten Sohn, Eduard Stich, dass dieser Pfarrer werde. Eduard, dem sieben weitere Geschwister folgen sollten, strebte zwar eine bildungsbürgerliche Karriere an, jedoch entschied er sich mit Hilfe eines Stipendiums81 für das Studium der Medizin. Nachdem er im deutsch-französischen Krieg 1870/71 freiwillig als Unterarzt diente, begann er sich nach seiner Promotion in Nürnberg zunächst als Polizei-, später als Bahnarzt und seit 1874 mit einer eigenen Praxis zu etablieren. Er heiratete im selben Jahr Sophia Tröltsch. Ein Jahr später wird R ­ udolf Stich geboren. Ihm folgten 1877 Hildegard, 1878 Hedwig, 1881 Arthur Walter, der einen Tag nach seinem achten Geburtstag verstarb, und schließlich Gertrud im Jahr 1890. Somit war­ Rudolf Stich nicht nur der Älteste, sondern neben seinen drei Schwestern auch der einzige Sohn des Nürnberger Arztes. Dieser manifestierte seinen neuen Status durch die Mitwirkung in zahlreichen städtischen Vereinen und Krankenhäusern,82 schließlich auch allgemein sichtbar durch den Titel des Geheimen Sanitätsrats und als Träger des Luitpoldkreuzes83 seit 1913, beziehungsweise des König-Ludwig-Kreuzes84 seit 1916. Als Kind vollzog ­Rudolf Stich diesen Aufstieg vom kleinbürgerlichen in das bildungsbürgerliche Milieu seines Vaters teilweise noch mit. So erlebte er seine Großeltern, die aus kleineren Handwerksfamilien stammten, noch bis ins hohe Alter und bezog, nachdem die ärztliche Tätigkeit seines Vaters und die Heirat in die Familie von dessen Frau offenbar zunehmenden Wohlstand brachten, mit seinen Eltern in ein eindrucksvolles Stadthaus. Während in den 1870er 79 Vgl. ­Rudolf Endres u. a., S. 112, hier wird die Buchdruckerei J. L. Stich als eines der führenden Unternehmen der Nürnberger Papierindustrie aufgezählt. 80 Michael Diefenbach u. ­Rudolf Endres (Hg.), Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 2000, S. 1043. 81 Eduard Stich wurde mit dem Großen Bayerischen Reisestipendium gefördert. Vgl. Dr. med. Eduard Stich, online einsehbar unter: http://www.bubenreuther.de/buugle.php?detail=1608 [eingesehen am 10.3.2014]. 82 Vgl. zum Vereinsengagement und zum Mäzenatentum mit Ausstrahlung auf die Gesamtgesellschaft, Jürgen Kocka u. Manuel Frey, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 7–16, hier S. 10. 83 Das Luitpoldkreuz ist ein Ehrenkreuz, dass 1911 durch den Bayerischen Prinzregenten gestiftet worden war und an Bürger verliehen wurde, die 40 Jahre und länger im Staats-, Hof-, Gemeinde- oder Kirchendienst standen. Vgl. http://www.ehrenzeichen-orden.de/ deutsche-staaten/luitpoldkreuz-40-jahre-im-staats-und-gemeindedienst.html [eingese­ hen am 10.1.2014]. 84 Das König-Ludwig-Kreuz ist ein von König Ludwig III. von Bayern gestifteter Preis für besondere Verdienste um Armee und Wohlfahrt des Landes. Vgl. Stadtarchiv Nürnberg C 21/IX Nr. 276. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Jahren noch eine Mietwohnung in der Kaiserstraße die Stichs beherbergte, erwarb Eduard Stich zu Beginn der 1880er Jahre ein repräsentatives Gebäude in der Straße der Stadt. Die Stich-Kinder wuchsen in der Adlerstraße 6 auf, ein auf mehrere Stockwerke ausgreifendes Stadtkontor, welches im Erdgeschoss zwei, drei Läden sowie die Privatpraxis beherbergte und von Eduard Stich in den kommenden Jahren ständig baulich erweitert und modernisiert wurde. So befand sich noch vor der Jahrhundertwende auf jeder Etage ein Bad mit WC , das Treppenhaus war durch ein Glasdach tageslichtdurchflutet, hohe Decken, Stuck und Verzierungen an Innenräumen und Fassade rundeten die stattliche Erscheinung ab. Die Stichs demonstrierten so nach außen hin für jeden sichtbar durch Bildung und Besitz ihre Zugehörigkeit zum Bürgertum.85 Auch R ­ udolf Stich hatte den Ehrgeiz, eine angesehene Stellung als Arzt zu erlangen,86 statt seiner Großmutter den Wunsch, den schon sein Vater ihr abgeschlagen hatte, zu erfüllen und Theologie zu studieren – und das, obwohl Religion das einzige Fach war, in dem Stich jemals ein »sehr gut« in der Schule erhielt. Zur Vorbereitung auf sein Medizinstudium besuchte Stich das gleiche humanistische Gymnasium wie sein Vater und Großvater vor ihm, obwohl sich seit der Medizinalreformbewegung in den 1840er Jahren die ärztlichen Standesvertreter zunehmend darüber einig waren, dass das altsprachliche Gymnasium die künftigen Mediziner in den Naturwissenschaften nicht mehr hinreichend vorbilde.87 Und auch Stich schien – schaut man allein auf seine Noten – kein Liebhaber der Sprachen gewesen zu sein: Latein und Griechisch schloss er stets mit einer Drei ab, während er in Französisch sogar mehrmals eine Vier erhielt. Lediglich im Fach Deutsch stand er einige Male zwischen Zwei und Drei, während Mathematik, nach Religion, sein zweitbestes Fach war. Dennoch: R ­ udolf Stich war kein guter Schüler, sein Fleiß war oftmals lediglich »befriedigend doch nicht immer gründlich«88, so dass er sein Abitur am 14. Juli 1894 in den Fächern der deutschen, lateinischen, griechischen und französischen Sprache, in Religion, Mathematik, Physik und Geschichte lediglich mit »genügend« ablegte. Während sein Betragen zwar als »tadellos« galt, wurde ihm immer wieder ein Mangel an Gewissenhaftigkeit vorgeworfen.89 Dennoch: Gerade der Besuch des humanistischen Gym85 Dass das Bürgertum an sich eine heterogene Formation und durch die Dimensionen Bildung und Besitz gekennzeichnet ist, vgl. Rainer M. Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 79–120, hier S. 79. 86 Wie er selbst von sich sagte, vgl. Rede ­Rudolf Stich vor Abiturienten 1944, Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich, Cod. Ms. R. Stich 1:6. 87 Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1985, S. 79. 88 Weihnachtszeugnis aus dem Königlichen Neuen Gymnasium zu Nürnberg für den Schüler der 7. Klasse, ­Rudolf Stich, vom 23.12.1891. 89 Beispielsweise im Weihnachtszeugnis der 9. Klasse vom 23.12.1893. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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nasiums signalisierte, dass man als Arzt zum klassischen Bildungsbürgertum und nicht zur naturwissenschaftlichen Intelligenz gehören,90 also eine gesellschaftlich führende Position einnehmen wollte. Diese Zugehörigkeit zum Bürgertum war kein gegebener Sachverhalt, sondern musste als tägliche Praxis immer wieder herausgestrichen und eingeübt werden, denn das historische Stadtbürgertum war auch im 18.  und 19.  Jahrhundert keine homogene Formation, sondern eher ein »Ensemble aus habituellen Praktiken« und einem spezifischen Wertesystem91, das sich beispielsweise aus einem charakteristischen Arbeitsethos, aus Selbstverantwortung, Rationalität, Kontrolle und Ordnungssinn zusammensetzt. Basierend auf dem politischrechtlichen Typus des Stadtbürgers, der sich seit dem 12.  Jahrhundert in den neu entstandenen städtischen Siedlungen etablierte, konstituierte sich um die Ereignisse der Französischen und Deutschen Revolution im Zuge der Aufklärung das Bürgertum.92 Diese sich durch Bildung und Besitz auszeichnende Sozialformation grenzte sich einerseits vom Adel und andererseits scharf von den kleinen Leuten ab. Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, Großbürger und Kleinbürger  – allein diese Etikettierung unterstreicht die Mannigfaltigkeit und innere Heterogenität des Bürgertums.93 Und natürlich gab es signifikante Unterschiede zwischen der Bankiersfamilie und einer Professorendynastie oder zwischen einem selbstständigen, in seiner Kleinstadt angesehenen Handwerksmeister und einem Stahlmagnaten. Doch zwischen ihnen existierten zahlreiche Querverbindungen, beispielsweise über den Heiratsmarkt oder über Begegnungen als Honoratioren der Stadt.94 Und: Es bestanden Gemeinsamkeiten in der Kultur, Lebensführung und Mentalität – all das ist in der Forschung unter dem Konzept der Bürgerlichkeit zusammengefasst worden.95 Bürgerlichkeit

90 Dass Ärzte prinzipiell dem Bildungsbürgertum zuzurechnen sind auch bei Kocka, Das europäische Muster, hier S. 10. auch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, München 1993, S. 292. Vgl. Huerkamp, S. 86. 91 Wehler, Deutsches Bürgertum nach 1945, S. 620, auch Ulrike Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1994, S. 277. 92 Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, S. 33 f. 93 Für Gall hingegen waren die Typen derart indifferent, dass sie keine bürgerliche Gesellschaft hätten bilden können. Vgl. Lothar Gall, Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, in: Ders., Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, Beiheft der Historischen Zeitschrift 16, München 1993, S. 1–12, hier S. 7. 94 Hans-Ulrich Wehler, Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums, in: Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, Göttingen 1991, S. 199–209, hier S. 205. 95 Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, hier S. 45. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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wird als »eine auf typische Wertorientierung und Normen, Verhaltensweisen und Konventionen beruhende sozialkulturelle Lebensweise und Form der Vergesellschaftung«96 verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass sich aus Werten, Normen, Einstellungen, Wissensbeständen und Standards eine gewisse Art der Lebensführung, die Methode zur Organisation des Verhaltens, konstituiert. Das impliziert auch ähnliche Zielvorstellungen, Interaktionsformen, Bewertungsmuster und eine bestimmte Art der expressiven Zurschaustellung der Individuen, die sich an einer gleichartigen Lebensführung orientieren und sich gegenseitig entlasten. Detaillierte Untersuchungen über das Bürgertum und dessen Lebensraum in der Stadt, familienbiografische und generationshistorische Studien, geschlechtergeschichtliche Forschungen zur bürgerlichen Familie und Analysen über Werte und kulturelle Praktiken des Bürgertums sowohl im 19.  als auch im 20. Jahrhundert haben immer wieder gezeigt, dass es eine Schnittmenge gibt, die als bürgerliche Lebensführung bezeichnet werden kann.97 Bestimmend hierfür sind Familie, Erziehung und Bildung, Wertvorstellungen, Reputation und Netzwerke sowie Beruf und Vermögenswerte. Und all jene Elemente der bürgerlichen Lebensführung finden sich auch bei den Familien Eduard und­ Rudolf Stich. Dadurch, dass ­Rudolf Stich zu Beginn seines Studiums danach strebte, in die Bubenreuther Studentenverbindung aufgenommen zu werden, in der bereits sein Vater aktiv gewesen war und noch als Alter Herr dem Grunderwerbsverein der Bubenreuther bis zum Jahr 1925 vorstand, bewegte er sich innerhalb eines bürgerlichen Netzwerkes, das er nun als junger Akademiker auch für sich erobern und nutzbar machen wollte. Die Erlanger Burschenschaft galt bereits im Kaiserreich als eine der traditionsreichsten und ältesten Verbindungen, die erstmals 1817 und schließlich 1833 erneut gegründet worden war. Hier Mitglied zu werden implizierte den Anspruch, eine führende Stellung innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft bewusst anzustreben. Seit den 1830er Jahren waren die Erlanger Bubenreuther dem arministischen Prinzip98 verpflichtet und verstanden sich somit als Erziehungsgemeinschaft.99 96 Wehler, Deutsches Bürgertum nach 1945, S. 620. 97 Vgl. exemplarisch Franz J. Bauer, Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19.  Jahrhundert, Göttingen 1991; Gunilla-Friederike Budde; Manfred Hettling u. Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005; Döcker; Utz Haltern, Bürgerliche Gesellschaft. Sozialtheoretische und sozialhistorische Aspekte, Darmstadt 1985. 98 Hierbei ging es weniger um politische Schwerpunkte, sondern um die Ausbildung der Persönlichkeit wie beispielsweise Ehre und nationale Gesinnung, vgl. grundsätzlich hierzu: Hans-Georg Baldur, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Hilden 2006. 99 Andreae, S. 16. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Ihre Symbolik, die sie auch nach außen hin als Verbindung erkennbar werden lässt, sind die rote Eichenkranzmütze, sowie eine schwarz-rote Fahne, die unten mit Gold eingefasst ist, referenziert durch ihren Wahlspruch »Gott, Freiheit, Ehre, Vaterland«.100 Die Bubenreuther waren die größte schlagende Verbindung im Deutschen Kaiserreich mit durchschnittlich fünfzig aktiven Mitgliedern.101 Dieser Zulauf führte zu einem Neubau des Verbindungshauses in den 1880er Jahren, mit einem großen und kleinen Saal, Fechtboden und Schlafräumen für die einzelnen Bundesbrüder.102 Nach außen für alle weithin sichtbar demonstrierte das große und massive Gebäude somit den Führungsanspruch der Bubenreuther innerhalb der deutschen Studentenverbindungen im Kaiserreich. Daneben hatten die Erlanger Studenten in dem rund acht Kilometer nördlich gelegenen Bubenreuth ein weiteres Quartier: Ein dortiger Gasthof war für die Studenten schon im frühen 19. Jahrhundert ein beliebter Ausflugsort und Treffpunkt, sodass die Verbindung mit Hilfe ihrer Alten Herren auch diesen Standort erwarb. Über Bayern hinaus waren die Erlanger bekannt für ihre sogenannte »Bubenreuther Eigenart«, die weniger ein Hinweis auf die wöchentlichen Turnund Gesangsstunden war, sondern eine Anspielung auf ihre – selbst für Burschenschaften  – besonders ausgebildeten konservativen Züge. Diese äußerten sich beispielsweise darin, dass man in den Zeiten, als Stich aktives Mitglied im Verband war, eine Diskussion darüber führte, ob das Keuschheitsprinzip nicht auch auf die Philister auszudehnen sei. Überdies verweigerten die Bubenreuther Kaiser Wilhelm II., den sie als Gegner Bismarcks identifizierten, Geburtstagsgrüße und unterließen andere gemeinschaftliche Respektäußerungen gegenüber dem amtierenden Kaiser des Deutschen Reiches.103 Stattdessen adressierten die Bubenreuther zahlreiche Huldigungen an Otto von Bismarck und beteiligten sich schließlich ebenso an der großen Huldigungsfahrt nach Friedrichsruh anlässlich des 80. Geburtstages des ehemaligen Reichskanzlers. Da sich der Reichstag weigerte, Bismarck offizielle Glückwünsche auszusprechen,104 waren die konservativen Kreise umso mehr angespornt, offiziell ihre Verbundenheit mit dem Reichseiniger auszudrücken. Zwischen März und Juni empfing Bismarck auf seinem Altersruhesitz in Friedrichsruh über dreißig Gratulationsabordnungen,105 die Delegation von rund sechs­ tausend Studenten, die Bismarck Ende März aufsuchte, war eine davon. Unter denen von Erlangen Richtung Hamburg reisenden Bubenreuthern befand

100 Vgl. Hauptausschuss der Deutschen Burschenschaften 1981/82 (Hg.), Handbuch der deutschen Burschenschaften, Bad Nauheim 1982. 101 Andreae, S. 25. 102 Ebd., S. 29. 103 Ebd., S. 24. 104 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1995, S. 719. 105 Otto Pflanze, Bismarck der Reichskanzler, München 2001, S. 653. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 5: Die Gemeinschaft der Bubenreuther im Wintersemester 1894/95, ­Rudolf Stich vermutlich in der ersten Reihe links (Quelle: Burschenschaft der Bubenreuther)

sich auch der Fuchs ­Rudolf Stich. Ein Bundesbruder106 erinnerte sich vierzig Jahre später an die Fahrt: »Von Lichtenfels war schon ein ganzes Rudel Bubenreuther in einem Abteil beisammen, und wie es drinnen zuging – einen Maßkrug hatten wir auch schon erstanden –, das kann jeder der Bubenreuther-Art kennt, sich leicht vorstellen. […] Wir Bubenreuther zogen noch rasch auf die Wartburg und erst am Abend ging es weiter. […] Der Zugführer, unser Freund, hatte glücklicherweise Verständnis dafür, daß Studenten, die zu Bismarck fahren, nicht so lange auf dem Trockenen sitzen können und ließ auf den nicht wenigen Stationen, wo wir Bedürfnis fühlten, unsere Kehlen zu neuen Anstichen und Liedern anzufeuchten, den Zug so lange halten, bis unser Krug wieder gefühlt in unser Abteil kam.«107 Von den selbst formulierten Prinzipien, die prägend für die Gemeinschaft seien, Stärke, Klarheit, Ehrlichkeit, Deutlichkeit, Gradlinigkeit und Frömmigkeit,108 ist aus dieser Fahrtenbeschreibung nicht 106 Paul Müller, Erinnerung an die Huldigungsfahrt im WS 1894/95, in: Bubenreuther­ zeitschrift, Jg. 16 (1935) H. 5. 107 Ebd., S. 2. 108 Höhne, S. 66. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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viel herauszulesen. Auf der Reise schien eher der starke gemeinsame Zuspruch zum Alkohol das kollektive Erlebnis gewesen zu sein, womit sich die Erlanger nicht großartig von anderen studentischen Männerbünden in dieser Zeit unterschieden haben.109 Neben der Kneipe, war die Mensur eines der zentralen Rituale der Bubenreuther. Sie bekannten sich zum schlagenden Prinzip, ja mehr noch: Besonders in der Weimarer Republik waren sie bezüglich der Mensur »unerbittlich« und in »ihrer Strenge von keinem übertroffen«. Nur wenn ein Bubenreuther »einwandfrei gefochten hatte«, kam er für die formelle und informelle Führung des Bundes in Frage.110 »Im Grunde wurden Menschen hier dazu erzogen, sowie sie sich einem Schwächeren gegenüber wußten, hart zuzuschlagen, ihn die eigene Überlegenheit und seine Unterlegenheit alsbald und unzweideutig fühlen zu lassen. Das nicht zu tun, war Schwäche; und Schwäche war etwas Verächtliches.«111 Und so waren auch die Bubenreuther eine männlich dominerte Gemeinschaft, die durch ein hierarchisches Prinzip und die »gnadenlose Erziehung durch Gleichaltrige«112 gekennzeichnet war – Wesenszüge, die die Mitglieder prägten und für ihr Leben formten. Stich ist durch diese Strenge offenbar sein Mangel an Gewissenhaftigkeit ausgetrieben worden, denn die Autoren späterer Lebensbilder des Arztes und Professors betonen – im Gegensatz zu seinen Nürnberger Lehrern – immer wieder seine Gründlichkeit und Akkuratesse.113 Obwohl sich die Bubenreuther als Erziehungsgemeinschaft verstanden und nicht als politische Tatgemeinschaft, waren sie offenbar besonders in der Weimarer Republik politisch aktiv, indem sie mit dem »Kampf gegen Zentrum und Sozialdemokratie« »Helfersdienste« bei den Reichstagswahlen114 leisteten. Die für Burschenschaften in dieser Zeit allgemein typische nationalistische, antisemitische und antisozialistische Grundhaltung115 war in der R ­ udolf Stich prägenden studentischen Gemeinschaft intensiver ausgeprägt als an vielen anderen Orten. Und so thematisierten die Bubenreuther, die schon seit 1922 zahlreiche SA- und NSDAP-Mitglieder in ihren Reihen hatten116, bereits früh die »antisemitische Frage« und begrüßten eifrig den Nationalsozialismus.117 Dass sich mit Karl Heinrich Bauer jemand unter den ihren befand, dessen Frau den verlangten »Ariernachweis« nicht erbringen konnte, beirrte die nationalsozialistisch 109 110 111 112 113 114 115 116 117

Vgl. Heither, Blut und Paukboden, S. 107. Höhne, S. 69. Norbert Elias zitiert nach Höhne, S. 75. Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. Vgl. exempla. bei Georg Benno Gruber, ­Rudolf Stich, in: Edgar Kalthoff u. Otto Heinrich May (Hg.), Niedersächsische Lebensbilder, Bd. 5, Hildesheim 1962, S. 271–281. Höhne, S. 59. Heither, Blut und Paukboden, S. 75. Andreae, S. 46. Höhne, S. 61. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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eingestellte Verbindung keineswegs. Sie beantragten beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, eine Sondererlaubnis – die nach einigem Ringen auch gewährt wurde – damit der bekannte Ordinarius und Weltkriegsteilnehmer weiterhin in ihrem Lebensbund verbleiben konnte.118 So verzeichnete die Bubenreutherzeitschrift in den Jahren 1933 bis 1935 zwar einige »ehrenvolle« Austritte, R ­ udolf Stich oder Karl Heinrich Bauer jedoch waren nicht darunter. Offensichtlich arbeitete Stich so eindringlich für Bauer »hinter den Kulissen«, wie der Göttinger Chirurg an seinen Freund schrieb, um seine »Stosskraft für weitere Zeiten nicht zu beeinträchtigen«119, sodass ein formeller Austritt nicht mehr nötig war. Auch in der Weimarer Republik, als Stich als Alter Herr längst nicht mehr auf dem Haus der Bubenreuther lebte, war er fest innerhalb der Gemeinschaft verankert, indem er zu den Bundesbrüdern intensive Kontakte pflegte, auch durch zahlreiche Besuche und Zusammenkünfte in Bubenreuth und Erlangen. Somit war Stich in eine nationalsozialistisch geprägte Gemeinschaft verwoben und nach seinem persönlichen Bekenntnis wie »jeder wahre alte Bubenreuther […] von nationalsozialistischer Gesinnung erfüllt«.120 Durch die Selbstauflösung und -gleichschaltung der Deutschen Burschenschaft und ihrem Aufgehen in dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund im Jahr 1935 wurden auch die Alten Herren und mit ihnen ­Rudolf Stich in den NS -Altherrenbund überführt, der zu einer Untergliederung der NSDAP mutierte.121 Vor allem im Zweiten Weltkrieg gewann »die Altherrenschaft, die offiziell als ›wertvolle Stütze‹ bei der Schaffung eines ›vom Nationalsozialismus durchdrungen(n), verantwortungsbewußte(n) Akademikertum(s)‹ angesehen wurde, immer mehr an Einfluss.«122 In diesem Zusammenhang ermöglichte es Stich, aufgrund seiner Position und gesellschaftlichen Rolle, dass sich nationalsozialistisches Gedankengut tief in der Gesellschaft festsetzen konnte und mit seinem Verbleib im Bund trug er gleichzeitig zur Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Institutionen bei. Während sich R ­ udolf Stich zunächst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit der Zugehörigkeit zu den Bubenreuthern etablierte, sog er auch all ihre Wertvorstellungen, Lebensmaximen und Moralkodizes auf. Er verinnerlichte als Burschenschafter nicht nur ein elitäres Selbstverständnis, sondern auch eine antisozialistische, antikatholische und antijüdische Haltung, gepaart mit einer

118 Höhne, S. 62. 119 ­Rudolf Stich an Karl Heinrich Bauer 27.6.1935, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 120 ­Rudolf Stich an Karl Heinrich Bauer 28.9.1935, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 121 Heither, Blut und Paukboden, S. 128. 122 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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ausgeprägten nationalen Gesinnung.123 Hier wurde ein unerbittliches, kompromissloses und gewalttätiges Männlichkeitsideal anerzogen und den Mitgliedern für ihr weiteres Leben der Glauben mit auf den Weg gegeben, dass sie zur Führung einer Gemeinschaft berufen seien und ihren Normen, Werten und Tugenden unbedingte Geltung verschafft werden müsse. Dieser inkorporierte Habitus mischte sich auch bei Stich mit den Männlichkeitsvorstellungen des Bürgertums und wurde in der Praxis seiner alltäglichen Lebensführung sichtbar – war er doch nicht nur als Arzt das Oberhaupt einer Chirurgenschule und als Hochschullehrer der Führer einer Fakultät, sondern auch als »Vater« der Vorsteher der Familie Stich. Das Selbstverständnis als Führer in all diesen Bereichen war für ihn essentiell. So kümmerte er sich beispielsweise medizinisch beständig um die Seinen und ließ diese kaum von anderen Ärzten operieren. Er versorgte nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Schwiegermutter, was aufgrund deren Einquartierung in Göttingen mitunter für mehrere Wochen zur Einschränkung seiner Freiheit führte,124 ihm offenbar aber als innere Notwendigkeit und Pflicht erschien. Daneben nahm er sich, spätestens nach dem Tod seines Vaters am 1. Oktober 1938, auch der familiären Verhältnisse in Nürnberg und Weißenburg an.125 Als Vorsitzender der Erbengemeinschaft reiste er zur Schlichtung von Erbstreitigkeiten extra ins Frankenland. Wenige Tage vor dem Ableben von Eduard Stich beschloss die Stadt Weißenburg in einer Ratssitzung, dass sie den weitläufigen Park und das Anwesen der Stichs erwerben wolle. Nach dem plötzlichen, aber erwarteten Tod des 90-jährigen Eduard Stich, bestand Hedwig Ahrem, die mittlere der drei Stich-Töchter, – zum Ärger der Stadt – auf dem Selbstbehalt eines Grundstückteils. Die Stichs verkauften mit dem Haus Friedenau den Großteil des Anwesens und teilten sich unter den drei Geschwistern, R ­ udolf, Hildegard und Gertrud, den Erlös von rund neunzigtausend Reichsmark. Ein kleiner Grundstücksteil mit Drachenheim hingegen wurde Hedwig Ahrem als Erbschaft zugeschrieben.126 So wurde – statt der von Vertretern des Stadtrates indirekt angedrohten Enteignung – ein Kompromiss zwischen Erben und Stadt ausgehandelt, der ohne die Präsenz und Vermittlung des Hochschullehrers Rudolf Stich womöglich nicht zustande gekommen wäre.

123 Zur Beliebtheit von antikatholischen und antisozialistischen Feindbildern im protestantischen Bürgertum vgl. Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, S. 39. 124 So beklagte sich Stich in einem Brief an Bauer, dass er durch die Anwesenheit seiner Schwiegermutter nicht mehr Herr über seine eigene Zeit sei, R ­ udolf Stich an Karl Heinrich Bauer 5.5.1925, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 125 Besonderen Dank für die Informationen über die Verhältnisse in Weißenburg gelten Stadtarchivar Reiner Kammerl. 126 Stadtarchiv Weißenburg, Rep. IV/116/51. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Offenbar nutzte ­ dieser seinen Anteil der Erbschaft von dreißigtausend Reichs­mark für den Kauf eines Sommerhauses mit Garten im beliebten Tiroler Urlaubsort Seefeld im Jahr 1939, sowie einer Mietwohnung in Nürnberg, in der Adlerstraße 10, in den frühen 1940er Jahren. Ob er dabei von der am 3. Dezember 1938 in Kraft getretenen »Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens« profitierte, sich also an der »Arisierung« bereicherte, indem er vormaligen jüdischen Grundbesitz zu einem Bruchteil des Verkehrswertes erwarb, muss ungeklärt bleiben. Sicher ist nur, dass der Vorbesitzer des Tiroler Ferienhauses ein Innsbrucker Kaufmann mit dem Namen Haller war, während 1951 die Jewish Restitution Succesor Organisation in Nürnberg auf eine Rück­ erstattung der Adlerstraße 10 bestand, da die ursprünglichen Vorbesitzer Juden gewesen waren, deren Erben zu dem Zeitpunkt nicht ausfindig gemacht werden konnten.127 Neben dem durch seine bürgerliche Herkunft und in der Studentenverbindung geprägten Anspruch, in den jeweiligen gesellschaftlichen und auch persönlichen Kreisen eine Führungsrolle einzunehmen, war auch der Umgang mit der Waffe etwas, was Stich offenbar in der Gestaltung seines weiteren Lebensweges als leidenschaftlicher Jäger beeinflusste. Diese Freizeitbeschäftigung teilte er mit vielen Freunden und Kollegen. So ging er nicht nur mit Karl Heinrich Bauer oder Wilhelm von Gaza128 wandern und jagen, sondern begeisterte auch viele Göttinger Kollegen, wie Gruber, für die Pirsch. Dieser schrieb über seine Jagderlebnisse in Göttingen: »Das Erleben der veränderlich waltenden Natur macht die Jagd kurzweilig, begehrenswert und bei aller körperlichen Mühe erholsam. Würden uns im Tageslauf der Dienstgeschäfte Ärger und Enttäuschungen beschert, dann gibt es ein gutes Mittel, sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Man sucht eine heimliche Stelle im Walde, einen Hochsitz am Rand des Gehölzes oder im Schirme des Geschilfes auf, man lugt und lauscht im stummen Alleinsein auf all das, was die lebendige Natur im kleinsten bewegt. […] So habe ich die Jagd, die Jagdgänge in den Göttinger Revieren empfunden. […] Und was endlich das Festhalten an jägerlicher Sitte, was die Achtung vor überkommenem Waidmanns-Brauchtum betrifft, so bedeuten diese Dinge mehr als nur eine pedantische Konvenienz. Dahinter steckt der Selbstzwang zu Anstand und Menschlichkeit. Nicht anders ist es hier, als im Berufsverhältnis des Arztes dem der uralte Horkos, der hippokratische Ärzteeid, die fortgesetzte Bindung an das Ethos nahelegt. Ich danke meinem chirurgischen Collegen ­Rudolf Stich immerfort,

127 Stadtarchiv Nürnberg, C 20/V Bauakten Nr.  109, Adlerstraße 10.  Die jüdische Metz­ gerei Gustav Mayer ist in der Adlerstraße 10 ansässig gewesen. Vgl. Gerhard Jochen, Jüdische Gewerbetreibende, Ärzte und Rechtsanwälte in Nürnberg, online einsehbar unter: http://www.rijo.homepage.t-online.de/pdf/DE_NU_JU_gewerbe.pdf [eingesehen am 22.1.2014]. 128 Wilhelm von Gaza, 3.2.1883 bis 24.4.1936 (Tod durch Verkehrsunfall), Medizinstudium in Greifswald, Habilitation bei ­Rudolf Stich, seit 1928 Ordinarius in Rostock. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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dass er mich in Göttingen für die Jägerei gewann und mir so eine unnennbar wohltuende Ablenkung von Hast und Treiben der Tage schuf, eine Ablenkung, die neben der sportlichen Lust zugleich das Positive neuer Belehrung und tieferer Daseinserkenntnis mit sich brachte.«129

Und ebenso wie für Gruber scheint auch für Stich, der botanisch als äußerst interessiert galt und beinahe jede Pflanze zu benennen wusste, die Naturverbundenheit das entscheidende Motiv für die eigene Jagdleidenschaft gewesen zu sein.130 Auch Stichs enger Freund und Kollege Karl Heinrich Bauer schrieb recht ausführlich über das Jagen. Auffällig ist, dass auch er die von Gruber angedeutete Verbindung beziehungsweise Ähnlichkeit zwischen dem Arztberuf und der Profession als Jäger aufnimmt. So verfasst er einen längeren Essay über die »Jagd in Schlesien«, in dem er fragt, wie es wohl kommt, dass »so viele Chirurgen passionierte Jäger sind«. Er begründet die Freude an der Jagd mit der Möglichkeit, in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit die Natur genießen zu können, sowie mit der These, dass viele dankbare Patienten, selbst Jäger, den ärztlichen Helfer und Retter mit in das »eigene Paradies«, gemeint ist das Jagdrevier, nehmen würden. Gleichzeitig deutet Bauer jedoch selbst einen Widerspruch zwischen dem Beruf des Arztes als Heiler und der Passion des Jägers als Verbrecher am Tier an: »Die Spekulationen beruflicher Affinität  – ›Du sollst nicht töten‹  – sind völlig abwegig.« Stichs Kollege Gruber spielt gleichsam darauf an, dass ein Jäger schließlich das Jagdgut zur Strecke bringt: »Das Geheimnis dieses Glückes liegt nicht in der Freiheit der Verfolgung und des Abschusses laufenden und fliegenden Wildes. Es liegt im Recht, eine Waffe zu führen und in der Pflicht höchster Aufmerksamkeit und schärfster Beobachtung der Umwelt, es liegt an der eigenen Bändigung, die nicht wahllos den Finger an den Abzug des Gewehrs legen darf, liegt an der sich immer enger gestaltenden, fürsorglichen Verbundenheit mit Wald und Feld, mit Gestrüpp und Gesträuch, mit Tieren und Menschen dieser Sphaere.«131

Diese »Jagdmoral« lässt sich auch in einem darüber hinausgehenden Rahmen deuten, wie es Günter R. Kühnle in einer Dissertationsschrift unternommen hat: So ist das »Jagdbedürfnis« nicht nur ein »Beherrschungsstreben über ein Naturgesetz«, sondern im Vollzug der Jagd mit der Tötung des 129 Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Georg Benno Gruber, Cod. Ms. B. Gruber 3:3, S. 784–786. 130 Vgl. Gespräch mit Dr. Wendelin Dames. 131 Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Georg Benno Gruber, Cod. Ms. B. Gruber 3:3, S. 783. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Tieres eine »Überwindung des Todesbewusstseins«.132 Während der Chirurg im Operations­saal am offenen Körper täglich mit all seiner Kraft, Konzentration und Fingerfertigkeit gegen den Tod des Menschen ankämpft, jedoch – wenn der Patient instabil wird, die Verletzungen zu lebensbedrohlich oder die Krankheit zu weit fortgeschritten ist – nicht immer Herr der Lage sein kann, hat er hingegen die Entscheidung über Leben und Tod auf dem Hochsitz vollkommen in der Hand. Somit erschließt sich der Moment der Entspannung, aber auch des Glücks und der Zufriedenheit durch die Kontrolle über die Natur, den auch Stich verspürt haben mag. Darüber hinaus ist es sicher kein Zufall, dass Stich mit seinem inkorporierten Führungsanspruch bei der organsierten Jägerschaft, die sich in Deutschland als geistige Elite verstand, mitwirkte, statt im Turnerbund oder Gesangsverein. Neben seinen Patienten, seinen Assistenzärzten, seiner Familie und seiner Jagdleidenschaft, schien sich R ­ udolf Stich in der Weimarer Republik nicht für viele andere Dinge zu interessieren – Politik jedenfalls gehörte nicht zu seinen Interessenschwerpunkten. Er bekannte, kein »eifriger Zeitungsleser«133 zu sein, und passt daher in das klassische, von der Forschung gezeichnete Bild des von der Teilhabe am politischen Leben entfernten, nationalkonservativen Bildungsbürgers.134 Und so war Stich sicherlich unter der Mehrzahl der Professoren, die ab 1933 mit wehenden Fahnen den Nationalsozialisten zugejubelten135 und sich von ihnen ein hartes innenpolitischen Durchgreifen und geschlossenes außenpolitisches Auftreten gewünscht haben. Dies mag sicher auch einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Stich in der Stahlhelmhochburg136, wie Göttingen mitunter tituliert wurde, Mitglied im Stahlhelm137 und später der SA gewesen war. Als sich die Göttinger Ortsgruppe des Stahlhelms am 15. November 1935 auf dem Adolf-Hitler-Platz versammelte, war Stich jedoch womöglich schon nicht mehr dabei. Die rund 350 Mitglieder stellten sich in ihren grauen Uniformen 132 Hierzu: Günter R. Kühnle, Die Jagd als Mechanismus der biotischen und kulturellen Evolution des Menschen, online einsehbar unter: http://ub-dok.uni-trier.de/diss/diss 45/20030120/20030120.htm, [eingesehen am 10.3.2014]. 133 ­Rudolf Stich an Geheimrat Jensen, undatiert, Universitätsarchiv Göttingen, Med Fak Ordner 9. 134 Vgl. exempl. Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht, S. 351. 135 Sieg, S. 193. 136 Cordula Tollmien, Nationalsozialismus in Göttingen (1933–1945), online einsehbar unter http://d-nb.info/104543762X/34 [eingesehen am 10.3.2014], S. 29. 137 Stichs Aussagen über seine Mitgliedschaft im Stahlhelm sind widersprüchlich. Während er meistens angibt, für kurze Zeit im Jahr 1933 Mitglied im Stahlhelm gewesen zu sein, gibt er in einer politischen Beurteilung von 1937 an, dort niemals Mitglied ge­wesen zu sein. Die Gründe für die Falschangaben sind unklar. Möglicherweise hielt er es aufgrund der kurzen Zeitspanne für irrelevant oder er wollte 1939 nicht mehr mit dem reaktionären Stahlhelm in Verbindung gebracht werden. Auch bleibt unklar, ob er vor oder nach der Machtergreifung Mitglied wurde. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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für einen letzten Schlußappell auf. Es herrschte Trauer und Fassungslosigkeit, nun, da die allgemeine Wehrplicht gerade wieder eingeführt worden war, am Grabe der eigenen Organisation zu stehen, die eine Woche zuvor, am 8. November, offiziell aufgelöst worden war. Die Empörung über die Auflösung ihrer Gemeinschaft, die die Mitglieder als Grausamkeit empfanden, äußerten die Redner lautstark. Der Stahlhelm hatte bereits in den Jahren ab 1930 zunehmend unter Druck gestanden und war vor allem durch die SA als ebenfalls paramilitärisch organisierte und radikal rechte Organisation an den Rand gedrängt worden. Der Versuch, alle deutsch und national denkenden Männer in einer Front zu vereinigen, scheiterte letztlich. Trotz der Nähe ihrer politischen Ziele, Feindbilder, Vorstellungswelten und paramilitärischer Praktiken, verlor der Stahlhelm zunehmend Mitglieder, die in erster Linie zur SA überliefen, die offen Gewalt befürwortete und praktizierte, während der Stahlhelm in einer Zeit des Aufbruchs als »Bewegung im Stillstand«138 empfunden wurde. Zuvor jedoch war er der wirkmächtigste Interessensverband der antirepublikanisch eingestellten Frontsoldaten am rechten Rand des deutschnationalen Spektrums. Und trotzdem hatte sich niemand in Göttingen gegen die schon vorher stattgefundene Eingliederung in die SA gewehrt. Die ehemaligen Stahlhelmer in Göttingen traten jedoch nicht, wie gewünscht, in die SA oder SS ein, und stellten auch nur in »verschwindend geringer Anzahl einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP.«139 Außer R ­ udolf Stich. Er war schon im Mai 1934 in die SA eingetreten, obwohl er als über 45-Jähriger dazu nicht aufgefordert worden war, und hatte bereits 1933 seinen Aufnahmeantrag an die Partei gestellt. ­Rudolf Stich war mehr als Mitgliedsnummer 4238301 in der NSDAP, SAStammrolle Nr. 60 (eingesetzt in der Brigade R. 57, Standarte A. R. 91, Sturmbann I/R 91), SS -Fördermitglied, Mitglied der NSV, des NS -Dozentenbundes, des Studentenbundes, des Ärztebundes, der NS -Kriegsopferversorgung, des NS -Reichskriegerbundes, des NS -Altherrenbund der Studenten und des Reichsluftschutzbundes. Stich trat in die SA ein, lange bevor er Parteimitglied wurde. Bei der SA wurde im Gegensatz zur NSDAP keine Mitgliederaufnahmesperre verhängt, so dass bis Mitte 1934 die Mitgliederzahl von 500.000 auf 4,2 Mio. stieg. Das lag ganz in Röhms Interesse, der versuchte, die SA als weiteren Machtfaktor auch nach der Machtergreifung zu etablieren und den Primat des Militärs gegenüber der Politik anstrebte. Und die nötige Machtbasis dafür wollte er eben durch 138 Vgl. im Folgenden: Anke Hoffstadt, Eine Frage der Ehre – Zur ›Beziehungsgeschichte‹ von »Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten« und SA, in: Yves Müller u. Reiner Zilkenat (Hg.), Bürgerkriegsarmee. Forschungen zur nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Frankfurt a. M. 2013, S. 267–296. 139 Cordula Tollmien, Stadtgeschichte, S. 232. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Mitgliederzuwachs sichern. Der Zeitpunkt von Stichs SA-Mitgliedschaft deutet seinen unbedingten Willen an, dazuzugehören und Bereitschaft an das Regime zu signalisieren. So war Stich außerhalb Göttingens einer von vielen, die zum Zeitpunkt ihres Eintrittes in die SA kein Parteimitglied waren, obwohl das eigentlich verbindlich vorgeschrieben war. Wenngleich sich in der SA größtenteils hilfsbedürftige und gewalttätige Männer versammelten, die ohne den Bund vor allem nach dem Krieg kaum zurechtgekommen wären, verpflichteten sich auch einige Angehörige des Bürgertums dieser Institution. Durch seine persönlichen Fronterfahrungen, die auch Stich als Beratender Chirurg und Oberstabsarzt im XXI. Armeekorps (Abschnitt G) vorzuweisen hatte, sowie den Willen zur Herstellung einer einheitlichen »Volksgemeinschaft«, gekoppelt mit der Bereitschaft zur Selbsthilfe aufgrund wahrgenommener Schwäche der Staatsgewalt als sukzessive Veränderung der politischen Kultur, erhöhte sich zunehmend auch die Gewaltakzeptanz des Bürgertums.140 Daher ist die Zugehörigkeit Stichs zur SA zwar ungewöhnlich, aber durchaus erklärbar. Und so schwor er am 7. März 1939 anlässlich seiner Vereidigung als SA-Führer: »Hiermit gelobe ich auf Ehre und Gewissen, dass ich mich als pflichtbewusster SA-Führer meinem Obersten Führer Adolf Hitler in unverbrüchlicher Treue verbunden fühle und mein Amt, das ich aus seiner Hand empfange, nach seinen Weisungen und in seinem Sinne führen will.« Und diesen Schwur füllte er von Beginn an bis zum Ende mit Leben. Wenn Stich seine Villa verließ, um für die SA zu sammeln, trug er als Angehöriger der Sanitäts-SA an seiner Uniform die Waffenfarbe königsblau, dazu das Braunhemd, am linken Arm die »Kampfbinde«, ein rotes Band mit schwarzem Hakenkreuz in einem weißen Kreis und einen farbigen Besatz an der Mütze, der erkennen ließ, aus welchem Gau er stammte. Er trat energisch und zielbewusst auf141, mit »pupillensicherem Blick«142, von aufrechter Haltung und aufrichtigem Charakter143– durch und durch eine Respektsperson, die hervorragend befähigt und anerkannt war – und darüber hinaus noch mit einem besonderen Gerechtigkeitssinn ausgestattet144. Der allgemeine Leumund seiner 140 Dirk Schumann, Einheitssehnsucht und Gewaltakzeptanz. Politische Grundispositio­ nen des deutschen Bürgertums nach 1918 (mit vergleichenden Überlegungen zu den britischen middle classes), in: Hans Mommsen (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung: Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, Köln 2000, S. 83–105, hier vor allem S. 104. 141 Gutachten vom Ärztebund 18.6.36, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, VBS 1 1120001356. 142 Gespräch mit Dr. Wendelin Dames. 143 Gutachten vom Ärztebund 18.6.36, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, VBS 1 1120001356. 144 Gutachten vom Ärztebund 18.6.36, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, VBS 1 1120001356. Diese Charaktereigenschaft wird in anderen Dokumenten und auch von Zeitzeugen immer wieder besonders betont. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Familie war untadelig, seine Lebensführung vorbildlich, so dass er bei Kranken und Studenten, ja in der ganzen Stadt, sehr geschätzt wurde.145 Der Sohn eines Kollegen, der als Kind von Stich operiert worden war, erinnert sich: »Von der ganzen Atmosphäre her – was er sagte, galt. Es gab da keine Diskrepanz. Leitfigur ist kein schlechter Ausdruck. Er prägte und war nicht jemand, der durch die Umstände geformt wurde. Er prägte selber. Es war nicht diskutabel über das Wort des Chefs irgendetwas Gegenteiliges, Negatives zu sagen. Die hierarchische Ordnung der Zeit war eben völlig anders als heutzutage üblich.«146 Eine solche Persönlichkeit wie Stich war sich, wie die SA-Leute insgesamt, darüber bewusst, welche propagandistische Wirkung die Braunhemden in der Öffentlichkeit hatten. Er war auch hier Vorbild. Zumal: ­Rudolf Stich machte in der SA zwei Karrieren: zum einen in der Sanitäts-SA, in der er schließlich, die üblichen Stufen durchlaufend, als Professor ab 1937 die hohe Stellung eines Brigadearztes (Dienststellung) einnahm.147 Gleichzeitig bekleidete er aber auch in der eigentlichen SA einen Rang (Dienstgrad) und zwar diente er sich vom einfachen Sturmmann bis 1944 hoch in die Position eines Sturmbannführers per »Führerbefehl 85«148, welches der militärischen Position eines Majors entsprach.149 Somit unterstanden ihm schließlich drei bis fünf Stürme: Stich war der Führer 145 Politische Beurteilung 20.1.39 auf Anforderung von NSV Göttingen, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich, VBS 1 1120001356. 146 Gespräch mit Prof. Gottfried Ewald. 147 Sanitätslaufbahn: 1933 Sanitätsmann, 1933 Sturmarzt, 1934 Sturmbannarzt, 1935 Standartenarzt, 1937 Brigadearzt, 1938 2.  Brigadearzt. Widersprüchlich dazu sind Unter­ lagen aus derselben SA-Akte, die in für 1938 als Sanitätssturmführer und für 1939 als Sanitätsobersturmführer ausweisen. 148 Die Führerbefehle des Obersten SA-Führers, meist kurz als »Führerbefehle« bezeichnet, waren eine Reihe von schriftlich ausgearbeiteten Anordnungen, die Adolf Hitler in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Sturmabteilung zwischen 1933 und 1944 durch die Oberste SA-Führung (OSAF) als der von ihm mit der praktischen Durchführung seiner Kommandogewalt über die SA betrauten Organisation herausgeben ließ. Zwischen 1931 und 1944 erschienen insgesamt 85 durchnummerierte Führerbefehle des Obersten SA-Führers, hier handelt es sich also um den letzten. Im Einzelnen wurden in den Führerbefehlen personelle Veränderungen in ranghohen oder als bedeutend angesehenen SA-Dienststellen angezeigt. Es ist umstritten, ob die Befehle wirklich alle Hitler zur Kenntnisnahme vorgelegt wurden, also wie genau Hitler diese Befehle in Wirklichkeit kannte. Es ist zweifelhaft, dass Hitler die von der Obersten SA-Führung zur Ernennung, Beförderung, Versetzung etc. vorgesehenen Personen persönlich oder auch nur dem Namen nach kannte, so dass es ihm kaum möglich war, Vorbehalte gegen Beförderungen, Versetzungen usw. anzumelden. 149 1933 als einfacher SA-Mann in den Verband eingetreten, dient sich Stich auf übliche Weise hoch: 1935 noch Rotten- bzw. später Scharführer, wird er 1941 Hauptsturmführer und 1944 schließlich noch Sturmbannführer, wie er selber in seiner Entnazifizierungsakte angibt. Diese Funktion bleibt bei Stroeve gänzlich unerwähnt. Ein Entlastungszeuge im Entnazifizierungsverfahren gibt Stichs Position lediglich als die eines Obersturmführers an. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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von etwa 1.280 Mann. Da Stich bei seinem Eintritt in die SA bereits deutlich älter als 45 war, gehörte er der SA-Reserve an, die sich nach der Reorganisation nach militärischem Vorbild 1938 aus dieser Alterskohorte rekrutierte und daher auch viele Mitglieder ehemaliger Soldatenverbände wie etwa dem Kyffhäuserbund aufnahm. Auch übernahmen viele Beratende Ärzte aus dem Ersten Weltkrieg Aufgaben im Sanitätsdienst der SA . Typisch für Ärzte im Dienst der SS oder SA war ihre bürgerliche Herkunft, viele von ihnen waren wie Stich selbst in Arztfamilien aufgewachsen und wurden von ihren Vätern in ihrer Laufbahn aktiv unterstützt in ihrem Bestreben, ihre militärischen Ambitionen mit ihrem Arztberuf zu verknüpfen.150 Ihr Standesverständnis verfestigte sich in den Gliederungen der Partei. Vielleicht ging es Stich als Angehörigem des radikaleren Flügels des Stahlhelms mit der nationalsozialistischen Revolution nicht schnell genug voran, so dass er sich bereits vor dessen Auflösung der SA zuwandte. Denn jemand wie Stich wollte nicht im reaktionären Denken und einer Ausrichtung auf die Vergangenheit verharren, er wollte Teil der nationalen Erhebung sein. Er wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, den der Chronist der SA 1935 formulierte, als er schrieb, dem Stahlhelm »fehle die Moderne«151. Stich, obwohl schon fast sechzigjährig, war eben keiner dieser »Herrensöhnchen und verkalkte[n] alte[n] Offiziere«152, sondern er ging mit der Zeit und so zögerte er nicht, sich einer Organisation anzuschließen, deren Anteil der unter 30-Jährigen teilweise bei über siebzig Prozent lag und in der Stichs Geburtenjahrgang die absolute Ausnahme bildete und er auch so gar nicht zu den jungen Erwerbslosen passte, die in Scharen der SA zuströmten. Auch verfehlten die zahlreichen gezielten Abwerbungen im Gausturm Hannover, die sich an die aktivsten der Stahlhelmer richteten, ihre Wirkung nicht. Als Beratender Arzt war Stich nach dem Ersten Weltkrieg wie viele seiner Kollegen und Sanitätsoffiziere in die Reichswehr, reaktionäre Freikorps oder andere Wehrverbände wie den Stahlhelm eingetreten. Die im »Trommelfeuer geboren[e] Kameradschaft« aus dem Ersten Weltkrieg hielt diese Gruppe als integratives Moment zusammen und war nahezu eine zwingende Teilhabe­ voraussetzung.

150 Diese gruppenspezifischen Merkmale, sowie Karriereentwicklung und Handlungsstrategien innerhalb des SS-Sanitätsdienstes, untersucht Judith Hahn unter anderem in ihrer Dreier-Biografie über Grawitz, Genzken und Gebhardt, die alle später im Dienst der SS Medizinversuche durchführten. Vgl. Judith Hahn, Grawitz, Genzken, Gebhardt. Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS, Münster 2008. 151 Hoffstadt, S. 283. 152 Bericht Untergruppe Württemberg, Standartenführer Gottlob Berger, Stuttgart, Bundesarchiv Berlin, Sturmabteilung der NSDAP (SA) NS 23/474, Bl. 105177. Zitiert nach Hoffstadt, S. 283. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die Bedeutung dieser Erfahrungsgemeinschaft war für ihre Mitglieder immens  – und ­Rudolf Stich suchte auch in diesem Fall die Nähe zu einer hermetisch abgeschlossenen Gemeinschaft, die soldatische Tugenden und Werte vertrat wie Pflichtgefühl, Disziplin, Leistung und Arbeit, die auch seinen Wertekanon maßgeblich speisten. Der paramilitärische Stil entsprach Stichs autoritärem Auftreten, Hass und Gewaltbereitschaft innerhalb der Organisation wurden vor allem geschürt über die Feindbilder des Ersten Weltkrieges und mit militärischen Wertvorstellungen verknüpft. In diese Gemeinschaft wollte er sich als Leitfigur integrieren und engagieren. Die familiären Strukturen ermöglichten es Stich, die Rolle einzunehmen, die ihm zeitlebens am besten lag: eine Vater- und Erzieherrolle, die er auch in dieser Gemeinschaft ausfüllen wollte, denn »die ›Ersatz­familie‹ SA band ihre Mitglieder als Mitwisser-, Mittäter- und Komplizen aneinander.«153 Dieser integrative Charakter der SA154 zeigt ihre Stärke, Angehörige aller Schichten zusammenzuführen. Die heterogene Zusammensetzung förderte das  Ideal der Kameradschaft ohne soziale Schranken. Dieses Ideal lebte Stich vor, der als Universitätsprofessor zunächst als einfacher SA-Mann, ohne Rücksicht auf sein hohes soziales und gesellschaftliches Kapital, beitrat und sich nach oben diente. Selbst einige prominente Adlige traten der SA bei, um deren Prestige zu er­höhen und sich als Teil  einer einfachen Gemeinschaft zu stilisieren. Ist es denkbar, dass Stich als bekannte Figur des Göttinger öffentlichen Lebens ein solches Motiv bewog, als Vorbild für andere in die SA einzutreten? Er blieb ihr jedenfalls Zeit ihres Bestehens treu, der in der SA vor allem vor 1933 typischen hohen Fluktuationsrate unter den Mitgliedern, die ihr oft nur kurze Zeit angehörten, zum Trotz. Er leistete zunächst einen monetären Beitrag und kaufte regelmäßig Plaketten. Nicht nur war es für ihn selbstverständlich, »sehr angemessen und gerne bei Sammlungen«155 zu geben, es war auch selbstverständlich, selbst zu sammeln und durch seine SS -Fördermitgliedschaft das Regime zu unterstützen. Bis 1933 bildeten die freiwilligen Beiträge der fördernden Mitglieder den wichtigsten Posten im Haushalt der (Allgemeinen) SS , ab 1934 waren diese zwar weiterhin ein wichtiger Teil der Finanzierung, die Zuschüsse der NSDAP traten aber an die erste Stelle.156 Die Fördermitglieder verpflichteten sich, einen monatlichen, nach ihrem Ermessen festgelegten Beitrag zu leisten. Bis 1933 betrug dieser durchschnittlich 2 RM, danach weniger. 153 Hoffstadt, S. 277. 154 Vgl. Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 81 ff. 155 Politische Beurteilung 20.1.39 auf Anforderung von NSV Göttingen, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich, VBS 1 1120001356. 156 Die Unterstützung galt also der politischen Tätigkeit der (Allgemeinen) SS, nicht der Unterstützung der staatlich finanzierten Verfügungstruppe und den Totenkopfverbänden. Der Mitgliederpflege diente ab dem 1.4.1934 die Monatszeitschrift »F. M. Zeitschrift«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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­Rudolf Stich besuchte regelmäßig Parteiveranstaltungen157 und nahm an allen Diensten seines Sturmes »mit regem Eifer«158 teil. Selbst seine enorme berufliche Eingespanntheit und Belastung lässt er nur in Ausnahmefällen als Ausrede gelten, wie etwa am 15. Juli 1944, als er »wegen dringender Berufstätigkeit« darum bittet, vom Schießen befreit zu werden. Der 70-jährige Klinikleiter und Hochschulprofessor, dessen Land sich im totalen Krieg befindet, dessen Lazarett daher übervoll ist, nimmt also regelmäßig an den Schießübungen der SA teil und bittet schriftlich um Erlaubnis, diesen ausnahmsweise fern zu bleiben. Am 30. August 1944, also neun Monate vor Kriegsende, schreibt Stich aus seinem geliebten Feriendomizil in Seefeld in Tirol an die SA Brigade 57. Er berichtet, der Kurator der Universität habe ihn »zur Widerherstellung meiner Berufsfähigkeit« bis zum 12.  September auf eine Kur geschickt. Er entschuldigt sich, dass er nicht bereits vor seiner Abreise um Urlaub gebeten habe und dafür nicht persönlich bei seinem Vorgesetzten erschienen sei. Sein SA-Vorgesetzter stellt den Urlaubsschein unverzüglich aus.159 Die Anerkennung der 1944 nahezu funktionslosen SA als autoritäre Instanz ist ungebrochen. Die genauen Aufgaben der SA-Standarte 82 in Göttingen lassen sich nur rudimentär rekonstruieren.160 Sie nahm beispielsweise an Brigadewettkämpfen teil, im Jahr 1937 war jedoch der Sanitätssturm 82 entschuldigt, da alle Ärzte des Sturms »bei der Autobahn eingesetzt sind« (Einweihung der Reichs­autobahn). Nicht nur solche sportlichen Wettkämpfe und Großereignisse waren Anlässe, zu denen die SA antrat, sondern beispielsweise auch die Volksabstimmung am 10.  April 1938. Die Auftritte der SA sollten die Bürger zum Wahlkampf mobilisieren, zum »Tag des Großdeutschen Reiches« habe man sich einzufinden auf dem Adolf-Hitler-Platz zur Kundgebung, am 7.  April war Reichsminister Rust in Göttingen als Redner geladen. Darüber hinaus wurde die SA durch die NSDAP verpflichtet, vom 4. bis zum 10. April in der Öffentlichkeit grundsätzlich Uniform zu tragen. Ein Jahr zuvor fand das Universitätsjubiläum statt, bei dem Stich im Talar in einer feierlichen Prozession zum Adolf-Hitler-Platz marschierte, ebenso wie im November 1938 das Pogrom gegen die Juden, bei dem die SA noch einmal einen landesweiten Einsatz hatte, obwohl sie seit 1934 nach dem Röhmputsch massiv an Bedeutung verlor und vor allem als Kaderreservoir für die Partei und andere Organisationen angesehen werden kann. 157 Politische Beurteilung 20.1.39 auf Anforderung von NSV Göttingen, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich, VBS 1 1120001356. 158 Ebd. 159 Dass es für Stich selbstverständlich war, sich auch bei der SA-Brigade für Urlaub abzumelden, zeigen weitere SA-Urlaubsscheine, z. B. vom 1.7.1938, in dem er angibt vom 4.7.1938 bis 10.8.1938 auf Reisen zu sein. 160 Aufschlussreich ist hier der Aktenbestand im Niedersächsischen Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, NSDAP-Gau Südhannover-Braunschweig bzw. Osthannover, Hann. 310 I Nr. 345 und Nr. 346 der SA-Standarte 82 Göttingen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die Stimmung in Göttingen war zu dieser Zeit durchaus antisemitisch aufgeladen,161 und vor allem von Seiten der SA kam es immer wieder zu gezielten Übergriffen gegen einzelne Juden, welche dann in der Pogromnacht von 1938 vorläufig eskalierten und »fokusartig das Zusammenspiel von organisiertem Verbrechen und schweigender Mehrheit«162 aufzeigten. Die 220 noch in Göttingen lebenden Juden wurden fast ausnahmslos »Opfer der brutalen Übergriffe von SS und SA, die vor allem in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers, aber auch noch in den beiden folgenden Tagen in Wohnungen und Geschäftsräume eindrangen, die Einrichtungen verwüsteten, die Lager plünderten, die Bewohner mißhandelten und ohne Unterschied Männer, Frauen und Kinder verhafteten.«163 Über die Aufgaben und die Organisation des SA-Sanitätsdienstes, in dem Stich so hochrangig tätig war, ist noch weniger bekannt.164 Er versorgte in erster Linie Kameraden, die im Einsatz verwundet wurden. Bereits seit 1927 gab es SAStandartenärzte, 1929 wurde bei den Stellvertretern der Oberabschnittsführer jeweils die Stelle eines SA-Oberarztes eingerichtet. Bis zur Neuorganisation des Sanitätsdienstes Mitte 1930 war die Anstellung von Sturm-, Brigade- und Gausturmärzten, wie Stich einer wurde, untersagt. Die medizinische Ver­sorgung sollten im Gesundheitsdienst ausgebildete SA-Männer übernehmen. Auf je dreißig SA-Männer sollte ein Sanitätsmann kommen. Eine Neuordnung sah die Einführung des Ranges eines SA-Sanitätstruppenführers vor, der vom SAStandartenarzt zu ernennen war. Da die SA im August 1932 mit 471.000 Mitgliedern bereits eine Massenorganisation war und, ähnlich wie die NSDAP, reihenweise Mitglieder gewann165, wurde durch den enormen Mitgliederzuwachs eine organisatorische Veränderungen notwendig, so dass 1930 eine Neugliederung des Gesundheitsdienstes der SA angeordnet wurde. Den Auftrag dazu erhielt Dr. Paul Hocheisen, der 1933 ebenfalls stellvertretender Präsident des Roten Kreuzes wurde, ebenso wie Generalinspekteur des Sanitätswesens der SA und SS. Im Zuge dessen wurde der bereits bestehende Sanitätsdienst verändert, indem vor allem das ärztliche Personal aufgestockt wurde. Damit reagierte die SA-Führung auch auf die deutliche Brutalisierung der innenpolitischen Auseinandersetzungen, ein funktionstüchtiges Sanitätswesen war geeignet, »gewisse 161 Vgl. Tollmien, Stadtgeschichte, S. 238 ff. 162 Ebd., S. 243. 163 Ebd., S. 244. Das Pogrom war in erster Linie eine Angelegenheit der SS, »die SA trat erst im Laufe des 10. November bei einzelnen Überfällen und Plünderungen in den Wohnungen auf und präsentierte sich im Übrigen in gewohnter Weise als Ordnungsmacht bei Absperrung und Sicherung der verwüsteten Geschäfte und bei den Löscharbeiten an der Synagoge.« 164 Vgl. Hahn, S. 73. 165 Während es im Herbst 1930 nur 60.000 Mitglieder waren, waren es im Januar 1931 schon 77.000 und im Dezember 1931 bereits 260.000. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Vorfälle leichter zu vertuschen.«166 Die »immer stärker werdende Terrorwelle« ließ den Sanitätsdienst noch dringlicher werden. Und so bekam die SA und mit ihr das Sanitätswesen eine ausgeweitete, militarisierte Organisationsform. Der vormalige Reichsarzt wurde Chef des Sanitätswesens, die Einführung dieses Titels »erfolgte nicht zufällig im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft. Sie geschah zu einer Zeit, in der die Bestrebungen der SA-Führung offensiv auf eine Militarisierung gerichtet waren. Trotz ablehnender Haltung der Reichswehr wurde eine Kooperation vereinbart; die SA sollte nach dem Willen der Reichswehr die vormilitärische Ausbildung und die Bereitstellung von Reserven übernehmen.«167 Nur approbierte Mediziner wurden als SA-Ärzte zugelassen, »wenn sie nicht bereits in Freikorps oder Reichswehr eine militärische Ausbildung erfahren hatten, mussten sie eine dreimonatige Grundausbildung absolvieren.« Dass Stich eine derartige Ausbildung absolvieren musste, ist nicht dokumentiert, was dafür spricht, dass er entweder in der Reichswehr oder Freikorps tätig war bzw. seine Zeit im Stahlhelm hier anerkannt wurde. Möglich ist auch eine Befreiung aufgrund seiner Erfahrung als Beratender Chirurg. Die Ärzte sollten als Fachberater ihrer jeweiligen SA-Führer fungieren – Stich war zeitweise beides in Personalunion. Sturmbannärzte, wie Stich 1934 einer war, mussten dafür sorgen, dass bei den Stürmen auf je dreißig SA-Männer ein Sanitätsmann kam, bei vier oder mehr Sanitätsmännern in einem Sturmbann oder einer Standarte konnte ein Sanitätskommando gebildet werden, welches ausschließlich aus Sanitätsmännern bestand und vom Sanitätsschar- oder Sanitätstruppführer ernannt worden war. Sanitätsstürme, wie Stich sie spätestens seit 1938 als Sanitätssturmführer befehligte, waren nur für besondere Fälle wie Aufmärsche oder größere Versammlungen vorgesehen, die Aufstellung solcher Stürme musste extra genehmigt werden.168 Jedoch war R ­ udolf Stich bei Weitem nicht der einzige approbierte Mediziner in Göttingen. Die SA war grundsätzlich eher mittelständisch geprägt, der Beamtenanteil betrug nur zwei Prozent, neben einem hohen Prozentsatz an An­ gestellten und Arbeitern, deren Anteil deutlich höher war als in der NSDAP. Allerdings passte sich die SA stark an das jeweilige lokale Milieu an. Verglichen mit den anderen elf Medizinern, die ebenfalls Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie waren, besaßen außer Stich lediglich Guleke169 und 166 Werner, S. 407. 167 Vgl. im Folgenden Hahn, S. 77. 168 Die Forschungsliteratur zur SA und speziell zur Sanitätsabteilung der SA ist überraschend dünn. Auch die Quellenlage insbesondere zur sozialen Zusammensetzung der SA ist schlecht, nach Longerich, S. 81 ff., gibt es nur einzelne, regionale Stichproben und keine generelle Auswertung der Mitgliedschaften. 169 25.4.1878–4.4.1958, Studium der Medizin in Berlin, Bonn, München und Straßburg, Lehrstuhlinhaber für Chirurgie in Marburg, ab 1926 in Jena. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Haberer170 eine Doppelmitgliedschaft in Parteigliederungen, sechs waren Mitglied in der NSDAP, fünf förderndes Mitglied der SS und drei ohne Partei­ mitgliedschaft. Alle waren sie jedoch Beratende Ärzte der Wehrmacht. Auf den ersten Blick fügt Stich sich also recht nahtlos in die Gruppe seines Standes ein, da der Anteil der NSDAP-Mitglieder unter Medizinern auch schon vor 1933 besonders hoch war. Ärzte schlossen sich im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sehr früh und zahlreich den Nationalsozialisten an, bis Januar 1933 waren sechs Prozent der Ärzteschaft der Partei beigetreten171, bis 1942 waren es mit 38.000 Ärzten die Hälfte der deutschen Mediziner. Ihre volle Bedeutung entfalten solche Zahlen jedoch erst dann, wenn man sie in Relation zu anderen akademischen Berufsgruppen betrachtet. Etwa 25 Prozent der deutschen Lehrer traten von 1933 bis 1945 der NSDAP bei; auch die Juristen, gemeinhin als besonders »anfällig« eingeschätzt, überschritten diesen Prozentsatz nie. Allerdings stellt Stich als Chefarzt mit seiner Mitgliedschaft in NSDAP, SA und SS eher eine Ausnahme dar, vor allem aufgrund seiner Alterskohorte, die sich »wesentlich resistenter gegenüber dem Regime erwiesen […], die sich zur bürgerlichen Elite zählten und von der Werteordnung des Kaiserreichs geprägt waren.«172 170 Hans von Haberer, 12.3.1975–29.4.1958, Chirurg, seit 1911 Lehrstuhlinhaber in Innbruck, danach in Düsseldorf, Köln und Lindenburg, 1935–1938 Rektor der Universität Köln, seit 1937 Mitglied der NSDAP und Förderndes Mitglied der SS, Beratender Chirurg und Generalarzt. Nach 1945 Entlassung aus allen Ämtern, dann 1948 Rehabilitierung. 171 Ein Beitrag von Martin Rüther im Deutschen Ärzteblatt 49/98 vom 7.12.2001, Geschichte der Medizin: Ärzte im Nationalsozialismus, Seite 3264 stellt fest, dass die Zahlen, die Kater seinem Standardwerk von 1989 zu Grunde legt über die Mitgliedschaft von Ärzten in der NSDAP, offenbar nach oben korrigiert werden müssen. Geht man früher von einer größeren Mitgliederquote aus, kann man kaum argumentieren, die Ärzte hätten im Gegensatz zu anderen privilegierten Berufsgruppen 1933 die weitere Entwicklung zunächst abgewartet und sich erst 1937 nach der wirtschaftlichen Stabilisierung mit dem Anstieg ihrer Einkommen, der Ausschaltung der jüdischen Kollegen sowie der Einrichtung der Reichsärztekammer in größerem Maße zum Parteibeitritt entschlossen. Rüther belegt seine Thesen anhand von Zahlen, die das Rheinland betreffen und die von Uwe Zimmermann im Rahmen einer Examensarbeit ausgewertet wurden. Es ist relativ schwer, diese Werte im Einzelnen zu beurteilen, da häufig lokale Faktoren das politische Verhalten beeinflussten, die aufgrund fehlender Spezialuntersuchungen kaum zu fassen sind. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Gegenden, in denen die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1933 weit unter dem Reichsdurchschnitt von 43,6 Prozent lag (zum Beispiel Aachen 26,7 Prozent, Köln 31,7 Prozent) und denen deshalb lange Zeit ein erhebliches Resistenzpotenzial gegen die NS-Ideologie unterstellt wurde, einen extrem hohen NSDAP-Mitgliedsbestand innerhalb der Ärzteschaft verzeichneten. Vielmehr waren es offenbar sozioökonomische Faktoren, wobei eine Differenzierung in Allgemeinmediziner, Fachärzte und angestellte beziehungsweise beamtete Ärzte den Schluss nahe legt, dass Erstere wie Letztere eine weitaus größere Nähe zur NSDAP zeigten als ihre spezialisierten Kollegen, wobei in aller Regel die ländlichen Gebiete einen höheren Anteil an NSDAP-Mitgliedschaften aufwiesen. 172 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Einerlei: R ­ udolf Stich war ein guter SA-Mann. Seine Führerbeurteilungen schildern ihn als jemand, der in allen Kategorien fähig ist: in seiner geistigen und körperlichen Veranlagung, nach seinem Charakter, im Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Kameraden und Untergebenen. Auch seine soldatische Veranlagung und sein Auftreten im Dienst sind tadellos. Aufgrund seiner bescheinigten »weltanschaulichen Festigung NSDAP« wird er für die besondere Verwendung als Sanitätsführer vorgeschlagen und wenig später bekleidet er einen solchen Posten. Seine Vorgesetzten sind »der festen Überzeugung, dass er in nationalsozialistischer Beziehung fest und treu hinter unserem Führer steht.«173 Es spielt keine Rolle, dass Stich bereits älter ist oder dass er eine Klinik und zeitweise eine Fakultät zu leiten hat: »Stich steht zu jeder Zeit trotz seines Alters und seiner dienstlichen Inanspruchnahme zur Verfügung der SA .«174 Er zieht sich nicht zurück und kommt seiner Pflicht am Vaterland nach. Denn­ Rudolf Stich ist ein »einwandfreier Nationalsozialist von gerader Haltung. Geistig weit über den [sic!] Durchschnitt. Als Professor der Chirurgie eine über die Grenzen Deutschlands bekannte Persönlichkeit. Sein Auftreten in und ausser Dienst SA-mäßig einwandfrei.« Er ist darüber hinaus »auf seinem Gebiet als Professor der Chirurgie ein weitbekannter hervorragender Mann, der sich zu jeder Zeit der SA uneigennützig zur Verfügung stellt.« Stich hat den Habitus der SA so verinnerlicht, dass er sich auch außerhalb des Dienstes entsprechend verhält und er beweist eine bedingungslose persönliche Einsatzbereitschaft, trotz seines Alters, seiner Position und seines »verantwortlichen Berufes«. Und als Hochschullehrer und prädestinierter Erzieher war er seit 1936 sogar verantwortlich für die fachliche Ausbildung der SA-Sanitätsführer der Brigade – diese Aufgabe führte er stets »tadellos« aus. ­Rudolf Stich war also auch »ein in jeder Beziehung hervorragender San-führer«. Im April 1934 legte Stich seine Erklärung zur »arischen Abstammung« ab und erklärte »auf Ehre und Gewissen«, »dass ich deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseneinschlag bin, keiner Freimaurerloge oder einem sonstigen Geheimbund angehöre oder angehört habe.« Ebenso versprach er auf seinem Aufnahme- und Verpflichtungsschein vom 12.  April 1934, »unbedingte Parteizucht und gute Kameradschaft zu halten« – und das nimmt er ernst und es wird ihm von seinen Vorgesetzten attestiert. Sie schließen von Stichs Charakter, seiner »steten vorbildlichen Einsatzbereitschaft«175 auf seine politische Zuverlässigkeit. Denn Stich sei intelligent und regsam, er hat einen untadeligen Charakter, so dass er sich korrekt, gerecht und sozial seinen 173 Dienstleistungszeugnis vom 3.4.1935 der SAR der NSDAP Standarte R 82, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich. 174 Personal-Antrag auf Beförderung zum Sanitäts-Obersturmführer in der SA-Brigade 57 vom 15.12.1938, R 82, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich. 175 Gutachten vom 23.7.40, Bundesarchiv Berlin, R 82, Personalunterlagen R ­ udolf Stich VBS 1 1120001356. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Mitmenschen gegenüber verhalte176. Selbst der sehr kritische NS -Dozentenbund an der Georgia Augusta erkennt an: »Unter den alten Ordinarien […] ist er unter allen Umständen derjenige, der den nationalsozialistischen Belangen in und außerhalb der Hochschule das grösste Interesse entgegenbringt […]. So leistet er heute ununterbrochen SA-Dienst und das hätte er 3 Jahre vor seiner Emeritierung aus Konjunkturgründen wirklich nicht nötig.«177 Das sieht auch der damalige Kurator der Universität Göttingen Bojunga178 so, der 1945 feststellt, Stich »ist in der SA in einem seiner Stellung entsprechenden Rang tätig gewesen und hat sich auch über die bloße Parteizugehörigkeit hinaus all die Jahre hindurch zur Partei bekannt.«179 Das ist wahr, Stich bekennt sich. Er bekennt sich im öffentlichen wie im privaten Raum. Seinem Vorgesetzten und hochrangigen NS -Mediziner Paul­ Rostock180 gegenüber betont er 1945: »Ich bin wirklich überzeugter Nationalsozialist geworden, trotz meiner Jahre, vielleicht schon immer gewesen, ohne es früher selbst recht gewusst zu haben.«181 Und selbst anlässlich einer Gratu­ lation zum 80. Geburtstag an Theodor Lochte 1944 äußert er noch seinen unbedingten Willen, an den »Endsieg« zu glauben. In einem privaten Briefwechsel mit seinem Freund Karl Heinrich Bauer führt er dies selbst kurz vor Kriegsende weiter aus: »Im Übrigen glaube ich, dass die Vergeltung für Terrorangriffe, von denen nicht etwa nur das Propagandaministerium, sondern auch der Führer selbst gesprochen hat, näher ist, als wir gewöhnlichen Sterblichen annehmen. Und ich glaube, dass diese Vergeltung so furchtbar ausfallen wird, dass die feindlichen Terrorangriffe dann vielleicht bald von selbst aufhören. […] Ich weiß, ich stehe mit meinem Optimismus 176 Beurteilung ohne Datum, vermutlich aber von Anfang 1934 aus der SA-Akte, R 82, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich. 177 Göttinger Hochschulgruppe des Dozentenbundes, SA-Akte, R 82, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich. 178 Helmut Bojunga, 24.6.1898–21.9.1958, Jurist, Ministerialrat im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, ab 1934 Ministerialdirektor, 1938 bis 1953 Kurator der Georg-August-Universität Göttingen, 1953/54 Staatssekretär im Kultusministerium des Landes Niedersachsen, 1955 bis 1958 Präsident der Klosterkammer Hannover. 179 Bojunga an den Oberpräsidenten in Hannover am 16.7. aus dem Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte ­Rudolf Stich Kuratorium, Kur. PA Stich. 180 Paul Rostock, 18.1.1892–17.6.1956, 1927 Oberarzt in Bochum, seit 1933 Chefarzt in Berlin, seit 1936 ao. Professor, seit 1937 NSDAP-Mitglied, seit 1940 Mitglied im NS-Ärztebund, Beratender Chirurg des Sanitätsinspektionsdienstes des Heeres, von Hitler zum ao. Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens, Stellvertreter Karl Brandts, Leiter des Amts für Medizinische Wissenschaft und Forschung, für die Koordination von Medizinversuchen verantwortlich, im Nürnberger Ärzteprozess freigesprochen, danach weiter als Chefarzt tätig. 181 ­Rudolf Stich, Brief an Paul Rostock, Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen vom 18.1.1945, Universitätsarchiv Göttingen, Med Fak. Ordner 12. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Im Kaleidoskop: »Überzeugter Nationalsozialist« Im Kaleidoskop: »Überzeugter Nationalsozialist« 

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ziemlich einsam da, aber ich lasse ihn mir nicht nehmen.« Denn: »Es kann ja unmöglich alles nur Gerede sein, was man von sonst vernünftigen Menschen hört, die sich der Verantwortung ihrer Aussagen bewusst sind.«182

Und so stehen am Ende, nach dem verlorenen Krieg, die Worte, die ­Rudolf Stich seinem Freund Georg Benno Gruber gegenüber äußert: Stich hätte in der Zeit direkt nach dem Krieg, als er von den Alliierten inhaftiert war und ihn ein großer Zuspruch der Göttinger Bevölkerung erreichte, auf die Idee kommen können, er selbst »sei allenthalben geliebt und verhätschelt, ja [er] sei geradezu ein ganz besonderer Kerl.« Doch Stich selbst relativiert, indem er sarkastisch sagt, er habe nicht die Gabe, dies zu glauben und selbst wenn, »hätten mich die Engländer trotz aller Zeichen des Vertrauens und der Anteilnahme anderer Mitmenschen inzwischen zu der Ansicht belehrt, dass ich weiter nichts als ein gefährlicher Nationalsozialist sei. So laufe ich dann nicht Gefahr, stolz oder gar eingebildet zu werden.«183 Doch Göttingen ignorierte die politische Einstellung seines herausragenden Ordinarius’ und späteren Ehrenbürgers. Es war allgemein bekannt, »dass Stich ein Nazi war.«184 Es wurde aber später nie thematisiert, weder in der städtischen Öffentlichkeit noch im kleinen Kreis. Bauer äußert 1945 sogar Mitleid für »Vater Stich«: »Sicher hat er sich bis zum letzten Augenblick exponiert, wollte er sich ja schon seit Jahren in nichts belehren lassen. Wieviel furchtbarer muss das alles, was schon für uns furchtbar ist, furchtbar sein für die, die den Worten jener Verbrecher geglaubt haben, bis zuletzt.«185

182 Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich, Cod. Ms. R. Stich, 16: Worte zum 80. Geburtstag. 183 Brief Bauer an Thea Tschackert vom 15.5.1945, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 184 Erinnerungen von Hans-Jürgen Peiper. Gespräch mit Hans-Jürgen Peiper (Nach-Nachfolger von ­Rudolf Stich an der Chirurgischen Klinik Göttingen und Direktor der Poliklinik für Allgemeinchirurgie 1969–1994), am 17.1.2013. 185 Brief von Karl Heinrich Bauer an Thea Tschakert, 15.5.1945, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Der Mediziner ­Rudolf Stich

Vorbild I: Der Arzt-Vater Eduard Stich Im Kaleidoskop: Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Nürnberg ­ udolf Stich hatte eine präzise Vorstellung davon, welche Aufgaben ein Arzt R inner­halb einer Gemeinschaft übernehmen sollte. Maßgeblich waren diese Ansichten durch seinen Vater Eduard Georg Stich geprägt. Wie dieser seinen Beruf ausfüllte und die Rolle des Arztes innerhalb einer städtischen Gemeinschaft begriff, wirkte nachhaltig auf seinen Sohn, denn dieser berief sich selbst noch im hohen Alter auf seinen Vater und dessen Vorbild als Arzt.1 Eduard Stich wurde am 17. Mai 1848 als erstes von insgesamt acht Kindern des Ehepaares Johann Lorenz Stich und Anna Luise Franziska Müller in Nürnberg geboren. Er besuchte das Humanistische Gymnasium in seiner Heimatstadt und studierte Medizin in Nürnberg, Würzburg und Erlangen. Dort lernte er bei Hugo Wilhelm von Ziemssen2, Friedrich Albert von Zenker3, Walter Hermann Heineke4 und knüpfte eine »nachhaltige Freundschaft« zu Arnold Heller. In den 1870er Jahren ließ sich Eduard Stich als Arzt in Nürnberg nieder und trat dem Verein für öffentliche Gesundheitspflege bei. Die Mitglieder des Vereins, vorwiegend Ärzte und Apotheker, berieten seit den 1860er Jahren als eine Art Hygienekommission den städtischen Magistrat. In Diskussionen beispielsweise über den Um- und Ausbau der Kanalisation oder die Bereitstellung des Trinkwassers für die rasch wachsende Industrie­ stadt, brachten sie ihre praktischen Erfahrungen als Krankenhausärzte oder die Erkenntnisse ihrer wissenschaftlichen Forschungen im Bereich der Hygiene 1 Vgl. exemplarisch ­Rudolf Stich, Rede auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, dokumentiert in Körte, W. u. a. (Hg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 61. Tagung, 24. bis 27 April 1937, Berlin 1937. (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 183. Band), S. 3–9. 2 Wilhelm von Ziemssen, 13.12.1829–21.1.1902, Pionier der Erforschung der Herzphysiologie, Reformer der klinischen ärztlichen Ausbildung, Neugestalter des Münchener Krankenhauses links der Isar und gemeinsam mit Friedrich Albert von Zenker Gründer des Archivs für klinische Medicin, vgl. Angelika Pierson, Hugo Wilhelm von Ziemssen (1829–1902), Die wissenschaftlichen Arbeiten, München 2006, online einsehbar unter: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/6184/1/Pierson_Angelika.pdf [eingesehen am 21.11. 2013], S. 273. 3 Friedrich Albert von Zenker, 13.3.1825–13.6.1898, Pathologe. 4 Walter Hermann Heineke, 17.5.1834–28.4.1901, Chirurg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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ein.5 Um die Jahrhundertwende verfügte der Verein über mehr als fünfhundert Mitglieder. Das waren dann in Nürnberg, wo für rund dreihunderttausend Einwohner6 circa einhundertfünfzig Ärzte7 zuständig waren, auch Lehrer, Kaufleute, Fabrikanten und weitere Angehörige des Städtischen Bürgertums.8 Eduard Stich engagierte sich innerhalb des Vereins vorwiegend für das Waisenhaus sowie das Alten- und Pflegeheim. Ein bis zwei Mal im Monat veranstaltete der Verein öffentliche Referate mit anschließenden Diskussionen, vorwiegend über »hygienische Tagesfragen«, wie Eduard Stich, der Schriftfrüher des Vereins, in einem Tätigkeitsbericht ausführte. Mit diesen Veranstaltungen wollte man »das Interesse für die Bestrebungen der öffentlichen Gesundheitspflege wecken«9. Daneben brachte sich Stich seit 1881 federführend in die Vereinskommission für »Ferien-Kolonien« ein, die zum Zweck der Erholung und Gesundung »arme kränkliche Schulkinder« für ein paar Wochen auf dem Land unterbrachte. Später sollte er hierfür auch sein Haus und Grundstück in Weißenburg, rund sechzig Kilometer südlich von Nürnberg gelegen, zur Verfügung stellen.10 Damit nahm Eduard Stich eine gewichtige Aufgabe innerhalb der sogenannten öffentlichen Gesundheitspflege wahr, deren Ziel im 19. Jahrhundert vor allem unter dem Druck eines starken Bevölkerungswachstums die Hebung der hygienischen Standards, nicht nur des einzelnen Individuums, sondern ganzer Bevölkerungsgruppen war. Auf Grundlage der Erkenntnisse der Bakteriologie und der experimentellen Hygiene machte der Verein die Einwohnerschaft der Stadt – so die bürgerliche Binnenperspektive von Stich – theoretisch mit den Gebieten der öffentlichen Gesundheitspflege bekannt11 und war somit Teil einer bürgerlichen Sozialreform.12 Eine zentrale Aufgabe dieser öffentlichen Gesundheitspflege war nach Ansicht von Stich, das »Leben und Schutz des Individuums« und die Mitarbeit am Ausbau der hygienischen Wissenschaft.13 * * * 5 Vgl. Hermann Glaser, Industriekultur in Nürnberg. Eine deutsche Stadt im Maschinenzeitalter, München 1980, S. 235 6 Schmuhl, Die Herren der Stadt, S. 215. 7 Vgl. Glaser, S. 235. 8 Vgl. Hofrat Dr. Eduard Stich, Thätigkeit des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, in: Wilhelm Beckh u. a. (Hg.), Gesundheitspflege in Nürnberg an der Wende des 19. Jahrhunderts, Nürnberg 1899, S. 276–276. 9 Glaser, S. 242. 10 Ebd. 11 Vgl. Eduard Stich, Thätigkeit des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege. 12 Vgl. Jürgen Reulecke, Von der »Hygienisierung« der Unterschichten zur kommunalen Gesundheitspolitik, in: Ders. u. Adelheit Gräfin zu Castell Rüdenhausen (Hg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von »Volksgesundheit« und kommunaler Gesundheitspolitik im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 11–20, hier S. 12. 13 Wilhelm Fleischmann u. Eduard Stich, VI Fürsorge für Arme, Arbeitslose, Arbeits­ invalide, in: Wilhelm Beckh u. a. (Hg.), Gesundheitspflege in Nürnberg an der Wende des 19. Jahrhunderts, Nürnberg 1899, S. 157–193, hier S. 167. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Im Kaleidoskop: Der Bahnarzt Doch Eduard Stich war nicht nur niedergelassener Allgemeinarzt in Nürnberg und Mitglied des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, sondern auch Militärund Bahnarzt. Kurz vor Beginn des deutsch-französischen Krieges wurde er in Erlangen promoviert, bevor er als freiwilliger Unterarzt 1870/71 an diesem teilnahm14. Im Anschluss daran kehrte Stich in seine Heimatstadt zurück, ist zunächst als Polizeiarzt tätig, bevor er seine Privatpraxis eröffnet und schließlich als Medizinal-Beamter in den Dienst der Bayerischen Staats-Eisenbahn eintrat.15 Traditionell existierte im 19. Jahrhundert in Bayern ein Staatsbahn-System mit nur wenigen privaten Netzen, die wiederum lediglich aufgrund finanzieller Engpässe des Bayerischen Königreiches entstanden sind. Eines davon war das Ostbahn-Netz, gegründet 1856, mit Strecken, die unter anderem Passau, Nürnberg, München, Regensburg oder Fürth anbanden.16 Nürnberg entwickelte sich somit zwischen den 1840er und den 1870er Jahren zum Eisenbahnknotenpunkt mit mehreren tausend Mitarbeitern.17 Diese Ostbahngesellschaft verfügte bereits seit 1860 über einen bahnärztlichen Dienst. Trotz der Angliederung des Bayerischen Bundestaates an das Deutsche Reich 1871 konnte sich das Königreich einige Vorrechte sichern, wie beispielsweise die Bewahrung der eigenen Armee oder der Eisenbahnbetriebe, die von der Reichseisenbahn organisatorisch unabhängig blieben. Im Jahr 1875 wurde das Ostbahn-Netz verstaatlicht und die Bayerische Staatseisenbahngesellschaft übernahm die Errungenschaft ihrer medizinischen Institution. Bereits seit 1877 gab es in allen Eisenbahnbezirken Bayerns Bahnärzte, deren Aufgabengebiet die Gesundheitsfürsorge und Arbeitspsychologie wie beispielsweise die Einstellungsuntersuchungen, die Kontrolle der hygienischen Verhältnisse am Arbeitsplatz oder auch die Not­ versorgung der Bahnmitarbeiter umfasste.18 Infolge der Einführung der Krankenversicherung und der Errichtung der Krankenkassen in den Jahren 1883/84 übernahmen die Bahnärzte gleich­zeitig die Aufgabe der Bahnkassenärzte für die Bayerische Staatseisenbahn. Damit war ein enormer Stellenausbau innerhalb des Medizinischen Dienstes der Bahn nötig. In diesem Zuge wurde auch Eduard Stich verpflichtet. Er war vermutlich von 1884 bis 1925 als Bahnarzt tätig. Der Bahnarzt stand jedoch nicht im Dienst 14 Während des Ersten Weltkrieges leitete Eduard Georg Stich zwei Lazarette in Nürnberg. 15 Vgl. Fleischmann u. Eduard Stich, VI Fürsorge für Arme, Arbeitslose, Arbeitsinvalide. 16 Vgl. Elmar Oberegger, Bayerische Ostbahn, online einsehbar unter: http://www.ober egger2.org/enzyklopaedie/bayost.htm [eingesehen am 26.11.2013]. 17 Glaser, S. 190. 18 Vgl. Lothar Gall, Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, in: Ders. u. Manfred Pohl (Hg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 13–63, hier S. 50. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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der Krankenkassen, sondern der Bahnverwaltung, die in Bayern ein »vorbildliches Medizinalsystem mit einem straff organisierten bahnärztlichen Dienst«, dem sogenannten Institut der Bahnärzte, errichtete.19 In dieser Funktion als Staatsbediensteter wurde Stich 1906 zum Hofrat und schließlich 1916 zum Geheimen Sanitätsrat ernannt. Er war damit einer von insgesamt vierzehn Bahnärzten in Nürnberg, der seine Praxis für diejenigen Bahnbediensteten, die in seinem Bezirk wohnhaft waren, täglich – auch an Sonn- und Feiertagen – von zwei bis drei Uhr geöffnet hatte. Die ärztliche Betreuung der Bahnangestellten umfasste auch die Überwachung derselben und ihrer Familienmitglieder: zügeln die Bahnbeamten ihren Alkoholkonsum, ernähren sie sich gesund, sind die sanitären Anlagen in einem akzeptablen Zustand, wie krank ist der Angestellte tatsächlich? All diese Fragen beschäftigten die Bahn-Mediziner nicht in erster Linie unter der Maßgabe des Schutzes des Individuums, sondern im Interesse der Staatsbahn. Denn nur ein gesunder, arbeitsfähiger Beamter kann seine Aufgaben über viele Jahrzehnte wahrnehmen: Wenn Lokführer, Bremser und Schienenwärter ihren Rauschmittelkonsum mäßigen, hinreichend schlafen und sich ausreichend ernähren, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie Unfälle und somit enorme Kosten für die Bahn verursachen. Eben zu dieser Thematik referierte Eduard Stich am 13.  September 1898 anlässlich der Verhandlungen des Verbandes Deutscher Bahnärzte in Köln: »Die Verwaltungen staatlicher und privater Eisenbahnen sind heutzutage mit Recht bestrebt, nur ganz gesundes und ausdauerndes Menschen-Material in Dienst zu stellen, denn die derzeitigen gesteigerten Anforderungen des Dienstes verlangen in allen Dienstessparten einen ganzen Mann, und von der Gesundheit des Personals hängt, ebenso wie von der Tadellosigkeit der Betriebsmittel, das Wohl und Wehe des reisenden Publikums ab«20. Und weiter: »Ist nun gesundes und kräftiges Eisenbahn-Personal eingestellt, dann muss die Verwaltung auch bestrebt sein, dasselbe so lange als möglich vollkommen diensttauglich zu erhalten.«21 Hier zeigt sich auch exemplarisch, dass das Verständnis von Gesundheit im ausgehenden 19.  Jahrhundert wenig mit der heutigen Auffassung als Wohlbefinden, Schmerzfreiheit und Bedingung für ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben zu tun hatte, sondern ausschließlich als Arbeitsfähigkeit ausgedeutet wird.22 Und für die Er19 Bernhard Schossig, Unter dem geflügelten Rad. Arbeiten und Leben bei der Eisenbahn in München und im südlichen Bayern, Books on Demand 2001, S. 95. 20 Vortrag von Eduard Stich, Ueber die Maßnahmen zur Erhaltung eines gesunden Eisenbahn-Personals, S. 6. 21 Ebd., S. 8 22 Vgl. Reinhard Spree, »Volksgesundheit« und Lebensbedingungen in Deutschland während des frühen 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Werner Friedrich Kümmel (Hg.), Bd. 7, Stuttgart 1990, S. ­75–113, hier S. 75–78. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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haltung dieser Arbeitsfähigkeit, der das soziale Leben der Bahnbediensteten vollkommen untergeordnet sein sollte, waren  – so beschrieben sie zumindest ihre eigene Tätigkeit – die Bahnärzte federführend verantwortlich. Demzufolge hatten die Bahnärzte einen tiefen Einfluss auf die Organisation des Alltags der Bahnangestellten.23 Um ihrer Aufgabe, der Gewinnung von »körperlich leistungsfähigem Personal durch Ausschluss aller nicht vollkommen gesunden Individuen«24, gerecht zu werden, musste ein standardisiertes Verfahren für die Einstellung der Bahn-Beamten entwickelt werden. Eduard Stich war daran maßgeblich be­ teiligt. Er entwickelte die Tauvo, Tauglichkeitsprüfung der Bahnbediensteten. Am 18. und 19. September 1902 stellte er auf dem V. Verbandstag der Deutschen Bahnärzte in München vor siebenhundert Bahnärzten sein Einheitsformular für die Einstellungsuntersuchung zur Diskussion. Es trug den »schärfsten Bestimmungen aller deutschen Bahnverwaltungen Rechnung«25 und wird beinahe vollständig in die reichsweite Vorschrift für die Feststellung der körperlichen Tauglichkeit für den Eisenbahndienst ab 1909 übernommen. Eine bedeutende Vertretung der Interessen und Ziele der Bahnärzte war der von Otto Breahmer gegründete »Verein der Eisenbahn- und Bahnkassenärzte«. Der Verein tagte oft in der Wohnung von Breahmer26, einem äußerst bekannten Berliner Arzt und Wegbereiter der ärztlichen Standesorganisation. Auch­ Eduard Stich war dort häufig anwesend.27 In diesem Kreise wurden immer wieder Maßnahmen zum Schutz der Bremser, Zugbegleiter, Wechselwärter, Heizer, Lokomotivführer und des Stationspersonals diskutiert, die die Staatsbahngesellschaften auf Anraten der Bahnärzte reichsweit ergreifen sollten. So wurden in den 1890er Jahren in Bayern eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt28, wie die Errichtung von Bädern in größeren und neueren Bahnanlagen, ein Angebot von preiswerten Mahlzeiten bei den Bahnhofswirten, Aufklärung über die Schädlichkeit des Alkohols, Überdachung und seitliche Schließung der Führerstände in den Lokomotiven, Errichtung von Schutzhäuschen über den Bremsersitzen oder auch der Bau von mit Stroh und Filzmatten ausgelegten Schutzkästen für das an der Bahnsteigsperre beschäftigte Personal. 23 Vgl. zum Prinzip hierzu auch grundlegend: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977. 24 Vortrag von Eduard Stich, Ueber die Maßnahmen zur Erhaltung eines gesunden Eisenbahn-Personals, S. 9. 25 K. Meister, Eduard Stich – Lebensbild eines Bahnarztes, in: Ärztlicher Dienst, o. J., H. 10 26 Vgl. hierzu: Ebd. 27 Carl Gottfried Otto Braehmer, 1.2.1838–3.8.1902, Studium der Medizin in Greifswald, Berlin, Rostock, Promotion 1863 in Greifswald, seit 1870/71 praktizierender Arzt, seit 1887 Sanitätsrat und seit 1897 Geheimer Sanitätsrat. Vgl. Julius Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1901, S. 225. 28 Hierzu und im Folgenden, vgl. Schossig, S. 98 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die Bahnärzte verstanden sich nicht nur als Experten, als »Hygieniker«, die allein für die umfassende Gesundheit und Gesunderhaltung des Bahn­ personals in allen Bereichen verantwortlich sein können und aufgrund ihrer Spezialkenntnisse auch sollten, sondern auch gleichzeitig als Erzieher des Bahn­ personals. Sie definierten ihre eigenen Kompetenzen und Einflussbereiche, so auch Eduard Stich bei seinem Referat in Köln. Er forderte, dass die Bahnärzte den Bahnbeamten mit jährlich wiederholten Vorträgen über die »hygienischen Anforderungen im Eisenbahndienst aufklären« und Bedienstete behandeln sollten. Darüber hinaus plädierte er für die Institutionalisierung eines Oberarztes an jeder Direktion beziehungsweise jedem Bahnoberamt. Dieser sollte bei Neubauten der Bahn auf hygienische Anforderungen achten, ebenso die Einhaltung der Dienst- und Urlaubszeiten des Personals überwachen, die Wohnungen der Bahnmitarbeiter kontrollieren, darüber wachen, dass das Personal in seiner dienstfreien Zeit sich auch tatsächlich erholt und weder »trinkt, statt zu ruhen, spielt, statt zu schlafen.«29 Mit der Organisation als Bahnärzte und dem damit verbunden Eingriff in den privaten Bereich der Bahnangestellten trugen Eduard Stich und seine Standesgenossen zur Professionalisierung des Arztberufes und zur Ausweitung der Idee der vielfältigen und neuen Erkenntnisse der Hygiene auf ganze Bevölkerungsgruppe bei. Die Selbstorganisation von Eduard Stich ist in den Gesamtkontext der Veränderung der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert zu stellen, indem sich medizinisch-hygienische, auch ökonomische und herrschaftsrational-politische Begründungen immer mehr durchsetzen. Daneben ging es auch zunehmend weniger um die Behandlung des konkreten Krankheitsfalls, sondern vermehrt um die Vorsorge. Ziel der Aktivität des Arztes, wie Eduard Stich seine Rolle definierte, war das gesunde, taugliche, vor allem arbeitsfähige Individuum, während die Kranken zunehmend abgelehnt und aussortiert wurden. Und darin sollte ihm sein Sohn, der bis ins hohe Alter verehrend zu seinem Vater aufblickte, in nichts nachstehen. Eduard Stich war auch bezüglich der Einstellung zur deutschen Sprache ein Vorbild für seinen Sohn. Geprägt durch seine Mitgliedschaft im Pegnesischen Blumenorden achtete der Vater, wie auch später der Sohn, auf die Vermeidung von Fremdwörtern und Anglizismen30. Die »Sprachreinigung«31 ist mithin kein spezifisches Produkt des Nationalsozialismus, wie gelegentlich unterstellt wird,

29 Vgl. Vortrag von Eduard Stich, Ueber die Maßnahmen zur Erhaltung eines gesunden Eisenbahn-Personals, S. 14. 30 Vgl. Alan Kirkness, Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789–1871. Eine historische Dokumentation, Teil I, Tübingen 1975, S. 407. 31 Dass unter diesem Begriff im Wandel der Zeit unterschiedliche Konzepte gefasst werden, darauf weist auch Alan Kirkness in seiner Einleitung hin. Kirkness, Zur Sprachreinigung im Deutschen 1789–1871. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sondern hatte ihren Ausgangspunkt in der Mitte des 19.  Jahrhunderts. Der Sprachpurismus korrelierte mit dem Wiederaufleben des Nationalgefühls und wurde um Stichs Geburt, gerade in Vereinen wie dem Blumenorden, neu institutionalisiert. Der preußische Oberbaurat Sarrazin setzte sich für eine Reinigung der Amtssprache der Eisenbahn ein – ein Trend, der nicht an Eduard Stich vorbei gegangen sein dürfte. ­Rudolf Stich sollte, gerade zwischen 1933 und 1945, die Sprachreinigung deutlich weiter treiben. Er lässt in seinen Schriften und Rezensionen nicht nur eine Schnittmenge mit dem nationalsozialistischen Vokabular32, sondern vor allem Parallelen in der weltanschaulichen Grunddisposition erkennen. Stich befürwortet den »völkischen Purismus« und betont in diesem Zusammenhang erneut den Aspekt der Gemeinschaft, hier der Sprachgemeinschaft, die durch unverständliche Fremdwörter gespalten werde. Die Sprachgemeinschaft, genau wie die »Volksgemeinschaft«, stiftet eine kollektive Identität.33 Es handelt sich also auch um einen »national-erzieherischen« Auftrag: deutsch sprechen, deutsch denken, deutsch sein. »Gedenke auch, wenn du die deutsche Sprache sprichst, daß du ein Deutscher bist.«34 Sprache ist darüber hinaus das Kriterium, welches Stich in nahezu jeder Rezension in seiner Zeitschrift Bruns’ Bei­ träge zur klinischen Chirurgie diskutiert und welches ihn in besonderer Weise für einen Autoren einnimmt oder gegen ihn aufbringt. Stichs bürgerliche Prägungen aus dem Kaiserreich, die jedoch in dieser Hinsicht mit der Zeit eine Öffnung zum Nationalsozialismus erkennen lassen, werden, wie noch zu zeigen sein wird, in seinen Rezensionen35 und in seiner Wahrnehmung von Krieg deutlich erkennbar. Lobenswert findet Stich Texte, die »knapp und klar geschrieben« sind, »flüssig«, »in guter sprachlicher Diktion«. »Meister des Wortes […] können in wenigen Sätzen klar zum Ausdruck bringen, wozu andere langatmiger Ausführungen bedürfen«. Anschaulich und lebendig geschriebene Texte in einer »farbigen und fesselnden Sprache« sind für Stich auch im Bereich der Wissenschaft wichtig. Die Fähigkeit durch Sprache eine »wohltuende Ordnung« zu schaffen, so dass »jeder Feind von Unklarheiten sich mit mir darüber freuen [wird]«, 32 Zur Bedeutung, Metaphorik und Instrumentalisierung von Sprache im Dritten Reich ist grundlegend Victor Klemperer, LTI, Frankfurt a. M. 1975. 33 Zur kollektiven Identitätsstiftung durch Sprache vgl. Anja Stukenbrock, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland ­(1617–1945), Berlin 2005, hier S. 312. 34 Slogan des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins um 1891, zitiert nach Alan Kirkness, Das Phänomen des Purismus in der Geschichte des Deutschen, in: Werner Besch u. a. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Band 1, Berlin 1998, S. 407–416, hier S. 413. 35 Da es hier nicht auf die rezensierten Werke ankommt, wird auf einen Einzelnachweis verzichtet. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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begeistert Stich. Die Präferenz einer solchen Sprache spiegelt auch seinen Charakter, dem nichts über Präzision und Direktheit geht. Und noch 1955 schreibt er: »Trotz der zahlreichen Ausländer, die an dem Buch mitarbeiten, ist es in erfreulich gutem Deutsch geschrieben.« Fremdwörter jedoch sind Stich ein Graus: Jeder Autor findet seinen Gefallen, der sich bemüht, »sein Buch nicht mit entbehrlichen Fremdwörtern zu ver­unzieren«. Als überzeugter Sprachpurist fordert er, »mit entbehrlichen Fremdwörtern sparsamer« umzugehen beziehungsweise sie bewusst ganz zu vermeiden. Dazu hält er vor allem seine Schüler an – er nimmt seine erziehe­ rische Aufgabe und Vorbildfunktion auch hier äußerst ernst. »Dankbar wird der Freund der deutschen Sprache anerkennen, dass […] die Namensgebung da, wo es irgend möglich ist, besonders bei klinischen Ausführungen, deutsch ist. Der ärztliche Nachwuchs und auch manch älterer Arzt können davon lernen«.

Er scheut nicht mal davor zurück, seine Forderungen auch gegenüber seinen Kollegen als neugewählter Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu formulieren: »Seien Sie überzeugt, ich werde mich bemühen, die Tagung straff zu führen, bei allem Verständnis für das wirklich wichtige. Und dann, wenn es möglich wäre, die Vorträge bei aller Kürze und Klarheit auch noch in einem richtigen und gepflegten Deutsch hören zu dürfen, in gut verständlichen Sätzen, denen ein gewisses Maß künstle­ rischen Empfindens nicht fehlt, dann, meine Herren, würden Sie uns allen eine ganz besondere Freude bereiten.«36

Allerdings bedient er sich in seinem Bestreben, die deutsche Sprache rein zu halten, der nationalsozialistischen Ausdrucks- und Denkweise, so dass Tradition und die Tendenz der Zeit miteinander verschmelzen: »Sehr begrüßt habe ich die Ausmerzung von 800 Fremdausdrücken. Das könnten sich viele andere Lehrbücher aus allen Gebieten der Heilkunde zum Muster nehmen.«

Wie radikal Stich diese Forderungen stellt und wie pedantisch er sie einfordert, zeigt sich, wenn er verlangt, dass in einer Neuauflage »auch die vielen entbehrlichen Fremdwörter ausgemerzt würden, die ich leider immer wieder in wissenschaftlichen ärztlichen Arbeiten feststellen muss, [so] wären ich und mit mir andere, die für unsere schöne deutsche Erfahrungssprache eintreten, dankbar. Auf wenigen Seiten fand ich bei Krömer ›Prädilektion‹, ›Beobachtungsmaterial‹, (Krömer und viele andere Verfasser – er nennt sie natürlich ›Autoren‹ – scheinen nicht zu wissen, dass wir im Weltkrieg oft geschmäht wurden, weil in unseren Zeitungen von ›Menschenmaterial‹ gesprochen wurde), ferner ›systematisch‹, ›prinzipiell‹, ›relativ‹, ›Publikation‹, ›Kontrolle‹, ›Prozess‹, ›Progredienz‹, ›Gefahrenmoment‹, 36 Rede Stichs, Körte, S. 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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und viele andere. Man möchte jeden Arzt, der sich mit der Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten abgibt, raten, vorher ein ›Entschwelgungsbuch‹ wie den Engel usw. zu Rate zu ziehen.«

In all diesen Kommentaren zeigt sich immer wieder das zeitgenössische, nationalsozialistische Vokabular, welches Stich wie selbstverständlich verwendet, wenn er zum Beispiel fordert gewisse Behandlungsvorschläge »auszumerzen«. Die Verwurzelung in Begrifflichkeiten und Problemlagen aus der Zeit des Natio­nalsozialismus zeigt sich auch noch 1952: »Wenn alle Ärzte mehr Interesse an der Behandlung des Krampfaderleidens aufbrächten und nicht vielfach die Hände einfach in den Schoß legten […], dann würden die geplagten Kranken nicht immer wieder zu Kurpfuschern laufen, und dann würde die konservative Behandlung manche Komplikation, die im Laufe der Jahrzehnte auftritt, ausschalten.«

Und wenn 1935 »das Verständnis für erbbiologische Fragen nur langsam in die Ärztewelt ein[dringe]«, so läge auch das daran, dass die Erbforscher sich »einer Sprache bedienen, die der gewöhnlich Sterbliche erst mühsam in die ärztliche oder gar Laien-Umgangssprache übersetzen muss. Können die deutschen Vererbungsforscher sich nicht unserer schönen deutschen Sprache besser bedienen, ohne deswegen in den Unsinn des ›blassen Lustschräubchens (Spirochaeta pallida)‹ zu verfallen?«

Wie drastisch seine Kritik beizeiten ausfällt, soll eine letzte Rezension illustrieren: »Wenn Hofer unsere schöne deutsche Erfahrungssprache ebenso wenig mißhandeln würde, wie er mit Recht die Psyche unserer Amputierten nicht mißhandelt wissen will, würde dieses an sich erfreuliche Buch noch wesentlich gewinnen und viele andere Begriffe würden in klaren deutschen Worten sicher noch tieferen Eindruck auf den Leser machen als in der schwulstigen Ausdrucksform der Verfassers.«

Vorbild II: Der akademische Vater Carl Garré Neben dem leiblichen Vater prägte R ­ udolf Stich mit Carl Garré ein zweiter Arzt und eine weitere Vaterfigur. Dabei waren Garré und Stich nicht nur akademisch eng miteinander verbunden, sondern sie standen auch in einem – angeheirateten – verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander.37 Dies und die enge Beziehung zwischen Eduard Stich als leiblichem, sowie Carl Garré als akademischem Vater führten zu einer intensiven Prägung R ­ udolf Stichs. Als Garré im Jahr 1928 unverhofft starb, verfasste Stich einen Nachruf auf ihn. Der »Schüler« 37 Vgl. o. A., Der Vater der Gefäßchirurgie feierte in Weißenburg Geburtstag, in: Weissenburger Tagblatt, 20.7.1960. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Vorbild II: Der akademische Vater Carl Garré Vorbild II: Der akademische Vater Carl Garré

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Abb. 6: Der akademische Vater: Carl Garré (Quelle: Münche­ ner Medizinische Wochenschrift 1927)

titulierte seinen »Meister« als »warmen väterlichen Freund«, der auf Stich nachdrücklich durch sein Handeln wirkte. Stich offenbarte in diesem Nekrolog nicht nur seine Sicht auf Garré, sondern auch seine eigene Vorstellung davon, wie ein Ordinarius innerhalb der Gemeinschaft mit seinen Studenten und Assistenz­ ärzten agieren sollte. Dass Stich damit äußerst erfolgreich war, zeigen die Glückwünsche wiederum seines Schülers R ­ udolf Geißendörfer38 27 Jahre später zum 38 ­Rudolf Geißendörfer, 2.4.1902–17.7.1970, Medizinstudium in Erlangen, dort Mitglied der Bubenreuther, Examen in Kiel, ab 1927 bei Ludwig Aschoff in Freiburg Assistenzarzt und schließlich ab 1928 Assistent bei Stich, 1939 Habilitation in Breslau, ging schließlich mit Bauer 1943 nach Heidelberg, 1946 Berufung nach Frankfurt am Main und dort Direktor der chirurgischen Universitätsklinik, 1957–1958 Rektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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80. Geburtstag an Stich. Beinahe wortgleich werden hier die Rolle des Arztes und die Verehrung der Schüler beschrieben.39 Doch was bewunderte Stich an seinem Lehrer so sehr, zumindest in der Erinnerung und Erzählung der Schüler, die ihnen »weit über die Jahre hinaus« verbunden bleiben, selbst noch, als ihnen bereits »das Haar zu bleichen be­ gonnen« hat? »Ist es weiter nichts als die Macht seiner sogenannten faszinierenden Persönlichkeit gewesen, die ihm alle Herzen im Sturm gewann?« Womöglich ist es weit mehr, denn: Hinter Garré steckte »ein ganzer Mensch« mit dem »lautersten Charakter, einer eisernen Selbstdisziplin«, […] ein Mann, der sein ganzes Leben sich selbst treu geblieben ist, der niemals persönlichem Ehrgeiz unterlag […], ein warmherziger, mitfühlender, edler Mensch […], nicht nur eine gefestigte wissenschaftliche Persönlichkeit, sondern auch ein unvergleichlicher Arzt.« Stich war beeindruckt durch Garrés unauffällige Art und seinen unermüdlichen Arbeitswillen: »Als ich einmal als ganz junger Assistent in einem günstig erscheinenden Augenblick die Fragen an den Chef richtete, warum er eigentlich die große klinische Visite so mit Vorliebe auf den Sonntag Vormittag verlege, da erhielt ich die trockene Antwort: ›Ja, da haben wir doch am meisten Zeit.‹«40

Diese Anekdote könnte auch aus dem Munde eines Stich-Schülers über seinen Meister stammen, genauso wie die Bewunderung für die herausragenden didaktischen Fähigkeiten: »Seine glänzende Gabe zu lehren, seine Fähigkeit, das eigene große Wissen, in leicht verständlicher Weise zu vermitteln, hat ihm einen Ruf als klinischer Lehrer verschafft, wie ihn nur wenige Chirurgen genießen.« Stich verehrte den ganzen Menschen Carl Garré und führte weiter aus: »Ein Mann von dem Format Garrés mußte auch außerhalb der Klinik und außerhalb des Berufs eine Rolle im geistigen Leben seines Kreises spielen« – ähnlich wie­ Rudolf Stich selbst sein Haus in Göttingen zu führen pflegte. »Sein mit künstlerischem Sinn gehegtes Heim sah mehr als den unermüdlichen Arbeiter und Forscher im Fachgebiet. Es sah den feinsinnigen, feingebildeten Gelehrten, der hier jene künstlerische Liebhabereien pflegte, die seinen Hörern im Unterricht so oft zu Gute kamen.« Und dieser Persönlichkeit konnte sich, wie Stich betont, kaum einer ent­ ziehen, es sei denn, »daß er selber keine Werte in sich trug.« Werte, die die Werte eines ganzen Berufsstandes waren und die sich auch niemals ändern dürfen: »Seine Auffassung von ärztlicher Treue, Aufrichtigkeit und Pflichterfüllung, als

39 Vgl. ­Rudolf Stich, Carl Garré, in: Sonderabdruck aus der Medizinischen Klinik (1928), Nr.  14, S.  1–4; R ­ udolf Geißendörfer, Stich zum 80. Geburtstag, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 191 (1955), S. 1–3. 40 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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deren leuchtendes Vorbild er uns immer vor Augen gestanden hat und auch ihnen stets vor Augen stehen wird.« Auch noch zehn Jahre später, auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, auf der Stich als neu gewählter Präsident die Eröffnungsansprache hält, gedenkt er seinem akademischen Lehrer Carl Garré, den er auf eine Stufe mit seinem eigenen Vater stellt, da jener ihm ein ebenso großes Vorbild gewesen ist.41 So ist Garré derjenige, »dem ich nächst meinem eigenen, fast 89-jährigen ehrwürdigen Arzt-Vater42 am meisten in meinem Leben als Mensch, als Arzt, als Chirurg verdanke«. Carl Garré, dem Stich nach Königsberg sowie Bonn folgte und der dort seine chirurgische Ausbildung und seine Persönlichkeit maßgeblich prägte, ist nicht nur sein bedeutendster Lehrer, er ist sein Mentor, sein »väterlicher Freund«43, die Vorbildfigur für Stich: Arzt, Vater, Lehrer, Erzieher – all diese Rollen verschmelzen hier in zwei Personen und einem Ideal­ typus. Die Widmung an seine beiden Vorbilder enthält viele Aspekte, die für Stich als Persönlichkeit und für seine Interpretation des Arzttums entscheidend sind und die er adaptierte. So erinnert er sich ihrer »in liebevoller Ehrfurcht […], eingedenk des hippokratischen Eides, der uns heute verpflichtet wie die Jünger Äskulaps vor mehr als 2000 Jahren. Beide Männer sind mir in ihrer aufrechten und geraden Art, denen alles Unehrliche und Unklare verhasst war, in ihrer bewundernswürdigen Offenheit, in ihrer harten Sachlichkeit Zeit meines Lebens ein hohes, unerreichbares Vorbild, dabei aber auch eine harte Schule gewesen.«

Schaut man genauer hin, nennt Stich hier Charakterzüge, die auch ihn ausmachten. In dieser Stilisierung eines Idealtypus, den Stich zu imitieren versucht, entsteht das umfassende Bild eines »richtigen Arztes«. Doch konkret: welche Komponenten, welches Standes- und welches Selbstverständnis beeinflussen sein Bild, seine Vorstellung vom »Arzttum«, wie Stich es formuliert hätte?

Selbstverständnis der chirurgischen Gemeinschaft Der heute veraltete Begriff »Arzttum« enthält nicht nur einiges Pathos, sondern ist als historischer Begriff ein grundlegend ethischer.44 Denn in diesem Begriff klingt immer das ärztliche, moralisch richtige Handeln mit. Die Nationalsozia41 ­Rudolf Stich, Rede auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 42 Wiederum auffällig ist, dass Stich betont, dass sein Vater Arzt war und zwar, indem er eine eigene Vokabel dafür schafft, die die Profession und die Vaterrolle untrennbar verknüpft, genauso, wie Stich es in seinem eigenen Leben und Selbstverständnis tat. 43 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich, Cod. Ms. R. Stich, 10 Worte zum 70. Geburtstag Carl Garré, Bonn (1927). 44 Vgl. dazu Florian Bruns und Andreas Frewer, Medizin und Ethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin 1939–1945, Hannover 2007, S. 86–89. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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listen okkupierten den Begriff für sich, indem sie ihn in »ihre Begriffswelt der zahlreichen ›-tümer‹«45 integrierten. Ethische Überzeugungen, die tief mit dem Beruf verbunden waren, und eine spezifisch völkisch-nationalistische Weltanschauung vermengten sich während des Zweiten Weltkrieges zu einem »völkischen Arzttum«, in dem die nationalsozialistische Ideologie sich mehr und mehr in den Vordergrund schob. Dies verschmolz zugleich mit dem Mythos des vermeintlich unpolitischen Charakters der Medizin, ein Wesenszug, welcher ihr bis heute als »objektiver Wissenschaft« oft unterstellt wird. »Der Arztberuf, so glaubten wir, war immer gleich nötig, gleich heilbringend, gleich ehrenvoll«46, schreibt die Medizinhistorikerin Johanna Bleker. Auch das standesübliche Credo des Präsidenten der Bundesärztekammer lautete noch 1985: »Seit jeher hat sich der Arztberuf losgelöst von Zeitströmungen, Weltanschauungen und politischen Gesellschaftssystemen […] zu einer im wesentlichen zeitlosen ärztlichen Berufsethik bekannt.«47 Und obwohl sich die NS -Gesundheitspolitik ausdrücklich von Beginn an gegen »Schwache« richtete, hat es einen Widerstand aus ärztlich ethischer Motivation kaum gegeben. Dieser Befund muss auch vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Ärzte im späten 19.  und frühen 20.  Jahrhundert, ihren Bestrebungen zur Zugehörigkeit zum deutschen Bildungsbürgertum, gedeutet werden. Um das Standesdenken und die vorherrschenden ideologischen Auffassungen innerhalb der Ärzteschaft zu verstehen, muss man ideengeschichtliche und sozialpolitische Entwicklungslinien berücksichtigen, aber auch den möglichen Gegensatz zwischen Patientenwohl und Allgemeinwohl in den Blick nehmen. Bezüglich der Neutralität des Arztes kann man mit den Kategorien Toleranz und Abstinenz argumentieren:48 Toleranz gegenüber dem einzelnen Patienten und seinen Wünschen als ethische Pflicht des Arztes und im öffentlichen Raum Abstinenz, also Verzicht auf Parteinahme und Teilnahme in politischen Fragen. Diese Abstinenz forderte bereits Christoph Wilhelm Hufeland, der Mit­ begründer der Berliner Universität: »Der Arzt gehört keiner Partei, sondern dem Ganzen an.«49 45 Ebd., S. 86. 46 Johanna Bleker, Der Mythos vom unpolitischen Arzt. Historische Überlegungen zum Unterschied zwischen politischer Abstinenz und Toleranz, in: Jahrbuch für kritische Medizin 22 (1994), S. 164–186, hier, S. 164. 47 Zitiert nach Bleker, S. 164. 48 Vgl. den Ansatz von Bleker. 49 Christoph Wilhelm Hufeland, Enchiridion medicum oder Anleitung zur medicinischen Praxis, Berlin 1836, S. 732. Freilich spielte zu Zeiten Hufelands weniger die Berufspflicht des Arztes, als vielmehr Erwägungen der Opportunität eine Rolle, denn die Ärzte waren auf zahlungskräftige Patienten angewiesen und konnten es sich gar nicht leisten, ihre Bedürfnisse nicht zu tolerieren. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Selbstverständlich ist die völlige politische Abstinenz niemals Realität ge­ wesen. Die Ärzteschaft, beziehungsweise ihre Standesvertreter, mischten sich seit jeher ein, um eigene berufliche Interessen zur Geltung zu bringen. Das taten sie vor allem, indem sie die Verantwortlichen in gesundheitlichen Fragen berie­ ten und somit durchaus bereits einem erzieherischen Impetus folgten. 1848 war es dann ­Rudolf Virchow, der mit seinem Vorschlag der Öffentlichen Gesundheitspflege Medizin und Politik eng aneinander band, jedoch der bedingungslosen Staatsloyalität der Ärzte eine Absage erteilte und die Idee propagierte, dass alle Menschen gleich seien und somit ein gleiches Recht auf Gesundheit und ihre Voraussetzungen hätten, in der Formel subsumiert: »Die Politik ist weiter nichts als Medicin im Grossen.«50 Seine Forderung blieb in der Resignation nach 1848 allerdings weitestgehend ungehört. Ende des Jahrhunderts begann man jedoch durchaus, zwischen politischer Wirksamkeit, also der traditionellen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, und einer politischen Parteinahme zu unterscheiden. Eine Unterscheidung, die nach 1933 in Stichs Biografie und in seinem Einsatz für die »Volksgesundheit« aufgelöst wird. Unter politischer Wirksamkeit verstand man darüber hinaus in der Zeit Eduard Stichs auch eine standespolitische Betätigung. »Die Ärzte der Kaiserzeit schufen eine effektive ärztliche Standesvertretung«, die sich vor allem gegen Frauen und Ärzte einsetzte, »deren sozialer Hintergrund nicht den bürgerlichen Maßstäben entsprach«51 – und gegen die Krankenkassen. Diese Aktivitäten galten jedoch als unpolitisch. Die aufkommende, euphorische Vorstellung in der Medizin, dass diese mit Hilfe von exakten Methoden die Lösung aller Probleme versprach, bedeutete einen Trend der Rationalisierung innerhalb dieser Wissenschaft. »Führende Wissenschaftler erklärten das Experiment als naturwissenschaftliche Methode zur unabdingbaren medizinischen Arbeitsweise.«52 Der medizinische Optimismus verstärkte sich noch durch den Ausbau von Krankenhäusern, wie auch unter ­Rudolf Stich in Göttingen. Die Medizin wurde nun als Naturwissenschaft und somit als objektiv, als wissenschaftlich, begriffen. »Die Medizin als Naturwissenschaft fühlte sich berufen ›Führerin der Menschheit‹ zu Gesundheit und Glück zu sein«53 – das Selbstverständnis des Arztes als Führer, hier wird es explizit. Und aufgrund dieser Vormachtstellung drangen medizinische Metaphern in ungewohnte Sphären ein, in die Politik, die Gesellschaft, ins Soziale; eine biologistische Denkweise setzte sich durch, gesellschaftliche Prozesse wurden  – in bestimmten geisteswissenschaftlichen und zunehmend einflussreicheren 50 ­Rudolf Virchow, Der Armenarzt, in: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 34–37, hier S. 34. 51 Bleker, S. 169. 52 Neumann, S. 27. 53 Bleker, S. 170. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Traditionen  – mit den biologischen gleichgesetzt. Im Zuge des Sozialdarwinismus verschoben sich gleichfalls die Wertmaßstäbe für die öffentlichen Aufgaben der Ärzte, also für ihre politische Wirksamkeit. Der hier entstehende Gedanke der Auslese hatte seinen Ursprung auch in dem Gefühl der Ärzte, über der Politik zu stehen  – so prägten politische und gesellschaftliche Vorurteile des wilhelminischen Bürgertums ungehindert das ärztlich-wissenschaftliche Weltbild.54 Diese Entwicklung hatte ebenso Auswirkungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis: war zuvor der Patient dem Arzt überlegen, da dieser auf seine Zahlungen angewiesen war, wurde der Arzt in den Krankenhäusern, wo er auch sozial Schwächere versorgte, zum Überlegenen, der Anweisungen erteilte und den Patien­ten zur Gesundheit erzog. Auch hatte das öffentliche Interesse, die Gemeinschaft, nun Vorrang vor dem Wohl des Einzelnen. »Für das Wohl des Volkskörpers, so die Analogie, mussten zur Not auch einzelne Zellen und Zellverbände geopfert werden.«55 Mit der zunehmenden Bedeutung des Sozialdarwinismus gewann die Verbindung von Biologie und Medizin eine gesellschaftstheoretische Bedeutung. »Diese Entwicklungen führten dazu, dass die Mediziner – zumal als akademischer Berufsstand – ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickelten und ihre Standesinteressen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen auch reichsweit wahrnehmen wollten.«56 Doch bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geriet diese optimistische Sichtweise stark unter Druck, da man, trotz des enormen Fortschrittsglaubens, zum Beispiel für Krebs und Kreislauferkrankungen immer noch keine geeignete Therapie finden konnte. Die politische Haltung der Ärzteschaft kann nach 1871 als »völlig un­ kritische Verehrung von Vaterland, Kaiser und Reich«57 charakterisiert werden. Patriotismus war oberstes Gebot, im Ersten Weltkrieg kämpfte die »Front der Ärzte« für den Sieg und war dafür auch bereit, das Wohl Einzelner zu opfern. Die Kriegsfolgen stellten eine große Herausforderung für die Ärzteschaft dar, in deren Reichsärzteordnung 1919 festgehalten wurde: »Der Beruf des deutschen Arztes ist Gesundheitsdienst am deutschen Volk.«58 Der Kranke wird nun als Glied einer Gemeinschaft wahrgenommen, der auch der Arzt angehört. Der große, konservative Teil der Ärzteschaft forderte eine Gesundheitspolitik als aktive Bevölkerungspolitik, welche darauf abzielte, die Kriegsverluste auszu­ gleichen und durch positive Eugenik ein »starkes Volk« herauszubilden, welches es durch negative Auslese »der Schwachen« zu schützen galt. Die ärztliche Debatte fixierte sich mehr und mehr auf das Gemeinwohl, das zeigte sich zum 54 55 56 57 58

Vgl. ebd., S. 171. Ebd., S. 172. Neumann, S. 28. Bleker, S. 172. § 1 der Reichsärzteordnung von 1919, zitiert nach Bleker, S. 174. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Beispiel auch am Auslesegedanken und an der schon früher formulierten Idee der »Euthanasie«. Bereits im Parteiprogramm von 1920 formulierten die Nationalsozialisten diese Ideen in dem Slogan »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«. Aber noch weitere Faktoren spielten eine gewichtige Rolle: Vor allem die große Gruppe der konservativen, deutsch-national eingestellten Ärzte geriet durch politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in eine Krise ihres Selbstverständnisses. »Als Akademiker und Angehörige des bürgerlichen Mittelstandes vertraten die Mediziner zum größten Teil  die in dieser Schicht vorherrschenden Werte wie Elitedenken und ausgeprägtes Traditionsbewusstsein. Die Ärzte verstanden sich als unentbehrliche kultur- und staatstragende Schicht, als geistige Elite, der deswegen bestimmte ökonomische und gesellschaftliche Privilegien zustünden.«59 Doch die Angst vor Statusverlust und tatsächlicher Einkommens- und Ansehensverlust führten zu einer Verunsicherung, die durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg noch verstärkt wurde. Das Gros der Ärzteschaft, tief verwurzelt in den militaristisch-obrigkeitsstaatlichen Hierarchie-Vorstellungen, lehnte die Republik aus Überzeugung ab. Nicht nur Stich klagte über die zunehmende Bürokratisierung, auch verbreitete sich ein gewisser Konkurrenzantisemitismus. Der Statusverlust gipfelte darin, dass mit dem Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtstaates die Ärzte einen Teil ihrer Aufgaben an staatliche Institutionen verloren  – sie reagierten darauf mit einer Überhöhung ihrer eigenen Stellung, »wobei vor allem das Prinzip des Arztes als ›Führer‹ zu großer Popularität gelangte.«60 Dieses Prinzip hat Stich, obwohl er persönlich keinen Statusverlust fürchten musste, sich wohl aber den Befindlichkeiten seines Standes anschloss, explizit zum Ausdruck gebracht, wenn er von Hitler als »Arzt des Volkes« spricht und auch nicht müde wird, die Führungsqualitäten des deutschen Arztes zu betonen. Hier zeigt sich die Bedeutung der wiederentdeckten »Arztpersönlichkeit«, die einen Weg aus der Krise bieten sollte.61 Nach der freiwilligen Gleichschaltung der organisierten Ärzteschaft im Nationalsozialismus wurde das Bild des Arztes als Volks- und Menschenführer von den Nazis forciert: Dieses Bemühen um die Ärzteschaft entsprang allerdings einem machtpolitischen Kalkül, weil den Ärzten im rassisch-biologis­ tischen Gesellschaftsmodell eine besondere Bedeutung zukam. Das Effizienzund Leistungsdenken wurde die neue Hauptrichtlinie des ärztlichen Handelns 59 Neumann, S. 29. 60 Ebd., S. 30. 61 Von den zeitgenössischen Bemühungen ist vor allem Erwin Lieks, Der Arzt und seine Sendung von 1926 zu nennen. Liek konstatiert, als Arzt müsse man geboren sein, er müsse in erster Linie ein Führer sein. Ihm unterläuft hier eine Steigerung ins QuasiGöttliche, wenn er den Mythos vom »wahren Arzt« als »omnipotenten Herrscher« entwirft. Vgl. auch Neumann, S. 31. Die Anknüpfungspunkte für die nationalsozialistische Weltanschauung sind evident. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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und ersetzte oder ergänzte die tradierten ethischen Kriterien. Rückblickend haben die Standesvertreter nach 1945 vor allem versucht anhand der Recht­ fertigungsstrategien der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozess den Kern einer nationalsozialistischen Medizinethik zu bestimmen.62 Entscheidend für das ärztliche Handeln war in dieser Zeit »die innere Überzeugung, das für das vermeintliche Volkswohl Richtige und Notwendige zu tun.«63 Man darf unterstellen, dass es bei jedem Arzt, auch bei Stich, einen bewussten oder unbewussten Moment gegeben hat, »in dem er abwog, ob sein Handeln richtig oder falsch ist. Dieser Moment enthält die genuine Aufgabe der (medizinischen) Ethik, nämlich Antworten zu geben auf die Frage, was in einer bestimmten Situation und unter den gegebenen Umständen die moralisch richtige Entscheidung ist.«64 Die Existenz derartiger Moralkonzepte zeigte sich im Nürnberger Prozess, in dem sich die Angeklagten in einer pervertierten Auslegung tradierter ärztlicher Moral sogar in ihrem Handeln auf den hippo­ kratischen Eid beriefen.65 Hinsichtlich der allgemeinen Ethik zeigt sich eine vergleichbare Tendenz wie in der medizinischen Auffassung: Es entstand eine Kollektivethik (Gemeinnutz geht vor Eigennutz) einhergehend mit einer Vision vom »gesunden Volkskörper« als nationalsozialistisches Moralkonzept, welches adaptionsfähig war, da die vermeintliche Krise der Medizin von den Zeitgenossen auch vielfach als Krise der medizinischen Ethik empfunden wurde. Medizinethische Probleme wurden jedoch in einem Umfeld, das vorwiegend mit der Durchsetzung ärztlicher Standesinteressen beschäftigt war, beiseite gedrängt. Klagen über den Niedergang der ärztlichen Ethik waren auch Ausdruck eines allgemeinen Fortschrittszweifels, dem ein »romantisiertes, paternalistisches Arztideal gegenüberstand«66, welches dem von Stich passgenau zu entsprechen scheint. Ungeachtet dessen, ob es überhaupt legitim ist, von einer konsistenten »Philosophie« als Grundlage einer nationalsozialistischen Weltanschauung zu sprechen, erfolgte vielfach der Versuch einer philosophischen Legitimation der eigenen Überzeugung. Vor allem auch Ärzte fühlten sich berufen, in Fachzeitschriften oder bei Reden die neue Zeit »zu kommentieren und 62 63 64 65

Vgl. hierzu auch Bruns u. Frewer, S. 11–44. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Vor allem Karl Brandt berief sich auf den hippokratischen Eid zur Rechtfertigung seiner Taten, denn mit seiner Hilfe konnte man »eigentlich alles begründen«, da er in »seinem Bedeutungsgehalt ähnlich unspezifisch wie der Begriff des ›Arzttums‹« war. Vgl. Bruns u. Frewer, S. 85. Zudem hatte der Eid im 20. Jahrhundert bereits viel von seiner Bindungskraft eingebüßt. Ärzte äußerten sich nach 1945, dass der Eid auf Hitler ihnen wesentlich bedeutsamer erschienen war, als »das verschwommene Ritual« am Ende ihres Studiums. Er war jedoch von den Nazis bewusst nicht abgeschafft worden, weil er ihnen eine breite Gefolgschaft unter den deutschen Ärzten sicherte, die, ähnlich wie Stich, durch kon­ struierte Kontinuitäten überzeugt werden konnten. 66 Ebd., S. 30. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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auch zu legitimieren«, so auch Stich, der Hitler als »rettenden Arzt des kranken Volkes« deutet und sich selbst als Wächter über die »Volksgesundheit« sieht. In der Propagierung einer auch für die NS -Medizin konstitutiven Ganzheits­ mystik erscheint ein weiterer, für Stich wichtiger Aspekt: die Gemeinschaft. Die für seinen Berufsstand gültige »Gemeinschaftsethik« wurde nicht nur für ihn zum Topos einer »neuen Ethik«67, kollektivistisch geprägt und prädestiniert dafür, von einer geschlossenen Gruppe68 als gemeinsamer Wertekanon akzeptiert zu werden. Die Nazis propagierten ein neues Arztbild, welches vor allem dem entsprach, was die ältere Ärztegeneration gefordert hatte und das mit der Erhöhung ihres gesellschaftlichen Status einhergehen würde. In diesem Zusammenhang erscheint der Göttinger Pathologe Georg Benno Gruber und Freund Stichs als wichtiger Akteur, der sich vor allem nach 1933 darum bemühte, die historische Traditionslinie der ethischen Auffassung der Nazis zu betonen. Gerade in der Frühphase des Nationalsozialismus, hörte ein Großteil der Ärzteschaft auf die Autorität ihrer Meinungsführer.69 Zu ihnen zählt auch Ferdinand Sauerbruch, der die »göttliche Sendung des Arztes« und die »Erziehung des Einzelnen« im Sinne der Gemeinschaft in einem offenen Brief »An die Ärzteschaft der Welt«70 betonte. Und diesem Aufruf folgten maßgebliche Führungspersönlichkeiten und verbreiteten entsprechendes, propagandistisches Gedankengut. Eben jenes lässt sich auch an den zwischen 1933 und 1943 abgehaltenen Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie nachvollziehen.­ Rudolf Stich besuchte diese Tagungen nicht nur regelmäßig und war mit ihren zentralen Persönlichkeiten eng verbunden, sondern saß ihr als Präsident im Jahr 1938 auch vor. Die Tagungsberichte zeugen eindrücklich von einem durch die NS -Ideologie geprägten Selbstverständnis der chirurgischen Elite des Dritten Reiches und von der Radikalisierung ihrer Vorstellungen bezüglich eines »gesunden Volkskörpers« und des Auslesegedankens. Wenige Tage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, am 19. April 1933, saß Stich mit vielen seiner geschätzten Kollegen, alle von Rang und 67 Bruns u. Frewer, S. 40. 68 Um eine gruppenspezifische Mentalität zu erfassen, kann eine Verknüpfung von Pierre Bourdieus Habitus- und Feldtheorie mit den Grundannahmen der Netzwerkforschung ein vielversprechender Ansatz sein. Vgl. auch Marina Hennig und Steffen Kohl, Fundierung der Netzwerkperspektive durch die Habitus und Feldtheorie von Pierre Bourdieu, in: Marina Hennig und Christian Stegbauer (Hg.), Die Integration von Theorie und Methode in die Netzwerkforschung, Wiesbaden 2012, S. 13–33, hier S. 13. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass bestimmte Habitusmerkmale (Milieu und Gesellungsstil) eng mit Netzwerkstrukturmerkmalen verbunden sind. 69 Vgl. Bleker, S. 177. 70 Ferdinand Sauerbruch, Offener Brief an die Ärzteschaft der Welt, in: Klinische Wochenschrift 39 (1933), abgedruckt in: Christian Pross u. Götz Aly (Hg.), Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918–1945, Berlin 1989, S. 231–233, hier. S. 232. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Namen, im Auditorium der 57. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin.71 Am Ende der Versammlung kandidierte er erstmals für ihren Vorsitz und unterlag in der Wahl nur knapp. Es war ein besonderer Tag, das war schon in den ersten Worten des diesjährigen Präsidenten, Wilhelm Röpke deutlich spürbar: »Mein Willkommengruß erklingt um so lauter und freudiger, als wir im Zeichen einer neuen verheißungsvollen Zeit stehen. Möge der Segen des Höchsten über allem walten, das zur Einigkeit und Größe Deutschlands führt! Möge er auch in seine schützende Hand alle die Führer nehmen, die diesem hohen Ziele ihre ganze Kraft und Arbeit gewidmet haben! Nur im engen Zusammenarbeiten und Fühlen mit dem Deutschen Volke kann Deutsche Wissenschaft und Deutsche Chirurgie gedeihen.«72

Die Chirurgische Gesellschaft steht förmlich greifbar ganz unter dem Eindruck der Machtergreifung, dabei wird der Chirurgie innerhalb des neuen politischen Systems eine große Bedeutung zugemessen, sie steht in einer Reihe mit den Para­metern Führer, Volk und den hohen Aufgaben der Wissenschaft. Der offene Führerbegriff ermöglicht es, auch die Elite der Ärzte als Führer zu fassen und untermauert nicht nur ihre Vorbildfunktion im neuen System, sondern auch ihr kollektives Selbstverständnis. Dasselbe Argumentationsmuster wird bedient, wenn der Vorsitzende die gemeinsamen Traditionslinien des Nationalsozialismus und der Gesellschaft für Chirurgie besonders betont. Ein deutliches Zeichen für den vorauseilenden Gehorsam der Ärzteschaft und ihre Selbstgleichschaltung ist die freiwillige Selbstzensur, die Röpke anschließend fordert und die mit lebhaftem Beifall begrüßt wird, denn die beschworene Gemeinschaft ist eine exklusive. In dieser eher kleinen, hermetisch recht abgeschlossenen Welt bewegte sich­ Rudolf Stich. Die Ärzte, die wie er Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie waren, standen ihm größtenteils auch persönlich nahe und viele von ihnen waren ihm qua Position als Beratende Chirurgen der Wehrmacht darüber hinaus verbunden. Sie alle hielten vor der Gesellschaft flammende Reden, die ihre Berufsauffassung, aber auch ihre politische Einstellung und ihre Interpretation von Arzttum erkennen lassen. Martin Kirschner73 führte im Jahr 1934 auf der Tagung der Gesellschaft die Vergewisserung der gemeinsamen Geschichte der Chirurgischen Vereinigung 71 Körte, W. u. a. (Hg.): Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 57. Tagung, 19. bis 22. April 1933, Berlin 1933. (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 177. Band), S.  3–16 oder auch Hans-Ulrich Steinau (Hg.) u. a., Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011, S. 227–230. 72 Steinau, S. 227. 73 28.10.1897–30.8.1942, Chirurg, Assistent bei Erwin Payr, seit 1924 Ordinariat in Tübingen, 1932 Ablehnung des Rufs in Heidelberg, schließlich 1933 Annahme, unter seiner © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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mit den Ideen des Nationalsozialismus noch weiter und schöpft daraus das Selbstverständnis der versammelten Ärzteschaft. »Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, die ihre Gründung der tatkräftigen Hilfe verdankt, die die deutschen Chirurgen dem Vaterlande in dem siegreichen Kriege 70/71 gegen unseren Erbfeind geleistet haben, und der dem siegreichen Ausgang dieses Kampfes bewirkten Steigerung des Deutschen Nationalgefühls hat diese ihre nationale Einstellung vom ersten Gründungstage ab, wo der Mann von Blut und Eisen, der Preuße Otto v. Bismarck, als der größte lebende Chirurg gefeiert wurde, bis heute unverbrüchlich aufrechterhalten, und auch nach außen stets zur Schau getragen. […] Daher hat vor einem Jahre der Aufschwung durch den Führer des deutschen Volkes einen selbstverständlichen, einmütigen und begeisterten Widerhall in unseren Reihen gefunden, und hieran konnte sich bis heute nichts ändern.«74

Die selbstverständliche Nähe zum Führer rückt Kirschners Rede eng an Stichs Auffassung, der auch nicht müde wird, die nationale Gesinnung seines Standes darzulegen. Aus der Selbstverständlichkeit wird in ihren Augen nahezu eine zwangsläufige Nähe des Arztes zum Nationalsozialismus, wenn Kirschner betont, »daß unsere Tätigkeit unmittelbar auf das Wohl unserer Volksgenossen eingestellt ist, daß sie für uns Dienst am Volk bedeutet. So ist der Beruf des Chirurgen  – richtig verstanden und geübt  – geradezu lebendig gewordener Sozialismus.«75 Kirschner ist stolz darauf, dass die Chirurgen seit langem, also auch schon vor 1933, nach dem »Führerprinzip« organisiert sind und operieren: »Deswegen haben wir das unbeschränkte Führerprinzip seit jeher in unseren Betrieben verankert und haben es ungeschmälert über die Zeit des Niederganges in das heutige Deutschland hinübergetragen. Ich habe schon im Jahre 1927, wie ich in meiner Operationslehre versuchte, das Ideal eines Chirurgen aufzustellen, geschrieben: ›Bei der Operation befiehlt einer und die übrigen gehorchen. Das demokratisch-parlamentarische System feiert auch in der Chirurgie keine Triumphe‹.«76

Auch die standestypische metaphorische Verknüpfung zwischen der Chirurgen- und der Führerpersönlichkeit bemüht Kirschner in seiner Rede: »Diese auf eine führende Persönlichkeit abgestellte Lebensauffassung der Chirurgen kommt auch in der Organisation unserer Gesellschaft zum Ausdruck. Tatsächlich haben wir bei uns nichts Demokratisches, sondern bei uns bestimmt seit jeher der Leitung entstand eine hochmoderne Klinik, im Zweiten Weltkrieg Beratender Chirurg. Genauere biografische Anmerkungen finden sich weiter unten in diesem Kapitel. Seine Rede ist dokumentiert in Körte, W. u. a. (Hg), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 58. Tagung, 4. bis 7. April 1934, Berlin 1934 (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 180. Band), S. 3–12. Hervorhebungen im Original. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Körte 1934, S. 11. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Führer mit nahezu diktatorischer Gewalt die Geschicke unserer Gesellschaft, und ich glaube, die Entwicklung unserer Gesellschaft zeigt, daß sich auch hier im Mikrokosmos das Führerprinzip bewährt hat.«77

Das zeigt sich auch in der Wahl zum Vorsitzenden. Vor der Abstimmung bemerkt Kirschner: »Dem Ausschuß ist der Wunsch unseres Führers Adolf Hit­ ler übermittelt worden, daß die Geschicke unserer Gesellschaft im nächsten Jahre durch den von ihm besonders geschätzten Kollegen Magnus geleitet werden. Der Ausschuß fordert Sie daher auf, dieser Mitteilung bei der Abgabe Ihres Stimmzettels Rechnung zu tragen.«78 Daraufhin wird der Berliner Professor Georg Magnus79 mit großer Mehrheit gewählt. Dementsprechend leitet er die Tagung von 193580, auf der Stich das Hauptreferat hält. Es ist eingebettet in eine Tagung, die sich ganz zentral mit Zwangssterilisationen als Beitrag der Ärzteschaft zur nationalsozialistischen Gesetzgebung und »Volksgesundheit« beschäftigt, »weil es kaum einen Chirurgen geben wird, den sie nicht irgendwie berührt«81. Magnus begründet dies dezidiert politisch: »Unser neuer nationalsozialistischer Staat hat die Grundfesten unseres Daseins umgestaltet, politisch, sozial und wirtschaftlich hat er unsere Welt an allen Punkten umgeformt und umgewertet, und mit allen anderen Berufen arbeiten wir freudig am Aufbau des neuen Reiches. Wir werden mehr als bisher die Gesamtheit des Volkskörpers als Objekt unseres ärztlichen Handelns ansehen gegenüber der Sorge für das Einzelindividuum, werden uns bemühen um Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit des ganzen Volkes.«82

Durch die Verknüpfung mit der anschließenden, vollkommen unkritischen Debatte um Sterilisationstechniken, angeführt von Karl Heinrich Bauer, bekommen die Gedanken zur »Volksgesundheit« eine Stoßrichtung hin zum Auslesegedanken, der eine gesunde »Volksgemeinschaft« ermöglichen soll.

77 Ebd., S. 12. 78 Ebd., S. 142. 79 Georg Magnus, 28.7.1883–22.12.1942, Chirurg, Studium in Berlin, Kiel, München und Greifswald, seit 1933 Ordinarius in Berlin mit seinen Assistenten Paul Rostock, Hanskarl von Hasselbach und Karl Brandt, 1935 Präsident der Detuschen Gesellschaft für Chirurgie, ab 1936 in München, seit 1942 im Wissenschaftssenats des Heeressanitätswesens. 80 Dokumentiert in Körte, W. u. a. (Hg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 59. Tagung, 24. bis 27 April 1935, Berlin 1935. (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 183. Band), S. 3–9. 81 Binnen kurzer Zeit ist das Thema durch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« ein explizit chirurgisches Thema geworden, so dass die nun proklamierte Bedeutung in großem Gegensatz zu der steht, den die Gesellschaft ihr noch ein Jahr zuvor beigemessen hatte. 82 Zitiert nach Steinau, S. 237. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die 62. Tagung stehe noch ganz unter dem Eindruck der »großen Ereignisse, die zu der Erschaffung des Großdeutschen Reiches geführt haben«. Es sei schwer, »sich unter dem Eindruck der Geschehnisse zu einer wissenschaftlichen Tagung innerlich zu sammeln, aber wenn Deutschland groß sein wolle, so müsse es auch groß durch Leistung sein.«83 Mit diesen Worten eröffnet Nicolai Guleke die 62. Tagung 1938. Er sieht in der vorbeugenden Gesundheitsführung eine besondere Aufgabe, die der Nationalsozialismus an die Mediziner stelle, ebenso wie die Durchführung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Im Weltkrieg sei die deutsche Chirurgie an der Spitze der chirurgischen Leistungen der Welt marschiert, und dieser Erfolg müsse erhalten bleiben. Guleke lobte außerdem die Gesetzgebung zu »Erbgesundheitsfragen«: »Ein national denkender Mensch kann sich der Bedeutung dieses Gesetzes für die Zukunft seines Volkes gar nicht verschließen und muß bestrebt sein, an der Verhinderung der Fortpflanzung von Erbkrankheiten von Geschlecht zu Geschlecht auf das gewissenhafteste mitzuarbeiten. Je gründlicher das aber geschieht, um so dringender wird die Entscheidung, wann wirklich ein vererbbares Übel vorliegt, das ausgemerzt werden muß, oder wann es sich um Störungen handelt, die umweltbedingt oder zufällig entstanden und nicht durch kranke Erbmassen hervorgerufen sind, und somit nicht zum Anlaß einer Unfruchtbarmachung genommen werden dürfen. Diese Entscheidung ist um so wichtiger, als sonst für die Volksgemeinschaft wertvolle Anlagen unnötig vernichtet werden, und darüber hinaus die Masse des Nachwuchses, auf dessen Vermehrung mit aller Kraft hingearbeitet werden muß, in nicht zu rechtfertigender Weise vermindert wird.«84

Dass diese Fragen auf mehreren Tagungen immer wieder aufgegriffen werden, reflektiert juristische und medizinische Unsicherheiten, aber auch die Bereitschaft der Chirurgen, sich für nationalsozialistische Politik einzusetzen. Im Jahre 1939 findet die Tagung unter Vorsitz von Otto Nordmann85 statt, zum ersten Mal, wie er betont, tage die Gesellschaft im 83 Dokumentiert in Eiselsberg, A. u. a. (Hg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 62. Tagung, 21. bis 24. April 1938, Berlin 1938. (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 193. Band), Eröffnungsansprache und Geschäftsbericht des Vorsitzenden, S.  3–20. Hier ist interessant, dass bestimmte Ausschnitte der Rede, vor allem die über Erbgesundheit fehlen in der Zusammenfassung Karl Heinrich Bauers, Die Deutschen Chirurgenkongresse seit der 50. Tagung aus der Sicht ihrer Vorsitzenden, Berlin 1958. 84 Eiselsberg 1938, S. 19. 85 Otto Carl Wilhelm Nordmann, 14.9.1976–26.5.1946, Studium der Medizin in Freiburg, Göttingen, Berlin, Mitglied der DDP seit 1918 und Abgeordneter im Berliner Stadtparlament, 1926 Austritt aus der Partei, seit 1933 Leiter des Martin-Luther-Krankenhauses in Berlin Grunewaldt, was als ein Schritt der »inneren Emigration« bezeichnet werden muss, 1939 als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie stand er jedoch der NS-Ideologie sehr nahe und machte weitreichende Zugeständnisse an die politischen Machthaber. Seine Rede ist dokumentiert in Eiselsberg, A. u. a. (Hg.), Verhandlungen © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Großdeutschen Reich, das unser tatkräftiger Führer mit friedlichen Mitteln in atemberaubender Schnelligkeit geschaffen hat. Unser aller Wunsch ist, dass die gesamte Außenwelt erkennt, dass damit schweres historisches Unrecht, das Deutschland angetan wurde, wieder gut gemacht ist. Möge zum Segen der ganzen Welt die Hoffnung des Führers Wahrheit werden, dass nun ein langer Friede anbricht und damit unser Vaterland ungestörte Ruhe zum inneren Ausbau des großen Deutschen Reiches findet.«86

Spätestens ab 1940 ist die Tagung87 stark geprägt durch Themen der Kriegschirurgie, eine direkte Auswirkung der politischen Entwicklungen. Von ­Haberer88 weist auch explizit auf die kriegsbedingten Schwierigkeiten bei der Vorbereitung und Ausrichtung der Tagung hin. Bei seinem Bestreben, die Gesellschaft als nationalsozialistische Organisation darzustellen, verweist er interessanterweise direkt auf die Rede Stichs aus dem Jahr 1937. »Und wenn dann Stich […] zeigen konnte, daß sich die Chirurgie bereitwillig in den Dienst des Vierjahresplanes gestellt hat, […] so glaube ich, kann die deutschen Chirurgie für sich beanspruchen, daß sie sich stets im Sinne des Nationalsozialismus in den Dienst des Volksganzen gestellt hat.«89

Je weiter die Expansion des Deutschen Reiches fortschritt, desto bekenntnishafter wurden die Gelöbnisse der Gesellschaft an den Führer, der hier auch erstmals explizit als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht benannt wird, der ein Großteil der Versammelten angehörte. »Wir alle wissen, von welch unendlicher Friedensliebe gerade unser Führer, der die Schrecken des Weltkrieges wie kaum ein anderer als einfacher Soldat am eigenen Leibe zu verspüren hatte, beseelt ist. Wir wissen, daß der Krieg, in den wir nunmehr verwickelt sind, ein dem deutschen Volke von außen aufgezwungener Krieg ist, den

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der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 63. Tagung, 12. bis 15. April 1939, Berlin 1939 (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 196. Band). Eröffnungsansprache des Vorsitzenden und Geschäftsbericht, S.  3–13. Steinau versucht in seiner Analyse auszuführen, dass Nordmann eine antinationalsozialistische Haltung vertreten habe, relativiert jedoch wieder, dass seine Eröffnungsrede trotzdem nicht »ohne ein entsprechendes Benehmen oder eine gewisse verbale Anpassung an die nationalsozialistische Zeit« ausgekommen sei. Eine zweifelhafte Argumentation, in der Steinau die Ansprache gar als »gewieften Akt« Nordmanns bezeichnet, den dieser vollzieht, um trotz seiner vermeintlichen Haltung diese Position bekleiden zu können. Wenn man die Rede jedoch hier im Kontext liest, erscheint sie genau wie die anderen auch als typisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Zitiert nach Steinau, S. 258. Bier, August u. a. (Hg.),Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 64. Tagung, 27. bis 30.3.1940, Berlin 1940 (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 200. Band). Eröffnungsansprache des Vorsitzenden und Geschäftsbericht, S. 3–9. Biografische Informationen folgen weiter unten in diesem Kapitel. Bier 1940, S. 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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bis in die letzte Minute unser Führer durch großmütige Angebote zu verhindern versucht hat. […] Wir alle wissen, daß unser Führer nicht der Führer des deutschen Volkes wäre, wenn er unseren Feinden nicht die Antwort gegeben hätte, die er ihnen gegeben hat. Wir aber folgen unserem Führer im Krieg ebenso wie im Frieden. Das sei das Gelöbnis, mit dem wir an unsere Arbeit gehen wollen. […] Adolf Hitler Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil! (Die Versammelten haben sich während der letzten Worte erhoben und stimmen begeistert in die Heilrufe ein. – Stürmischer Beifall.)«90

Die zitierten Kirschner, Magnus, Lexer91, Guleke, Nordmann und von Haberer waren nicht nur in ihrer Funktion als Präsidenten der Gesellschaft mit Stich verbunden. Sie gehörten zu einem eng verwobenen Chirurgenkreis, in den Stich integriert war, innerhalb dessen er als geschätzte Persönlichkeit galt und in dem eine hohe personelle Konstanz herrschte, der aber auch von langen ideengeschichtlichen, standesethischen und ideologischen Linien durchzogen war. Darüber hinaus lässt sich immer wieder eine Engführung größerer medizin­ historischer Bögen auf Göttingen beobachten, die sich in Stichs Person und seinem unmittelbaren Umfeld, in seinen Schüler und Kollegen, verdichten und die lokale Perspektive somit erweitern und Stich in größere thematische Zusammenhänge einbinden und seine repräsentativen Aspekte betonen. Kirschner, Guleke und von Haberer gehörten darüber hinaus, genau wie Stich selbst, zu der Gruppe der Beratenden Chirurgen der Wehrmacht.92 Dass Stich diesen Ärzten, den »Meistern ihres Faches«, besonders verbunden war, zeigen auch die durchweg positiven Rezensionen, die er in der von ihm zwischen 1933 und 1960 herausgegebenen Fachzeitschrift Bruns’ Beiträge zur kli­ nischen Chirurgie zu deren Werken verfasst. Überhaupt werden Kirschner und Guleke über die Jahre durch Stich mit den meisten Rezensionen bedacht. Auch vergeben diese Ärzte untereinander Kapitel für Sammelbände93 oder widmen einander Werke. Elf Beratende Chirurgen arbeiten direkt an Bruns’ Beiträgen mit94, 90 Ebd., S. 9. 91 Erich Lexer, 22.5.1867–4.12.1937, Chirurg, Ordinarius in München, Beitrag über die Eingriffe zur Unfruchtbarmachung des Mannes und zur Entmannung im offiziellen Kommentar des Sterilisationsgesetzes. 92 Kurzbiografien einiger Beratender Chirurgen finden sich bei Philipp Behrendt, Die Kriegschirurgie von 1939–1945 aus der Sicht der Beratenden Chirurgen des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg, Freiburg 2004, S. 208 ff. 93 Vgl. z. B. Burghard Breitner, Chirurgische Operationslehre, 1957; Martin Kirschner, Die Chirurgie 1941 ff.; Franz König/Georg Magnus, Unfallheilkunde, mehrere Bände, 1934 f.; Lorenz Böhler, Technik der Knochenbruchbehandlung im Frieden und im Kriege, mehrere Bände, 1942. Angegeben sind die Jahreszahlen des entsprechenden Bandes von Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie, in dem die Rezension erschien. 94 Martin Kirschner seit 1926; Burghard Breitner seit 1933, also seit Stich Herausgeber ist; Leopold Schönbauer seit 1941; R ­ udolf Geißendörfer ist ab 1947 alleiniger Herausgeber und später mit Stich zusammen; Nicolai Guleke, Ludwig Rehn und Karl Heinrich Bauer ab 1949; ab spätestens 1955 Emil Karl Frey, Georg Ernst Konjetzny und Erich Feiherr von Redwitz; Hans Hellner ab 1959. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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darunter auch Kirschner und Guleke. Aus der Bewertung dieser Personen durch Stich lässt sich auch seine Vorstellung des »Arzttums« weiter präzisieren. Nicolai Guleke95, der in Stichs Augen »ungemein belesene und kritische Meister der Begutachtung«96, verbrachte einen Teil  seiner Ausbildungszeit ebenso wie Stich in Bonn, ist dort der Nachfolger von Lexer in Jena und gleichfalls ein Lehrer von Georg Magnus. Bereits im Ersten Weltkrieg war er, wie Stich, als Beratender Chirurg tätig. Ab 1933 nahm er an rassenpolitischen Schulungen in der Staatsschule für Führertum und Politik des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen in Egendorf teil. Er ist Mitglied des NS -Lehrerbundes, ab 1937 Mitglied der NSDAP97, Förderndes Mitglied der SS , NSV und SAReserve und des Dozentenbundes, eine nahezu mit Stichs politischen Organisationszugehörigkeiten identische Vita. Unter seinem Vorsitz wird 1938 Otmar Freiherr von Verschuer98 als Hauptredner zur Deutschen Gesellschaft für ­Chirurgie eingeladen. Im Zweiten Weltkrieg ist er dann erneut Beratender Chirurg. Nach 1949 arbeitet er an Bruns’ Beiträgen mit bis mindestens 1955. Für Kirschners Lehrbuch schreibt er 1942 einen Teil, der Stich begeistert: »Der Abschnitt ist einer der schönsten im ganzen großen Werk.«99 Auch der spätere Beauftrage für medizinische Wissenschaft und Forschung des NS -Generalkommissars für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, Paul Rostock, ist ein Schüler von Guleke. Nach 1938 gehört er zu den ständigen Mitgliedern des Beirates für Neurochirurgie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, zusammen mit Sauerbruch und Tönnis. Guleke ist ein Praktiker, mit ähnlich großen operativen Erfahrungen wie Stich und kein »technisch-innovative[r] Geist wie beispielsweise

95 Geboren am 25.4.1878 in Pernau in Livland, gestorben am 4.4.1958 in Wiesbaden, Chirurg Steinau/Bauer (Hg.), S. 119–129. Hier wird ein verklärtes Bild Gulekes gezeichnet, in dem nicht zu erkennen ist, wie die Autoren zu ihrem Urteil kommen. 96 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 197 (1958), zu Nicolai Guleke, Chirurgische Begutachtung. 97 Steinau u. Bauer interpretieren den Eintritt in die Partei als Voraussetzung zu seiner Wahl als Vorsitzenden der Gesellschaft. Diese Interpretation lässt nicht nur Rückschlüsse über die Färbung des Bandes von Steinau und Bauer zu, sondern, so sie denn stimmt, auch über die damaligen Verhältnisse in der Deutschen Gesellschaft für Chirur­ gie. Die dem gesamten Band immanente Haltung überrascht nicht, wenn man bedenkt, welch großen Einfluss zum Beispiel Karl Heinrich Bauer bis zu seinem Tod auf die Gesellschaft hatte. 98 Otmar Freiherr von Verschuer, 16.7.1896–8.8.1969, führender Rassehygieniker der NSZeit, Humangeniker, Zwillingsforscher, seit 1928 am KWI, tätig am Erbgesundheitsgericht, seit 1943 Honorarprofessor in Berlin, zuständig für die Menschenversuche seines Assistenten Mengele in Ausschwitz, seit 1944 im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, 1951–1965 Professor für Genetik und Leiter des Instituts für Humangenetik Münster, weiterhin von der DFG gefördert. 99 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 173 (1942), zu Martin Kirschner, Die Chirurgie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Martin Kirschner«100. »Vor allem scheint Guleke mit großem Geschick und in streng preußischer Disziplin seine 500-Betten-Klinik geführt zu haben.«101 Auch die Vita von Otto Nordmann102 zeigt diverse Parallelen mit Stichs. Nur ein Jahr jünger, wurde er ebenfalls Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung, studierte auch er in Freiburg und später in Göttingen, wo er promovierte. 1918 wurde er Mitglied der DDP, ging nach Berlin und wurde dort demokratischer Stadtverordneter. 1926 trat er wieder aus der Partei aus und äußerte sich öffentlich ab 1933 kritisch über die Weimarer Zeit und die DDP. Im Ersten Weltkrieg war er Chirurg im Feldlazarett. Obwohl er kein Parteimitglied war,103 war er nicht nur Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, sondern von 1940 bis 1946 auch ihr Schriftführer. Auch an Nordmann lobt Stich vor allem die praktischen Aspekte: Sein Prakti­kum der Chirurgie (1939) sollte in Stichs Augen dazu beitragen »den breiten Spalt zu überbrücken, der zwischen den auf der Universität erworbenen Kenntnissen und der praktischen Tätigkeit am Krankenbett klafft.«104 Das Buch sei mit großem Ernst und Sorge für den Kranken geschrieben, um »die Leiden unserer Schutzbefohlenen zu heilen oder wenigstens zu bessern.« Da er der »Lieblingsschüler Körtes105« sei, könne man von ihm nur Hervorragendes erwarten. Nordmann arbeitet von 1927 bis zu seinem Tode an Bruns’ Beiträgen mit. Stichs Nachfolger als Klinikleiter in Göttingen, Hans Hellner, aktualisiert 1952 das Praktikum der Chirurgie von Nordmann und übernimmt viele Passagen wörtlich um zu zeigen, »dass ich mich mit dem Erstverfasser eines Sinnes weiß.«106 Der Nordmann/Hellner ist für Stich ein hervorragendes Beispiel eines Lehrbuches.107 Nordmann gibt 1941 zusammen mit Kirschner dessen Lehrbuch heraus. Durch seinen Vorschlag war er maßgeblich daran beteiligt, dass Stich 1937 Präsident der Gesellschaft für Chirurgie wurde. Auch soll er wie Stich passionierter Jäger gewesen sein.108 100 Steinau, S. 121. 101 Ebd. 102 Geboren am 14.9.1876 in Bad Harzburg, gestorben am 26.5.1946 in Holzminden. Steinau, S. 131–149. 103 Das erscheint daher besonders merkwürdig, weil Steinau im Fall Guleke argumentiert, dieser habe in die NSDAP eintreten »müssen«, um Vorsitzender der Gesellschaft werden zu können. Dem vermeintlichen Regimegegner Nordmann gelang das offenbar auch ohne Parteibuch. Darüber hinaus wurde er sogar »nahezu einstimmig« gewählt. 104 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 170 (1939) zu Otto Nordmann, Praktikum der Chirurgie. 105 Körte ist ein Herausgeber des Archivs für klinische Chirurgie. 106 Steinau, S. 145. 107 Vgl. Stichs Rezension in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 184 (1952) zu Wilhelm Beyer, Spezielle Chirurgie. 108 Steinau, S. 132. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Georg Magnus109 ist in Stichs Augen ein Chirurg und Hochschullehrer, bei dem man keine Sorge haben müsste, »dass selbst höchste Ansprüche enttäuscht werden«110. Wie bei Stich ist auch bei Magnus Kiel eine Station seiner Ausbildung und auch er nahm als Chirurg am Ersten Weltkrieg teil. 1920 kam er mit Guleke nach Jena und wurde 1925 Chefarzt in Bochum am Krankenhaus Bergmannsheil. Hier wurde er zu einer Kapazität auf dem Gebiet der Unfallheilkunde. Stich bespricht seine Publikation in mehreren Bänden und betont: »Dass dieses große Werk gut geraten würde, habe ich schon in früheren Besprechungen zum Ausdruck gebracht. Die Namen der Herausgeber bürgten dafür ebenso wie die der gewählten Mitarbeiter«. Nebenbei war er an der Medizinischen Akademie in Düsseldorf tätig durch Fürspruch von Haberers’. Als er zum 17. November 1933, jetzt NSDAP-Mitglied, außerdem Ärztebund, Dozentenbund und NSV, von den Nazis als »linientreu« eingeschätzt  – wohl auf ausdrücklichen Wunsch Adolf Hitlers – für den emeritierten August Bier111 an die Charité berufen wurde, brachte er aus Bochum seinen Oberarzt Paul Rostock und den Assistenten Karl Brandt112 mit. Im Herbst 1936 folgte er Erich Lexer als Lehrstuhlinhaber in München. Als Unfallchirurg in der Behandlung von Wirbelsäulenverletzungen angesehen, wurde er im November 1938 mit Karl Brandt nach Paris zu dem angeschossenen Ernst Eduard vom Rath entsandt. Von 1936 bis 1943 war er Beratender Chirurg der Wehrmacht. Von 1937 bis 1942 war er Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Auch hier greift das typische Argumentationsschema befreundeter Kollegen im Entnazifizierungsverfahren, wenn sein Nachfolger beteuert, Magnus habe sich nie aktiv für den Nationalsozialismus eingesetzt und sich wiederholt kritisch geäußert. Er habe ihn immer als »lauteren unantastbaren Charakter und hilfsbereiten Menschen«113 empfunden. Auch Martin Kirschner114 steht Stich nahe. Er gibt ab 1926 Bruns’ Beiträge mit heraus, studierte wie Stich unter anderem in Freiburg und war Lehrstuhlinhaber in Königsberg, wo auch Stich einige Zeit zubrachte. Später übernahm 109 Geboren am 28.7.1883 in Berlin, gestorben am 22.12.1942 in München. Die hier ge­ gebenen biographischen Kurzinformationen entstammen größtenteils dem Band von Steinau, S. 33 ff. 110 Rezensionen von Stich zu Georg Magnus in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie, Bände 161 (1934), 162 (1935) und 163 (1936), hier Band 162. 111 August Bier, 24.11.1861–17.3.1949, Chirurg, ab 1907 Ordinarius und Direktor des Chirurgischen Universitätsklinikums Ziegelstraße in Berlin, 3./4.4.1932 im Völkischen Beobachter Aufruf für die NSDAP, am 18.8.1942 von Hitler zum ao. Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens ernannt. 112 Karl Brandt, 8.1.1904–2.6.1948, Chirurg, seit 1934 Begleitarzt Hitlers, seit 1939 »Euthanasiebevollmächtigter«, seit 1942 Bevollmächtigter für das Sanitäts- und Gesundheitswesen uvm., somit ranghöchster NS-Mediziner, im Nürnberger Ärzteprozeß zum Tode verurteilt. 113 Steinau, S. 45. 114 Geboren am 22.10.1879 in Breslau, gestorben am 30.8.1942 in Heidelberg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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er dann die Leitung der Chirurgischen Klinik in Heidelberg, die einige Jahre danach Stichs Lieblingsschüler Karl Heinrich Bauer leitete. Kirschner war im Ersten Weltkrieg als Chirurg tätig und im Zweiten Weltkrieg Beratender Chirurg. Er hat in Stichs Augen Vorbildcharakter für jüngere Generationen, daher legt er ihn als Maßstab für andere Publikationen an, die er rezensiert, so zum Beispiel bei Comberg (1934), der sich »würdig in die großen Operationslehren wie die von Kirschner« einreihe. Stich fühlt sich Kirschner charakterlich verbunden, da er in ihm ebenso einen »Feind von Unklarheiten«115 sieht. Als »persönlichen Freund« schlug R ­ udolf Stich ihn sogar für den Nobelpreis vor116. Auch der Chirurg Werner Wachsmuth117 erinnert sich in seiner Autobiographie Kirschners und Stichs gemeinsam, wenn er die Tagung der Beratenden Ärzte der Wehrmacht vom 2.  bis 5.  Januar 1940 in Berlin118 beschreibt, bei der Wachsmuth Führer der Fachgruppe Chirurgie war: »Es war eine schwierige Aufgabe, vor Männern wie Ferdinand Sauerbruch, R ­ udolf Stich oder Martin Kirschner zu bestehen. Die Atmosphäre war aber freundlich […].«119 Stich und Kirschner werden hier von der nachwachsenden Generation zu den Koryphäen und Autoritäten des Faches gezählt, gelten als Vorbilder. In Kirschners Lehrbuch von 1941 hat auch Stich einen Beitrag verfasst, ebenso wie andere der hier näher vorgestellten Ärzte, so dass es nahezu als Gemeinschaftswerk der Gruppe der Beratenden Ärzte gelten kann. Der Beratende Chirurg Erich Lexer120 wurde im selben Jahr wie Stich ge­ boren und war in Göttingen Assistent, 1905 bekam er mit nur dreißig Jahren einen Lehrstuhl in Königsberg zu einem Zeitpunkt, wo auch Stich sich an der Universität aufhielt. Er gilt mit Rehn zusammen als Begründer der bedeutenden und von Stich hoch geschätzten »Lexer-Rehnschen-Schule«121 und ist bis 1919, als er einen Ruf nach Freiburg annimmt, der Vorgänger von Guleke in Jena. Im Jahr 1936 wird er in München von Magnus beerbt. Lexers Schwester wird 1899 mit seinem Studienkollegen Fritz König verheiratet, dem Sohn von Franz König, der vor Stich in dem Göttinger Chirurgenhaus, Jahre darauf Villa Stich ge115 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 171 (1941) zu Martin Kirschner, Die Chirurgie. 116 Vgl. Nobelstiftelsens arkiv Stockholm, Avd. II:8. Prof. Hans-Jürgen Peiper erinnert sich an die Freundschaft zwischen den beiden. 117 Stich lobt in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 162 (1935) an Wachsmuth sein »unerhört schönes und lehrreiches, […] ganz außerordentlich gediegenes Buch«. Es sei »wirklich ein Genuß, in diesem Werk arbeiten zu dürfen«. 118 Ausführlich dokumentiert in: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Heeressanitätsinspektion/Militärärztliche Akademie, RH 12–23/676. 119 Werner Wachsmuth, Ein Leben mit dem Jahrhundert, Berlin/Heidelberg 1985, S. 59. 120 Geboren am 22.5.1867 in Freiburg, gestorben am 4.12.1937 in Solln. Sohn des Germa­ nisten Matthias Lexer. 121 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 183 (1951) zu Bruno­ Karitzky, Grundlagen der Chirurgie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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nannt, wohnte. Später wird Lexer, einer der Kommentatoren des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und so wird vielerorts bei diesem Thema auf ihn rekurriert. Stich bewegte sich nicht nur in diesem Umfeld, sondern befand dessen »Lehrbuch der Allgemeinen Chirurgie« noch im Jahr 1952 für »ausgezeichnet«.122 Hans von Haberer123 war im ersten Weltkrieg Oberstabsarzt und im Zweiten Weltkrieg Beratender Chirurg. Er arbeitete spätestens seit 1955 an Bruns’ Bei­ trägen mit und gab ab 1935 die Deutsche Zeitschrift für Chirurgie mit heraus, die vorher unter anderem unter der Leitung von Stichs Lehrer Garré stand. Er war mehrfach Rektor der Universität Köln, Mitglied der NSDAP und Förderndes Mitglied der SS. Er war Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und bis 1943 Direktor der Chirurgischen Klinik in München und setzte sich in Düsseldorf für die Karriere von Georg Magnus ein. 1945 von den Alliierten aus allen Ämtern entlassen, wurde er 1948 rehabilitiert. Stich schätzt an ihm ebenfalls besonders seine große Erfahrung.124 Die Beratenden Ärzte Stich, Lexer, Guleke und von Haberer wurden 1951 zu Ehrenmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie ernannt. Zu diesem Zeitpunkt waren sie vier von nur zwölf Ehrenmitgliedern. Das hauptsächliche Forum für die Beratenden Ärzte waren die Arbeitstagungen der Beratenden Ärzte der Wehrmacht. Neben den Fachtagungen125, die nicht nur ein Ort des Netzwerkens und des fachlichen Austausches, sondern auch durchaus ein politisch gefärbter Raum waren, waren diese besonders wichtig. Hier kamen die Beratenden Ärzte der verschiedenen Fächer zusammen, um im Rahmen kleiner Arbeitsgruppen erlassene dienstliche Hinweise und An­ordnungen auf ärztlichwissenschaftlichem Gebiet zu überprüfen. Auf der Tagung vom 2. bis 5. Januar 1940 in Berlin126 war Wachsmuth der Führer der Fachgruppe Chirurgie. Neben Stich waren mit Sicherheit auch Guleke und Kirschner anwesend.

122 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 184 (1952) zu Erich­ Lexer, Lehrbuch der Allgemeinen Chirurgie. 123 Geboren am 12.3.1875 in Wien, gestorben am 29.4.1958 in Düren. 124 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 164 (1936) zu Hans von Haberer, Zur Operationsanzeige bei Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür. 125 Viele Tagungen besuchte man gemeinsam. So fuhr Stich am 8./9.12.1933 nach Hannover zur Tagung der Vereinigung nordwestdeutscher Chirurgen, bei der auch Otto Nordmann zugegen war. Stich fährt ebenfalls auf die 50. Tagung der Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen am 14./15. Juni 1935 im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf, auf der die Genannten zwar nicht anwesend sind, auf der aber Kirschner und Magnus in der Diskussion, vor allem unter den Stich-Schülern Heydemann, Meyer-Burgdorff, Herlyn und Regensburger in den Aussprachen vermehrt Erwähnung finden und positiv beurteilt werden. 126 Ausführlich dokumentiert in: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/676. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Heeressanitätsinspekteur umreißt in seiner Ansprache die Stoßrichtung der Tagung: Es soll nicht um die Klärung offener wissenschaftlicher Fragen gehen, sondern darum, wie die gesammelten Kriegserfahrungen für die Zukunft nützlich seien könnten – übergeordneter Gesichtspunkt ist die Frage: Wie stärkt man die Wehrkraft? »Während in Friedenszeiten das Helfen und Heilen um jeden Preis in buchstäblichem Sinne dieser Worte für das ärztliche Handeln maßgebend ist, muss jetzt in der Kampfzeit um unser nationales Sein oder Nichtsein auch diese ärztliche Ethik sich unterordnen dem obengenannten Gesichtspunkt. […] Das bedeutet eine gewisse Härte des Arztes bei Wertung von Schmerz und Heilplänen.«127

Die baldige Wiederherstellung der Kranken erfordere besondere Maßnahmen, die man eventuell noch schärfer durchführen müsse. Kriterien, an denen Stich einen guten Arzt misst, gelten auch in diesem Bezugsrahmen: Die Grundlage dafür sei besonders große ärztliche Erfahrung, das überragende Können und Wissen und die daraus erwachsene Persönlichkeit. Man könne seine Aufgabe als Beratender Arzt dann am besten erfüllen, wenn man sich in allgemeine militärische Belange einlebe, die Initiative dazu müsse von den einzelnen Ärzten selbst ausgehen. Man müsse sich von Friedensgepflogenheiten frei machen und bei jeder sich bietenden Möglichkeit, wie beispielsweise Vorträgen, das Soldatische des Arzttums hervorheben. Es werde von den Beratenden Ärzten nicht nur ärztliche Hilfe, sondern auch eine erzieherische Leistung erwartet – durch besonderen Einsatz würden sie zu einem besonderen Vorbild. Stich notiert diese Tagung als Termin in seinem Kriegstagebuch, welches er verpflichtet war zu führen, tritt aber weder als Referent, noch als zur Aussprache Aufgeforderter auf. Er schreibt von dort aus einen Dankesbrief an Herrn Geyler von der Deut­ schen Arbeitsfront, die ihm zu Weihnachten eine »neue, schöne Ausgabe« von Mein Kampf geschenkt hat. Stich »freue sich ganz besonders«128, diese zu besitzen. Thematisch geht es nicht nur um Blutersatz, eines von Stichs Fachgebieten, sondern auch Kampfstoffverletzungen, über die unter anderem August Hirt referierte, der für die Lost-Versuche im KZ Sachsenhausen verantwortlich war.129 Der Kontakt zu den Verantwortlichen der schwersten Medizinverbrechen ist durch diese Tagungszusammenkünfte, die zur Förderung der Ge127 Tagung der Beratenden Ärzte der Wehrmacht am 3.1.1940, dokumentiert in Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/2084. 128 Stich an Geiler am 4.1.1940 in Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich. 129 Lost bezeichnet den Kampfstoff Senfgas, mit dem August Hirt im Konzentrationslager Natzweiler Versuche an Häftlingen durchführte. Hirt, geboren am 29.4.1898 in Mannheim und suizidiert am 2.6.1945 in Schönenbach, war Anatom und hatte u. a. in Heidelberg eine Professur inne. Jenseits seiner Versuche war er ebenso an der Ermordung von Häftlingen in Auschwitz beteiligt, deren Leichname zur Anlage einer Skelettsammlung am Anatomischen Institut in Straßburg dienen sollten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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meinschaft und Stärkung des Selbstverständnisses laut Tagesordnung in einem »kameradschaftlichen Beisammensein« ausklangen, also eindeutig belegbar. An der 2. Arbeitstagung Ost vom 30. November bis 3. Dezember 1942 nehmen aus Göttingen definitiv Stichs Kollegen R ­ udolf Schoen, Gottfried Jungmichel und Hans Hellner, vielleicht auch er selbst, teil. Der Chirurg Kilian referiert dort über Erfrierungen, ebenso wie die Wehrphysiologen Ranke und Holzlöhner  – über diese Thematik und die Protagonisten führt eine direkte Linie zu den Kälteversuchen in Dachau und anderen KZ’s. Die anwesende Gruppe, von der Stich ein prominenter Teil war, war also über diese Versuche informiert. Anlässlich dieser Tagung stellt Wachsmuth, der mittlerweile in eine zentrale Position gerückt ist, die Bedeutung dieser Zusammenkünfte noch einmal explizit heraus130: Einzelne Beratende Chirurgen hätten wiederholt den Wunsch nach stärkerem Zusammenhalt untereinander und mehr Meinungsaustausch gefordert. Der Krieg mache jedoch gemeinsame Tagungen für alle unmöglich, deswegen wird eine kurze Zusammenfassung der Berichte der Beratenden Chirurgen beim Heeressanitätsinspekteur verfasst und sämtlichen unmittelbar zugestellt. Man kann also davon ausgehen, dass auch die Beratenden Ärzte, welche nicht bei jeder Tagung persönlich anwesend waren, über die verhandelten Themen schriftlich ins Bild gesetzt wurden. Die 3. Arbeitstagung Ost vom 24. bis 26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin ist von eminenter Wichtigkeit. Rostock war der Leiter der Fachgruppe Chirurgie, aus Göttingen war als Chirurg Hellner anwesend und aus anderen Fachbereichen Schütz, Schön und Ewald. Auch Guleke war vor Ort. In der Vorrede wird erwähnt, dass im Bereich der Chirurgie vor allem das Periston131 wesentlich sei als »Träger örtlicher Betäubungsmittel«. Die Tagung ist deshalb in der Diskussion über »kriegswichtige Forschung« und

130 Vgl. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg RH 12–23/513. Meldung von Wachsmuth an die Militärärztliche Akademie. 131 Bei Periston handelt es sich um die Substanz Polyvinylpyrolidon, welche vielfach, unter anderem auch als Blutersatzmittel, eingesetzt wurde. In Auschwitz wurden serielle Versuche mit diesem Mittel an Häftlingen durchgeführt, vgl. http://www.history. ucsb.edu/faculty/marcuse/classes/33d/projects/medicine/Medicine.htm [eingesehen am 10.4.2014]. Versuche mit Serumskonserven gab es auch in Buchenwald, diese Versuche wurden bisher »kaum registriert« meint Neumann (S. 305). Sie wurden an den Insassen auf ihre Verträglichkeit hin geprüft und wurden von der Militärärztlichen Akademie bei der SS in Auftrag gegeben. 1944 kam das Mittel von Bayer vertrieben auf den Markt und war bis in die 60er Jahre erhältlich. Nicht nur von Rostock selbst wurde schon zu diesem Mittel geforscht, auch andere Beratende Ärzte führten bereits 1940 Untersuchungen durch. Parallelforschungen der SS belegen die wissenschaftliche Konkurrenz, in welcher diese sich mit der Wehrmacht befand und welche auch dafür verantwortlich zu sein scheint, dass beide Seiten zu immer drastischeren Mitteln griffen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Medizinverbrechen von großer Wichtigkeit, weil Karl Gebhardt132 (Hohenlychen), welcher später im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt wurde, einen Vortrag über Gasbrandversuche im Auftrag Himmlers hielt. Das Besondere daran ist, dass erstmals ein SS -Arzt auf einem Forum der Wehrmacht referierte133, das war nach Wachsmuth »bisher auf das peinlichste vermieden worden.«134 Wachsmuth schildert seine vermeintliche Abscheu und die Erwartung, dass Handloser den Vortrag abbrechen würde, der jedoch »nicht den Mut dazu fand«. Wachsmuth sah rückblickend hier »den entscheidenden Augenblick, die Ehre der deutschen Ärzteschaft zu verteidigen«, den aber weder er, noch einer seiner Kollegen und Vorbilder ergriff. Die Verantwortung sah man jeweils bei anderen, so dass letztlich keiner sie übernahm. Wachsmuth spricht in seinen Erinnerungen nach 1945 von einer »persönlichen Enttäuschung«, dass Sauerbruch nicht protestierte, da dieser sonst »die Diktatur bekämpfte, wo er nur konnte« und in seiner Wahrnehmung, oder nachträglichen Stilisierung, ein »überzeugter und human denkender Arzt« war. Wachsmuth führt später als Erklärung für diese Passivität der anwesenden Ärzte an, dass alle aus Gehorsam vor der militärischen Hierarchie geschwiegen hätten. Plausibler in der historischen Einschätzung scheint jedoch, dass die anwesenden Ärzte sich für die Ergebnisse der Forschungen und ihren Wert für ihre eigenen Arbeiten so sehr interessierten, die Forschungen vielleicht im Sinne eines Dienstes am nationalsozialistischen Staat womöglich sogar gut hießen, dass niemand eingreifen wollte. SS -Obergruppenführer und General der Waffen-SS Professor Dr. med. Ernst Grawitz135 berichtete über die Sulfonamidversuche in Ravensbrück und in Dachau; sie stellten ein besonderes Prestigeobjekt von Grawitz dar und obwohl er bemüht war, 132 Karl Gebhardt, geboren am 23.11.1897 in Haag, hingerichtet am 2.6.1948, in Landsberg war ein deutscher Chirurg, Himmlers Leibarzt und führte auch medizinische Versuche an Häftlingen vor allem im Konzentrationslager Ravensbrück durch (seine nahegelegene Klinik befand sich in Hohenlychen). Seine Experimente mit Sulfonamid, das gegen Gasbrand helfen sollte, verursachten furchtbare Qualen bei den Häftlingen und führten nicht selten zum Tode. 133 Der auf der Tagung und im später entbrennenden Meinungskrieg deutlich werdende Konflikt zwischen den Beratenden Ärzten der Wehrmacht und Forschungen im Auftrag der SS erscheint als Stellvertreterkonflikt, der wiederum das elitäre Selbstverständnis der Universitätsmediziner zum Gegenstand hat und auf der Folie des Spannungsfeldes Arzttum vs. politische Instrumentalisierung unter dem Stichwort einer freien Wissenschaft ausgetragen wird und somit anschlussfähig ist für Überlegungen zum Wissenschaftsdiskurs im Nationalsozialismus allgemein. 134 Zitiert nach Behrendt, S. 79. 135 Ernst Grawitz, 8.6.1899–24.4.1945, Internist, seit 1931 Mitglied der SS, seit 1932 Mitglied der NSDAP, ab 1935 Chef des Sanitätsamts im SS-Hauptamt, ab 1940 Sanitätsinspekteur der Waffen-SS, Chef des Sanitätswesens der SS, verantwortlich für Menschenversuche in den Konzentrationslagern, ab 1941 Honorarprofessor in Graz, seit 1944 Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Suizid. Vgl. genau zu Grawitz und Gebhardt, Gerd R. Ueberschär, Hitlers militärische Elite, Darmstadt 1998 und Hahn. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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die Versuchsergebnisse nur getarnt zu referieren, erwähnte er trotzdem drei Todesfälle – die anwesenden Militärärzte äußerten in der Diskussion keinen Widerspruch gegen die Versuche. Es ist mit einiger Sicherheit anzunehmen136, dass Gebhardt und Grawitz für ihre Beteiligung an diesen Versuchen in Nürnberg zum Tode verurteilt worden wären. Grawitz beging indes am 24.  April 1945 Selbstmord und entzog sich damit seiner Verantwortung. Die hier vorgestellten, repräsentativen Vertreter des Berufsstandes lassen in den biographischen Parallelen und in ihrem Verhältnis zu R ­ udolf Stich einige allgemeinere Rückschlüsse auf die Gruppe der Chirurgen der Zeit zu, insbesondere auf die Gruppe der Beratenden Chirurgen. Sie illustrieren den personellen, institutionellen und strukturellen Rahmen von Stichs wissenschaftlicher und gruppenbezogener Tätigkeit als Mediziner, der darüber hinaus eine hohe selbstvergewissernde und gemeinschaftsfestigende Komponente darstellt, die als Charakteristikum des medizinischen Standes in dieser Zeit und somit auch als strukturelle Komponente in Stichs Biografie bedeutsam ist. Die Beziehungen zwischen den Chirurgen fußen auf einfachen Prinzipien und natürlich gewachsenen Strukturen: gemeinsame Stationen in der Ausbildung, gleiche Funktionen, ähnliche Forschungen, Tagungsbesuche und vieles mehr. Eine Gruppenbildung kommt vor allem über die einzelnen chirurgischen Schulen und die gemeinsame Tätigkeit im Dienst der Wehrmacht zustande. Diese Gruppe scheint insgesamt eine relativ geschlossene zu sein. Zugang zu dem kleinen Kreis haben nur die Angehörigen gewisser Schulen. Auch handelt es sich um eine äußerst stabile Gemeinschaft. »Seit dem Studium wiesen die Biographien der Mediziner eine hohe Kontaktdichte auf. Über Kongresse, gegen­seitige Besuche und Briefe137 blieben die Kontakte lange oder lebenslang erhalten – die Beziehungen zeichneten sich durch eine hohe Stabilität aus.«138 Das hat zur Folge, dass sich die personelle Zusammensetzung der Gruppe wenig ändert und auch der thematische Kern hat eine hohe Konsistenz. Die konstanteste Linie ist allerdings das gemeinsame Selbstverständnis. Dazu passt die relativ hohe Dichte des Berufsstandes, die durch die relativ geringe Größe und den regen Austausch bedingt ist. Daraus resultiert auch die Intensität der Beziehungen: »Mediziner waren um 1900 allgemein in ein engmaschiges und multi136 Ueberschär, S. 71. 137 Den regen brieflichen Kontakt zwischen den Chirurgen und Bruns’-Autoren belegt eine kleine Auswahl an Korrespondenzen, die Karl Heinrich Bauer nach 1945 führte. So korrespondierte Bauer neben Stich auch mit diversen anderen Bruns’-Autoren wie Kilian, Rein, Guleke, Jungmichel, Opitz, Hellner, Bürkle de la Camp und Büchner (1959). Hier findet sich die Anmerkung: »Als ich Privatdozent in Göttingen war, gab es an der ganzen Universität ein Auto, das hatte der Chirurg STICH!« Und auch mit zahlreichen weiteren Stich-Schülern, die Bruns’-Autoren gewesen sind: Heynemann, Seulberger, Sebening, Patrikalakis, Tammann, von Gaza, Beykirch, Yi Ming-Yen, Büttner, Federschmidt, Martens. 138 Axel Hüntelmann, Paul Ehrlich: Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011, S. 261. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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plexes Netzwerk eingebunden.«139 Bereits im Studium haben sie weitreichende Beziehungen geknüpft, aus publizistischem oder persönlichem Austausch bezogen sie Forschungsimpulse und Anregungen. Hinzu kommt die hohe Bedeutung räumlicher Vernetzungen, deren Knotenpunkte bestimmte medizinische Zentren waren, in denen Kontakte geknüpft wurden. Als abstrakte Räume lassen sich auch die medizinischen Schulen begreifen. Klar treten auch Hierarchien innerhalb der Gruppe und der Untergruppen zu Tage. Diese Beobachtung verweist schon auf die Eigenschaften der Beziehungen innerhalb des Standes: Typischerweise fühlt sich Stich mit den Personen besonders verbunden, mit denen er eine große Schnittmenge an gemeinsamen Merkmalen hat, wie einen gemeinsamen Erfahrungsschatz, was meistens die Teilnahme am Krieg bedeutet oder auch der zeitgleiche Aufenthalt in einer bestimmten Stadt. Auch die ideelle oder tatsächliche Zugehörigkeit zu einer Schule spielt für Stich eine herausragende Rolle. Man bezieht sich also auf einen geteilten Wissenskanon. Zu den erwähnten Merkmalen kommt im Kreise der Mediziner auch der gesellschaftliche Status: »Die Zugehörigkeit zum Bürgertum bedingte, dass bestimmte soziokulturelle Konventionen eingehalten wurden, ein bestimmter Lebensstil gepflegt und gemeinsame Werte kultiviert wurden.«140 Daraus speiste sich das elitäre, standesbewusste Selbstverständnis, welches den Berufsstand stärkte und welches potenzierend und kontinuierlich die gesamte Gruppe auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus verbindet und eine dominante Kontinuitätslinie sichtbar macht. Gesellschaftliche Veränderungen und ideelle Ausprägungen, die der Nationalsozialismus mit sich brachte, fielen hier auf einen äußerst fruchtbaren Boden und wurden in das bereits vorher vorherrschende Selbst­ verständnis der Gruppe erfolgreich integriert.

Führer zur »Volksgesundheit« Stich verstand sich nicht nur als »politischer Soldat«141, als Arzt war er ebenso ein »biologischer Soldat«142: Da im Kern der nationalsozialistischen Auffassung die Pflicht stand, gesund zu sein und das Recht des Einzelnen auf seinen Körper 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Auch über den Patienten als »politischen Soldaten« ist geforscht worden. Vgl. Eberhard Wolff, »Politische Soldaten der Gesundheitsführung«? Organisierte Patienten im Nationalsozialismus  – das Beispiel außerschulmedizinischer Laienbewegungen, in: Jürgen Pfeiffer (Hg.), Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992, S. 108–130. Die Metapher wird unten näher erläutert. 142 Ernst Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 2001, S.  46–49. Weiterführendes zur biodiktatorischen Praxis zum Beispiel in Wolfgang Uwe Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Köln 2012, S. 101–249. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gar bisweilen, wie vom Frankfurter Anatom Wilhelm Pfuhl, als »liberalistisches Vorurteil«143 bezeichnet wurde, kam dem Arzt im Dienste der »Volksgesundheit« eine herausragende Aufgabe zu. Dabei verstand man unter »Volksgesundheit«144 nicht zu allen Zeiten die­ selben Inhalte. Im Sprachgebrauch der Nationalsozialisten meinte der Begriff etwas anderes als vor 1933.145 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bedeutete Gesundheit vor allem Arbeitsfähigkeit, die einem aus göttlicher Gnade geschenkt wurde. Daher interessierten sich die Ärzte dieser Zeit wenig für »Volksgesundheit«,146 wenn diese hier den durchschnittlichen Gesundheitszustand der Bevölkerung meint, für den der wichtigste Indikator die Sterblichkeit ist. Später wurde der Begriff zunächst vor allem mit Fragen der Hygiene verknüpft147, die jedoch auch auf soziale Verhältnisse Einfluss nehmen und so ist er im Sinne einer öffentlichen Gesundheitspflege zu interpretieren.148 Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert rückte dann vermehrt die Soziale Hygiene in den Fokus, die ihren Blick auf die Häufung von Krankheiten in bestimmten Gruppen der Gesellschaft und auf deren spezifische, offenbar pathogene Lebensverhältnisse richtete. Dabei zielte die Gesundheitsfürsorge als Praxis der Sozialen Hygiene vor allem auf zwei unterschiedliche Gruppen: die durch Alter, soziale Lage oder Berufstätigkeit einer besonderen gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt waren und diejenigen, die durch eine (Volks-)Krankheit sich und ihre Mitmenschen gefährdeten. Die Interventionsformen waren dauernde ärztliche Beobachtung gesundheitlich gefährdeter, und auch gefährdender Bevölkerungsgruppen, Feststellung von Krankheitsanlagen und Krankheitsanfängen, schließlich hygienische Aufklärung, Beratung sowie vor allem: Erziehung. Im Nationalsozialismus lag dann die Betonung nicht mehr auf der Fürsorge, sondern auf der Vorsorge, man ging nun vom Gesunden aus und nicht mehr vom Kranken, das einzelne Glied der »Volksgemeinschaft« hatte eine »Pflicht zur Gesundheit«, der Arzt wurde zum »Gesundheitserzieher«. Gerade dieser erzieherische Impetus ist heute kritisch zu bewerten: »Auch das gemeinhin als unpolitisch verstandene Engagement der Ärzte für die »Volksgesundheit« 143 Zitiert nach Klee, Deutsche Medizin, S. 46. 144 Es handelt sich bei dem Begriff um einen, zu dem es bisher keinen nennenswerten Beitrag in der Medizingeschichte gibt. Zu diesem Urteil kommt Reinhard Spree, S. 76. 145 Michael H. Kater, ›Volksgesundheit‹. Ein biopolitischer Begriff und seine Anwendung, in: Hartmut Lehmann u. Gerhard Otto Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Leitbegriffe, Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe, Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 101–114. 146 Spree, hier S. 75. 147 Vgl. u. a. Alfons Labisch, Experimentelle Hygiene, Bakteriologie, Soziale Hygiene: Konzeptionen, Interventionen, soziale Träger – eine idealtypische Übersicht, in: Jürgen Reulecke u. Adelheid zu Castell Rüdenhausen (Hg.), Stadt und Gesundheit, Stuttgart 1991, 37–47. 148 Vgl. Labisch, S. 39. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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offenbarte im Nationalsozialismus seine politische Brisanz. Das Volk musste erzogen werden zu Gesundheitswillen und Leistungssteigerung.«149 Rassische und soziale Vorurteile spielten eine bedeutende Rolle bei dem ärztlichen Einsatz für die »Volksgesundheit«. Gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass »es häufig nicht die politische Parteinahme war, die Ärzte zu Handlangern des Systems werden ließ, sondern vielmehr der Verzicht auf bewusste politische Auseinandersetzung.«150 Aus den überlieferten Reden R ­ udolf Stichs151 lässt sich herausarbeiten, wie sich all diese Faktoren in seinem Selbstverständnis wiederfinden. Dabei rekurriert er bewusst auf seine Vorbilder, die auch die Basis für seine idealtypische Vorstellung vom »richtigen Arzt« bilden. Aufgrund seiner großen Erfahrung sieht er sich 1943 in der Position, über das Arzttum »und insbesondere vom deutschen Arzttum« zu sprechen. Dabei resümiert er, dass es immer mehrere Sorten Ärzte gegeben habe, »tüchtige, ehrliche und anständige«, jene, »deren kaufmännische Begabung sie besser geschäftstüchtige Kaufleute hätte werden lassen« und jene, »bei denen die Liebe zu ihren Kranken erst weit hinter ihrer Liebe und ihrer Leidenschaft für die rein wissenschaftliche Seite unseres Berufes kam«. Stich aber fühlt sich zum Arzttum berufen: »Ich muss wohl den Beruf zum Arzt [= hergeleitet von Berufung] in mir gefühlt haben.« Daher sei er noch immer bis zum heutigen Tage leidenschaftlich an seinen Beruf gefesselt. Wenn Stich erläutert, dass er persönlich Arzt wurde, »um zu helfen und zu heilen«, betont er gleichermaßen, dass »dieser Wunsch, […] seit jeher die Triebfeder ärztlichen Handelns gewesen ist und […] sie bleiben muss für alle Zeiten. Der richtige Arzt hat diesen Wunsch immer gehabt.« Er deklariert sich also nicht nur als »richtiger Arzt«, sondern sieht seine Motive als kollektive Motive an. Darüber hinaus hält er es für unabdingbar, »den Arzt wieder mehr den wichtigen erzieherischen und kulturellen Aufgaben zuzuführen, die gerade der deutsche Arzt heute nicht unterschätzen darf.« Der »deutsche Arzt« solle als Vorbild dienen und mit gutem Beispiel voran gehen. Diese Einstellung, die Stich beispielsweise auch in seinem Engagement für Kollegen in der SA an den Tag legt, steht unter der Maxime, dass der Arzt immer »Mittel und Wege finden [wird], bedrängten Volksgenossen zu helfen«. Doch R ­ udolf Stich reicht es nicht, ein »richtiger« Arzt zu sein – er will als »politischer Soldat« dem Staate und dem Führer dienen für eine »schönere und bessere Zukunft unseres Vaterlands«. 149 Bleker, S. 180. 150 Ebd., S. 181. 151 Grundlegend sind hier drei Reden Stichs ausgewertet worden. Seine Eröffnungsrede auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1937, seine Rede »Der Arzt als Gesundheitserzieher« von 1941, die er vor Abiturienten und deren Eltern hielt und »Vom deutschen Arzttum« (1943), gehalten vor einer Sanitätskompanie, letzten beiden Reden im Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. R. Stich: Nachlass Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Wie überhaupt kein Deutscher auf der ganzen Welt, so kann sich auch kein deutscher Chirurg den gewaltigen Eindrücken entziehen, die seit der Wiedererweckung Deutschlands am 30. Januar 1933 auf uns eingestürmt sind. Wir alle sind uns bewußt, daß dieser Tag einen Wendepunkt unseres nationalen Daseins nach langen Jahren erniedrigender Schmach bedeutet. Frühere Ereignisse unserer vaterländischen Geschichte haben jeweilen eine kurze Geschlechterfolge geprägt, der 30.  Januar 1933 ist dazu bestimmt, ein ganzes Volk für Jahrhunderte und darüber hinaus zu prägen. Den deutschen Ärzten und unter ihnen den deutschen Chirurgen sind dabei hohe Aufgaben gestellt.«152

Und so entwickelt Stich die Metapher des »politischen Soldaten«, die mög­ licherweise konstitutiv für sein Selbstverständnis gewesen sein könnte. »Wenn jeder von uns sich mit seinem ganzen Herzen, seinem ganzen Denken und Handeln als politischer Soldat in den Dienst der Gesamtheit stellt, dann ist mir nicht bange, dass auch die deutsche Chirurgie ihren wertvollen Beitrag« leisten wird. Stich und sein Berufsstand sind bereit, sich vollständig den Zielen des neuen Regimes zu verdingen. Auffällig ist, dass Stich an dieser Stelle, an der er ja eigentlich Klinikleiter und Medizinprofessoren anspricht, nicht das Wort Arzt wählt, sondern von Soldaten spricht. Hier wird die Summe der gemeinsamen Charaktereigenschaften bereits in seinem Denken deutlich. Die beiden semantischen Felder werden aber darüber hinaus noch mit dem der Politik verknüpft, denn der Arzt-Soldat kämpft nicht nur, sondern er stellt sich in den Dienst der Politik, indem er die Aufgaben übernimmt, welche das nationalsozialistische Regime ihm überträgt. Politisches Handeln, der Arztberuf und das Soldatentum werden hier eins unter einer ideologischen Überdachung. Das Leitbild des »politischen Soldaten« hat mehrere Wurzeln. Eine liegt im Stahlhelm, denn bereits hier wird das Bild des »Soldatenpolitikers« entworfen: »Der Stahlhelmer [war] ein Soldat, der auch Politik machte«153. Das Soldatentum, in diesem Fall das verherrlichende Gedenken an die Fronterfahrung aus dem Ersten Weltkrieg, ist hier das konstitutive Element des Kompositums. Aber auch die SA beansprucht in einer Propagandaschrift 1933 die Idee des Konzeptes für sich, indem sie zunächst betont, der Soldat des Ersten Weltkrieges sei unpolitisch gewesen. Erst Hitler habe erkannt, dass es darauf ankäme, »die Kraft des deutschen Kriegertums […] auf die Ebene der Politik zu lenken. Er ist der erste politische Soldat des Deutschen Reiches gewesen und hat aus seiner Schau heraus mit seinem Willen die neue Gestalt des politischen Soldaten geschaffen.«154 Und da das »wesentliche Element des Hitler’schen Kampfes« die 152 Rede Stichs, Körte, S. 8. 153 Irmtraut Götz von Olenhusen, Vom Jungstahlhelm zur SA. Die junge Nachkriegsgeneration in den paramilitärischen Verbänden der Weimarer Republik, in: Wolfgang R. Krabbe (Hg.), Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, S. 146–183, hier S. 177. 154 Wulf Bley, SA marschiert: Leben und Kampf der braunen Bataillone, Berlin 1933, S. 13 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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SA sei, in der sich das »Wesen des Führers […] verhunderttausendfacht«155 habe, sei die SA eine Armee »politischer Soldaten«. Auch der Reichsjugendführer Baldur von Schirach bediente sich 1934 in seinem Buch Die Hitler-Jugend  – Idee und Gestalt desselben Bildes und verknüpfte in der Ideologie vom »politischen Soldaten« Soldatentum und nationalsozialistische Weltanschauung. Dabei ging es ihm vor allem darum, das Soldatische als eine Haltung zu definieren, die durch Mut, Überzeugung und die Bereitschaft, sich für eine Idee zu opfern, gekennzeichnet war. Vor allem die Unterordnung unter den »Geist der Gemeinschaft«156 dürfte Stich begeistert haben, der als Soldat des Ersten Weltkrieges bei der Erziehung zum politischen Soldaten eine Vorbildfunktion einnahm, die er gerne und mit großem Ernst ausfüllte. Die Volksgemeinschaftsideologie, die in der SA im Kleinen vorgelebt wurde, basierte auf der Glorifizierung der »Frontkameradschaft« des Ersten Weltkrieges, die – obwohl es sie in dieser Form nie gegeben hatte – als Idealbild der »Volksgemeinschaft« gewertet wurde, also als Modell einer Gesellschaftsordnung ohne Klassengegensätze. In der Sprache der damaligen Zeit formulierte dies Die Kameradschaft in ihrer Märzausgabe von 1934: »Nicht an die Waffe gebunden ist soldatische Haltung. […] Soldat sein heißt, seine Pflicht tun gegenüber der Gemeinschaft, das Ich stellen hinter das Wir, hart sein in Ausübung der übernommenen Aufgaben, hart gegen sich und andere. So ist Soldatentum Sozialismus und das Wort: ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ ist nirgends größere Wahrheit als beim Soldaten. Diese Haltung können wir selbst täglich und stündlich im Alltag leben. Die Forderung der sittlichen Zucht, des unbedingten Gehorsams, der Opferbereitschaft für die Gemeinschaft, der Kameradschaft im einigen völkischen Willen, diese Forderungen müssen wir täglich uns selbst stellen und müssen sie leben.«157

Die Bedeutung der Komponente Sozialismus in Nationalsozialismus wird hier auf eine spezifische Weise definiert und eine soziale Komponente mit nationaler Gesinnung verknüpft, wie auch Stich den Begriff für sich interpretiert hat, wenn er am 28.9.1935 an seinen Freund und Schüler Karl- Heinrich Bauer schreibt: »Im Nationalsozialismus des Herzens lasse ich mich deswegen wahrlich nicht […] übertreffen. Mein ganzes Leben hat, seit ich selbstständig bin, aus Sozialismus und nationaler Gesinnung bestanden, nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat. Und jeder wahre alte Bubenreuther ist je und je von nationalsozialistischer Gesinnung erfüllt gewesen.«158 155 Bley, S. 15. 156 Baldur von Schirach, Die Hitler-Jugend – Idee und Gestalt, 1934, S. 91. 157 Die Kameradschaft, F. 6, 1934, S. 25. 158 Brief von Stich an Bauer vom 28.9.1935, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Und so erscheint Stichs zweite Metapher nur folgerichtig. Bei der üblichen, formelhaften Einschwörung auf Hitler zeichnet er das für ihn besonders aussagekräftig und mehrfach bemühte Bild des Führers Hitler als Arzt und geht dabei auf die für ihn natürliche Wesensgleichheit von Arzt und Führer ein. Dieses Bild könnte ein Schlüssel sein, um Stichs Selbstverständnis als Arzt und seine Führergläubigkeit zu fassen. Denn »wenn die Jüngsten unter uns die gewissenhafte Gestalt des Dritten Reiches in Jahrzehnten werden erleben können, sind wir Alten dahingegangen. Das geistige Bild dieses Reiches aber tragen heute schon Vieltausende von Älteren im Herzen. Wir sind uns alle bewußt, daß wir diese Hoffnung auf eine schöne Zukunft unseres Vaterlandes dem Manne verdanken, der als unbekannter Soldat aus dem Weltkrieg zurückgekehrt ist mit dem festen Entschluß, den niedergebrochenen Vaterland wieder zum Aufstieg zu verhelfen. Diesem großen Arzt unseres Volkes, der nie den Glauben an sein krankes Volk verloren hat und der es aus schwerster Not und Krankheit der Genesung zuführt, ihm gehört unser Herz und unser Dank. Unser Führer und Reichskanzler und Helfer der Not, Adolf Hitler: Sieg Heil!«159

Diese Gipfelung in dem Bild von Hitler als Arzt ist nicht nur eine Überhöhung des Führers, sondern noch stärker die Überhöhung des eigenen Wirkens und Beruffsstandes und wiederum Ausdruck eines übersteigerten Selbstverständnisses, welches im Nationalsozialismus jedoch seine Berechtigung hatte und perfekt im Führerkult aufgeht. Eine durchaus makabere Stoßrichtung hat ein Vergleich, den Stich zieht, um gegen die Absonderung einzelner Spezialgebiete von der Chirurgie zu argumentieren. »Wer die Neurochirurgie, die Kieferchirurgie, die Urologie, die Orthopädie, die Unfallheilkunde roh und rücksichtslos vom Baum der großen Mutter Chirurgie absägen will, der wird bald genug einsehen müssen, daß er damit die verhätschelten Lieblingskinder einer Operation unterzieht, die wir heute an Geistesschwachen und ähnlichen unglücklichen Kranken ausführen (Heitere Zustimmung).«160

Bezüglich dieser Thematik argumentiert Stich ähnlich wie seine Kollegen: »Trotz des großen Ernstes, mit dem wir diesen Fragen nachgehen, ist es uns noch nicht für alle Fälle klar geworden, wann diese körperlich Leidenden wertlos für ihre Umwelt, für das ganze Volk sind. Gerade bei den in unser Arbeitsgebiet fallenden Kranken muß vor einseitiger Überspitzung des Ausmerzungsgedankens gewarnt werden. Können doch in den Sippen solcher körperlich Verunstalteten sehr hohe geistige Werte s­ tecken. Wir müssen uns in strengem Verantwortungsgefühl um eine wirkliche Sinnerfüllung des wunderbaren Gedankens der Auslese bemühen, aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß auch der körperlich Gehemmte in das Ganze der 159 Rede Stichs, Körte, S. 13. 160 Ebd,, S. 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Volksgemeinschaft eingefügt werden muß, mag er an einem erworbenem oder angeborenen Fehler leiden. Wir dürfen nicht auf alle Menschen mit angeborenen körper­ lichen Fehlern einfach verzichten, wenn wir nicht an Kulturgut verarmen wollen, aber wir müssen Kraft und Willen aufbringen, rücksichtslos durchzugreifen, wenn vererbte schwere körperliche Fehler geeignet sind, ganze Familien ins Verderben zu stürzen.«161

Am deutlichsten wird Stichs erzieherischer Impetus in der Erläuterung der euge­nischen Gesetzgebung. Er ist sich bewusst, dass zahlreiche Patienten, Angehörige und »Volksgenossen« das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN) ablehnen und dass »nicht nur geistig Minderwertige, auch kluge, an bevorzugter Stelle im Leben stehende Menschen […] der wirklichen Sinnerfüllung des wunderbaren Gedankens der Auslese oft noch fremd und verständnislos gegenüber [stehen]. Hier ist der deutsche Arzt – er muss sich freilich in den nicht immer ganz einfachen Stoff einarbeiten – die Stelle, die aufklären und helfen muss.«

Seine gesamte Argumentation für diese Gesetze ist mit nationalsozialistischbiologistischem Gedankengut und Vokabular durchsetzt, wenn er davon spricht, dass die vorbeugende Gesundheitsbetreuung »unermesslichen Schaden an wertvollem Erbgut unseres Volkes verhüten« könne, dem »Quell für die Erneuerung der Volkskraft«. Entscheidend ist jedoch, wie er seine Rolle be­urteilt. »Der Arzt des Vertrauens kann hier Wunder wirken durch Aufklärung und väterliche Beratung«. Aufklärung  – Wunder  – Vaterfigur: In dieser Mischung werden Erzieher, Führer, Arzt und Vater in wunderbarer Mission eins. Diese Wunder könnten jedoch nur vollbracht werden, wenn Arzt und Kranker »am gleichen Strange« ziehen. Das Gemeinwohl der »Volksgemeinschaft« stehe hier an erster Stelle, welches mancher Arzt vor 1933 zu oft aus dem Auge verloren habe. Doch »heute hat der Arzt die Pflicht, das gleiche Verantwortungsgefühl, das er für den Kranken hegt, auch denen entgegen zu bringen, die die Lasten für den Kranken zu tragen haben. Das ist aber letzten Endes die ganze Volksgemeinschaft.« In dem Konflikt, was dem Wohl des Einzelnen dient und was der Gesamtheit, argumentiert Stich, der Arzt dürfe sich nicht, wie es in seiner Wahrnehmung zu häufig geschieht, nur einseitig für den Einzelnen einsetzen, sondern er müsse die »Verpflichtungen gegen die Gesamtheit«162 stärker wahrnehmen. Der Antagonismus zwischen dem Wohl des Einzelnen und dem der Gesamtheit tritt nicht nur in Fragen der Rassehygiene, sondern auch im ärztlichen Alltag deutlich zu Tage. Stich hält es radikal für ein »Verbrechen«, ärztliche Sachkenntnis und Urteilskraft »allein in den Dienst des Kranken zu stellen.«163 Denn 161 Ebd., S. 11. In dem Abdruck der Reden bei Steinau fehlt bezeichnenderweise diese Passage. Hervorhebung im Original. 162 Zitiert nach Steinau, S. 246. 163 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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das ärztliche Handeln hat Auswirkungen auf die ganze »Volksgemeinschaft«. Er konstatiert: Der »Wille zur Gesundheit, der Wille zur Arbeit, der Wille zur Wehrhaftigkeit im Volke« wurde »geschädigt, ja vernichtet«. Daher müsse der Arzt als Erzieher »den persönlichen Willen des Kranken zur gesunden Leistung festigen und steigern, anstatt aus Weichheit und falschem Mitleid Krankheitswillen und Rentensucht zu fördern.« Stichs erzieherisches Credo beschließt diese Gedanken: »Eines freilich glaube ich hervorheben zu müssen: Die volle Wirkungskraft wird nur der Arzt des Vertrauens, der Arzt, den der Kranke – oder Gesunde – aus freiem Willen und aus eigenem Entschluss aufsuchen kann, mit anderen Worten der frei­ berufliche und selbstverantwortliche Arzt, entfalten können. Aber auch dieser wird nur dann Führer, Berater und Mitkämpfer im Kampf gegen die Krankheit sein können, wenn beim Kranken der Wille, gegen sein Leiden anzugehen, ungebrochen und ­ehrlich ist.«164

Aber waren diese Forderungen tatsächlich genuin nationalsozialistischer Couleur oder reichen auch hier die Wurzeln weiter zurück und über die Grenzen Deutschlands hinaus?

Seine Haltung als Arzt Ausgehend von diesen standesspezifischen Auffassungen und in Anlehnung an die Beobachtungen zur Gruppe der Chirurgen, lässt sich Stich als Arzt und die seiner Persönlichkeit entsprechende Interpretation dieses Arzttums auf der Grundlage seiner eigenen Aussagen fassen.

Stich und historische Vorbilder Stichs großes Vorbild als Arzt scheint Hippokrates zu sein.165 In der Verbindung von Hippokrates mit einem »ewigen Arzttum« wird eine historische Kontinuität konstruiert.166 Der Grieche dient häufig als Symbol für die ethische Kompetenz des Arztes, eine Rückbesinnung auf ihn findet auffälligerweise vor allem dann statt, wenn die Ethik der Medizin bedroht zu sein scheint und diese Beobachtung gilt auch für die Legitimationskrise der Medizin Anfang des 164 Dass dieses Vertrauen eine rhetorische Figur war und nicht der Wirklichkeit entsprach, stellt Klee, Deutsche Medizin (S.  48), deutlich heraus, wenn er betont: »Jegliche Ver­ traulichkeit zwischen Arzt und Patient ist im NS-Staat aufgehoben«. 165 Das kommt ganz deutlich in Stichs Rezensionen in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chir­ urgie in den Bänden 160, 161 und 167 zu Kapferer/Sticker (1934, 1935, 1938) zum Ausdruck, welche die Werke des Hippokrates neu herausgeben. 166 Bruns u. Frewer, S. 78 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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20.  Jahrhunderts. »Der Hippokratismus dieser Jahre beinhaltete ein diffuses Ideenkonglomerat aus Volksmedizin, Naturheilkunde sowie allgemeiner Wissenschafts- und Fortschrittsfeindlichkeit«167, so dass es, wenig verwunderlich, in den 1930er Jahren zu einer Hippokrates-Renaissance kommt, in der dieser als Symbolfigur des idealen Arztes stilisiert wird. Dieser Bewegung scheint sich Stich anzuschließen, da sie in den Kreisen der Militärärzte auch bewusst forciert wurde. Vor dem Hintergrund, dass die Wiederentdeckung großer Ärzte wie auch Paracelsus im Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt fand, wurde das Cor­ pus Hippocraticum auf wenigen Seiten zusammengefasst unter dem Titel Ewiges Arzttum und zur grundlegenden Lektüre für alle SS -Ärzte erhoben. In dieser Broschüre wurde die hippokratische Ethik neu interpretiert, im Sinne der NS Ideologie umgeformt und der Ärzteschaft vermittelt. Federführend in diesem Unterfangen waren Himmler und Grawitz, der sich auch bemühte, eine vermeintliche Kontinuität mit dem hippokratischen Ideal zu konstruieren. So lässt sich schon hier die Verwurzelung der in den Medizinversuchen in den Konzentrationslagern offen zum Ausdruck kommenden »paradoxe[n] Gleichzeitigkeit von stilisierten Idealen und pervertiertem Ethos«168 erkennen. Die Medizingeschichte diente den Nazis also ganz massiv als Instrument zur Ideologievermittlung, die Rezeption war indes zwiegespalten: Die Anhänger des neuen Hippokratimus waren vor allem die »Protagonisten eines ›SS -ärztlichen Ethos‹« wie Himmler, Grawitz, Gruber und Stich, den man aufgrund seiner eigenen Äußerungen zu dieser Gruppe zählen muss. Sie pochten auf die Zeitlosigkeit des hippokratischen Ethos und waren um Konstruktion von Kontinuität bemüht. Ein Bemühen, welches für Stich nicht nur hier einige Relevanz besitzt. Nach seiner Meinung beschäftigt niemand Ärzte so, wie Hippokrates, eine Lehre, »die noch heute auf das Gemüt eines richtigen Arztes einen ungeheuren Reiz ausübt […] Solche Worte überdauern alle Zeiten. [… ] Immer wieder staunt man über die bewundernswerte Sicherheit, mit der der Vater der Heilkunst seinen Schülern ewig geltende ethische Gesetze vermittelt, ohne je den Sinn für das Praktische im ärztlichen Handeln zu verlieren.«169

Hippokrates erscheint hier nicht nur als Lehrer aller Ärzte, sondern auch als eine Art Ur-Vater, ein weiteres Vorbild in der Reihe von Stichs Ikonen. Daher legt er Hippokrates auch allen jungen Medizinern ans Herz. Die Bände wären »eine richtige Vorlage für eine ernste Semesterfachschaftsarbeit unserer Klinizisten und die jungen Assistenten sollten sie in ihren Krankenhausbibliotheken finden. Der ältere erfahrene Arzt aber wird vieles bestätigt finden, was er in ernsten Stunden der Einkehr mit sich durchgekämpft hat.« Das liegt nicht 167 Ebd., S. 78. 168 Ebd., S. 81. 169 Dies und die folgenden Zitate aus Stich über Kaplerer/Sticker. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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zuletzt daran, dass die von Hippokrates propagierten Lehren »in der jetzigen Zeit« sehr aktuell seien, wie Stich betont: Sie seien »bei der geistigen Höhe, die ihr Verfasser unter seinen Zeitgenossen einnahm, noch heute vielfach beherzigenswert«. Auch hier ist der ganzheitliche Ansatz wieder von großer Bedeutung: »Die groß angelegte Ganzheitsbetrachtung ringt aber trotz alledem auch dem heutigen Arzt immer wieder Ehrfurcht vor den hohen Leistungen der Hippokratiker ab.« Das Verständnis der Hippokratiker von Medizin und ihre Begründung in der Natur besitzt auch für Stich Gültigkeit: »Die Heilkunde, die alte wie die neue, steht und fällt mit der Erkenntnis, dass die Natur alles nach ewig dauernden Gesetzen wirkt. Die Natur ist die große Lehrmeisterin, und die ärztliche Kunst kann nur darin bestehen, etwaige Störungen im natür­ lichen Ablauf menschlichen Geschehens zu beseitigen und der Natur wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. […] Mögen neue Erkenntnisse ärztliches Handeln immer wieder ändern, mögen technische Fortschritte neue Behandlungsmöglichkeiten eröffnen, die Grundlagen aller Heilkunde sind an das Naturgeschehen gebunden.«170

Um zu verstehen, wie Stich sich als Arzt definiert, woran er sich orientiert hat und was sein Vorbild für ihn ausmachte, aber auch dafür, was 1934 in der Medizin Anklang fand, ist eine längere Passage von Stich über Hippokrates aufschlussreich: »›Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, die Gelegenheit ist flüchtig, die Erfahrung unsicher, das Urteil schwierig. Nicht bloß der Arzt muss bereit sein, das Erforderliche zu leisten, sondern auch der Kranke selbst und seine Pfleger und die äußeren Lebensbedingungen.‹ So lautet der erste hippokratische Lehrsatz. Kann ein Werk, das mit solcher über den Zeiten stehenden ärztlichen Weisheit beginnt, je unmodern werden? Wird es in weiteren Sätzen überlebten Unsinn enthalten? Gerade in einer Zeitenwende, wie wir sie jetzt wieder – und nicht nur im engeren Vaterland – erleben, erkennen wir, dass auch wir Ärzte uns auf die unsterblichen Lehrer vergangener Jahrtausende besinnen müssen, wenn wir nicht im ärztlichen Tagesschrifttum der Jetztzeit ersticken wollen. Wir sehnen uns wieder nach einer wahrhaften, die Scheulederwissenschaft kleiner Disziplinen umfassenden, wahrhaften Heilkunst. Wer könnte uns solche Kunst besser vermitteln als die hippokratischen Lehrsätze, die uns die besten Erkenntnisse wahren, großen Heiltums überliefern. Mögen Lehrmethoden sich geändert haben, Probleme von einem anderen Standpunkt aus gelöst werden, mögen neue Arbeitshypothesen entstanden sein, die Basis wird immer da bleiben, von wo gottgesandte große ärztliche Führer ausgegangen sind. Nicht jeder Medizinbeflissene, der nach bestandenen staatlichen Prüfungen den Namen Arzt trägt, wird diese Lehrsätze in einem Zuge lesen, obwohl gerade er es am nötigsten hätte. Möge eine große Zahl von Ärzten das Buch lesen mit offenem Verstand und warmem Herzen […], ihnen zu Nutz und Frommen, der leidenden Menschheit zum Gewinn.«171 170 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 160 (1934) zu Sticker, Hippokratische Lehrsätze 171 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Eugenische Tradition Neben dem Bezug zu Hippokrates war Stich durch die eugenische Tradition seines Faches geprägt. Die erbgesundheitlichen Konzepte, denen er sich mit Verve verschrieben hatte, sind allerdings kein Novum der nationalsozialistischen Zeit. Vielmehr trieb die Vorstellung von einer Verbesserung der menschlichen Erbanlagen die gesellschaftliche Elite bereits im ausgehenden 19.  Jahrhundert um – und das nicht nur in Deutschland. Eugenische Ideen waren um die Jahrhundertwende besonders en vogue, denn die allgemein vorherrschende Unsicherheit im Angesicht der rasant verlaufenden Industrialisierung machte eben auch vor der Intelligenz nicht Halt. Mehr noch entwickelte sich daraus, ganz im Sinne der fin-de-siècle-Stimmung, regelrecht eine Dystopie von der Entartung und rapide voranschreitenden Degeneration der Menschheit.172 Am Anfang standen die Entdeckungen in der Vererbungslehre und biologische Erkenntnisse über die Entwicklung von Arten, welche die notwendigen Denkanstöße für eine Beurteilung der menschlichen Entwicklung lieferten. Hinzu kamen sozioökonomische Beobachtungen der modernen Industrie­ gesellschaften, wie zunehmende soziale Probleme, die Verelendung großer Teile der städtischen Bevölkerung infolge des Bevölkerungswachstums und eine fortlaufenden Urbanisierung, Alkoholismus und Kriminalität, aber auch der Anstieg an diagnostizierten Nervenkrankheiten. Wie man diesen Entwicklungen entgegenwirken konnte war Gegenstand unterschiedlicher Theorien, die rationalistisch den Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften folgten und nach Interventionsmöglichkeiten suchten: Mit der Übertragung von Charles Darwins Erkenntnissen auf die Gesellschaft ging man im Sozialdarwinismus davon aus, dass sich aufgrund von natürlicher Selektion nur starke und angepasste Individuen durchsetzten. Eugeniker bemerkten hierzu jedoch, dass durch zivilisatorische Einflüsse als auch soziale Auffangnetze die natürliche Auslese schwacher Erbanlagen ausgesetzt werde. Ja, es finde sogar eine Kontraselektion statt, was den Kranken und Schwachen nicht nur den Fortbestand sichert, sondern ebenso die Weitergabe ihrer Erbanlagen. Bevölkerungsstatistiken hatten zudem noch gezeigt, dass der Unterschied zwischen den Geburtenzahlen von gebildeten und ungebildeten, sozial schwachen Paaren eklatant ausfiel, sodass mit anderen Worten ausgerechnet die als »minderwertig« erachteten Erbanlagen verstärkt in das nationale Erbgut einflossen. Aus diesen Gründen hätte sich die Degeneration der Gesellschaft aus Sicht der Eugeniker in einer Aufwärtsspirale befunden, weshalb diese eine konsequente Einmischung durch den Staat forderten.173 172 Wolfgang Eckart, Medizin in der NS-Diktatur, S. 26 173 Heinrich Zankl, Von der Vererbungslehre zur Rassenhygiene, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus, Köln 2008, S. 47–65, hier S. 52. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Ziel der Eugeniker war es, eine Verknüpfung von Politik und Wissenschaft zu schaffen, da sie sich als eine politische Bewegung begriffen, die das »wissenschaftliche Deutungsmonopol in der menschlichen Vererbungs- und Bevölkerungsforschung«174 für sich beanspruchte. Über eine gezielte Fortpflanzungspolitik sollte das menschliche Erbgut optimiert und darüber die Entwicklung der Menschheit beeinflusst werden – ein Wunsch, von dem sich die Menschen nie werden befreien können. So war es vor allem die »Qualität einer Population, und zwar in den Dimensionen Gesundheit, physische Leistungsfähigkeit und Intelligenz«175, die für Eugeniker von großer Bedeutung war. Die Fortpflanzungspolitik der Eugeniker bestand aus zwei parallel angewandten Maßnahmenkatalogen: Einerseits eine Förderung gebildeter Paare im Sinne von Steuererleichterungen sowie ärztlicher Beratung und Erziehung, andererseits sollten Gesundheitszeugnisse vor der Eheschließung, IQ -Tests und Sterilisationen im Vorfeld verhindern, dass schwaches oder gar krankes Erbgut weitergegeben werden konnte.176 Dem betroffenen Individuum wurde damit das Recht auf eine Familie zugunsten der Höherentwicklung des nationalen Genpools ab­ gesprochen. Damit folgte das eugenische Grundprinzip der Prämisse, dass die Gemeinschaft mehr wert war als der Einzelne, der Opfer für das große Ganze zu bringen hatte. Allerdings sollten diese Forderungen der eugenischen Bewegung lange Zeit kein Gehör in der Politik finden. Das lag unter anderem in der Tatsache begründet, dass eugenische Konzepte in allen Ländern zunächst in kleinen Kreisen entstanden, die sich mit der Zeit zu selbstfinanzierten Organisationen mit eigenen Publikationen entwickelten. Anhänger der Bewegung fanden sich vor allem unter Bildungsbürgern, aber auch Sozialdemokraten, sodass in den eugenischen Organisationen Wissenschaftler, Mediziner, Politiker, Anthropologen oder auch Juristen zusammentrafen. Die Eugenik basierte auf einem Konglomerat unterschiedlicher Disziplinen wie der Biologie, Medizin, Vererbungswissenschaft, Anthropologie und Demografie, konnte sich daher aber auch zeitlebens nicht als eine eigenständige Wissenschaft behaupten.177 Mit Hilfe von Massenstatistiken wurde die Vererbung von psychiatrischen Erkrankungen inter­ pretiert  – bevorzugte Methoden waren hier Ahnen- und Stammtafeln  – und

174 Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt. a. M. 1997, S. 28. 175 Volker Roelcke, Zeitgeist und Erbgesundheitsgesetzgebung im Europa der 1930er Jahre, in: Der Nervenarzt 73 (2002), S. 1019–1030. 176 Gesundheitsamt Abteilung II, Dt. Gesellschaft für Rassenhygiene und Eugenik, Bundesarchiv Berlin, Reichsgesundheitsamt, R 86/2371. 177 Hans-Walter Schmuhl, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005, S. 20. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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man fühlte sich darin bestätigt, dass sich sozial Schwächere stärker reproduzierten als Akademiker.178 Die eugenische Bewegung und Gesetzgebung konnte vor allem in demokratisch-protestantisch geprägten Staaten mit großer Fortschrittsgläubigkeit Fuß fassen. In dominierend katholischen Staaten konnte sie sich aufgrund der ablehnenden Haltung des Papstes nicht vergleichbar entwickeln.179 Die Forderungen nach Sterilisationen durch eugenische Bewegungen wurden zuerst in einigen Staaten der USA ab 1907 gesetzlich umgesetzt. Es wurden Insassen von Armenhäusern und Gefängnissen, sowie Geisteskranke sterilisiert. Im folgenden Jahrzehnt führten 15 US -Staaten das Gesetz ein, ab 1929 folgten viele europäische und asiatische Staaten.180 Als erstes europäisches Land erließ Dänemark im Jahre 1929 eine »Sterilisationsgesetzgebung«, die im Vergleich zum Gesetz der Nationalsozialisten keine Zwangsmaßnahmen legitimierte. Nach der Weltwirtschaftskrise hatte sich das Klima geändert, sodass die Forderungen der Eugeniker auch in Anbetracht steigender Wohlfahrtskosten allgemein größere Akzeptanz fanden.181 Allerdings entstand die eugenische Bewegung in den USA innerhalb einer Vereinigung von genetischen Fachbereichen und war agrarwissenschaftlich geprägt. In Deutschland entsteht die »Rassenhygiene« als eigener Zweig, unabhängig von anderen biologischen oder medizinischen Organisationen182 und hatte von Beginn an einen rassistischen Anstrich: Alfred Ploetz183 als Vor­reiter der Bewegung prägte für Deutschland bereits um die Jahrhundertwende den Begriff der »Rassenhygiene« und unterstrich damit eindeutig die Vorstellung, dass es qualitative Unterschiede in den Erbanlagen von menschlichen »Rassen« gäbe.184 Ganz auf der Welle eines imperialistischen Weltbilds stellte die nordische »Rasse« für ihn, wie auch für andere rassenorientierte Eugeniker, die tauglichste »Rasse« mit den besten Erbanlagen dar, die es zu fördern galt. Um den politischen Forderungen insgesamt mehr Gewicht zu verschaffen und die Eugenik als Wissenschaft zu etablieren, organisierten sich die Eugeniker auf internationaler Ebene. Auf regelmäßigen Kongressen tauschte man

178 Bernd Heuer, Eugenik/Rassenhygiene in USA und Deutschland – ein Vergleich anhand des »Journal of Heridity« und des »Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie« zwischen 1910 bzw. 1904 und 1939 bzw. 1933, Düsseldorf 1989, S. 62. 179 Michael Schwartz, Eugenik und »Euthanasie«: Die internationale Debatte und Praxis bis 1933/45, in: Henke, Tödliche Medizin, S. 65–85, hier S. 70. 180 Zankl, S. 56. 181 Kühl, S. 102 182 Heuer, S. 134 f. 183 Alfred Ploetz, 22.8.1860–20.3.1940, Begründer der Deutschen Rassenhygiene, 1936 von Hitler zum Professor ernannt, seit 1937 Mitglied der Leopoldina. 184 Eckart, Medizin in der NS-Diktatur, S. 26. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sich über Forschungsergebnisse, Messmethoden, neue Ansätze, gemeinsame Linien und konkrete Maßnahmen aus.185 Aufwind in den Debatten erhielten die Eugeniker erst nach dem Ersten Weltkrieg. Für sie bedeutete Krieg eine der dramatischsten kontraselektiven Einschnitte in die Bevölkerungsentwicklung, da hier insbesondere die Fähigen, Kräftigen und Begabten ihr Leben ließen, während die Schwachen und Kranken überlebten. Die Weimarer Republik war nicht nur eine Hochphase eugenischer Debatten, die Bewegung gewann auch zunehmend an Einfluss, sodass »Rassenhygiene« in den 1920er Jahren umfassend als Unterrichtsfach an allen deutschen Hochschulen ausgebaut wurde. Die erste Professur für »Rassenhygiene« wurde 1923 an der Universität München an Fritz Lenz186, einen der führenden »Rassenhygieniker« Deutschlands, dessen Schriften später zum Standardwerk der nationalsozialistischen Rassenideologie zählten,187 vergeben. Insgesamt zeichnete sich bereits bei der Einführung ab, dass das Fach als eine Teildisziplin der Medizin anschlussfähig war, wenn rassenhygienische Veranstaltungen mit dem Medizinstudium verzahnt wurden.188 Als am Ende der 1920er Jahre die Eugenik durch neueste Erkenntnisse aus der Genetik verstärkt in die Kritik geriet, was eine Anerkennung als Wissenschaft erschwerte, bemühten sich Eugeniker wieder verstärkt darum, Einfluss auf die Politik zu gewinnen. Aus diesem Grund biederte sich Lenz bereits 1931 in einem persönlichen Schreiben an Hitler den Nationalsozialisten an, weil er der Meinung war, dass diese die einzige Partei sei, welche die eugenischen Forderungen ernst nehmen und verwirklichen würde.189 In ihrem Eifer ignorierten Rassenhygieniker vollkommen die Erkenntnisse aus der Erbbiologie, dass Vererbungsprozesse weitaus komplizierter seien, als dass man mit negativer Eugenik eine Verbesserung der Qualität der Erb­ substanz erreichen könne.190 Da es in Deutschland keine korrigierende Verbindung zwischen Genetikern und Rassenhygienikern gab, versteiften sich letz185 Kühl, S. 27. 186 Fritz Lenz (1878–1976) war Eugeniker, Anthropologe und Humangenetiker. 190I trat er der internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene ein. Er war Schüler von Alfred­ Ploetz und Eugen Fischer. Ab 1933 war er Mitglied im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik beim Reichsinnenminister und damit für die Formulierungen für das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mitverantwortlich. 1933 wurde er Lehrstuhlinhaber für Sozialhygiene an der Universität Berlin und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er 1949 »entlastet«. 187 Zankl, S. 57. 188 Hans-Walter Schmuhl, Das Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 24–26. 189 Fritz Lenz, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 25 (1931), S. 300–308. 190 Heuer, S. 59. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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tere auf die Durchsetzung ihrer Ziele und lieferten den Nationalsozialisten eine Legitimation für ihre Vernichtungspolitik. Als dann die Nationalsozialisten das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erließen, blickten Eugeniker aus dem Ausland zunächst mitunter neidvoll auf die beherzte Gesetzgebung. Wenngleich die Grundhaltung hierzu wegen der damit gesetzlich legitimierten Zwangssterilisationen allgemein reserviert blieb, waren die internationalen Beobachter dennoch neugierig, wie sich die Bevölkerung unter diesen Maßnahmen entwickeln würde und ob sich eugenische Visionen tatsächlich verwirklichen ließen. Nichtsdestotrotz distanzierte man sich offiziell von der radikalen deutschen Linie, da fort­schreitende Forschungen auch auf dem Gebiet der Genetik vermehrt Zweifel an dem genetischen Determinismus der Eugenik aufkommen ließen. In den USA spielten beispielsweise ab 1936 Erkenntnisse aus der Zwillingsforschung eine große Rolle, die aufzeigten, dass Umweltfaktoren bei der Entwicklung von Menschen stärker berücksichtigt werden mussten. Auch die Verknüpfung von der Kategorie Rasse mit der menschlichen Vererbungsforschung wurde stärker hinterfragt. Dass die Eugenik international niemals als Wissenschaft anerkannt wurde, unterstreicht die Tatsache, dass es von Beginn an Kritik an ihren Methoden und radikalen Forderungen gegeben hatte.191 Mit den Fortschritten in der Genetik wurde der Eugenik die wissenschaftliche Basis für die Unterteilung von Rassen und der Vererbbarkeit von Krankheiten entzogen. Zudem konnte man Eugenikern einerseits vorwerfen, dass ihre Methoden mitunter unzulänglich waren, um derartig radikale Forderungen zu vertreten und sie andererseits ideologisch motiviert handelten. Bereits Zeitgenossen vermuteten, dass die Eugenik nichts weiter war als eine von »Rassen- und Klassenvorurteilen beeinflusste Pseudowissenschaft«192. Doch das hielt Mediziner wie R ­ udolf Stich nicht davon ab, Versatzstücke aus der Eugenik in seine eigene Vorstellung vom Arztberuf zu integrieren.

191 Veronika Lipphardt: Das »schwarze Schaf« der Biowissenschaften, Marginalisierungen und Rehabilitierungen der Rassenbiologie im 20.  Jahrhundert, in: Dirk Rupnow (Hg.), Pseudowissenschaft: Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte, S. 223–250, hier S. 227 f. 192 Kühl, S. 99. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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An der Chirurgischen Klinik in Göttingen Im Kaleidoskop: Zwangssterilisationen Als Wilhelm Kaiser193 am 17.  Juni 1936 seinen Briefkasten öffnete, bekam er einen Schock. Ein Schreiben194 der »Sterilisations-Kommission für Göttingen Stadt und Land« ersuchte ihn, sich »auf Grund des Sterilisierungsgesetzes § 6 […] im Schlachthof Göttingen Schlachthofweg zwecks Sterilisation einzu­ finden. […] Sie haben sich rein gewaschen in nüchternem Zustand, versehen mit sauberem Hemd und gut geschrubten [sic!] Geschlechtsteil am Schlachtstand für Grossviel [sic!] Halle 2 zu melden. Verbandszeug und Blutkanne ist mitzubringen«. Auch den Krankenwagen soll er selbst stellen, »lautes Schreien und unanständiges Benehmen vor, während und nach der Operation ist un­ bedingt verboten.« Die »Betäubung mit einem Holzhammer« sei gegen eine Gebühr möglich. Gezeichnet hat das Schreiben der »Henkersknecht«. Dass es an der Göttinger Chirurgischen Klinik nach Meinung einer der hauptsächlich für die Sterilisierungen verantwortlichen Ärzte, Adalbert Büttner195, »durch verständnisvolles Eingehen auf die Kranken und Darstellung des wahren Sachverhaltes […] fast immer gelingt, die Kranken zu beruhigen, so daß wir niemals Zwangsmaßnahmen anzuwenden brauchten«196, ist für Wilhelm Kaiser kein Trost. Denn er weiß, dass er aufgrund seiner diagnostizierten »Schizophrenie« der Sterilisation nicht entgehen kann. Das Flugblatt, welches anonym verteilt worden war, nimmt Bezug auf das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«197, welches als wesentlicher 193 Die Namen der Betroffenen sind geändert. Obwohl wir wie Götz Aly (vgl. Die Be­ lasteten. Euthanasie 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013) die Nennung der Namen der Betroffenen für einen wichtigen Beitrag gegen das Vergessen halten, möchten wir Persönlichkeitsrechte schützen. Es handelt sich jedoch um reale, ausgewählte Fallbeispiele aus den Sterilisierungsakten der Chirurgischen Klinik aus dem Archiv der Geschichte und Ethik der Medizin, Göttingen. 336 Patientenakten betreffend Sterilisierungen lagern dort. Durch Ergänzungen mithilfe eines Operations­ buches lässt sich jedoch eine deutlich höhere Anzahl an Sterilisierungen feststellen. Operationsbuch im Archiv der Abt. Ethik und Geschichte der Medizin Göttingen, geführt 20.2.1935–7.10.1936. 194 Anonymes Flugblatt vom 17.6.1936, Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Amtsgericht Göttingen, Nds. 725 Göttingen Acc. 86/95 Nr. 82. 195 Adalbert Büttner, Assistent bei Stich, nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. 196 Adalbert Büttner, Verfahren und Nachbehandlung bei der Unfruchtbarmachung des Mannes unter besonderer Berücksichtigung der Doppelbindungen der Samenleiter, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 1 (1936), S. 49–60, hier S. 50. 197 Für eine ausführliche Genese des Gesetzes sei hingewiesen auf Joachim Müller, Steri­ lisation und Gesetzgebung bis 1933, Husum 1985 und Udo Benzenhöfer, Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Münster 2006. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Bestandteil der nationalsozialistischen Rassepolitik das Ziel verfolgte, den »Volkskörper« gesund zu halten, indem »minderwertiges Erbgut« eliminiert wurde. Inwieweit sich in der Sterilisierungspraxis und der so genannten »Euthanasie« eugenische Diskurse aus früherer Zeit dynamisiert haben, ist eine noch nicht final beantwortete Frage.198 Die Ausmaße des Gesetzes waren jedoch enorm: Bereits 1934, als es in Kraft trat, wurden in Deutschland dreißigtausend Menschen sterilisiert,199 bis 1937 nahm das Gesetz schätzungsweise dreihundertsechzigtausend Menschen das Recht auf Nachwuchs.200 Vor allem psychiatrierelevante Indikationen wie »angeborener Schwachsinn« und »Schizophrenie« führten zur Zwangssterilisation. Das Flugblatt zeigt, dass das Verständnis der Göttinger Bürger für den Nutzen des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« zumindest nicht vollkommen war und es durchaus auch kritische Stimmen gab. Das blieb auch ­Rudolf Stich nicht verborgen, der bemerkte, dass dem Gesetz »weite Kreise des Volkes noch verständnislos und deshalb vielfach ablehnend gegenüber«201 stehen. Selbst noch im Jahre 1943 lehrten ihn Briefe »oft rührend in ihrer Einfalt, oft abstossend in ihrer Ich-Einstellung« wie wenig der Sinn des Gesetzes bisher in das Volk gedrungen ist. »Nicht nur geistig Minderwertige, auch kluge, an bevorzugter Stelle im Leben stehende Menschen stehen der wirklichen Sinnerfüllung des wunderbaren Gedankens der Auslese oft noch fremd und verständnislos gegenüber. Hier ist der deutsche Arzt – er muss sich freilich in den nicht immer ganz einfachen Stoff einarbeiten – die Stelle, die aufklären und helfen muss.«202

198 Literatur zu Zwangssterilisationen, u. a. vor allem Hans-Walter Schmuhl. 199 Siehe Hans-Walter Schmuhl, Sterilisation, »Euthanasie«, »Endlösung«. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, S. 295–309, hier S. 296 und 301. 200 Siehe Ursula Kömen, »… warum ausgerechnet K. und R. nicht für eine Verlegung in Frage kommen…«. Die Heil- und Pflegeanstalt Göttingen, in: Volker Zimmermann (Hg.), Leiden verwehrt Vergessen, Göttingen 2007, S.  58. Diese Zahlen variieren, so gibt Bock 400.000 an, siehe Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S.  237 f., während Proctor die Zahl etwas geringer veranschlagt. Robert N. Proctor, Naziärzte, Rassenmedizin und »lebensunwertes Leben« – Von der Ideologie zur »Euthanasie«, in: Andreas Frewer u. Clemens Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a. M. 2000, S. 65–89, hier S. 75. Proctor stellt ebenfalls heraus, die »Euthanasie«-Phase bis 1941 habe etwa 70.000 Patienten aus psychiatrischen Krankenhäusern den Tod gebracht. 201 »Der Arzt als Gesundheitserzieher« (1941), Rede von R ­ udolf Stich, gehalten vor Abiturienten und Eltern, vom Sanitätsdienst geprüft, »keine Bedenken«; Die Rede wurde vermutlich gehalten im Rahmen der geforderten Erziehungspflicht, die einem Beratenden Arzt der Wehrmacht oblag, vgl. Neumann. Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich Cod. Ms. R. Stich, 5. 202 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Er muss Wilhelm Kaiser von der Notwendigkeit überzeugen, sich im »Schlachthof« einzufinden. Nicht nur Stichs Engagement für die »Volksgesundheit« und sein Glaube an den Wert des gesunden Volkskörpers sind eine Folie für Zwangssterilisationen. Auch seine Rezensionen203, Beiträge auf Fachtagungen204 und die entsprechenden Abschnitte in seinem Lehrbuch für Chirurgie sind praktische Beiträge zur NS -Rassenhygiene. Das folgende Göttinger Beispiel zeigt eindringlich, welch tragische Folgen diese Unterstützung zeitigen konnte. »Rührende Einfalt« und »abstossende Ich-Einstellung« hätte Stich nicht nur Wilhelm Kaiser vorwerfen können. Denn Wilhelm Kaiser hätte auch Artur­ Ilsen heißen können. Dieser bemühte sich wie zahlreiche andere nach dem Ende des Nazi-Regimes um eine »Wiedergutmachung« bzw. Refertilisierung, indem er versuchte nachzuweisen, dass die seinerzeit gestellte Diagnose nicht aufrecht zu erhalten sei und die an der Fehldiagnose beteiligten Ärzte wie Stich dazu zu bringen, dies zu attestieren.205 Heinrich Möllert wurde am 16.  Oktober 1907 geboren. Am 18.  Mai 1935 wurde er aufgrund seines attestierten »angeborenen Schwachsinns« in der Chirurgischen Klinik in Göttingen auf Kosten der Staatskasse zwangssterilisiert.206 Obwohl er hernach kein Risiko mehr für die »Volksgesundheit« darstellte, steht sein Name auf der Verlegungsliste der Heil- und Pflegeanstalt Göttingen207

203 ­Rudolf Stich, Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 161, S. 507. Es handelte sich hierbei um eine Rezension von H. Naujoks u. H. Boeminghaus, Die Technik der Sterilisierung und Kastration, Stuttgart 1934. 204 Vor allem auf den Tagungen 1934 der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der Nord­ westdeutschen Chirurgenvereinigung, aber auch noch 1936 auf der Tagung der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft sind diverse Beiträge aus der Göttinger Klinik zum Thema Sterilisationen zu verzeichnen. Stich selbst spricht 1937 in seiner Eröffnungsansprache vor der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu dem Thema. 205 Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 725 Göttingen, Acc. 86/95. 206 Zur Sterilisierungspraxis in Göttingen vgl. vor allem Adalbert Büttner, Unfruchtbar­ machung des Mannes, hier S. 50. 207 Zur Situation in der Heil- und Pflegeanstalt Göttingen im Allgemeinen, vgl. Kömen, S. 55–79. Im Allgemeinen ist besonders zu verweisen auf Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«. 1890–1945, Göttingen 1987.; Ders., Die Selbstverständlichkeit des Tötens. Psychiater im Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft Jg. 16 (1990) H. 3, S. 411–439.; Ders., Erbgesundheitspolitik.; Ders., Patientenmorde.; Raimond Reiter, Psychiatrie im Dritten Reich in Niedersachsen. Eine Dokumentation, Hannover 1997.; Thorsten Suesse u. Heinrich Meyer, Abtransport der »Lebensunwerten«.; Dies., Die Konfrontation niedersächsischer Heil- und Pflegeanstalten mit den »Euthanasiemaßnahmen«. Schicksal der Patienten und Verhalten der Therapeuten und zustän­ digen Verwaltungsbeamten. Dissertation Medizinische Hochschule Hannover, Han­ nover 1984. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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vom 11. März 1941. Unter der Kennnummer 128772 wird er vermutlich nach Hadamar abtransportiert und dort umgebracht.208 In dem schematisch festgelegten Verfahren, welches zu einer Zwangssterilisation führte, war das Urteil des Erbgesundheitsgerichtes maßgeblich. Dieses war nicht etwa eingerichtet worden, »um die berechtigten Interessen einzelner Volksgenossen wahrzunehmen«, sondern war »geschaffen worden, um die Forderungen, die die Volksgemeinschaft auf dem Gebiet der Erbpflege stellen muß, […] durchzusetzen.«209 Die Anzeigen wurden in der Regel von Ärzten gestellt, die einer Anzeigepflicht unterlagen, oder von Angehörigen der Betroffenen. Psychiater fundierten die Anträge durch ihre Gutachten. Im Falle von Heinrich Möllert attestierte der Leiter der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt und als Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie auch Kollege von Stich, Gottfried Ewald, dem Haussohn »schwergeistige Erbschäden«. »Er kann hören, aber nur die Worte ›Papa‹, ›Mama‹, ›Huti‹ und ›Hati‹ lallen«. Er sei so »hochgradig schwachsinnig, daß bei ihm eine wesentliche Intelligenzprüfung nicht durchgeführt werden konnte. […] Da nach dem Stande der ärztlichen Wissenschaft mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, daß seine Nachkommen ebenfalls an schweren geistigen Erbschäden leiden werden«210, wurde der Beschluss gefällt und die Sterilisation vollzogen. Vielleicht war Heinrich Möllert dem Aufruf des Hildesheimer Regierungspräsidenten Muhs211 von 1934 zum Opfer gefallen, der eine besonders aktive Anzeigetätigkeit von den an der Universität Göttingen angestellten Ärzten einforderte. Sie sollten nicht nur die ab 1934 für das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« relevanten neudiagnostizierten Patienten anzeigen, sondern auch die Patienten, die schon vor dem Erlass des Gesetzes eine dokumentierte Erbkrankheit hatten.212 An der Chirurgischen Universitätsklinik in Göttingen wurden zwischen den Jahren 1934 und 1937 unter der Leitung von R ­ udolf Stich nachweislich 208 Siehe Schmuhl, Patientenmorde, S. 313–315. und Reiter, S. 282–314. Reiter schildert hier auch detailliert Beispielfälle aus der »Kinderfachabteilung« der Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg. 209 Erläuterungen zu Art. 4 der Verordnung zur Ausführung des »Gesetzes zur Verhütung erbranken Nachwuchses« in Arthur Gütt u. a., Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, München 1936, S. 274. 210 Gutachten von Ewald, Patientenakten der Chirurgischen Klinik 1934–1944, ohne Signatur. Archiv der Abt. Ethik und Geschichte der Medizin, Göttingen. 211 Hermann Muhs, 16.5.1894–13.4.1962, Jurist, seit 1929 Mitglied der NSDAP, seit 1930 Mitglied des Preußischen Landtags, Gauleiter des NSDAP-Gaus Süd-Hannover-Braunschweig, seit Juni 1933 Regierungspräsident in Hildesheim, seit April 1937 Staatssekretär im Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten, SS-Gruppenführer, ab 1952 als Rechtsanwalt in Göttingen tätig. 212 Erlaß des Regierungspräsidenten Hildesheim vom 30.4.1934. Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorium, K XVI III B 113 (»Verhütung erbkranken Nachwuchses. Erbgesundheitsgericht u. -Obergericht«). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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595 Sterilisierungsoperationen durchgeführt.213 Mindestens eine Operation führte er selbst aus. Die Gesamtzahl der Zwangssterilisierungen für die Jahre 1934 bis 1944 ist jedoch deutlich höher einzuschätzen214: 1.064 Unfruchtbarmachungen wurden vom Göttinger Erbgesundheitsgericht beschlossen und 131 Anträge auf Sterilisierung wurden abgelehnt. In einer späteren Phase ab 1941, als die reichsweiten Zwangssterilisationen schon abnahmen, wurden in der Göttinger Klinik noch Insassen des Jugendkonzentrationslagers Moringen sterilisiert.215 Wilhelm Kaiser hat somit über neunhundert Namen. Mindestens sieben der Betroffenen waren zum Zeitpunkt der Operation sechszehn Jahre und jünger. Doch warum wurde Heinrich Möllert noch sechs Jahre nach seiner Sterilisierung in den Tod abtransportiert?216 Seitdem 1939 mit einer rückdatierten Führerermächtigung die »Eutha­nasie« ausgeweitet worden war, nahm die planmäßige Vernichtung »lebensunwerten Lebens« in einer ersten Phase bis etwa August 1941 ihren Lauf und forderte nicht nur das Leben von Heinrich Möllert. Insbesondere viele jüngere Ärzte strebten in missionarischer Begeisterung eine ambitionierte Psychiatriereform an, wofür die chronisch Kranken und Behinderten hätten beseitigt werden müssen.217 Die Erfassung der Anstaltsinsassen mithilfe von Meldebögen begann im Oktober 1939. Die Bögen waren vor allem darauf ausgelegt, nach Arbeitskraft zu selektieren, denn die »Euthanasie«-Psychiater gingen davon aus, wer nicht an einer Arbeitstherapie teilnehmen könne, sei unheilbar. Heinrich Möllert beispielsweise war nur für einfachste Arbeiten einsetzbar und daher aus dieser Perspektive für die Gemeinschaft kaum von Nutzen. So standen die Krankenmorde auch unter dem Diktat kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitskalküle, wobei der Wehrmachtsbedarf die Gesundheitsressourcen vor allem nach 1942 zunehmend einschränkte. »Leistungsmedizin« trat als neues Schlagwort neben das Leitprinzip rassehygienischer Gesundheitspolitik – Ordnungsideen, denen sich auch ­Rudolf Stich verschrieben hatte. Es stellt sich die Frage, inwieweit die »Euthanasie« als Katalysator für die Judenvernichtung gewirkt haben könnte, da die »Aktion T4«, so der Tarnname der 213 Laut Büttner wurden vom 1.1.1934 bis zum 31.12.1935 347 Männer sterilisiert. Diese Zahl haben wir mit der Anzahl der aufgeführten Sterilisierungen im Operationsbuch vom 1.1.1936 bis zum 7.10.1936 (n=112) und mit den 120 gefundenen Patientenakten von 1937 addiert. In dieser Zeit wurden 824 Sterilisierungen von Männern vom EGG Göttingen beschlossen. 214 Zu Zwangssterilisationen in Göttingen an Frauen vgl. Thomas Koch. 215 Martin Guse, »Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben«: Eine Ausstellung zu den Jugendkonzentrationslagern Moringen und Uckermark 1940–1945; Unbekannte – Getötete – Überlebende, Moringen, 1992. 216 Eine Anfrage bei der Gedenkstäte Hadamar bestätigte, dass für mindestens drei der Pateinten gesichert ist, dass sie in Hadamar umgebracht wurden. 217 Schmuhl, Patientenmorde, S. 304 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Ermordungsaktionen, gewissermaßen die Infrastruktur für den systema­tischen Mord bereitgestellt haben könnte. Eine Zuspitzung des Radikalisierungsprozesses innerhalb der nationalsozialistischen Rassehygiene zum Genozid erscheint denkbar.218 Heinrich Möllert ist einer von mindestens sechzehn in Göttingen, die nicht nur den Beschlüssen des Erbgesundheitsgerichtes zum Opfer fielen, sondern nach ihrer Zwangssterilisation noch abtransportiert wurden, weil sie trotz Operation »lebensunwerte« Existenzen waren. * * *

Im Kaleidoskop: Halbgott in Weiß »­Rudolf Stich…ich habe ihn als angenehmen Doktor – obwohl er mich geschnitten hat – in Erinnerung. Es wurde ja besser daraufhin.«219 ­Rudolf Stich hat nicht nur Wolfgang Ewald, den Sohn des Leiters der Heil- und Pflegeanstalt Gottfried Ewald, »geschnitten«, sondern viele Göttinger Bürger lagen auf seinem Opera­ tionstisch oder wurden von ihm behandelt.220 Und sie waren ihm dankbar dafür. Auch in seinem Schülerkreis operierte man sich gegenseitig. So schreibt Stich 1946 an Bauer, der vom gemeinsamen Freund Geissendörfer operiert wurde: »Aber ich hätte dich selbstverständlich auch selber operiert, wenn du mich gerufen hättest, denn so beschwerlich heute das Reisen ist, so werde ich doch noch heute so oft nach auswärts geholt, dass ich diese kleine Strapaze auch nicht überschätze.«221

Stich hat bis kurz vor seinem Tod in seiner Privatklinik operiert. Diese Praxis in der Goßlerstraße trug maßgeblich dazu bei, Stichs Ruf als herausragender Operateur über die Region hinaus zu festigen und die Familie, vor allem in den entbehrungsreichen Nachkriegsjahren, zu versorgen.222 Zeitzeugen erzählen, Stich habe auch Patienten operiert, die ihn dafür nicht hätten bezahlen können, und so mehrte sich seine Reputation weiter und beförderte ihn 218 Siehe Schmuhl, Erbgesundheitspolitik, S. 307. 219 Wolfgang Ewald, der Sohn von Gottfried Ewald, wurde als Kind von ­Rudolf Stich operiert. 220 So auch unter anderem seine Kollegen Wolfgang Heubner, Karl Heinrich Bauer, R ­ udolf Geissendörfer und andere. 221 Brief von ­Rudolf Stich an Karl Heinrich Bauer vom 19.8.1946, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 222 Nachzulesen in den Unterlagen zur Beschlagnahmung von Stichs Vermögen, Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Landesamt für die Beaufsichtigung gesperrter Vermögen, Nds. 210 Nr. 950/1 und 950/2 oder auch im Vergleich zu seinen Kollegen, nachzulesen in den Verdienstaufstellungen der Entnazifizierungsakten im Niedersächsischen Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Hildesheim Ent­nazifizierung, Bestand Nds. 171 Hildesheim. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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im Gedächtnis der Stadt zu einem »Halbgott in Weiß«, was darin gipfelt, dass ein ehemaliger Patient ihn durch ein Leumundszeugnis im Entnazifizierungs­ verfahren entlastete.223 Die Bedeutung und Relevanz seines Berufes und insbesondere seines Fachbereiches waren Stich sehr wichtig. Die über Jahrzehnte hinweg in seiner Zeitschrift Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie erschienenen Rezensionen geben einen Einblick, was Stich als Chirurg ausmachte und prägte. Um diese Bedeutung herauszustellen, findet er es lobenswert, wenn es seinen Kollegen Magnus und König (1935) gelingt, den »scharfen Kritikern des ärztlichen Standes den Wind aus den Segeln zu nehmen.«224 Für Stich war es selbstverständlich, sich auch mit anderen Fachbereichen auszukennen. Vor allem der Chirurg greife immer wieder zu anatomischen Lehrbüchern »und wenn die praktischen Ärzte nach Abschluss ihres Hochschulstudiums noch häufiger zu Anatomie-Lehrbüchern griffen, als es erfahrungsgemäß geschieht, wäre es nur nützlich!«225 Stich steht Disziplinen, welche die Chirurgie unterstützen, wie zum Beispiel der Krankengymnastik, recht aufgeschlossen gegenüber und erscheint als modern denkender Arzt: »Der viel gehetzte Chirurg nicht nur unserer Universitätskliniken und größeren Städtischen Krankenhäuser, sondern auch der Chirurg […] kleinerer Häuser kann seine Kranken unmöglich alle ›von Anfang bis Ende‹ selbst behandeln. Er muss aber wissen, was in seinem ›Turnsaal‹ vor sich geht.«

Dasselbe gelte auch für seine Schüler: »Auch der Stationsarzt und der junge Anfänger werden nur dann die Turnräume gerne betreten, wenn sie sich selbst nicht einer Krankengymnastin und dem Masseur gegenüber unterlegen fühlen. Dazu braucht man eine Anleitung, die sich nicht in allzu viel Theorie verläuft«.226

Auch fordert Stich dazu auf, symptomatische Heilmittel einzusetzen, »wohl dem, der schon als Student und als junger Assistent die Kunst solcher Behandlung

223 Es ist ein mehrfach auftauchendes Argumentationsschema im Rahmen der Entnazifizierung von Ärzten, dass ehemalige Patienten diese entlasten. Zum Beispiel ­R ichard M. im Falle von Gerhard Okonek, vgl. Entnazifizierungsakte Okonek Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 171 Hildesheim, Nr.  7678 und ebenso das Schreiben eines vermeintlichen Patienten Stichs in Nds. 401 acc. 112/83 Akten – Nr. 819. 224 Rezension von Stich zu Georg Magnus und König in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 161 (1935). 225 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 185 (1952) zu Benninghoff, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 226 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 190 (1955) zu Kohlrausch, Krankengymnastik in der Chirurgie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 7: ­Rudolf Stich (Quelle: Stadtarchiv Göttingen)

gelernt hat. […] Auch der unbestreitbare Wert einer vernünftigen Psychotherapie sei hier genannt«227. Stich ist offen für Methoden, die in der damaligen Zeit nicht die Akzeptanz besaßen wie heute, fordert aber als rationaler Arzt ihren »vernünftigen« Einsatz. Daher ist er auch ein großer Fürsprecher Büchners, zu dem er bemerkt, dass »die leiblich-seelischen Beziehungen […] in der modernen menschlichen Pathologie heute wieder die ihnen gebührende Rolle [spielen], die in vergangenen Jahrzehnten oft stark vernachlässigt waren«.228

227 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 194 (1957) zu Karitzky, Die symptomatische Behandlung der Krebskrankheit. 228 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 194 (1957) zu Büchner, Allgemeine Pathologie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Stichs Arztsein steht unter dem Motto »Errando discimus«229. Eines seiner wichtigsten Werke, Fehler und Gefahren bei chirurgischen Operationen, findet hier seinen Anknüpfungspunkt. Die eigene Fehlbarkeit nicht zu verleugnen und die daraus erwachsenen Erkenntnisse in die alltägliche Arbeit einfließen zu lassen, fordert Stich von sich und von seinen Kollegen: Wenn Guleke auf Klippen der Begutachtung hinweist, betont Stich »dass die Ärzte nicht ohne Schuld an der Entstehung solcher Klippen sind. […] Seine lehrreichen Beispiele, auch an sich selbst beobachtet, werden jeden Arzt […] lebhaft interessieren.«230 Denn Stich erkennt die grundsätzlichen Grenzen seines Berufsstandes durchaus an: »Die großen Fortschritte der Wissenschaft, die weitgehende Sicherheit, mit der heute auch schwere und schwerste operative Eingriffe mit Aussicht auf Erfolg vorgenommen werden, lassen den ärztlichen Laien, ja selbst die Richter unserer höchsten Gerichte mitunter vergessen, dass auch der vorsichtigste und gewissenhafteste Arzt nicht mit der Sicherheit einer Maschine zu arbeiten vermag, sondern dass ihm auch bei aller Sorgfalt einmal ein Fehler unterlaufen kann, den er in seiner bisherigen Tätigkeit tausendfältig vermieden hat.«231

Diese Haltung resultiert aus der großen Verantwortung, die seinem Berufsstand auferlegt ist und die Stich überaus ernst nimmt. So lobt er Nordmann (1939), dessen Buch »von der ersten bis zur letzten Seite von tiefem Ernst getragen [ist], stets von der Sorge erfüllt, mit möglichst einfachen und ungefährlichen Mitteln die Leiden unserer Schutzbefohlenen zu heilen«.232 Stich bedauert, dass Ärzte nicht »stets so rasch helfen können, wie wir möchten«233. Und die Verantwortung für den Patienten endet nicht nach der OP: »Wenn man die Gliedabsetzung nicht als ›Bankrotterklärung‹ der Heilkunst an­sehen will, muss man sich bemühen, den Gliedverlust nicht nur rein mechanisch durch eine Prothese zu ersetzen, sondern den Kranken auch psychisch über seinen Körper­ schaden hinwegzubringen. Es ist nicht zu leugnen, dass gerade dieses Gebiet von Chirurgen und Orthopäden oft stark vernachlässigt wird.«234 229 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 188 (1954) zu Bürger, Klinische Fehldiagnosen. 230 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 197 (1958) zu Guleke, Klippen chirurgischer Begutachtung. 231 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 166 (1937) zu Koenig, Haftpflicht. 232 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 170 (1939) zu Otto Nordmann, Praktikum der Chirurgie. 233 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 183 (1951) zu Block, Die Durchblutungsstörungen der Gliedmaßen. 234 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 187 (1953) zu Hofer, Das Amputiertenproblem in neuer Gestalt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Und man muss allen gerecht werden: dem »imbezillen Schweramputierten«, dem »weichen empfindsamen Psychopathen« und dem »seelisch normal selbstbewussten Menschen«. Eine der auffälligsten Merkmale Stichs als Mediziner ist seine starke Betonung von »praktischen Erwägungen, […] die uns Chirurgen ja in erster Linie zu beschäftigen haben«235. So freut er sich, wenn sein Kollege Brunner seinem Buch voranstellt: »›Nicht Bücherwissen, sondern praktische Erfahrung in Klinik und Unterricht‹ sollen das Fundament dieses Buches sein.«236 Denn Stich verweist des Öfteren auf den »breiten Spalt […], der zwischen den auf der Universität erworbenen Kenntnissen und der praktischen Tätigkeit am Krankenbett klafft.«237 Seine Rezensionen lassen auch einige Rückschlüsse auf den chirurgischen Alltag zu, dem Stich als Leiter einer großen Klinik ausgesetzt war.238 So bezeichnet er sich als »vielgehetzter Chirurg«239 und konstatiert: »An den großen Kliniken und Krankenhäusern werden heute immer größere und kühnere Eingriffe ersonnen, um der leidenden Menschheit zu helfen; die Tausenden von Kriegs- und Unfallverletzten aber kommen manchmal etwas zu kurz dabei«240.

Es ist offensichtlich nur schwer möglich, allen Patienten gleichermaßen gerecht zu werden – die Diskrepanz zwischen großen, komplizierten Operationen und der alltäglichen Versorgung, gerade der Kriegsverletzten, die Stich besonders am Herzen liegen, stellt noch 1951 eine große Herausforderung dar. Stichs Schüler Bauer vermittelt in seinem Essay Kurzgeschichten aus einem langen Chirurgenleben: Aus der Göttinger Zeit241 einen plastischeren Eindruck, wie Stich als klinischer Lehrer war – oder besser: wie er auch sein konnte.

235 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 169 (1939) zu Krompecher, Die Knochenbildung. 236 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 183 (1951) zu Brunner, Lehrbuch der Chirurgie. 237 Rezension zu Nordmann, s. oben. 238 Ein Quellenbestand im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin enthält Verwaltungsakten aus der Chirurgischen Klinik aus der Zeit vor 1933 und ist somit aufschlussreich, was Belegungszahlen, Personalien und auch einige inhaltliche Aspekte des Klinikalltages betrifft. Zum Beispiel Kultusministerium, Organisation und Verwaltung der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität Göttingen (Band 2, ­1905–1930). GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va. Nr. 10112 und 10113. 239 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 165 (1937) zu Her­ mannsdorfer, Diätetik in der Chirurgie. 240 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 183 (1951) zu Marquardt, Gliedmaßenamputation und Gliedersatz. 241 Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass von Karl Heinrich Bauer, Hervorhebung im Original. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Erst- und einmalig war wohl eine Geschichte in der ›Chirurgie‹. STICHs größte Stärke waren wohl seine klinischen Vorlesungen: Viermal wöchentlich 1 ½ Stunden!! Was der Klinizist über die Praxis wissen musste, wurde eifrigst gepaukt. Die Prak­ tikanten wurden ›herangenommen‹. Eines Tages war wieder einmal das Thema ›Hernien‹ dran. Ein junger, kräftiger Bursche hatte eine, die aber nur im Stehen hervortrat, während im Liegen der Bruchinhalt (Netz und Dünndarm) zurückschlupfte. Kein Wunder, dass die junge Kollegin die Bruchpforte nur durch Einstülpen des Scrotalansatzes nachweisbar nicht fand. Der Trick war, dass der Scrotalansatz dem Samenstrang entsprechend bauchwärts eingestülpt werden musste, um die offene Bruchpforte nachzuweisen. Das arme Mädchen gab sich alle Mühe, tastete die Leistengegend nach der Bruchpforte ab, fand aber nichts. Bei dem jungen Burschen aber regte sich beim Anblick des hübschen Mädchens und den fortgesetzten Manipulationen in der empfindlichsten Gegend die männlichste aller männlichen Reaktionen – und dies vor allen Zuhörern im überfüllten Hörsaal. Plötzlich merkte auch Stich, was los war. Er beendete in Sekundenschnelle die peinlich zu werdende Szene mit den Worten: ›Decken wir ihn zu, den kleinen Gernegroß.‹ Die Situation war mit einem Schlage geregelt.«242

Stich war eine Autorität und Respektsperson. Er erwartete von seinem Gegenüber, dass er »pupillensicher«243 war. »Das ist so ein Schlagwort von ihm ge­ wesen. Das heißt, dass man ihm in die Augen gucken kann und dann nichts Falsches dahinter steckt.« Aber auch seine selbstdisziplinierte Haltung machte ihn aus: »Er stand immer zur gleichen Zeit auf, schwang sich auf sein Fahrrad, fuhr in die Klinik, sonntags nahm er uns mit und dann durften wir ein kleines Stück bei der Visite mitgehen, zur Erheiterung der Patienten«, erinnert sich einer seiner Enkel. Doch trotz der ihm nachgesagten Disziplin und Strenge, war er überaus gerecht: »Er muss wohl ein sehr strenger Prüfer gewesen sein, hat aber nie bevorzugt, er hatte da dieses Lehrbuch der Chirurgie in Prüfung und der Probant selber, oder der Prüfling, durfte selber entscheiden, welches Kapitel er nimmt, indem er ihm einen Brieföffner in die Hand gab und sagte: ›Stich in das Buch rein‹ und dann wurde das auf­ geklappt und das Thema besprochen. Er hatte also auch keine Präferenzen und in dem Sinne sich irgendwelche Dinge vorgestellt.«

Unter Stich wurde die Klinik ständig erweitert. Sein umfassendes medizinisches Verständnis und sein Ehrgeiz sich für seine Wirkungsstätte einzusetzen zeigen sich in zahlreichen Aus- und Umbauten: Bereits 1915 wurde eine orthopädische Abteilung etabliert, es folgten ein Laboratorium für medizinische Physik und 1937 das so genannte Absonderungshaus für Patienten mit ansteckenden 242 Kurzgeschichten aus einem langen Chirurgenleben: Aus der Göttinger Zeit. Essayartige Erinnerungen von Karl Heinrich Bauer, ebd. 243 Gespräch mit Dr. Wendelin Dames. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

An der Chirurgischen Klinik in Göttingen An der Chirurgischen Klinik in Göttingen

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Krankheiten. 1939 übernahm Stich die Leitung der Kranken­pflegeschule. 1940 stellte er den »Antrag auf Erweiterungsbau der Chirurgischen Poliklinik«, den »Antrag auf eine Erweiterungsanlage der Röntgendiagnostischen Abteilung« und einen »Antrag auf Einrichtung einer Schwerunfallverletztenstation«. Daher begrüßt er das Handbuch für den neuen Krankenhausausbau von 1952: »Wer selbst bereits die Gelegenheit hatte, am Entwurf und am Bau von Krankenanstalten mitzuwirken, wird auf Schritt und Tritt die souveräne Beherrschung des Stoffes feststellen.«244 Zu jeder Zeit zeigt sich sein besonderer Einsatz für seine Klinik und Mitarbeiter245, da er immer wieder Beschwerden über unzureichendes Material und unzulängliche Verhältnisse schreibt. In Krisenzeiten verteidigt er seine Klinik gegen Kürzungen und Einsparmaßnahmen und argumentiert 1924 etwa wie folgt: »Der Ruf der Göttinger Klinik bringt es mit sich, dass auch jetzt noch Kranke mit schweren chirurgischen Leiden von weit her (bis aus Ostfriesland) die Klinik aufsuchen«. Daher könne man die Belegzahl nicht reduzieren und der OP sei an der Grenze seiner »körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit«, wenn »von morgens 7 Uhr bis nachmittags 2 Uhr – in letzter Zeit sogar häufig bis 4 oder 5 Uhr – operiert [wird]«.246 Dieser Einsatz ist charakteristisch für seine Berufsauffassung und auch für seine Persönlichkeit. In Zeiten des Nationalsozialismus zeigte Stich aber noch in anderer Hinsicht Einsatz. Er nahm bei seinen Patienten nicht die vom Regime erwünschte Separierung vor. Und so erhielt er am 28. Mai 1943 eine Ermahnung vom Kurator der Universität: »Ich bekomme immer wieder Meldungen, daß Ostarbeiter und Arbeiterinnen mit deutschen Volksgenossen zusammen in den Kliniken untergebracht werden. Die Einstellung der Partei zu diesen Fragen ist ganz eindeutig und allen Herren ja bekannt.«247

Und weiter: »Für Ostarbeiter usw. ist die Baracke gebaut, dort sind sie unterzubringen. […] Ich halte es auch nicht für richtig, daß die wenigen Einzelzimmer von Ostarbeitern belegt werden, diese sind für deutsche Kranke nötiger. Ich darf bemerken, daß bei einer Besprechung beim Kreisleiter von anderen Anwesenden darauf hingewiesen wurde, daß in der Stadt vielfach Klagen darüber geführt würden, daß Ausländer in den Kliniken besser behandelt würden als Deutsche. Es ist ganz gleich, wie man solches 244 Rezension von Stich in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 184 (1952) zu Vogler, Handbuch für den neuen Krankenhausbau. 245 Vgl. z. B. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Organisation und Verwaltung der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität Göttingen (Band 2, 1905–1930). GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va. Nr. 10112 und 10113. 246 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Va Sekt. 6 Tit X Nr. 48, Band 9. 247 Universitätsarchiv Göttingen, Med.Fak. Ordner 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Gerede Ungenannter beurteilt; wenn es zur Begründung einer Beschwerde heran­ gezogen wird, hat es im ersten Augenblick seine Wirkung. Kranke Ostarbeiter usw., die nach diesen Gesichtspunkten nicht behandelt werden können, sind wegen Überfüllung abzulehnen.«248

Und damit nicht genug: Die Krankenschwester Ingeborg Meyer-Borcherts erinnert sich 1976249, dass Stich, obwohl er »viele Gelder für die Partei gegeben hat«, später ihren Vater, einen Geheimen Medizinalrat jüdischer Abstammung, in die Klinik miteinbezogen hat, »obwohl er es nicht durfte.« Sogar ihre schwer kranke Mutter habe Stich besucht. »Ich habe viel mit ihm gearbeitet, und er war ein sehr feiner Mann.«

Arzt in der Wehrmacht Beratender Chirurg im Wehrkreis IX. Für ­Rudolf Stich war es selbstverständlich, sein Können in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Deswegen war er in beiden Weltkriegen »Beratender Chirurg« der Armee. Die Beratenden Ärzte waren in der Regel Hochschullehrer250, die, wie der Name schon sagt, mit ihrer Kompetenz und Erfahrung den Wehrkreisärzten beratend zur Seite standen und die Reservelazarette betreuten. Sie waren quasi der akademische Überbau des Sanitätswesens – von einer solchen Persönlichkeit »verlangte man Erfahrung, Urteilsfähigkeit und Verant­ 248 Der Aspekt der Zwangsarbeiter ist für Göttingen hinreichend aufgearbeitet, z. B. Andreas Frewer u. a., Zwangsarbeitende als Patienten und Helfer. Zur Behandlung an der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen, in: Andreas Frewer u. Günther Siedbürger, Zwangsarbeit und Gesundheitswesen im Zweiten Weltkrieg. Einsatz und Versorgung in Norddeutschland, Hildesheim 2006, S. 79–102. Oder auch das Forschungsprojekt von Cordula Tollmien, Ergebnisse einsehbar unter: http://www.zwangsarbeit-in-goettingen. de/ [eingesehen am 3.4.2014]. Für Stichs Privatpraxis in der Gosslerstr. 5 konnten 1944 zwei italienische Zwangsarbeiterinnen nachgewiesen werden, vgl. http://www.zwangs arbeit-in-goettingen.de/texte/italienerkarte2.htm [eingesehen am 10.4.2014]. Zur Unterbringung von Zwangsarbeitern in der Chirurgischen Klinik: Karen Nolte u. Jörg Janßen, Gedächtnisorte im Alltag. Überlegungen zum Gedenken an die Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, in: Volker Zimmermann (Hg.), Leiden verwehrt Vergessen. Zwangsarbeiter in Göttingen und ihre medizinische Versorgung in den Universitätskliniken, Göttingen 2007, S. 279–295. 249 Interview mit Ingeborg Meyer-Borcherts, Krankenschwester, in: Stadtarchiv Göttingen, Ulrich Popplow, Augenzeugenbefragung von Göttinger Bürgern vom 9.6.1976, Dep. 77, I, Nr. 58. 250 Hier gibt eine Auflistung des Sanitäts- und Gesundheitswesen Auskunft über medizinische Hochschullehrer, die der Wehrmacht zur Verfügung standen. Vgl. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/1055 (ohne Datum). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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wortungsfreudigkeit«.251 Sie sollten ebenso durch Truppenbesuche ihre eigenen Kenntnisse über kriegswichtige Behandlungsfragen erweitern und einen »Überblick über die endemischen und epidemischen Verhältnisse in ihren Berichten gewinnen. […]« Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit lag in der Aus- und Fortbildung der in ihrem Bereich tätigen Sanitätsoffiziere, die sie auf den neuesten Stand der medizinischen Forschung bringen sollten. Darüber hinaus sollten die Beratenden Ärzte ihre Erkenntnisse in ihre weiteren Forschungen einfließen lassen, so dass sich hier eine Art Kreislauf bildete: »Aus diesen verschiedenen Arten ihrer Arbeit ergibt sich ihr Gesamtwirken als Berater, als Überwacher und als Lehrer«252 – durchaus: als Führer. Emil Frey253, selbst Beratender Chirurg, fasst den Posten als Bindeglied auf zwischen den Sanitätsoffizieren, die er berät, und den anderen Beratenden Ärzten, also als eine Art Kontaktperson und Multiplikator. Das Sanitätswesen des Ersatzheeres, in dem Stich als Beratender Arzt tätig war, unterteilte das Reichsgebiet in 17 Wehrkreise, diese unterstanden jeweils einem Korpsarzt, der zugleich Wehrkreisarzt war und zum Wehrkreiskommando gehörte; die Versorgung der Verwundeten erfolgte in Reservelazaretten, die häufig bereits bestehenden zivilen Krankenhäusern angegliedert waren.254 Die Beratenden Ärzte (in Reserve, als Reserveoffiziere) wurden den Wehrkreisärzten zugeordnet.255 Zahlenmäßig war die Gruppe der Beratenden Chirurgen unter ihnen die größte. Die meisten von ihnen besaßen den militärischen Rang des Stabsarztes oder Oberstabsarztes, Ältere Beratende erhielten jedoch auch gelegentlich den Rang eines Generalarztes.256 Durch die in einer Stelle, der Heeressanitätsinspektion, gebündelte Kompetenz und den Erfahrungsaustausch sollte die Wehrkraft gestärkt, die Verwundeten versorgt und Forschungen vorangetrieben werden. Die Beratenden Ärzte verfassten vierteljährlich Berichte, die in Sammelberichten gebündelt wiederum allen anderen Beratenden Ärzten vorgelegt wurden. Zusätzlich wurden Kriegstagebücher geführt, von denen Stichs für das Jahr 1939/40 erhalten ist. Die Militärärztliche Akademie war für die Ausbildung des Nachwuchses 251 Ebd. 252 Neumann, S. 88. Vgl. auch Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/947. 253 Emil Frey, 27.7.1888–6.8.1977, Chirurg, 1924 Habilitation bei Ferdinand Sauerbruch, seit 1930 Lehrstuhl an der Medizinischen Akademie Düsseldorf, seit 1942 ao. Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens, seit 1944 im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, 1943–1958 Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik München. 254 Vgl. dazu Behrendt, S. 15 ff. 255 Karl-Heinz Leven, Quellen zur Geschichte des Sanitätswesens der deutschen Wehrmacht im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, in: Ekkehart Guth u. a. (Hg.), Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, Herford 1990, S. 28. 256 Die Hierarchie gliederte sich folgendermaßen: Assistenzarzt => Oberarzt => Stabsarzt => Oberstabsarzt => Oberfeldarzt => Oberstarzt => Generalarzt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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verantwortlich. Außerdem wurde eine »Lehrgruppe C« etabliert, der nach Kriegsbeginn die Beratenden Ärzte zugeordnet wurden, welche die Forschungen koordinierte. Unter dem Dach der Militärärztlichen Akademie wurden verschiedene Institute neu gegründet. Ihre Leiter durften frei forschen, mussten aber selbstverständlich wehrmedizinischen Fragen Vorrang einräumen. Die Institutsleiter besaßen gleichzeitig eine Lehrerlaubnis;  Stich hielt ebenfalls Vorträge an dieser Akademie, obwohl er kein von ihr gegründetes Institut leitete.257 Die meisten der Beratenden Chirurgen waren zwischen 1873 und 1903 geboren, durchschnittlich 48 Jahre alt bei Kriegsbeginn. Stich gehörte also deutlich zu den Ältesten. Bereits 87 der Beratenden Chirurgen nahmen am Ersten Weltkrieg teil, vier von ihnen waren in jenen Jahren bereits als Beratende tätig  – Stich war einer davon. Von 106 Beratenden Chirurgen waren 62 Partei­ mitglied, 23 Mitglied in der SA und 20 in der SS – R ­ udolf Stich war in allen Kor­ porationen Mitglied. Die Beratenden Chirurgen sollten den Meinungsaustausch unter den Chirurgen beispielsweise auf Tagungen und im wissenschaftlichen Diskurs befruchten – hier leistete Stich mit den in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie erscheinenden Tagungsberichten einen eminent wichtigen Beitrag zur erfolg­ reichen Vernetzung  – und erstattet der Heeressanitätsinspektion Bericht.258 Aber auch die Beratenden Ärzte259 selbst publizieren oft in Stichs Zeitschrift. Über dieses Forum bot sich den Ärzten, die über besonders umfangreiche Erfahrung und über die »daraus erwachsene Persönlichkeit«260 verfügten, die Möglichkeit, eine Art Wissenschaftsmanagement261 zu betreiben, vor allem, 257 Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorium, Personalakte Stich Sig UAG Kur. PA Stich, Bl. 146. 258 Auf Grundlage dieser Berichte sollte nach dem Krieg ein wissenschaftliches Handbuch veröffentlicht werden. Vgl. auch: Heeressanitätsinspektion: Beratender Psychiater, Beratende Chirurgen. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/649. Darin:  Allgemeine Richtlinien für die Tätigkeit Beratender Chirurgen. Diese Richtlinien finden sich bei Behrendt, S. 20 f. zusammengefasst. 259 Ihre Berichte belegen, dass das Lazarett in Göttingen eine herausragende Stellung hatte und komplizierte Fälle häufig hierher verlegt wurden. Das Renommee der Göttinger Ärzte spiegelt sich hier deutlich. Vgl. z. B. Schoen, Beratender Internist Wehrkreis XI, Tätigkeits- und Erfahrungsberichte (1942–1943). Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/94. 260 Vgl. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/2084. 261 Der Begriff Wissenschaftsmanager ist der Forschung entlehnt. Der bei Hoffmann u. Stutz gewählte Begriff des Forschungsmanagers betont die Managerfähigkeiten der Akteure, d. h. die Fähigkeit, relevante Netzwerke zu knüpfen und für ihre Belange zu nutzen. Gerade die Beratenden Ärzte, welche sich als Wissenschaftsmanager exponierten und dicht vernetzt waren, erscheinen als Integrationsfiguren prädestiniert. Vgl. Dieter Hoffmann u. Rüdiger Stutz, Grenzgänger der Wissenschaft: Abraham Esau als Industriephysiker, Universitätsrektor und Forschungsmanager, in: Hossfeld, S. 136–180. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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weil dieser Tätigkeitsbereich vielen dazu diente, sich über »kriegswichtige Forschungen« nicht nur in den Dienst des Regimes zu stellen, sondern, vielleicht noch wichtiger, sich darüber hinaus wissenschaftlich in einer scientific community262 zu etablieren und die Ressourcen und Möglichkeiten, die der Krieg zur Verfügung stellte, für sich zu nutzen.263 Hier zieht sich der Bogen der wissenschaftlichen Bedeutsamkeit Göttingens, die Stich erheblich mehrte, zu Belangen der gesamten nationalsozialistischen Politik über den lokalen Bezug hinaus. Da die meisten Beratenden Ärzte reaktivierte Reserveoffiziere waren, waren sie mit Dienstgraden in alle Rechte und Pflichten der militärischen Hierarchie eingebunden. 29 Lehrstühle stellten Beratende Chirurgen, darunter Stich und seine Schüler Bauer und Coenen.264 Nur fünf dieser Lehrstühle sind mit Ärzten besetzt, die nicht in Stichs Zeitschrift publiziert haben.265 Neben ihrem wissenschaftlichen Beitrag wurde den Militärärzten ein immenser ideologischer Stellenwert beigemessen. Zur Steuerung der Propaganda wurde eigens ein nationalsozialistischer Führungsoffizier der Heeressanitäts­ inspektion etabliert. Diese Dienststelle spielte eine beispielhafte Rolle in der damaligen Diskussion um die ambivalente Stellung des Sanitätsoffiziers, denn sie zeigt die Problematik des komplexen Verhältnisses zwischen sanitätsdienstlichen Erwägungen und ideologischer Manipulation.266 Seit 1933 vollzog sich eine ständige Politisierung der Wehrmacht, 1938, als Hitler endgültig ihre Führung übernahm, wurde die Indoktrination noch verstärkt. Spätestens, als der Weltanschauungskrieg gegen Rußland begann, waren »politische Soldaten«

262 Vgl. zur scientific community im Nationalsozialismus allgemein Ulrich Wengenroth, Die Flucht in den Käfig: Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland ­1900–1960, in: Rüdiger vom Bruch u. Brigitte Kaderas, Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 52–60. Die von Wengenroth aufgestellte These wird allerdings z. B. durch Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008), S. 539–606 durchaus kritisch beurteilt. 263 Vgl. dazu auch: Wehrmedizinische Forschung in den Instituten der Militärärztlichen Akademie u. a. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/1853. 264 Hermann Coenen, 21.11.1875–7.12.1956, Assistent bei ­Rudolf Virchow, Habilitation 1908 in Breslau, Chirurg und Ordinariat in Münster, Oberstabsarzt, Beratender Chirurg. 265 Von den namentlich 92 bekannten Beratenden Chirurgen finden sich 43, also knapp die Hälfte, in Bruns’ Beiträgen wieder, darunter mindestens sieben Schüler Stichs (Bauer, Coenen, Geissendörfer, Herlyn, Nell, Seulberger, Lindemann), mindestens vier weitere sind Göttinger Mediziner und Kollegen Stichs (Gruber, Schoen, Rein, Hellner). Zählt man die anderen Fachbereiche hinzu, vergrößert sich diese Zahl noch. Viele der Beratenden Ärzte stehen bei Stich in ausgesprochen hoher Gunst. Einige arbeiten direkt an Bruns’ Beiträgen mit (Breitner, Frey, Konjetzny, von Redwitz, Hellner, Geissendörfer, Guleke, Rehn, Bauer, Kirschner und Schönbauer). 266 Im Folgenden, vgl. Neumann, S. 127 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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keine Minderheit mehr. Nach den ersten Niederlagen sollte umso mehr betont werden, dass die Soldaten in erster Linie ideologischen Zielen verpflichtet sind, der Arzt sollte in der Öffentlichkeit als »warmherziger Sanitätsoffizier« erscheinen. Allerdings: »Die ›Warmherzigkeit‹ der beratenden Fachärzte in den Lazaretten ließ mit Kriegsdauer zu wünschen übrig. Angesichts des dringend benötigten Nachschubs an Soldaten wurden ärztliche Kriterien systematisch militärischen Erfordernissen untergeordnet. Die Verweildauer in den Lazaretten sollte so niedrig wie möglich gehalten werden, ungeachtet dessen, ob die Verwundungen und Krankheiten richtig ausgeheilt waren.«267 Somit entfernte sich die Propaganda immer weiter von den tatsächlichen Verhältnissen. Dennoch wurde die Stärkung des Durchhaltewillens gefördert – auch durch zahlreiche öffentliche Vorträge von Ärzten. Für die ideologische Ausbildung der Sanitätsoffiziere im Sinne des Nationalsozialismus waren vor allem die Chefärzte und Lazarettleiter vor Ort zuständig. Sie sollten an Schulungstagungen teilnehmen, auf denen didaktische Fragen besprochen wurden, wie man eine »soldatische Lebensform« erarbeite, aber auch Themen wie »Adolf Hitler: Mein Kampf, das Vademecum des deutschen Offiziers« und »Die rassischen und biologischen Grundlagen der nationalsozialistischen Weltanschauung«.268 Alle Ärzte sollten dafür sorgen, dass »jedes Lazarett […] zugleich ein Haus unseres politischen Willens und Glaubens« sei, für das ebenfalls gelte: »Der Chefarzt trägt für die politische Haltung aller ihm anvertrauten Männer und Frauen seines Lazarettes allein die Verantwortung gegenüber Führer und Volk. […] Gleichwertig neben der ärztlichen Aufgabe des Chefarztes steht sein politischer Auftrag. […] Von der Persönlichkeit des Chefarztes müssen Glaube an den Sieg unserer gerechten Sache und Liebe zu Führer und Volk ausstrahlen. Durch Wort und Tat muss er sich zum vorbildlichen Künder und Verfechter der nationalsozialistischen Weltanschauung machen. […] Wer dieser Aufgabe nicht mit allem Ernst nachgeht, ist nicht nur als Chefarzt untragbar, sondern macht sich als Volksverräter schuldig.«269

Neben der politischen Führungsverantwortung eröffneten sich den Beratenden Ärzten darüber hinaus interessante Möglichkeiten für die inhaltliche Arbeit zum Thema Eugenik. Die Militärärzte wurden in universitären Kursen und an der Führerschuler in Alt-Rehse entsprechend geschult. In den Veranstaltungen wurde oftmals proklamiert, dass der Militärarzt der Mittler zwischen Wissenschaft und den von ihm Betreuten sei, dass er, bei der Musterung 267 Ebd., S. 135. 268 Ebd., S. 142. Die Lehrgänge im Wehrkreis XI zeigen, dass diese Themen dann tatsächlich auch so gelehrt wurden, vgl. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg,  RH 53–11/33. Vermutlich nahm Stich an diesen Lehrgängen teil, wie Widmungen seiner Reden »vor Sanitätsanwärtern« zeigen. 269 Neumann, S. 142 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Rassenkunde« zu betreiben habe und als Truppenarzt die Soldaten erbbiologisch unterrichten solle. Man stand der Erbbiologie im Allgemeinen aufgeschlossen gegenüber, denn eine reinrassige Gemeinschaft sei besser in der Lage einen erfolgreichen Krieg zu führen. Jenseits dieser Betätigungsfelder versuchten die Ärzte jedoch auch, den Krieg und ihre Position als wissenschaftliche Chance zu nutzen. Die einmaligen Bedingungen des Krieges brachten auch einmalige Möglichkeiten mit sich, so dass die Ärzte, und Stich, den Krieg »als großen Lehrmeister für Ärzte« verstanden, der »einmaliges Quellenmaterial« zur Verfügung stelle: »Diese rein wissenschaftliche Sicht, die lediglich die Krankheiten und Verwundungen, nicht aber den einzelnen Patienten im Blick hat, spricht aus der Masse der ärztlichen Berichte. Teilweise scheint es fast so, als seien die Ärzte erfreut über diese einmalige Möglichkeit, Behandlungsmethoden auszuprobieren, die sie bisher nur aus Büchern kannten.«270 Folglich überrascht es kaum, »dass die Beratenden Ärzte auch mit dem finsteren Kapitel der deutschen Wehrmedizin im Zweiten Weltkrieg, den Menschenversuchen, befasst waren. Zu ihrem Aufgabengebiet gehörte auch die Forschungstätigkeit, und ihre Arbeitsanweisung mahnte vieldeutig:  ›Nicht selten ergeben sich im Krieg einmalige Gelegenheiten für die medizinische Forschung. Sie dürfen nicht ungenützt vorüber gehen.‹«271 Serienmäßige Versuche mit noch nicht ausreichend getesteten Mitteln wie dem Periston waren eine Konsequenz, bei denen die Grenze zwischen heilender Medizin und forschender Wissenschaft generell fließend war.

Stich als Beratender Chirurg im Ersten und Zweiten Weltkrieg272 ­Rudolf Stich diente bereits, wie viele andere Beratende Ärzte des Zweiten Weltkrieges, in gleicher Funktion im Ersten Weltkrieg. Eingesetzt im XXI. Armee­ korps, Abschnitt G, gibt er in seiner SA-Akte 1934 an: »Ich war meist zu Feldlazaretten abkommandiert. 3.VIII.14 bis zum Schluss des Krieges.«273 Das bedeutet, er stand im Feld und war nicht, wie im Zweiten Weltkrieg, als Reservearzt eingesetzt. 1914 wurde er zum Oberstabsarzt befördert274, was dem Rang eines Majors entsprach. Die Chancen, die der Krieg für einen jungen Arzt mit sich brachte, die Erprobungsmöglichkeiten neuer Medikamente und

270 Ebd., S. 105. 271 Leven, S. 25 ff., hier S. 29. 272 Zur Tätigkeit und Gruppe der Beratenden Chirurgen zusammenfassend: Behrendt, S. 183 ff. 273 Selbstauskunft ­Rudolf Stich, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen ­Rudolf Stich, SA-Akte. 274 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Techniken275, ließen viele Ärzte, auch Stich, nicht ungenutzt, da die Optionen gerade auf dem Gebiet der Gefäßchirurgie mannigfaltig waren.276 In der Praxis wurden die Methoden den neuen Herausforderungen angepasst und Stich leistete seinen Beitrag dazu.277 Auch zwischen den Kriegen trat er mit seinem militärischen Rang in der Öffentlichkeit auf und diese Hierarchien übertrugen sich im zivilen Leben auf seine Schüler, von denen Yen Yi-Ming, Dozent der Chirurgie aus Hanau/China, über den 50. Geburtstag Stichs berichtet: »Die Göttinger Zeit bleibt mir in guter Erinnerung. Ihren 50. Geburtstag habe ich als junger Assistent gefeiert. Der Stabsarzt aus Kiel geht in Uniform voran. Wir Assistenten gehen hinter ihm in zwei Reihen.«278

Auch im Zweiten Weltkrieg war Stich dann Beratender Chirurg der Reserve und er nahm seine Aufgabe ernst279: er besuchte die umliegenden Lazarette, in denen ihn die schlechte Versorgung der Kranken schon mal dazu veranlassen konnte, einen einstündigen Vortrag über eiternde Wunden vor etwa vierzig Sanitätsoffizieren zu halten. Schwerverletzte und komplizierte Fälle ließ er in seine Klinik verlegen, einzelne, ihn interessierende Befunde schildert er in seinen Berichten detailliert und er wird von anderen Ärzten als maßgebende Kapazität auf seinem Gebiet konsultiert.280 Das Lazarett, welches seiner eigenen Klinik angegliedert ist, kommentiert er am 4. Oktober 1939 folgendermaßen:

275 Zu diesen Bedingungen und der Entwicklung der Medizin im Ersten Weltkrieg allgemein siehe insbesondere Susanne Michl, Im Dienste des »Volkskörpers«. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007; Wolfgang U. Eckart u. Christoph Gradmann, Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 2006; Roger Cooter u. a. (Hg.), Medicine and Modern Warfare, Amsterdam 1999; Dies. (Hg.), War, Medicine and Modernity, Stroud 1998. 276 ­Rudolf Stich, Gefäßverletzungen und deren Folgezustände (Aneurysma), in: August Borchard u. Victor Schmieden (Hg.), Die deutsche Chirurgie im Weltkrieg 1914–1918, 1920 [zugl. zweite Auflage des Lehrbuchs der Kriegs-Chirurgie, August Borchard u. Victor Schmieden (Hg.), Leipzig 1917.], S. 238–258. 277 Auf diese Anpassung verweisen auch August Borchard und Victor Schmiden in ihrem Vorwort zur ersten Auflage des Lehrbuchs. Die Kriegschirurgie sei »eine völlig neue geworden.« Siehe August Borchard u. Victor Schmieden, Vorwort zur ersten Auflage, in: Dies. (Hg.), Die deutsche Chirurgie im Weltkrieg 1914–1918, S. IV–V, hier S. IV. 278 Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich Cod. Ms. R. Stich 1:26. 279 Stichs Tätigkeit als Beratender Chirurg lässt sich zumindest für das Jahr 1939 anhand seines Kriegstagebuches rekonstruieren. Vgl. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg RH 12–23/503. Tätigkeits- und Erfahrungsberichte Beratender Chirurgen v. a. der Wehrkreise. Leider ist Wehrkreis XI insgesamt auffällig schlecht überliefert, es liegen jedoch Berichte von weiteren Göttinger Beratenden Ärzten vor. 280 Seine Wirkkraft zeigt sich auch darin, dass er bereits 1936 Vorträge bei der Militärärzt­ lichen Akademie hält, vgl. Universitätsarchiv Göttingen Personalakte Stich Kuratorium, PA Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Nachdem wiederholte Besuche auf den Stationen des Reservelazaretts ›Chirurgische Klinik Göttingen‹ ergeben haben, dass dort vorläufig nur chirurgische Friedenskrankheiten und Friedensverletzungen (Furunkel, Abscesse, Wurmfortsatzentzündungen, Kraftradunfälle und dergl.) ohne jede kriegschirurgische Bedeutung in Behandlung stehen, wird zur Ersparnis an Schreibarbeit, Papier, Entlastung der Post und zur Schonung der mit Schreibkram bereits bis an die Grenzen des Erträglichen belasteten Schreibkräfte der mir anvertrauten Universitätsklinik, auf einen besonderen Bericht verzichtet.« 

Am 5. Dezember 1939 schreibt er seinen Kurzbericht mit ähnlicher Stoßrichtung. Stich erscheint 1939 als vielbeschäftigter Klinikleiter, so dass er die umliegenden Lazarette anfangs lediglich auf Anfrage besucht, was eigentlich nicht dem Willen der Heeressanitätsleitung entspricht. Scheinbar erhält er eine Abmahnung, die ihn zu folgender Antwort am 25. Oktober 1939 veranlasst: »Um der Verfügung der H.San.-Inspektion, je Woche mindestens einen Standort des Wehrkreises zu besichtigen, nachkommen zu können, wird die Bitte um Zusendung einer Listenübersicht der eingesetzten Reservelazarette und Kriegsgefangenen-Reservelazarette der einzelnen Lazarettbezirke wiederholt.«

Vermeintliche »Drückeberger«, die ohne Befund in den Lazaretten liegen, schickt er schonungslos zurück an die Front. Trotz der teils miserablen Zustände lobt er immer wieder die Einsatzbereitschaft vor allem junger Chirurgen in den Lazaretten. Bereits 1942/43 quittierte Stich die Tätigkeit des Beratenden Wehrkreischirurgen.281 Das ist insofern besonders verwunderlich, da er auch nach seinem Ausscheiden der Wehrmacht verpflichtet bleibt. Es ist eine interessante Frage, inwieweit die Rolle des Soldaten, die dem Beratenden Chirurgen inhärent ist, Schnittmengen mit Stichs Wirkungsbereich als Arzt und Hochschullehrer, als Führungspersönlichkeit aufweist und ob der Tätigkeit als Arzt und Soldat nicht per se ein unauflöslicher Widerspruch zugrunde liegt. Denn muss nicht zwangsläufig der Arzt, welcher für das Wohl des Einzelnen verantwortlich ist mit den strategischen Belangen des Soldatseins (Unterordnung des Wohles des Einzelnen unter militärische Aspekte zugunsten des Allgemeinwohls)282 in Konflikt geraten? Oder löste die nationalsozia281 Als Grund für sein Ausscheiden kommt nur sein Alter in Frage, allerdings gibt es keinen Hinweis auf eine bestehende Altershöchstgrenze, zumal er ja auch im Hochschuldienst verbleibt. Es liegt nur eine Beschwerde Stichs über Kürzung des Wehrsoldes vor nach 1943, vgl. Universitätsarchiv Göttingen Kur. PA Stich. Es erscheint möglich, dass er für seine Forschungen von der Aufgabe entbunden wurde. 282 Interessanterweise zeigt sich dieses Spannungsfeld zwischen individuellen Belangen und kollektivistischen Überlegungen ebenfalls in der Umsetzung der Rassenhygiene, in der zum Wohle des »gesunden Volkskörpers« der Einzelne, vermeintlich Kranke, unschädlich gemacht wird. Auch hier stellt Stich, dem als Arzt eigentlich in erster Linie das Wohl jedes einzelnen Patienten am Herzen liegen müsste, das Kollektiv, die Gemeinschaft, über die individuellen Belange. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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listische Ideologie der Gemeinschaft, die über dem Individuum stand, diesen Konflikt auf? Reichte es also aus, dieser Ideologie zu folgen, um das mit dem Arztsein verbundene akademische und elitäre Standesbewusstsein283 und medizinische Ethos mit den Anforderungen, die das Soldatsein stellte, in Einklang zu bringen und dennoch ein konsistentes Selbstverständnis zu entwickeln?

Arzt und Soldat: Spannungsfeld oder Synthese? Die Geschichte des Wehrmachtssanitätswesens und der Heeressanitätsinspektion war lange kein Thema, welches historisch bearbeitet wurde. Die ärztliche Elite lehnte eine Aufarbeitung ihrer Geschichte vehement ab, was nicht zuletzt dazu führte, dass auch im Bereich des Militärs eine hohe personelle Kontinuität bestand, die es ermöglichte, den Mythos der »sauberen Wehrmacht« aufzubauen. Die Tendenz, die Grausamkeit »der Anderen« und hier vor allem der SS , herauszustellen, durchzieht die Forschung bis weit in die 1990er Jahre, die häufig über die subjektiven Darstellungen der Akteure, die diese in Erlebnisberichten und Memoiren verschriftlichen, nicht hinaus geht. Erst innerhalb der letzten Jahre wurde auf der Basis neu verzeichneter Akten mit dieser Umgangsweise gebrochen, indem explizit auf das Spannungsfeld militärischer und medizinischer Tätigkeit in Verbindung mit dem Wandlungsprozess im Selbst­ verständnis der Betroffenen eingegangen wurde. Die Formel »Arzttum ist immer Kämpfertum«284 subsummiert die Beobachtung, dass für einen Beratenden Arzt der Wehrmacht beide Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind. Bei der Analyse des permanenten Spannungs­ verhältnisses, in dem sich der Arzt als Offizier befindet, trat der Arzt, je länger der Krieg dauerte, umso mehr hinter dem Offizier zurück. Grundlegend dafür ist die Annahme, dass das ärztliche Ethos im Krieg vor ganz besondere Herausforderungen gestellt sei, denn das ärztliche Handeln gerät in Konflikt mit militärischen Erfordernissen. Verletzte möglichst schnell wieder einsatzfähig zu machen, um sie in den Krieg zurückschicken zu können, der für ihre Verletzung verantwortlich ist, ist auf den ersten Blick mit den ethischen Prinzipien des hippo­k ratischen Eides nur schwer vereinbar. Jedoch forderten die Nazis im »soldatischen Arzttum« genau diese, im Krieg notwendige, ideale Verbindung von Arzt und Soldat.285 283 Diese Beobachtung bestätigte sich in Gesprächen mit Medizinern – sie wurde von ihnen sogar besonders betont. Vgl. Gespräch mit Prof. Hans-Jürgen Peiper und Gespräch Dr. Sebastian Stroeve, am 15.2.2013. 284 Vgl. Neumann. Das Originalzitat stammt von Wolff, Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/864. 285 Vgl. auch Bruns/Frewer, S. 87. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Aus den Richtlinien, Erlassen und Berichten286 der Beratenden Ärzte spricht das Selbstverständnis jener militärärztlichen Funktionselite innerhalb dieses immanenten Spannungsfeldes287 als Arzt und Offizier. Im militärärztlichen Ethos spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, dass es sich bei den Militärärzten auch um Wissenschaftler handelt, »die sich um ihrer Karriere willen oder aus Forscherdrang um Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft bemühten.«288 Ähnlich wie die des ärztlichen Standes war die Mentalität des Militärs deutlich elitär. So war das Sanitätsoffizierskorps von den gleichen wissenschaftlichen Prämissen geprägt wie die zivilen Mediziner. Eine besondere Rolle spielten die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg als dem ersten Massenkrieg, der die Ärzte mit einer riesigen Anzahl Verwundeter konfrontierte. Aber nicht nur die praktischen Probleme blieben teilweise ungelöst; das Trauma der Niederlage versuchten viele durch eine Heroisierung ihrer eigenen Rolle zu verarbeiten, die entstehende Erinnerungsliteratur diente auch dazu, »die durchaus frag­ würdigen ethischen und standespolitischen Normen, die während des Krieges die Grundlage des militärärztlichen Handelns bildeten, zu legitimieren.«289 Mediziner und Offiziere verbinden einige Ähnlichkeiten: das elitäre Bewusstsein und antidemokratische Denken waren gemeinsame ideologische Grunddispositionen, die Traumatisierung durch den gesellschaftlichen Niedergang in der Weimarer Republik war ein verbindendes Erlebnis, das beide Gruppen in Opposition zum politischen System trieb. Hinzu kam dann im Nationalsozialismus in beiden Berufsgruppen ein durchaus ausgeprägter Rassismus, Antisemitismus und Antibolschewismus.290 Dafür spielten im Denken der Sanitätsoffiziere gleichfalls weiter zurückreichende Traditionslinien eine Rolle. »Dass offensichtlich antisemitische Äußerungen bei der Funktionselite des Sanitätswesens zu finden sind, erklärt sich aus ihrer sozialen und politischen Sozialisation, die weitgehend mit der der zivilen Ärzte und Offiziere übereinstimmte. Entsprechend dem Hass der zivilen Ärzte 286 Grundlegend ist hier der Bestand RH 12–23 im Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, in welchem unter anderem auch Stichs Kriegstagebuch liegt, welches er in seiner Funktion als Beratender Chirurg verpflichtet war zu verfassen. Dieser Bestand ist mitnichten vollständig, da relevante Dokumente im Zuge der Aktion »Paperclip« in die USA gebracht wurden, um vor allem auf luftfahrtmedizinischem Gebiet Akten auszuwerten und für die eigene Luftwaffe zu benutzen. Auch Leven weist auf den Quellenwert des Bestandes hin. 287 Ein weiteres, in diesem Kontext interessantes Spannungsfeld ist ein der Medizin inhärentes: »Das Bemühen, Krankheit abschaffen zu wollen, birgt auch die Gefahr in sich, das Heilen zu absolutieren und zu pervertieren.« (im Streben nach der Reinrassigkeit und absoluten Volksgesundheit), Frewer u. Bruns, S. 9. 288 Neumann, S. 3. 289 Ebd., S. 49. 290 Neumann nennt zahlreiche Beispiele dafür, S. 63 ff. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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auf die jüdischen Kollegen aus Eifersucht, Neid und Konkurrenzdenken, zeigt sich dieser Konkurrenzantisemitismus in der wissenschaftlichen Diskussion, an der sich die Militärärzte beteiligten.«291 Durch die ideologische Aufladung des Arzttums im Nationalsozialismus erhoffte man sich eine Aufwertung der »Führerpersönlichkeit« des Arztes, seiner wichtigen rassehygienischen und erbbiologischen Aufgaben, ebenso wie durch die Betonung von Leistungs- und Effizienzkriterien. Diese Gemeinsamkeiten gipfeln 1943 in dem Ausspruch Leonardo Contis292: »Wir stehen heute alle unter einem soldatischen Gesetz.«293 Denn im Krieg war der Arzt aufgrund der Militarisierung der Medizin und seiner Position als Beratender Arzt eben auch Offizier, also Soldat. In der eigenen Wahrnehmung war er jedoch noch viel mehr: »Als Künstler schafft er Leben, als Richter darf er strafen, als Priester Menschen opfern, als Soldat sie töten.«294 Auch weisen die Berufe des Arztes und des Soldaten strukturelle Gemeinsamkeiten auf: beide Tätigkeiten sind verbunden mit Machtausübung in einem stark hierarchischen Gefüge und beinhalten eine große Verantwortung, da hier über Leben und Tod entschieden wird. Trotz der Gemeinsamkeiten ist eine gewisse Zwitterstellung des Beratenden Arztes nicht zu leugnen. Aber liegt in diesem Spannungsfeld wirklich ein antagonistischer Widerspruch? Obwohl beide Berufe die oben dargestellten Schnittmengen aufweisen, hatten sie eigentlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Aufgaben. Vereinfacht formuliert: Der Soldat soll töten, der Arzt heilen. So entsteht für den Militärarzt das grundlegend ethische Problem, dass Patienten nach ihrer Genesung wieder in den Kampf zurückkehren müssen, der für die Verletzung ursächlich war. Dem Offizier jedoch muss daran gelegen sein, möglichst viele Männer in die Schlacht schicken zu können. Und das ethische Dilemma des Arztes vergrößert sich noch, wenn man berücksichtigt, dass nicht nur durch das ärztliche Tun die Kampfkraft aufrechterhalten wird, sondern dass es auch moralische Auswirkungen hat:  Denn die Verwundeten als Schutzbefohlene wähnen sich gut versorgt bei den sie behandelnden Ärzten. So steht der Arzt eigentlich für das Wohl des Individuums, während der Offizier das Wohl der Gesamtheit im Blick hat. Die antagonistische Konstellation beinhaltet, dass die Ärzte sich diesem 291 Ebd., S. 66. 292 Leonardo Conti, 24.8.1900–6.10.1945, seit 1923 Mitglied der SA, Aufbau des SA-Sanitätsdiensts, seit 1927 Mitglied der NSDAP, 1930 SS-Mitglied, Mitbegründer des NSÄrztebundes, 1932 Mitglied des Preußischen Landtages, seit 1939 Staatssekretär für Gesundheitswesen im Reichsinnenministerium (»Reichsgesundheitsführer«), Suizid in Nürnberg. 293 Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/1560, Leonardo Conti in: Der Angriff, 25.5.43. 294 Walter Wuttke, Ideologien der NS-Medizin, in:  Jürgen Pfeiffer, Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992, S. 157–171, hier S. 160. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Missbrauch des ärztlichen Ethos nicht entziehen können, ohne selbst gegen ethische Prinzipien zu verstoßen«.295 Die Tendenz des Nationalsozialismus, auch für die Ärzte das Allgemeinwohl über das Wohl des Einzelnen zu stellen, gab den Ausschlag, dass der Sanitätsoffizier zwar von Fall zu Fall als Arzt oder Offizier entschied, jedoch mit zunehmender Dauer des Krieges das Militärische die Oberhand gewann. Neumann versucht, das Handeln des gesamten Standes danach zu beurteilen, in welcher konkreten historischen Situation er welche Position in diesem Entscheidungshorizont einnahm, ein Versuch, der in Ansätzen auch für Stich gewagt werden soll. Bei der Beurteilung solcher Handlungen muss auch berücksichtigt werden, dass die Gründe für Grenzüberschreitungen von Ärzten als Beratende Ärzte nicht zuletzt in den »wissenschaftstheoretischen Überlegungen einer streng naturwissenschaftlichen, auf Experimenten basierenden Medizin [lagen]. Darüber hinaus spielten die Überhöhung des eigenen Berufsstandes und die weit verbreiteten rasse- und sozialhygienischen Vorstellungen vieler Ärzte eine entscheidende Rolle, die in bestimmten Personengruppen ›lebensunwertes Leben‹ oder bestenfalls ›Versuchskaninchen‹ sahen, über deren Leben und Tod sie entscheiden konnten.«296 

Die Gewichtung zwischen dem Arzt und Soldat verlagerte sich immer mehr zum Soldaten hin, je länger der Krieg dauerte, auch weil die Protagonisten immer Möglichkeiten fanden, die beiden Positionen miteinander zu vereinen. Dabei betonten sie vor allem die Parallelen im Bereich der »Menschenführung«297 und des Kampfes. Arzt und Soldat hätten aufgrund ihrer Berufung Opfer zu bringen, so dass viele Ärzte der Meinung waren, dass sie ihr Arzttum nirgends so gut zur Geltung bringen könnten, wie in der Wehrmacht. Oftmals fungierte Paracelsus, der bereits in militärärztlichen Diensten gestanden habe, in diesem Zusammenhang als Legitimationsfigur. Interessanterweise wurde die Ambivalenz auch schon durch die offizielle Propaganda der Heeressanitätsinspektion thematisiert. Diese forderte, der Militärarzt solle den Arzt und den Soldaten zu einer Einheit bringen. Gelingen könne dies, weil die »charakterlichen Vorbedingungen« für ärztliches Handeln wie Verantwortungsbewusstsein, Entschlussfreudigkeit, Wagemut und gute Beobachtungsgabe den soldatischen Tugenden entsprächen. Wie später deutlich werden soll, hebt Stich bei seinem Versuch, beides zu einer Synthese zusammenzubringen, genau diese Eigenschaften hervor, so dass beide Berufe letztlich in ihrer Sinnfüllung für ihn nahezu austauschbar werden. 295 Neumann, S. 51. 296 Ebd., S. 38. 297 Hier ist vor allem Ferdinand Sauerbruch zu nennen, »Der Arzt im Kriege«, in:  Deut­ sche Allgemeine Zeitung, Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/864.  Sauerbruch wird von Neumann häufiger zitiert, um zu illustrieren, was einen Militärarzt ausmachte. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Aus dieser Verknüpfung geht ein Militärarzt hervor, der innerhalb der ohnehin schon elitären und standesbewussten Gruppe noch einmal einer besonderen Elite angehört, »die neben der ärztlichen zusätzlich die militärische Berufung in sich fühlte und sich dadurch von den anderen Medizinern abgrenzte«298. Es fand eine Übertragung der Liekschen Arztpersönlichkeit in die Sphäre des Militärischen statt, potenziert durch die ohnehin herausgehobene Stellung des Offizierskorps. Nach Sauerbruch manifestiere sich im Sanitätsoffizier die »Einheit von Arzttum, Soldatentum, Führertum«299. Der psychologische Aspekt, der immer wieder ins Feld geführt wurde, belegt die Manipulation des Ärztestandes zu militärischen Zwecken. Reines Fachwissen allein genüge nicht, erst das »mitfühlen und mitkämpfen«300 sei ausschlaggebend. Hinzu kam, dass die Sanitätsoffiziere auch politische Aufgaben zu erfüllen hatten: Sie waren verantwortlich dafür, die Stimmung in den Lazaretten aufrecht zu erhalten – ein Faktor, der gerade gegen Ende des Krieges zu dem über Sieg und Niederlage Entscheidenden überhöht wurde. Der Arzt sollte den Soldat davon überzeugen, dass seine Genesung in Hinblick auf das Allgemeinwohl zu betrachten sei – der persönliche Wille spiele nach Meinung der Ärzte eine große Rolle, durch ihn allein würden zahlreiche subjektive Krankheitssymptome zum Verschwinden gebracht. Zur Verbesserung der Moral proklamiert ein Flugblatt des Heeressanitätsinspekteurs vom 12.  August 1943: »Im Sanitätsoffizier erlebt das Soldatische in der Sendung des Arztes seinen Höhepunkt.« Der Arzt lebe die Opferbereitschaft vor, das stärke die Moral der Soldaten, er müsse jedoch auch eine »Gesundheit in der nationalsozialistischen Haltung wiederherstellen« nach dem Grundsatz: »Jeder Sanitätsoffizier, jeder Sanitätssoldat, jede Schwester und jeder Genesende:  Nationalsozialist der Tat.«301 Der Beratende Chirurg Gutzeit302 bezweifelt jedoch, dass diese Ideologie überall vorherrsche: Viele hätten 298 Neumann, S. 55. 299 »Eine derartige Glorifizierung vollzogen auch medizinische Koryphäen wie der schon mehrfach zitierte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass diese Berufsauffassung gemeinhin dem Bild vom Militärarzt entspricht.« Zitiert nach Neumann, S. 56. In diesem Kontext verweist nicht nur Stich gerne auf Napoleon oder Friedrich den Großen, um die Tradition zu beschwören und entlastende Kontinuität zu schaffen. Historische Beispiele sollten zum Durchhalten und zur Stärkung der eigenen Position aufrufen und nicht minder propagandistisch wirken. 300 Neumann, S. 57. 301 Rietesser, S. 219. Zitiert nach Franz W. Seidler, Prostitution, Homosexualität und Selbstverstümmelung. Probleme der deutschen Sanitätsführung 1939–1945, Neckargmünd 1977, S. 96 f. 302 Kurt Gutzeit, 2.6.1893–28.10.1957, Internist, seit 1934 Lehrstuhlinhaber in Breslau, seit 1933 SS-Hauptsturmführer, Beratender Internist beim Heeressanitätsinspekteur, Übertragungsversuche von Hepatitis mit Leberschädigung, im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, nach 1945 Leiter verschiedener Kliniken. Über Bauer schrieb er: »Es ist geradezu ein unerträglicher Zustand, daß © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»einen Rest jener individualistischen Einstellung zum Kranken, die ein Gewährenlassen oder ein Nachgeben nach der Richtung des geringsten Widerstandes so gern mit einer besonderen hochwertigen ärztlichen Einstellung und Sorge für den Kranken zu entschuldigen versucht.«303

Es gibt aber ebenso gegenteilige Berichte, auch über Stich, dass strenge Kriterien eingehalten und von den Beratenden Ärzten kontrolliert wurden, damit die Lazarette nicht überfüllt wurden. Die Tendenz der Soldaten, möglichst lange in den Lazaretten zu bleiben, »fiel in erster Linie den Beratenden Ärzten auf, die sich immer wieder darüber beklagten, dass der Gesundheitswille der Lazarettinsassen nur schwach ausgeprägt sei und die Patienten zu lange in den Lazaretten gehalten würden«.304 So sei Rigorosität eine besondere Verhaltensform der Beratenden Ärzte, die mit soldatischer Härte »Drückeberger« enttarnten. Viele von ihnen heben diese Überwachungs- und Kontrollfunktion sogar extra hervor, 1944 wurde eine Kommission aus Chirurgen und Internisten gebildet, welche die Lazarette durchkämmte und »nicht mehr lazarettbedürftige Kranke« finden sollte, womit sich die Kontroll- und Überwachungsfunktion vieler Beratender Ärzte ins Extreme steigerte. »Im totalitären NS-Staat und dem entfesselten ›Totalen Krieg‹ mussten sich diese Verhaltensmuster weitaus verhängnisvoller auswirken als unter anderen Umständen. Die führenden Sanitätsoffiziere sorgten mit ihren Maßnahmen im Lazarett­ wesen dafür, dass Soldaten mit erheblichen Krankheiten oder Verletzungen wieder auf die Schlachtfelder geschickt wurden – und sorgten damit für die Verlängerung des Krieges.«305

1940 wurde für Soldaten die Pflicht eingeführt, sich einer Operation zu unterziehen, wenn der Arzt diese für sinnvoll hielt; durch diesen Erlass wurde der Druck auf den Arzt erhöht, auch riskante Operationen durchzuführen, nur um die Wehrkraft zu erhalten. Der »extreme, nicht lösbare Spannungszustand zwischen einer an der Gesundheit des Individuums Soldat orientierten ärztlichen Haltung und der Identifikation des Arztes mit den militärischen Zielen wurde auch von den Soldaten empfunden.«306 Dieser »Januskopf« des Sanitätswesens, der zwischen ur­sprünglich humanitär-lebensrettenden versus militärisch-rationalen Erwägungen chargierte, hatte eine »doppelten Identität« des Militärarztes, gefandieser Einfluss eines jüdisch versippten Fakultätsmitglieds […] durch die Persönlichkeit des Rektors zur Geltung gebracht wird.« Daraufhin denunziert Gutzeit den Rektor der Breslauer Universität, Martin Staemmler. Zit. nach Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 212 f. 303 Leven, S. 29. 304 Neumann, S. 185. 305 Ebd., S. 213. 306 Rietesser, zitiert nach Seidler, S. 212. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gen in einer »ethischen Aporie«307, zur Folge. Das wiederum führte zu einem überspitzten Bild aus dem Ersten Weltkrieg, nachdem die Ärzte als »Maschinen­ gewehr hinter der Front«  – nach Rietessers Auffassung ein »ethisch sehr bedenklicher Spannungszustand«308 – fungierten. Die Betroffenen waren bestrebt, zumindest ideologisch, diesen aufzulösen, auch, um sich nicht rechtfertigen zu müssen. Schließlich bedarf es dort, wo jeder Widerspruch fehlt, keiner Rechtfertigung. Die Forschung kommt in dieser Frage zu dem vorläufigen Fazit: »Das Sanitätswesen hatte von Anfang an eine doppelte ethische Buchführung.«309 Die Militärärzte haben sich in ihrer Selbstdefinition in der Regel auf die Seite der Militärs begeben oder wie Stich durch ihre Identifizierung mit der nationalsozialistischen Ideologie diesen Widerspruch aufgelöst. Das macht den Militärarzt nicht nur zum Helfer, »sondern auch Helfershelfer. Am einen Pol der Militärmedizin steht Hippokrates, am anderen Pol ein ›Militarismus im weißen Kittel‹ bis hin zu einer ›Medizin ohne Menschlichkeit‹«.310 Dabei wird mit dieser Deutung übersehen, dass Hippokrates durchaus nicht den einen Pol der Skala bildet, sondern lediglich ein Konstrukt ist, welches innerhalb des ärztlichen Selbstverständnisses für alle Positionen instrumentalisierbar zu sein scheint.

Stichs Versuch einer Synthese Stich greift dieses durchscheinende Spannungs- und Konfliktfeld in einer 1942 erschienenen Rezension über Eugen Birchers311 Buch Arzt und Soldat312 auf. Er thematisiert dabei ebenso die Schnittmengen zwischen seinem Beruf als Arzt und seiner politischen Einstellung beziehungsweise militärischen Verpflichtung. Bircher unternimmt den Versuch, die Grundbegriffe »soldatisches Wesen und soldatische Geisteshaltung in der Gegenüberstellung von Arzt und Soldat zu entwickeln. Arzt und Soldat, scheinbar unüberbrückbare Gegensätze, der eine mit dem Ziel, Wunden zu heilen, der andere, Leben zu vernichten!«

­ udolf Stich registriert den unterstellten Gegensatz zwischen Arzt und Soldat R in seiner Wirkmächtigkeit und setzt sich explizit damit auseinander. Dabei gelingt es ihm, den Widerspruch aufzulösen und die vermeintlichen Gegensätze zu vereinen. 307 Ebd., S. 214. 308 Ebd., S. 212. 309 Ebd., S. 220. 310 Ebd., S. 221. 311 Eugen Bircher, 17.2.1882–20.10.1956, Schweizer Chirurg, bekannter Kriegschirurg, Sym­pathisant des Nationalsozialismus. 312 Rezension von ­Rudolf Stich in Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 171 (1941) zu­ Eugen Bircher, Arzt und Soldat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Wer aber den Dämon Krieg tiefer erfasst, wer ihn zu den dämonhaften Erscheinungen Krankheit, Epidemie, Krebs in Beziehung setzt, der wird mit Bircher erkennen, dass beide in der Tiefe ihres wohl unerfaßlichen Wesens viele Berührungspunkte haben. Beide, Krieg und Krankheit, sind Naturerscheinungen, die man wohl hassen und bekämpfen kann, niemals aber zum Schwinden bringen wird.«

In einer zeittypischen Naivität begreift Stich den Krieg nicht als ein von Menschen gemachtes, sondern als ein von höheren Mächten gesteuertes Produkt. Der Vergleich von Heerführern mit Ärzten, welchen Stich ja selbst in Bezug auf Hitler an anderer Stelle zieht, ist als Metapher nicht neu und findet sich in einer illustren Auswahl ebenso bei Bircher: »Große Heerführer, wie Friedrich der Große, Napoleon, haben die ärztliche Kunst mit der des Feldherrn verglichen; […] Kriegskunst und die Kunst des Arztes müssen sich gleichermaßen mit biologischen Fragestellungen befassen, wenn anders sie die ihnen gestellten Aufgaben recht erfüllen wollen.«

Stich referiert hier weniger das Buch, sondern seine persönliche Einstellung zum Thema. Sowohl der Arzt, als auch der Soldat schützen und stärken in »biolo­gischen Fragestellungen« den »Volkskörper« – beide sind mit Krankheit, Leben und Tod konfrontiert. Dass er dem Soldat wie dem Arzt zuschreibt, »denken zu lernen«, meint bei Stich wohl weniger das Reflektieren über etwas oder kritisches Hinterfragen, sondern eher die Fähigkeit, in einer Situation die richtigen Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln. Bircher untersucht auch an historischen Beispielen »planmäßig die Persönlichkeitswerte des rechten Arztes und des echten soldatischen Führers auf geistigem Gebiet. In anregenden Ausführungen spürt er dem Chirurgen wie dem Stadt- und Landarzt, dem Facharzt für Augen- oder Hals-Nasen-OhrenHeilkunde in ihrem seelischen Wesen nach, wobei er der unübertrefflichen Darstellung der ärztlichen Eigenschaften in Garrés Lehrbuch der Chirurgie rühmend gedenkt. Und ebenso geht er bekannten und berühmten Feldherren nach und sucht sie zu ergründen.«

Die Erwähnung von Garré in diesem Kontext kommentiert Stich noch einmal explizit: »Es ist außerordentlich reizvoll, dabei seine ehrfürchtige Einstellung zu vorbildlichen Lehrern aus längst vergangener Schulzeit miterleben zu dürfen.«

Dass Garré hier auftaucht, ist kein Zufall. Denn ihm eifert Stich nach, in all seinen Rollen und Deutungen. Eine Arztpersönlichkeit zu sein, wie Garré sie beschreibt, ist Stichs größtes Bestreben. Ihn mit Bircher in Einklang zu wissen, bestärkt ihn darin. Mehr als ein Aperçu sind die Schlusssätze, die Stich für seine lange Rezension wählt: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Man kann sich auf jeder Seite des Buches davon überzeugen, wie vorzüglich sein Verfasser nicht nur die Geschichte der Medizin beherrscht, sondern wie tief er auch in die Kriegsgeschichte aller Zeiten eingedrungen ist. […] Einzig, dass er sich den Kraftwagen zu einer bissigen Bemerkung ausgesucht hat, hat mich ein wenig traurig gestimmt. Vielleicht hat ihn aber schon der bisherige Verlauf des jetzigen Krieges davon überzeugt, dass der Motor doch nicht so seelenlos ist, wie er glaubt, und dass er nicht nur zur Rücksichtlosigkeit und Roheit zu führen braucht, sondern dass derjenige, der auf diesem Instrument zu spielen versteht, mit ihm verwachsen ist und es liebt wie ein tüchtiger Reiter sein treues Pferd. Jeder wirkliche Kraftfahrer weiß, dass auch der Motor so etwas hat wie ein Herz.«

Viele Ärzte begriffen sich so wie Stich als die vermeintlich optimale Symbiose aus Arzt und Soldat. Die meisten hielten sich jedoch selber dabei für unpolitisch und »daher konnten sie sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns, die unter den Bedingungen der Diktatur andere sind als in einer Demokratie oder einer Monarchie, letztlich nur unvollkommen vergegenwärtigen.«313

Ob dieses typische Argument des unpolitisch handelnden Wissenschaftlers jedoch auch für Stich gilt, darf bezweifelt werden, denn zu einer Umdeutung medizin-ethischer Positionen, einem Charakteristikum der NS -Medizin, trug auch Stich in seinen Reden selbst bei. »Die Sanitätsoffiziere, die sich an den Menschenversuchen beteiligten, waren größtenteils anerkannte Wissenschaftler, geachtete Bürger, treu sorgende Familienväter, mit anderen Worten: ganz normale Männer, die glaubten, ihre Pflicht tun zu müssen, und die in den Forschungsmöglichkeiten, die ihnen der Krieg bot, eine einmalige Chance für ihre wissenschaftliche Karriere und den medizinischen Fortschritt sahen. […] Mit ihrem ärztlichen Handeln in den Lazaretten und den medizinischen Forschungen bewirkten die Sanitätsoffiziere damit objektiv eine Stabilisierung des NS-Regimes und eine Verlängerung des Krieges, auch wenn sie diese politischen Rahmenbedingungen durch ihre eingeschränkte Sichtweise und ihr Selbstverständnis nicht wahrnahmen.«314

Diese eingeschränkte Sichtweise mag für einige gelten, ­Rudolf Stich nahm die politischen Rahmenbedingungen durchaus wahr  – und begrüßte und beförderte sie, in erster Linie in seinem Engagement für die Gemeinschaft, die einen integrativen Teil der NS -Ideologie darstellt. Als Arzt und Dekan leistete er einen erbbiologischen Beitrag zur »Gesundung der Volksgemeinschaft«, indem er sich für einen rassehygienischen Lehrstuhl stark machte und an seiner Klinik hunderte Zwangssterilisationen durchführen ließ. Als akademischer Lehrer verkündigt er in seinen Vorlesungen den Nutzen erbbiologischer Überlegungen, in seinen öffentlichen Reden macht er sich für die Durchsetzung der 313 Neumann, S. 381. 314 Ebd., S. 383. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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entsprechenden Gesetze stark und versucht, das Volk dahingehend zu erziehen, sich dem Gesetz gegenüber nicht zu verschließen. Er wollte, dass das Volk die Sinnhaftigkeit des Gesetzes tief in seinem Inneren versteht. Als Führer begreift er sich als Vorbild, das die Gemeinschaft stärkt und zum Wohle dieser agiert. Als Soldat innerhalb der Wehrmacht stellt er den Wert des Einzelnen hinter den Nutzen für die »Volksgemeinschaft« zurück. ­Rudolf Stich wirkt nicht nur als Beratender Chirurg in der Kriegsmedizin, sondern auch als Herausgeber der Bruns’ Beiträge für Klinische Chirurgie beziehungsweise Verfasser von medizinischen Fachaufsätzen auf diesem Gebiet. Für Stich ist der Krieg allgegenwärtig: Stich widmet sich der Kriegsmedizin in seinen Rezensionen häufig und umfassend. Nicht nur, weil er selber auf diesem Gebiet Experte ist, sondern auch, weil der Krieg auch noch nach 1945 für ihn extrem präsent ist. Und zwar nicht nur in der charakteristischen Kriegsmetaphorik, welche die Sprache durchzieht, sondern als ganz reales Ereignis. Beide Weltkriege sind für Stich auch gemeinschaftsstiftende Erfahrungen, ein Lehrbuch von 1934 »zeigt […] uns zunächst den Stand unserer Wissenschaft, bevor der Weltkrieg begann« – das inkludierende »uns« ist ein Hinweis darauf, dass Stich sich als Kriegschirurg versteht und ganz selbstverständlich auch als Teil dieser Gemeinschaft begreift. Die Bedeutung des Krieges für Stich wird nicht ausschließlich in den Rezensionen deutlich, die in den Kriegsjahren verfasst wurden. Das lässt darauf schließen, dass beide Weltkriege für Stich durchaus prägende Ereignisse waren, die er als »nicht ganz leichte Zeit«, als »erschwerende Zeitumstände« beschreibt, die er auch in einem Organ der wissenschaftlichen Auseinander­setzung für erwähnenswert hält. Sein Engagement als Arzt für kriegswirtschaftliche Belange zeigt sich ebenfalls, wenn Stich vehement auf die große Bedeutung der »Fußleiden für Staat und Volk« aufmerksam macht und konstatiert: »Arbeits- und Wehrfähigkeit eines Volkes hängen zum nicht geringen Teil auch von seiner Fußgesundheit ab.« Als Arzt fühlt er sich in besonderem Maße verantwortlich »für unsere Kriegsverletzten.« Die Bedeutung von hilfreichen Lehrbüchern, in denen prominente Be­ratende Ärzte versuchen, eine Anleitung für den Sanitätsoffizier zu geben, betont Stich an jeder Stelle, denn dieser ist »ja meist auf sich allein gestellt […] und [muss] selbstständig handeln, ob er will oder nicht«. Der Wert von Stichs Fronterfahrung aus dem Ersten Weltkrieg zeigt sich darin, dass er seine Meinung immer wieder »untermauert aus Erkenntnissen aus den Feldzügen der deutschen Wehrmacht« und die Behandlungsverfahren »der Feindmächte« werden neben die der deutschen Wehrmacht gestellt, das gibt dem »kritisch richtenden Arzt die Möglichkeit, seine Leistungen zu überprüfen«. Auch hier geht es immer um die Erfahrungsgemeinschaft der Chirurgen, »wenn ich unsere Erfahrungen nach dem Weltkriege berücksichtige«. Diese Erfahrung zitiert er explizit ebenso an anderer Stelle: © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Auch der erfahrene Chirurg, der den Weltkrieg selbst an den verschiedensten Fronten als Arzt mitgemacht hat, wird beim Lesen des Buches erstaunt sein, wie oft er auf Tatsachen hingewiesen wird, die ihm bisher unbekannt waren«.

Häufige Erwähnung finden Methoden seines Lehrers Garré aus dem Ersten Weltkrieg, die Stich quasi immer wieder in die Debatte einfließen lässt und die seine starke Prägung durch Garré erkennen lassen. Aspekte, die er in den besprochenen Büchern erwähnt findet, welche auch ihm wichtig sind, unterstreicht er besonders: »Der zwischen den Zeilen zu lesende Wunsch nach dem Einsatz mehrerer Feldlazarette bei starkem Verwundetenandrang kann nur unterstützt werden.«

Es gibt aber durchaus auch Passagen, welche Stichs Einstellung zum Krieg deutlich machen und welche explizit auf seinen politischen Hintergrund schließen lassen, so zum Beispiel wenn er 1941 schreibt: »Jeder deutsche und viele aus­ ländische Chirurgen« werden den neuen Band »freudig begrüßen […] und werden mit besonderer Genugtuung festgestellt haben, dass sie die Folge der einzelnen Lieferungen auch nach dem Ausbruch des uns aufgezwungenen Krieges mutig und tatkräftig weiterführten.« In diesen Zeiten sieht er gerade für den Arzt große Aufgaben: »In einer Zeit, in der alle Länder aufrüsten, in einer Zeit, die den griechisch-türkischen, den chinesisch-japanischen, den bolivianischparaguayischen, den italienisch-abessinischen Krieg nicht verhindern konnte, heißt es auch für den deutschen Arzt, auf dem Plan zu sein.« Besonders deutlich wird Stichs Überzeugung von der Richtigkeit des Krieges und seine Wahrnehmung dessen als »Totaler Krieg«, wenn er den Krieg als »das große Ringen um unsere Freiheit, dass zur Zeit im Gange ist« bezeichnet und 1943 auf den Zeitpunkt verweist »wenn wir erst den Krieg gewonnen haben und wieder unsere Kolonien besetzen werden.« * * *

Im Kaleidoskop: Das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern für »kriegswichtige« Forschungen Am 1. Januar 1942 wird ­Rudolf Stich für seine Verdienste ums Vaterland geehrt. Er ist nun nicht nur Träger des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer (1934), des Goldenen Treudienstehrenzeichens (1938) und des Ehrenzeichens III. Klasse für die deutsche Volkspflege. Nun ist er auch stolzer Träger des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse mit Schwertern.315 Endlich, denn bereits im Jahr 1941 versuchte 315 Auskunft Stichs an die SA-Brigade 57 über Auszeichnungen vom 27.12.1943 in seiner SA-Akte, Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen R ­ udolf Stich, SA/4000003676. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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der Rektor der Universität Göttingen beim General der Infanterie, Siegfried Ruff316, eine Verleihung derselben Auszeichnung an Stich zu erwirken.317 Und er fand Gehör mit seinem Anliegen: Stich war bereits für eine solche Ehrung vorgesehen gewesen, konnte jedoch bisher aufgrund der wenigen zur Verfügung stehenden Verdienstkreuze nicht berücksichtig werden.318 Dieses 1939 durch Adolf Hitler gestiftete Kreuz wurde offiziell nur verliehen für Verdienste »unter feindlichen Waffen« oder für besondere Verdienste um die Kriegsführung. Aber womit verdiente sich ausgerechnet R ­ udolf Stich diese Ehre »mit Schwertern«? Worin bestanden seine »besonderen Verdienste um die Kriegsführung«? Eine Erklärung hierfür könnten seine »kriegswichtigen Forschungen« sein, die bisher in der Literatur unberücksichtigt blieben. Obwohl Stich bereits 1941 als Beratender Chirurg der Wehrmacht ausschied, begann er nichtsdestotrotz im Jahr 1944 mit äußerst relevanten Forschungen für Paul Rostock319, den Leiter des Amts für medizinische Wissenschaft und Forschung. Rostock koordinierte in seinem Amt verschiedene Medizinversuche und musste sich später dafür in den Nürnberger Ärzteprozessen verantworten. Stich hatte fachlich »hoch gespannte Erwartungen« an Rostock – das äußert er jedenfalls nach dem Krieg.320 Stich bespricht im Jahr 1947, unmittelbar nach dem Nürnberger Ärzteprozess, 316 Siegfried Ruff, 19.2.1907–22.4.1989, ab 1937 Direktor des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, 1938 Habilitation, beteiligt an Dachauer Höhentodversuchen, Freispruch im Nürnberger Ärzteprozess, danach leitender Arzt der Lufthansa, 1952 Umhabilitierung nach Bonn. 317 Schreiben vom 18.8.1941 im Universitätsarchiv Göttingen, Rektoratsakte von R ­ udolf Stich. 318 Antwort des stellvertretenden Generals des XI Armeekorps und Befehlshaber im Wehrkreis XI an den Rektor vom 29. August. 1941, ebd. 319 Chirurg (18.1.1892 Kranz bei Meseritz, 17.6.1956 Bad Tölz). Ab 1927 Oberarzt der Klinik Bergmannsheil in Bochum, wo er Karl Brandt kennenlernte. 1933 Chefarzt der Chirurgischen Klinik (Ziegelstraße) der Universität in Berlin, wo Brandt stellvertretender medizinischer Direktor war und andere prominente Mediziner der NS-Zeit. 1936 wurde er ao. Professor und trat als dritter Begleitarzt in den Dienst Hitlers ein, 1938 NSDAP, 1940 Ärztebund. 1941 Lehrstuhl und Klinikdirektor, als Magnus nach München geht. 1942 Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin. 1942 Beratender Chirurg des Sanitätsinspekteurs des Heeres. Am 18.8.1942 von Hitler zum ao. Mitglied des wiss. Senates des Heeressanitätswesens ernannt und Nachfolger von Wachsmuth als Beratender Chirurg bei der Heeressanitätsinspektion. 1943 Stellvertreter Karl Brandts und Leiter des Amts für Medizinische Wissenschaft und Forschung, unter anderem Koordination der Medizinversuche. Freispruch am 20.8.1947 im Nürnberger Ärzteprozess. 1948 Chefarzt des Versehrtenkrankenhauses Possenhofen am Starnberger See, 1953 Chefarzt des Versorgungskrankenhauses Bayreuth. Er ist mit den führenden Medizinern der Zeit gut vernetzt: Von 1922 bis 1927 Schüler von Guleke in Jena. Schüler von Magnus (1927–1933) und König. Enger Kontakt schon seit ca. 1928 und in Bochum zu Karl Brandt, der sich auch in Berlin für ihn einsetzt. Von Magnus übernimmt er die Leitung der Chirurgischen Universitätsklinik. Näheres in: Steinau, S. 69–73. 320 Vgl. Rezension von Stich in Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 176 (1947) zu Paul Rostock, Erkennung und Behandlung der Knochenbrüche und Verrenkungen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Rostocks Buch Erkennung und Behandlung der Knochenbrüche und Verrenkun­ gen in seinen Beiträgen zur klinischen Chirurgie. Da Rostocks Buch bereits 1942 erschienen war, lässt sich diese Rezension auch als versteckte Sympathiebekundung deuten. Stich betont, bei Rostock würden die Erwartungen an das »ganz vorzügliche Lehrbuch« nicht enttäuscht, das sich als solches vor allem an Studenten richte. Es sei besonders relevant »in Hinblick auf die Versorgung von Knochenbrüchen im Krieg«. Rostocks Rolle in diesem Krieg wird mit keiner Silbe erwähnt, geschildert wird er als Hochschullehrer mit besonderer Erfahrung, der diese nun dankenswerterweise an die nächste Studentengeneration weitergibt. Stich lässt keinen Zweifel daran, dass er Rostock als Arzt und vor allem als Praktiker über alle Maßen schätzt. Stichs öffentliche Belobigung eines führenden Repräsentanten des NS -Ärztestandes offenbart seine politische Einstellung: Er solidarisiert sich so mit Rostock, sowie mit dessen Praktiken und hält gleichzeitig das »Nürnberger Tribunal« für absurd und sinnlos. Gleichzeitig war es für ihn offensichtlich vollkommen ungefährlich, sich 1947 lobend über einen führenden Angeklagten der NS -Verbrechen zu äußern. In Rostocks Auftrag begann Stich 1944, Versuche mit dem Blutersatzmittel Periston und mit »Heilgas« durchzuführen, über welches auch von anderen Beratenden Ärzten geforscht wurde. Es sollten die Ergebnisse, welche die SS bereits in Versuchen in Konzentrationslagern erzielt hatte, seitens der Wehrmacht verifiziert werden. Die sonst in den akademischen Kreisen der Wehrmachtsärzte eher kritisch beäugte SS galt, wenn es um gemeinsame Ziele ging, durchaus als ein Kooperationspartner. »In diesen Fällen kannten die Wehrmachtsärzte keine Berührungsängste, sondern versuchten unter Vermeidung von Reibungsverlusten zum Wohle der Gesundheit der eigenen Truppe und unter Inkaufnahme von Verlusten oder Beeinträchtigungen der Häftlinge medizinische Forschungen voranzutreiben.«321

Da vor allem bei hohem Blutverlust, einer Sepsis, bei Gasbrand und Tetanus Bluttransfusionen erforderlich wurden, spielten Blutersatzmittel wie Periston während des gesamten Zweiten Weltkrieges eine besondere Rolle. Nach einer Bluttransfusion oder ergänzend dazu wurde Periston als Dauerinfusion gegeben. Ein Erfahrungsbericht von Bürkle de la Camp322, ebenfalls Beratender Arzt, nennt physiologische Kochsalzlösung, Normosallösung, Tutofusin und Periston als Blutersatzmittel. »Periston enthielt neben physiologischen Salzen auch ein Kolloid, das für eine lange Verweildauer des Medikaments in der Blutbahn sorgte. Es wurde intravenös über 321 Zu diesem Schluss kommt auch Neumann, S. 307. 322 Heinrich Bürkle de la Camp, 3.6.1895–2.5.1974, Chirurg, Assistent bei Ludwig Aschoff, seit 1933 ao. Professor der Medizinischen Akademie Düsseldorf, 1950 Großes Verdienstkreuz der BRD, 1954 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Dauertropfinfusionen bei Schock, Kollaps, großem Blutverlust und im Falle einer Kollapsneigung nach langdauernden operativen Eingriffen verabreicht.«323

Heute geht man jedoch davon aus, dass Periston in der Wertigkeitsreihe der Blutersatzflüssigkeiten ganz hinten gestanden habe, unter anderem, weil die Verwendung mit nicht unerheblichen Risiken behaftet war: Die Periston­lösung diente als Spülflüssigkeit, wenn diese, mit Blut des Empfängers vermischt, bei der Transfusion auf den Spender überging, konnte dieser (wie in manchen Fällen dokumentiert ist) an einer Sepsis sterben. Mehrere Ärzte forschten auf dem Gebiet der Bluttransfusion und Serumkonservierung, der im Krieg eine besondere Bedeutung zukommt. Dabei geriet Blut nicht nur in den Aufmerksamkeitsfokus, weil verstärkt Transfusionen nötig waren, sondern auch, weil es als Träger rassischer Eigenschaften gesehen wurde. Daher beschäftigte sich der wissenschaftliche Senat der Heeressanitätsinspektion bereits 1933 in einer eigenen Sitzung mit diesem Thema. Federführend auf dem Gebiet war Carl Franz324, Beratender Chirurg und Heeressanitätsinspekteur, den Stich für sein »ungeheures Wissen und reichste eigene Erfahrung«325 bewunderte. So rezensiert er Franz’ Lehrbuch der Kriegschirurgie als herausragend, vor allem die zweite Auflage begrüßte er seinerzeit »lebhaft«, da es seiner Meinung nach bereits vor 1943 »für den deutschen Arzt [heißt], auf dem Plan zu sein«. Franz und Stich hielten beide Vorträge an der Militärärztlichen Akademie und standen spätestens 1939, seitdem Stich sich verstärkt für Blutersatzmittel interessierte, in thematischer Nähe zueinander. Bereits 1938 wurde dann deutlich, dass man konserviertes Blut benötigen würde, wenn zahlreiche Spender ausfielen. In der Wehrmacht blieb mangels Alternativen die riskante Direkttransfusion die üblichste Methode. Dies zeigt, wie dringend der Forschungsbedarf auf dem Gebiet war. Es musste eine große Anzahl von Menschen herangezogen werden, um genügend Serum zu gewinnen. 1942 kam man zu dem Schluss, dass dafür nur Kriegsgefangene, Strafgefangene und Insassen von Konzentrationslagern in Frage kämen. Gleichzeitig führten Klinikleiter und Beratende Ärzte serielle Versuche an Insassen der 323 Vgl. auch Behrendt, S. 88. 324 Geboren am 27.9.1870 in Königsberg, gestorben am 10.10.1946 Sömmerda. Ordentlicher Professor der Kriegschirurgie an der früheren Kaiser-Wilhelm-Akademie Berlin und Honorarprofessor der Universität Berlin. Trat bereits 1894 als Sanitätsoffizier in Heeresdienst. War in Friedenszeiten von dort an verschiedene Kliniken kommandiert. ­1904–1907 als Beratender Chirurg in Deutsch-Südwestafrika. 1914 Lehrauftrag an der Kaiser-Wilhelm-Akademie. Er war Beratender Chirurg der 7. Armee im Ersten Weltkrieg. Ab 1927 Heeressanitätsinspekteur und Generaloberstabsarzt. Ab 1938 Vorlesungen an der Militär­ärztlichen Akademie. 325 Bemerkungen von Stich über Carl Franz entstammen den Rezensionen, die Stich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Bruns’ Beiträge für klinische Chirurgie über Franz geschrieben hat. Hier in den Bänden 164 (1936) und 174 (1943). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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von ihnen beaufsichtigten Reservelazarette durch und griffen auf Soldaten im Heimaturlaub und Angehörige des Ersatzheeres zurück, um sie zur Blutspende her­anzuziehen. Später wurden dann auch Angehörige der Luftwaffe und der SS eingespannt.326 Auf dem Gebiet der physiologischen Chemie (in Göttingen in Person von Hans-Joachim Deuticke327, der bei Stich in »Geheimen Dienstsachen« vorsprach) und der Gebirgsphysiologie328 (Forschungen am Institut von Hermann Rein, gleichfalls für die Wehrmacht) wurde ebenfalls über Blutersatzmittel geforscht.329 Eine Kooperation der Beratenden Ärzte in Göttingen liegt nahe. Jedenfalls kann Stich 1944 seinem Vorgesetzten Paul Rostock berichten, dass die Versuche »bisher günstig angelaufen, aber noch nicht abgeschlossen seien […]. Die Beobachtungen über die anesthesieverlängernde Wirkung des Peristons haben wir an etwa 40 Kranken angestellt.«330 Serielle Versuche mit Periston wurden auch von Hellmuth Vetter331 in Ausschwitz durchgeführt, welcher im Auftrag von Bayer die Verträglichkeit testen sollte. Vetter schreibt an seine Kollegen, er käme sich im Konzentrationslager »vor wie im Paradies«332, ob der vielfältigen Möglichkeiten, die sich dort zum Forschen böten. Vetter wurde durch das US -Militärgericht 1947 zum Tode verurteilt und 1949 in Landsberg hin­gerichtet. Stich hingegen kommt bei seinen Forschungen zu dem Ergebnis, dass »in keinem Fall ein schädlicher Einfluss weder allgemein noch örtlich nachgewiesen« wurde.

326 Vgl. Neumann, S. 303. 327 Hans-Joachim Deuticke, 8.3.1898–17.12.1976, Chemiker, seit 1936 ao. Professor für Physiologische Chemie in Göttingen und damit Nachfolger des vertriebenen ­Rudolf Ehrenberg. 1941/42 Luftwaffen-Projekt über die Einwirkung großer Höhen auf den Stoffwechsel der Leber, des Herzens und der quergestreiften Muskulatur sowie die Wirkung allgemeiner Unterkühlung auf den Stoffwechsel des Warmblüters (gefördert durch die DFG), Teilnehmer der Tagung Seenot, 1947 Dekan sowie Mitglied im Senat der DFG. 328 Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 11 und Med. Fak. Ordner 163. 329 Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/1586. Richtlinien für das Sammeln kriegsärztlicher Erfahrungen (u. a. auf dem Gebiet der physiologischen Chemie). Und auch: Heeressanitätsinspektion: Korrespondenz der Lehrgruppe C. Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, RH 12–23/1680. 330 Brief von R ­ udolf Stich an Paul Rostock vom 22.8.1944. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. 331 Hellmuth Vetter, 21.3.1910–2.2.1949, Mitglied der SS seit 1933, der NSDAP seit 1937, zunächst Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Frankfurt, dann Wissenschaftlicher Mitarbeiter der IG Bayer-Leverkusen, seit 1941 im KZ-Arbeitsdorf in Wolfsburg, dann in Leverkusen, KZ-Versuche in Dachau, durch US-Militärgericht zum Tode verurteilt. 332 Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 640. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Neben den Untersuchungen zu Periston gab es ein Forschungsprojekt der Medi­ ziner Konrad Lang333 und Herbert Schwiegk334, welche menschliches Serum als Blutersatzmittel testeten. Sie erprobten es zunächst an Tieren, bevor sie 1941 befreundete Ärzte baten, an Patienten mit hohem Blutverlust das Mittel zu testen. Diese Ergebnisse wurden dann an russischen Kriegsgefangenen verifiziert. Auch unter Pathologen wurde zu diesem Thema geforscht und der Vorschlag gemacht, »anatomisches Material zu Forschungszwecken zu sammeln.«335 Ihre Methode versprach Erfolg: »Die Serumkonserve galt durch ihre Vorzüge gegenüber der Blutkonserve bereits 1942 bei Chemikern und Chirurgen als das am besten geeignete Mittel, das auch dem schwerer verträglichen und daher gering zu dosierenden Blutersatzmittel Periston überlegen war.«336

Daher förderten auch führende Wehrmachtsärzte wie Wachsmuth und Lang die weitere Entwicklung und machten sie zum Thema auf der 2. Arbeitstagung Ost der Beratenden Ärzte 1942.337 Doch menschliches Serum war schwer zu beschaffen, so dass weiter mit billigeren und leichter zu beschaffenden Blutersatzmitteln experimentiert wurde. In diesem Umstand verbirgt sich auch eine Erklärung für Stichs späte Forschungen: »Auch das Blutersatzmittel Periston der IG-Farben AG untersuchten die Wissenschaftler der Militärärztlichen Akademie weiterhin auf seine Wirkungsweise, obwohl es vom Institut für physiologische und Wehrchemie eigentlich abgelehnt worden war, weil es den hohen Anforderungen an ein Blutersatzmittel nicht entsprach. Gegen Kriegsende gewann das Periston allerdings an Bedeutung. Einige Militärärzte rieten auf der 4.  Arbeitstagung […] im Mai 1944, Periston verstärkt in den Front­ einrichtungen zu verwenden.«338

Eine unter Stichs Dekanat entstandene Dissertation von Franz-Joachim Pohl339, die allerdings nicht an der Chirurgischen Klinik, sondern am Physiologischen 333 Konrad Lang, 15.8.1898–6.10.1985, Physiologe, Dozent in Berlin, Oberstabsarzt, Leiter des Instituts für Physiologie und Wehrchemie der Militärärztlichen Akademie, im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, seit 1944 Professor in Posen, 1946–1966 Ordinarius in Mainz. 334 Vgl. auch Neumann, S. 300 ff. Herbert Schwiegk, 23.3.1906–2.3.1988, Kreislaufforscher, 1936 Habilitation über Kreislaufregulation, seit 1933 Mitglied der SA und seit 1937 der NSDAP, NS-Lehrer- und Dozentenbund, Teilnehmer auf der Tagung Seenot, seit 1948 apl. Professor in Heidelberg, seit 1952 Lehrstuhl in Marburg, ab 1956 in München. 335 Neumann, S. 301. 336 Vgl. Neumann, S. 301. Die Tatsache, dass Stich mit seinen Forschungen zu Periston erst 1943 beginnt, lässt vermuten, dass die Erfolge der Serumskonserven doch nicht ausreichend waren. 337 Vgl. auch Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg RH 12–23/1681. 338 Vgl. Neumann, S. 302 und Bundesarchiv Militärarchiv, Freiburg RH 12–23/1672. 339 Nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Institut Hermann Reins verfasst wurde, beschäftigt sich mit Periston340 und der Frage, wie man im Krieg Blutverlust entgegenwirken kann. Pohl kommt zu dem Schluss: »Das ideale Mittel zur Auffüllung [des Kreislaufes] ist natürlich das Blut. Aus einer ganzen Reihe von Gründen wird es nun, besonders im Felde und bei den vorderen Sanitätseinheiten bis zu den Feldlazaretten einschließlich, nicht immer möglich sein, eine Bluttransfusion auszuführen. Für diese Fälle hat man versucht, ein Blutersatzmittel zu finden, das in allen seinen Eigenschaften der Vollbluttransfusion am nächsten kommt.«341

Daraufhin wird Periston342 getestet. Die Versuche werden in dieser Arbeit, laut Verfasser, an Katzen und Hunden ausgeführt. »Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Versuche eine starke Überlegen­ heit des Peristons gegenüber der Ringerlösung als Blutersatzflüssigkeit ergeben haben.«343

Nicht nur in Göttingen war man fächerübergreifend an Periston interessiert, sondern es handelt sich vielmehr um eine Engführung der Verbindungslinien zur SS und Wehrmacht, zu den Protagonisten, mit denen sich die Täterforschung beschäftigt, die oft genug die Freiräume nutzten, die der Krieg ihnen eröffnete, der vielfach »als handlungsleitendes Motiv«344 unterschätzt wird.­ Rudolf Stich handelte nicht aus Karrieregründen: Er war mit fast siebzig Jahren bereits aus dem aktiven Wehrdienst ausgeschieden. Wollte auch er den sich bietenden Handlungsspielraum nutzen, sind seine Forschungen gar Ausdruck eines besonderen Profilierungswillens innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft? Jedenfalls: Er nahm den Forschungsauftrag von höchster Stelle an, obwohl er aufgrund keiner Stellung dazu verpflichtet gewesen wäre und er erhielt bereits im November 1944 den nächsten Auftrag, Versuche mit »Heilgas« anzustellen, mit dem man schlecht heilende Wunden behandeln wollte. Paul Rostock schrieb bereits im Oktober: »Neuerdings sind eingehende Untersuchungen im Bereich der SS gemacht worden, die nach dem Bericht des zuständigen Arztes zu sehr guten Ergebnissen geführt haben sollen.«345 340 Franz Joachim Pohl, Vergleichende Untersuchungen über die Verwendung von Ringerlösung und Periston beim Verblutungskollaps, Göttingen 1944. (Aus dem physiologischen Inst. der Universität Göttingen, vorgelegt am 4.11.1944). 341 Pohl, S. 4–5. 342 Ebd., S.  6: »Das Periston besteht aus einer 2,5 % Kolloidinlösung mit einem Zusatz von 0,9 % NaCl, 0,042 % KCl, 0,025 % CaCl2, 0,0005 % MgCl2, 0,0024 % NaHCO3 und 10 Vol% freier CO2.« 343 Pohl, S. 25. 344 Bruns u. Frewer, S. 193. 345 Brief von Rostock an Stich vom 27.10.1944. Antwortschreiben von Stich vom 3.11.1944. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8, Dekanatsakten. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Stich erklärt sich bereit und betont, auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen zu können. Hätte ­Rudolf Stich nicht schon zwei Jahre zuvor das Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern als Auszeichnung für seine Verdienste erhalten – 1944 hätte es erneut gute Gründe gegeben, es ihm zu verleihen. * * *

Im Kaleidoskop: Auseinandersetzung mit der Heeressanitätsinspektion Am 1. Januar 1942 erhält ­Rudolf Stich das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern. Wenn es nach seinen Vertrauten gegangen wäre, hätte er es bereits früher erhalten. Doch von offizieller Seite heißt es, man habe Stich zwar berücksichtigen wollen, es hätten jedoch zu wenig Kreuze zur Verfügung gestanden. Das Kriegsverdienstkreuz dieser Klasse war jedoch eine Massenauszeichnung, 2,7 Millionen trugen es bis Kriegsende, verleihungswürdig waren beispielsweise auch politische Leiter der SA . Stichs ausgeprägte Ablehnung gegen NS -Bürokratie könnte der Auslöser dafür gewesen sein, dass er nur so zögerlich mit dieser Ehrung bedacht worden war. In Berichten an seine Vorgesetzten der Heeressanitätsinspektion, sowie in persönlichen Briefen an Karl Heinrich Bauer kommt diese Haltung immer wieder zum Ausdruck. Auch die gemeinsame Sache vermag Stichs ambivalentes Verhältnis zu seinen Vorgesetzten nicht zu überdecken. Dabei hatten sich Bauer und Stich noch im Jahre 1943 erhofft – als Karl Brandt Kontakt zu Bauer aufnimmt und ihn bittet, als Generalkommissar mit chirurgischem Rat zur Seite zu stehen –, auf die höchsten Stellen Einfluss nehmen zu können. Bezüglich der Anfrage an Bauer schreibt dieser Stich: »Ich habe mit Absicht zugesagt, aber doch noch zugleich die Bitte angefügt, dass es mir erlaubt sein möchte, auch Anregungen hinsichtlich der chir. Ausbildung der Studierenden und Jungärzte und auch sonst über brennende Tagesfragen geben zu dürfen. Ich werde ihm dann schon einige Nüsse zu knacken geben, ist ja seine Machtvollkommenheit auf unserem Sektor jetzt eine absolute.«346

Bauer erhofft sich also einen doppelten Nutzen, er will in hochschulpolitischen Fragen in seinem (und Stichs) Sinne auf die entsprechenden Stellen einwirken. Gleichzeitig bittet er Stich, ihn zu unterstützen und seine Vorschläge abzusegnen. »BRANDT [Hervorhebung im Original] hat mich gebeten, ihm auf dem Gebiet der Chirurgie mit Rat zu unterstützen, von ihm gestellte Fragen zu beantworten, Berichte 346 Brief von Bauer an Stich vom 9.10.1943, im Folgenden sämtliche aus dem Nachlass von Karl Heinrich Bauer, Universitätsbibliothek Heidelberg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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über in- und ausländische Literatur zu geben, zugleich aber auch wissenschaftliche Anregungen vorzulegen. Da er sich aus allen Fächern solche inoffiziellen Ratgeber zuzulegen scheint, nehme ich nicht an, dass er aus der Chirurgie eine grössere Zahl mit dem Auftrag betraut hat. Ich will mich der Aufgabe nicht entziehen in der Hoffnung, vielleicht doch die eine oder andere vernünftige Anregung durchzubringen. Ich wollte dich nur bitten mir mitzuteilen, ob du sonst etwas von der neuen Institution gehört hast und meine ersten Berichte, Vorschläge etc. kurz durchzusehen und mit Randbemerkungen und Ergänzungen zu kritisieren.«347

Dabei gibt Bauer ganz offen zu, das Amt aus einem anderen Grund angenommen zu haben, denn »es wird ja nun wirklich Zeit, dass man die jetzige Machtfülle unserer beiden chirurgisch-medizinischen Diktatoren dazu benutzt, um einmal im Interesse unserer Studenten mit dem Wahnsinn aufzuräumen, als ob immer neue Fächer auch immer neues Wissen für die Praxis bedeuten.«348

Um Stich noch intensiver einzubinden, schlägt Bauer Brandt vor, Göttingen als Lazarettstadt aufzuziehen. Zum Jahreswechsel 1944 schreibt er: »Ich habe neulich ein großes Gutachten über die Besetzung der Lehrstühle in den nächsten Jahren für ROSTOCK-BRANDT gemacht, dabei auch als Reservemann HERLYN mit erwähnt. Er muss aber unbedingt jetzt noch Einiges arbeiten, wenn er evtl. zum Zuge kommen will.«349

So versucht Bauer, seine einflussreiche Position zu nutzen, um Herlyn, einen Schüler Stichs und Freund Bauers, zu einem Karrieresprung zu verhelfen. Die anfängliche Hoffnung, im eigenen Sinne Einfluss nehmen zu können, beginnt bereits ein Jahr später zu schwinden. An ihre Stelle tritt zunehmend nicht nur eine latente Frustration, der Briefwechsel der beiden Professoren verrät ein gewisses Überlegenheitsgefühl der Akademiker gegenüber den Bürokraten350 und Emporkömmlingen und gipfelt gelegentlich in spürbarer Arroganz. Zwischen den Zeilen steht ein ausgeprägtes Standesbewusstsein und exklusives akademisch-elitäres Selbstverständnis. Am 12. November 1944 ist Stich besonders erbost über das Verhalten seiner Vorgesetzten: »Jetzt gibt Rostock ›Chirurgen-Stammbäume‹ heraus, obendrein voller Fehler, als ob wir nichts Brennenderes zu tun hätten im gegenwärtigen Augenblick. […] Wenn einer in seinen Mußestunden – so er welche hat – für sich im stillen Kämmerlein in dieser 347 Brief von Bauer an Stich vom 23.10.1943. 348 Brief von Bauer an Stich vom 25.11.1943. 349 Brief von Bauer an Stich am 29.12.1943. 350 Unter anderem auch: Schreiben Stichs an den Rektor vom 13.6.1944: Er sei ein »ausgesprochener Feind des gegenwärtig blühenden Papierkrieges«, den die Bürokraten führten. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Form Allotria treibt, dann mag es hingehen […], wenn aber einer in seiner Dienststelle andere Leute mit der Lösung solcher Aufgaben beschäftigt, dann ist das in meinen Augen ein Zeichen, dass die Leute besser an anderer Stelle eingesetzt würden; denn sie haben zu viel freie Zeit. Rostock hat mich mehr und mehr enttäuscht. Hoffentlich kommt es nicht zur gleichen Enttäuschung mit Herrn Brandt, der dir ja zunächst gefallen zu haben scheint.«351

Bauer setzt in seiner Antwort vom 2. Februar 1945 noch einen drauf, indem er explizit ausspricht, worauf auch Stichs Tonfall implizit hindeutet: »Im Grunde darf man sich nicht wundern. Was soll man auch verlangen von einer Organisation, bei der den geistig Mittelmäßigen ohne Einsicht die uneingeschränkte Macht überantwortet ist über all die, die nach Werdegang und Leistung sich als tüchtiger und intelligenter ausgewiesen haben.«352

Diesen drastischen Aussagen war eine zunehmende Desillusionierung über die Einflussmöglichkeiten von Karl Brandt und Paul Rostock vorausgegangen, die in den Augen von Stich und Bauer insbesondere nicht in der Lage waren, die Situation an den Hochschulen zu verbessern. Stich beschwert sich bitterlich, man kommandiere heute Sanitätsoffiziere an die Universitäten, »deren größte Vorzüge sind, dass sie eine gute Haltung zeigen.«353 Er beklagt sich über die schlechte Nachwuchslage in Lehre und Forschung und hält es für seine Pflicht, die Behörden darüber zu informieren, denn »gerade weil ich diese Einstellung [als Nationalsozialist] habe, bin ich ja, statt hinterrücks zu raunen und zu meckern, schon frühzeitig offen an leitende Stellen des Staatswesens und der Partei herangetreten und habe sie von der Notwendigkeit des Eingreifens zu überzeugen gesucht. Ich will nicht lange die Schuldfrage an der heutigen Mangellage erörtern. Aber ein paar Hinweise, wie man es nicht machen darf, muß ich doch geben. Man kann nicht auf der einen Seite die Hochschulen und die Hochschullehrer von Inhabern hoher Parteistellen auf Volksversammlungen in Grund und Boden donnern und sie unter dem Jubel und Beifall der Menge beschimpfen lassen, wie es sich Herr Streicher u. a. an allen möglichen Orten auch hier in unserem biederen Göttingen lange Zeit ungestraft leisten konnte, und auf der anderen Seite dann erwarten, daß dadurch in ehrliebenden jungen Leuten der Trieb zur Hochschullaufbahn gefördert werde. Der gutgemeinte Vortrag des Reichspropagandaministers in der Heidelberger Aula vor einem erlesenen akademischen Hörerkreis kann eben nicht mit ein paar Dutzend schöngesetzter Sätze das wieder gut machen, was Herren wie Streicher lange Zeit hindurch zielbewußt und planmäßig verpatzt haben, ohne daß ihnen das Handwerk rechtzeitig gelegt wurde.«

351 Brief von Stich an Bauer vom 12.11.1944. 352 Brief von Bauer an Stich vom 2.2.1945. 353 Brief von Stich an Paul Rostock vom Januar 1945. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Mediziner ­Rudolf Stich

Zu den Organisationsdefiziten des Heeressanitätswesens äußert er sich ähnlich: »Man komme mir nicht mit dem albernen Gerede, das bringe der Krieg eben mit sich! […] Weil bekanntlich der heilige Bürokratius gewöhnlich stärker ist als die Vernunft!«

So kommt Stich zu dem Fazit: »Es wird heute […] zu viel regiert, schematisiert, organisiert und zu wenig wirklich vernünftig gehandelt.«354

Eine solch offen ausgesprochene Kritik dürfte den Vorgesetzten kaum geschmeckt haben. Stich hält sie jedoch für einen Hilferuf, von dem er Bauer umgehend berichtet: »Ob dein Notschrei etwas nützen wird, ist mir ebenso zweifelhaft wie die Wirkung meines eigenen Notschreis, den ich an Rostock dieser Tage abgesandt habe auf eine Anfrage von diesem […], in der er mich bat, ihm zu raten, wie er die Nachwuchsfrage am besten anpacken solle. Ich nehme an, dass auch du das gleiche Schreiben von ihm erhalten hast.«355

Bauer hat das gleiche Schreiben erhalten und bezeichnet es als lächerlich, nach so langem Krieg mit Anfragen wegen des Nachwuchses zu kommen, nachdem die Jugend »so lange an die Wand gedrückt worden«356 ist. Diese Kritik äußert auch Bauer Rostock gegenüber, wofür Stich seinen Schüler lobt. »Mit Interesse habe ich auch deine Ausführungen an Rostock gelesen; es ist ganz gut, wenn dieser Stelle von mehreren Seiten gesagt wird, dass es so nicht weitergeht.«357

Einen Monat vor Kriegsende bekennt Stich resigniert: »R. enttäuscht mich immer mehr. Was hätte die Stelle in der Hand eines wirklichen Organisators Gutes Wirken können!«358

Die Forschungsaufträge, die Rostock persönlich an Stich richtete, übernahm dieser dennoch.

354 Brief von Stich an Rostock vom 18.1.1945. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 11.  355 Brief von Stich an Bauer vom 19.1.1945. 356 Brief von Bauer an Stich vom 2.2.1945. 357 Brief von Stich an Bauer vom 9.2.1945. 358 Brief von Stich an Bauer vom 5.3.1945. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich

An der Medizinischen Fakultät der Georgia Augusta Im Kaleidoskop: Die Koryphäe der Gefäßchirurgie Dass sein Name einmal mit dem Nobelpreis in Verbindung gebracht werden würde, war, als Stich sich 1898 in Erlangen promovierte, noch nicht absehbar. Auch seine Spezialdisziplin, die geliebte Chirurgie, fand er erst nach längerer Suche, die ihr Ende in Königsberg bei Carl Garré hatte. 1905 habilitierte sich Stich auf dem Gebiet der Organchirurgie in Breslau, wohin er seinem Mentor Garré gefolgt war, den er auch nach Bonn begleitete, wo er schließlich 1909 außerplanmäßiger Professor wurde. Der Ruf nach Göttingen auf den Lehrstuhl für Chirurgie folgte dann 19111 – hier übernahm er eine recht moderne Klinik mit 156 Betten.2 Sein Schüler Bauer bezeichnete es als »eine für den Chirurgen beispiellose Laufbahn«3, dass Stich mit nur 36 Jahren als zehnter Göttinger Ordinarius für Chirurgie den Lehrstuhl erhielt. Daran gebunden war auch das Privileg, im Jahr 1912 in das Chirurgenhaus in der Weender Landstraße einzuziehen. Als Alexis Carrel4 an einem Morgen im gleichen Jahr am anderen Ende der Welt die Zeitung aufschlug, erfuhr er, dass er mit dem Nobelpreis für Physio1 Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Stich Sig UAG Kur. PA Stich, Bl. 4. 6.10.1911, Berufungsurkunde und Besoldungsfeststellung. (4200M Besoldung, 720 M Wohngeldzuschuss, Honorare für Vorlesungen gehen ab 3000 M zu 25 % und ab 4000 M pro Jahr zu 50 % in die Staatskasse). 2 Nach Johann Wilhelm Albrecht (1708–1736), Albrecht von Haller (1708–1794), ­Rudolf Augustin Vogel (1724–1774), August Gottlieb Richter (1766–1803), Karl Himly (1772– 1837), Konrad Johann Martin Langenbeck (1776–1851), Wilhelm Baum (1799–1883), Franz König (1832–1910) und Christian Heinrich Braun (1847–1911). Vgl. Hans Killian u. G. Krämer, Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im deutschen Raum. Stuttgart 1951, S. 154–158. 3 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 4 Carrel arbeitete freiwillig im Krieg als Arzt und spezialisierte sich auf Wundbehandlung, um Infektionen und Amputationen zu vermeiden, wieder in den USA schrieb Carrel nach dem Ersten Weltkrieg das Buch Der Mensch, das unbekannte Wesen, das 1935 erschien und in 19 Sprachen übersetzt wurde, im letzten Kapitel plädierte Carrel für eine Wiederherstellung des Menschen mittels einer freiwilligen Eugenik, mit der sich die Vermehrung der Geisteskranken und Schwachsinnigen unterbinden ließe – eine Aufgabe, deren Lösung über das Geschick der weißen Völker entscheide (Vgl. R ­ udolf Walther, Die seltsamen Lehren des Doktor Carrel, in: Die Zeit, 31.7.2003, Nr. 32.) Es erscheint unwahrscheinlich, dass Stich dies alles nicht zur Kenntnis genommen hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich

logie und Medizin ausgezeichnet worden war.5 Der Mediziner von der Rockefeller Universität in New York wurde für die Anwendung und Entwicklung der Gefäßnaht für Organtransplantationen6 beziehungsweise für die Anerkennung seiner Arbeiten auf diesem Gebiet geehrt. Damit war der Schüler des Lyoner Chirurgen Jaboulays7 der erste Chirurg überhaupt, der den Nobelpreis erhielt.8 Die Entwicklung der Gefäßchirurgie auf wissenschaftlicher Grundlage begann erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.9 Zwar waren sowohl bei den Griechen, Römern, Arabern als auch zur Zeit der europäischen Renaissance Versuche an den »blutführenden Röhren« durchgeführt und einige Therapieverfahren zur Blutstillung und der Extraktion pathologisch veränderter Venen beschrieben worden, aber die Grundbedingungen zum Arbeiten an Gefäßen – Anästhesie und Asepsis – fehlten.10 Forschungen zu Gefäßnahttechniken bildeten sich erst später heraus und auch hinsichtlich der Narkose erzielte man Fortschritte, so dass 1847 erstmals in Deutschland eine Äthernarkose gelang. Diese erleichterte durch die ruhige Lage des Patienten das zeitaufwendige und sorgfältige Operieren an den Gefäßen.11 Auch Stich forschte zu diesem Thema, schließlich war es sein »hauptberufliche[s] Verdienst […], die von Alexis Carrel im Tierexperiment ausgearbeitete zirkuläre Gefäßnaht für die menschliche Chirurgie übernommen und immer wieder gefördert zu haben«12. Überdies wird die Gefäßnaht von Blutgefäßen oftmals als »Carrel-Stich-Naht«13 bezeichnet und Stich gelegentlich sogar als alleiniger »Erfinder der Nervennaht« tituliert. Wurde R ­ udolf Stich womöglich bei der Verleihung des Nobelpreises übergangen, als er die gleiche Entdeckung nahe­zu zeitgleich andernorts gemacht hatte? 5 Simone Brungräber, Der Beitrag Berliner Chirurgen zur Entwicklung der deutschen und europäischen Gefäßchirurgie bis 1930, Berlin 1995, S. 87. 6 Otto von Götze, R ­ udolf Stich Chirurg, Rede anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel am 19.7.1985 an der Weender Landstr. 14, in: Göttinger Jahrbuch 22 (1985), S. 217. 7 5.7.1860–4.11.1913, französischer Chirurg und Lehrer von Alexis Carrel, führte 1906 eine Transplantation einer Schweineniere bei einer Frau durch. 8 Simone Brungräber verwendet – leider ohne Erklärung oder weitere Erwähnung Stichs – als typische Bezeichnung für ein Nahtverfahren den Begriff »Carrel-Stich-Naht«, S. 65. 9 Die Gefäßchirurgie ist eng verwoben mit Organtransplantationen. Das große Interesse an diesem Forschungsgebiet zeigt sich nicht zuletzt darin, dass allein im 20. Jahrhundert vier Nobelpreise an Forscher vergeben wurden, die sich explizit mit Transplantationsmedizin befassten. Theodor Kocher 1909, Alexis Carrel 1912, Peter Medawar/MacFarlane Burnet 1960 und Joseph Murray 1990. 10 Brungräber, S. 24. 11 Ebd., S. 15. 12 Stadtarchiv Göttingen, Nekrolog Uni Göttingen auf Stich, N 252, von Helmuth Plessner (Rektor) vom 1.2.1961. 13 So nennt beispielsweise Erwin Payr die Naht in Louis Ruyter Radcliffe Grote (Hg.), Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 130. Vgl. auch Karl Sudhoff, Kurzes Handbuch der Geschichte der Medizin, Berlin 1922, S. 512. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

An der Medizinischen Fakultät der Georgia Augusta An der Medizinischen Fakultät der Georgia Augusta

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­Rudolf Stich beschäftigte sich, vor allem bevor er nach Göttingen kam, ausführlich mit der Materie der Gefäßchirurgie und Organtransplantation, die nicht nur ihn, sondern viele Chirurgen der Zeit begeisterte und faszinierte – der Drang, Erkenntnisse zu erweitern und technische gefäßchirurgische Fähigkeiten zu verbessern, war gewaltig. Diese wissenschaftliche Debatte schlug sich primär in Fachzeitschriften nieder, wie dem Archiv für klinische Chirurgie (1861), oder eben auch in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie (1886). Nicht zuletzt führten diese fachinternen Auseinandersetzungen und Weiterentwicklungen zu einer massiven Aufwertung der Chirurgie und ihrer Protagonisten. Vor allem im deutschsprachigen Raum konnten Chirurgen wie Billroth14 und später Sauerbruch, Payr15 und Enderlen16 für eine Zeit zur führenden Elite werden. In dieser ersten Begeisterungsphase zwischen 1900 bis 1915 gehörte R ­ udolf Stich zu einem kleinen Forscherkreis, dessen Arbeiten auch außerhalb Deutschlands wahrgenommen wurden. Seine frühen Versuche am Tier erregten einiges Aufsehen und wurden zeitnah von anderen Wissenschaftlern bestätigt. Dabei experimentierte er vor allem mit der Schilddrüse, denn »von allen Organ­ transplantationen hat von jeher diejenige der Schilddrüse das meiste Interesse erweckt«17, später folgten Experimente mit der Niere, hier »lässt sich […] doch am leichtesten konstatieren, ob das Organ functioniert oder nicht«.18 Obwohl die Operationen an sich oft gut verliefen, konnte man die Funktion des ursprünglich gesunden Organs nicht ersetzen. Stich und sein Kollege Matthäus Makkas19 führten mittels der von Carrel entwickelten Gefäßnaht drei Reimplantationen und sieben Transplantationen durch.20 Die Experimente zur Verpflanzung von Arterien von einem Tier auf ein anderes schlugen jedoch stets fehl. Nach drei Jahren reger Transplantationstätigkeit sah Stich ein, dass eine hervorragende Operationstechnik allein nicht ausreichte, um erfolgreiche Transplantationen durchführen zu können:

14 Theodor Billroth, 26.4.1826–6.2.1894, bedeutender Chirurg des 19.  Jahrhunderts, Ordinariate in Zürich und Wien, Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 15 Erwin Payr, 17.2.1871–6.4.1946, österreichisch-deutscher Chirurg, Studium in Innsburck und Wien, seit 1907 Ordinariat, Nachfolger in Königsberg von Erich Lexer, 1911 Berufung nach Leipzig, wo er bis zur Emeritierung 1937 blieb. 16 Eugen Enderlen, 21.1.1863–17.6.1940, Chirurg, Ordinarius in Heidelberg. 17 ­Rudolf Stich, M. Makkas, Zur Transplantation der Schilddrüse mittels Gefäßnaht. Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 60 (1908), S. 431–449, S. 431. 18 ­Rudolf Stich, Zur Transplantation von Organen mittels Gefässnaht. Archiv für Klinische Chirurgie 83 (1907), S. 494–504, hier S. 497. 19 Matthäus Makkas, 1879–5.12.1965, Chirurg, Ausbildung bei Garré, mit Stich Heraus­ geber von Fehler und Gefahren bei chirurgischen Operationen, Lehrstuhl in Athen und Chirurg des Königshauses. 20 ­Rudolf Stich, M. Makkas (1908), S. 431. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Sie müssen ihnen zu meinem Leidwesen entnehmen, daß Homoiotransplantationen größerer Organe mittels Gefäßnaht bis heute ebenso wenig möglich sind wie Heterotransplantationen«21, und ein Jahr später stellte er fest: »Die biologische Differenz zwischen zwei Tieren ist eben offenbar sehr verschieden.«22 Insofern hat Stich früh Probleme erkannt, die später zu einem gewissen Stillstand auf seinem bedeutendsten Forschungsgebiet führten. Blickte Stich tatsächlich neidvoll zu Carrel nach Amerika, so ließ er es sich nicht anmerken und schrieb anerkennend: »Es ist sicher nicht übertrieben, daß Carrel am Rockefeller-Institut in New York seine Tieroperationen unter aseptischen Kautelen ausführt, die denen bei menschlichen Operationen in unseren besten deutschen Kliniken nicht nur nicht nachstehen, sondern sie sicher vielfach übertreffen.«23

In der chirurgischen Klinik Carl Garrés in Breslau und Bonn, wo Stich eifrig arbeitete und lernte, sorgte die Methodik Carrels für Aufsehen. Garré, eine der deutschen Schlüsselfiguren auf diesem Gebiet, war bei einem Vortrag Carrells auf dem XV. Internationalen Medizinischen Kongress in Lissabon 1906 anwesend und motivierte danach seinen damals noch jungen Assistenzarzt R ­ udolf Stich die Carrelsche Gefäßnaht tierexperimentell anzuwenden. Dieser war begeistert von den Möglichkeiten und forderte die Chirurgen Deutschlands zur Mitarbeit auf diesem Gebiet auf.24 In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises unterstrich Alexis Carrel, dass seine Erfolge im Bereich der Organtransplantation nicht möglich gewesen wären ohne etliche Kollegen, darunter auch R ­ udolf Stich: »During the last seven years I have performed  a large number of experiments in the replantation and transplantation of organs, in the course of which the technique relating thereto has been thoroughly worked out. In 1902, in conjunction with M. Morel, I performed my first experiment on the extirpation and replantation of the thyroid gland of a dog. The vessels were sutured, but thrombosis speedily occurred. In 1905, with the collaboration of Mr. Guthrie25, I succeeded in replanting a thyroid

21 ­Rudolf Stich (1913), S. 1868. 22 ­Rudolf Stich (1914), S. 134. 23 ­Rudolf Stich (1913) S. 1865. Vgl. Thomas Schlich, Die Erfindung der Organtransplantation: Erfolg und Scheitern des chirurgischen Organersatzes (1880–1930), Frankfurt a. M. 1998, S. 335. 24 ­Rudolf Stich (1907), S. 504. 25 Charles Claude Guthrie, 26.9.1880 – April 1963, amerikanischer Physiologe, Lehrstühle an der Washingtoner und der Pittsburgher Universität, arbeitete eng mit dem Nobelpreisträger Alexis Carrel zusammen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gland, accompanied by a reversion of the circulation. The circulation remained normal. These experiments were confirmed in 1907 by Stich and Makkas, who found that the replanted glands remained normal from a histological point of view.«26

Allerdings betont Stich selbst, er sei zeitgleich zu identischen Schlussfolgerungen gelangt wie Carrel und unterstreicht damit seine Berechtigung auf Anerkennung. »Im Jahre 1906 haben Makkas und Verfasser mit autoplastischen Schilddrüsen­ versuchen begonnen. Ohne von Carrels und Guthries Lappenplastik (vgl. Nierentransplantationen) Kenntnis zu haben (veröffentlicht Nov. 1906), kamen wir gleichfalls auf den naheliegenden Gedanken, mit der Arteria thyroidea zusammen einen Lappen aus der Karotis herauszuschneiden, um die Naht der außerordentlich kleinen Gefäße zu erleichtern. Unser erster derartiger Versuch wurde am 5. Oktober 1906 ausgeführt.«27

Auch wenn der Preis an Stich vorbei ging, gibt es doch eine Verbindung nach Stockholm, denn Stich war einer der Privilegierten, der selbst Vorschläge an das Nobelkomitee einreichen durfte. Abgesehen von allen Medizinprofessoren in Skandinavien sowie ehemaligen Nobelpreisträgern für Physiologie oder Medizin, werden jedes Jahr ausgewählte Medizinische Fakultäten aus der ganzen Welt eingeladen, schriftliche Nominierungen einzusenden. In der Regel wird den Dekanen der jeweiligen Fakultät die Aufforderung übersandt, die sie dann an alle Fakultätsmitglieder (Professoren) weiterleiten. Daraufhin kann jedes Fakultätsmitglied direkt Vorschläge einsenden. Es ist nicht ausreichend, wenn der Vorschlagende nur eine eindrucksvolle medizinische Entdeckung des vorgeschlagenen Forschers benennt. Er muss auch erläutern, inwieweit sie als bahnbrechend bewertet werden kann. Außerdem ist es wichtig, dass die Nominierungen streng geheim bleiben, um »Freundschafts-Nominierungen« zu vermeiden. Die Göttinger Medizinische Fakultät wurde 1919 und 1935 aufgefordert Vorschläge einzusenden. ­Rudolf Stich bekam darüber hinaus im Jahr 1926 – aus unbekannten Gründen – eine direkt an ihn gerichtete private Nominierungseinladung, wie einzelne Mediziner es bis heute immer noch bekommen. 1919 nominierte R ­ udolf Stich Ferdinand Sauerbruch. In diesem Jahr wurde Sauerbruch auch von den Göttinger Professoren Friedrich Merkel28, Paul

26 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/1912/carrel-lecture.html [eingesehen am 10.7.2013]. 27 ­Rudolf Stich, Über Gefäß- und Organtransplantationen mittelst Gefäßnaht, in: Ergebnisse der Chirurgie und Orthopädie herausgegeben von Erwin Payr und Hermann Küttner, Erster Band Berlin 1910, S. 1–48, S. 42–43. 28 Friedrich Merkel, 5.4.1845–28.5.1919, Anatom, Rektor der Universität Rostock, ab 1885 Dozent in Göttingen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Jensen29, Ernst Schultze30 und Wolfgang Heubner31 vorgeschlagen, aber Stichs Nominierung vom 21.  Januar 1919 war die ausführlichste. Sie war folgenderweise motiviert: »Unter den Unglücklichen, die der Weltkrieg verstümmelt zurücklässt, gehören zu den Schwerstbeschädigten die Armamputierten. Der genialen Forschergabe Sauerbruchs und seiner unermüdlichen Arbeit ist es gelungen, auch diese Schwerverletzten nicht nur über das Entstellende der Verstümmelung hinwegzubringen, sondern sie zum Teil sogar der werktätigen Arbeit wieder zu führen [sic].«32

Stichs Begeisterung von der Sauerbruchschen Handprothese, von der hier die Rede ist, wurde jedoch nicht von dem Stockholmer Nobelkomitee geteilt, da Sauerbruch die Prothese »bloß« weiterentwickelt, aber nicht erfunden habe. Deshalb kam er in diesem Jahr für den Preis nicht in Frage.33 1926 hatte R ­ udolf Stich den Pharmakologen R ­ udolf Magnus34 für den Nobelpreis nominiert. Er schrieb am 31. Januar 1926: »Magnus hat durch seine vorbildlichen experimentellen Untersuchungen über die einzelnen bei der Körperstellung in Tätigkeit tretenden Reflexe, über ihr Zusammenwirken und ihre Störungen die medizinische Wissenschaft ungemein gefördert.«35

Das Stockholmer Nobelkomitee entschied sich dafür, den Nobelpreis Magnus wegen seiner Erforschung der Reflexe zuzusprechen. Es musste dann aber eine neue Entscheidung treffen, da Magnus vor der Bekanntgabe starb – in der Regel werden keine posthumen Nobelpreise vergeben.36 29 Paul Jensen, 30.10.1868–2.6.1952, Medizinstudium in Jena, Freiburg, Würzburg und Berlin, Promotion in Jena, 1896 Habilitation in Halle, seit 1899 in Breslau tätig, seit 1910 ordentlicher Professor und Direktor des Physiologischen Instituts in Göttingen, 1932 Emeritierung. 30 Ernst Schultze, 22.3.1865–3.9.1938, Psychiater, 1895 Habilitation in Bonn, 1904 Ruf nach Greifswald, seit 1912 in Göttingen als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie sowie als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt. 31 Wolfgang Heubner, 18.6.1877–26.2.1957, Pharmakologe, im Ersten Weltkrieg an GiftgasEntwicklungen beteiligt, öffentliche Auftritte für die DDP, Lehrstuhl für Pharmakologie und Direktor des Pharmakologischen Instituts in Berlin seit 1932, 1944 im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, bis 1949 Ordinarius an der Humboldt-Universität, von 1949–1953 Dekan an der FU-Berlin, 1954 Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft. 32 Nobelstiftelsens arkiv 1919, Avd. II:8. 33 1919 hat der belgische Mikrobiologe Jules Bordet (1870–1961) den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten. 34 ­Rudolf Magnus, 2.9.1873–25.7.1927, Pharmakologe und Physiologe, besonderer Beitrag über die Erforschung der Reflexe, ab 1908 den Lehrstuhl für Pharmakologie in Utrecht, lehnte mehrere Rufe an deutsche Universitäten ab. 35 Nobelstiftelsens arkiv 1926, Avd. III:8. 36 1926 ging der Preis an Johannes Filbiger (1867–1928). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Am 22. Januar 1935 nominierte R ­ udolf Stich den Danziger Biochemiker Adolf Butenandt37, der seine Assistenzzeit in Göttingen verbracht hatte: »Prof. Butenandt hat sich bereits in seiner Dozentenzeit am Chemischen Institut von Prof. Windaus38 in Göttingen sehr eingehend mit dem Aufbau der weiblichen und männlichen Keimdrüsenhormone beschäftigt. In vorbildlich planvoller und zielbewusster Arbeit ist es ihm gelungen, die Synthese jener geheimnisvollen Stoffe zu klären, die das Fortpflanzungsleben bei Mensch und Tier mit allen seinen Nebenerscheinungen körperlicher und seelischer Art regeln und beherrschen, von denen Jugend, Reife, Blüte und Welken in besonderer Weise bestimmt werden. Die reine Darstellung dieser Stoffe ist in allerersten [sic] Linie mit sein Verdienst. Seine Entdeckungen haben schon heute Anregungen für viele andere Arbeiten gebracht, ich erinnere nur an die praktische Verwendung von Sexualhormon an weiblichen Kranken zur Beeinflussung der sog. Ausfallerscheinung der Frauen in den Wechseljahren.«39

Das Stockholmer Nobel-Komitee war 1935 zunächst nicht der Meinung, dass Butenandt den Preis erhalten sollte. Erst vier Jahre später, im Jahr 1939, wurde er ihm schließlich, aus dem von Stich angeführten Grund, zugesprochen. Zusammenfassend ist zu sagen, dass zwei der drei Nominierungen Stichs für den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zu positiven Entscheidungen des Nobelkomitees beitrugen. Dass ­Rudolf Stich Wissenschaftler in verschiedenen Disziplinen vorgeschlagen hatte, zeigt, dass sein akademisches Interesse nicht ausschließlich der Chirurgie galt, und im Gegensatz zu vielen anderen Nominatoren schlug er Forscher vor, die nicht an seiner Universität tätig waren.40 Wohl jedoch solche, die ihm freundschaftlich verbunden waren wie Martin Kirschner41, den Stich neben Sauerbruch nominierte. In Kriegszeiten gewann Stichs Interesse für die Gefäßchirurgie, die Voraussetzung ist für erfolgreiche Transplantationen und was sich bereits in seiner Dissertation zeigt, die sich mit Ligaturen (abschnürende Unterbindungen) befasst42 und in der er nach mehreren Nachprüfungen zu dem Schluß kam, dass

37 Adolf Butenandt, 24.3.1903–18.1.1995, Hormonforscher, ab 1931 Leiter der biochemi­ schen Abteilung des Chemischen Instituts Göttingen, seit 1936 Leiter des KWI für Biochemie, seit 1944 im Wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt, 1972 Ehrenpräsident der MPG. 38 Professor Adolf Windaus (1876–1959) hat den Nobelpreis für Chemie 1928 erhalten. 39 Nobelstiftelsens arkiv 1951, Avd. II:26. 40 Göran Liljestrand, The Prize in Physiology or Medicine, in: Henrik Schück u. a., Nobel – The Man and His Prizes. Amsterdam 1962, S. 149–150. 41 Wie freundschaftlich verbunden Stich und Kirschner waren, zeigen nicht nur seine Äußerungen und positiven Rezensionen zu jenem, sondern auch die Tatsache, dass Stichs Nach-Nachfolger Hans-Jürgen Peiper auf Anhieb erriet, Stich habe wohl Kirschner »als persönlichen Freund« für den Nobelpreis nominiert. 42 ­Rudolf Stich, Aneurysma der Arteria axillaris dextra; Hirnembolie; Nachblutung; Heilung, Münchener Medizinische Wochenschrift 66 (1899), S. 548–552. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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keine andere Naht der zirkulären Gefäßnaht Alexis Carrels vorzuziehen sei,43 eine herausragende Bedeutung, die Stich auch immer wieder hervorhob.44 Dabei griff er auf Erfahrungen zurück, die er im Ersten Weltkrieg gesammelt hatte.45 1940 verfasste Stich zusammen mit dem Rostocker Chirurgen Wilhelm von Gaza, seinem Schüler und ebenfalls Schüler Garrés, der sich vor allem mit Wundversorgung46 beschäftigt hatte, einen Abschnitt über die Chirurgie der Venen und Arterien im Lehrbuch Die Chirurgie – eine Zusammenfassende Dar­ stellung der allgemeinen und der speziellen Chirurgie.47 Dass sich jedoch das Gebiet der Transplantationen nach der anfänglichen Euphorie zunächst als Sackgasse erwies, bedeutete nicht zuletzt für R ­ udolf Stichs persönliche Karriere einen jähen Wendepunkt,48 weil man sich die Grenzen der Möglichkeiten eingestehen musste. Voraussetzung für eine erfolgreiche Transplantation waren zahlreiche vorangegangene Experimente. Und »noch bevor dieser Traum, so um 1912 ausgeträumt war«49, spielte der Erste Weltkrieg den Chirurgen zynischerweise in die Karten. So berichtet Sauerbruch von seiner Zeit als Beratender Chirurg: »›Iatrós gar anér pollon antáxios állon‹, steht bei Homer in der Ilias zu lesen. ›Ein Arzt ist so viel wert wie viele Männer.‹ Das ist ein Wort, in Kriegszeiten geprägt, in denen für so viele die Kunst des Arztes Rettung und Wiederstellung bedeutet. Für den Chirurgen ist der Krieg dicht hinter den vordersten Linien zwar ein furchtbares, zugleich aber auch ein spannendes und ungeheuer lehrreiches Erlebnis. Da er den Horror des Laien vor dem Anblick von Blut, Wunden, Schmerz beim Mitmenschen nicht teilt – wo käme er da hin-, kann er heißen Herzens und kühlen Auges Beobachtungen machen, die sonst nirgends anzustellen sind. Er gewinnt eine Unsumme von Erfahrungen, die auch noch heute die Basis des chirurgischen Könnens sind.«50

Vor diesem Hintergrund interpretierten nicht wenige Chirurgen den Krieg als »Massenexperiment am Menschen«51, welches Tierexperimente überflüs43 Stich (1913), S. 1867. 44 Martin Kirschner u. Otto Nordmann (Hg.), Die Chirurgie, Berlin 1940, S. 1503. 45 Stich (1917), Gefäßverletzungen und deren Folgezustände (Aneurysma); in: Lehrbuch der Kriegs-Chirurgie, Hg. von A. Borchard, V. Schmieden, Leipzig 1917, S.  252–273, hier S. 252. ­Rudolf Stich, Ueber die Fortschritte in der ersten Wundversorgung unserer Kriegsverletzungen (unter Ausschluß der Verletzungen der großen Körperhöhlen), in: Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 114 (1919), S. 1–31. 46 Wilhelm von Gaza, Grundriss der Wundversorgung und Wundbehandlung, Berlin 1921.­ Rudolf Stich schrieb das Vorwort dieses Buches. 47 Martin Kirschner u. Otto Nordmann (Hg.), Die Chirurgie  – eine Zusammenfassende Darstellung der allgemeinen und der speziellen Chirurgie, Berlin 1940. 48 Vgl. auch Stroeve, S. 14. 49 Rede von Karl Heinrich Bauer zu R ­ udolf Stichs 80. Geburtstag in: Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 192 (1956), S. 1–6. 50 Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, Gütersloh 1956, S. 173. 51 Rede Karl Heinrich Bauer zu Stichs 80. Geburtstag. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sig machte. Der Krieg war auch der Grund dafür, dass R ­ udolf Stich sich vom Tierexperiment abwandte und, wenn möglich, am Menschen forschte. »In der Wissenschaft vom kranken Menschen kommt es eben nur auf den Erkenntnis-Wert an, nicht auf die Erkenntnis-Methode.«52 Dabei heiligt der Zweck offensichtlich die Mittel und es ist legitim, mittels klinischer Forschung »Massenexperimente größten Stiles« auszuwerten, schließlich ist jede Operation letztlich ein Experiment, wie es »das Labor nie erreicht!« Dass der Krieg als Chance wahrgenommen wurde, lag nicht zuletzt daran, dass Experimente an Menschen vorher gescheitert waren und man zweifelte. Darüber erzählt Sauerbruch in seinen Memoiren: Bei der Öffnung eines Brustkorbes 1905 in Breslau starb die Patientin: »Es war nicht festzustellen, woran der Fehler gelegen hatte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als in der Chronik der Klinik zu vermelden, daß die Frau ›aus unbekannter Ursache plötzlich ad exitum (zu Tode) kam‹. […] Als ich spät in der Nacht zu dem Geheimrat ging, breitete er mir folgende Gedankengänge aus: Jeder Kampf um ein neues Gebiet in der Chirurgie habe Opfer gekostet, auch in der Erschließung der Torax-Chirurgie würden sie nicht fehlen. Das Endziel, die Lebensmöglichkeit für Zehntausende unheilbarer Lungentuberkulöser, rechtfertige unser Tun.«53

Doch auch die verbesserten Experimentiermöglichkeiten boten keine Lösung für das Problem, dass das verpflanzte Organ weiterhin abgestoßen wurde. Unter diesen Bedingungen boten sich auch für Stich auf dem Gebiet der Gefäß- und Transplantationschirurgie keinerlei weitergehende Forschungsmöglichkeiten. Posthum wird Stichs Karrierewende von Bauer als unausweichliches Schicksal interpretiert, der betont, dass Stichs wissenschaftliche Laufbahn als »Experimentator begann«. Bauer skizziert, dass sich Stich nach der Erprobung der Gefäßnaht den Organtransplantationen zuwandte, und resümiert, dass »wir in der Frage nach der Organtransplantation bis heute nicht über Stich hinaus vorgedrungen« seien. Seine Ergebnisse seien damals jedoch lediglich in der »Intimssphäre wissenschaftlicher Kongresse« vorgetragen worden, da jede weitere Publizität Stich »zutiefst verhasst« gewesen wäre. Doch dann wurde seine experimentelle Gefäßchirurgie durch den Ersten Weltkrieg »jäh beendet«. »An die Stelle kleiner Versuchsreihen am Tier trat nunmehr das traumatische Massenexperiment am Menschen«, durch die Vielzahl an Kriegsverletzungen an Ge­ fäßen, so dass man neue Einsichten aus der Erfahrung ableiten konnte. »Aus der Not der großen Zahl galt es, die Tugend exakter Auswertung zu ent­w ickeln. Aus dem Experimentator Stich wurde über Nacht der Empiriker Stich, Empiriker im Sinne einer Ableitung neuer Erkenntnisse aus den kriegsbedingten Tatsachen, Empiriker zugleich im Sinne einer Übertragung seiner experimentell erworbenen 52 Ebd. 53 Sauerbruch, S. 188. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Fertigkeiten und Fähigkeiten auf den gefäßverletzten Soldaten. Der Labor-Gefäßchirurg Stich verwandelte sich schnell in den führenden Spezialisten kriegsverletzter Blutgefäße und kriegsbedingter Aneurysmen.«54

Stich machte also quasi aus der Not eine Tugend und nutzte die »Experimentiermasse«, die der Krieg ihm zur Verfügung stellte, um seine Forschungen in eine neue Richtung zu lenken und praktisch anwenden zu können. Bauer behauptet, dass es neben diesen äußeren Umständen auch eine »innere Ausreifung« gegeben hätte, dass Stich nämlich von der Forschung zur »Meisterschaft chirurgischer Lehre« gekommen sei, so dass »seine didaktische Ära« begann, in der er anfangs einen Artikel im »Lehrbuch für Kriegschirurgie« von Borchard55 und Schmieden56 1919 verfasste. »In der Chirurgie der Blutgefäße […] sind alle deutschen Chirurgen seine Schüler geworden: Stich wurde Autorität!«57 Dieser Einschätzung steht die Geissendörfers, der sich zum selben Anlass seines Lehrers erinnert, diametral gegenüber: In Geissendörfers Wahrnehmung wurden bei Stich neue Methoden nur nach eingehender Erprobung eingeführt. Für Stich waren die Kranken »keine Versuchskaninchen«  – nach Geissendörfer kennzeichne dieser Ausspruch Stichs Einstellung zur Genüge. »Verstöße gegen den Grundsatz der Menschlichkeit waren für ihn unverzeihbar«.58 Als Hochschullehrer war R ­ udolf Stich nicht nur auf seinem Fachgebiet eine Kapazität. Vor allem im Umgang mit seinen Studenten galt er vielen als Vorbild. Sein Lieblingsschüler, Karl Heinrich Bauer, war mit einer »1/4-Jüdin« verheiratet. Dennoch musste er nach 1945 Leumundszeugnisse beibringen, die ihn gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigten, da er 1923 das Buch »Biologische Grundlagen der Rassenhygiene« verfasst hatte. Diese Leumunds­zeugnisse bestätigen, Bauers Buch habe auch begeisterte Kritiken von der demokratischen Presse erhalten, auch sei Bauer schon in der Schulzeit mit jüdischen Mitschülern eng befreundet gewesen. Dass er nach seiner Eheschließung Gnadengesuche für eine Arisierung eingesendet habe, sei eine Zwecklüge. Auch habe er sich besonders für seine jüdischen Assistenten eingesetzt, die Partei habe nur deshalb nicht »auf ihn zugegriffen«, weil er ebenso hochrangige Nazis operiert habe. 54 Alle Zitate entstammen dem Nachruf von Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 55 August Borchard, 24.6.1898–21.9.1958, Jurist, Ministerialrat im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, ab 1934 Ministerialdirektor, 1938 bis 1953 Kurator der Georg-August-Universität Göttingen, 1953/54 Staatssekretär im Kultusministerium des Landes Niedersachsen, 1955 bis 1958 Präsident der Klosterkammer Hannover. 56 Victor Schmieden, 19.1.1874–11.10.1945, Chirurg, seit 1919 Lehrstuhl in Frankfurt, Förderndes Mitglied der SS, Prodekan, zuständig für die Gleichschaltung der ärztlichen Vereinigungen, seit 1937 Mitglied der NSDAP. 57 Ebd. 58 Geissendörfer, Zum Gedenken an Prof. Dr. ­Rudolf Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Bauer selbst betont retrospektiv, er sei schon vor 1933 gegen Antisemitismus und »überspitzte Rassenlehre« vorgegangen, sein 1923 erschienenes Buch wende sich gegen Rassenhass und sei daher nach 1933 aus dem Buchhandel gestrichen worden. Die Nationalsozialisten freilich betonten, dass Buch aufgrund von Bauers »nicht-arischer Versippung« geschnitten zu haben. Bauer selbst beharrt darauf, das Buch enthalte »keine antisemitische Silbe«, es befürworte »Rassenmischehen«, da aus ihnen »besonders günstig gestellte Nachkommen hervorgehen«, wenn sich nicht gerade »höhere und niedere Rassen (Neger und Weisse)« mischten. Seine Ehe mit einer Jüdin sei »im 3. Reich eine Quelle unablässiger Schikanen, Deklassierungen u.s.w.« gewesen, obwohl Bauer die »kulturelle Hochständigkeit« seiner Frau betont. Er wurde nicht in die »Neue Wehrmacht« übernommen und blieb vom Reserve-Offizierskorps ausgeschlossen, er habe sich geweigert, in Breslau und Heidelberg den Abstammungs­fragebogen der Ärztekammer auszufüllen und er habe sich als einziger an der Klinik dem Boykott jüdischer Geschäfte widersetzt. Am schlimmsten jedoch, die gravierendste Beleidigung, sei der Ausschluss aus der Burschenschaft der Bubenreuther gewesen, der er 23 Jahre angehört hatte.59 Und hier kommen Bauers akademische Lehrer Ludwig Aschoff60 und ­Rudolf Stich ins Spiel, die er 1933 per Eilbrief, nachdem er von den Ausschlussplänen Kunde erhalten hatte, informiert. Aschoff antwortete postwendend am 9. März 1933: »Was Sie mir schreiben, raubt mir im Augenblick den Atem. Jedenfalls würde mein Glaube an die Reinheit, an die Sachlichkeit, an das wirkliche Deutschtum der nationalen Bewegung, für die ich selbst in meinem ganzen Leben eingetreten bin, einen schweren Stoß erleiden, wenn das wahr gemacht würde, was man gegen Sie vorhat. […] Ich habe mir sofort überlegt, wie man dem preußischen Kultusministerium klar machen kann, dass es sich bei Ihnen um einen ausgesprochen nationalen Mann, um einen deutschen Burschenschafter handelt, den man doch nicht ohne Weiteres von seiner Stellung schieben kann. […] Kann nicht einer Ihrer Bundesbrüder […] mit den entscheidenden Männern der nationalsozialistischen Partei in München oder in Berlin Rücksprache halten. Ich bin überzeugt, dass es nur an der richtigen Aufklärung fehlt. […] Was ich selbst tun kann, um über den Weg eines Bekannten für Ihre Sache einzutreten, will ich gerne tun. […] Jedenfalls möchte ich Ihnen zurufen, dass Sie sich auf keinen Fall entmutigen lassen dürfen! […] In aufrichtiger Teilnahme an den schweren Stunden, die Sie und Ihre Frau jetzt durchmachen, Ihr Ludwig Aschoff.«

­ udolf Stich belässt es nicht nur bei einer Beileidsbekundung. Der Kontakt zwiR schen Bauer und Stich kam überhaupt erst über die Bubenreuther zu Stande, seit 59 Undatiertes Manuskript aus Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 60 Ludwig Aschoff, 10.1.1866–24.6.1942, 1906–1936 Pathologe in Freiburg, 1910 Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, Vater von Jürgen Aschoff und akademischer Lehrer R ­ udolf Stichs und Hermann Reins. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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1914 schrieb ein »lieber Bundesbruder«61 dem anderen regelmäßig Briefe, man feierte gemeinsam »Bundesfeste«62 und auch an der Hochzeit mit der jüdischen Frau nahm Stich selbstverständlich teil. 1935 fuhr Stich nach Erlangen, um sich für Bauer einzusetzen und kommt dort zu dem Schluss, dass »die Leute, die den Mund weit aufmachen« eigennützige Motive hätten. Dieser Tage käme der Bubenreuther bei anderen in den Verruf »in der Arierfrage belastete Mitglieder in seinen Reihen [zu] dulden« und daher befürchte man einen Mangel an Füchsen. Stich erzählt, er habe bewusst »hinter den Kulissen gearbeitet, um meine Stosskraft für weitere Zeiten nicht zu beeinträchtigen«, betont aber gleichzeitig, »dass es für mich […] nicht tragbar wäre, einem Bunde anzugehören, der bewährten Bundesbrüdern die Treue bricht.«63 Es deutete sich der Konflikt zwischen der Verbundenheit zur Burschenschaft, deren Gemeinschaft eine immense Bedeutung für Stich und Bauer hatte, und der Loyalität zwischen Schüler und Lehrer an. Die Kraft der einen Gemeinschaft wurde in der Verbundenheit zu der anderen durch die nationalsozialistische Politik und das antisemitische Klima, welches vor allem unter Medizinern früh virulent war, auf eine harte Probe gestellt. Bereits im September kam Bewegung in die Angelegenheit. Bauers Band der Burschenschaft, das symbolische Erkennungszeichen der Zugehörigkeit, wurde eingezogen. Stich war untröstlich, mehr noch, er befindet sich in einer für ihn vollkommen untypischen Erregung, in der er den Entschluss fasste, ebenfalls, als Zeichen der Treue zu seinem Schüler, aus der Burschenschaft, die ihm fast wie eine Familie war, auszutreten: »… dass ich mich ernsthaft fragen muss, ob man noch weiter den heute das Wort führenden Leuten im Bund angehören kann, ohne selbst zum Gesinnungslumpen zu werden. […] Ich habe keine Absicht, mit den Leuten noch in Beziehungen zu treten; ich will aber, wenn ich mein Band zurücksende, einigermaßen im Bilde sein, mit was für Geisterkindern ich zu tun habe, wenn ich überhaupt etwas dazu schreibe. Mehr will ich heute nicht mehr schreiben. Es ist nicht gut in einer Stimmung wie der heutigen einen Brief zu schreiben; auch an einen Freund nicht. Man wird nicht im Stande sein die Haltung zu bewahren, die man als Mann meines Alters nicht verlieren sollte. Die Leute sind ja wie besessen!«64

Schon eine gute Woche später gibt Stich bekannt: »Der Trennungsstrich ist vollzogen. Gestern habe ich, da mir der derzeitige Führer des Bundes unbekannt ist, an den für Göttingen zuständigen Gaugrafen Gebert mein Band eingesandt und ihn gebeten, meinen dazu gesandten Begleitbrief und das Band 61 Brief von Stich an Bauer vom 21.11.1914, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 62 Brief von Stich an Bauer vom 20.7.1922, ebd. 63 Brief Stich an Bauer vom 27.6.1933, ebd. 64 Brief von Stich an Bauer vom 19.9.1935, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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an die entsprechende Stelle weiterzuleiten. Es wäre mir ein unerträglicher Gedanke gewesen, den Bundesbrüdern, denen ich bisher ohne jede Einschränkung die Treue gehalten habe, aus irgendwelchen Konjunkturrücksichten die Treue zu brechen. Desweiteren [?] ist er ja, von einzelnen unheilbaren Phantasten abgesehen, letzten Endes nichts, wenn jetzt die Mehrheit im Bunde umfallen sollte. Im Grunde ihres Herzens sind doch die überwältigende Mehrzahl der älteren Leute unserer Ansicht; nur wird es nicht gesagt. Im Nationalsozialismus des Herzens lasse ich mich deswegen wahrlich nicht von diesen Brüdern übertreffen. Mein ganzes Leben hat, seit ich selbstständig bin, aus Sozialismus und nationaler Gesinnung bestanden, nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat. Und jeder wahre alte Bubenreuther ist je und je von nationalsozialistischer Gesinnung erfüllt gewesen, das brauchen wir wahrhaftig nicht von diesen jüngeren Dächsen zu lernen. Es war mir bitter, aus unserem Bund zu scheiden, aber ich wollte nicht unehrlich werden.«65

Für Stich ist es kein Widerspruch, mit Rekurs auf seinen überzeugten Nationalsozialismus in Loyalität zu Bauer von dem Bund zu scheiden. Dass Bauer mit einer Jüdin verheiratet war und sich deswegen großen Anfeindungen ausgesetzt sah, schien für Stich in seiner Verbundenheit überhaupt keine Rolle zu spielen. Im Gegenteil: als aufrechter Nationalsozialist war es für ihn eine Ehrenpflicht, einem Kameraden die Treue zu halten – auch, wenn es ein großes persönliches Opfer bedeutete. Beide, sowohl Stich als auch Bauer, traten nach 1945 wieder den Bubenreuthern bei und verziehen ihrer Gemeinschaft.66 In der Erzählung von Stichs Enkel Wendelin Dames ging die Verbundenheit zu Bauer noch einen signifikanten Schritt weiter. Als dieser Schwierigkeiten hatte wegen seiner jüdischen Frau einen Lehrstuhl in Breslau zu bekommen, übte Stich Druck aus, indem er anbot, von seinem Lehrstuhl zurückzutreten. »Und da hat mein Großvater gesagt: ›Ich trete zurück, […] das hat überhaupt nichts mit der Frau zu tun!‹« Stich »konnte sich das leisten, weil er bekannt genug war, dass sich die Nazis das nicht leisten konnten. Es war also kein großes Risiko, aber es war immerhin schon mal ein Signal, ›Ich bin nicht mit euch einverstanden‹.«67 Auch nach 1945 setzte sich Stich, übrigens gemeinsam mit Bauer, für einen ehemaligen Schüler, Walter Lehmann68, ein, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung emigrieren musste und nach seiner Rückkehr versuchte, eine Entschädigung zu erhalten. Dafür benötigte dieser ein Gutachten von einem positiv beleumundeten Kollegen wie Bauer, welches bestätigte, dass er »ohne die nationalsozialistische Schädigung« mindestens außerordentlicher Professor für Neurochirurgie geworden wäre. Aus einem Gutachten vom 22. November 1956 geht hervor, dass Stich Lehmann seiner Zeit alle neurochirurgischen OP ’s übertra65 Brief von Stich an Bauer vom 28.9.1935, ebd. 66 Gespräch mit Dr. Wendelin Dames. 67 Ebd. 68 Walter Lehmann, 1888–1960, Chirurg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gen hatte. Bauer schreibt jedoch auch, dass er »keinerlei persönliche Beziehung zu Lehmann« hatte oder habe, dass sie eher auf »gespanntem Fuße« standen und es sich nicht um »gute alte Freunde« handelt. Trotz dieses kühlen Verhältnisses schreibt auch Stich an Lehmann, dass er ebenfalls bestätigen wird, dass Lehmann »bei ungestörtem Ablauf der pol. Verhältnisse in Deutschland nach menschlichem Ermessen eine Professur« erhalten hätte.69 Auch hier ist die Verbundenheit der Stich’schen Schule in Notlagen, verursacht durch das nationalsozialistische Regime, weit bedeutender als persönliche Animositäten. ­Rudolf Stich war nicht nur von 1911 bis 1945 Chefarzt der Chirurgischen Klinik, sondern auch zweimal Dekan der Medizinischen Fakultät: zwischen 1920/21 und von 1939 und 1945. Seine Tage gestalteten sich nach einem festen Ablauf: wenn nicht Vorlesung oder Visite war, wenn Stich nicht auf Tagungen zuhörte oder referierte, er in seinem Studierzimmer wissenschaftlich arbeitete, war er vielleicht bei einem »Fakultätskränzchen«, auf dem im informellen Kreis Belange der Fakultät ausgetauscht wurden, die nicht selten in der Villa Stich stattfanden. Manchmal ging er auch mit Kollegen auf ein Bier ins Gasthaus »Krone«70, was allerdings eher selten vorkam. Dieser Ort war ein besonderer Treffpunkt, der zu unterschiedlichen Anlässen aufgesucht wurde, wie sich der Pathologe und Stichs Freund Georg Benno Gruber erinnert: »Eine ganz nette Sitte war es, dass zu Neujahr die gesamte Universität sich im Saal der Krone versammelte, und nun alle im Lauf des vergangenen Jahres nach Göttingen Berufenen und die Neu-Habilitierten, samt ihren Gattinnen vom Rektor der Allgemeinheit vorgestellt wurden: so hatte man wenigstens die Möglichkeit, auch die Dozenten der andern Fakultäten kennen zu lernen. Es war zwar noch üblich, dass man als Neugebackener [sic!] Dozent beim gesamten Lehrkörper einen Antrittsbesuch machte – was natürlich nur mittels einer Droschke im Laufe eines Sonntag-Vormittags zu bewerkstelligen war. Dazu war erforderlich der Lohndiener, der über die Topographie 69 Lehmann an Bauer vom 19.7.1956, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 70 Aus: Hundert Häuser, hundert Tafeln, Ein Führer zu Göttinger Baudenkmälern, Göttingen 1998 – der Geschichtsverein für Göttingen und Umgebung e. V. hat seit 1991 rund 100 Häusertafeln angebracht und stellt die Baudenkmäler hierfür nun vor: Gasthaus Krone heute: Sparkasse Hauptgebäude in der Weender Straße, Auszug: »Ehemaliges Hotel zur Krone: Als um 1740 das Wirtshaus »Zur Krone« durch den Gastwirt Johannes Lohr auf zwei Grundstücken als verputzter Fachwerkbau errichtet wurde, existierte bereits seit 1673 auf der nördlichen Liegenschaft ein Gasthof gleichen Namens. […] Noch in der alten »Krone« stieg 1734, von Wittenberg kommend, Professor Samuel Christian Hollmann als erster Professor der Georgia August ab. Unter den Hotelbesitzern Johann Ludwig Wacker (1767–1793), Ernst Heinrich Bettmann (1799–1824) und seinem Sohn Fritz (1824–1870) zählten Karl August von Hardenberg, Johann Wolfgang von Goethe oder Jenny Lind zu den Gästen des renommierten Hauses. König Georg V. verbrachte hier 1866 zusammen mit seinem Generalstab die letzte Nacht vor der Schlacht von Langensalza. […] Seit 1951 ist das Gebäude im Besitz der Sparkasse.«, Artikel von: HelgaMaria Kühn, S. 9. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 8: R ­udolf Stich (Quelle: Stadtarchiv Göttingen, Foto H. Kunsch)

der Wohnungen genügend orientiert war, und es dank näherer Bekanntschaft mit dem respektiven Hausmädchen leicht fertig brachte, dass die Herrschaften allemal, zu ihrem grössten Bedauern, nicht zu sprechen waren, und die Besuchskarte abgeliefert werden konnte.«71

Angelegentlich wurde sogar gemeinsam gefrühstückt »in der Krone«, bevor man dann zur Eröffnung des Händelfestes aufbrach und viele Bekannte traf.72 Überhaupt wurden wichtige Dinge, welche die Universität oder die Fakultät 71 Aus: Erinnerungen Grubers 1911–1913 – Fragment aus dem Archiv für Ethik und Geschichte der Medizin, Göttingen, Georg Benno Gruber: Erinnerungsfragment 1911–1913. Das Fragment ist anscheinend noch nicht so stark bearbeitet, wie die Unterlagen, die der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen überlassen wurden. S. 97. 72 Tagebuch von Wolfgang Heubner, Eintrag vom 23.6.1933. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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betrafen, des Öfteren auf dem kurzen Dienstwege diskutiert, so beispielsweise die Studienreform 1917 von Stich und Heubner auf einem Spaziergang.73 Stich engagierte sich immer wieder für die Reformierung des Medizinstudiums und wurde zu diesem Zweck am 23.  Januar 1926 im Kultusministerium vorstellig, wo auch zahlreiche damals prominente Ärzte anwesend waren, wie etwa Heubner, Haber, Bier, Hahn, Küttner74 und Abderhalden75. Heubner erinnert »sehr interessante Debatten, im Allgemeinen stramme Haltung, auch beim Ministerium.«76 Dass Stich mehr oder weniger offiziell Einfluss nahm auf Berufungen, zeigen mehrere Treffen im Jahr 1919 in seiner Villa, bei denen es um die Berufung eines Internisten ging.77 Viele, die nach Göttingen wollten, versuchten im Vorfeld, meist über ehemalige Schüler und gemeinsame Bekannte, Kontakt zu Stich aufzunehmen. So schrieb Prof. Tonndorf aus der HNO -Klinik Dresden an Bauer: »Fromme hat mir von Ihnen erzählt. Fragen Sie doch bitte einmal bei Stich, ob ich in Göttingen auf der Liste stehe.«78

Aber auch offizielle Anfragen erreichten Stich, wie eine des Dekans der Medizinischen Fakultät der Universität Gießen, der sich Vorschläge für den vakanten Lehrstuhl für Erb- und Rasseforschung erbat. Stich antwortete: »Da der Lehrstuhl für Erb- und Rasseforschung an unserer Hochschule zur Zeit nicht besetzt ist, vermag ich ihrem Wunsche für die Vorschläge von Neubesetzung ihres eigenen vakanten Lehrstuhls leider nicht Rechnung zu tragen.«79

Auch bei der Beurteilung in Frage kommender Persönlichkeiten, die jedoch in schlechtem Ruf standen (der Vorgeschlagene »soll sich in finanzieller Hinsicht der Witwe seines verstorbenen Chefs gegenüber von einer sehr unerfreulichen Seite gezeigt haben«80), war Stichs Meinung gefragt.

73 Tagebuch von Wolfgang Heubner, Eintrag vom 28.11.1917. 74 Hermann Küttner, 10.10.1870–10.10.1932, Chirurg, Promotion und Habilitation in Tübingen, dort seit 1907 Lehrstuhl für Chirurgie in Breslau, 1927 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 75 Emil Abderhalden, 9.3.1877–5.8.1950, (Rassen-)Physiologe, Gründer des Bundes zur Erhaltung und Mehrung der deutschen Volkskraft, Herausgeber der Zeitschrift Ethik, ab 1946 Ordinarius in Zürich. 76 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 23.1.1926. 77 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 5.8.1919. 78 26.1.1942 Brief von Tonndorf an Bauer aus Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 79 Antwort von Stich vom 11.9.1942, ebd. 80 Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel an Stich, 8.9.1942, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 91. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Anlässlich der Jahresfeier der Universität am 26.6.1920 beging man nicht nur den Abend gemeinsam in der Oper, sondern später auch noch im Kreise der Kollegen bei Stichs, wo auch die Künstler weilten.81 Am 1.7. gab der Pharma­ kologe Heubner das Dekanat an Stich ab, »Gott sei Dank.«82 Stich übernahm also den Posten von einem guten Bekannten, genauso wie er ihn später abwechselnd mit seinem Freund Gruber besetzte. Die Kassette mit den Unterlagen wurde einfach überreicht.83 Stich war in dieser Zeit ein sehr kooperativ arbeitender Dekan  – er machte viele Umlaufverfahren, in denen die Fakultätsmitglieder über Briefe und andere Vorgänge detailliert informiert werden, so dass alle so Kenntnis von der Sache gewinnen und sie kommentieren konnten.84 In seinem ersten Dekanatsjahr vom 1. Juli 1920 bis zum 30. Juni 1921 setzte sich Stich vor allem dafür ein, Heubner in Göttingen zu halten – mit Erfolg. Die gesamte Fakultätssitzung unter Stichs Führung beschloss, zu diesem Zwecke »in Berlin beim Ministerium vorstellig zu werden«.85 In diesem Jahr war sogar Hindenburg persönlich bei der Jahresfeier der Universität anwesend, dessen Büste eingeweiht wurde. »Als das Wort des Rektors sich an ihn richtete, stand er mit einem Ruck auf, wie der jüngste Leutnant trotz seiner 74 Jahre. Ihm zu Ehren wurde ›Deutschland über alles‹ gesungen in weihevoller Stimmung. Danach sprach er ein paar Worte in der straffen kurzen Sprache des preussischen Offiziers, sehr sympathisch, einfach und zu Herzen gehend für Vaterlandsliebe, Pflichttreue u.s.w.«86

Auch seine Vortragstätigkeit ließ Stich nicht zu kurz kommen, die von seinem Kollegen Heubner als »besonders hervorragend« gelobt wurde.87 Die gesamte Dekanatstätigkeit Stichs war maßgeblich durch die gute Bekanntschaft der Pro81 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 26.6.1920. »Jahresfeier der Universität, Rede von Brandi. Abends wunderbare Aufführung der von unserem Privatdozenten Dr. Oskar Hagen ausgegrabenen und geleiteten Oper Rodelinde von Händel. Ein herrliches und erschütterndes Erlebnis. Später noch bei Stichs zusammen mit den Sängern Possony aus Leipzig und Georg Walter aus Berlin, nebst dessen Frau, der einstigen Else Haas aus Strassburg, Freundin von Elli Knapp. Es war ganz besonders reizend mit diesen prächtigen Menschen.« 82 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 1.7.1920. 83 Gespräch mit Prof. Hans-Jürgen Peiper. Gruber war in Göttingen sehr angesehen und hat sich unter der Hand mit Stich im Dekanat abgewechselt, »gewählt wurde sowas damals nicht […] die haben sich immer die Kassette mit den Unterlagen in die Hand gedrückt, jetzt machst du mal.« 84 Dies funktionierte natürlich nur gut, wenn es ausreichend Pedells gab, die die Akten von Haus zu Haus trugen, daher war die Verfügung und nicht-Kürzung ein wichtiges Thema in den Akten (Pedell = Bote, Diener, ursprünglich derjenige innerhalb der Universität, der die Exekutivgewalt inne hatte). 85 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 15.10.1920. 86 Ebd., Eintrag vom 6.7.1920. 87 Ebd., Eintrag vom 8.5.1920. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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fessoren untereinander geprägt, auch Disziplinen übergreifend. Man besuchte sich, man saß abends zusammen, man diskutierte und unternahm gemeinsame Ausflüge mit den Ehefrauen.88 Diese Veranstaltungen wurden nicht selten von Stich organisiert: »Grosser Ball von Stichs in den Festsälen; natürlich ich wieder Dankrede für die Gäste haltend. – Vor und nach Tisch je eine kleine Aufführung der Berliner »Kammerbühne«, zuerst »der entflogene Vogel«, komponiert von Chemin-Petit, dem Bräutigam von Lena von Hippel. ½ 2 nachts erschien noch der Kurator Valentiner unmittelbar vom Zuge aus Berlin.«89

Dass man auch Familienfeste besuchte, wie etwa Heubner einen »Konfirmationsbesuch bei Stichs«90 unternahm, ist selbstverständlich. Auch den verehrten Stich senior lernte Heubner bei einem Besuch in der Villa kennen.91 Und man traf sich ebenso bei Bundesfesten der unterschiedlichen Burschenschaften – so verkehrte Stich unter anderem bei der Bremensia.92 Auch die Krone war ein Treffpunkt für Zusammenkünfte dieser Art: Heubner erinnert für den 26. Juni 1938: Es saßen »in der alten  – immerhin renovierten  – Krone […] morgens Chirurgen und Sachsen in Farben herum. Ich konnte Fromm und Frau, auch Koennecke und Meyering [Meye­ringh ?] begrüssen, Lisa auch Heinz Bauer. Um 11 Uhr war Trauerfeier für den armen Hermann Straub, der am 18. (oder 19. ?) 6. auf einer Tagung in Greifswald an einem akuten Herzfehler (Aortenstenose) plötzlich gestorben war; […] In der 88 Zum Beispiel am 1.12.1920: »Nachmittags erst 1 ¾ Std. Gebührenausschuss-, dann 2 ¼ Std. Senatssitzung. Abends medizinische Gesellschaft, danach noch mit Stich bei Martius. 2.2. Nachmittags ½ 6 Sitzung wegen Wirtschaftswissenschaftlicher Gesellschaft, von 6–8 ½ Senat, dann ins Konzert (Liederabend) der wunderschön singenden Frau v. Basilides. Später noch mit ihr, Stichs, Frau Kronbauer, Walter und Leonie Lehmann usw. zusammen. 8.3.1929 Abends Herren-Abschiedsessen bei uns: Wolff (Universitätsrat), Kaufmann, Schultze, Stich, Gruber, Martius, Straub, Beumer, Ziegler, Tammann, Windaus, Stille, Meinardus, v. Wettstein.  – Reden von mir, Meinardus und Kaufmann. Langes Beisammensein, sehr nett bis 2 Uhr nachts. 26.3.1929 Abends fidele Feier von Eduard Kaufmanns Geburtstag: Ausser uns die beiden Schultzes (Friederike meine Tischdame), Stichs, Wageners, Straubs, Oberbürgermeister Jung und Frau, Excellenz Rüstow und Frau Cramer. Viel lustige Reden, Lisa in Versen, der Oberbürgermeister sehr witzig und zuletzt ebenfalls in Gedichtform, Kaufmann glänzend aufgezogen, Wagener (Dekan) etwas betreten.« 89 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 27.1.1928. 90 Ebd., 24.3.1929. 91 Ebd., 24.1.1932: »Dann noch eine halbe Stunde bei Stichs, wo ich auch seinen alten 84jährigen Vater und seine Schwester traf.« 92 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 26.11.1933. Hermann Straub, 18.11.1882– 20.7.1938, Internist, Studium in Tübingen und Berlin, 1914 Habilitation in München, 1928 Ruf nach Göttingen, nach der Machtergreifung legte Straub seine Ämter nieder und zog sich nach Greifswald zurück. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Feier – wo Pfeiffer Quartettsätze spielte – sprach zuerst der Dermatologe Kranz, Dekan der Fakultät, dann Stich sehr bewegt und sehr gut, dann Rein als Sekretär der Ges. der Wissenschaften, dann der Oberarzt der Klinik Brednow – auch sehr gut – endlich cand.med. […] Mittags bei Stichs.«93

Dass auch politische Themen im Kollegenkreis diskutiert wurden, darüber berichtet Heubner, der für die DDP aktiv war, in seinem Tagebuch im April 1933. Seine Bewertung der Gespräche mit Kollegen lässt Skepsis an der politischen Entwicklung erkennen.94 Das Datum lässt vermuten, dass es sich dabei um das »Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen« vom 25. April 1933 handelt, welches die Definition des »Nichtariers« aus dem »Berufsbeamtengesetz« vom 7.  April 1933 übernahm. Danach galt den Nationalsozialisten als Jude, wer auch nur einen jüdischen Großelternteil hatte. Diese Regelung war noch radikaler als die späteren Definitionen der »Nürnberger Gesetze« vom September 1935 und wurde nur durch Ausnahmeregelungen für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und Beamte aus dem Kaiserreich gemildert. Dies waren Zugeständnisse an den Reichspräsidenten Hindenburg. In diesem Zusammenhang erwähnt Heubner: »Abends bei Straubs mit Grubers, Freys, Stichs, Reins und Frau Kaufmann. Lange mit Stich gesprochen.« 93 Ebd., Eintrag vom 26.6.1938. 94 Ebd., Eintrag vom 25.4.1933. »Morgens bei Windaus, den ich als ersten in der gleichen tiefdeprimierten und verzweiflungsvollen Stimmung fand, wie ich mich selbst fühlte. Dann bei Butenandt wegen Ovarialhormon-Prüfung. Von da zum Rektor Schermer, der mir – als rechtsstehender Mann – seine Unfähigkeit erklärte, gegen die Radikalinskys unter Studenten und Dozenten aufzukommen! Im pharmakologischen Institut bei Frey höchst laue Haltung, bei Grote Hitlerbegeisterung; auch Frl. Bock gesehen, ebenso Ruickholdt. Im physiologischen Institut bei Rein – resultatlose Unterhaltung. Mittag bei Landau, er, Marianne und Matthias sehr nett wie immer. Von dort zu James Franck, der fest, gefasst, nachsichtig, klar, aber tiefernst war. – Bei ihm erfuhren wir die eben erfolgte »Beurlaubung« von Born, Courant, Bernstein, Emmy Noether und Honig. Courant und seine Frau auf der Strasse gesprochen, auch die Stahlhelm-Excellenz von Rüstow, an Anna Erich Meyer vorübergegangen.« Es gibt in der Aula am Wilhelmsplatz eine Gedenktafel »Zur Erinnerung an die zwischen 1933 und 1945 entlassenen und vertriebenen Professoren und Dozenten der Universität Göttingen«, und zu dieser Tafel gibt es einen Aufsatz von Frauke Lindloff, Hinter verschlossenen Türen. Die Gedenktafel zur Erinnerung an die im Nationalsozialismus vertriebenen und entlassenen Professoren und Dozenten der Universität Göttingen, in: Carola Gottschalk, Verewigt und Vergessen. Kriegerdenkmäler, Mahnmale und Gedenksteine in Göttingen, Göttingen 1992, S. 107–112. Hier wird geschildert, warum und wie Franck am 17.4. um Amtsenthebung gebeten hat und was geschah, als dieser Rücktritt veröffentlicht wurde: am 24.4., also einen Tag vor Heubners Tagebucheintrag, erschien im Göttinger Tageblatt ein Artikel, in dem 42 Dozenten der Georgia Augusta sich von diesem Rücktritt distanzierten und ihn als Sabotage­a kt bezeichneten. Unter ihnen waren die Mediziner und Stich-Schüler Blume, Hauberis­ser und Wehefritz, ebenso wie Saller. Obwohl die Kollegen ihm derart in den Rücken gefallen waren, nahm Franck nach dem Krieg die Ehrenbürgerwürde der Stadt Göttingen an. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Als Klinikleiter und auch als Dekan setzte sich Stich von Beginn an vehement für seine Institutionen ein und schrieb immer wieder Beschwerden über unzureichendes Material, unzulängliche Verhältnisse und den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, vor allem in Kriegszeiten. In Krisenzeiten verteidigte er seine Klinik gegen Kürzungen und Einsparmaßnahmen und argumentierte 1924 etwa wie folgt: »Der Ruf der Göttinger Klinik bringt es mit sich, dass auch jetzt noch Kranke mit schweren chirurgischen Leiden von weit her (bis aus Ostfriesland) die Klinik aufsuchen«.

Daher könne man die Belegzahl nicht reduzieren und der OP sei an der Grenze seiner »körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit […] wenn, wie es im ganzen letzten Jahre der Fall war, von morgens 7 1/2 Uhr bis nachmittags 2 Uhr – in letzter Zeit sogar häufig bis 4 oder 5 Uhr – operiert wurde«. Dazu werde dreimal in der Woche nachts operiert. Trotz geringer Aussichten auf Erfolg nahm Stich den Papierkrieg auf sich und kommentierte lakonisch: »Wenn ich nicht in meinem ganzen Leben ein Optimist gewesen wäre, würde ich freilich wenig Hoffnung haben.«

Zu Stichs Erfolgen als Dekan 1920/21 zählten unter anderem die stetigen Erweiterungen der Klinik um wichtige Abteilungen.95 Auch für die Bauten anderer Fachrichtungen machte er sich stark. Heubner96 berichtete von einer Sitzung in Hannover, auf der man Mittel für den Bau der Frauenklinik erstreiten wollte: »Mit ihnen [Stich und Martius] ins Landtagsgebäude, Prinz-Albrechtstrasse, wo wir unseren Kurator Valentiner und den Abgeordneten Schuster trafen. Besprechungen mit weiteren Abgeordneten […], dann hiess es warten, z.Teil im Lesezimmer, z. T. auf der Strasse, z. T. auf der Tribüne des Sitzungssaales, z. T. im Restaurant, wo wir auch Mittag assen und Kaffe tranken. Endlich ½ 4 nachmittags Audienz beim Finanzminister Höpker-Aschoff in Gegenwart seines Referenten Geheimrat Helbig und der drei Abgeordneten Schuster, Bohner und Barteld (Hannover). Es sprachen Valentiner, ich und Martius, wie es schien, nicht ganz ohne Eindruck. Unmittelbar darauf, um 4 Uhr interfraktionelle Besprechung mit Abgeordneten […]. Auch hier erhielten wir das Versprechen, es sollte geschehen, was nur möglich wäre. – Tatsächlich hatte unsere Aktion den Erfolg, dass noch für 1928 150.000 M als erste Baurate eingestellt wurden.«

Allgemein entfaltete Stich auch in seinem zweiten Dekanat eine beträchtliche Aktivität – besonders im Jahr 1940 – er stellte drei Haushaltsanträge – und das, obwohl er eigentlich in den ersten Monaten krank und schwer zu erreichen 95 1915 Etablierung einer orthopädischen Abteilung, Laboratorium für medizinische Physik, 1937 so genanntes »Absonderungshaus« für Patienten mit ansteckenden Krankheiten, ab 1939 Leitung der Krankenpflegeschule. 96 Tagebuch Wolfgang Heubner, Eintrag vom 8.3.1928. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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war: einen Antrag auf Erweiterungsbau der chirurgischen Poliklinik, Antrag auf eine Erweiterungsanlage der Röntgendiagnostik und einen Antrag auf Einrichtung einer Schwerunfallverletztenstation. Stich betrieb diese Vorhaben intensiv und nahm im November 1940 sogar an einer Sitzung im Göttinger Rathaus teil. Dabei argumentierte er im Falle der Schwerverletzten nicht nur mit dem immensen »Krankengut«, sondern auch im Sinne seiner Studenten: »Aus medizinischen und erzieherischen Gründen muß die geplante Station in direkter Anbindung mit der Chirurgischen Klinik bleiben.«97 Stich befürchtete, dass ansonsten interessante Fälle für seine Studenten verloren gehen würden. Dieser Aspekt wird auch in den anderen Anträgen deutlich, »die Erziehung und Unterrichtung des ärztlichen Nachwuchses«98 leide massiv unter den Verhältnissen. Die Ausbaupläne wurden auch 1943 noch diskutiert, der Kurator wandte sich an das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und bat im Sinne der »allgemeinen Volksgesundheit, der kriegswichtigen ärztlichen Forschung und der laufenden ärztlichen Ausbildung«99 über entsprechende Maßnahmen zu beraten. Bis dato schien also kein Erfolg erzielt worden zu sein. Doch am meisten engagierte er sich für die Verbesserung der studentischen Ausbildung. Allerdings kritisierte Stich noch 1952, dass mit Beginn des Zweiten Weltkriegs die Zahl der Medizinstudenten stark anstieg, da diese nicht zum Wehrdienst eingezogen wurden: »Im Krieg haben manche, die sich Jünger Äskulaps nannten, geglaubt, den Frontge­ fahren besser entgehen zu können, sicher kein edles Motiv für die Wahl des Berufes.«100

Diese Klage relativierte sich jedoch schnell, je weiter der Krieg fortschritt: »Ich kann es leider nicht verschweigen, daß durch mangelndes Entgegenkommen von Wehrmachtsstellen unseren Hochschulen der so dringend notwendige Hochschulnachwuchs trotz aller Anträge und trotz aller nichtssagenden allgemeinen Versprechungen in der Tat vorenthalten blieb. Daran ändern manche oft recht über­f lüssigen Kommandierungen aktiver Sanitätsoffiziere an die Hochschulinstitute nichts. Sie bilden wirklich nur in den allerseltensten Fällen einen Ersatz für wissenschaftliche Mitarbeiter.«101 97 Antrag auf Einrichtung einer Schwerunfallverletztenstation vom 1.6.1940, Universitätsarchiv Göttingen, Med.Fak. Ordner 219. 98 Antrag auf Erweiterungsbau der Chirurgischen Poliklinik vom 1.6.1940, Universitätsarchiv Göttingen, Med.Fak. Ordner 219. 99 Kurator an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 23.3.1943, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 223. 100 Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass R. Stich, Cod. Ms. R. Stich, 7: Vorlesung über die »Ärztliche Ethik« vom 12.7.1952, S. 3. 101 Der Rektor der Universität reicht am 12.9.1944 Fragen der Reichsdozentenführung an Stich weiter, dieser beantwortet die Anfrage am 21.9.1944. Zu den Veränderungen innerhalb des Medizinstudiums vgl. Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Band 2, Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust, Darmstadt 1997, hier S. 85 und 169. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Auch beschwerte er sich regelmäßig über die Intensivierung des Studiums und der Lehre, da diese die wissenschaftliche Arbeit unmöglich mache. Außerdem würde die Qualität der Ausbildung unter der Hetze leiden. Auch die mangelnde Assistentenzahl gäbe Anlass zur Klage.102 Je länger die Notsituation dauerte, desto drastischer wurden Stichs Äußerungen. Im Januar 1945 war er richtiggehend erbost über die Situation an den Universitäten. Er wandte sich an die höchste Stelle, den Reichskommissar für Sanitäts- und Gesundheitswesen, und legt die schlechte Nachwuchslage in Lehre und Forschung dar. Für sich selbst beschwerte sich Stich selten; die Klage, dass bezüglich der Wohnraumbeschlagnahmung das Arbeitszimmer den Professoren nicht er­ halten blieb und sie somit ihren wissenschaftlichen Aufgaben nicht mehr nachkommen könnten, war eher eine Ausnahme, diese war jedoch dringlich: »Wenn es Ihnen, Magnifizenz, gelänge, den Gauleiter über den Kreisleiter davon zu überzeugen, dass die wissenschaftliche Arbeit weder an Diensträume in den Kliniken, noch viel weniger an Dienststunden gebunden sein kann, und dass es deshalb eine völlige Verkennung der Aufgaben und Arbeitsbelastung des Wissenschaftlers ist, wenn man ihn jetzt schon zwingt, seinen Arbeitsraum, z. T. als Schlafraum oder gar als Kinder- und Esszimmer zu benützen, dann würde der Wissenschaft, notabene auch der kriegsentscheidenden Wissenschaft, ein Dienst geleistet sein.«103

Der Einsatz, den Stich jahrelang aufopferungsvoll für seine Fakultät und Klinik leistete, blieb nicht unbemerkt. Sein Freund Gruber setzte sich daher dafür ein, dass die Universität Stich zu seinem 70. Geburtstag besonders ehren sollte, denn: »Prof. Stich gehört zu jenem Typ des Hochschullehrers medizinischer Richtung, dessen ganzes Bestreben auf die Heranbildung eines pflichtgetreuen, ethisch hoch­ stehenden Ärztetums eingestellt ist. […] Da es ihm gelang, in eindringlicher und überzeugender Art seinen Schülern das Wesen einer echten hippokratischen Gesinnung vorzutragen und vorzuleben.«

Und auch für die »deutsche Gemeinschaft« sei sein Einsatz stets »rückhaltlos«. Sein »Gemeinschaftsdienst am deutschen Volk«104 sei auch als SA-Arzt vorbildlich.

102 Zur schlechten Lage der Hochschullehrer und den Bedingungen vgl. auch Michael­ Kater, Professoren und Studenten im Dritten Reich, in: Archiv für Kulturgeschichte 67 (1985), S. 465–487, hier S. 473. 103 Stich beklagt sich in einem sechsseitigen Schreiben vom 14.1.1944 an den Rektor, Uni­ versitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. 104 Schreiben von Gruber an den Rektor der Universität Göttingen, Prof. Drexler, am 26.3.1945, Universitätsarchiv Göttingen, Rek. PA Stich . © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die Erzählung über den Professor R ­ udolf Stich als medizinische Kapazität ist diejenige, die überwiegend von seinen Schülern und Assistenzärzten nach 1945 erzählt worden ist und die auch größtenteils Eingang in die Forschungsliteratur gefunden hat. Dennoch lässt sich seine Hochschulkarriere anhand der Quellen auch anders erzählen: Der Schüler und Student mit den durchwachsenen Noten entwickelte sich zwar als guter chirurgischer Praktiker, konnte jedoch in seinen Forschungsarbeiten kaum große Erfolge vorweisen. Somit boten sich nach mehr als zwei Jahrzehnten professoraler Praxis mit der Durchsetzung des Führerprinzips an der Universität neue Chancen für Stich, die er beherzt ergriff. * * *

Im Kaleidoskop: Dekan als Führer ­ udolf Stich war ein recht mittelmäßiger Schüler. Anders als seine äußerst präR sente Erinnerung an seine medizinischen Lehrer vermuten ließe, haben die Lehrer in der Schule ihn offenbar nicht zu guten Leistungen motivieren können. Sein Studium vollzog er unauffällig105 und in erster Linie dadurch, dass er bei den Lehrern unterkam, bei denen schon sein Vater gelernt hatte. Nachdem er zunächst in Erlangen gewesen war, ging er nach Kiel in die pathologische Anatomie zu Arnold Heller, einem Jugendfreund seines Vaters. Die angebotene Promotion lehnte er ab und wechselte, wiederum auf Anraten seines Vaters, ein Fach zu belegen, das seinen praktischen Fähigkeiten besser entspreche, zu Heinrich Irenäus Quincke106 in die Innere Medizin. Er promovierte schließlich bei Walter Hermann Heineke, der schon dreißig Jahre zuvor seinen Vater unterrichtet hatte.107 1902 wechselte er dann nach Königsberg zu seinem Mentor Carl Garré, bei dem er sich drei Jahre später habilitierte. Eine zweite Vaterfigur trat in Stichs Leben, der er zunächst nach Breslau und wenig später nach Bonn folgte, wo er zum Oberarzt ernannt wurde. 1908 zog es ihn bereits wieder zurück in die Nähe des leiblichen Vaters: Stich strebte keinen Lehrstuhl an, sondern bewarb sich als leitender Chirurg am Nürnberger Stadtkrankenhaus, wurde jedoch abgelehnt, die Rückkehr in die Heimat blieb ihm verwehrt und so blieb er bei Garré, dem akademischen Vater. Nachdem er 1909 außerordentlicher Professor geworden war, erhielt er 1911 den Ruf nach Göttingen, allerdings war er nicht der Wunschkandidat, sondern stand auf der Berufungsliste 105 Seine Zeugnisse aus Freiburg und Erlangen erwähnen keinerlei Besonderheiten. 106 Irenäus Quincke, 26.8.1842–19.5.1922, Internist, Entwickler der Lumbalpunktion und Begründer der Lungenchirurgie, 1873 Ruf nach Bern, dort Lehrstuhl für Innere Medizin, seit 1878 an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, dort 1900/01 Rektor, 1908 Emeritierung. 107 Stroeve, S.  8. ­Rudolf Stich promovierte zu dem Thema »Aneurysma der A. axillaris­ dextra. Hirnembolie, Nachblutung und Heilung«. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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hinter zwei anderen108. Bereits in der Vorschlagsbegründung der Medizinischen Fakultät109 wurde nicht Stichs wissenschaftliche Leistung, sondern vielmehr seine »geschickte Operationstechnik« erwähnt, der durchaus ein »anregender Lehrer« sei, aber vor allem einiges Organisationstalent in der Reorganisation der Bonner Klinik bewiesen habe. Nachdem die Erstberufenen abgesagt hatten, erhielt Stich endlich den ordentlichen Lehrstuhl in Göttingen. Dort angekommen, hatte er Schwierigkeiten, von den anwesenden Kollegen ernst genommen zu werden. So erinnert sich sein späterer Freund, Georg Benno Gruber: »Als er 1911 nach Göttingen kam, und eines Vormittags im Pathologischen Institut Kaufmann aufsuchen wollte, hat man dorten den 36 Jährigen ob seines jugendlichen Aussehens für einen Studenten gehalten, und ihm bedeutet, dass zu so früher Stunde der Chef im Institut nicht zu sprechen sei!«110

Viel Zeit sich zu etablieren blieb dem jungen Professor freilich nicht, denn bereits am dritten Kriegstag rückte er freiwillig, noch ohne Uniform, in den Krieg. Auch unterwegs zum Einsatz für sein Vaterland erging es ihm wenig besser: »Auf dem Weg zum Gestellungsort wurde er als Zivilist – er sah ja immer so verdächtig jung aus! – zunächst einmal als ›Spion‹ verhaftet.«111

Als Beratender Chirurg des 21. Armeekorps machte er den gesamten Krieg mit und kehrte erst am 19. Januar 1919, zwei Monate nach Kriegsende, nach Göttingen zurück. War seine Begabung vorher schon eher praktischer Natur gewesen, sollte er sich von nun an nahezu nur noch der Praxis und der Lehre widmen. Denn auch in seiner wissenschaftlich produktivsten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in der er gefäßchirurgisch forschte, war er nicht in der ersten Garde mit dabei. Er war nicht im Zentrum für Gefäßchirurgie in Berlin,112 sondern er blieb bei seinem Lehrer im vertrauten Umfeld. Und auch der Nobelpreis, der durchaus mit Stich in Verbindung gebracht wird, hat mit ihm eigentlich nichts zu tun. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Alexis Carrel und R ­ udolf Stich sich persönlich kannten oder dass sie einander jemals getroffen hatten oder schrieben.113 108 Er steht an zweiter Stelle der Berufungsliste, an erster Stelle werden zwei Namen genannt vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Va Sekt. 6, Tit. IV, Nr. 12 Bd. 5. 109 Medizinische Fakultät Göttingen, Schreiben vom 15.6.1911 an den Kurator der Universität Göttingen, Universitätsarchiv Göttingen. 110 Georg Benno Gruber, Erinnerungsfragment 1911–1913. Archiv Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Göttingen; Eduard Kaufmann, 1860–1931, Pathologe, seit 1897 Ordinariat in Breslau, seit 1907 in Göttingen. 111 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich, S. 394. 112 Brungräber, S. 5 113 In dem Tagebuch von Carrel wird Stich nicht erwähnt. Dies kann aber auch daran liegen, dass es nur Einträge zwischen den Jahren 1893–1898 (S. 7–29) und danach 1925– 1933 (S. 30–97) gibt. Alexis Carrel, Tagebuch eines Lebens, München 1957. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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­ udolf Stich nahm nicht an der von Carrel organisierten Sektion zur TransR plantationsmedizin im vierten Internationalen Chirurgenkongress in New York 1914 teil, den Erich Lexer aus Jena und Emerich Ullmann114 aus Wien besuchten.115 Carrel korrespondierte mit Stichs deutschsprachigen Kollegen, wie Theodor Kocher, aber nicht mit Stich.116 Stich reiste überhaupt nicht aus Forschungszwecken außerhalb Mitteleuropas und publizierte ausschließlich auf Deutsch. Wenn seine Schüler sich an Stich erinnern, betonen sie zwar die Vielseitigkeit seiner Arbeit, sie können jedoch auch nicht verhehlen, dass man die Forschungen, die Stich in seiner Göttinger Zeit (und das bedeutet, während seiner gesamten Zeit als ordentlicher Professor) vorgelegt hatte, an den Fingern abzählen konnte. »Das Verzeichnis der Arbeiten Prof. Stichs ist zwar nicht sehr umfangreich, wenn er aber zur Feder griff, so hatte er immer Neues zu sagen. Kritik und eine klare Ausdrucksweise zeichnen seine Arbeiten aus, wie ihm überhaupt die Pflege der deutschen Sprache sehr am Herzen gelegen hat. […] Auf Kongressen ist Prof. Stich zwar nur selten hervorgetreten, seine Referate und Vorträge haben jedoch dank seiner Selbstdisziplin, Kritik und klaren Ausdrucksweise stets eine aufmerksame Zuhörerschaft gefunden.«117

Die hehre Erklärung, die sein Schüler Bauer dafür findet, dass seine Ergebnisse in der »Intimssphäre wissenschaftlicher Kongresse« vorgetragen worden seien, da jede weitere Publizität Stich »zutiefst verhasst« gewesen wäre,118 ist eine schönfärberische Umschreibung der Tatsache, dass Stich kaum noch publizierte und seinen in frühen Zeiten erworbenen Ruf nicht durch aktuelle Arbeiten verfestigen konnte. Und so bleibt auch Gruber, der sich um eine Ehrung zu Stichs 70. Geburtstag durch die Universität bemühte, nichts anderes übrig, als auf die alten Forschungsergebnisse zu rekurrieren, die »unverloren geblieben«119 seien. Er betont: »Nicht so sehr als Forscher, wie als Lehrer der praktischen Heilkunde hat er ein Menschenalter hindurch ungemein segensreich gewirkt«, bemüht sich jedoch schnell um die Korrektur, »das soll nicht besagen, Prof. Stich sei ohne wissenschaftliche Verdienste«. Ein Blick auf die Publikationen Stichs in seiner Zeitschrift Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie zeigt, dass die ersten Artikel, die Stich aus Göttingen publizierte, allesamt Beiträge zur Kriegschirurgie ab 1918 sind. Das heißt, zwischen 1911 und 1918 hat er eine Publikationspause in Bruns’ Beiträgen, für die die Unterbrechung durch den Krieg keine ausreichende Erklärung bietet. In 114 Emerich Ullmann, 23.2.1861–1937, österreichischer Chirurg. 115 Schlich 1998, S. 273. 116 Ulrich Tröhler, Auf dem Weg zur physiologischen Chirurgie, Basel 1984, S. 161. 117 Nachruf von Geissendörfer auf Stich, s. oben. 118 Nachruf von Karl Heinrich Bauer auf Stich, s. oben. 119 Gruber an den Rektor der Universität Göttingen am 26.3.1945, Bitte um Ehrung zu Stichs 70. Universitätsarchiv Göttingen. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Festschriften / Nachruf

4 | 23%

4 | 23%

Gefäßchirugie

Chirugie / Orthopädie

Innere Medizin (Magen / Darm)

3 | 18%

3 | 18% Kriegschirugie

3 | 18%

Abb. 9: Stichs Artikel in Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie, thematisch organisiert (Quelle: Eigene Darstellung)

anderen Fachzeitschriften publizierte er wenig. Sollte man nicht erwarten, dass er als frisch gebackener Lehrstuhlinhaber unter einem gewissen Druck stand, sich über Fachbeiträge und Teilnahme am Diskurs weiter zu etablieren? Eine mögliche Erklärung wäre, dass Stich in dieser Zeit intensiv an der Gefäßnaht forschte, ohne publikationsfähige Ergebnisse vorweisen zu können. Die Beiträge zeigen keinen Schwerpunkt, sie belegen allerdings sein Interesse für Einzelfälle aus der chirurgischen Praxis. Außerdem ist die Tendenz erkennbar, dass Stich am Anfang seiner Laufbahn durchaus längere Beiträge verfasste und im Laufe der Zeit zu immer kürzeren Texten überging. Auch zeigt sich, dass er Texte aus Tagungsbeiträgen generierte (113/1918120) oder gemeinsam mit seinen Schülern publizierte (u. a. 53/1907; 60/1908 etc.). Das Kreisdiagramm zeigt, dass Stich auf seinen Schwerpunktgebieten gleichmäßig publiziert hat. Ein Gebiet, dem er sich darunter besonders stark widmete, ist nicht auszumachen. Es erschienen lediglich 13 fachliche Beiträge. Die Schwerpunkte Urologie und Krebsforschung, die sich aus den Publikationen seiner Schüler herauslesen lassen, sind durch Stichs Publikationsgebiete nicht nahegelegt. Alle anderen Publikationsfelder finden sich jedoch in vergleichbarer Relevanz bei seinen Schülern wieder. Die große Zeitspanne, in der Stich keinen einzigen Fachbeitrag in Bruns’ Beiträgen publizierte und in welche der 120 113 ist hier die Bandnummer des Bandes von Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie, dahinter steht die Jahreszahl. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Publikationsschwerpunkt seiner Schüler fällt, legt die Vermutung nahe, dass die Themen, zu denen an Stichs Klinik geforscht wurde, eben durch seine Schüler und nicht von Stich selbst publiziert wurden. Ein weiterer Hinweis auf den großen Stellenwert, den Stich seinen Schülern beimaß. Das Resultat dieser geringen Forschungsleistung war, dass R ­ udolf Stich in den fast fünfzig Jahren, die er in Göttingen verbrachte, nur einen einzigen Ruf an eine andere Universität erhielt,121 den er ablehnte. Und so verbrachte ­Rudolf Stich fast ein halbes Jahrhundert in Göttingen, vielleicht, weil er wollte oder – weil er musste. Und so musste er, wollte er Karriere machen, diese wohl oder übel in Göttingen machen. Dies gelang ihm vor allem während seines zweiten Dekanats zwischen 1939 und 1945, auch wenn er, als die Nazis an die Macht kamen, eigentlich längst zu alt dafür war. Stich war bei weitem nicht der Einzige, der den Handlungsspielraum als Führer einer Fakultät in seinem Sinne auszunutzen verstand. Wie auch andere Dekane und Mediziner war Stich Teil  eines durchaus agilen und dynamischen Wissenschaftssystems122, welches in einem komplexen Wechselspiel mit dem polykratischen NS -System bestimmte Optionen eröffnete.123 121 1926 nach Bonn. Die Quellenlage gibt aber keine ganz eindeutige Auskunft, ob der Ruf tatsächlich erfolgte. Vgl. Brief Karl Heinrich Bauer an Brandes vom 21.1.1926, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 122 Es besteht mittlerweile eine kaum zu überblickenden Fülle an Forschungsliteratur zum Verhalten von Medizinern insgesamt und an Hochschulen während des Nationalsozialismus, die freilich nicht frei von Defiziten ist. Siehe dazu Robert Jütte, S. 7–10 sowie 12 f. Jütte konstatiert als Lücken, die trotz des spät eingesetzten Forschungsbooms erstaunlich anmuten: Die Patientengeschichte komme zu kurz, die Sozialgeschichte der Medizin sei unzureichend berücksichtigt worden und die nichtärztlichen Heilberufe stellten eine große Leerstelle dar. Der Schwerpunkt von Ausstellungskatalogen und Quellensammlungen liege vor allem auf der Verbrechensgeschichte und den ideengeschichtlichen Wurzeln, weniger auf der Sozial- oder Standesgeschichte von Ärzten oder der Patientengeschichte. Die Defizite der Quellensammlungen würden teilweise durch Ausstellungskataloge kompensiert, aber bis heute gebe es kein biografisches Lexikon sozial­ politischer und medizinischer Funktionseliten. Selbst in den am besten untersuchten Gebieten wie Humanexperimente in den Konzentrationslagern seien mancherlei Fragen offen, so dass insgesamt von einem »Flickenteppich« gesprochen werden müsse, der immer dichter und bunter, dessen Gesamtmuster aber undeutlicher werde, da zunehmend Spezialuntersuchungen und weniger Gesamtdarstellungen erschienen. Ein umfassendes Buch zum Themengebiet »Medizin und NS« fehle bis heute. Eine solche Synthese sei daher ein »dringendes Desideratum«. Siehe ebd., S. 11. Ergänzend hierzu lässt die Literatur zu den Universitäten oder Medizinischen Fakultäten im Nationalsozialismus erkennen, dass zu den einzelnen Hochschulstandorten nicht viele Arbeiten vorhanden sind und sich der Forschungsstand hier teilweise jeweils auf eine oder nur sehr wenige Studien beschränkt. Ausnahmen, wie die vergleichsweise intensiv untersuchte Jenaer Medizinische Fakultät, bestätigen hier eher die Regel. 123 Vgl. Wolfgang Woelk u. Frank Sparing, Forschungsergebnisse und -desiderate der deutschen Universitätsgeschichtsschreibung. Impulse einer Tagung, in: Karen Bayer u. a. (Hg.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 7–32, hier S. 8 sowie 21–23. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die Durchdringung der Hochschulen durch das NS -System war in struktureller, personeller und in weiten Teilen auch in ideologischer Hinsicht durchaus erfolgreich. Das Führerprinzip124 wurde an fast allen Universitäten etabliert und ebenso an den einzelnen Fakultäten im kleineren Rahmen praktiziert, wobei die medizinischen Organisationseinheiten hier besonders hervorstachen und teilweise zu Orten grausamer Verbrechen wurden.125 Gerade die Neustrukturierung von Instituten und Kliniken, ein Gebiet, auf dem sich Stich bereits vor 1933 bewährt hatte, machte manche Einrichtungen im Reich zu Kerneinrichtungen des nationalsozialistischen Regimes. Medizinische Fakultäten wurden zwar bereits vor 1939 zu »Gebrauchsfakultäten« des NS -Regimes, doch erst die Kriegsausrichtung führte hier zu ganz neuen Dimensionen und ließ die Universitäten neben den Kaiser-Wilhelm-Instituten und Forschungsanstalten der SS zu Kriegsforschungseinrichtungen werden. Die intensiv in die biologistisch-bevölkerungspolitischen und besonders im universitären Kontext später auch in kriegswirtschaftliche Interessen der Machthaber eingespannte Ärzteschaft schloss sich dabei insgesamt im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sehr früh und zahlreich den Nationalsozialisten an: Bis Januar 1933 waren sechs Prozent der Ärzteschaft der Partei beigetreten, bis 1942 sind es mit 38.000 knapp die Hälfte aller deutschen Mediziner gewesen.126 Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Neben allgemeinen Gründen wie Konformität oder der sich nach dem Ende der Weimarer Republik verbessernden wirtschaftlichen wie berufsperspektivischen Situation der Ärzte,127 die für Stich wohl weniger eine Rolle gespielt haben dürften, sind für Universitätsmediziner immer wieder spezifische, dem Hochschulwesen geschuldete Ursachen zu erkennen. War es bei Stich weniger allgemeiner Karrierismus, als das speziellere Bestreben, mehr Handlungsspielraum für den eigenen Wirkungsbereich zu erhalten oder insbesondere der Drang, den Führungsanspruch, den er in seinem Selbstverständnis als Erzieher für sich geltend machte, auch im Al124 Kater, Professoren und Studenten, S. 470. 125 Exemplarische Studien liegen vor für Jena, Freiburg, Heidelberg und andere. Hossfeld, Kämferische Wissenschaft; Bernd Grün u. a. (Hg.), Die Freiburger Medizinische Fakultät; Wolfgang Eckart u. a. (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006. 126 Siehe Michael Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, Hamburg 2000, S. 103–116; sowie Proctor, S. 68. 127 Kater geht detailliert auf die Entwicklung der beruflichen Lage und das Verhalten der Ärzteschaft seit 1933 ein; als Gründe für die frühen und vermehrten Parteimitgliedschaften von Akademikern allgemein gibt er an, sie hätten die Lage anders als die Masse der Bevölkerung eingeschätzt und seien von besonderen Interessen sowie beruflichen oder psychologischen Erwägungen geleitet gewesen. Siehe hierzu Kater, Ärzte als Hitlers Helfer, S. 41–116. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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ter noch erfolgreich zu realisieren. Dabei hatte er es im Gegensatz zu vielen jüngeren Kollegen gar nicht nötig, im Berufungsverfahren von den Säuberungen im Zuge des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (»Berufsbeamtengesetz«) zu profitieren. Während manche Kollegen Stichs, wie der deutschnationale Marburger Chirurg und Dekan ­Rudolf Klapp128, so kann man interpretieren, mit ihrer gesamten Fakultät förderndes Mitglied der SS wurde, um dem Einfluss der Partei durch vorauseilenden Gehorsam zu entgehen, tat Stich genau das Gegenteil und trat sämtlichen Gliederungen der Partei bei. Die Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten oppositionellen, desinteressierten oder konformen Verhaltens hatte für R ­ udolf Stich keine Gültigkeit. Er oszillierte zwischen engagiertem bis überzeugtem Verhalten – selbst ein gewisser, seiner Persönlichkeit eigentlich nicht immanenter Fanatismus tritt stellenweise zu Tage. Es gab Persönlichkeiten in Stichs Kollegenkreis, die äußerst facettenreich waren und tatsächliche oder nur vermeintliche Ambivalenzen erkennen lassen – partielle Anpassung bei massiver Verwicklung in verbrecherische Vorgänge konnte sich mit grundlegenden Animositäten gegenüber dem Regime mischen und zugleich offene Bekenntnisse zum NS -Staat entstehen lassen.129 Uneindeutigkeit bedeutet keine Schmälerung der Schuld, die Pole einer Handlungsskala werden auch hier definiert über die extremen Beispiele. Nur in Abgrenzung zu dem, was möglich war, lässt sich beurteilen, was üblich war. Und: Resistenz war durchaus möglich, auch wenn sie manchmal mit partieller Kollaboration verbunden war.130 Zwischen vierzig und fünfundfünfzig Prozent der deutschen Ärzte waren weder Mitglied in der NSDAP, noch in einer der ihr angeschlossenen Organisationen. Diese Mediziner mussten deswegen nicht automatisch mit Konsequenzen rechnen, noch waren ihre Karrierechancen dadurch unbedingt beschnitten, wie etwa der Fall des Gießener Orthopäden Peter Pitzen131 zeigt, welcher dennoch 1937 von einem Extraordinariat auf ein Ordinariat befördert wurde und

128 16.2.1873–15.2.1949, Chirurg, Habilitation in Greifswald, seit 1905 ao. Professor in Bonn, ab 1928 Lehrstuhl in Marburg, 1933–1939 Dekan der Medizinischen Fakultät, Förderndes Mitglied der SS, Mitglied im NS-Ärztebund und NS-Lehrerbund, Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, 1944 Emeritierung. 129 Wie grundsätzliche ideologische Konformität und auch Engagement im NS-Erbgesundheitswesen dennoch zu Brüchen in der Akzeptanz des Regimes führen konnte, lässt sich etwa am Beispiel des in Marburg tätigen Psychiaters Ernst Kretschmer veranschaulichen. Zu Kretschmer siehe Gerhard Aumüller u. a. (Hg.), Marburger Medizinische Fakultät im »Dritten Reich«, München 2001, S. 15–17. Zu Kretschmers Tätigkeiten als beratender Militärpsychiater des Sanitätswesens und als Beratender Psychiater im Zweiten Weltkrieg siehe zudem S. 596 f. sowie 599 f. 130 Schmuhl, Patientenmorde, S. 309 f. 131 Peter Pitzen, 22.6.1888–2.3.1977, Orthopäde, in Gießen und Münster als Professor tätig. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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1939 einen Ruf auf den Lehrstuhl in Münster erhielt.132 Oder, noch deutlicher: Der Freiburger Pädiater Carl T. Noeggerath133 lehnte die Einrichtung einer »Kinderfachabteilung«, in der Kinder »euthanasiert« werden sollten, ab, erfuhr jedoch keinerlei persönliche Repressalien.134 In Bonn konnte darüber hinaus 1943 erstmals seit 1935 ein Nichtnationalsozialist an die Medizinische Fakultät berufen werden.135 Das war möglich, obwohl Parteistellen, das Amt Rosenberg, Vertrauensdozenten und der Dozentenbundführer alles unternahmen, um eindeutig parteikonforme Kandidaten in Führungspositionen einzusetzen. Hierbei war dann weniger die wissenschaftliche Qualifikation, sondern vielmehr die politische und ideologische Zuverlässigkeit entscheidend, was ­Rudolf Stich zu Gute kam, denn Stich war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte. Sein Selbstverständnis, nicht nur der Führer seiner Studenten zu sein, sondern auch seine Klinik und die Fakultät zu führen, machte den Dekanatsposten wie geschaffen für ihn. Und die Fakultät dankte es ihm, so dass Stich, obwohl er die Altersgrenze doch deutlich überschritten hatte,136 bis 1945 Dekan bleiben konnte. Diesen Posten zu bekleiden, musste man ihn nicht lange bitten. 1940 schrieb Stich an den Rektor der Universität die kokettierenden Zeilen: »Ich werde, wenn die Georgia Augusta meine Mitarbeit noch brauchen kann, meinen schwachen Körper gerne noch einige Zeit zur Verfügung stellen.«137

Flankiert wurde diese Offerte von Bemühungen seines Freundes Gruber, der über den Kurator der Universität eine Anfrage beim Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung stellte, dass Stich noch nicht emeritiert werden könne, da er ein bedeutender Chirurg, »ein ausgezeichneter, unermüdlicher und fesselnder Lehrer« und als Dekan tätig sei. Gruber setzte sich 132 Volker Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus. Historische Kenntnisse und einige Implikationen, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 22. 133 Carl T. Noeggerath, 4.6.1876–4.6.1952, Ordinarius für Kinderheilkunde in Freiburg, 1945 Mitglied des fakultätseigenen Reinigungsausschusses, 1949 Emerietierung, 1951 Ehrenbürger von Freiburg. 134 Siehe Susanne Zimmermann, Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin 2000, S. 162. 135 Ralf Forsbach, Die Medizinische Fakultät in der NS-Zeit, in: Thomas Becker (Hg.), Zwischen Diktatur und Neubeginn. Die Universität Bonn im »Dritten Reich« und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, S.  139 f. sowie Hans-Paul Höpfner, Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft, Bonn 1999, S. 281 und 295 f. 136 Bis 1933 war die Altersgrenze 68 Jahre, ab 1935 65 Jahre. 137 27.7.1940 Dankesschreiben von Stich an Plischke (Rektor der Georgia Augusta) bzgl. der Glückwünsche zum 65. Geburtstag. Universitätsarchiv Göttingen, Rek Pa ­Rudolf Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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dafür ein, dass Stich gleich bis zum 68. Lebensjahr im Amt bleiben konnte138. Nach »wärmster Befürwortung«139 durch den Kurator wurde der Bitte stattgegeben.140 Zuvor hatten sich sowohl Gruber als auch Stich schriftlich bei dem gleichaltrigen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch141, der unter anderem Mitglied des Reichsforschungsrates142 war, erkundigt, welche Möglichkeiten es gäbe, damit Stich über die Altersgrenze hinaus der Fakultät erhalten bleiben könne. Offenbar waren die Ratschläge des Berliner Professors fruchtbar.143 Dabei war die Gesetzeslage eigentlich eindeutig: Beamte traten mit dem Ende des Monats in den Ruhestand, in dem sie das fünfundsechzigste Lebensjahr vollenden,144 nur dringende dienstliche Rücksichten der Verwaltung machen im Einzelfall die Fortführung der Dienstgeschäfte möglich, wenn die Reichsregierung dem zustimmt. Nach einer Gesetzesänderung im März 1939 hieß es: »An Stelle der Reichsregierung kann der zuständige Reichsminister im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers bei Beamten auf Lebenszeit oder auf Zeit nach § 68 Abs. 2 Satz 1 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. Januar 1937 den Eintritt in den Ruhestand über das fünfundsechzigste Lebensjahr ein oder mehrere Male, jedoch jeweils nicht länger als um ein Jahr und längstens bis zum 31. Dezember 1941 hinausschieben«.

Bei Stich wurde offenbar eine Ausnahme gemacht, obwohl man sich spätestens 1944 darum bemühte, über die »Entpflichtung überalterter Hochschullehrer«145 jüngere Kräfte an den Hochschulen zu etablieren. Warum war Stich von all diesen Maßnahmen nicht betroffen? Weil er als »Befehlsträger«146 der Nazis gut funktionierte, weil er außerordentliche Führungsqualitäten besaß oder weil die Situation es eben ermöglichte?

138 139 140 141

Universitätsarchiv Göttingen, PA Stich. Universitätsarchiv Göttingen, Rek PA Stich. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Stich Sig Kur. PA Stich, Bl. 182, 183, 186, 187. Ernst Ferdinand Sauerbruch (3.7.1875–2.7.1951), ab 1910 Professor für Chirurgie in Zürich, danach in München und von 1928 bis 1949 an der Berliner Charité. Einer der bedeutendsten und einflussreichsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts. 142 Der Reichsforschungsrat unterstützte unter anderem die »medizinischen Forschungen« in den Konzentrationslagern. 143 Vgl. hierzu Gruber an Sauerbruch am 23.5.1940; Sauerbruch an Gruber am 1.7.1940, Teilnachlass Georg Benno Gruber, SUB Acc.Mss.1884.20, MS 1945, 1. 144 Deutsches Beamtengesetz vom 26.1.1937 – geändert durch Gesetz vom 25. März 1939 § 38 (1). 145 Rundbrief des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 17.10.1944 an die Dekane der Medizinischen Fakultäten im Reich, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. 146 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2010 (1. Auflage 1964), S. 101. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich

Vielleicht hatte R ­ udolf Stich 1944 gespürt, dass die Zeiten sich bald ändern würden, jedenfalls vertraute er ein halbes Jahr vor Kriegsende erstmals seinem Schüler Bauer an: »Wenn es vielleicht auch noch nicht unmittelbar notwendig wäre, mich mit dem Gedanken an meinen Rücktritt zu tragen, so möchte ich doch gerne für alle Fälle gerüstet sein. Ich bitte dich deshalb, mich bei der Suche nach einem für den Göttinger chirurgischen Lehrstuhl passenden Nachfolger zu unterstützen. Unser Rektor und andere mehr oder weniger offizielle Stellen versichern mir zwar immer wieder, dass man meinen Abgang z.Zt. auch in Berlin nicht wünsche, aber diese Ansicht kann sich ja eines Tages schnell ändern. Wenn ich auch selbst vom 70. Lebensjahr, in dem ich schließlich stehe, nicht viel merke, ist es immer richtiger, man sorgt vor. Da ich immer noch – sehr gegen meinen Willen – auf Wunsch des jetzigen Rektors (Euer früherer Breslauer Altphilologe Drescher) wie seiner beiden Vorgänger und der eigenen Fakultät Dekan bin, jetzt im 6. Jahr, möchte ich zunächst auch nicht gern andere damit beauftragen, Vorarbeiten dazu aufzunehmen. Das sähe dann so aus, als wollte ich von meiner Seite aus nicht mehr mitmachen. […] Ich bin nach wie vor gehörig in die Arbeit eingespannt, und das ist in der heutigen Zeit das Beste, was einem geschehen kann.«147

Obwohl Stich politisch gewünscht war, hatte er Angst, den Eindruck zu erwecken, er mache nicht mehr mit. Das Amt als Dekan wurde ihm zur Last, die chirurgische Klinik hingegen nicht. Es drängt sich förmlich der Eindruck auf, dass Stich, mit einem hier ausnahmsweise realistischen Gespür für die bevorstehende Veränderung der politischen Position, versuchte, jene Ämter abzu­geben, die  – falls der Krieg verloren gehen sollte  – ein Pulverfass für ihn bedeuten könnten. So trifft er mithilfe seines Freundes klammheimliche Vorbereitungen, ohne jedoch bei den noch Herrschenden in Ungnade zu fallen. Sein Alter nannte er selbst dezidiert nicht als Grund für seine Bemühungen, obwohl er bereits im Jahr 1940 Urlaub beantragt hatte, da ihm die hohe Arbeitsbelastung als Direktor der Chirurgischen Klinik, als Leiter der Krankenpflegeschule, als Dekan und Beratender Chirurg stark schade und er unter Schlaflosigkeit leide.148 Im August 1944 machte er erneut Erholungsurlaub, um dann anschließend obigen Brief an Bauer zu schreiben und auch seinen Schüler Könnecke in Oldenburg einzuweihen, dass er möglicherweise nicht mehr lange Dekan sein werde. Er sei es im fünften Jahr, »etwas gegen meinen Wunsch«149. Zwei Monate später dementierte er Rücktrittsgerüchte, da er einen Rücktritt als Fahnenflucht empfand.150 Ein Dekan, der unter Bewilligung so vieler Ausnahmen, an147 Brief von Stich an Bauer vom 12.11.1944, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 148 Schreiben Stichs vom 18.3.1940, Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorialakten PA Stich, Blatt 180. 149 Stich an Könnecke am 3.7.1944, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 13. 150 2.9.1944, Universitätsarchiv Göttingen, PA Stich, Blatt 202. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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geblich gegen seinen Wunsch, während der Hochphase des Nationalsozialismus im Amt blieb, war wohl entweder zum Führen prädestiniert oder in Berlin politisch sehr gewünscht – oder beides. Die Medizinische Fakultät der Georg-August-Universität im Dritten Reich151 war eingebunden in das auch an Hochschulen praktizierte »Führerprinzip«. Gemäß der Universitätsverfassung seit 1933152 bestand der Senat der Universität aus den vom Rektor ernannten Dekanen, aus einem Ordinarius für jede Fakultät (der vom Dekan ernannt wurde), aus dem Führer der nationalsozialistischen Dozentenschaft, zwei von diesem ernannten Dozenten und dem Leiter des SA-Hochschulamtes. Der Senat durfte jedoch keine Beschlüsse fassen, sondern wurde vom Rektor nur angehört. Dass die Medizinische Fakultät und gerade auch die Stich nahestehenden Persönlichkeiten durchaus dem Nationalsozialismus zugeneigt waren und ein enges personelles Netz bestand, zeigt auch die Verbundenheit von Georg Benno Gruber zu dem Mediziner Ludolf Haase153, der die Ortsgruppe Göttingen der NSDAP gegründet hatte, dessen Dissertation er mit »sehr gut« bewertete und ihm zu diesem Anlass schrieb: »Der Dank an Adolf Hitler läßt sich noch weniger ausmessen, als die Räume im Osten, die nun von unseren Soldaten in solch erstaunlich kurzer Zeit eingenommen worden sind.«154

151 Hierfür steht ausreichend Literatur zur Verfügung, wie das Standardwerk Heinrich Becker u. a. (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München 1998. Darin besonders: Ulrich Beushausen u. a., Die medizinische Fakultät im Dritten Reich, S.  183–286. Oder: Cordula Tollmien, Nationalsozialismus in Göttingen (­1933–1945). Aber z. B. auch Volker Zimmermann, »Eine medicinische Fakultät in Flor bringen«. R ­ udolf Stich kommt in diesen Darstellungen allerdings nur am Rande vor. Oder Ders., Medizin in einer Universitätsstadt, in: Hannes Friedrich u. Wolfgang Matzow (Hg.), Dienstbare Medizin. Ärzte betrachten ihr Fach im Nationalsozialismus, Göttingen 1992, S. 61–87. Und: Michael H. Kater, Die unbewältigte Medizingeschichte. Beiträge zur NS-Zeit aus Marburg, Tübingen und Göttingen, in: Historische Zeitschrift 257 (1993), S. 401–416. Außerdem wurden Artikel des Göttinger Tageblattes aus­ gewertet, um sich einen zeitgenössischen Eindruck zu verschaffen, z. B. o. A., Die Umgestaltung der Universität, in: Göttinger Tageblatt, 22.6.1933. Auch für den Vergleich mit der Situation an anderen Universitäten und weiteren Medizinern kann auf ausreichend Forschungsliteratur zurückgegriffen werden. 152 Vgl. Hartmut Brookmann, Die Verfassung der Georg-August-Universität von den Anfängen bis 1968, in: Hans-Günther Schlotter (Hg.), Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994, S. 11–24. 153 Ludolf Haase, 6.1.1898–3.10.1972, Mediziner, 1922 Gründer der Göttinger NSDAPOrtsgruppe, NSDAP-Gauleiter Braunschweig-Südhannover von 1925 bis 1928, nach 1933 Rückzug aus der Parteiarbeit, ab 1939 im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft tätig, 1941 Promotion an der Göttinger Medizinischen Fakultät über Missbildungen (in der Dissertationsschrift sind Forderungen zur Zwangssterilisation enthalten). 154 Zitiert nach Beushausen, S. 258. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich

Vor 1933 gehörte die Medizinische Fakultät in Göttingen eher zu den kleineren Einrichtungen und mit ihrer mittlerweile veralteten Bausubstanz und mangelhaften Ausstattung weder für Studenten noch für ehrgeizige Hochschullehrer besonders attraktiv.155 Nachdem die bis dato durchaus vorhandenen liberalen Kräfte an der Fakultät bereits in den 1920er Jahren schwächer geworden waren156, traten Stichs Schüler Blume157 und Wehefritz158 in der Zeit des NS immer mehr als dominierende politische Akteure der Fakultät hervor,159 während Stich weiterhin in den Verwaltungsrat des Universitätsbundes gewählt wurde. In einer Rede anlässlich des 100. Semesters der befreundeten Kollegen von Hippel160, Reichenbach161 und Schultze vom 25. Februar 1934 tat sich auch Stich mit seiner politischen Überzeugung hervor und stilisierte sich als Angehöriger der älteren Generation, der den Neuanfang glücklicherweise noch erleben dürfe. »Wir wollen an einem Tage wie dem heutigen nicht dunkle Wolken vorbeiziehen lassen. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht herrlich, daß unsere grauen Köpfe es noch miterleben dürfen, wie unser zusammengebrochenes Vaterland beginnt, sich wieder zu erheben. Und wenn wir Älteren auch nicht mit dem Schwung der Jugend zu allem gleich jubelnd Ja sagen können, was wir heute miterleben, sagen Sie selbst, wollten Sie zurück in jenen Defaitismus der vergangenen Jahre, der uns so lange am Wiederaufstieg hinderte, in jene rote Flut vor 15 Jahren, in der wir zu ersticken drohten? Auch der unkritische Jüngling erwartet nicht, daß das stolze Reich, das dem klaren Geist unseres von edlen Idealen durchdrungenen Reichskanzlers vorschwebt, von heute auf morgen geschaffen sein wird. Aber ist es nicht trotzdem etwas Herrliches für unsere ältere Generation, daß wir überhaupt wieder Hoffnungen hegen dürfen, wenn nicht mehr für uns, dann für unsere Kinder?! Und deswegen lassen Sie uns den heutigen 155 Beushausen u. a., S. 185. 156 Ebd., S. 186. 157 Werner Blume, 19.1.1887–21.10.1965, Anatom, seit 1928 NSDAP-Mitglied, Führer der Dozentenschaft und des NS-Dozentenbundes der Universität Göttingen, Mitglied im NS-Ärztebund, ab 1938 ao. und seit 1939 apl. Professor in Göttingen, Entlassung 1945. 158 Emil Wehefritz, 3.6.1892–?, seit 1933 Mitglied der NSDAP, stellvertretender Führer des NS-Dozentenbundes, in Mainz für zahlreiche Zwangssterilisationen verantwortlich, seit 1939 ao. Professor in Frankfurt. 159 Ebd., S.  195. Die Akten von Dozentenschaft und NS-Dozentenbund wurden gegen Kriegsende vernichtet. 160 Eugen von Hippel, 3.8.1867–5.9.1939, Augenarzt, Promotion in Göttingen, Habilitation in Heidelberg, ab 1909 Lehrstuhl für Augenheilkunde in Halle, 1914 Übernahme des Lehrstuhls für Augenheilkunde von seinem Vater Arthur von Hippel in Göttingen. 161 Hans Reichenbach, 30.11.1863–18.1.1937, Hygieniker, Studium in Göttingen, 1898 Habilitation in Göttingen, 1903 Verleihung des Professorentitels und Leitung des Göttinger Hygieneinstituts, ab 1911 ordentlicher Professor, 1918/19 Rektor der Georgia Augusta, 1933 Emeritierung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abend als einen Abend erleben, an dem wir uns freimachen von unfruchtbarer Schwarzseherei und lassen Sie uns die Erinnerungen an eine schöne freie Jugendzeit und die Hoffnung auf eine schöne freie Zukunft pflegen!«162

­ udolf Stich nahm allerdings keineswegs eine so passive, vermeintlich seinem R Alter entsprechende Rolle ein in dieser »neuen Zeit«, sondern gestaltete sie aktiv und voller Überzeugung mit. Er agierte als Vertreter der Universität in andere Gemeinschaften hinein; so hielt er zum Beispiel mehrfach Vorträge vor der Landesbauernschaft auf den so genannten Bauernhochschultagen163. Diese nicht selten durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie geprägten Reden wurden abgehalten, um eine »nähere Verbindung der Universität Göttingen mit dem niedersächsischen Landvolk herzustellen, das bislang nur verhältnismäßig wenig von seiner Universität gehört hat und weiß«.

So erhielt die Landbevölkerung Einblick in den Wissenschaftsbetrieb, umgekehrt sind die »Veranstaltungen […] aber auch wertvoll für die Universität, die ja bekanntlich dem Leben dienen soll.« Und so referierte die Medizinische Fakultät zur ländlichen Gesundheitspflege, zur Gesunderhaltung der Landfrau und zur gesunden Kinderaufzucht. Um diesen Austausch auch wirklich authentisch zu gestalten, sollen die Referenten bei Bauern untergebracht werden, »damit auf diese Weise eine rege Fühlung zum Lande hergestellt wird.« Doch nicht nur die Professoren selbst, sondern auch ihre Ehefrauen sollten an den Veranstaltungen teilnehmen. Das ging Stich dann aber doch ein wenig zu weit, so dass er im Vorfeld den Organisator bat, in einem Hotel wohnen zu dürfen164 – das Honorar für seinen Vortrag vor der Landesbauernschaft sollte an die Stich-Stiftung gehen, denn Stich habe niemals für seine Vorträge »Honorare beansprucht«. Damit war er nicht nur einer der wenigen, der auf einer Unterbringung im Hotel bestand, sondern auch in der privilegierten Situation, auf das Honorar zu verzichten, nachdem wiederum andere explizit nach dessen Höhe gefragt und eine Zusage daran gekoppelt hatten. Dabei mutete sein Wunsch nach einem Hotel durchaus merkwürdig an und wurde auch dementsprechend kommentiert: »[…] Was nun die Unterkunft anlangt, so wird Ihr Wunsch selbstverständlich erfüllt werden. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Unterkunft auf einem Bauernhofe nicht so sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, allerdings weiß ich auch 162 Ansprache: Zum 100. Semester der Freunde v. Hippel, Reichenbach, Schultze. Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. R. Stich, 12. 163 Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. W. Seedorf: Nachlass Seedorf, C 5 Bauern­ hochschultage in Uelzen. 164 Brief von Stich an Seedorf am 31.1.1944, Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. W. Seedorf: Nachlass Seedorf. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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noch nicht, welche Bauernhöfe dafür in Aussicht genommen sind. Aber es bleibt ja noch genügend Zeit sich endgültig darüber zu entscheiden. Ich nehme mit Bestimmtheit an, dass man von den Bauern vom Bauernhof abgeholt würde.«165

Das Ende vom Lied war, dass Stich bei einem befreundeten Arzt unterkam und so weder auf einem Bauernhof übernachten musste, noch die Irritation der Kollegen weiter auf sich zog. Die Teilnahme an diesen Tagen war für die Profes­ soren freiwillig, für ­Rudolf Stich jedoch Ehrensache, der sich 1944 gleich für zwei Vorträge meldete, während sich seine Kollegen deutlich weniger kooperativ verhielten, so dass der Organisator Seedorf klagte: »Ich hatte es mir auch leichter vorgestellt unter einigen hundert Dozenten wenigstens 9 oder 10 zu finden, mit denen Abmachungen auf Anhieb gelingen würden. Das war aber nicht der Fall.«166

Während des Krieges sorgte Stich als Dekan ansonsten vor allem dafür, dass die Universität auch ihren praktischen Beitrag an der Heimatfront leistete. Er gab Auskunft, welche »kriegswichtige Forschung« betrieben wurde und trieb diese selbst voran, er stellte die Betten der chirurgischen Klinik als Reservelazarett zur Verfügung und hielt im Verbund mit seinen Kollegen Lehrveranstaltungen zur Kriegsmedizin.167 Der Einzugsbereich der Göttinger Klinik wurde aufgrund der vielen Kranken und Verletzten massiv ausgeweitet, wodurch es schnell zu einem Problem bei der vorgeschriebenen Trennung von deutschen und ausländischen Patienten kam. Auch deswegen wurde eine so genannte »Ausländerbaracke« gebaut.168 Doch nicht nur ausländische Kranke mussten in den Göttinger Kliniken versorgt werden, mit zunehmender Kriegsdauer wurden auch Zwangsarbeiter zur Aufrechterhaltung des Betriebes in nahezu allen Göttinger Kliniken eingesetzt. Sie wurden möglichst kliniknah in kleineren Baracken untergebracht. Auch westeuropäische Studenten, beispielsweise aus Frankreich, leisteten hier Zwangsarbeit und lebten unter ärmlichsten Verhältnissen in den Behelfsunterkünften, die »oft nicht einmal den erforderlichen Luftraum pro Person enthielten. Bei Fliegeralarm durften Zwangsarbeitende überdies erst als letzte oder überhaupt nicht in die knappen Schutzräume.«169 165 Seedorf an Stich am 4.2.44, ebd. 166 Brief von Seedorf an Probst am 17.1.1944, ebd. 167 Die Professoren Deuticke, Ewald, Frey, Krantz, Nordmann, Schoen, Schütz und Stich hielten Lehrveranstaltungen zur Kriegsmedizin, vgl. Konrad Obermann, Ärzte, Alltagsund Universitätsmedizin in Göttingen 1933–1945, Göttingen 1990. 168 Unter anderem Vermerk des Kurators vom 5.8.1942. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Ordner 8, Dekanat Professor Stich 1940–1945. 169 Andreas Frewer u. a., Hilfskräfte, Hausschwangere, Untersuchungsobjekte. Der Umgang mit Zwangsarbeitenden in der Universitätsfrauenklinik Göttingen, in: Andreas © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Einer der ausländischen Studenten infizierte sich während seiner Tätigkeit als Zwangsarbeitender in den Kliniken mit Hepatitis und starb längere Zeit nach seiner Rückkehr nach Frankreich an den Folgen. Die Zwangsarbeiter, die auch verharmlosend »Ostarbeiter« genannt wurden, gaben des Öfteren Grund zum Ärger. So beschwert sich der Physiologe Hermann Rein bei Stich: »Die Hunde und Katzen werden heutzutage von Ostarbeitern usw. verzehrt und nicht mehr als Versuchstiere verkauft«.170

Wie tief nicht nur die Fremdenfeindlichkeit, sondern auch der Antisemitismus im medizinischen Stand teilweise bis in jüngere Zeit verwurzelt ist, zeigen Reaktionen auf eine Artikelserie im Deutschen Ärzteblatt, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigte und auf die in Leserbriefen zum Teil die gleichen Entschuldigungsversuche für antisemitisches Verhalten vorgebracht wurden, wie damals. Die Meinung, es habe zu viele Juden unter den Medizinern gegeben, offenbart »in erschreckender Weise die alten Vorurteilsstrukturen«171. Bereits bevor Stich Dekan wurde, meldete sich ein jüdischer Mediziner bei der Fakultät, um sich seinen Doktortitel bestätigen zu lassen, weil »der Jude vielleicht kommendes Unheil ahnte und sich wohl nur noch schnell eine Bestätigung vom jetzigen Deutschland beschaffen wollte,«172 schrieb Stichs Vorgänger, Walther Krantz173, 1938. Bekannt ist der Fall des Assistenzarztes Hans Streckfuß, der nach Inkrafttreten des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im April 1933 entlassen wurde, da seine Großmutter Jüdin gewesen sein soll.174 Die Tatsache, dass hier ein Verwandter zwei Generationen zurück ausschlaggebend war, zeigt eine sehr strenge Auslegung des Gesetzes. Im Februar 1944 musste Stich auf Anfrage des Rektors der Universität Auskunft geben über »im Ausland befindliche deutsche Wissenschaftler sowie über die früher an deutschen Hochschulen tätig gewesenen Juden, Mischlinge und Emigranten«. Frewer u. Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von Ausländern im Gesundheitswesen, Frankfurt a. M. 2004, S. 344. 170 Schreiben von Hermann Rein an Stich, 1943, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 12.  171 Bleker, S. 180. 172 Universitätsrat an die Dekane am 2.12.1938.Universitätsarchiv Göttingen, Verschiedenes und Dekanat 1935–1939, Med. 234. 173 Walther Krantz, 28.9.1881–27.11.1970, Dermatologe, seit 1925 Privatdozent, 1931–1935 Oberarzt an der Hautklinik und ao. Professor an der Universität Köln; 1935–1945 ordentlicher Professor in Göttingen, 1937–1939 Dekan der Medizinischen Fakultät, Mitglied der SA, NS-Lehrerbundes, des NS-Dozentenbundes, seit 1935 des NS-Ärztebundes, seit 1939 des Reichsluftschutzbundes, des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland, 1945 Entlassung, schließlich 1954 Emeritierung als ordentlicher Professor. 174 Stroeve, S. 35 f. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Stich nannte vier ehemalige Mitglieder der Fakultät, unter ihnen ist auch Dr. Hans Handovsky175, der ebenfalls aus der Universität gedrängt wurde. Stich notierte: »Nicht beamteter außerordentlicher Prof. Dr. Hans Handovsky, Volljude. Höchst unerfreuliche Persönlichkeit.«

Er sei jedoch »im Jahre 1934 auf eigenen Antrag vor Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes freiwillig aus dem Staatsdienst ausgeschieden und hat auf seine Lehrbefugnis in der hiesigen Hochschule verzichtet. Er hat keine Berechtigung zur Weiterführung der Bezeichnung: nichtbeamteter außerordentlicher Professor.«176

Das »freiwillige Ausscheiden« ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bis Herbst 1934 alle jüdischen Dozenten aus der Medizinischen Fakultät vertrieben waren (mit Ausnahme des Leiters der Frauenklinik Martius und des protegierten Ehrenberg177), noch bevor 1935 das Reichsbürgergesetz in Kraft trat, wohl eher als Resultat des vorauseilenden Gehorsams der Fakultät bzw. des großen Drucks, welchem sich die Betroffenen ausgesetzt sahen, denn als ein freiwilliger Akt zu interpretieren. Einige Monate später muss Stich erneut Stellung nehmen, da ihn der Reichsdozentenführer aufforderte, folgende Aussage zu kommentieren: »Hochschule und Judentum. Wir haben zwar die Juden entfernt, haben aber in vielen Fällen den Judengeist erhalten.« Stich reagierte äußerst scharf und empört auf diese Unterstellung, die er als vollkommen ungerechtfertigt empfand: »Für die mir anvertraute Fakultät muß ich es auf das entschiedenste und schärfste ablehnen, daß in unseren Reihen ›in vielen Fällen der Judengeist noch erhalten‹ sei. Sollte dieser Satz auf die medizinische Fakultät gemünzt sein, müßte ich das als eine ganz große Beleidigung ansehen. Und so bitte ich Eure Magnifizenz, wenn diese Ablehnung, wie ich hoffe, auch für die anderen Fakultäten unserer Hochschule berechtigt ist, bei der Reichsdozentenführung Verwahrung gegen solche ganz allgemein

175 Hans Handovsky, 18.5.1888–11.11.1959, Medizinstudium in Wien, Sanitätsoffizier an der Front im Ersten Weltkrieg, seit 1920 in Göttingen, seit 1926 ao. Professor für Pharmakologie und Toxokologie in Göttingen, Entzug der Lehrbefugnis 1933, Emigration nach Belgien, 1950 Rückkehr nach Göttingen. 176 Antwort am 22.3.1944. Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8, Dekanat Professor Stich 1940–1945. 177 ­Rudolf Ehrenberg, 9.11.1884–15.5.1969, Physiologe, Promotion und Habilitation in Göttingen, seit 1911 Assistent und später Oberassistent am Physiologischen Institut, seit 1921 ao. Professor, Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, 1937 Lehrverbot aufgrund seiner jüdischen Abstammung, Zwangsarbeit, ordentliche Professur in Göttingen ab 1953. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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gehaltenen Sätze einzulegen, die sich geradezu wie Vorwürfe lesen und in unserem Fall wahrlich nicht zutreffen.«178

Ganz besonders tritt die Betonung rassischer Ideologie jedoch in dem Bemühen Stichs und anderer hervor, einen Lehrstuhl für Rassenhygiene in Göttingen zu etablieren. Hier zeigt sich, dass der Nationalsozialismus Stichs durchaus keine Privatmeinung war, sondern dass er seine Ämter und Positionen dafür nutze, die Ideen und Ziele des Nationalsozialismus auch umzusetzen. Um der steigenden Nachfrage nach Instituten für Rassenhygiene und Erblehre in Deutschland gerecht zu werden, hatte die Universität in der Zeit zwischen 1922 bis 1945 vergeblich versucht, einen Lehrstuhl für Rassenhygiene einzurichten.179 Insofern verfolgte Stich das Ziel seiner Vorgänger im Amt des Dekans, dem Bedarf an rassenhygienischer Expertise mit einer ordentlichen Professur zu begegnen. Ein Bewerber auf diesen Lehrstuhl war Karl Saller180, der seit 1929, nachdem er Medizin und Anthropologie studiert und am Anthro­ pologischen Institut der Universität München promoviert hatte, am Anatomi­ schen Institut der Georgia Augusta tätig war. Nachdem 1931 ein Antrag für einen Lehrauftrag für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik wegen fehlender Mittel von der Fakultät zurückgewiesen worden war, unternahm Saller im Mai 1933 mit Unterstützung des Anatomen Prof. Hugo Fuchs181 einen weiteren Versuch diese Stelle zu erhalten.182 Allerdings war Saller auf Grund seiner fachlichen Meinung zum »Rassenkonzept« ins Visier der Nationalsozialisten geraten, denn dieser vertrat eine Auffassung von »Rasse«, die der staatsnahen »Rassenideologie« nicht gänzlich, aber dennoch störend entgegen lief: Für ihn war »Rasse« nicht ausschließlich ein im Erbgut verankertes menschliches Merkmal, sondern ein Konglomerat aus erblicher Anlage und Umweltbedingungen, welche sich auf den menschlichen Organismus auswirkten.183 Im Gegensatz zu der Vorstellung, »Rasse« sei eine klar definierte, unveränderbare

178 Antwort Stich am 21.9.1944, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. 179 Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 9.  180 Karl Saller, 3.9.1902–15.10.1969, Privatdozent der Anatomie in Göttingen, nach 1935 Entzug der Lehrbefugnis, dann Leiter eines Privatsanatoriums, nach 1945 Direktor des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart, 1948–1969 Professor und Leiter des Instituts für Anthropologie und Humangenetik an der Universität München. 181 Hugo Fuchs, 24.12.1875–8.10.1954, Anatom, ab 1919 Lehrstuhlinhaber in Göttingen, 1933 Eintritt in die NSDAP und Unterzeichner des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und zum nationalsozialistischen Staat, 1941 Emeritierung. 182 Obermann, S. 37. 183 Andreas Lüddecke, Der ›Fall Saller‹ und die Rassenhygiene: eine Göttinger Studie zu den Widersprüchen sozialbiologistischer Ideologiebildung, Göttingen 1995, S. 57. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Größe wie sie Hans Friedrich Günther184, Eugen Fischer185 und auch Fritz Lenz vertraten, ging Saller davon aus, dass »Rassen« sich auch weiter entwickelten, weshalb er auch die Mischung von »Rassen« positiv bewertete.186 Daher kritisierte Saller in den Jahren vor der Machtergreifung regelmäßig offen Lenz’ Arbeiten und stand besonders konträr zu Günthers Ansichten, die allerdings beide hohes Ansehen bei den Nationalsozialisten genossen. Der Antrag Sallers wurde deshalb zunächst von der Fakultät zurückgestellt, jedoch erübrigte sich die Frage, als das preußische Innenministerium Saller ein absolutes Redeverbot bei öffentlichen Vorträgen und Veranstaltungen erteilte, da er in der Position eines akademischen Lehrers verfälschte »Rassevorstellungen« verbreiten könne.187 Seine Position war außerdem durch mehrere Denunzianten aus dem Göttinger Umfeld, die teilweise Mitglieder der NSDAP waren, verschlechtert worden.188 Saller soll sich in Briefen vor 1933 wiederholt abfällig über Hitler geäußert haben, weil er mit dessen »Rassenvorstellung« nicht konform ging.189 1935 wurde ihm daher die Lehrbefugnis entzogen. Nichtsdestotrotz ist Sallers Position im Nationalsozialismus nicht unumstritten, denn als ihm 1933 die NSKK-Mitgliedschaft versagt wurde, bemühte er sich mit Hilfe des Zuspruchs eines befreundeten Parteimitglieds um Aufnahme, die jedoch abgelehnt worden war.190 In den folgenden Jahren passte er seine Arbeit dem nationalsozialistischen Vokabular an und begrüßte auch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, was er in der Rückschau als Notwendigkeit für seine Existenz bezeichnete.191 Auch der preußische Wissenschaftsminister sah die Erforderlichkeit eines Lehrstuhls für Rassenhygiene 1934 gegeben, allerdings konnte die Fakultät 184 Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968) war Eugeniker und Rassentheoretiker, der maßgeblich die nationalsozialistische Rassenideologie mitgeprägt hatte, insbesondere den Gedanken von der »nordischen Rasse« als am höchsten entwickelter und gleichzeitig am stärksten gefährdeter »Rasse«. 1932 trat er der NSDAP bei. 1935 erhielt er eine ordentliche Professur für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie an der Universität Berlin. Er wurde später im Entnazifizierungsverfahren als »Mitläufer« eingestuft und publizierte auch nach 1954 weiterhin Texte zur Eugenik. 185 Eugen Fischer (1874–1967) war Mediziner, Anthropologe und Rassenhygieniker. Zwischen 1912 und 1942 war er Lehrstuhlinhaber für Anthropologie und zwischen 1927 und 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erb­ lehre und Eugenik in Berlin. Gemeinsam mit Erwin Baur und Fritz Lenz veröffentlichte er ein Grundlagenwerk der Anthropologie zur menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenbiologie. Nach 1945 wurde er weiterhin als führender Wissenschaftler der Anthro­ pologie geachtet. 186 Lüddecke, S. 64 ff. 187 Ebd., S. 86–89. 188 Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen Karl Saller (ehem. BDC). 189 Obermann, S. 40. 190 Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen Karl Saller (ehem. BDC). 191 Obermann, S. 44. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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wegen der hohen Konjunktur des Faches nun keinen Kandidaten finden, der wissenschaftlich versiert und gleichzeitig politisch tragbar war. Infolgedessen wurde die Lehrtätigkeit im Bereich Rassenhygiene auf unterschiedliche Professoren der Medizin, darunter Professor Ewald und Professor Gruber, aufgeteilt.192 Als Dekan der Medizinischen Fakultät argumentierte Stich ab 1939 verstärkt für die Notwendigkeit eines Lehrstuhls für Rassenhygiene, was vermutlich nicht zuletzt damit zusammenhing, dass die Bestallungsordnung für Ärzte von 1936 vorschrieb, dass die Vererbungslehre in jedem Fach mit thematisiert und abgeprüft werden sollte. Außerdem wurde das Fach Rassenhygiene offiziell zum Prüfungsfach erhoben.193 Für Stich als Verantwortlichen für die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses musste es ein besonderes Anliegen gewesen sein, eine ordentliche Professur für Erblehre und Rassenhygiene auch in Göttingen einzurichten, um eine kontinuierliche Linie in der Lehre zu gewährleisten. Doch auch dieses Mal schien kein geeigneter Kandidat zur Verfügung zu stehen, denn noch bis 1941 beschäftigte sich der Fakultätsausschuss mit der Personalfrage.194 Stich brachte einen Vorschlag für die Besetzung des Lehrstuhls ein und entschied sich dabei für den Schüler von Fischer und Lenz, Engelhardt Bühler.195 Bühler war das, was man als strammen Nationalsozialisten bezeichnen würde, der bereits 1932 der Partei beigetreten und ebenso Mitglied der SA und SS war. Am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie erstellte er als Blutgruppenspezialist Gutachten für das Erbgesundheitsgericht und lehrte zudem an der Deutschen Hochschule für Politik, die dem Reichspropagandaminister unterstellt war.196 Der Fakultätssauschuss entschied sich schließlich für Günther Just197, der vom Ministerium vorgeschlagen worden war. Man wollte trotz des Krieges die Besetzung durchsetzen, was allerdings vom Ministerium 1942 ab­gelehnt wurde.198 Stich bemühte sich in den folgenden Jahren mit Nachdruck um den Lehrstuhl, indem er immer wieder auf seine Notwendigkeit hinwies und 1942 192 Beushausen, S. 204. 193 Obermann, S. 42. 194 Universitätsarchiv Göttingen, Protokollbuch der Medizinischen Fakultät Göttingen Sitzungen vom 27.7.1939–29.5.1941. 195 Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Just, Kur. PA Just. Engelhardt Bühler, geboren 1908, Blutgruppenspezialist, Wissenschaftler am KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, seit 1932 Mitglied der NSDAP, Beteiligt an der Sterilisierung der so genannten »Rheinlandbastarde«. 196 Hans-Walter Schmuhl, Das Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 215, 266. 197 Günther Just, 3.1.1892–30.8.1950, Zoologe, seit 1921 am KWI für Biologie, ab 1933 Direktor des Instituts für Vererbungswissenschaften der Universität Greifswald, seit 1933 Mitglied der NSDAP, Mitarbeiter im Rassenpolitischen Amt, Leiter der Erbbiologischen Abteilung des Reichsgesundheitsamtes, seit 1948 Ordinarius für Anthropologie in Tübingen. 198 Protokollbuch der Medizinischen Fakultät Göttingen 29.5.1941, 21.10.1941, 25.2.1942. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sogar den Vorschlag unterbreitete den Lehrstuhl auf »Rassenhygiene und Siedlungsbiologie« zu erweitern.199 Der Prodekan Gruber schrieb hierzu an das Rektorat und Kuratorium der Universität: »Die neuen Aufgaben den reichsweiten östlichen Raum mit lebenstüchtigen Menschen namentlich mit deutschen Bauern zu besiedeln stellt große bevölkerungspolitische Aufgaben nicht nur im Augenblick, sondern auf Jahre hinaus. Bevölkerungspolitische Überlegungen und Notwendigkeiten sind aber im wesentlichen auf der Auswirkung der Erbverhältnisse aufzubauen. Bei allem Siedeln bedarf es erbtüchtiger Menschen, ein Problem, das gerade im Rahmen des Nährstandes und des bäuerlichen Nachwuchses von größter Bedeutung ist. Die Erbwissenschaft wird in ihren praktischen Richtlinien sich auch mit diesem Problem im Rahmen der Ostsiedlung zu befassen haben.«200

Obwohl sich Stich als Dekan an den Regierungspräsidenten wandte, kam es erst nach dem Krieg zur Errichtung einer Professur für menschliche Erblehre, um die sich auch Saller wieder bewarb. Sallers Ambitionen in Göttingen nach dem Krieg eine Professur zu erhalten, waren auch durch seine persönliche Verbitterung über die Umstände seines Lehrverbots überschattet, so dass er von einem »unwürdigen und unfairen Spiel in Göttingen« sprach.201 Er wurde zwar durch die Universität wissenschaftlich rehabilitiert, aber den Lehrstuhl erhielt er mit der Begründung nicht, er habe die letzten Jahren nicht mehr auf dem Gebiet der Erblehre gearbeitet (inzwischen war er Leiter der homöopathischen RobertBosch-Klinik in Stuttgart). Dass der Lehrstuhl stattdessen 1946 mit Fritz Lenz besetzt wurde, der zu den führenden Rassenhygienikern Deutschlands unter dem nationalsozialistischen Regime gezählt hatte, erscheint nach Kriegsende als besonders drastische Entscheidung. Als Anhänger der »Eugen-Fischer«-Linie der Rassenhygiene stellte er seine wissenschaftlichen Tätigkeiten in den Dienst der nationalsozialistischen Rassenideologie, ohne dabei von seiner eigenen Position abrücken zu müssen.202 Vielmehr sah Lenz schon vor der Machtübernahme die Nationalsozialisten als die einzige Partei an, die in der Lage wäre, eugenische Maßnahmen staatlich zu implementieren und voranzubringen. Unter den Nationalsozialisten betätigte sich Lenz am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie und in beratender Funktion in dem 1933 gegründeten Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, übernahm Gutachtertätigkeiten für das Erbgesundheitsgericht und lehrte für das Rassenpolitische Amt der NSDAP.203 Abgesehen davon war er an einer großangelegten Zwangssterilisationsmaßnahme 199 Beushausen, S. 204. 200 Universitätsarchiv Göttingen, Kur. PA Just. 201 Zitiert nach Lüddecke, S. 95. 202 Einzig den drastischen Antisemitismus Hitlers betrachtete Lenz aus rassehygienischen Aspekten als übertrieben, wenngleich er selbst auch eine antisemitische Haltung hatte. 203 Schmuhl, Das Kaiser-Wilhelm-Institut, S. 196 ff, 291. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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von 385 Jugendlichen im Jahre 1937 beteiligt, die als »Bastardkinder« galten und deren Fortpflanzung nicht erwünscht war, die aber nicht unter das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« fielen. Schließlich arbeitete Lenz auch für den »Euthanasie« -Planungsstab, der damit beauftragt war, eine rechtliche Grundlage für die Ermordung von psychisch Kranken zu schaffen.204 Damit war Lenz der erste NS -»Rassentheoretiker«, der wieder in den Universitätsdienst aufgenommen wurde.205 Doch auch noch darüber hinaus war die Göttinger Universitätsmedizin, an deren Spitze Stich als Dekan in dieser Zeit stand, in zahlreiche weitere Vorgänge, so genannte »geheime Dienstsachen«, involviert, welche das unmittelbare Umfeld, in dem sich Stich bewegte und das er qua Position und aufgrund persönlicher Verbindungen sehr genau kannte, in einem unrühmlichen, ja verbrecherischen Licht erscheinen lassen. Aufgrund der Zwangssterilisationen in der Chirurgischen Klinik kooperierte Stich eng mit dem Leiter der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt Gottfried Ewald. Dessen Patienten waren von den »Euthanasieaktionen« der Nazis betroffen, welche versuchten, Ewald als Gutachter der so genannten »T4-Aktion« zu gewinnen. Ewald lehnte ab und ließ eine ausführliche Begründung auch Stich zukommen. Anders als in der Forschung oft dargestellt, handelte es sich bei Ewalds Schreiben aber keineswegs um eine grundsätzliche Ablehnung eugenischer und rassehygienischer Aspekte, sondern er argumentierte vor allem mit der Schwächung der Wehrkraft und anderen ökonomischen Gründen, die ihn an der Sinnhaftigkeit der so bezeichneten »Vernichtung unwerten Lebens« zweifeln ließen. Den Abtransport von zwei Dritteln seiner Patienten ließen Ewald und Stich in Kenntnis ihres Schicksals ungeachtet dessen zu. Darunter waren mindestens 16 Patienten, die zuvor an Stichs Klinik sterilisiert worden waren und daher bereits gar nicht mehr in der Lage waren, den »Volkskörper« durch Fortpflanzung zu »schädigen«. Stich und Ewald standen auch maßgeblich in Verbindung mit einer weiteren Personalie, die nach 1945 Aufmerksamkeit auf sich zog. Gerhard O ­ konek206, Göttinger Neurochirurg und selbst ernannter »Adoptivsohn der Schule Stich«207, Eintritt in die NSDAP am 23.4.1933 und aufgrund seiner zahlreichen, teilweise führenden Mitgliedschaften in Parteiorganisationen als »strammer Nazi« zu 204 Ebd., S. 298 f., S. 418. 205 Obermann, S. 37. 206 Gerhard Okonek, 29.11.1906–28.8.1961, Neurochirurg, bei Stich in der neurochirurgischen Abteilung seit 1937 tätig, Habilitation 1942 in Göttingen, im Nationalsozialismus Operationen an Behinderten, deren Hintergrund nicht aufgeklärt ist, Entlassung aus der Universität 1946, Entlastung im Entnazifizierungsverfahren im September 1948, daraufhin Ernennung zum ao. Professor für Neurochirurgie in Göttingen und seit Mai 1949 außerplanmäßiger Professor in Göttingen, seit 1953 ordentlicher Lehrstuhl in Göttingen. 207 Brief von Gerhard Okonek an Stich am 19.7.1950, Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich Cod. Ms. R. Stich 1. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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bezeichnen, hatte sich nach dem Krieg für »Versuche an Geisteskranken« zu verantworten. Um Vorannahmen zu verifizieren, und unter anderem von Ewald darin bestärkt, übertrug Okonek Tierversuche auf Menschen. 1941 entfernte er einer Patientin der Heil- und Pflegeanstalt den radialen Nerven aus dem Arm, um ihn einem armgelähmten Bauern (der laut eigener Aussage nichts über die Herkunft des Nervens wusste) einzusetzen. Als Okonek 1946 wegen »Verdunklungsgefahr« verhaftet wurde, war es neben vielen anderen wieder Ewald, der sich für ihn einsetzte. Er stritt den Versuchscharakter der Operation ab und bezeichnete sie als »ärztlich und ethisch voll zu rechtfertigen«. Die Operation sei in der Absicht vorgenommen worden, einem »vor der Arbeitsunfähigkeit stehenden gesunden Mann den Gebrauch seiner Hand wiederzugeben. Die Patienten, an deren Arm das Nervenstückchen entfernt wurde, war eine vollidiotische Patientin, […] die infolge ihrer Hirnmißbildung so tief stand, dass sie gekleidet, gekämmt, gefüttert, zur Verrichtung ihrer Bedürfnisse angehalten, und in jeder Weise versorgt werden musste.«

Sie habe durch die Operation keinen Schaden davon getragen, im Gegenteil, ihre nutzlos gewordene Hand könne sich nun bei Anfällen nicht mehr schmerzhaft verkrampfen. Ewald berief sich auf seine besondere Glaubwürdigkeit, die er als vermeintlicher »Nazi-Gegner« besäße; Okonek gab an, dass alle Vorgänge in der neurochirurgischen Abteilung mit Erlaubnis und Kenntnis von ­Rudolf Stich durchgeführt wurden. 1947 wurde das Verfahren eingestellt. Okonek wurde wieder als Neurochirurg von der Universität Göttingen beschäftigt. Zuletzt bleibt noch der Physiologe Hermann Rein zu erwähnen, welcher als Leiter des Physiologischen Instituts und Rektor der Universität direkt nach dem Krieg zum engsten Kollegenkreis Stichs gehörte. An seinem Institut wurde unter höchster Geheimhaltung und unter Förderung der DFG im Auftrag der Luftwaffe geforscht unter Zuhilfenahme einer so genannten Unterdruck­ kammer. Versuche mit Häftlingen aus Konzentrationslagern, die in solchen Kammern in Dachau durchgeführt wurden und in diversen Fällen tödlich endeten, wurden prominent im Nürnberger Ärzteprozess verhandelt. Hermann Rein stellte diesen Belasteten positive Leumundszeugnisse aus.208

208 Die komplexe Persönlichkeit und Rolle von Hermann Rein in der Göttinger Universitätsmedizin und seine Verwicklung in »kriegswichtige Forschungen«, sowie Medizinverbrechen kann hier nur angedeutet werden. Eine umfassende und kritische Aufarbeitung wird im Rahmen einer Dissertation am Institut für Demokratieforschung versucht. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler

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Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler »Küsse, oh göttliche Muse, noch einmal die Stirn des Greises, dass ihm entstehe ein Epos aus längst vergangenen Zeiten, welches künde von Männern und einer weiblichen Seele, […] Anmutig, kritisch, ein wenig erhaben über der starken Männer Getue, war sie ein »Oho« und wurde Füglich als solches geachtet. Lieschen hieß sie, gerüstet Stets in gleichem Maße mit Angriff und Abwehr, welche Zeus ihr vorsorglich in Herz und Seele gesenkt hatte. Und um Lieschen herum die Schar der dräuenden Männer.«209

So beginnt ein Gedicht, dass der Stich-Schüler Meyeringh, Stich zu Ehren, am 23. November 1974 anmutig in Hexametern vorträgt. Versammelt ist eine illustre Runde »dräuender Männer«, die sich auch viele Jahre nach Stichs Tod in Göttingen trifft, seiner zu gedenken. Meyeringh ist einer der Schüler, die alle Jahre wieder die Feierlichkeiten zu Stichs Geburtstag planen, als »Abtragung einer Dankesschuld an unseren alten Lehrer«210, zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tode. Dass ein dichtender Mediziner, selbst im fortgeschrittenen Alter, am Grabe seines Meisters steht und zu einer Schar von Getreuen spricht, ist mehr als bemerkenswert. Die versammelte Stich’sche Schule ist in dieser Form wohl einzigartig und kann als Keimzelle von Stichs Ruf bezeichnet werden, ja, sie wurde sogar überspitzt als sein Lebenswerk angesehen.211 Sie hat ihren Ursprung in Stichs Tätigkeit als Hochschullehrer, der Generationen von Schülern ausgebildet und geprägt hat. Sie ist Ausdruck einer besonderen Gemeinschaft, die durch gemeinsame Erfahrungen und ein gemeinsames Selbstverständnis und natürlich vor allem durch den gemeinsamen Lehrer, der in Person von Stich als Lehrer, Erzieher, gar als Vater auftritt, zusammengehalten wird. Die fachliche und persönliche Prägung durch R ­ udolf Stich war grundlegend für die von Göttingen aus über das gesamte Reich gesponnene Gemeinschaft der Stich-Schüler212, 209 Meyeringh, Dr. med. Direktor des Stadtkrankenhauses in Peine und Oberarzt der Chirurgischen Abteilung, nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. 210 Brief von Meyeringh an Bauer vom 14.12.1954, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 211 Als Beleg hierfür könnte man folgende Notiz des Rektorates an die Göttinger Presse anlässlich Stichs 65. Geburtstag 1940 ansehen: »Eine große Anzahl seiner Schüler steht an verantwortlicher und wichtiger Stelle. Es dürfte zu den schönsten Erfolgen eines Gelehrtenlebens gehören, sein Wirken in dieser Form weiterleben zu wissen.« Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 8. 212 Die Rekonstruktion dieser Gemeinschaft erfolgte vor allem über eine Analyse von Stichs Zeitschrift Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie und wurde durch archivalische Quellen, soweit möglich, ergänzt. Die Basis der folgenden Analyse bilden 94 Schüler, von denen die Hälfte in Bruns’ Beiträgen publizierte. Die tatsächliche Zahl liegt selbstverständlich vielfach höher. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich Krebsforschung

Orthopädie / Chirugie

Festschriften / Nachrufe

Tagungsberichte u.ä.

7 | 4% 6 | 4% 5 | 3%

3 | 2%

16 | 10% Transplantationen

4 | 2% Innere Medizin

10 | 6% 33 | 20%

Blut

10 | 6% Gefäße

4 | 2%

4 | 2%

HNO

9 | 5%

9 | 5%

Urologie

31 | 19% 3 | 2%

Kriegschirugie

Wunden

Medikamente / Instrumente

Schädel-Hirn-Chirugie

Röntgenologie

Sonstiges

Abb. 10: Themengebiete der Stich-Schüler (Quelle: Eigene Darstellung)

welche diese zeitlebens intensiv pflegte und ausbaute, welche kollegial, freundschaftlich und bundesbrüderlich strukturiert war und welche entscheidend die Basis für die Verehrung Stichs auch über seinen Tod hinaus legte. Auffällig ist, dass viele seiner Schüler, die keinen Ruf auf einen Lehrstuhl erhalten, auch in räumlicher Nähe zu ihrem Lehrer verbleiben, nachdem sie die Göttinger Klinik verlassen haben. Ein weiteres, die Gemeinschaft beförderndes Moment ist die Tatsache, dass Stich seine Assistenten an Kliniken schickte, die von ehemaligen Schülern geleitet wurden. Von dort bekam er wiederum neue Schüler übersandt. Im Laufe der Jahre bekleideten Stichs Schüler mehrere Lehrstühle, mindestens © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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zwanzig von ihnen stiegen in Chefarztpositionen auf, sieben oder mehr waren Beratende Ärzte der Wehrmacht und unter ihnen finden sich mindestens acht Vertreter aus der Gemeinschaft der Bubenreuther. Die Analyse von insgesamt 167 Beiträgen von Stichs Schülern aus Göttingen in Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie zeigt, dass sie sich nicht explizit mit Themen der Gefäßchirurgie beschäftigt haben, also Stichs ursprünglichen Forschungsschwerpunkt, aufgrund dessen er sich einen Ruf erworben hatte, nicht weiter verfolgten, gemeinsam nicht an einer fachlichen Tradition arbeiteten. Die Auswertung des Materials gibt Aufschlüsse über die Forschungsschwerpunkte an der Chirurgischen Klinik, die Themen, mit denen sich Stichs Schüler auch nach ihrem Weggang aus Göttingen befassten, die thematischen Kontinuitäten und die Vielfalt der beforschten Themen und Gebiete. Sie zeigen in einer empirischen Auswertung die relativ breite inhaltliche Ausrichtung und lassen Rückschlüsse zu, welche Tradition bestimmte Forschungsfragen an der Stich’schen Klinik hatten. Sie zeigen aber auch, dass sich inhaltlich kein absolut dominantes Gebiet in Göttingen ausmachen lässt. Medizinische Schwerpunkte der Stich-Schüler liegen im orthopädisch-chirurgischen Bereich, in der Inneren Medizin und in der Krebsforschung. Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass beispielsweise Bauer, der berühmteste Stich-Schüler, seinen onkologischen Schwerpunkt von Stich übernommen hat. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt liegt auf Tagungsberichten: Stich legte Wert darauf, dass seine Schüler in seiner Zeitschrift über den aktuellen, auf Tagungen zirkulierenden Forschungsdiskurs berichteten. Die Göttinger Ärzteschaft nahm unter Stichs Federführung an diesem Diskurs teil und ist darüber nicht nur in den Berufsstand integriert, sondern wirkte über die Berichte in der Zeitschrift auch als Multiplikator desselben. Sie können somit als eines der Sprachrohre dieser Versammlungen gelten. Die Stich’sche Schule hat einen illustren Kreis von Ärzten hervorgebracht. Deren Anhänger waren »Vater Stich«, wie sie ihren Lehrer nannten, auch über den Tod hinaus vertrauensvoll verbunden. Zu ihr zählten unter anderem Albert Fromme, Wilhelm von Gaza, R ­ udolf Geissendörfer, Meyer-Burgdorff213, Walther Koennecke214, Meyeringh und, der erfolgreichste, Karl Heinrich Bauer. Sie stehen exemplarisch für eine weit größere Schülerschar, für Generationen von 213 Hermann Meyer-Burgdorff, 14.4.1898–17.2.1957, Medizinstudium in Göttingen, Kiel und Straßburg, 1913–1914 Einsatz in Göttinger Kliniken und Lazaretten, bis 1923 Assistenzarzt in Göttingen, 1928 ao. Professor in Göttingen, 1931 Ruf nach Rostock, ab 1935 Direktor der chirurgischen Klinik in Kiel, von 1940–1945 wieder in Rostock, Mitglied der SA. 214 Walter Koennecke, 30.8.1887–1.4.1944, Chirurg, 1913–1923 bei Stich an der Chirurgischen Klinik tätig, seit 1933 Mitglied der SS, seit 1935 Mitglied der NSDAP, seit 1937 Obersturmführer, Leitender Arzt des evangelischen Krankenhauses in Oldenburg und Facharzt für Chirurgie, dort führte er Zwangssterilisationen durch. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Der Hochschullehrer R ­ udolf Stich

Ärzten, die Stich über die Jahrzehnte ausgebildet hat und aus der auch folgende Lehrstuhlinhaber hervorgingen, die den Kern des Kreises bildeten, dessen Anhänger sich bis in die 1980er Jahre noch jährlich in Gedenken an Stich in Göttingen an seinem Grab versammelten. Da ist Albert Fromme215, der älteste Stich-Schüler, dessen Mutter schon aus Göttingen stammte und der von 1906 bis 1921 am hiesigen Bakteriologischen Institut arbeitete. Nachdem er im Ersten Weltkrieg als Beratender Chirurg tätig gewesen war, wechselte er, wie Stich, als Assistent nach Bonn zu Garré, bis er 1913 wiederum Oberarzt bei Stich wurde,216 was ihm schließlich die »notwendige Autorität«217 verlieh, die Göttinger Poliklinik zu leiten. 1914 wurde er aus dem Krieg zurückgeholt und leitete fortan in Vertretung von Stich die Chirurgische Klinik, da ausschließlich mit jungen Ärzten der Betrieb nicht aufrecht zu erhalten sei.218 1921 wechselte Fromme nach Dresden, blieb aber mit Stich in regem Kontakt und fragte ihn des Öfteren um Rat oder bat um Empfehlung guter Ärzte.219 Später wurde er Vorsitzender und schließlich Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Das Verhältnis zu Stich und den anderen Schülern riss nie ab, man besuchte und schrieb sich regelmäßig220 und sorgte sich vor allem in den Wirren der Nachkriegszeit umeinander.221 Doch am 22. April 1952 saßen Bauer und Fromme wieder in Heidelberg zusammen und schrieben an ihren Lehrer: »Augenblicklich sind Frommes bei uns. Da wird 215 Albert Fromme (25.11.1881 in Gießen, 5.5.1966 in Holzminden), gilt als letzter Universalchirurg. Frommes Sohn, der Journalist Friedrich Karl Fromme, war geladener Gast bei der Enthüllung der Gedenktafel zu Ehren von ­Rudolf Stich 1985 am Haus in der Weender Landstraße 14 in Göttingen. 216 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Organisation und Verwaltung der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität Göttingen, Band 1 (1905–1930), PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va Nr.  10112. Zu inhaltlichen Schwerpunkten der Stich-Schüler vgl. betr. Vorlesungen bei der Universität Göttingen. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 Kultusministerium VA Sekt. 6, Tit. VII Nr. 1 Band 7. 217 So argumentiert Stich den Behörden gegenüber, als er diesen Posten für Fromme fordert. Vgl. Organisation und Verwaltung der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität Göttingen (Band 2, 1905–1930). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va. Nr. 10113. 218 Vgl. Organisation und Verwaltung der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität Göttingen (Band 2, 1905–1930). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium, Va. Nr. 10113. 219 Vgl. Schriftwechsel Fromme – Bauer, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 220 Diese Besuche werden erwähnt in der Korrespondenz von Karl Heinrich Bauer mit Thea Tschackert, die im Nachlass Karl Heinrich Bauers dokumentiert ist. Vgl. Korrespondenz mit Thea Tschackert 1927–1966. 221 Vgl. Brief von Bauer am 4.6.45 an Thea Tschackert mit der Frage, ob Fromme noch lebe und wie es seinen Kindern in Göttingen gehe. Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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natürlich viel von den schönen Göttinger Zeiten erzählt und viele der damaligen Weggenossen ziehen immer wieder vor unserer Erinnerung vorüber.«222 Auch ermutigte Fromme seinen Lehrer, weiter Vorträge zu halten. Dieser Bitte kam Stich aber schließlich mit Verweis auf sein Alter nicht mehr nach und schrieb an Bauer am 20.7.1956: »Trotz aller mir nachgesagten Frische bin ich aber doch nicht mehr ganz so wendig wie früher und wie ich es in deinem Alter war.« Daher habe er die Bitte Frommes, in Dresden einen Vortrag zu halten, abgesagt, »weil solche Hetzreisen, gleichgültig ob im Auto oder mit der Bahn, nichts mehr für meine alten Knochen sind.«223

Weit über das kollegiale Verhältnis hinaus war Fromme mit Stich schicksalhaft verbunden: denn als Stich im Alter von 46 Jahren nachts angefahren wurde und eine Blutung erlitt, stellte man als eigentliche Ursache dafür einen Krebs in seiner linken Niere fest, die ihm alsbald von Fromme entfernt wurde und den Stich »als stete Ermahnung in einem Geheimfach verwahrte«224. Nachdem die Operation gelang und Stich trotz der »jahrzehntelangen niederdrückenden Erwartung« von Spätmetastasen gesund blieb, empfand er dies, so interpretiert es sein Freund Gruber,225 als Sieg seines Willens über seinen Körper, zu dem ihm nicht zuletzt Fromme verholfen hatte. In seinem Nachruf auf Stich226 führt Bauer das Verhältnis zu Fromme als Beispiel »lebenslanger Treue« an. Auch Fromme schien in seiner Tätigkeit als Beratender Chirurg der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Forschungschancen nicht ungenutzt gelassen zu haben. Einiges deutet darauf hin, dass er für Bayer das noch nicht ausreichend geprüfte Mittel Rutenol, welches vom Hygiene-Institut der Waffen-SS in Versuchen gegen Fleckfieber eingesetzt wurde, im Auftrag der Wehrmacht testete.227 Darüber hinaus beteiligten sich die Schüler von Stich an den vom nationalsozialistischen Regime verordneten Zwangssterilisationen: mindestens 29 Schüler Stichs führten solche in Göttingen durch, die meisten Büttner (48) und Wille-Baumkauff (37). Doch auch an anderen Kliniken wurden Stichs 222 Brief von Bauer an Stich vom 22.4.1952, dokumentiert im Nachlass Karl Heinrich Bauer. 223 Brief Stich an Bauer vom 20.7.1956, ebd. 224 So behauptet zumindest Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich, S. 400. 225 Darüber berichtet Stichs Freund Gruber, vgl. Georg Benno Gruber, Georg B. Gruber Arbeiten XXII 1962–1965–1966–1967 Göttingen. Universitätsarchiv Göttingen, Teilnachlass Georg Benno Gruber. Auch in der Literatur wird Stichs schwere Krankheit als Wendepunkt interpretiert, so bei Stroeve, der auf einen Eintrag in Stichs Personalakte verweist, vgl. Personalakte Kur PA, Prof. Stich, Blatt 41, Eintrag vom 11.4.1921. Stroeve meint, die Angst vor postoperativer Mortalität und seine Heilung sollen Stichs Verständnis von Gesundheit und Krankheit verändert haben (vgl. S. 16). 226 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 227 Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, N 54/34, Nachlass Wilhelm Keitel: Viktor v. Weizsäcker, »Euthanasie und Menschenversuche«, enthalten in den Unterlagen zum Nürnberger Ärzteprozess, Juni 1947. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Schüler Protagonisten der Zwangssterilisationen, wie zum Beispiel Walter Koennecke in Oldenburg.228 R ­ udolf Geissendörfer229 war Stich nicht nur als Schüler und Freund, sondern auch über die Mitgliedschaft bei den Bubenreuthern besonders eng verbunden. Und so stärkte man sich in schweren Zeiten gegenseitig den Rücken, wie auch 1944, als sich Bauer und Stich um Geissendörfer sorgten, der unter einer Krankheit zu leiden schien.230 Auch nachdem Bauer und Geissendörfer Göttingen verlassen hatten, standen sie weiter in engem Austausch und Bauer verlieh am 15. Mai 1945 in einem Brief an Thea Tschackert seiner Sorge Ausdruck, dass der Krieg Göttingen erreicht hat und hofft, er möge glimpflich abgehen. »Einzelnes wird wohl schon meine Frau an STICH und sicher auch GEISSENDÖRFER geschrieben haben. Sehr sind wir natürlich in Sorge um Vater Stich, hat er sich bis zum letzten Augenblick exponiert, wollte er sich ja schon seit Jahren in nichts belehren lassen. Wie viel furchtbarer muss das alles, was schon für uns furchtbar ist, furchtbar sein für die, die den Worten jener Verbrecher geglaubt haben bis zuletzt. Möchten insbesondere die jetzt so billigen Denunziationen ihm erspart geblieben sein und möchten ihm seine weissen Haare vor harten Prüfungen bewahren.«231

Nach Kriegsende schien Geissendörfer sogar als Stichs Nachfolger in Göttingen im Gespräch zu sein: »GEISSENDÖRFER rückt sicher jetzt im Rennen stark nach vorne, da er nie P. G. oder sonst was war. Er ist auch ausgereift genug und würde in Göttingen die Klinik ganz nach STICHs Geist weiterleiten. Ich glaube, wenn es später einmal so weit ist, dass Sie für ihn ruhig subkutan mit gutem Gewissen Propaganda treiben dürfen.«232

Obwohl es nicht dazu kam, blieb die Verbundenheit ungebrochen. 1946 wurde Bauer, an Darmkrebs erkrankt, von Geissendörfer operiert, Stich verlieh seiner Freude darüber Ausdruck, obwohl er sich seiner Meinung nach zu spät zu der Operation durchgerungen hatte. »Aber ich will dich auch nicht schelten, sondern nur Glück wünschen Dir und den Deinen, denn es hat ja wirklich ähnlich wie seinerzeit bei mir ein Damoklesschwert über dir gehangen.«233 228 http://www.stachel.de/03.08/8nseuth.html, zuletzt eingesehen am 21.3.2014. Vgl. auch Bundesarchiv Berlin, Personalunterlagen Walter Koennecke (ehem. BDC), RS D0083. Und ebenfalls: Unterlagen über den Prozess gegen W. Koennecke beim Spruchgericht Stade. Bundesarchiv Koblenz, Spruchgericht Stade, Z 42-VII/4916. 229 ­Rudolf Geißendörfer, geboren 1902. Ausführlich ist Biographisches nachzulesen bei Dirk Reese, Der Frankfurter Chirurg R ­ udolf Geißendörfer, Frankfurt a. M. 1995. 230 Bauer an Stich am 12.11.1944, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 231 Brief Bauer an Thea Tschackert vom 15.5.1945, ebd. Hervorhebungen im Original. 232 Schreiben von Bauer an Thea Tschackert vom 4.6.1945, ebd. 233 Brief von Stich an Bauer vom 19.8.1946, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Und diese Operation war nicht die letzte, Geissendörfer operiert ihn weitere Male und Stich darf »versichert sein, dass alles nach den altbewährten Stich’schen Richtlinien zur Nachbehandlung Frischoperierter geschieht!«234 Das enge Vertrauensverhältnis zwischen Stich und Geissendörfer kam auch darin zum Ausdruck, dass er in der Nachkriegszeit Herausgeber von Bruns’ Bei­ trägen wurde, in einer Zeit, als Stich sich im Hintergrund halten musste, bis er dann später gemeinsam mit Stich die Herausgeberschaft inne hatte. In diesem Amt organisierte er 1955 ein Sonderheft zu Stichs Ehren. Auch sein 75. und 80. Geburtstag werden von ihm in Bruns’ Beiträgen gewürdigt. Nach Stichs Tod verfasste er in der Zeitschrift einen langen Nachruf. Aber Geissendörfer verehrte nicht nur Stich, auch Sauerbruch war eines seiner großen Vorbilder. Die Todesnachricht berühre ihn »außerordentlich schmerzlich, ist doch mit diesem Manne ein Meister der Chirurgie und eine starke Persönlichkeit von uns geschieden. […] Wer einmal als Student oder als Teilnehmer eines Kongresses seinem schwungvollen und formvollen­deten Vortrag gefolgt ist, wird dies nie vergessen, ebenso wie seine überströmende Persönlichkeit im geselligen Kreise. Auch wenn sein Lebensbild gelegentlich im Strudel der Zeiten umstritten war, eines steht fest, er war eine über den Alltag sich weit erhebende Persönlichkeit, ein mitreißender Lehrer, der stets ein warmes Herz für seine Schüler hatte […] Ein Kranz von Legenden wand sich um diese Persönlichkeit, die, wenn sie auch nicht alle zutreffen, immerhin wahr sein könnten. […] Wir verneigen uns angesichts des Todes vor diesem außerordentlichen Manne. […] Sein Name und Werk werden in der Erinnerung weiterleben, nicht zuletzt durch seine Schüler.«235

Dieser Nachruf lässt ähnliche Züge erkennen, wie die, die Stich von seinen Schülern zugeschrieben wurden. Betont wird seine Leistung als Lehrer und Wissenschaftler, ungeachtet seines Verhaltens »im Strudel der Zeiten«. Die Schüler verstehen sich als lebendes Denkmal, welche in ihrer Arbeit und durch die Erinnerung an Legenden das Gedächtnis an ihren Lehrer wachhalten. Auch untereinander ließen die Schüler sich Ehrungen zu Teil werden, so dass Bauer Geissendörfer zu dessen 60. Geburtstag in Bruns’ Beiträgen gratuliert,236 gleichzeitig aber betont, dass, wenn Stich noch leben würde, er selbst den Artikel geschrieben hätte. So ist die Reihe an Bauer, der betont, dass er »als der nach Fromme älteste Schüler« diese Aufgabe übernimmt. Es scheint also eine feste Hierarchie innerhalb der Gruppe zu geben, die sich auch außerhalb Göttingens fortsetzt: so ist Bauer 234 Brief Bauer an Stich vom 7.3.1955, ebd. 235 ­Rudolf Geissendörfer, Stich zum 75. Geburtstag und derselbe, Zum Gedenken an Prof. Dr. R ­ udolf Stich. 236 Vgl. Karl Heinrich Bauer, Geissendörfer zum 60. Geburtstag, in: Bruns’ Beiträge zur kli­ nischen Chirurgie 204 (1962), S. 145–146. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»der erste Oberarzt, der dir in Göttingen ›vorgesetzt‹ war, ich tue es als dein lang­ jähriger ›Chef‹ in Breslau […] und in Heidelberg, als der getreue Freund und nicht zuletzt als Dein tiefdankbarer Patient. […] Ich tue es aber in erster Linie im Namen der Stich-Schüler.«237

Geissendörfer habe das »Stichsche Erbe erworben wie kein anderer […], nicht nur, um es zu besitzen, sondern um es zu bewahren, zu mehren…« Stichs frühes Urteil über Geissendörfer, dass man sich auf ihn verlassen könne, habe er oft wiederholt, so habe Geissendörfer wesentlich an Stichs Referat auf dem Chirurgenkongress 1935 mitgearbeitet. Außerdem habe Stich Bauer geraten, Geissendörfer mit nach Breslau zu nehmen und er habe ihn aus gutem Grund zum Mitherausgeber der Bruns’schen Beiträge berufen. Geissendörfer habe es aufgrund seiner »mannhaft-aufrechten Gesinnung« geschafft, schwere und wechselhafte Zeiten zu überstehen. Bauer nennt die Aufgabe, »in politisch schwerer Zeit Brücke und Vertrauensmann zugleich zu sein zwischen den alten Küttner-Schülern [in Breslau] und dem ›neuen Chef‹. Du hast in der schweren Zeit nach 1933 alle Verlockungen, Einschüchterungsversuche und Bedrohungen mit reiner Weste hinter dich gebracht.«238

Karl Heinrich Bauer239 ist nicht nur der berühmteste Schüler Stichs, er war mit Sicherheit aus dem Kreis seiner Schüler auch sein engster Vertrauter. Der Nachlass von Bauer ist sehr umfangreich – in ihm sind zahlreiche Korrespondenzen mit diversen Stich-Schülern, Kollegen und nicht zuletzt mit Stich selbst dokumentiert.240 Er gibt auch in essayartigen Texten ausführlich Auskunft über Bauers Lebensweg und dessen Stationen und zeigt vor allem die große Verbundenheit, die er immer zu Göttingen behielt.241 Stich und Bauer verband eine tiefe, Jahrzehnte währende Freundschaft, bereits seit 1914 stehen sie in einem regen Austausch, wie der Briefwechsel im 237 Ebd. 238 Ebd. 239 Geboren am 26.9.1890 in Schwärzdorf in Oberfranken, gestorben am 7.7.1978 in Heidelberg. Zu Karl Heinrich Bauer u. a. Fritz Linder, In memoriam Karl Heinrich Bauer. Feier aus Anlass des 100. Geburtstages 26.9.1990, Berlin 1991 und Ders. u. Wilhelm ­Doerr (Hg.), Karl Heinrich Bauer. Konturen einer Persönlichkeit, Berlin 1979. 240 Göttinger Korrespondenzpartner und Stich-Schüler, u. a.: Heynemann, Frau Seulberger, Seulberger (1927), Hellner (alle in Göttingen), die ehem. Sekretärin Oppermann, Sebening, Patrikalakis, Verena Tammann/Herr Tammann, Doersler (1925, Einladung zu Stich), von Gaza (1929), Beykirch, Meyer-Bisch (1927), Peter [Dieter] Hoffmann (1920), Grote (1923), Kirschner (1928), Just (1926), Yi Ming-Yen (1927), Staemmler (1943 u. a.), Büttner (Frankfurt, Vegetative Physiologie, 1926), Opitz (Charité 1925), Federschmidt 1925, Martens 1928, Meyer-Burgdorff; Desweiteren der Göttinger Gynäkologe Martius, der Göttinger Physiologe Hermann Rein, Georg Benno Gruber u. a. 241 Es findet sich zum Beispiel neben den zahlreichen Korrespondenzen nach Göttingen auch eine Sammlung von Zeitungsausschnitten, die Bauer über Göttingen angelegt hat. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Nachlass Bauers eindrucksvoll dokumentiert. Phasenweise schrieben sich die beiden wöchentlich, nicht nur medizinische, auch alltägliche Dinge sind Gegenstand der Korrespondenz. Wie Stich war auch Bauer Bubenreuther, der Kontakt zwischen ihnen kam letztlich über diese Verbindung zustande. Unter Bundesbrüdern verschaffte Stich Bauer 1918 eine Stelle als Assistent in Freiburg bei Ludwig Aschoff, bei dem auch Stich gelernt hatte und gab ihm ein Versprechen: »Ich bin gern bereit, Dich in der mir unterstellten Klinik aufzunehmen, und Dich, falls Du Dich bewährst, entsprechend den vorhandenen Vorderleuten aufrücken zu lassen. […] Die vorherige pathologisch-anatomische Tätigkeit wäre natürlich sehr wünschenswert, und ich würde Dir in erster Linie für diesen Zweck Aschoff in Freiburg […] empfehlen. Wenn du dich auf mich berufst, und ihnen mitteilst, dass du später zu mir als Assistent kommen sollst, werden sie Dich, wie ich hoffe, gut aufnehmen. Mit bundesbrüderlichem Gruß. Dein R. Stich.«242

Bei Aschoff in Freiburg lernt Bauer bereits das kennen, was er in Göttingen und bei Stich später schätzen wird: die familiäre Anbindung an den verehrten Lehrer. »Aber das Wichtigste in meinem äußeren Erleben in Freiburg war der frühzeitige Zugang zu seiner Familie und die fast wöchentlichen Einladungen in sein Haus. Die Jakobistraße 19 wurde mir für mein ganzes Leben zum Modell späteren eigenen Gestaltens der eigenen Häuslichkeit.«243

1925 kam er dann nach Göttingen und Stich hieß den »lieben Bundesbruder« nunmehr in der Weender Landstraße 14 herzlich willkommen, an dessen Leben er fortan rege Anteil nahm, fast wie bei einem leiblichen Sohn: »Es wird mir verraten, dass dieser Tage dein Geburtstag ist. Wenn ich auch natürlich nicht allen meinen 20 oder 25 Mitarbeitern zum Geburtstag gratulieren kann, so stehst du mir doch mit all deiner Anhänglichkeit und deiner langjährigen treuen Mitarbeit unter allen meinen Helfern mit am nächsten, so dass ich eine Gelegenheit, wie die heutige, dir das zu sagen, gerne benützen möchte, und dir gleichzeitig von Herzen für das neue Lebensjahr und die vielen, die ihm noch folgen werden, alles erdenklich Gute wünschen möchte. […] Ich hätte schon lange deine Eltern einmal gerne kennengelernt […] Vielleicht lässt es sich einmal mit dem Automobil einrichten, wenn ich so leichtsinnig bin, mir ein solches anzuschaffen.«244

Bis er sie kennenlernt, solle Bauer ihnen von Stich ausrichten, »dass sie auf ihren Jungen stolz sein können.«245 1932 erhielt Bauer dann einen Lehrstuhl in Breslau, wo Stich seiner Zeit Assistent gewesen war. Mit Stich zusammen gab er 1939 242 Stich an Bauer am 12.11.1918, im Nachlass von Karl Heinrich Bauer. 243 Karl Heinrich Bauer, Kurzgeschichten Freiburg/Breisgau vom 11.11.1918 [eigene Aufzeichnungen Bauers aus seinem Nachlass, Universitätsbibliothek Heidelberg.] 244 Brief von Stich an Bauer vom 24.9.1925, im Nachlass Karl Heinrich Bauer. 245 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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eine neue Auflage von Fehler und Gefahren bei chirurgischen Operationen und auch das Lehrbuch der Chirurgie heraus. Der Kontakt zu Stich blieb ungetrübt bestehen, aus Stichs Zeilen sprach 1940 bereits eine Bewunderung für seinen Schüler, dem er zum Geburtstag wünschte, »dass du deine beispiellose Leistungsfähigkeit auch weiterhin behalten möchtest und dass sie verbunden bleiben möchte mit voller Gesundheit und dem, was wir im Leben brauchen, um glücklich sein zu können, mit Zufriedenheit. Ich meine damit nicht jene Wunschlosigkeit, die nur diejenigen haben, die mit dem Leben abgeschlossen haben, sondern jene innere Befriedigung über unser Werken und Wirken, die Leute deines Schlages, und, wie ich glaube, auch meines Schlages brauchen, wenn sie nicht innerlich leiden sollen. Die Freundschaft, die mich immer schon mit dir verbunden hat, vertieft sich von Jahr zu Jahr, besonders auch seitdem mir meine alten Göttinger Freunde nun alle weggestorben sind […]. Ich hoffe, dass die freundschaftlichen Gefühle, die ich dir entgegenbringe, in Dir ähnliche Gefühle auslösen und dass sie nicht nur die dankbaren Gefühle des jüngeren Schülers zum älteren Lehrer sind, die dich mit mir verbinden.«246

Die Verklärung der gemeinsamen Göttinger Zeit setzt bereits ein: »Ich denke aber in solchen innerlich bewegten Tagen, ich brauche es wohl nicht besonders auszuführen, an die Jahre in Göttingen und all Deine treue Hilfe in der Be­ hütung des anfangs doch so oft hin- und hergeschüttelten Lebensschiffleins.«247

1944 trat Bauer, obwohl er kein Beratender Chirurg war, in den wissenschaftlichen Beirat des Bevollmächtigten für das Gesundheitswesen Karl Brandt ein und wurde nach dem Krieg der erste Rektor der Universität Heidelberg, wo er 1964 das Deutsche Krebsforschungszentrum gründete. Auch nach dem Krieg fühlt sich Stich Bauer stets verbunden: »Die Gesinnung, die aus ihm [einem Brief Bauers] spricht, deckt sich mit dem, was ich, seit wir uns kennen, an Gefühlen für dich habe. Mit keinem meiner Schüler bin ich so verbunden wie mit dir, und ein väterlicher Freund will ich dir weiter bleiben.«248

1952 lässt sich Stich von Bauer in Heidelberg operieren, als »Gegenleistung« hält er dort vor den Studenten einen Vortrag über »Ärztliche Ethik«. Retrospektiv erzählte Bauer anlässlich seiner Ehrenpromotion an der Universität Graz 1963 seine Geschichte als eine, die geradlinig auf Stich zulief. »Der Weg nach Göttingen – Ende 1919 – war der Weg zur Chirurgie und zu Stich. An Stich war alles überzeugend: die Subtilität anatomischen Operierens, die Unbestechlichkeit der Indikationsstellung, [gestrichen: die Begeisterungsfähigkeit des akademischen Lehrers, die unantastbare] Lauterbarkeit des Charakters und die grosse 246 Brief von Stich an Bauer, 4.9.1940, ebd. 247 Brief Bauer an Stich, 22.12.1943, ebd. 248 Stich an Bauer am 31.8.1946, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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[gestrichen: und echte] Güte des Herzens! [gestrichen: eine vielgeliebte, allseits hochverehrte Arztgestalt] […] Das Göttinger Schicksal hieß Stich.«249

Als Bauer schließlich wenige Jahre vor seinem Tod 1975 Ehrenbürger von Heidelberg wurde, widmete er diese Ehre »Meister Stich in Göttingen, dem getreuen Mentor meines Lebens.«250 Bauer fühlte sich dafür verantwortlich, dass die anderen Schüler »Meister Stich« gebührend ehrten und dies auch zum Ausdruck brachten. Umso entrüsteter war er, wenn dies unterblieb. »Recht betrübt bin ich, dass HERLYN auf meinen letzten Brief mit den Vorschlägen wegen STICHs 70. Geburtstag so gar nicht reagiert hat. […] Sind Sie also bitte so gut und geben Herrn HERLYN einmal einen etwas kräftigen Schubs.«251 Und nochmal: »Recht betrübt bin ich, dass HERLYN so gar nicht funktioniert mit den Vor­bereitungen zu STICHs 70. Geburtstag. Sollte er etwa auf dem Standpunkt stehen, dass die Zeitereignisse doch alles über den Haufen werfen? Trotzdem aber sollte der amtierende Oberarzt jenes Minimum tun, welches billigerweise alle von ihm erwarten.«252 Selbst unmittelbar nach Kriegsende, wenige Tage vor Stichs Verhaftung, fragt Bauer: »Wie steht es mit den Vorbereitungen für STICHs Geburtstag? Wird irgendeine Feier möglich sein?«253

Bauer war besonders bestrebt, den Schülerkreis zusammen zu halten. Zu diesem Zweck schrieb er zum Beispiel 1977 der Frau seines bereits verstorbenen Kollegen Seulberger einen Brief, in dem er sich nach Unterlagen über ihn erkundigte, da er den Versuch unternahm, alle Göttinger Assistenten aus Stichs Zeiten zu dokumentieren.254 Auch sorgt er dafür, dass die Kollegen nicht den Geburtstag Stichs vergaßen, wenn er versprach, immer rechtzeitig schriftlich daran zu erinnern.255 »Schau’n wir uns um! In unserem eigenen kleinen Kreise Klaffen die Lücken weit und weiter, schrumpft der Ring, der Seiner Glieder beraubt ward. Neue und junge Kollegen Wachsen uns nicht mehr zu, da die spendende Quelle versiegt ist.«256

249 Rede Karl Heinrich Bauers anlässlich der Ehrenpromotion in Graz vom 21.6.1963. Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 250 Dankesrede Karl Heinrich Bauers zur Ehrenbürgerschaft in Heidelberg, Bauer 1975, ebd. 251 Bauer an Thea Tschackert, 18.12.1944, ebd. 252 Brief von Bauer an Thea Tschackert vom 15.2.1945, ebd. 253 Brief von Bauer an Thea Tschackert vom 4.6.1945, ebd. Hervorhebung im Original. 254 Brief vom 14.4.1977 von Bauer an Frau Seulberger, ebd. 255 Bauer an Gaza, 18.7.1928, ebd. 256 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, 22.11.1975. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Über die Jahre behielt er den Überblick über die Gruppe, die im Laufe der Zeit, schon bereits vor Stichs Tod, jedoch immer kleiner wurde: »Nun sind in kurzer Zeit 5 der alten Göttinger Koassistenten dahingegangen: Koennecke, Wolff, Seulberger, vor zwei Tagen Martens und nun auch noch Ihr Gatte.«257

Wehmut mischte sich in diese Erinnerungen, die »immer im Andenken an die unwiederbringlich verlorene, sorglose und schöne Zeit unserer Göttinger Tätigkeit« bestehen. Mit dem Tod von Gruber 1977 schien der ursprüngliche Kern der Gruppe verstorben. »Nun ist auch er dahingegangen: der Letzte aus der alten Garde vor 1890 […] der letzte Repräsentant der GEORGIA AUGUSTA aus der Zeit ihrer letzten großen Blüte […] der immer getreue Freund seiner vielen Freunde, als Freund von R ­ udolf STICH der anima candia«.258

Die Treffen Stich zu Ehren finden dennoch weiterhin statt, letzte Weggefährten und nachfolgende Mediziner halten sein Andenken wach und auch Bauer erhielt zu seinem 85. Geburtstag eine Laudatio auf dem »Stich-Schüler-Treffen am 22.11.1975«. Die Stich’sche Schule war jedoch weit mehr als eine Gemeinschaft von Chirurgen, die vom gleichen Lehrer ausgebildet worden waren, die sich in fachlichen Fragen konsultierten, einen regen Informationsaustausch über Kollegen betrieben, sich gegenseitige Empfehlungen aussprachen, Assistenten vermittelten und die sich gegenseitig operierten. Die Stich’sche Schule ist auch eine private Gemeinschaft, fast so etwas wie eine Familie. Fräulein Tschackert, die »älteste Repräsentantin der Schule Stich«259 und seine Privatsekretärin, fuhr auch wie selbstverständlich über viele Jahre mit der Familie in den Urlaub, verwaltete das private Vermögen ihres Chefs, übernahm mitunter an der Seite seiner Frau auch die private Korrespondenz. Die häufigen Einladungen in die Villa Stich und gemeinsam gefeierte Feste waren die Regel – mit einem seiner Assistenten fuhr er sogar nach dessen schwerer Krankheit in einen mehrwöchigen Wanderurlaub, bis dieser vollständig genesen war. Aus diesem Urlaub schrieb Stich an Bauer: »Gaza macht sehr schöne Fortschritte. Heute morgen haben wir eine flotte 9 ½ Stunden Wanderung in die Berge gemacht. Auch die Chirurgie beginnt uns zu be­ schäftigen.«260 257 Brief von Bauer an Aloys Beykirch vom 14.7.1956, ebd. 258 Beileidsschreiben von Bauer an Familie Gruber vom 20.7.1977, ebd. Hervorhebung im Original. 259 Vgl. Brief von Heydemann an Bauer vom 17.10.1966, ebd. Noch nach Stichs Tod im Jahr 1966 feierte man Tschackerts Geburtstag gemeinsam und übersandte sich davon Fotos. 260 Stich an Bauer am 28.4.1927, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Dass von Gaza trotzdem früh starb, war für Stich ein schwerer Schlag und er würdigte seine Einzigartigkeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit: Er war »so lange ich ihn kenne, anders als ›die vielen‹. [Er] lebte seinen eigenen Stil. Voll köstlichen Humors, erfüllt von Geist, liebenswürdig bei aller Grobheit, schüchtern bei draufgängerischem Vorgehen«.261

Er kam zu Stich nach Göttingen, um wissenschaftlich zu arbeiten und sich in Röntgenologie zu habilitieren. Außerdem habe er, was Stich extra betont, »das theoretische Betätigungsgebiet mit den Belangen des Lebens« verbunden, so wie sein Lehrer es ihm vorlebte.262 Man wanderte nicht nur, man ging auch gemeinsam auf die Jagd. Mit vielen seiner Schüler hielt er, auch nachdem sie Göttingen verlassen hatten, intensiven schriftlichen Kontakt und gab ihnen als der »liebe Lehrer Stich« Ratschläge für ihr berufliches und privates Leben, an dem Stich immer regen Anteil nahm: »Du weißt, auch ohne dass ich viele Worte mache, welch innigen Anteil ich an allen deinen Lebenswegen und Lebensabschnitten nehme und dass ich dir stets das Beste wünsche. […] Bezähme deinen Ehrgeiz und beherrsche deine Ungeduld. Bleibe mir der treue, tüchtige, zu schönen Zielen heransteigende Mitarbeiter, von dem ich dereinst sagen kann, dass ich ihn nur schweren Herzens, wenngleich freudig ziehen lasse.«263

Vor allem aber unterstützte man sich und die Familien. So konnte auch Stich 1944 Bauers Hilfe und Einfluss bemühen, um für seinen Sohn Walther eine gute berufliche Position zu erreichen, der ebenso wie sein Vater Arzt und Chirurg war. Nachdem er 1946 zunächst bei seinem Vater Assistent wurde, war er als Sohn eines »Schwerbelasteten« vom amtierenden Kurator in Göttingen nicht mehr erwünscht. Daher machte Walther zunächst Station in Goslar, »bis der Rummel vorbei ist. […] Die Entnazifizierung Walthers läuft, ob sie zum gewünschten Ergebnis führt muss die Zeit lehren.«264 1950 dann kam er bei Bauer in Heidelberg unter, genauso wie 1958 Stichs Enkelin Meta Dames, die an der Heidelberger Klinik als Krankengymnastin tätig war und auch bei Bauers wohnte. Schließlich verließ sie die Klinik, aber, wie Stich meinte, »im übrigen ist sie ja mündig und kann vom Großvater noch weniger gesteuert werden als vom

261 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, 22.11.1975. 262 ­Rudolf Stich, Nachruf auf von Gaza, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 164 (1936), S. 174–176 und in der Eröffnungsansprache 1937 vor der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 263 Brief von Stich an Bauer vom 28.4.1928, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 264 Brief von Stich an Bauer vom 2.9.1946, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Vater.«265 Auch war ein Schüler Stichs, Hasche-Klünder, mit der Tochter seines guten Freundes Georg Benno Gruber verheiratet.266 Fast wie eine familiäre Bindung fiel auch die burschenschaftliche ins Gewicht, die die Gemeinschaft mit ihren Werten speiste und identitätsstiftend wirkte. Unter den Stich-Schülern fanden sich mindestens zehn oder elf Bubenreuther (Wehefritz, Bauer267, Geissendörfer, Greiner268, Bock269, Matthiae270, Meier, Meyer, Pabst, Schulte). In Stichs näherer Familie waren vier Buben­ reuther: neben ihm selbst, sein Vater, sein Großvater, sein Onkel und sein Sohn Walther, schließlich auch, zumindest zeitweise, der eine oder andere Enkelsohn. Auch unter den Autoren von Bruns’ Beiträgen fanden sich Bubenreu­ ther (­Koenig271, Seifert272, Heller273, Schneider, Schmidt  – »Zylinderschmidt«, Roth274). »Also geschehen vor etwa 50 bis 60 Jahren. Damals regierte Stich, ein Liebling der Götter, die Klinik. Klein an Gestalt zwar, doch groß an Geist und Fleiß und Wissen, und an Gradheit auch und voller Energien. Also floß ihm die Lehre von beredtem Munde. Und mit erhobenem Finger gab er der Wichtigkeit Ausdruck Jeglichen Kerns seiner Lehre, artikulierte Scharf dabei das wohlüberlegte geschliffene Wortspiel. Ehrfurchtsvoll lauschten Studenten und schrieben eifrig nieder Alle Blitze des Geistes des hochgelehrten Meisters. […] Alle erlebten wir damals die große Visite, welche ­Rudolf Stich an jedem Freitag zelebrierte. 265 Brief von Stich an Bauer vom 23.6.1958, ebd. 266 Vgl. Brief von Stich an Bauer vom 2.9.1946: »Du wirst lächeln, […] aber am eigenen Leib sind auch die Chirurgen und Professoren nicht immer objektiv. Das habe ich gestern an Gruber gemerkt, den ich nachts um ½ 10 auf Bitten seines Schwiegersohnes Hasche-Klindern [sic!] aufgeweckt habe, weil er glaubte, ein Canerti [?] zu haben. Schon die genau aufgenommene Vorgeschichte ergab, dass das unwahrscheinlich sei, die Untersuchung bestätigte es. Es waren wirklich nur Hämorrihden. Seinen Schwiegersohn, der mit Walther bei mir […]assistent ist, ließ Gruber bezeichnender Weise nicht an sich heran.« Ebd. 267 Im Falle Bauers ist belegt, dass der Kontakt zu Stich über die Burschenschaft zustande kam. Bauer schreibt für die Burschenschaftlichen Blätter 1925 Buchrezensionen. 268 Hans-Baldung Greiner, Schüler von Stich, nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. 269 Assistent bei Stich, nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. 270 Nähere Angaben ließen sich nicht ermitteln. 271 Friedrich Franz König, Professor für Rechtswissenschaft. 272 Ernst Seifert, 9.11.1887–29.8.1969, 1923 ao. Professor in Würzburg, seit 1931 Mitglied der SA, seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit 1938 Ordinarius und Rektor in Würzburg, Beratender Chirurg, Einstellung des Spruchkammerverfahrens, 1952 Emeritierung. 273 Heller verfasste ebenfalls einen Abschnitt in Martin Kirschner, Die Chirurgie (1941). 274 Zu den letzten drei genannten ließen sich leider keine weiteren Angaben ermitteln. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Eine Prozession der weißbemäntelten Ärzte, Oberarzt und Assistenten erster und zweiter Ordnung – erstere häufig innerlich seelisch schlotternd, Mehr oder weniger, je nach Gewissem, gutem oder Bösem – denn kaum etwas blieb dem Alten verborgen, jene der zweiten Ordnung mehr als zufäll’ge Opfer, ohne Verantwortung für die Unterlassungssünden. Aber alle waren erleichtert, wenn die Visite vorbei war.«275

Bereits zu Lebzeiten war die Verehrung des Meisters groß und wurde vielfältig zum Ausdruck gebracht. Nicht nur stärkten die Schüler276 die von R ­ udolf Stich 1935 mit einem Grundstock von fünftausend Reichsmark zum Zwecke der Förderung des Studiums junger Mediziner eingerichtete Stich-Stiftung277, sondern sie feierten auch gemeinsam die Geburtstage: »Man denkt, das schöne Fest in Göttingen wäre eben erst gewesen, und nun ist schon wieder ein Jahr dahingeglitten!«278 Aber nicht nur die Investition in die Gemeinschaft brachte die Verbundenheit der Gruppe zum Ausdruck, die Verehrung wurde auch offen ausgesprochen. Die Gratulation Bauers an Stich zur Ehrenbürgerwürde klingt fast schon ein wenig erlöst, dass die Bedeutsamkeit des Lehrers endlich angemessen gewürdigt wurde: »Endlich! Wie lange schon hast du es verdient, dass Göttingen dich ehrt. Du hast wie wenig andere durch zwei Generationen hindurch den Namen dieser Stadt in die Welt getragen, nicht nur in deiner ärztlichen, sondern auch in deiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Wie viele Ärzte und Studenten der versch. Länder und Sprachen sind durch dein Lehrbuch deine Schüler.«279

Auch scheuten sie nicht, ihre Bewunderung »unseres einzigartigen Lehrers«, ja Huldigung, öffentlich kund zu tun, wie im Falle einer ungenannten Schülerin, die sich an das Göttinger Tageblatt wandte: »Wenn ich überhaupt schreibe, so tue ich das nur darum, um mitzuteilen, daß Prof. Stich damals für uns alles bedeutet hat. Keiner seiner Schüler hat seine Vorlesung versäumt, mit Ausnahme derer, die Angst hatten, mit unfehlbarer Sicherheit wieder herausgegriffen zu werden und ihr Nichtwissen zeigen zu können. […] Da war Betrieb, 275 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, 22.11.1975. 276 Brief von Bauer an Stich vom 10.7.1942. Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. Bauer möchte anonym bleiben. 277 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. R. Stich: Nachlass Stich 25:35. 278 Brief von Bauer an Stich vom 18.7.1956, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 279 Brief von Bauer an Stich vom 29.11.1957, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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da war keine Minute, die wir versäumen wollten, wir ›rasten‹ in die Vorlesung, um kein Wort unseres hochverehrten Lehrers zu versäumen.«280

Die Feierlichkeiten zu Stichs Geburtstagen vollzogen sich nicht im kleinen Rahmen. 1936 lud er zum Beispiel alle seine Mitarbeiter und deren Gemahlinnen nach Bad Harzburg ein, zu diesem Anlass wurden »Festschrift, Stiftung und Album feierlich überreicht«281. Eine Kommission seiner Schüler hatte die Feierlichkeiten akribisch vorbereitet, der Aufruf zur Teilnahme gleicht einem Aufruf zu einer Pilgerfahrt: »Es ist wohl für jeden früheren Schüler Stichs, der ihm seine Dankbarkeit für Ausbildung und für alles Menschlich-Persönliche zum Ausdruck bringen will, eine Ehrenpflicht, Stich persönlich an diesem Tage seine Glückwünsche darzubringen und den Geburtstag Stichs zugleich zu einem Ehrentag seiner Schule zu machen. Also auf zur Sternfahrt nach Bad Harzburg! Die vorbereitende Kommission, i. A. Bauer«.282

Anlässlich dieser Ehrentage wusste die ganze Universität Bescheid, in Stichs Personalakte ist zu seinem 75. Geburtstag vermerkt, Stich begehe seinen Geburtstag »im Schülerkreis« in Hann. Münden, ab 21 Uhr gäbe es einen Fackelzug vom Wilhelmsplatz zum Haus von Stich.283 Und tatsächlich zogen 700 Studenten zur Villa Stich, um den Jubilar zu ehren. Zu diesem Geburtstag verfasste Geissendörfer in der gemeinsamen Zeitschrift eine umfangreiche Laudatio284 auf Stich, die aus der Perspektive des huldvollen Schülers einen bewundernden Blick auf den akademischen Lehrer und dessen Persönlichkeit wirft. Geissendörfer sprach als Stellvertreter der Gruppe den »verehrten Lehrer« an und betonte, die Veranlassung zu gratulieren sei deshalb besonders groß, »da es uns infolge widriger äußerer Umstände [gemeint ist die Inhaftierung Stichs] nicht vergönnt war, seinen 70. Geburtstag zusammen mit ihm zu feiern«. Der Gedanke eigener Verantwortlichkeit kam den Schülern nicht – die Unfehlbarkeit des Lehrers war vorausgesetzt, gegen »widrige äußere Umstände« sei man machtlos. Die Schüler widmeten ihm eine Ausgabe von Bruns’ Beiträgen, da es nicht »der feinen, zurückhaltenden Art Prof. Stichs« entspreche,

280 Universitätsarchiv Göttingen, Rektoratsakte Stich, Auszug aus dem Göttinger Tageblatt vom 29.7.1950. 281 Es handelt sich um ein Fotoalbum mit den Porträts seiner Schüler, welches sich heute im Besitz des Enkels Dr. Wendelin Dames befindet und welches uns dieser freundlicherweise zur Rekonstruktion der Stich’schen Schule zur Verfügung gestellt hat. 282 Schreiben von Bauer an die Schüler am 15.6.1936, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 283 Aktennotiz des Rektors in der Personalakte ­ Rudolf Stich Kur., Universitätsarchiv Göttingen. 284 ­Rudolf Geissendörfer, Stich zum 75. Geburtstag. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Abb. 11 u. 12: Fackelzug der 700 Studenten am 19. Juli 1955, zu Stichs 75. Geburtstag (Quelle: Privat)

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»diesen Tag mit großen Worten zu begehen, deshalb sei ihm eine Sammlung von Arbeiten seiner stets in Dankbarkeit mit ihm verbundenen Schüler auf den Gabentisch gelegt, als äußeres Zeichen dafür, dass sein Wirken auf fruchtbaren Boden gefallen ist.«285

Die großen Worte stammten vielleicht von anderen, die Festlichkeiten waren jedoch opulent, dass Kokettieren mit der Bescheidenheit des Lehrers erscheint als rhetorische Figur, wenn Geissendörfer betont: »Es gäbe an diesem Tage viel zu sagen, gerade über Prof. Stich als Mensch, Chirurg, Forscher und Lehrer. Nur derjenige, dem es vergönnt war, zu seinen Mitarbeitern zu zählen, oder der sich in schweren Tagen seiner ärztlichen Hilfe anvertraute, weiß dies richtig zu würdigen. Die Rücksicht auf das Wesen unseres verehrten Lehrers verbietet es uns jedoch, viele Worte darüber zu verlieren.«286

Dass »ihm die Chirurgie doch stets mehr als nur Beruf gewesen« war, entsprach nicht nur dem ärztlichen Selbstverständnis der Zeit, auch für den Führer der Gruppe ist die Berufung Fundament seiner Legitimation. Ebenso wurde der 80. Geburtstag, den Stich »in körperlicher und geistiger Frische« erlebte, von Geissendörfer mit ähnlichen Worten287 bedacht. Die Schüler dankten dem Jubilar, der »kein Aufsehen um seine Person wünscht«, für das, was er »uns fachlich, ärztlich und menschlich mit auf den Lebensweg gegeben hat«. Er habe eine »große Chirurgenschule begründet, aus der Ordinarien und zahlreiche Chefärzte von Krankenhäusern hervorgegangen sind«. Hier wurde also nicht nur der Lehrer geehrt, man feierte auch sich selbst, wenn der Gradmesser für Stichs Lebensleistung die Größe und Qualität seiner Schule war. Auch zehn Jahre nach Kriegsende wurden die gruppenkonstitutiven Elemente des Arztseins, des Dienstes am Vaterland und die Werte der Burschenschaft zu einem Kern verdichtet: »In beiden Weltkriegen diente er seinem Vaterland als Beratender Chirurg, getreu seinem studentischen Wahlspruch ›Mit Gott für Freiheit, Ehre und Vaterland‹.«288

Dass Geissendörfer überhaupt auf diese Zeit einging, war schon bemerkenswert, andere Laudationes der Zeit sparen sie meist vollkommen aus. Verspüren die Schüler hier, bei Prof. Stich in Göttingen, zu der Zeit, als ihn die größten Ehrungen erreichen, vielleicht einen Rechtfertigungsbedarf?

285 Ebd. 286 Ebd. 287 ­Rudolf Geissendörfer, Stich zum 80. Geburtstag. 288 Dieser Wahlspruch ist der Wahlspruch der meisten deutschen Burschenschaften, auch der Bubenreuther. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»An die schweren Jahre nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 denkt er nicht etwa mit Bitternis zurück, sondern bezeichnet sie vielmehr als solche schönster, männlicher Kameradschaft.«289

Geissendörfer übernahm die verklärenden Worte, mit denen Stich nach seiner Zeit im Internierungslager die damalige Zeit beschrieben hatte. Das PfadfinderIdeal der festen Gemeinschaft unter Männern, die allen Wirrnissen zum Trotz zusammen hält und alle Abenteuer besteht – es ist kein Zufall, dass es hier beschworen wurde. Und eine solche Gemeinschaft braucht einen Führer, einen »kritischen und gestrengen Lehrmeister«, ja, die Schüler fanden in Stich noch mehr: »Wer jedoch sein Vertrauen auf Grund seiner Leistungen gewonnen hatte, konnte seiner gütigen und väterlichen Fürsorge, auch in Zeiten der Not, sicher sein, ebenso wie er übermütige Streiche seiner Assistenten, die ihm manchen Kummer bereiteten, verzeihen konnte. Wenn wir, seine Schüler, zu einem Freundeskreis fürs Leben zusammengewachsen sind, so haben wir es letzten Endes ihm, unserem ›Vater Stich‹ zu danken.«

Stich war nicht nur der Lehrer, er war der Vater seiner Schüler und so verwun­ dert es nicht, dass diese in ihren Dank die gesamte Familie Stich einschlossen, »in deren Haus wir so manche frohe und glückliche Stunde verleben durften.«290 Demgegenüber beschrieb Bauer eher die Funktion, die Stich innerhalb der Schule einnimmt. Mit seiner Rede in der Aula der Georgia August, die er im Namen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und auf Veranlassung der hiesigen Medizinischen Fakultät hielt, ging er anschaulich auf den Charakter von Stich ein.291 Bauer stellte die rhetorische Frage, wie er Stich ehren sollte, »ihn, der jedem Lob abhold? Ihn, dem, wie er selbst zu sagen pflegt, jedes ›Trara‹ zuwider ist? Ihn, den Zartheit und Bescheidenheit bestimmen? Nun, wie der Wanderer, wenn er den Gipfel erklommen, so blickt auch der Achtzigjährige gerne weit zurück.«292 Und auch hier wird die Summe des hippokratischen »Idealbild des Arztes«, welches durch Gesundheit bedingt ist, mit der Tätigkeit des Erziehers und der Bedeutung der Familie verbunden. »Herrlich, wenn sich die erbkonstitutionelle Langlebigkeit vereint mit konditioneller Mäßigkeit zum Erscheinungsbild des zwanzig Jahre Jüngeren! […] Vielleicht ist es Weltrekord« in Stichs Alter noch zu operieren. »Wohl dem, der mehr denn 100 Semester die Jugend erzieht durch das beste Paedagogicum, durch sein Vorbild!«. Zu den »Quellen der Lebenskraft« gehöre aber auch die Familie, »Kinder und Enkel 289 ­Rudolf Geissendörfer, Stich zum 80. Geburtstag. 290 Ebd. 291 An Thea Tschackert schreibt Bauer anlässlich dieser Rede am 22.8.1955: »Stichs wegen würde ich es doch gerne sehen, wenn meine kurze Rede am 80. Geburtstage veröffentlicht würde. Ich glaube, dass Stich auch gerne seinen Schülern und Freunden einen Sonderdruck zur Erinnerung schenken würde.« Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 292 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sind die Bürgschaft des Fort-Lebens, die des Fort-Wirkens die Werke des Berufs. Beruf bedeutet In-Pflicht-Nahme für einen Daseinszweck, ein ganzes Leben lang. Arztsein bedeutet In-Pflicht-Genommensein für andere – von Mensch zu Mensch.« Stichs Daseinszweck war vor allem sein Wirken als Lehrer: »Als klinischer Lehrer war Stich – ich spreche nur von Tatsachen – ohne Vergleich. Vor dem Kranken stehend, die Hörer ununterbrochen im Auge, packend im Vortrag, drastisch in seinen Vergleichen, hart zu den Praktikanten, immer auf Erkenntnis und Handeln abgestimmt, war Stichs ›Chirurgische Klinik‹ immer zugleich auch eine hohe Schule des Arzttums. Wenn der erboste Zeigefinger drohend in die Höhe ging und die Anrede ›Herrschaften!‹ ertönte, dann las er ›die Leviten‹ gegen Mackertum, Unkollegialität, Phraseologie, Profitgier […] Einprägsam seine Formulierungen, unvergesslich seine Imperative!«293

Im Unterricht wurde gelegentlich aus dem »sonst so stillen Mann« ein »Temperamentvulkan«. »Mit Leib und Seele Lehrer, hat er wohl das Gros der niedersächsischen Ärzte geschult […] Verstrickte sich einer in den Netzen der Justiz, jeden hat er […] schließlich, wie er zu sagen pflegte – ›herausgepaukt‹.«294

Kollegialität erscheint hier als Kern der Gemeinschaft, in der man auch für einander einsteht, wenn Konflikte von außen an Mitglieder der Gruppe herangetragen wurden. Und an anderer Stelle schrieb Bauer an Stich: »Du kannst von deiner Schule das stolze Bewusstsein haben, dass deine Schüler alle fortgesetzt so handeln, als ob du ihnen über die Schulter hinweg zusähest. Wer echter STICH-Schüler ist, bei dem operiert eben immer ›der Alte‹ noch mit. Diesen Ruhmestitel macht dir keiner streitig, und es ist der schönste Ruhmestitel, den ein großes Fach einem seiner Altmeister zu verleihen hat. […] Immer in tiefer Dankbarkeit für all das Viele, Gute und Schöne, was ich dir auf meinem Schicksalsweg im Beruf und Leben zu verdanken habe.«295

Diese Hymne, die Stich kurz vor seinem Tod erreichte, war nicht nur eine Stilisierung des Schreibers und des Adressaten, sondern auch eine Vergewisserung der Bedeutsamkeit der eigenen Gruppe. Mit der Überhöhung des Führers der Gruppe wurde auch die Gruppe selbst bedeutsamer. »Denk’ ich zurück, so kann ich es kaum fassen, daß aus Jenem Einst, in dem wir begannen, nur noch Lieschen und Bauer und Lantzius und ich überleben. Einsam ward es um Uns, und Wehmut beschleicht uns, wenn an das Einst wir denken. 293 Ebd. 294 Ebd. 295 Bauer an Stich, 15.7.1960, ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Aus der Ferne winkt uns der Meister, winken die Freunde Freundlich uns zu. Wir spüren ihre Nähe, und an Unserem geistigen Auge ziehen sie still vorüber.«296

Diese Ansprache Meyeringhs an die »Stich-Gemeinde« hat einen sakralen Duktus, wenn sie der Toten gedenkt, die ihnen freundlich zu winken. Noch bis 1985 traf sich der Schüler- und Freundeskreis von Stich einmal jährlich in Göttingen, meist im Gebhardts Hotel. Sprecher des Kreises war bis 1967 Heydemann, anschließend PD Dr. med. von Oeynhausen aus Verden an der Aller, welcher auch stellvertretend zur Enthüllung der Gedenktafel an Stichs Wohnhaus eingeladen wurde. Bei diesen Treffen gab es ein gemeinsames Abendessen und einen Besuch am Grabe Stichs, dazu gebeten wurden auch Freunde wie Gruber oder der Nach-Nachfolger Stichs Prof. Hans-Jürgen Peiper,297 der diese Abende als »ein freundschaftliches Zusammentreffen«, als einen »netten Gesellschaftsabend« erinnert. Es wurden aus der Erinnerung heraus Reden auf Stich gehalten, Anekdoten ausgetauscht; auch die Ehefrauen der Schüler waren dabei. Dabei wurde ausschließlich die Verklärung vorangetrieben, Stichs politische Haltung wurde zu keinem Zeitpunkt thematisiert. Auch die Rückkehr nach Göttingen, den Ort des gemeinsamen Erlebens, hat einen immensen Stellenwert: »Es ist eben doch ein fundamentaler Unterschied, ob sich einige Leute, die sowieso in München sind, unter der alten Göttinger Flagge versammeln, oder ob alles von weither zugereist ist, auf dem Boden der Jugendzeit zu wandeln, um damit zugleich die Dankbarkeit gegen den großen eigenen Lehrer zu bezeugen.«298 Und so ist das Treffen nicht nur den Schülern eine große Freude, »sondern auch dem Andenken unseres in der Gesamtheit seiner Eigenschaften unerreichbaren alten Chefs [ist damit] ein neues würdiges Denkmal gesetzt.« Der beschworene Geist der Gemeinschaft – an alter Wirkungsstätte ist er besonders greifbar, die Einzigartigkeit des Lehrers in dem Nachruf von Geissendörfer299 besonders herausgestellt: »Mit ihm verliert seine große Familie den treusorgenden Vater, die Deutsche Gesell­ schaft für Chirurgie eines ihrer markantesten Mitglieder, seine Schüler und Studenten ihren hochverehrten Lehrer und väterlichen Freund und eine unübersehbare Schar dankbarer Patienten ihren ärztlichen Betreuer.«300 296 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, 22.11.1975. 297 Im Gespräch mit Prof. Hans-Jürgen Peiper schilderte dieser die Treffen zu Stichs Ehren anschaulich. Hans-Jürgen Peiper, 2.12.1925 geboren, 1944 Beginn des Medizinstudiums, in amerikanischer und französischer Kriegsgefangenschaft, 1952 Promotion in Mainz, Inhaber des Lehrstuhls für Chirurgie und Direktor der Abteilung Allgemein­ chirurgie in Göttingen, Träger der Albrecht von Haller-Medaille seit 2011. 298 Bauer an Heydemann am 23.10.1967, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 299 Geissendörfer, Zum Gedenken an Prof. Dr. ­Rudolf Stich. 300 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Auch wurde betont, dass Stich den Bubenreuthern »bis zum Tod« die Treue gehalten hätte. »Göttingen wurde seine zweite Heimat, auch wenn er stets ein echter Sohn seiner fränkischen Heimat geblieben ist.« Dort sei es Stich vergönnt gewesen, eine »große und angesehene Chirurgenschule« zu errichten, in der er »gerade auf den engen, persönlichen Kontakt« besonderen Wert gelegt habe.301 Sein Charakter »zeichnete sich durch Unbestechlichkeit aus; wenn er etwas für richtig erkannt hatte, so gab es für ihn keine Konzessionen, es sei denn, er konnte durch neue Tatsachen überzeugt werden. Er war ein strenger, kritischer, aber zugleich auch gütiger Lehrer. […] Pünktlichkeit, eine exakte Diagnose, eine saubere Indikationsstellung, eine einwandfreie Operationstechnik und eine Nachbehandlung mit Ausschöpfung aller Möglichkeiten unter letztem persönlichen Einsatz waren für ihn die selbst­ verständlichen Voraussetzungen für einen Chirurgen, und wer dagegen verstieß, musste die Konsequenzen ziehen. Daher mag es auch kommen, dass seine Assistenten zu einer Einheit zusammengewachsen sind und Freundschaften für das ganze Leben geschlossen haben.«302

Die Gemeinschaft der Schüler war eine Erfahrungsgemeinschaft und hatte für diese als solche eine prägende Bedeutung. Den Wert, den Stich Zeit seines Lebens unterschiedlichen Gemeinschaften beigemessen hatte, er gab ihn als Selbstwert an seine Schüler weiter. »Die Stichsche Klinik galt als eine sog. ›Oberarztklinik‹ im guten Sinne des Wortes, denn Stich ließ seinen älteren und bewährten Mitarbeitern in der Klinik und in der wissenschaftlichen Arbeit weitgehend freie Hand, ohne dabei allerdings die Zügel aus der Hand zu geben. Dies ist wohl der tiefere Grund, dass Prof. Stich der Vater einer so großen Chirurgenschule wurde.«303

Und nicht nur einer Chirurgenschule, sondern eben der Kopf einer Gemeinschaft, die alle Lebensbereiche umfasste: »Im Dienst wahrte Prof. Stich seinen Mitarbeitern gegenüber stets einen gewissen Abstand, um so enger gestaltete sich außerdienstlich sein persönliches Verhältnis zu seinen bewährten Mitarbeitern, die auf Grund ihrer Leistungen in der Klinik sein Vertrauen gewonnen hatten. Für sie wurde er zum väterlichen Freund, zu dem man auch mit persönlichen Anliegen jederzeit kommen konnte. Wer sich bei ihm bewährt hatte, der konnte auch auf seine Hilfe rechnen. Auch die frohen Stunden in seinem schönen Heim legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab. Selbst für Streiche seiner Assistenten, die ihm manchen Kummer bereitet haben, zeigte er nach einem Wort des Tadels durchaus Verständnis. So war es nicht verwunderlich, dass Prof. Stich mit vielen seiner älteren Mitarbeiter eng freundschaftlich verbunden blieb. An seinen

301 Ebd. 302 Ebd. 303 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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›Geburtstags-Jubiläen‹ hatte sich daher auch stets eine große Zahl seiner Schüler in alter Verbundenheit und Dankbarkeit um ihren ›Vater Stich‹ versammelt. Wir, seine Schüler, haben mit ihm mehr als unseren Lehrer verloren.«304

Auch das entsprechende Pathos bei der Inszenierung seiner Persönlichkeit durfte nicht fehlen: »Für uns alle war es ein ergreifender Augenblick, als an seinem 75. Geburtstag von draußen aus dunkler Nacht das Jagdhorn seiner Jagdgefährten ertönte, ebenso wie am Grabe, als seine sterblichen Überreste der Erde übergeben wurden.«305

Bis 1959 operierte er, die Sprechstunde führte er bis zu seinem Tod weiter. Obwohl die Beisetzung im engsten Familien- und Freundeskreis stattfand, waren seine Schüler anwesend – sie durften sich also ganz selbstverständlich zur Familie rechnen. Bauer verfasste ebenso einen ausführlichen Nachruf306, in dem er Stich als »Repräsentanten hippokratischen Arzttums« beschreibt und auch nicht davor zurückscheut, dessen »kategorischen Imperativ« mit der Phrase: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« zu fassen. Durch sein Engagement in diversen Lehrbüchern sei Stich Didaktiker geworden. Auch das Lehrbuch, welches er von seinem Lehrer Garré übernahm, arbeitete er so oft um, bis es »dem Lernenden ganz Stichsches Wissensgut und Stichschen Geist vermittelte«. Am meisten entspräche jedoch das Buch »Fehler und Gefahren bei chirurgischen Operationen« Stichs Wesen: »Was zeugt das von Ehrlichkeit und zugleich von innerer Stärke, selbstgemachte Fehler offen einzugestehen und nicht nur das Strahlende der Chirurgie, den Erfolg, darzustellen«.307

Er habe vor allem »chirurgisch-erzieherisch« durch das gesprochene Wort gewirkt. »Als wahrer Meister chirurgischer Pädagogik bewährte sich Stich im Kolleg. Es ist richtig, er hatte für den, der ihn nicht näher kannte, äußerlich vielleicht etwas nachdenklich Schulmeisterliches an sich. Aber das nur äußerlich, solange er nicht sprach. Galt es aber, die Hörer in die Hohe Schule ärztlicher Verantwortung zu nehmen, so entwickelte der scheinbar stille Mann ein Temperament und eine Darstellungskunst, die jeden mitriß.«308

Für dramatische Szenen im Leben des Arztes wählte er unbedenklich auch die dramatische Form der Darstellung. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 307 Ebd. 308 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Dabei wuchs er sichtlich über sich hinaus. Ich bin überzeugt, heute noch klingen jedem Arzt, der bei ihm gehört hat, seine scharf pointierten Formulierungen Wort für Wort in den Ohren, wenn er in einer Notsituation vor dem Kranken steht: ›Nur keine Zauderpolitik! Handeln, handeln und nicht die Hände in den Schoß legen!‹ […] Lehren war ihm Leidenschaft, nicht die einzige – ich denke an die Jagd –, aber die größte.«309

Er kannte alle Studenten, die wöchentlich vier Mal 75 Minuten in seinem Kolleg sitzen mussten, was bei vielen Studenten gefürchtet war. »Ich erinnere mich eines geborenen Göttingers, der nur deswegen nach auswärts ging, weil er der Unerbittlichkeit der Fragen im Stichschen Kolleg aus dem Weg gehen wollte.«310

In den 34 Jahren »wurde Stich Gründer und Haupt einer großen Schule. Das Geheimnis seines Erfolges war sein lebendiges Vorbild in Redlichkeit und Gewissenhaftigkeit.« Und diese Schule war durchaus nicht von Beliebigkeit geprägt: »Der Einheitlichkeit der Schulung entsprach die Einheitlichkeit der Auslese seiner Schüler. Leute, von denen er sagte: ›der liegt mir nicht‹, kamen bei ihm nicht weiter. Vor allem: Man durfte diesem Mann der unbedingten Wahrhaftigkeit nichts verbergen oder auch nur beschönigen.«311

Wie viele andere, die Stich kannten, waren auch seine Schüler beeindruckt von Stichs »Pupillentest«: »Stich war kein Mensch der großen und vielen Worte. Und er mochte auch derlei viel redende Leute nicht gerne leiden. Für ihn kam es darauf an, dem anderen in die Augen sehen zu können, ohne dass der andere ›muckte‹ oder gar zur Seite blickte. So legte er wie er zu sagen pflegte, Wert auf des anderen ›pupillarische Sicherheit‹.«312

Auch außerhalb der Klinik übernahm Stich erzieherische Verantwortung für seine Schüler. »Dabei war Stich auch eines echten Zornes durchaus befähigt. Ich erinnere mich an einen Abend nach einem Vortrag über die Skagerrakschlacht, als wir Assistenten gefeiert hatten, randalierend und skandalierend durch die ›Weender‹ zogen und schließlich auch den Kliniknachtwächter nicht verschonten. Heute noch klingen mir die Worte seines Zornes in den Ohren.«313

309 Ebd. 310 Ebd. 311 Ebd. 312 Georg Benno Gruber, Arbeiten XXII, im Teilnachlass Georg Benno Gruber, Universitätsarchiv Göttingen. 313 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler Der akademische Vater in der Gemeinschaft seiner Schüler

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Wenn man aber erst sein Vertrauen erworben hatte, so sei es unerschütterlich gewesen. Als Beispiele für diese lebenslange Treue führte er das Verhältnis zu Fromme und zu Thea Tschackert, der getreuestens der Getreuen, an. »Sechs seiner Schüler und ›Enkelschüler‹ sitzen auf Lehrstühlen«, seine Urenkel sind erfolgreiche Dozenten. In den Augen seiner Schüler war Stich ein Mann der Mitte: »War Stich ein großer Lehrer, so vor allem weil er ein großer Arzt war, der den Chirurgen in ihm immer unter Kontrolle gehabt habe. Er hasste die ›Radikalinskis‹ und war im Grunde ›selbst ein konservativer Mann‹«, was ihm das unbedingte Vertrauen seiner Patienten sicherte, da die einzige Richtschnur »sein ärztliches Gewissen« gewesen sei; seine Gewissenhaftigkeit »wurde nur noch übertroffen von seiner großen Güte.« Auf der anderen Seite sei er ein großer Feind von »Drücke­ bergerei, mangelndem Arbeitswillen oder gar Ausbeuterei« gewesen.314 Otto Weber, ein ehemaliger Patient von ihm, sprach am Grab und bescheinigte ihm das »Pathos des Arztes«, indem er ihn einen »Edelmann des Arzttums« nannte. »Ich bin keinem Arzt begegnet, der dem Eid des Hippokrates ein langes Leben so getreulich nachgelebt hätte wie ­Rudolf Stich.«315 Bauer machte den Grund für Stichs große Beliebtheit in seiner Persönlichkeit aus: »Seine große Intelligenz war gesteuert von großer Herzensgüte, und seine stete Hilfsbereitschaft war gepaart mit großer Bescheidenheit. Seine Bescheidenheit aber gab allen Tugenden innere Wärme und entwaffnende Würde.« Darin sei er »jeder Propaganda abhold« gewesen. Seine Stärke kam aus der Vermeidung von Extremen, »Maßhalten und Mäßigung waren die Quersumme seiner Lebensweisheit.«316 Wie passt zu dieser Einschätzung der Satz, mit dem Bauer seinen Nachruf beschließt? Einem Menschen, den man liebt, müsse man seine Fehler nachsehen: »Er, der vir nunquam politicus, ließ sich durch eine Kettenreaktion der Geschehnisse politisch engagieren. Über den Tod hinaus sei jedoch bezeugt: Hat er vielleicht auch geirrt, so hat er nie gefehlt. Aber Unschuld schützt nicht vor Untersuchungshaft.«317

Für »all das Ungemach«, gemeint ist die Arrestierung, »hat ihm das Schicksal einzigartige Gnade erwiesen«, da er so lange noch operieren konnte.318 »Damals regierte Stich, ein Liebling der Götter, die Klinik.«319

Der »Liebling der Götter«, der in seiner Sendung als Arzt die Klinik regierte und führte, stilisierte sich selbst als Lehrer, Erzieher und Vater, als Vorbild, als Haupt 314 Ebd. 315 Otto Weber zitiert nach Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 316 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, 22.11.1975. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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der Gemeinschaft. Dabei rekurrierte er auf seine Väter, Lehrer und Erfahrungsgemeinschaften und erscheint so in seiner Vaterrolle als ewiger Sohn. Die chirurgische Schule, Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts eine typische Struktur,320 bildete innerhalb des Berufsstandes eine kleine Mikrostruktur ab, die den Nährboden und Spielraum für Stichs unterschiedliche Rollen darstellte. Dass die Anhänger der Schulen sich trafen, war an sich nichts Ungewöhnliches, das Besondere an der Stich’schen Schule war die lange Dauer der Zusammenkünfte auch nach dem Tode des Lehrers. Hans-Jürgen Peiper, der sich mit der Schulbildung in der Medizin beschäftigt hat, betont, dass Schule Stich ein feststehender Begriff in der Medizin sei. Allgemein kommt er zu der Auffassung, »dass dieser Verbund lebenslang doch sehr erhalten bleibt. Diese wichtige Zeit, die man eben als junger Mensch heranwächst und seine Erfahrungen macht, das verbindet natürlich, gerade in einem operativen Fach. Besonders würde ich sagen, weil man da ja oft auch von dem Wohl und Wehe der Älteren abhängt, die gerade eben mit ihrer Erfahrung in kritischen Situationen auch einspringen müssen und weiterhelfen müssen. Das verbindet ganz besonders.«321

Bei seiner Interpretation der Führerrolle orientierte sich Stich stark an seinen Vorbildern, an seinem Vater (»Und wenn ich als Hochschullehrer nie im Leben überheblich und hoffärtig geworden bin, was mir in meinem dienstlichen Umgang mit Berufskameraden sehr zugute gekommen ist, so verdanke ich das in erster Linie der Erziehung durch den Vater«322), an Carl Garré, aber auch an Autoritäten wie Hippokrates oder eben Hitler, den er, in seiner Vermengung der Rollen Vater – Erzieher – Führer auch als Vorbild beschrieb. Dass er die Figur des Arztes und des Führers immer auch mit charakterlichen Attributen belegte, welche Stich nicht nur für einen Arzt, sondern auch für einen »väterlichen 320 Vgl. Hans Kilian, Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im gesamten deutschen Sprachraum, Stuttgart 1982. Zu Chirurgenschulen vgl. auch die Einleitung in Steinau, S. XIII–XIV. Hier wird ausgeführt, dass die Chirurgenschulen auf »den Lehren von Humboldts humanen Bildungsidealen« basierten und mit »tradierten ethischen Grundsätzen ausgestattet« seien. Nicht nur die chirurgische Kunst, sondern auch der »verantwortliche, einfühlsame Umgang mit dem anvertrauten Patienten« werde gelehrt. »Das ›primum nil nocere‹ galt als oberstes Gebot.« Dazu wird Billroth von 1893 zitiert: »Was mir am meisten Freude […] gemacht hat, ist die Begründung einer Schule, welche sowohl in wissenschaftlicher wie in humanitärer Richtung mein Streben fortsetzt und ihm dadurch etwas Dauer verschafft.« Dabei habe die Persönlichkeit des Lehrers eine herausragende Bedeutung, da dieser die entscheidenden Werte vermittle. Dieses sei auch die Ursache für kollektives Handeln dieses Berufsstandes, etwa während des Nürnberger Ärzteprozesses bei dem 23 Universitätsprofessoren ein Gnadengesuch für Brandt unterzeichnen. Es wird angedeutet, dass Publikationen zu dem Aspekt Schulbildung die Zeit des NS meist ausblenden. 321 Vgl. Gespräch mit Prof. Hans-Jürgen Peiper. 322 ­ Rudolf Stich, »Vom deutschen Arzttum«, Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. R. Stich: Nachlass Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Freund« für unerlässlich hielt, trug zu der Vermischung der Rollen bei. Die Prägung durch die Väter erwähnte auch Bauer in seinem Nachruf auf Stich: Wenn man Stichs Arzttum verstehen wolle, müsse man »seiner Väter« gedenken, seinem leiblichen und Garré. »Er hat sie beide geehrt, indem er beide übertraf, am meisten durch seine Arztpersönlichkeit und hier vor allem durch die Kraft seiner Moral.«323

Als akademischer Lehrer, der seine Funktion für die ihm anvertrauten Studenten auch selbst immer wieder überhöhte, sah Stich früh seinen Schwerpunkt in der Ausbildung seiner Schüler. Er wurde nie müde, den Nutzen der Bücher für die jungen Ärzte, für ihre medizinische Ausbildung, aber auch für die Formung ihres Charakters hervorzuheben. »Wer in jungen Jahren in sich aufnimmt, was er dort lesen und lernen kann, der wird nicht zum wilden Draufgänger werden wie manche Ärzte, die sich unserem schönen Fach verschrieben haben, ohne die nötige Ehrfurcht vor dem menschlichen Körper zu besitzen.«324

Die enge Verknüpfung von charakterlicher Veranlagung und der Berufung zum Arztsein springt ins Auge, ja, der Chirurg an sich ist Gegenstand philosophischer Betrachtungen: »Viele Chirurgen, denen ja mit Recht die Schnelllebigkeit ihrer Entscheidungen, die Neigung zum Handeln im Blut liegt, denen sich die Probleme der Gedankenwelt aber mitunter hinter handwerklichen Anforderungen verbergen, weisen es von sich zu philosophieren, d. h. ›in nebelhaften Begriffen zu weiden und sich vom Abstrakten treiben zu lassen‹. Sie betrachten die Philosophie unter jenem leicht verächtlichen Blickwinkel, unter dem andererseits die Geisteswissenschaftler nicht ganz selten den Chirurgen ansehen.«325

Seine eigene Vorstellung vom Arzttum und die damit verbundenen Werte zu vermitteln, war für Stich ein immerwährender Antrieb. In einer Rede von 1943 »Vom Arzttum« sprach er seine Schüler als »meine lieben jungen Freunde« an und schaffte bewusst ein persönliches Verhältnis, das ihn als väterliche Figur etablierte und nicht zuletzt auch stilisierte. Indem er erzählte, warum er den Arztberuf ergriff, schaffte er eine Identifikationsfläche: Bereits mit 19 war er fest entschlossen, Arzt zu werden,

323 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich 324 ­Rudolf Stich, Rezension zu Brunner, Lehrbuch der Chirurgie, in: Bruns’ Beiträge zur kli­ nischen Chirurgie 182 (1951). 325 ­Rudolf Stich, Rezension zu Leriche, Philosophie der Chirurgie, in: Bruns’ Beiträge zur Klinischen Chirurgie 189 (1954). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»nicht weil mein ehrwürdiger, über 90 Jahre alt gewordener Vater schon damals ein hochangesehener, vielbeschäftigter Arzt in meiner Vaterstadt war, sondern weil ich mir […] einfach keinen schöneren Beruf denken konnte als den des Arztes.«326

Er war sich der »Opfer und Entbehrungen« bewusst, die das bedeutete: »Des Vaters ruhelose Arbeit, sein großer Ernst, der Mutter bewegliche Klagen, wie wenig die eigene Familie vom Arztvater habe, der Großmutter Traum, daß ich Pfarrer werden sollte.« Doch nicht jeder kann diesen Weg beschreiten, nicht jeder ist »von diesem wahren Geist der Heilkunde besessen«.327

Schon in den ersten Semestern sähe er seinen Schülern an, ob sie »einmal tüchtige Ärzte abgeben werden« oder nicht: »Wenn man bald 40 Jahre Hochschullehrer gewesen ist wie ich und wenn man bald 2500 werdende Ärzte im Examen unter die Lupe nehmen konnte, dann bekommt man dafür ein scharfes Auge.« Was dann wirklich aus ihnen werde, darüber entscheide dennoch der Lehrer, der sich in die Erinnerung seiner Schüler einbrenne. »Ich höre noch heute die Dialekte und den Sprachklang meiner Lehrer, wenn ich an sie denke.« Nach dem Examen ginge es aber erst richtig los, dann »werden Sie erst lernen, wie leicht es war Medizin zu studieren, und wie schwer, Arzt zu sein. Es ist wie beim Lehrberuf. Es gibt sicher viele ausgezeichnete Studenten der Philologie, aber leider nicht ebenso viele ausgezeichnete Lehrer. Das wisst ihr jungen Leute, die ihr eben frisch von der Schule kommt, aus noch frischerer Erinnerung als ich. Ich weiß es aber auch noch. Seine Lehrer vergisst man nicht, ob sie gut oder schlecht waren. Wenigstens ist es mir so ergangen. Ich wundere mich freilich manchmal, wenn ich in der Vorlesung einen frage, der nicht weiß, wo haben Sie Frakturen und Luxationen […] gehört? Und dann die Antwort kommt in Erlangen oder Rostock oder Berlin oder sogar in Göttingen und ich dann weiter frage: bei wem? Und dann verlegenes Schweigen folgt! Dann, ihr Brüderlein und Schwesterlein, hat der Kerl eben die Vorlesung nicht gehört, vielleicht belegt, aber nicht besucht.«328

Charakteristisch ist Stichs Überhöhung der Person des Lehrers über die Inhalte, die er lehrt. Die »Brüderlein und Schwesterlein« waren im Geist der Situation längst Angehörige der eingeschworenen Gemeinschaft, vielmehr als Schüler, wie die Rekurrenz auf Wilhelm Busch sehr verdeutlicht: »Sie werden also schnell merken, wie leicht es ist, Arzt zu werden und wie schwer es ist, Arzt zu sein, gemäß dem bekannten Spruch von Wilhelm Busch: Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.«329

326 ­ Rudolf Stich, »Vom deutschen Arzttum«, Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. R. Stich: Nachlass Stich. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Ebd. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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In dieser parataktischen Struktur werden nicht nur Arzt und Vater auf eine Stufe gestellt, sondern auch betont, wie schwer es sei, die Rolle des Arztes und des Vaters adäquat auszufüllen. Dabei sei die Berufung letztlich entscheidend, auf die Phase des Zweifelns folge die Erkenntnis: »Wer in solchen Stunden der Not nicht die heiße Liebe zu unserem Beruf tief in seinem Herzen hat, eine durch erkannte Irrtümer, ja man darf sagen, eine durch Leiden geläuterte Liebe, und wer nicht die hohe Ehrfurcht vor diesem Beruf fühlt, die auch durch eigene Fehler und durch Versagen anderer nicht geschmälert werden kann, der, meine Freunde, wird in solchen Stunden innerlich zusammenbrechen oder gar, was noch schlimmer ist, er wird straucheln und sich gegen die Gesetze des ärztlichen Standes vergehen.«330

Man müsse die »sittliche Kraft« in sich fühlen, den »schweren Arztberuf« aufzunehmen.331 Nicht nur die Struktur und Geschlossenheit der Stich’schen Schule332 war eine entscheidende und singuläre Facette in Stichs Biografie, sie scheint vor allem durch Stichs Persönlichkeit geprägt worden zu sein. »Von der ganzen Atmosphäre her, was er sagte galt. Es gab da keine Diskrepanz. ›Leitfigur‹ ist kein schlechter Ausdruck. Er prägte und war nicht jemand, der durch die Umstände geformt wurde. Er prägte selber.«333

Und so erinnert sich auch Karl Heinrich Bauer in seinem Nachruf an R ­ udolf Stich, der in einer Überhöhung gipfelt. Wirklich große Ärzte seien nur die, die die Stimme ihres Gewissens als höchste Autorität empfänden. »Der Stich als Bundesbruder nahestehende Philosoph Friedrich Paulsen definierte das Gewissen als das Bewusstsein des Einzelnen zu der sittlichen Pflicht«. Eine »Pflichterfüllung« in diesem Sinne sei eine weitere »Quelle reinen Arzttums«. 330 Ebd. 331 Ebd. 332 Das macht nicht nur die vorliegende Analyse deutlich, sondern ebenso die Gespräche mit Zeitzeugen: Der Zirkel der wortführenden Chirurgen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist überschaubar. Stich gehörte somit einer führenden, elitären Gruppe von Ärzten an, deren Mitglieder ihm größtenteils auf die hier beschriebene Weise bekannt und verbunden waren und deren Schulen Schnittmengen aufwiesen. So wird sich in wichtigen Belangen abgesprochen und teilweise im Verbund agiert. Auch inhaltliche Absprachen für Tagungen wurden getroffen, vgl. Stich in seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Chirurgischen Gesellschaft über Tagungsorganisation: »Ich hatte freilich in wochenlanger mühevoller Arbeit mit jedem einzelnen Redner genauestens die Redezeit vereinbart, habe persönlich viele Vorträge gekürzt, andere sogar stilistisch überarbeitet, Fremdwörter ausgemerzt, kurz, aktiv in die Dinge schon vor der Tagung eingegriffen, anstatt sie treiben zu lassen.« Aus: Karl Heinrich Bauer, Die deutschen Chirurgenkongresse. 333 Gespräch mit Dr. Wolfgang Ewald. Diesen Eindruck bestätigte auch Prof. Hans-Jürgen Peiper nachdrücklich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Die »Schönheit des Herzens« vollende das »Idealbild des Arztes als Höchstmaß denkbarer Vollkommenheit.« Niemand käme diesem Ideal so nahe wie Stich, »sein Schicksal ist sein Charakter. […] Vorbild zu sein ist seine Form der Erziehung.«334 Diese Wortwahl erlaubt es, Stich in die Reihe der Meister, der Gurus, zu stellen, die ihre Jünger um sich scharrten, die charismatisch führten und die ihren Anhängern Sinnhaftigkeit und – hier noch entscheidender – eine exklusive Gemeinschaft boten. Der Anspruch des Führers ist dabei universell,335 die erste Begegnung mit ihm prägend, seine Einzigartigkeit und Weisheit unerreicht. Die »Erziehungs- und Lebensgemeinschaft«336 bestärkt sich selbst durch Rituale und Symbole. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein Buch, welches Stich Bauer überließ, ihm »immer neben deiner Büste das sinnfälligste äussere Erinnerungszeichen an dich sein«337 wird. Die Faszinationskraft des Meisters entsprang nicht selten seinen flammenden Vorträgen, wer in den Kreis aufgenommen wurde, war auserwählt, sein dadurch gesteigertes Selbstwertgefühl jedoch einzig und allein abhängig von der Gunst des Meisters. Der Kleingruppe liegen also unzweifelhaft Machtstrukturen zu Grunde, ein Führerprinzip wurde weniger durchgesetzt, als vielmehr von den Folgenden eingefordert.338 Dabei wurden die Angehörigen der Gruppe nicht müde, die positiven Werte dieser Gemeinschaft zu betonen. ­Rudolf Stich bestach in den Augen seiner Schüler nicht dadurch, dass er die Welt verändern wollte. Das typisch Radikale, Umstürzlerische, was Gurus häufig zu eigen ist, war ihm verhasst. Er wollte nicht aufbrechen, er wollte bleiben. Und er blieb und sammelte nicht durch rastloses Umherziehen, sondern durch Verweilen seine Schüler um sich, er machte Göttingen zu einem Pilgerort, die Villa Stich zu ihrem Tempel. Hier wurde nicht das Neue geehrt, sondern das Althergebrachte, nicht innovative, sondern konservative Werte prägten den Zirkel bis über Stichs Tod hinaus, »denn nur, wenn wir das, was wir für richtig erkannt haben, durch unsere Schüler weitergeben können, leben wir für länger als für ein paar kurze Jahre.«339

334 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich. 335 Die folgenden Überlegungen nehmen Bezug auf Franz Walter, Abschied von den Gurus? 336 Ebd., S. 56. 337 Brief von Bauer an Stich vom 21.8.1952, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 338 Vgl. dazu die These von Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos: Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart 1999. 339 Stich an Bauer 24.9.1943, Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Im Kaleidoskop: Belastet nach 1945

Nachdem die britische Militärregierung den Regierungsbezirk Hannover am 13. April 1945 von den Amerikanern übernommen hatte, musste sie sich über die Führer im nationalsozialistischen Staats- und Beamtenapparat zunächst einen Überblick verschaffen. Zumal die Universität drei Tage vor der Ankunft der Briten eine »Selbstreinigung nach außen«1 vollzogen und einen neuen Rektor eingesetzt hatte. Am 12.  April traten dann alle Dekane zurück und die Fakultäten wählten neue Repräsentanten, die keine NSDAP-Mitglieder gewesen waren.2 Das universitäre Führungspersonal des Nationalsozialismus war für die Besatzungsmacht demzufolge alles andere als leicht identifizierbar und musste erst durch intensive und aufwendige Nachforschungen ermittelt werden. Auf einer vom 16. Juli 1945 datierten Liste an den Oberpräsidenten der Provinz Hannover vermerkten die Briten dann diejenigen Mitglieder der Georgia Augusta, die qua ihrer Funktion verhaftet werden sollten. Für eine Universität, deren Lehrkörper rund 200 Personen umfasste,3 wurden auffällig wenige Führer und vor allem Unterführer (Dekane) aufgeführt – unter ihnen jedoch bemerkenswert viele Mitglieder der Medizinischen Fakultät. Auf der britischen Liste standen u. a. der Rektor und Führer des Dozentenbundes Hans Drexler, der »politisch dominierende Aktivist in der Dozentenschaft der Universität«, Werner Blume, Gottfried Jungmichel, der Pathologe Georg Benno Gruber, Stichs Vorgänger im Dekanatsamt Walther Krantz, der Orientalist Hugo Duensing4, Wolf von Engelhardt5 und eben ­Rudolf Stich. Sie wurden in das 250 Kilometer entfernte Westertimke, nördlich von Bremen, gebracht, das ehemalige Kriegsgefangenenlager des Wehrkreiskommandos X. Dort wurden sie bei recht guter Verpflegung in den ehemaligen Offiziersbereichen des Marine-Internierten-Lagers untergebracht. Stich empfand den Aufenthalt im »Civil Internment Camp Nr. 9«6 offenbar als demütigend und belehrend, da ihn die Briten zur »Einsicht bekehren« wollten, dass er »nichts weiter 1 Szabó, S. 101. 2 Ebd. 3 Zahlen nach Szabó, S. 44. 4 Hugo Duensing, 15.4.1877–28.11.1961, deutscher evangelischer Theologe und Orientalist. 5 Wolf von Engelhardt, 9.2.1910–4.12.2008, Geologe und Mineraloge, 1939 Habilitation in Göttingen und Privatdozentur, 1944 ao. Professor, 1952–1957 Honorarprofessor in Göttingen, ab 1957 ordentliche Professur in Tübingen, dort 1963/64 Rektor der Universität. 6 Vgl. Bezeichnung nach Marlag Nord & Milag Nord Westertimke, online einsehbar unter http://www.releikte.com/westertimke/index.htm [eingesehen am 21.3.2013]. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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sei als ein gefährlicher Nationalsozialist«, wie er Gruber nach seiner Haftentlassung schrieb.7 Doch durch die Intervention des neuen Dekans der Medizinischen Fakultät und des Kurators Helmut Bojunga wurde Stich bereits am 31. August 1945 nach einem »formellen Verhör«, bei dem er das Halten politischer Reden verneinte, entlassen.8 Die Prüfung seines Falles wurde sicher auch deshalb so rasch vorgenommen, weil bereits einen Tag nach seiner Verhaftung die ersten positiven Gutachten über Stich abgeschickt und weitere angekündigt wurden. Darunter waren auch mehr oder weniger anonyme Stimmen »ausländischer Ärzte« und die eines »russischen Kommandanten« des Lagers im Gebiet Göttingen, die voller Lobes über Stich waren. Man wusste nicht nur Gutes und Ausgezeichnetes über seine Tätigkeit als Arzt zu berichten, sondern machte auch immer wieder auf sein Alter aufmerksam und die damit zusammenhängende Gebrechlichkeit. Der »Gesundheitszustand des Siebzigjährigen« verlange »Schonung und Rücksichtnahme«9 und in einem Bittgesuch des Stellvertretenden Oberpräsi­denten an die britische Militärregierung Mitte Juli 1945 hieß es etwa, ob man nicht angesichts des »hohen Alters« von Stich »erwägen« könne, dass man ihn »milder behandelt«10. Nun war der Professor, der wenige Tage vor der Vollendung seines siebenten Lebensjahrzehntes stand, nicht mehr vital, leistungsfähig und rüstig – wie er noch zwischen 1939 und 1945 und auch nach 1945 immer wieder beschrieben wurde – sondern altersschwach, labil und abgespannt. Und noch eine Sache fällt in diesem Zusammenhang auf: Die ersten Be­ urteilungen und Empfehlungsschreiben für Stich waren auf den 14. Juni 1945 datiert  – einen Tag nach seiner Verhaftung und selbst die Bittgesuche der »ausländischen Ärzte« waren nur zwei Tage nach der Inhaftierung verfasst und zusammengetragen worden. Auch bei Stich zeigt sich das, was bereits in zahlreichen Forschungsarbeiten über die Entnazifizierungsbemühungen der Besatzungsmächte untersucht worden ist: je größer der berufliche Aktionsradius, desto größer und auch gewichtiger die Anzahl an Leumundszeugnissen und Entlastungsschreiben, die der Betroffene vorbringen kann. Doch die hier aufgeführten Briefe zeigen noch mehr: Man schien offenbar auf eine Verhaftung R ­ udolf Stichs gefasst und vorbereitet gewesen zu sein. So schrieb seine langjährige Privatsekretärin am 15. Mai 1945 an den Freund und Bubenreuther-Kameraden Bauer: 7 ­Rudolf Stich an Georg Benno Gruber, unmittelbar nach seiner Haftentlassung am 16.9.1945, Universitätsarchiv Göttingen, Nachlass Stich Acc. Mss. 1984.20. 8 Karl Heinrich Bauer, In memoriam ­Rudolf Stich, S. 402. 9 Vgl. etwa der Oberarzt der Chirurgischen Klinik Karl Ewald Herlyn am 15.6.1945 an das Oberpräsidium in Hannover, Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 401 acc. 112/83 Akten – NR. 819 – Blatt 2. 10 Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 401 acc. 112/83 Akten – NR. 819 – Blatt 18/19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»[…] Sehr sind wir natürlich in Sorge um Vater Stich. […] er [wollte] sich ja schon seit Jahren um nichts belehren lassen. […]«.

Woraufhin Bauer am 6. Juni 1945 fragte: »[…] Rechnet Stich mit seiner Emeritierung? Ich möchte fast glauben, dass er bis zur Wiedereröffnung der Universitäten im Amt bleiben könnte, wenn er erst den ersten Schub überstanden hat.«11

Warum sich um jemanden Sorgen, der sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, nur seine Pflicht getan und seinen Patienten gedient hat? Und überhaupt: Wussten Frau Tschakert und Professor Bauer wenige Tage nach Kriegsende, dass die Alliierten Personen aufgrund ihrer Position innerhalb des Nationalsozialismus automatisch festsetzen würden oder bezog sich ihre Beunruhigung auf tatsächliche Verfehlungen und Verstrickungen Stichs? Auch die Zusammenhänge um das später folgende Entnazifizierungsfahren sind in diesem Kontext unklar. Offenbar waren nicht alle von der völligen Unschuld Stichs überzeugt, so schrieb auch Herlyn über die Gefangennahme des Professors durch die Briten: »Es steht zu befürchten, dass die Untersuchung sich über längere Zeit hinzieht.«12 Und in seiner Bitte an die Militärbehörden um Gnade für Stich schrieb der stellvertretende Oberpräsident: »Es dürfte feststehen, daß Prof. St. aus Überzeugung der NSDAP beigetreten ist […]«. Gleichzeitig bittet er um eine mildere Behandlung der Person Stich, im Vergleich zu jenen, »[…] die sich wie er als Nazi betätigt haben.« So sind auch die sich in diesem Zusammenhang anschließenden Vorgänge um die Entnazifizierung Stichs auf den zweiten Blick nicht mehr ganz so klar wie es zuvor hier noch beschrieben worden ist. In der Literatur wird wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass Stich angeblich der Entnazifizierung »entging«,13 weil er sich drei Tage nach seiner Entlassung aus Westertimke nicht nur vorschriftsmäßig beim Kurator zurückmeldete, sondern gleichzeitig um seine ordnungsgemäße Emeritierung ersuchte.14 Dieser Bitte wurde offenbar deshalb so rasch nachgekommen, weil bereits noch während der Haftzeit von Stich mit

11 Universitätsbibliothek Heidelberg, Nachlass Karl Heinrich Bauer. 12 Karl Ewald Herlyn am 14.6.1945 an den neuen Dekan der Medizinischen Fakultät ­Rudolf Schoen, Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 401 acc. 112 83 Akten – NR. 819 – Blatt 2. 13 Vgl. exemplarisch Stroeve, S. 68 u. Beushausen, S. 245. Zuletzt bei Rainer Driever, Gutachten über R ­ udolf Stich (1875–1960) im Auftrag des Stadtarchivs Göttingen vom 3. September 2012, online einsehbar unter: http://www.stadtarchiv.goettingen.de/strassennamen/­ Rudolf-Stich.pdf [zuletzt eingesehen am 10.11.2013]. 14 Vgl. Schreiben des Kurators der Universität an den Oberpräsidenten in Hannover vom 3. September 1945, Universitätsarchiv Göttingen, Kur. PA Stich. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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dem britischen Major Beattie15 diesbezüglich verhandelt worden war.16 Stich galt fortan in seiner retrospektiven Betrachtung bis in die Gegenwart hinein auch deswegen als unbelastet, weil er augenscheinlich nie einem Entnazifizierungsverfahren ausgesetzt worden ist. In diesem Kontext ist es auch nicht unwahrscheinlich, dass Stich allein schon deshalb nach achtzig Tagen aus der britischen Gefangenschaft wieder entlassen wurde, weil aufgrund seines Alters und der gleichzeitig laufenden Verhandlungen der Universität mit einem Major aus der ortsansässigen Militärverwaltung allen Beteiligten klar war, dass Stich als Hochschullehrer nicht mehr tätig sein würde, er die Jugend in Zukunft daher mit konservativen, revanchistischen oder gar nationalsozialistischen Gedanken nicht mehr »infizieren« könnte und aus diesem Grund auch nicht gesondert geprüft oder gar »umerzogen« werden müsste, mithin der Prozess der Entnazifizierung überflüssig erschien. Doch wie der Fund der Entnazifizierungsakte Stichs offenbart, hat dieser doch ein Verfahren durchlaufen. Dabei bleiben jedoch die Hintergründe der Maßnahme im Unklaren. Warum wurde Stich entnazifiziert? Was waren die Ursachen dafür, dass das Verfahren erst vier Jahre nach dem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst angestrebt worden war? Ein erster Anhaltspunkte könnte die im Jahr 1947/48 vorgenommene Beschlagnahmung seines Vermögens sein. Um dieses zurückzuerhalten hatte Stich sein Verfahren womöglich selbst betrieben. Jedoch ist die gefundene schriftliche Entnazifizierungsverhandlung erst Ende Mai 1949 abgeschlossen worden, während das Vermögen an ­Rudolf Stich bereits am 13. Juli 1948 rückübergeben worden war. Darüber hinaus ist das uns aus den Quellen bekannte Entnazifizierungsverfahren Stichs aus dem Jahr 1949 nicht sein einziges gewesen. In den Akten der Vermögenssperrung findet sich der Vermerk, dass Stich in der »Kategorie IV.« und nicht wie später »V.« eingestuft worden war.17 Gab es womöglich noch ein Entnazifizierungsfahren, das dazu führte, dass sein Vermögen letztlich beschlagnahmt worden war? Erstaunlich ist auch, dass sich in seinem Entnazifizierungsverfahren keinerlei Hinweise über eine etwaige Schuld durch Mitgliedschaften in politischen Vereinigungen oder Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus finden lassen. Am 29. Mai 1949 wurde Stich rechtskräftig für entlastet erklärt und in die »Kategorie V« eingestuft. In der Begründung aus dem Urteil des schriftlichen Verfahrens heißt es:

15 Arthur Beattie, 28.6.1914–20.2.1996, während des Zweiten Weltkrieges Major im Military Intelligence des britischen Geheimdienstes, ab den 1960er Jahren Lehrstuhlinhaber für Griechische Philologie in Edinburgh. 16 Vgl. ebd. 17 Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 210 Nr. 950/2/33. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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»Der Betroffene ist der Partei erst verhältnismäßig spät beigetreten und seine besondere Stellung in der SA erklärt sich durch seinen besonderen Beruf als Chirurg und Direktor der früheren Universitätsklinik. Er hat auch glaubwürdig versichert, dass er lediglich in der Untersuchung erkrankter SA-Männer in verhältnismäßig nicht häufigen Fällen beschäftigt gewesen sei und nur 5 Vorträge gehalten habe in der gesamten Zeit, die sich aber nur auf rein ärztliche Fragen bezogen haben. Im Übrigen ist der Betroffene politisch nicht hervorgetreten. Bei den besonderen Verhältnissen in Göttingen wäre dies sonst auch bekannt geworden.«18

Wenige Tage nach der Gründung der Bundesrepublik wurde ­Rudolf Stich also die »erbetene Entlastungserklärung erteilt«.19 In der britischen Besatzungszone gab es – im Vergleich zu dem von den Amerikanern verwalteten Gebiet  – keine Entnazifizierungspflicht für jeden Bürger, sondern nur für all jene, die eine Stellung inne hatten oder sich neu bewarben. Die politische Säuberung betraf dann doch weite Teile der Bevölkerung, da viele Arbeitgeber und Institutionen einen Entnazifizierungsbescheid einforderten.20 So könnte es beispielsweise sein, dass Stich sein Entnazifizierungsverfahren betrieb, um ins Ausland reisen oder auch seinen Jagdschein behalten zu dürfen. Auch die Ärztekammern forderten einen Bescheid, bevor sie die Niederlassungsgenehmigung als Kassenarzt erteilten. Im Oktober des Jahres 1946 übernahmen die Briten aus dem amerikanischen Befreiungsgesetz die Kategorisierung derjenigen, die ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen hatten, in fünf Gruppen: Hauptschuldige, Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete (Bewährungsgruppe), Mitläufer und schließlich Entlastete.21 Interessant ist, dass die Beschlagnahmung des Vermögens als Sanktion oder Strafe in allen Einstufungen außer der »Kategorie V.« durchgeführt worden ist.22 Ab dem 1. Oktober 1947 begannen die Briten zunehmend die Verfahren in deutsche Verantwortung zu geben und zogen sich mehr und mehr aus den Prozessen zurück. Nach und nach übernahmen die Briten auch die wichtigen Regelungen aus dem am 5. März 1946 in der amerikanischen Besatzungszone erlassenen »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus«. Diese These wird von Hasche-Klünder, der nach 1945 unter anderem für Stich tätig gewesen war, gestützt. Er erinnert sich, dass der ehemalige Dekan durch einen Entnazifizierungsausschuss nach 1945 als »Belastet« eingestuft worden sei.23 Die Gesetzesreform hatte unter anderem auch zur Folge, dass Regelüber18 Ebd. 19 Ebd. 20 Wolfgang Krüger, Entnazifiziert. Zur Praxis der politischen Säuberung in NordrheinWestfalen, Wuppertal 1982, S. 38. 21 Ebd., S. 44. 22 Ebd., S. 49. 23 Vgl. Rütger Hasche-Klünder, Seid bereit. Lebenserinnerungen eines Arztes, Berlin 1994, S. 90–95. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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prüfungen der Kategorien III und IV, mit dem Ziel ihrer Herabstufung, nach Jahresfrist stattfinden sollten. Daher wurden womöglich die zwei Spruchkammerbeschlüsse für R ­ udolf Stich erlassen. Die neuen Regularien führten ebenfalls ab 1948 zu einem Rückstrom von Beamten und Angestellten, sodass sich der Vorgang der politischen Säuberung mit der Rehabilitation mehr und mehr ineinander verschränkte. Sukzessive »Umstufungen« waren daher in diesem Zusammenhang alltäglich.24 Möglich ist aber auch – und darüber schweigen die Akten leider – dass Stich nach seiner Einstufung in die Kategorie IV ein erneutes Verfahren anstrebte, um ein Zeugnis für seine absolute politische Zuverlässigkeit innerhalb der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Ausgestattet mit diesem Nachweis, einer gut florierenden privaten Praxis – der Bericht des Treuhänders in den Entnazifizierungsakten verzeichnete für diese zwischen dem 1.  Oktober 1947 und dem 31. März 1948 Einnahmen von über sechzigtausend Reichsmark, während seine Pensionsansprüche als Beamter in diesen sechs Monaten knapp vierzigtausend Reichsmark umfassten – und als bekannter emeritierter Professor verbrachte Stich seinen Lebensabend in Göttingen, in einer Stadt, die ihn und seine Verdienste wohl zu schätzen wusste und ihn mit oben beschriebenen Ehrungen bedachte. Eben weil Stich durch ein formalisiertes und standardisiertes Verfahren entlastet worden war, erschien auch die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Halskreuz im Jahr 1955 folgerichtig. So findet in der Vorschlagsbegründung für das Bundesverdienstkreuz seine Tätigkeit in leitender Funktion im Nationalsozialismus überhaupt keine Erwähnung mehr.25

24 Ullrich, Ich fühl mich nicht als Mörder, S. 91. 25 Vgl. Bundesarchiv Koblenz, Vorschlagsbegründung Stich, B122/38574 (VL 94). © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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­ udolf Stich wurde hier beispielhaft als Vertreter des Bürgertums, als RepräsenR tant des Ärztestandes und als Mitglied der Professorenschaft untersucht. Forschungsleitend war die Suche nach persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in diesen drei Rollen für ihn entscheidend dafür waren, einerseits Verknüpfungen mit der nationalsozialistischen Ideologie herzustellen und andererseits bestimmte Anknüpfungspunkte mit dieser auszulassen. Daran schloss sich die Frage an, welche Faktoren dafür maßgebend waren, dass Stich trotz seiner im Nationalsozialismus eingenommenen Rollen positiv in das Gedächtnis und die Erinnerungskultur von Universität, Stadt und Berufsstand eingegangen ist. In der Studie sollten die konkrete historische Bedingtheit und der spezifische Handlungsspielraum von ­Rudolf Stich offengelegt werden. Denn nur durch Untersuchungen am realen Beispiel lässt sich jenseits von pauschalen Verurteilungen schließlich eine Einschätzung über die persönliche Mitarbeit, Kollaboration, ja, individuelle Schuld von R ­ udolf Stich im Nationalsozialismus herausarbeiten. Sicherlich war – auch dies ein Grund für die Darstellung als biographisches Kaleidoskop  – das Verhalten von ­Rudolf Stich im Nationalsozialismus ambivalent. Jedoch sollten Feststellungen wie diese eher am Anfang und nicht am Ende eines Forschungsvorhabens stehen. ­Rudolf Stich, Jahrgang 1875, gehörte der gleichen Generation an wie R ­ udolf Hilferding, Erich Mühsam, Gustav Stresemann, Alfred Döblin, Ferdinand Porsche, Albert Schweizer, Friedrich Ebert, Konrad Adenauer, Hans Böckler und eben Thomas Mann. Die offene Aufzählung signalisiert vor allem eines: auch Vertreter der Generation der Wilhelminer1, wie Werner Plumpe die in den 1860er und 1870er Geborenen nannte, mussten nicht zwangsläufig distanzierte Zuschauer, Unterstützer oder gar Anhänger des Nationalsozialismus werden. Die, durch »[…] Fortschrittsoptimismus, Modernisierungswillen, Technikbegeisterung, Glaube an die Berge versetzende Kraft der wirtschaftlichen Entwicklung […]«2 geprägten Wilhelminer mochten besonders vor 1914 an den Erfolg von Machtpolitik genauso wie an die Notwendigkeit des Kampfes um das Dasein zur nationalen 1 Werner Plumpe, Unternehmer und Politik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Vortrag der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank, Frankfurt a. M., 14.1.2014, online einsehbar unter: http://www.bankgeschichte.de/de/docs/Plumpe_Unternehmer_ im_Kaiserreich_und_in_der_Weimarer_Republik.pdf [eingesehen am 21.3.2014], S. 5. 2 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Erhaltung3 glauben. Dennoch haben einige von ihnen nach 1933 und auch nach 1945 aufgrund persönlicher Überzeugungen und Wertvorstellungen einen anderen Weg als Stich beschritten. Eben dies gilt es zu beachten, wenn – wie so oft – »die Umstände« oder das Verhalten der peer-group als erklärende Variablen für die Überdehnung von jeweils individuellen Handlungsspielräumen herangezogen werden. Als Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft ist Stich nicht als Antisemit in Erscheinung getreten. Er hielt zu seinem Schüler und Freund, Karl Heinrich Bauer, trotz dessen Heirat mit einer Jüdin, behandelte offenbar jüdische Patienten in seiner Privatpraxis auch weit nach 1933. Dergleichen galt ebenso für Zwangsarbeiter, die unweit seines Wohnhauses in Baracken untergebracht waren. Der angesehene Wahlgöttinger beteiligte sich auch in der Weimarer Republik nicht an Veranstaltungen oder politischen Aufrufen der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, sondern war offenbar bis in die späten 1920er Jahre hinein Mitglied der DDP – auch wenn die Assoziation zu der linksliberalen Partei nicht in Gänze geklärt werden konnte, so kann sie doch als wahrscheinlich gelten. Stich trat jedoch als Multiplikator der bürgerlichen Gesellschaft öffentlich nicht für liberale Wertvorstellungen ein, sondern im Gegenteil: Er referierte für die »national-sozialistische« Sache, pries das Jahr der Machtergreifung als Datum der »nationalen Erweckung«, wetterte gegen die »Schmach von Versailles«, rühmte noch zum Jahresbeginn 1945 die »deutsche Stärke«, das »glorreiche Vaterland« und den »siegreichen Führer«. Als angesehenes Vorbild innerhalb der städtischen Gemeinschaft marschierte er bei zahlreichen sich bietenden Gelegenheiten in Uniform, sammelte Geld für die SA und war nicht nur dort, sondern auch in der NSDAP, der NSV und dem NS -Altherrenbund aktives Mitglied. R ­ udolf Stich wuchs in einem nationalkonservativ geprägten protestantisch-bildungsbürgerlichen Milieu auf. Hier wurden Wertvorstellungen und Habitus geformt. Das war ein fruchtbarer Nährboden für eine »Interessenidentität«4 mit dem Nationalsozialismus, die in den Fragen zum nationalen Selbstwertgefühl, Antisozialismus und zur Idee der Führung über eine Gemeinschaft hergestellt wurde. Als die Nationalsozialisten nach und nach die zentralen Positionen in der Gesellschaft des Deutschen Reiches und auch innerhalb der Lebenswelt von ­Rudolf Stich besetzten, legitimierte und stabilisierte dieser das totalitäre Regime, in dem er es öffentlich gut hieß und weiterhin exponierte Rollen in der Gesellschaft übernahm. 3 Vgl. exempl. für Ferdinand Sauerbruch: Jörg Hauptmann, Ferdinand Sauerbruch und das Dritte Reich. Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung, online einsehbar unter: http://www.maik-foerster.de/pdf/joerghauptmann-sauerbruch_dossier.pdf [eingesehen am 21.3.2014], S. 5. 4 Steffen Raßloff, Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Bürgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur, Köln 2003, S. 399. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Nicht nur als Vertreter des bürgerlichen Standes, sondern auch als Hochschullehrer unterstützte R ­ udolf Stich mit seinem Verhalten den Nationalsozialismus. Er kritisierte zwar, vor allem mit Beginn des Krieges, die Eingriffe in den Lehrplan der Medizinstudenten, die eine Studienzeitverkürzung und somit eine raschere Ausbildung von Frontärzten zum Ziel hatten, und beschwerte sich in privaten Briefen sowie hochschulinternen Memoranden über die bürokratische Regulierungs- und Kontrollwut der nationalsozialistischen Polykratie, dennoch verweigerte sich der Medizinprofessor offenbar nur dort verbal dem totalitären System, wo dieses sukzessive seine professorale Freiheit zu beschneiden drohte. Hier ging es Stich ausschließlich darum, seinem Selbstverständnis folgend, seine Position innerhalb der Hochschule und seine Autorität gegenüber den Studenten zu verteidigen. Insgesamt stand Stich hinter der nationalsozialistischen Hochschulpolitik. Indem er immer wieder nationalsozialistisch getränkte ideologische Versatzstücke in seinen Reden vor Studenten und Studienanfängern verwendete, wirkte er hier als Multiplikator dieser Weltanschauung. Ebenso wenig war er nach 1933 als Vorbild dahingehend aktiv, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaat gegen die neuen Machthaber zu verteidigen. Im Gegenteil: Stich trat als Vorbild auf – wollte seinen Schülern gegenüber auch als solches fungieren – und demonstrierte derart, dass man den Nationalsozialismus zu unterstützen und zu stabilisieren habe. Als Hochschullehrer verweigerte er überdies den zahlreichen Kollegen, die aus der Medizinischen Fakultät in Göttingen verdrängt wurden, die »Kooperationssolidarität«5. In diesem Sinne war Stich vollständig »nazifiziert«6: er kollaborierte als Hochschullehrer mit dem Nationalsozialismus und war als NSDAP-Mitglied darauf bedacht, seine Einrichtung mit der NS -Ideologie in Einklang zu bringen. Dabei ist sein Beitritt zur Partei gar nicht unbedingt nötig gewesen. Es gibt keinerlei Hinweise dafür, dass ein Parteiausweis als Beleg für seine Zuverlässigkeit oder ähnliches erforderlich gewesen wäre. Als verbeamteter Lehrstuhlinhaber hätte er sich einem Beitritt zur NSDAP durchaus entziehen können.7 Als R ­ udolf Stich, mit knapp 58 Jahren einen Aufnahmeantrag für die Partei stellte, war er seit über zwei Jahrzehnten Lehrstuhlinhaber, hatte somit eigentlich die höchsten Stufen seiner Karriereleiter erklommen. Spätestens mit der Übernahme des Dekanatsamtes im Jahr 1939 avancierte Stich als Führer der Fakultät zu einer wichtigen Stütze des nationalsozialistischen Regimes an der Göttinger Universität. In dieser Funktion versuchte er aktiv, den durch das preußische Wissenschaftsministerium nach 1933 für alle 5 Eike Wolgast, Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Heidelberg 2001, S. 288. 6 In Anlehnung an Mark Walker, The Nazification and Denazification of Physics, in: Walter Kertz (Hg.), Hochschule und Nationalsozialismus, Braunschweig 1994, S. 79–91. 7 Vgl. David Phillips, Zur Universitätsreform in der Britischen Besatzungszone 1945–1948. Studien und Dokumentation zur deutschen Bildungsgeschichte, Wien 1998, S. 80. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Medizinischen Fakultäten vorgeschriebenen Lehrstuhl für Rassenhygiene zu besetzen und meldete seine Fakultät bei den amtierenden Machthabern als »judenrein«. Seine Funktion als Dekan schuf nicht nur Ermöglichungsstrukturen für »kriegswichtige Forschung« und Zwangssterilisationen, sondern auch für Menschenversuche und die so genannte »T 4-Aktion«. Unabhängig davon, was ­Rudolf Stich schließlich tatsächlich gewusst haben mag, hat er durch seine Amtsübernahme die formale Verantwortung für die Dinge übernommen, die zwischen 1933 und 1945 an seiner Fakultät geschehen sind. Daher ist ihm zweifelsfrei mehr als Passivität innerhalb des Regimes vorzuwerfen. Das Dekanatsamt hätte er – mit dem Verweis auf sein Alter – nicht übernehmen müssen. So hätte Stich – ohne große Nachteile zu erleiden – spätestens im Jahr 1940 aus dem Dienst scheiden können. Überdies: Auch finanziell war der dreifache Vater und mehrfache Groß- und Urgroßvater – dessen Söhne und Schwiegersöhne im Feld waren – auf das Gehalt des preußischen Beamten nicht angewiesen. In seiner Privatklinik, in der er schließlich nach 1945 bis zu seinem Tode (Privat-) Patienten behandelte, belief sich sein Einkommen auf mehr als das zehnfache seines eigentlichen Professorengehalts. Dank der zunehmenden Einzelforschung in diesem Bereich lassen sich Geschichten erzählen über andere Kollegen, Hochschulärzte und Mediziner, die Posten abgelehnt, sich von Ämtern zurückgezogen oder sogar unterstützende Strukturen für die vom Regime Verfolgten aufgebaut haben. Sie standen schon damals als mahnendes Beispiel und stehen noch heute in der retrospektiven Bewertung symbolisch dafür, dass ein von der Gesellschaft anerkanntes und etabliertes Mitglied bei eingenommener Distanz zum verbrecherischen Regime nicht unmittelbar bedroht worden ist. ­Rudolf Stich entschied sich aus Überzeugung für einen anderen Weg. Und jeder  – so ein ehemaliger Kollege von ihm im Urteil noch Jahre später – der Dekan war, hat die Universität der Partei »ausgeliefert«.8 ­Rudolf Stich rechtfertigte sich für seine Amtsübernahmen und Mitgliedschaften zwischen 1933 und 1945 nie öffentlich. Er schien jedoch auch  – wie seine privaten Briefe nach 1945 belegen  – sich keiner besonderen Schuld bewusst. Neben der persönlichen Überzeugung vom Nationalsozialismus und vom Führer Adolf Hitler wird bei Stich noch ein weiteres Motiv eine Rolle gespielt haben, dessen Ursache im Arbeits- und Leistungsideal des Bürgertums zu suchen ist.9 Er sah es als seine Pflicht an, nach 1938 an der Heimatfront seinen Dienst zu tun. Wegzulaufen, sich in die Privatheit zu flüchten und selbst – als 8 Hermann Rein, »Entnazifizierung« und Wissenschaft. Eine Stellungnahme auf Befragung, in: Göttinger Universitätszeitung, Jg. 1 (1945/46) H. 1. 9 Dass Arbeit, Leistung und Pflicht gerade für das protestantische Bürgertum ausgesprochen wichtige Maximen sind, vgl. bei Nipperdey, Deutsche Geschichte Band I, S. 374; auch Dietmar Molthagen, Das Ende der Bürgerlichkeit? Liverpooler und Hamburger Bürgerfamilien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007, S. 406. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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fähiger Chirurg – die Führung von Klinik, Studenten, Lazaretten und Fakultät an jemand anderen zu übergeben, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Für Stich galt es stattdessen, aufrecht seine einmal angenommenen Aufgaben zu erfüllen, Verantwortung zu übernehmen, seinen Mann zu stehen. Daher verwundert es auch nicht, dass gerade das R ­ udolf Stich immer wieder zugeschriebene Pflichtethos in den Nachrufen auf und Glückwünschen an ihn ständig hervorgehoben wurde. Das Fehlen der Rechtfertigung beziehungsweise ein Mangel an Überlieferung der selbigen für sein Verhalten im Nationalsozialismus hebt Stich von dem Verhalten vieler ehemaliger Kollegen und Standesgenossen ab. Er gab sein herausgehobenes Engagement im Nachhinein nicht, wie der Erbgesundheitsrichter und Euthanasie-Gutachter Werner Villinger10, als Tarnung des eigenen Widerstands aus11, rechnete öffentlich nicht auf, wie viele Juden und Zwangsarbeiter er behandelt hatte, log nicht bezüglich subtiler und daher nicht nachvollziehbarer Zwangsmaßnahmen, in die ihn die nationalsozialistischen Organisationen getrieben hätten. Man könnte dieses Schweigen dazu in der Bundesrepublik – während sich gerade im Zuge des Nürnberger Ärzteprozesses so viele seiner Standesgenossen öffentlich für ihre Taten zu entschulden versuchten und einzelne Ärzte als brutale Täter brandmarkten –, sicherlich auch als eine Art individuelles Schuldeingeständnis interpretieren, zumindest als mögliche kritische Selbstreflexion ­Rudolf Stichs erwägen. Es könnte im Gegenteil aber auch das Beharren auf alten Positionen und Überzeugungen sein. Hierzu passt auch die ihm zugeschriebene Aussage: »Man könne einem politischen Irrtum wohl erliegen, man könne ihn auch bereuen.«12, die sich als verklausuliertes und abgeschwächtes Schuldeingeständnis, aber ebenso als selbstsicheres Abtun leise geäußerter Kritik interpretieren lässt. Unabhängig davon: Stich war seit 1911 Inhaber des Lehrstuhls für Chirurgie und Leiter der chirurgischen Klinik. Obwohl er bei seiner Berufung außergewöhnlich jung gewesen war, erreichte den Professor lediglich ein anderer universitärer Ruf. Er wurde bis 1938 auch nicht mit Auszeichnungen für hervorragende Forschungen oder (inter-)nationale Anerkennung für sein Wirken bedacht. Stich befand sich über zwanzig Jahre auf derselben Position, ohne Aufstiegsperspektiven oder sichtbare Anerkennung für seine Arbeit. Da bot sich 10 Werner Villinger, 9.10.1887–8.8.1961, Psychiater, Oberarzt in Hamburg, 1932 apl. Professor, 1934 Chefarzt der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, seit 1937 NSDAPMitglied, auch NS-Ärztebund, NS-Fliegerkorps, NSV, verantwortlich für tausende von Zwangssterilisationen, Richter am Erbgesundheitsobergericht, T4-Gutachter, seit 1946 Ordinarius in Marburg, seit 1950 Präsident der Deutschen Vereinigung für Kinderpsychiatrie, seit 1952 Träger des Großes Bundesverdienstkreuz. 11 Vgl. hierzu: Klee, Deutsche Medizin, S. 95 ff. 12 O. A., R ­ udolf Stich, Verleihung des Bundesverdienstkreuzes anlässlich seines 80. Geburtstages, in: Göttinger Tageblatt, 20.7.1955. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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das Amt des Dekans, auf größere Dauer angelegt als im alten universitären Kooperationssystem üblich, und als Führer der Fakultät institutionalisiert, statt als Gleicher unter Gleichen, quasi als Karrieresprung an. Denn, so sein Kollege und Freund Gruber später über die nach 1933 anbrechende Zeit: »[…] für jedermann, der im Dienst des Gemeinschaftslebens stand [strafften sich] die Segel des Lebensschiffes […].«13 Während Stich noch in den frühen 1920er Jahren über die Arbeitsbelastung als Dekan klagte, über den Mangel an Zeit für seine Patienten aufgrund der drückenden Schreib- und Organisationstätigkeit, suchte er in den 1930er Jahren gemeinsam mit seinen Kollegen verstärkt nach Wegen, seine Berufung auf den Dekanatsposten weit über die Altersgrenze hinaus zu verstetigen. Und so mag Stich, auf den zweiten Blick, doch durch die nationalsozialistische Herschafft profitiert haben, was seine »Selbstindienstnahme« als Hochschullehrer erklären mag.14 Auch als Arzt hatte Stich größtenteils Anknüpfungspunkte mit der nationalsozialistischen Ideologie hergestellt, statt sich diesen zu verweigern. ­Rudolf Stich war kein Volksrassist beziehungsweise Antisemit. Auffällig ist zwar das Fehlen von jüdischen Assistenzärzten, an denen er nach der Machtergreifung wahrscheinlich seine Solidaritätsfähigkeit hätte unter Beweis stellen müssen, – dieser Umstand ist jedoch seiner ausgeprägten Fixierung auf eine protestantisch geprägte Gemeinschaft aus befreundeten und familiär verbundenen Arztfamilien, sowie aus Bundesbrüdern seiner Studentenverbindung zuzuschreiben. Es sind jedoch keinerlei antisemitische Aussagen von Stich überliefert, keine Verweigerung der Behandlung eines Patienten aufgrund dessen religiöser oder ethischer Zugehörigkeit, auch zentrale Beteiligungen an der Vertreibung jüdischer Kollegen aus seiner Fakultät sind nicht nachweisbar. Dessen ungeachtet: Gerade als Arzt begrüßte ­Rudolf Stich die neuen braunen Machthaber. Zentrale ideologische Elemente des Nationalsozialismus passten sich hervorragend in eine spezifisch moderne Ausrichtung der zeitgenössischen Medizin ein. Diese Anknüpfungspunkte griff Stich dankend auf, beförderte sie und unterstützte somit die totalitäre und die Individualität bedrohende Weltanschauung. Dadurch verlieh er dieser noch zusätzlich eine wissenschaftlich-rationale Legitimation. ­Rudolf Stich befürwortete nicht nur die Idee der Zwangssterilisation, er beaufsichtigte eine Klinik, an der mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende, im Nachhinein als illegitim und verbrecherisch klassifizierte Eingriffe bei Kindern und Männern durchgeführt wurden. 13 Georg Benno Gruber, Nachlass, Universitätsarchiv Göttingen, Cod. Ms. B. Gruber 3:3, S. 791. 14 Dass er mit dieser keinesfalls singulär war, vgl. jüngst: Udo Schagen, Handlungsspielräume und Handlungsalternativen der Wissenschaft(ler) im Nationalsozialismus zwischen Anpassung, Kollaborationsverhältnis und Widerstand, in: Ursula Ferdinand u. a. (Hg.), Medizinische Fakultäten in der deutschen Hochschullandschaft, Heidelberg 2013, S. 153–167. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Überdies durchtrennte er – obwohl es als simples Standardverfahren gilt, das eigentlich der erfahrenen und anderweitig dringend benötigten chirurgischen Kapazität nicht bedurfte – den Samenleiter gelegentlich auch selbst. Öffentlich durchdachte Stich das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« intensiv, setzte sich mit seiner gesamten Autorität als Arzt dafür ein und versuchte zu erreichen, dass die Notwendigkeit dieser Zwangsmaßnahme vom Volk tatsächlich verstanden und für gut befunden wurde. Darüber hinaus war Stich Verteidiger und Bewahrer der »Volksgesundheit«. Dem Wohl des Volkes als Ganzes galt seine Sorge und Aufmerksamkeit – zu Lasten des Individualpatienten. Die Gemeinschaft rangierte bei Stich deutlich vor dem Wohl des Einzelnen. Nicht nur aus der Retrospektive, sondern auch schon aus zeitgenössischen, sich zwar in der Minderheit befindlichen Perspektiven der berufsständischen Selbstkonzepte des Arztes, verriet Stich mit dieser Haltung sein Berufsethos15. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er sich die Leitmaxime von der »Volksgesundheit« bei einem seiner akademischen Vorbilder abschaute: Schon Alexis Carrel, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine ähnliche Richtung wie Stich forschte und dafür den Nobelpreis erhielt, pries die Idee des »sozialen Körpers«, der gesunderhalten und befördert werden müsse. Auch bei Carrel war dieser »soziale Körper« stark nationalistisch definiert, sollten Juden, Zigeuner und andere Gruppen ausgeschlossen werden.16 Stich unterstützte ebenso die Eugenik, auch wenn er die radikalsten Gedanken der systematischen »Ausmerzung« ganzer Bevölkerungsgruppen nicht offen befürwortete. Gerade in den öffentlichen Äußerungen vor Studenten, auf ärztlichen Kongressen, gegenüber Assistenzärzten und Kollegen, trug Stich als Multiplikator dazu bei, dass sich der Ärztestand in den Nationalsozialismus einpasste, Widersprüche aufgelöst und negiert, gegenläufige ethische Konzepte an den Rand gedrängt wurden. Stich stabilisierte und unterstützte das NS -Regime auch als Beratender Chirurg. Er war nicht nur für die praktische Ausbildung, sondern auch für die ideologische Erziehung der Sanitätsoffiziere zuständig. Darüber hinaus nutzte er die Strukturen des Nationalsozialismus im Sinne der kriegswichtigen Forschung, um klinische Studien durchzuführen, die ihn als Mediziner interessierten. Er testete Blutersatzmittel und unterstützte seine Assistenten bei anderen Forschungstätigkeiten in diesem Zusammenhang. Systemstabilisierend wirkte Stich ebenso als »Arztsoldat«: Er versorgte Soldaten für den erneuten Fronteinsatz, kontrollierte die Wehrfähigkeit seiner ihm anvertrauten Patienten und unterstützte und verlängerte so nicht nur verbal, sondern auch ganz praktisch­ Hitlers Krieg. 15 Tobias Freimüller, Mediziner: Operation Volkskörper, in: Norbert Frei (Hg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a. M. 2001, S. 13–69, hier S. 13. 16 Vgl. hierzu Etienne Lipicard, »Ethisches« Verhalten und »ethische Normen« vor 1947, in: Ethik und Medizin 1947–1997, Stella Reiter-Thiel u. Norbert Frei (Hg.), Göttingen 1997, S. 61–71, hier S. 67–69. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Es kam hier zu einer rasanten Selbstmobilisierung R ­ udolf Stichs für den Nationalsozialismus. Weil er sich in diesen Funktionen als Chefarzt, Lazarettleiter, Beratender Chirurg, Hochschulprofessor und erfahrener Operateur als Avantgarde begriff, als Führer der jeweiligen, um diese Institutionen sich gruppierenden Gemeinschaften, wollte er an zentraler Stelle dabei sein, schritt voran und nicht hintendrein. Obwohl R ­ udolf Stich nicht zwingend als politischer Mensch in Erscheinung trat, war er doch voller Überzeugungen. Dadurch, dass der Nationalsozialismus ihm die Möglichkeit bot, die für ihn bestimmenden Momente, sein Arzttum und seinen Dienst am Vaterland und Mitmenschen in einem für ihn stimmigen und sinngebenden Konglomerat zu vereinen, die Synthese der für ihn dominanten Lebensinhalte zu schaffen, fand Stich viele Anknüpfungspunkte zum Nationalsozialismus, die er willig und zielstrebig ergriff, herstellte und ausbaute. Sein Selbstkonzept, als väterlicher Führer innerhalb einer Gemeinschaft zu agieren, beförderte seine Haltung als »überzeugter Nationalsozialist«17. Als junger Mensch richtete R ­ udolf Stich sein Leben an Autoritäten aus. Seine akademischen und sein leiblicher Vater waren ihm unkritisierbare und unfehlbare Vorbilder. Er übernahm von ihnen sein Selbstverständnis als Arzt, die Disziplin, den Arbeitseifer, die Penibilität in der ärztlichen und chirurgischen Praxis, sowie die selbst gestellten Erwartungen. Es galt, sich zu einer anerkannten, achtbaren Persönlichkeit zu entwickeln. In dieser Fixierung auf Autoritäten mag Stichs spätere Führergläubigkeit ihren Ursprung haben.18 Und auch seine Lebensaufgabe als Mediziner spielte dabei eine gewichtige Rolle: Als Arzt, der sich zu dieser Tätigkeit berufen fühlte, sah Stich, wohl wie viele andere, in H ­ itler den Retter des Volkes, und insbesondere auch seines Berufsstandes. Unter Hitler ließ sich das Arzttum zu altem Glanz führen, die Gemeinschaft, die Stich zeitlebens bei den Bubenreuthern, der SA und ganz besonderes bei seinen Schülern gesucht hatte – Hitler versprach, sie in einer großen »Volksgemeinschaft« zu verwirklichen, einer »Volksgemeinschaft«, die aus einem gesunden »Volkskörper« bestehen würde. Und dieses mit umzusetzen, davon ließ sich R ­ udolf Stich »im Herzen« überzeugen. Darüber hinaus führte sein von Eduard Stich und Carl Garré kopierter Anspruch an sich selbst dazu, in den ihn umgebenden Gemeinschaften – Kollegen, Schüler, Bubenreuther und Familie – eine führende Rolle einnehmen zu wollen. Diese sollte ihm kraft seiner Autorität und seines Charismas zugesprochen, aufgrund seiner chirurgischen und didaktischen Fähigkeiten angetragen werden. 17 ­Rudolf Stich Brief an Paul Rostock, 18.1.1945, Universitätsarchiv Göttingen, Med. Fak. Ordner 12. 18 Darüber hinaus nahmen die Ähnlichkeiten zwischen Eduard und R ­ udolf Stich im Lebensverlauf mitunter auffällige Ausmaße an: So tat Stich es seinem Vater gleich und feierte – ebenso wie dieser 27 Jahre zuvor – seinen 85. Geburtstag im über 300 Kilometer entfernten Weißenburg. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Stich wollte innerhalb seiner Gemeinschaften die Führung übernehmen, aber als freundlich belehrender Patriarch und nicht als harter und machthungriger Despot. Schüler, Kollegen, Assistenzärzte, ja auch seine eigenen Kinder wollten­ Rudolf Stich gefallen, es dem Chef und »Meister« Recht machen. Auch daher galt er später als »Vater der Gefäßnaht« oder als »Vater einer Chirurgenschule«. Er war eine Respektsperson, der man nachahmen wollte, die ihre kleinen Gemeinschaften als Patriarch, Erzieher und Lehrer führte – auf einen Weg, der widerspruchsfrei im Nationalsozialismus aufging. Gerade als Führer kleiner Teilgemeinschaften der Bürger-, Ärzte- und Professorenschaft wollte Stich auch im Hinblick auf die nationalsozialistische Weltanschauung in leitender Funktion tätig werden, avantgardistisch sein, die neue Zeit begrüßen. Auch daher agierte er derart exponiert und zog sich nicht in die Privatheit zurück. Sein Selbstbild ließ ihn noch im fortgeschrittenen Alter nicht am Rand stehen, sondern trieb ihn an, bei der neuen, jungen Bewegung mitzumachen. So waren es auch keine »Verlockungen« des Nationalsozialismus, auf die R ­ udolf Stich »hereinfiel«, sondern die durch ihn aktiv hergestellten Anknüpfungen waren aus seiner biographischen Prägung, aus seiner persönlichen Disposition heraus, folgerichtig. Auch deshalb stellte er bereits 1933 den Antrag auf Mitgliedschaft bei der NSDAP und wurde nicht erst 1937 zum Zwecke der Dekanatsübernahme Mitglied. ­Rudolf Stich wollte der treibende Teil einer kleinen Gemeinschaft sein, mitmachen, »wir-sagen« – das war eine mindestens ebenso starke Quelle seines Pflichtgefühls.19 Die Nationalsozialisten betonten Kontinuitäten, die Stichs Leben maßgeblich bestimmt hatten, wie Zugehörigkeit, Gruppenbildung und Standesinteressen, so dass er die Identifizierung mit den für ihn passenden, ausreichenden Aspekten der nationalsozialistischen Ideologie schon vollzog, bevor diese sich überhaupt in allen Facetten gezeigt und entfaltet hatte. Nach eigener Einschätzung war Stich, was diese Komponenten betraf, schon »sein ganzes Leben Nationalsozialist«. Stich agierte als patriarchalischer Führer innerhalb seiner Familie20, innerhalb der studentischen Verbindung der Bubenreuther, deren Mitglieder er förderte und protegierte, innerhalb der SA und der Wehrmacht, innerhalb seiner Schülerschaft und Assistenzärzte, mit denen er ein Leben lang treu verbunden blieb. All diese exklusiven Gemeinschaften speiste Stich mit seinen in der Kindheit vorgelebten und von seinen Vorbildern abgeschauten Werten. Er versuchte das, was ihm am Beginn seines Lebens wichtig war, nachzuahmen, er wollte sich innerhalb dieser sozialen Einheiten beweisen – nicht indem er den Nobelpreis 19 Ähnlich wie es Hannah Ahrendt für Eichmann herausarbeitete, vgl. Hannah Arendt u. Joachim Fest, Eichmann war von empörender Dummheit, Gespräche und Briefe, München 2011, S. 42. 20 Noch beinahe siebzig Jahre nach seinem Tod bezeichnete ihn eine Urenkelin, die ihrem Urgroßvater nie persönlich begegnet ist, als eine Art Familienoberhaupt. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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oder einen Lehrstuhl nach dem anderen angeboten bekommt, sondern, indem er innerhalb seiner selbstgewählten Gemeinschaften als Führer anerkannt wird. Das – und nicht wissenschaftliche Ehrungen oder Anerkennungen – war ihm wichtig. Innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie waren die Selbstkonzepte Führer und Gemeinschaft daher besonders adaptionsfähig. Neben seiner natürlichen und durch sein Handwerk erworbenen Autorität ist auch das Amt als Hochschulprofessor, Klinikleiter, sind die Funktionen als Beratender Chirurg und Sturmbannführer der SA, ist selbst schließlich seine Position als Dekan eine Führungsressource – auch deshalb tritt er nicht zurück, legt Ämter und Funktionen nieder, selbst dann nicht, als er von seinen Kollegen über die Folgen des Abtransportes der Patienten aus den psychiatrischen Anstalten informiert oder er auf Tagungen mit den Medizinverbrechen in den Konzentrationslagern konfrontiert wurde. ­Rudolf Stich pflegte als patriarchalischer Führer intensiv die Gemeinschaft mit seinen Schülern, Kollegen und Ärzten aus dem Lebensbund der Bubenreuther und aus der stetig wachsenden Familie. Und innerhalb dieses sozialen Verbandes entwickelte sich eine eigenständige, auf Stich und sein Berufsethos konzentrierte, Tradition. Diese wirkt lange über seinen Tod hinaus. Das ist schließlich eine Erklärung dafür, warum Stich  – all seinen Ämtern und Funktionen zwischen 1933 und 1945 und seiner Verhaftung zum Trotz – mit der Albrecht von Haller-Medaille, Fackelumzügen, der Ehrenbürgerschaft, dem Bundesverdienstkreuz und schließlich der Benennung einer Straße und eines Gebäudes geehrt wurde. Mit Beginn der vorliegenden Untersuchung wurde die Tafel wenige Monate nach dem Einzug des Instituts für Demokratieforschung in der Weender Landstraße rasch demontiert. Trotz mehrmaliger Bemühungen aus dem Milieu der Grünen Jugend beziehungsweise linker Göttinger Splittergruppen mit Hilfe von Leserbriefen und Postwurfsendungen in die Briefkästen des ­Rudolf-Stich-Weges, gab es bis heute keine öffentliche Diskussion über die Rolle von Stich im Nationalsozialismus. Ganz im Gegenteil: Schaut man sich die Vorgänge um die Ehrungen genau an, sind es gerade die von Stich gepflegten Gemeinschaften, die zielstrebig an der Legende des verantwortungsvollen Dozenten und begnadeten Arztes mitarbeiteten. Ehemalige Kollegen schlugen ihn für die Albrecht von Haller-Medaille und das Bundesverdienstkreuz vor, seine Frau betrieb bei der Stadtverwaltung die Stich-Weg-Benennung21 und ein Ini21 Am 3.12.1971 beschloss der Rat der Stadt Göttingen die Umbenennung der bisher als »An der Lutter« ausgewiesenen Straße zwischen Ostlandweg und Hermann-Rein-Straße in R ­ udolf-Stich-Weg. Interessant ist, dass der Kulturausschuss die Umbenennung zunächst zurückstellte und durch den Direktor des Stadtarchivs Walter Nissen prüfen ließ, ob das Verhalten von Stich in der NS-Zeit einer solchen Ehrung entgegenstünde. Laut Nissen ließen sich im Archiv »keine Unterlagen […] ermitteln, die ein Bedenken gegen eine Benennung […] rechtfertigen können.« Stadtarchiv Göttingen, Akte über die Straßenumbenennung. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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tiator der Gedenktafel an dem Universitätsgebäude, damit »[…] ein Stück Geschichte für Universität und Stadt sichtbar[…]«22 gemacht wird, war Professor Dietrich Seidel23. Er war ein langjähriger Schüler von Karl Heinrich Bauer. Eben weil Stich über 1945 hinaus bis zu seinem Tod innerhalb dieser kleinen Gemeinschaften weiter agierte, indem er beispielsweise Assistenzärzte empfahl, Gutachten für Lehrstuhlbesetzungen verfasste oder über medizinische Fragen der Zeit referierte, entging er in der Bundesrepublik der Thematisierung von persönlicher Schuld und Verantwortung für sein Handeln im Nationalsozialismus. Möglicherweise auch, weil die Werte, die ihn von Kindesbeinen an prägten, so sehr in dieser Ideologie aufgegangen waren, dass ein Bewusstsein von Schuldhaftigkeit gar nicht möglich war. Denn Stich ist sich selbst treu geblieben und was damals und immer richtig gewesen war, konnte später für ihn nicht verwerflich sein. Die Gemeinschaften, die ihn umgaben und die er schuf, wirkten zudem als Entlastungs- und Erinnerungsgemeinschaften bis in die Gegenwart fort: Ihre Mitglieder beseitigten ohne große Gesten seinen Kopf von einer Stehle vor der ehemaligen Chirurgischen Klinik und versuchten gleichzeitig die Entfernung der Tafel am Wohnhaus von ­Rudolf Stich im Jahr 2010 öffentlich zu verunglimpfen. Einzelne Mitglieder aus diesem Kollektiv sind teilweise bis in die Gegenwart aktiv, um das Andenken von Stich zu bewahren und offene, sowie kritische Diskussionen über sein Engagement zwischen 1933 und 1945 zu verhindern. Dieser Einsatz war schon 1945 nicht völlig selbstlos und ausschließlich durch den Schutz des Führers motiviert gewesen, sondern Teil einer eigenen »Exkulpationssolidarität«24. Hätten die Anhänger und Mitglieder der Stichschen Gemeinschaften auf die Mitglied- und Mitwisserschaften, auf seine Unterstützungsleistung für die Nationalsozialisten, auf seine Übereinstimmungen mit und öffentliche Propaganda für die nationalsozialistische Ideologie verwiesen, hätten sie sich letztlich auch ein Stück weit selbst belastet. Sie hätten Fragen nach ihrer ärztlichen Ethik, nach ihrem individuellen Verhalten oder nach ihren Ämtern provoziert. Doch die Stich umgebenden Gemeinschaften sind der Frage nach seiner Schuld bewusst ausgewichen, um sich nicht ihren eigenen Verfehlungen stellen zu müssen. Das lässt insgesamt auch ein Nachwirken der »natio22 Brief von Kamp an Seidel (Dekan des Fachbereichs Medizin) am 10.1.1984, Universitätsarchiv Göttingen, Med Fak 152. 23 Dietrich Seidel, 1938 Professor für klinische Chemie, Studium in Frankfurt, Mainz und Heidelberg, 1964 Promotion in Heidelberg, Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse, seit 1969 als wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg tätig, dort 1971 Habilitation für Klinische Chemie, 1976 Ruf nach Göttingen für Klinische Chemie, 1983–1985 Dekan, danach bis 1987 Prodekan der Medizinischen Fakultät in Göttingen, 1988 Ruf nach München. 24 Peter Graf Kielmannsegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, München 1989, S. 35. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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nalsozialistischen Solidargemeinschaft«25 erkennen. Sicherlich war dieses »integrative Verhalten« im Zusammenhang mit der braunen Vergangenheit der Regelfall und stellte in der Adenauer-Ära keine Ausnahme dar.26 Dennoch scheinen hier die Ärzte und Teile des Göttinger Bürgertums und der Universität, vor allem Kollegen von R ­ udolf Stich, besonders effizient vorgegangen zu sein. Immerhin waren Ärzte – so mittlerweile der Stand der Forschung  – bis weit in die 1980er Jahre hinein, sich einer persönlichen Schuld am wenigsten bewusst.27 Und so schrieb ein ehemaliger Kollege von Stich und Nachfolger im Amt des Dekans 1946, dass er und die hiesige Fakultät hoffen, dass mit der Anklage gegen zwanzig KZ -Ärzte 1947 in dem so genannten Nürnberger Ärzteprozess, »[…] geklärt wird, daß nur eine verschwindend geringe Zahl von Ärzten, die in eigener Verantwortung handelten, sich schuldig gemacht hat […], das aber die deutsche Ärzteschaft als solche entsprechend ihrer Tradition und ihrer inneren Überzeugung frei von Schuld […] ist.«28 Haltungen wie diese bewirkten, dass die Verstrickungen des Ärztestandes im Nationalsozialismus erst ab den 1980er Jahren – und damit im Vergleich zu anderen Professionen recht spät – aufgearbeitet werden konnten.29 In Göttingen war man lange Zeit stolz darauf, als erste Universität nach 1945 bereits zum Wintersemester 1945/46 den Lehrbetrieb wieder aufnehmen zu können, als Universität »stets aktionsfähig« geblieben zu sein.30 Doch mit diesem Willen nach Rückkehr zur Normalität ging eine zähe Beharrungskraft der nationalsozialistischen Beamten und Hochschulprofessoren einher.31 Man verkehrte nach 1945 in den gleichen Gemeinschaften wie zuvor und war sehr darum bemüht, dass vieles so blieb, wie es war. Vor allem in der Medizinischen Fakultät in Göttingen widersetzte man sich, wie Anikó Szabó anschaulich herausarbeitete, einer Reintegration von Opfern des Nationalsozialismus und von 25 Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewusstsein, Mannheim 1996, S. 235. 26 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift Nr. 236/1983, S. 579–599, hier S. 594. 27 Freimüller, S. 13. 28 Zitiert nach Jürgen Peter, Unmittelbare Reaktionen auf den Prozess, in: Angelika Ebbinghaus u. Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen, Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2002, S. 452–476, hier S. 454. 29 Vgl. exempl. jüngst: Ursula Ferdinand, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Medizinische Fakultäten in der deutschen Hochschullandschaft 1925–1950, Heidelberg 2013, S. 11–26, hier S. 11 f. 30 Werner Conze, Die Georg-August-Universität Göttingen in den Nachkriegsjahren, in: Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen e. V. 26 (1950) 2, S. 3–12, hier S. 11. Auch Karl Heinrich Bauer, der in Heidelberg als erster Nachkriegsrektor amtierte, betonte, dass vor allem Universitäten für den Wideraufbau dringend benötigt würden. Solche Haltung vermied eine Diskussion über Verantwortung und Handlungsspielraum von Ärzten und Professoren im Nationalsozialismus. Vgl. Wolgast, S. 287. 31 Axel Schildt u. Siegfried Detlef, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 55. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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ehemaligen Hochschulmitgliedern, die durch die eigenen Standesgenossen vertrieben worden waren.32 Innerhalb dieser hermetisch abgeschlossenen, durch einen starken Korpsgeist geprägten Gemeinschaft33 wurden Selbstkritik oder Einwände gegen die standespolitische Haltung der Ärzteschaft insgesamt zwischen 1933 und 1945 nicht zugelassen. In dieser Logik schrieb Gruber 1951, dass ein »[…] Volk, das – in weitem Ausmass genommen – im Gefühl der Kollektivschmach lebt, […] man in seinem Wundbett nicht mit Sonden stören [soll] […] Der gute Arzt wird ihm Ruhe zur Selbstbesinnung geben und der gute Psychologe wird nicht die Ungezogenheiten einiger ewig Unentwegter zum Richtmass für eine Bevölkerung nehmen […].«34

Die Taktik der Mediziner und Professoren rund um Stich ging auf: Spätestens nach seinem Tod erinnerten sich Patienten, Göttinger Bürger, Assistenzärzte und Bubenreuther nur noch an den faszinierenden Lehrer, den begnadeten Operateur, den pflichtbewussten und disziplinierten Klinikleiter. Doch gerade durch die Beharrung auf Pflicht entbanden sich alle selbst von ihrer individuellen Verantwortung. Dass es R ­ udolf Stich und seinen Anhängern so hervorragend gelang, eine »maskierte Variante der Biographie im kollektiven Gedächtnis der Bezugsgruppe«35 zu platzieren, lag auch daran, dass lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass Stich trotz seiner SA-Mitgliedschaft und Verhaftung durch die britische Besatzungsmacht einem Entnazifizierungsverfahren entgangen sei. Das wiederum mag dann bei der Tafeleinweihung im Jahr 1985 an der Weender Landstraße 14 dazu beigetragen haben, dass Stichs Funktionen im Nationalsozialismus keinerlei Erwähnung mehr wert waren. Dennoch, in einer »Stadt der Wissenschaft«, innerhalb einer sehr auf die Universität fokussierten Gemeinde, die Straßenbenennungen und Tafeleinweihungen durch mehrere städtische und universitäre Gremien prüfen lässt und allein durch die Präsenz von Namen in der Öffentlichkeit den Vorbildcharakter dieser Personen zumindest unterstellt, sollte auch eine Debatte über die Rücknahme solcher Auszeichnungen möglich sein. Diese Auseinandersetzung sollte jenseits von Anprangerung und Skandalisierung geschehen. Weder vorschnelle Verurteilungen der Nachgeborenen noch Entschuldungen der Aktiven, die dem »Zeitgeist« gemäß gehandelt hätten, sind an dieser Stelle angebracht. Auch 32 Vgl. Szabó, S. 195 ff. u. S. 500 ff. 33 Der tatsächlich existiert und keine Chimäre ist, vgl. hierzu auch: Ruck. 34 Brief an Fritz Wassermann 17.7.1951, Teilnachlass Georg Benno Gruber, Universitätsarchiv Göttingen. 35 Birgitt Schwelling, Demokratisierung durch Aufarbeitung. Die Bundesrepublik und die nationalsozialistische Vergangenheit, in: Sigmar Schmidt u. a. (Hg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung. Zum Umgang mit autoritären Vergangenheiten und Menschenrechtsverletzungen, Wiesbaden 2009, S. 37–52, hier S. 46. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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daher wurde hier der Versuch unternommen, dort, wo sich mit Hilfe der Quellen und Forschungsliteratur nicht alles restlos aufklären und erhellen ließ, wo weiterhin unauflösbare Widersprüche bestehen und Erklärungen nicht zwingend sein können, mögliche parallele Erzählungen über das Leben von ­Rudolf Stich zu präsentieren. Nochmals: nicht um ihn zu verurteilen oder zu entschulden, sondern vor allem auch um zu zeigen, warum und wie die konträren Deutungen über ihn nach 1945 so wirkmächtig werden konnten.

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Danksagung

Jedes Buch hat eine eigene Geschichte, ebenso wie die Person, die hier behandelt wird. Am Anfang stehen Ideen und Erwartungen, die in einen Kontext gesetzt werden müssen Es folgt ein langer Weg an Diskussionen, Reflexionen, Korrekturen, ja, auch gelegentlich der Frustration, aber auch der Einsichten. Manchmal werden die Erwartungen enttäuscht, ein anderes Mal tauchen überraschend Quellen auf und eröffnen neue Perspektiven. Die Suche nach den Spuren der Geschichte ist wie Detektivarbeit und scheint nie zu Ende. Dass diese Arbeit dennoch zu einem Ergebnis kam, ist der Unterstützung von einer Reihe von Personen geschuldet, denen wir hier gern dafür danken möchten. Ohne Professor Franz Walter hätte diese Geschichte jedoch keinen Anfang gehabt. Als Leiter des Instituts für Demokratieforschung inspirierte er nicht nur das Vorhaben, sondern schuf die Möglichkeiten für die intensive Auseinandersetzung mit ­Rudolf Stich im Rahmen des Forschungsprojekts. Auch darüber hinaus hat er uns auf dem Weg mit seiner wissenschaftlichen Expertise und Erfahrung begleitet, sowie immer wieder mit neuen Denkanstößen unterstützt. Ebenso profitiert haben wir von der kreativen Arbeitsatmosphäre im Institut, dem motivierenden Zuspruch und der konstruktiven Kritik nicht nur im Kolloquium, sondern auch in zahlreichen inspirierenden Flurgesprächen mit unseren Kolleginnen und Kollegen. Entstanden ist ein Großteil der Vorarbeiten zu diesem Buch im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts, dass von Professor Franz Walter gemeinsam mit Professor Dirk Schumann vom Lehrstuhl Neuere und Neueste Geschichte und Professorin Claudia Wiesemann, Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, geleitet wurde. Ein Dank für die gemeinsame Projektarbeit gilt auch deren Mitarbeitern Jan Renken, Christian Wachter und Nils Hansson. Im besonderen Maße sind wir jenen zu Dank verpflichtet, die uns mit Quellenmaterial versorgt und ihre Erinnerungen mit uns geteilt haben: Dr. Wendelin Dames, ein Enkel von ­Rudolf Stich, überließ uns für die Recherchen umfangreiches Bildmaterial und nahm sich gemeinsam mit Hagen Treusch von Buttlar viel Zeit, ihre Erinnerungen an Stich und das Leben in der Weender Landstraße 14 zu teilen. Gleiches gilt auch für Frau Stich aus Hamburg, die unser Bild noch um einige Facetten bereichern konnte und Ernst Schütt, einem ehemaligen Assistenten des Physiologischen Instituts Göttingen, der uns quasi einen Blick aus der Binnenperspektive ermöglichte, Professor Hans-Jürgen Peiper, Professor © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Danksagung

Wolfgang Ewald und andere Zeitzeugen. Darüber hinaus bedanken wir uns bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der aufgeführten Archive, für ihre außerordentlich freundliche und kompetente Beratung, die uns die Spurensuche vielfach erleichterte.

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Abkürzungen

BDC Berlin Document Center BDM Bund Deutscher Mädel DAF Deutsche Arbeitsfront DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft Gestapo Geheime Staatspolizei GzVeN Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses HJ Hitlerjugend KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft KWI Kaiser-Wilhelm-Institut KZ Konzentrationslager MPG Max-Planck-Gesellschaft MPI Max-Planck-Institut NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSFK Nationalsozialistische Fliegerkorps NSKK Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt RAD Reichsarbeitsdienst SA Sturmabteilung SD Sicherheitsdienst SS Schutzstaffel

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Verzeichnis der verwendeten Literatur und Quellen

Ungedruckte Quellen Nobelstiftelsens arkiv, Stockholm

Avd. II:8 und II:26: Nominierungen für den Nobelpreis

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin I. HA Rep. 76: Kultusministerium

Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde

Personalunterlagen R ­ udolf Stich (ehem. BDC) Personalunterlagen Karl Saller (ehem. BDC) Personalunterlagen Walter Koennecke (ehem. BDC) NS 23: Sturmabteilungen der NSDAP (SA) R 86: Reichsgesundheitsamt

Bundesarchiv, Koblenz

B 122: Bundespräsidialamt. Amtszeiten Theodor Heuss (1949–1959), Heinrich Lübke (1959– 1969) und Gustav Heinemann (1969–1974) Z 42-VII: Spruchgericht Stade

Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin

Abt. I, Rep. 38: Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (Kaiser-Wilhelm-Institut)

Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i. Br.

RH 12–23: Heeressanitätsinspektion/Militärärztliche Akademie N 54: Nachlass Wilhelm Keitel Universitätsbibliothek Heidelberg Heid. Hs. 3923: Nachlass von Prof. Karl Heinrich Bauer

Universitätsarchiv Bonn

UA Bonn, MF 79–104: Habilitationen und abgelehnte Habilitationen

Stadtarchiv Nürnberg

C 20 V: Bauakten C 21: Einwohnermeldekarten E 7: Unterlagen des Pegnesischen Blumenordens

Stadtarchiv Weißenburg Diverse Unterlagen

Niedersächsisches Landesarchiv Hauptstaatsarchiv Hannover

Nds. 210: Landesamt für die Beaufsichtigung gesperrter Vermögen Nds. 171 Hildesheim: Entnazifizierung © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

Gedruckte Quellen Gedruckte Quellen

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Nds. 401: Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur Hann. 310: NSDAP-Gau Südhannover-Braunschweig bzw. Osthannover Hann. 155 Göttingen: Landeskrankenhaus Göttingen Nds. 100: Innenministerium, Gesamtbestand Nds. 721: Strafverfahren Gessner, Andreae und Fröhlich Js: Staatsanwaltschaft Hannover Nds. 725 Göttingen: Amtsgericht Göttingen

Museumsarchiv des Landeskrankenhauses, Göttingen

NS-Zwangsdeportation angeblich unheilbar Geisteskranker

Archiv Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Göttingen

Georg Benno Gruber: Erinnerungsfragment 1911–1913. Institut für Ethik und Geschichte der Medizin.

Archiv der Abt. Ethik und Geschichte der Medizin, Göttingen

Ohne Signatur: Patientenakten der Chirurgischen Klinik aus den Jahren 1934–1944. Ohne Signatur: Operationsbuch der Chirurgischen Klinik

Universitätsarchiv Göttingen

Personalakten Stich: Kuratorium, Universitätsverwaltung, Rektorat UAG Kur. PA Just: Personalakte Just UAG Cod. Ms. R. Stich: Nachlass Stich UAG Cod. Ms. Gruber: (Teil)Nachlass Gruber UAG Cod. Ms. W. Seedorf: Nachlass Seedorf UAG Med. Fak. Ordner 8, 9, 10, 11, 90, 91, 95, 152, 163, 219, 223 UAG Verschiedenes und Dekanat 1935–1939 UAG Kur. XVI III: Kuratorium Protokollbuch der Medizinischen Fakultät Göttingen Sitzungen vom 27.7.1939–29.5.1941 Stadtarchiv Göttingen Dep. 14: Ausschuss zur Klärung der Vorgänge bei der Kapitulation Göttingens KL. E.: Kleine Erwerbungen Dep. 77: Augenzeugenbefragung von Göttinger Bürgern AHR: Ehrenbürgersachen

Archivalien in Privatbesitz

Tagebuch von Wolfgang Heubner, unediert, Privatbesitz. Heinrich Meyeringh, Karl Heinrich Bauer zum 85. Geburtstag, Stich-Schüler-Treffen in Göttingen, 22.11.1975, Kopie in Privatbesitz.

Gedruckte Quellen Karl Heinrich Bauer, R ­ udolf Stich zum 80. Geburtstag, in Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirur­gie 192 (1956), S. 1–6. Karl Heinrich Bauer, In memoriam R ­ udolf Stich, in: Bruns’ Beiträge zur Klinischen Chirur­ gie 203 (1961), S. 393–403. Karl Heinrich Bauer, Geissendörfer zum 60. Geburtstag, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 204 (1962), S. 145–146. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Verzeichnis der verwendeten Literatur und Quellen

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Interviews Interviews

­Rudolf Stich, Aneurysma der Arteria axillaris dextra; Hirnembolie; Nachblutung; Heilung, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 66 (1899), S. 548–552. ­Rudolf Stich, Zur Transplantation von Organen mittels Gefässnaht, in: Archiv für Klinische Chirurgie 83 (1907), S. 494–504. ­Rudolf Stich, M. Makkas, Zur Transplantation der Schilddrüse mittels Gefäßnaht, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 60 (1908), S. 431–449. ­Rudolf Stich u. M. Makkas, Über Gefäß- und Organtransplantationen mittelst Gefäßnaht, in: Ergebnisse der Chirurgie und Orthopädie 1 (1910), S. 1–48. ­Rudolf Stich, Gefäßverletzungen und deren Folgezustände (Aneurysma); in: Lehrbuch der Kriegs-Chirurgie, August Borchard u. Victor Schmieden (Hg.), Leipzig 1917, S. 252–273. ­Rudolf Stich, Ueber die Fortschritte in der ersten Wundversorgung unserer Kriegsverletzungen (unter Ausschluß der Verletzungen der großen Körperhöhlen), in: Bruns’ Beiträgen zur klinischen Chirurgie 114 (1919), S. 1–31. ­Rudolf Stich, Gefäßverletzungen und deren Folgezustände (Aneurysma), in: August Borchard u. Victor Schmieden (Hg.), Die deutsche Chirurgie im Weltkrieg 1914–1918, 1920 [zugl. zweite Auflage des Lehrbuchs der Kriegs-Chirurgie, August Borchard u. Victor Schmieden (Hg.), Leipzig 1917], S. 238–258. ­Rudolf Stich, Carl Garré, in: Sonderabdruck aus der Medizinischen Klinik (1928), Nr. 14, S. 1–4. Stich, ­Rudolf, Nachruf auf von Gaza, in: Bruns’ Beiträge zur klinischen Chirurgie 164 (1936), S. 174–176. ­Rudolf Stich, Rede auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, dokumentiert in Körte, W. u. a. (Hg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 61. Tagung, 24. bis 27 April 1937, Berlin 1937. (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 183. Band), S. 3–9. ­Rudolf Virchow, Der Armenarzt, in: Gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiet der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre, Bd. 1, Berlin 1879, S. 34–37.

Interviews Gespräch mit Dr. Wendelin Dames (Enkel von R ­ udolf Stich), am 15.4.2011. Gespräch mit Prof. Hans-Jürgen Peiper (Nach-Nachfolger von R ­ udolf Stich an der Chirurgischen Klinik Göttingen und Direktor der Poliklinik für Allgemeinchirurgie 1969–1994), am 17.1.2013. Gespräch mit Dr. Sebastian Stroeve, am 15.2.2013. Gespräch mit Ernst Schütt (Assistent am Physiologischen Institut Göttingen), am 2.3.2012. Gespräch mit Prof. Wolfgang Ewald (Sohn von Gottfried Ewald), am 18.2.2013.

Literatur Götz Aly, Die Belasteten. Euthanasie 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013. Julius Andreae u. Fritz Griessbach, Die Burschenschaft der Bubenreuther 1817–1967, Erlangen 1967. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2010 (1. Auflage 1964). Dies. u. Joachim Fest, Eichmann war von empörender Dummheit, Gespräche und Briefe, München 2011. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders. u. Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19. © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300565 — ISBN E-Book: 9783647300566

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Verzeichnis der verwendeten Literatur und Quellen

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Literatur Literatur

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Verzeichnis der verwendeten Literatur und Quellen

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Literatur Literatur

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Literatur Literatur

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Literatur Literatur

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Literatur Literatur

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Personenverzeichnis

Abderhalden, Emil  192 Adenauer, Konrad  257, 268 Aschoff, Ludwig  12, 97, 168, 187, 229

Ewald, Gottfried  23 f., 118, 139, 212, 217, 219 f. Ewald, Wolfgang  62, 78, 141, 249

Barteld, Adam  196 Bauer, Karl Heinrich  12, 25, 60 ff., 70 f., 73 f., 86 f., 97, 108, 111 f., 115, 120, 125, 141, 145, 151, 160, 173 ff., 185 ff., 192, 194, 201, 208, 223 ff., 226 ff., 239 f., 243, 245, 247, 249 f., 252 f., 258, 267 Baumgarten, Eduard  28, 30 Beattie, Arthur James  254 Bier, August  114, 192 Billroth, Theodor  179, 246 Bircher, Eugen  162 f. Blume, Werner  195, 210, 251 Bock 234 Böckler, Hans  257 Bohner, Theodor  196 Bojunga, Helmut  86, 252 Borchard, August  154, 186 Brandt, Karl  12, 86, 104, 108, 112, 114, 149, 160, 167, 171, 173 ff., 182 f., 230, 246 Bühler, Engelhardt  217 Butenandt, Adolf  183, 195 Büttner, Adalbert  120, 136, 140, 225, 228 Bürkle de la Camp, Heinrich  120, 168

Fischer, Eugen  134, 216 ff. Franz, Carl  169 Frey, Emil Karl  149, 151 Fromme, Albert  192, 223 ff., 227, 245 Fuchs, Hugo  215

Carrel, Alexis  26, 177 ff., 184, 200 f., 263 Coenen, Hermann  151 Conti, Leonardo  158 Darwin, Charles  131 Deuticke, Hans-Joachim  170, 212 Döblin, Alfred  257 Drexler, Hans  28, 198, 251 Duensing, Hugo  251 Ebel, Wilhelm  35 Ebert, Friedrich  257 Ehrenberg, Rudolf  170, 214 Enderlen, Eugen  179 Engelhardt, Wolf von  251

Gaza, Wilhelm von  73, 120, 184, 223, 228, 232 f. Geißendörfer, Rudolf  97, 111, 141, 151, 186, 223, 226 ff., 234, 236, 238 ff. Gengler, Thomas  27, 29 Gnade, Albert  27, 29 f., 34 f. Goethe, Johann Wolfgang von  46, 190 Grawitz, Ernst  79, 119 f., 129 Greiner, Hans-Baldung  234 Gruber, Georg Benno  37, 73 f., 87, 105, 129, 151, 190, 193 ff., 198, 200 f., 206 ff., 217 f., 225, 228, 232, 234, 241, 251, 262, 269 Guleke, Nicolei  83, 109, 111 f., 118, 120, 144, 151, 167 Günther, Hans Friedrich  216 Guthrie, Charles Claude  180 f. Gutzeit, Kurt  160 f. Haase, Ludolf  209 Haberer, Hans von  84, 110 f., 114, 116 Hahn, Otto  54, 192 Haller, Albrecht von  37, 177, 241, 266 Handovsky, Hans  214 Hasche-Klünder, Rütger  234, 255 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm  46 Heineke, Walter  88, 199 Helbig 196 Heller, Arnold Ludwig Gotthilf  49, 88, 199, 234 Hellner, Hans  36, 111, 113, 118, 120, 151, 228 Herlyn, Karl Ewald  30, 32, 116, 151, 174, 231, 252 f. Heubner, Wolfgang  25, 51, 141, 182, 192 ff. Heuss, Theodor  36

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Personenverzeichnis

Himmler, Heinrich  119, 129 Hippel, Eugen von  210 Hippokrates, von Kos  128 ff., 162, 245 f. Homer  46, 184 Horaz 46 Humboldt, Alexander von  46, 246 Jaboulays, Mathieu  178 Jensen, Paul  75, 182 Just, Günther  217, 228 Kaufmann, Eduard  194 f., 200 Kirschner, Martin  106 ff., 111 ff., 151, 183, 228 Klapp, Rudolf  205 Koenig, Friedrich Franz  50, 115, 177, 234 Konnecke, Walter  194, 208, 223, 226, 232 Krantz, Walther  212 f., 250 Küttner, Hermann  192, 228 Lang, Konrad  171 Lauterbacher, Hartmann  28 Lehmann, Walter  189 f. Lenz, Fritz  134, 216 ff. Lexer, Erich  111 f., 114 ff., 179, 201 Magnus, Rudolf  182 Magnus, Georg  108, 111 ff., 142, 167 Makkas, Matthäus  179, 181 Mann, Thomas  43, 257 Martens  120, 228, 232 Martius, Heinrich  30, 36, 194, 196, 214, 228 Matthiae 234 Melanchthon, Philipp  46 Merkel, Friedrich  181 Meyer-Burgdorff, Hermann  116, 223, 228 Meyeringh  194, 221, 223, 241 Muhs, Hermann  139 Mühsam, Erich  257 Noeggerath, Carl T.  206 Nordmann, Otto Carl Wilhelm  109 ff., 113, 116, 144, 212 Okonek, Gerhard  142, 219 ff. Paracelsus  129, 159, 182 Paulsen, Friedrich  249 Payr, Erwin  106, 178 f. Peiper, Hans-Jürgen  87, 115, 156, 183, 193, 241, 246, 249

Pitzen, Peter  205 Plischke, Hans  35 Ploetz, Alfred  133 f. Pohl, Franz-Joachim  171 f. Porsche, Ferdinand  257 Quincke, Heinrich Irenäus  199 Reichenbach, Hans  210 Rein, Hermann Friedrich  23 f., 30, 120, 151, 170, 172, 187, 195, 213, 220, 228, 266 Rostock, Paul  86, 108, 112, 114, 118, 167 f., 170, 172 ff. Roth 234 Ruff, Siegfried  167 Saller, Karl  195, 215 ff., 218 Schiller, J. Christoph Friedrich von  46 Schmieden, Victor  154, 186 Schultze, Ernst  182, 194, 210 Schuster 196 Schweizer, Albert  257 Schwiegk, Herbert  171 Seidel, Dietrich  267 Seifert, Ernst  234 Seulberger, Paul  120, 151, 228, 231 f. Stich, Eduard  43 ff., 64 f., 67, 72, 88 ff., 264 Stich, Johann Lorenz  44, 63, 88 Stich, Margarete  7, 37 Stich, Sophia  43, 47, 64 Stich, Walther  233 f. Straub, Hermann  194 f. Streckfuß, Hans  213 Stresemann, Gustav  257 Tonndorf 192 Tröltsch, Christian  47 Tschackert, Thea  50, 226, 232, 245 Ullmann, Emerich  201 Valentiner, Theodor Justus  54, 194, 196 Verschuer, Otmar Freiherr von  112 Vetter, Hellmuth  170 Villinger, Werner  261 Vogt, Hannah  27, 30 Wehefritz, Emil  195, 210, 234 Wille-Baumkauff, Horst  225 Yi-Ming, Yen  120, 154

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