Rudolf Borchardts Anthologien 9783110228304, 9783110228298

Rudolf Borchardt’s anthologies - Deutsche Denkreden, Ewiger Vorrat deutscher Poesie [German Speeches, Eternal Supply of

209 107 1MB

German Pages 355 Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
I. Grundlagen der Anthologien
II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien
III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien
IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner
Backmatter
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Rudolf Borchardts Anthologien
 9783110228304, 9783110228298

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Stefan Knödler Rudolf Borchardts Anthologien

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

63 ( 297 )

De Gruyter

Rudolf Borchardts Anthologien von

Stefan Knödler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022829-8 e-ISBN 978-3-11-022830-4 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Knödler, Stefan. Rudolf Borchardts Anthologien / by Stefan Knödler. p. cm. − (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 63 (297)) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022829-8 (alk. paper) 1. Borchardt, Rudolf, 1877−1945 − Criticism and interpretation. I. Title. PT2603.O69Z745 2010 8381.91209−dc22 2010021705

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung..........................................................................................................................1 I. Grundlagen der Anthologien ...................................................................................5 1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“ .........................................................5 a) Die Lehre vom richtigen Lesen .....................................................................5 b) Borchardts Kanon ...........................................................................................7 c) „Selbstbildung“ und Krise............................................................................12 2. Stabilisierung des Kanons: Heimat und Gegnerschaft ..................................29 a) Subjektivität des Kanons ..............................................................................29 b) Außenseitertum..............................................................................................30 c) Der Kanon als „Geist und Körper eines Ganzen“ ...................................33 d) Selbstbewußtsein und Bildungskritik: „Der Brief an den Verleger“.......36 e) Bildungskritik von Friedrich Schlegel bis Borchardt ................................41 f) Gegnerschaft ..................................................................................................45 3. Systematisierung des Kanons: Poesie und Ewigkeit ......................................51 a) Der Dichter und sein „Centrum“................................................................51 b) Was den Dichter zum Dichter macht .........................................................59 c) Poesie und Religion .......................................................................................64 d) Poesie und Politik ..........................................................................................67 e) Poesie und Wissenschaft...............................................................................74 4. Verbreitung des Kanons: Aneignung und Wirkung.......................................82 a) Statische Literaturgeschichte ........................................................................82 b) Ideales Publikum und Wirkung....................................................................88 II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien...........................................................97 1. Die Entwicklung der Anthologie seit dem 19. Jahrhundert..........................97 a) „Objektive“ und „subjektive“ Anthologien ...............................................97 b) Anthologien in Deutschland 1900-1930...................................................104 2. Willy Wiegand und die Bremer Presse ...........................................................119 3. Die Anthologien Hugo von Hofmannsthals.................................................133 III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien ...................................144 1. Der Geist der deutschen Wissenschaft ..........................................................144 a) Einheit: Deutsche Denkreden..........................................................................144 b) Grundlagen: „Grundvesten der Bildung deutscher Nation“ .................170 c) Expansion: Der Deutsche in der Landschaft...................................................180 2. Ewiger Vorrat deutscher Poesie..............................................................................199 a) Vorläufer und Entstehung: Die „Münster-Ausgabe“ .............................199 b) „Ordnungsprinzip: das Ewige“..................................................................208

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Inhalt

c) „Nichts ist sacrosanct“: Borchardts Umgang mit den Texten...............220 d) Der Kanon des Ewigen Vorrats im Vergleich............................................235 3. Deutsche Renaissancelyrik...............................................................................254 4. Borchardts Übertragungen ..............................................................................281 a) „Einbürgerung in den ewigen Vorrat deutscher Poesie“ .......................281 b) Die fremde Muse ..............................................................................................287 IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner..........................................297 V. Literaturverzeichnis...............................................................................................317 VI. Register ...................................................................................................................337

Einleitung Gegenstand dieser Arbeit sind Rudolf Borchardts Anthologien Deutsche Denkreden (1925), Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) und Der Deutsche in der Landschaft (1927) sowie die geplanten, aber nicht vollendeten Anthologien, insbesondere die aus dem Nachlaß rekonstruierte Deutsche Renaissancelyrik1 und die Sammlung „Grundvesten deutscher Wissenschaft“, von der sich zahlreiche Entwürfe im Nachlaß sowohl von Borchardt als auch von Willy Wiegand erhalten haben. Wiegand, der Verleger der Bremer Presse in München, betreute und veröffentlichte alle Anthologien Borchardts. Zu diesen Anthologien zählt auch die zu Lebzeiten geplante, aber erst 1974 posthum erschienene Sammlung von Übersetzungen, Die fremde Muse. 2 Andere Pläne blieben meist im Anfangsstadium stecken – so etwa die mit großen Erwartungen 1907 für den Insel-Verlag begonnene Ausarbeitung der „Münster-Ausgabe“ mit deutschen Texten des Mittelalters oder eine Sammlung „Deutsche Sonette“ zu Beginn der zwanziger Jahre. Andere Herausgaben Borchardts, das Jahrbuch Hesperus (1909) und die Festschrift zu Hofmannsthals fünfzigstem Geburtstag, Eranos (1924), werden nicht in die Darstellung miteinbezogen, jenes, weil Borchardt sich die Herausgeberschaft mit Hofmannsthal und Schröder teilte und lediglich Texte der Herausgeber aufgenommen wurden, dieses, weil sich seine Herausgeberschaft auf die Kompilation und Übergabe der Beiträge beschränkte, der Inhalt der einzelnen Beiträge aber deren Verfassern anheimgestellt war. Nicht berücksichtigt werden außerdem die zahlreichen Pläne Borchardts für Zeitschriften, von einem neuen „Deutschen Merkur“ nach Wielandschem Vorbild 19053 über seine Hoffnungen auf die Herausgeberschaft der Zeitschrift der Bremer Presse, die als Neue Deutsche Beiträge dann von Hofmannsthal „unter Mitwirkung Anderer“ in den Jahren 1922-1927 herausgegeben wird, bis zu der „conservativen Monatsschrift“ mit dem 1 2

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Rudolf Borchardt (Hrsg.): Deutsche Renaissancelyrik. Aus dem Nachlaß rekonstruiert und herausgegeben von Stefan Knödler. München 2008. Neben den genannten erwähnt Wiegand in einem Brief an Borchardt vom 7. Januar 1925 (DLA Marbach) „die der Renaissance-Dichtung anzuschliessenden Bände der Minnesänger, des Volksliedes, des historischen Volksliedes, ferner [...] die Dichterkreise des 18. und 19. Jahrhunderts: das preussische Rokoko, den Göttinger Dichterkreis.“ Erstmals erwähnt in einem Brief an Ernst Hardt vom 4. November 1905, Briefe 1895-1906, S. 370f.

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Einleitung

Titel „Interregnum“ 1930.4 Keine dieser Zeitschriften wird realisiert, obwohl für einige programmatische Entwürfe und Listen imaginärer Mitarbeiter existieren. Borchardt versucht mit seinen Zeitschriftenplänen weniger Texte zu versammeln als Menschen; daß die Zeitschriften nie verwirklicht werden, liegt auch daran, daß Menschen sich im Gegensatz zu Texten gegen Vereinnahmungen wehren können. Ziel dieser Arbeit ist es, Borchardts Anthologien als eigenständige Kunstwerke zu analysieren und zu interpretieren. Selbst wenn sie von Dichtern besorgt werden, wird der künstlerische Aspekt von Anthologien meist vernachlässigt, was etwa daran zu sehen ist, daß sie nur selten in die Werkausgabe der jeweiligen Dichter aufgenommen werden. Offenbar gilt die Arbeit, die es braucht, eine Anthologie zu erstellen – gründliche Lektüre, Auswahl, Textkonstitution, Anordnung der Texte – als zu wenig dichterisch und zu sehr wissenschaftlich, als daß sie einen Werkstatus rechtfertigen könnte. 5 Bei anderen Arbeiten zwischen Wissenschaft und Dichtung, zwischen fremdem und eigenem Werk, ist man weniger kleinlich: Von Dichtern angefertigte Übersetzungen gelangen leicht in Werkausgaben, so füllen die Übersetzungen Borchardts schon zweieinhalb Bände der „Werke in Einzelbänden“. 6 Meist werden, wie im Falle Borchardts, nur die Vor- oder Nachworte der Anthologien in die Werkausgabe aufgenommen, wobei dann der Leser nicht in der Lage ist nachzuprüfen, worum es denn geht, da ihm die eigentliche Anthologie nicht vorliegt. Sieht man die Anthologien Borchardts nicht im Zusammenhang seines übrigen Werks, wird man sie nicht verstehen. Der Darstellung von Borchardts Bild von der Poesie und dem Dichter ist daher der erste Teil dieser Arbeit gewidmet. Da die Anthologien sich in ihrer theoretischen Grundlage nicht von den anderen Werkteilen Borchardts unterscheiden, ist diese Darstellung allgemein gehalten und kann so auch als Einführung in Borchardts Werk generell gelesen werden. Der zweite Teil untersucht vergleichend das Umfeld von Borchardts Anthologien, stellt Vorläufer 4 5 6

Erwähnt in einem nicht abgesandten Brief an die „Arbeitsstelle für konservatives Schrifttum“ Würzburg, Karl Ludwig Freiherr von Guttenberg, Ende November 1930, Briefe 19241930, S. 559. Eine Ausnahme macht Walter Benjamins Anthologie Deutsche Menschen, die 1936 unter dem Pseudonym Detlef Holz erschien und in die Werkausgabe wohl vor allem wegen der ausführlichen Einleitungstexte Benjamins aufgenommen wurde. Vgl. S. 159f. dieser Arbeit. Einen Band mit Dantes Comedia deutsch, anderthalb Bände mit Übertragungen. Bei Borchardts Freund Rudolf Alexander Schröder machen die Übertragungen sogar mehr als die Hälfte der achtbändigen Werkausgabe aus: ein Band lateinischer Dichter (Vergil und Horaz), sowie je einer mit Homer, Shakespeare und den klassischen französischen Dramatikern plus die Übertragungen flämischer Dichter im Band Gedichte.

Einleitung

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und konkurrierende Unternehmen dar und fügt Borchardts Anthologien in den größeren Rahmen des Verlagsprogramms der Bremer Presse ein, zu dem auch die Anthologien Hofmannsthals gehören. Für die Darstellung von Borchardts Anthologien im dritten Teil dieser Arbeit ist erstmals sämtliches dazu im Nachlaß verfügbares Material berücksichtigt worden. Auch die zum Großteil unveröffentlichten Briefe anderer aus Borchardts Nachlaß sind für die Ausführungen herangezogen worden. Besonders aus den Briefen Willy Wiegands lassen sich wertvolle Erkenntnisse zu Entstehung und Programmatik der einzelnen Anthologien gewinnen. In der Forschungsliteratur wurden Borchardts Anthologien bis vor wenigen Jahren kaum wahrgenommen. Lediglich in der Monographie von Jacques Grange7 finden sich einige Abschnitte über Ewiger Vorrat deutscher Poesie, während Fred Wagners Arbeit Rudolf Borchardt and the Middle Ages, deren Untertitel immerhin „Translation, Anthology and Nationalism“ lautet, nicht auf Borchardts Anthologien eingeht – obwohl der Ewige Vorrat ja durchaus Mittelalterliches enthält.8 In den letzten Jahren ist Borchardt in der Germanistik mehr und mehr in den Blickpunkt gerückt, was nicht zuletzt am Abschluß der Briefausgabe, der Veröffentlichung des Briefwechsels mit Rudolf Alexander Schröder und an immer neuen Editionen aus dem Nachlaß liegt. Die Anthologien betreffend sind neben den Aufsätzen, die sich Borchardts Behandlung von Hölderlins „Hälfte des Lebens“ in Ewiger Vorrat deutscher Poesie widmen, 9 zunächst die beiden teilweise identischen Aufsätze Gerhard R. Kaisers aus dem Jahr 2001 zu nennen,10 die versuchen, Borchardts Anthologien in einen größeren Zusammenhang einzufügen. Die erste ausführliche Darstellung von Ewiger Vorrat deutscher Poesie ist Johannes Saltzwedels ‚„Ganz und gar aus dem Leben heraus.‘ Rudolf Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie

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Jacques Grange: Rudolf Borchardt 1877-1945. Contribution à l’étude de la pensée conservatrice et de la poésie en Allemagne dans la première moitié du XXe siècle. Zwei Bände. Frankfurt/M. 1983. Fred Wagner: Rudolf Borchardt and the Middle Ages. Translation, Anthology and Nationalism. Frankfurt/M. 1981. Daß Borchardts Anthologien hier unerwähnt bleiben, liegt wohl auch daran, daß Wagner den Untertitel seiner Arbeit lediglich von Henri Buriot-Darsiles’ Aufsatz „Rudolf Borchardt. Traducteur, anthologiste et … nationaliste allemand“ (vgl. S. 111 dieser Arbeit) entlehnt. Vgl. S. 207 und S. 229-231 dieser Arbeit. Gerhard R. Kaiser: „Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George/Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt.“ In: Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literaturund Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser. Heidelberg 2001, S. 107-138, und „‚Restauration deutscher Kulturtotalität aus ihren gesamten Beständen.‘ Rudolf Borchardts Anthologien.“ In: Stefan George. Werk und Wirkung seit dem „Siebenten Ring“. Hrsg. von Wolfgang Braungart, Ute Oelmann und Bernhard Böschenstein. Tübingen 2001, S. 378-395.

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Einleitung

als Ernstfall schöpferischer Restauration“,11 deren Verdienst vor allem das beigegebene Quellenverzeichnis ist. Haruki Yasukawa untersucht in seinem Aufsatz „Die ‚leidenschaftlichen Gärtner‘. Anthologik bei Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt“ 12 vor allem die „Konzeptionen“ der einzelnen Anthologien, widmet ihnen aber jeweils nur wenige Seiten. Zuletzt enthält Daniela Gretz’ 2007 erschienenes Buch Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation ein ausführliches Kapitel über Borchardts Anthologien, in dem vor allem Ewiger Vorrat deutscher Poesie im Rahmen der Untersuchung der Manifestationen einer „‚Rede von der deutschen Bewegung‘“ – gemeint ist die von Herman Nohl so genannte Zeit um 1800 – als ein „(Re-) Konstruktionsmodell nationaler Identität“ eine aufschlußreiche Deutung erfährt.13

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Johannes Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus.“ Rudolf Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie als Ernstfall schöpferischer Restauration. München 2006. (Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 5) Haruki Yasukawa: „Die ‚leidenschaftlichen Gärtner‘. Anthologik bei Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt.“ In: Neue Beiträge zur Germanistik. 5. Jg. 2006, Heft 4, S. 99-123. Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation. München 2007, S. 11.

I. Grundlagen der Anthologien 1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“ a) Die Lehre vom richtigen Lesen Sorgen Sie nicht zu ängstlich um zu absolvierende Pensen, etwa das Durchlesen, schlimmer das Durchgelesenhaben, ganzer Literaturreihen. Auf diesem Wege ist nichts zu holen als erschöpfte Befriedigung des Intellektualismus. Lesen ist nicht nur eine Kunst, sondern die unlehrbarste aller Künste, es wäre denn das Lieben ginge ihm darin vor. Methodisch sich durch Bände hindurchlesen ohne ein engbegrenztes Forschungskriterium ist keines freien und schöpferischen Menschen – und kein Mensch ist gänzlich unschöpferisch – am wenigsten eines Dichters würdig. Lesen Sie, was Sie anzieht, und was Sie bald abstösst, bald anzieht; entnehmen Sie dem was Sie lesen die geheimnisvollen Fingerzeige, die von dem Buche in Ihrer Hand auf ein anderes, von da auf ein drittes, und so fort, weisen und ziehen Sie sich als lebendiger, anziehbarer und interessierbarer Mensch an solchen geistigen Ketten entlang, ohne es irgendwie auf historische Vollständigkeit abzusehen, es sei denn, Sie läsen eines besondern heuristischen Zweckes wegen. Wohnt Ihnen ein Instinkt inne, der sich des verborgenen Geschichtszusammenhanges bemächtigen, und überblicken will, so wird er sich regen und Ihr Inneres auf Wege und Mittel ganz individueller Art bringen. Denn es ist mit dem Überblicke hierin wie mit allem beschaffen: kein Auge ist menschliche Linse Fernglas und Microscop zugleich und jede besondere Sehart kann sich nur ausbilden indem sie nach rechts und links verzichtet. Das Geheimnis grosser Leser besteht nicht in ihrer Aufnahmefähigkeit sondern in ihrer Schöpferkraft, wie das Geheimnis aller Grösse. Sie verfahren schwerlich anders als der Paläontolog der aus einem Schenkelknochen den geflügelten Schwanendrachen diviniert, und dem ein Fussabdruck im Pliocän genügen muss um einen verschollenen Leib zu träumen. Man hat nicht jedes Buch, das man sich gewonnen hat, von Anfang bis Ende gleichmässig durchlautiert, nicht jeden Einzelstatisten einer Büchergruppe, die man sich unter höhere Einheiten gebracht hat, erforscht. Die Intensität mit der man das Ergreifbare ergreift, schafft den nicht ergriffenen Rest nach, sobald der Geist sich des Formenschatzes bemächtigt hat, der die Möglichkeiten geistiger Bildnerei erschöpft. Denn damit ein solches Schalten nicht zu Willkür verführe oder gar ins Unredliche ausarte, ist es allerdings nötig, dass man ein Mal oder mehrere Male an einem Buche, oder an einem gestaltenden Geiste, einem Volke einer Epoche mehr als mechanische Vollständigkeit aber nun nach der andern Seite hin, die ganze Form zerbrechend und reconstruierend, erreicht habe; auch dies wiederum ist nur Sache des lebendigsten Menschen, und im Grunde auch

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I. Grundlagen der Anthologien

unlehrbar. Gedulden Sie sich also, und lassen Sie sich nichts reuen, was Ihrer eigenen Intensificierung dienen kann. In diesem Sinne ist es wohl richtig dass nur vom Centrum in die Peripherie, nicht von der Peripherie ins Centrum geistiger Stoff gesammelt und aufgebaut werden kann.1

Dies schreibt der fünfunddreißigjährige Rudolf Borchardt dem um fünfzehn Jahre jüngeren Herbert Steiner am Weihnachtstag 1912. Obwohl in der zitierten Passage zweimal gesagt wird, daß sich das Lesen nicht lehren lasse, enthält die Stelle doch so etwas wie eine Lehre vom richtigen Lesen. Diesem wird zunächst eine falsche Art des Lesens entgegengestellt: die systematische Erarbeitung von Zusammenhängen; Wörtern wie „Intellektualismus“, „Wissenschaft“, „Methodik“, „Vollständigkeit“ und „durchlautiert“ stehen die Wörter „Intensität“, „Instinkt“, „lebendig“, „Schöpferkraft“, „Geheimnis“, „diviniert“ oder „träumen“ gegenüber. Man solle sich zunächst, so will es Borchardt, beim Lesen von Buch zu Buch durch die „geheimnisvollen Fingerzeige“ darin tragen lassen, eine Methode, die er auch später noch den Hörern seiner Rede „Dichten und Forschen“ (1925) am konkreten Beispiel empfiehlt: Lektüre, wenn sie an das Höchste des Lesenswerten klingend anrührt, ist eine lebendige, geisteswache Angelegenheit, eine nach allen Seiten sich verzweigende. Ein aufsteigender Verständniszweifel, der es so leicht hat, sich zu befriedigen, sollte so faul und langweilig sein, sich nicht sofort, hier, auf der Stelle zu befriedigen? Shelleys Totenklage auf Keats sollte Sie musikalisch und tragisch bewegt haben, und in den Keats, der daneben steht, wollen Sie nicht blicken um zu sehen wie das aussah, selber, was dort Adonais heißt?2 Das größte seiner Sonette, das auf Chapmans Homer, sollte Ihnen nicht Chapmans Homer selber, den alten ritterlich höfisch biderben und franken, in die Hände geben, und wenn Sie der Renaissancetravestie satt wären, wollten Sie nicht zu dem echten, dem griechischen zurückkehren? Das kann ich unmöglich glauben.3

Auf diesem Wege werden sich in einem schöpferischen Akt die einzelnen, zunächst vielleicht nur zufällig gelesenen Bücher zu einem Ganzen fügen, werde zwischen ihnen ein „verborgener Geschichtszusammenhang“ sichtbar: „Sie sollen mit Ahnung, nicht mit Verständnis beginnen, und sich über alle rätselhaften Stufen hin zum Verständnis erst erweitern“, 4 wie es in Borchardts „Gespräch über Formen“ (1905) heißt. Damit die 1 2

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Borchardt an Herbert Steiner, 25. Dezember 1912, Briefe 1907–1913, S. 376f. Steiners Brief, auf den dieser antwortet, hat sich leider nicht erhalten. Gemeint ist nicht, wie Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike. Heroisch-tragische Zeitgenossenschaft in der Moderne. Heidelberg 2006, S. 30f. angibt, Shelleys „Fragment on Keats“, sondern dessen große Elegie Adonais mit dem Untertitel „An Elegy on the Death of John Keats“, vgl. Borchardt an Schröder, November 1911, Briefwechsel 1901-1918, S. 334. „Dichten und Forschen“, Reden, S. 182-209, hier S. 191f. „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 7-52, hier S. 24.

1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“

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Lektüre dabei nicht zur Beliebigkeit führe und der dabei entstehende Zusammenhang durch die Faulheit des Lesers kein „unredlicher“ werde, hat Borchardt in seiner Belehrung ausdrücklich vorgesehen, daß der Leser einmal statt einer „mechanischen Vollständigkeit“ und über sie hinaus – „die ganze Form zerbrechend und reconstruierend“ – mithilfe der eigenen Schöpferkraft „mehr“ erreichen und so exemplarisch einen größeren Zusammenhang herstellen solle. Lesen ist bei Borchardt eine Kunst, die vom Einzelnen – „divinierend“ und „träumend“ – zu einem Ganzen, einem Kanon führt. Daß bei einer solchen Methode, die dem einzelnen Leser den Gang seiner Lektüre überlässt, der „geheimnisvolle Zusammenhang“ und das „Centrum“, um das sich nach und nach ein Kanon bilden soll, dennoch nahezu beliebig werden, scheint sich aus den zitierten Sätzen zwangsläufig zu ergeben. Bei Borchardt ist das jedoch keineswegs gewollt. Worin gerade die schöpferische Arbeit der Lektüre besteht, darauf ist, wie auch die zitierte Briefstelle zeigt, ein Großteil seines Werks aus: das „Centrum“ des Zusammenhangs seiner Lektüre in immer neuen Anläufen zu bestimmen und darüber hinaus, vor allem mit Anthologien, für andere verbindlich zu machen. b) Borchardts Kanon Üblicherweise versteht man unter einem Kanon eine „Zusammenstellung als exemplarisch ausgezeichneter und daher für besonders erinnerungswürdig gehaltener Texte; ein auf einem bestimmten Gebiet als verbindlich geltendes Textkorpus.“5 Ein solcher Kanon, bezogen etwa auf Deutschland, ist schwer zu bestimmen, nicht nur wenn man – synchron – die Verschiedenartigkeit dessen, was sich „deutsch“ nennt, bedenkt, sondern auch – diachron – die Veränderungen dieses Begriffs – und damit des Kanons – über die Jahre. Seine Grenzen sind unscharf, er ist in dauernder Veränderung begriffen. Versuche, wie sie in den letzten Jahren nicht selten waren, den Kanon der deutschen Literatur festzuschreiben, haben immer etwas von naiver Hybris an sich. Dichter erscheinen und geraten in Vergessenheit, werden, wie in den letzten fünfzig Jahren etwa J.M.R. Lenz oder Robert Walser, wieder- oder überhaupt erst entdeckt und wie auch immer dauerhaft in den Kanon integriert. Dennoch wird man sich wohl auf ein paar Namen einigen, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte als 5

Rainer Rosenberg: „Kanon.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Dritte Auflage. Band II H-O. Berlin und New York 2000, S. 224-227, hier S. 224.

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I. Grundlagen der Anthologien

unverrückbare Fixpunkte eines deutschen Kanons erwiesen haben und die wohl auch, so darf man annehmen, diesen Status in absehbarer Zeit nicht verlieren werden: Goethe und Schiller, Hölderlin, Kleist, Heine, Fontane, Thomas Mann, Rilke oder Kafka gehören sicher dazu. Die literaturwissenschaftliche Kanonforschung beschränkt sich in der Regel auf die Untersuchung von Kanones, die für eine Gemeinschaft gelten: für ein Land (bzw. für dessen Leser), für eine Institution wie die Universität oder die Schule. Innerhalb dieser Gemeinschaft werden dann Mechanismen, Bedingungen, Genese, Funktion, Habitualisierung und Ritualisierung literarischer Kanonbildung, die Kanonisierung einzelner Epochen, Autoren und Texte untersucht. Die umfangreiche Kanonforschung 6 beschäftigt sich nur ausnahmsweise mit dem, was man einen „Privatkanon“7 nennen müsste. Ein solcher liegt im Falle von Borchardts Kanon vor. Seine Entstehungsbedingungen sind kaum anders als die, die Hermann Korte anhand von Autobiographien aus dem 19. und 20. Jahrhundert dargestellt hat – aber leider nicht anhand von Borchardts. Familie, Freunde, Schule und Universität, eigene Neugier und „zufällige Funde“, schließlich die eigene „Kanonkompetenz“ 8 sind für ihn die wichtigsten Instanzen, die einen solchen „Privatkanon“ entstehen lassen. Die Überlappungen, was Autoren und Texte von Borchardts „Privatkanon“ angeht, mit dem Kanon des lesenden Deutschlands damals sind groß; gleichzeitig sind die Unterschiede gewollt. Es handelt sich bei Borchardts Kanon zwar um einen alternativen Kanon, aber nicht um einen völlig anders gearteten „Gegenkanon“. Seinen Kanon muss man als einen gegen den etablierten Kanon gerichteten „Deutungskanon“ bezeichnen, der die „impliziten

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Vgl. etwa die Sammelbände Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Hrsg. von Renate von Heydebrand. Stuttgart 1998; Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser. Heidelberg 2001; Literarische Kanonbildung. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Text + Kritik Sonderband IX/2002 (mit einer Auswahlbibliographie); „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert.“ Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Band 8: Kanon und Kanonisierung als Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Bern 2003. Renate von Heydebrand will den Begriff „Kanon“ nicht für das gelten lassen, was „jemandem privatim gefällt“, da dabei die nötige Akzeptanz durch eine Gemeinschaft fehle (Renate von Heydebrand: „Probleme des ‚Kanons‘ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik.“ In: Germanistik, Deutschunterricht und Kulturpolitik. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen 1993, S. 3-22) Im Falle Borchardts scheint der Begriff dennoch angebracht, da er die Geltung seines Kanons für andere beansprucht und dessen Akzeptanz bei einer Gemeinschaft wenigstens idealerweise annimmt. Hermann Korte: „Meine Leserei war maßlos.“ Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007, S. 108.

1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“

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Kriterien und Wertvorstellungen des Kanons, das Programm“ 9 enthält. Nicht die Texte (zumindest nicht alle) des etablierten Kanons hält Borchardt für falsch, sondern die Gründe, derentwegen sie im Kanon stehen. Auch bei einem „Privatkanon“ wie dem Borchardts sind die Ränder unscharf, sind große Veränderungen im Lauf der Jahre möglich, jedoch wird man feststellen, daß Borchardts Kanon über rund vierzig Jahre seines Lebens erstaunlich stabil bleibt: Spätestens 1906 steht dieser Kanon – „ein geistiger Kosmos von seltener Geschlossenheit und Einsinnigkeit“ 10 – fest: „Borchardt hat die Reihe seiner Konzeptionen nach 1906 nicht mehr wesentlich erweitert, sondern jahrzehntelang, im Spiralgang seiner Entwicklung, mit imponierender Gleichmäßigkeit präzisiert.“11 Die Stabilisierung dieses Kanons erfolgt laufend, indem Borchardt immer wieder davon spricht, das Ganze und dessen Teile ausführlich zu einem System fügt, einen inneren Zusammenhang um ein „Centrum“ konstruiert und ideologisch überwölbt. Dabei findet sich in Borchardts Schriften trotz einiger fragmentarischer Ansätze nicht der große Entwurf, der dieses System darstellen würde, es setzt sich aus vielen Einzelteilen in verstreuten und oft weit auseinanderliegenden Texten zusammen, wird in Wiederholungen von bereits Gesagtem gefestigt, durch Details ergänzt und genauer gefaßt. Oft werden Zusammenhänge innerhalb des Kanons hervorgehoben, indem in einem Text von einem scheinbar ganz anderen Gegenstand gesprochen wird: Das Nachwort zu Hartmans von Aue Der Arme Heinrich (1925) handelt zunächst ausführlich von Tacitus’ Germania, der Fragment gebliebene Essay „Swinburne“ (um 1910) ebenso ausführlich von Dante Gabriel Rossetti. Aus solchen Verzahnungen im Werk läßt sich Borchardts Kanon konstruieren. Auch seine Anthologien wollen nicht den ganzen Kanon abbilden, sondern geben repräsentative Ausschnitte daraus, sie wollen eher im Hinblick auf das sie rechtfertigende und zusammenhaltende „Centrum“ als auf die Kanonwürdigkeit ihrer Einzelteile hin gelesen werden. Borchardts Kanon hat zwei Seiten: eine literaturgeschichtliche und eine weltanschauliche. Letztere unterscheidet ihn etwa von den jüngsten Entwürfen eines deutschen Kanons, die sich nach den Erfahrungen des 9 10 11

Zu den Begriffen vgl. Renate von Heydebrand: „Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung.“ In: Kanon – Macht – Kultur a.a.O., S. 612-625, hier S. 616. Silvio Rizzi: Rudolf Borchardt als Theoretiker des Dichterischen. Diss. Zürich 1958, S. 52. Gerhard Schuster: „Toscana als geistige Lebensform. Zur Entwicklung des Italienbildes bei Rudolf Borchardt 1989 bis 1906.“ In: Rudolf Borchardt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums. Hrsg. von Horst Albert Glaser. Frankfurt/M. 1987, S. 151-174, hier S. 152. Hofmannsthal schreibt an Borchardt am 13. November 1912 „von welcher Wichtigkeit mir Ihre und Schroeders andauernde und consequente Teilnahme an meiner Arbeit und dem Spiralgang meiner Entwicklung geworden ist“ (Briefwechsel, S. 126).

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I. Grundlagen der Anthologien

Dritten Reichs alleine an das Kriterium der Sprache halten, ohne sich auf die Frage, was denn an den versammelten Texten sonst noch deutsch sei – wo also, mit Borchardt gesprochen, ihr „Centrum“ liege –, überhaupt andeutungsweise einzulassen. Bei Borchardt ist dieses „Centrum“ wichtiger als die Texte, die es umgeben. Sein Kanon der Welt- und Nationalliteratur lässt sich bis auf wenige Ausnahmen, etwa Cervantes’ Don Quixote, in fünf Epochen gliedern, die sich wiederum zu einer „divinierten“ Literaturgeschichte aneinanderreihen lassen, was hier wenigstens kurz geschehen soll: Erstens die Antike,12 die griechische mehr als die römische,13 Lyrik mehr als Drama und Prosa, mit Pindar als der zentralen Gestalt. Zweitens das Mittelalter, gesamteuropäisch verstanden, mit den Trobadors, die deutschen Minnesänger einschließend, die französischen Trouvères und Romane ausdrücklich ausschließend, mit Dante als der zentralen Gestalt. Borchardts Mittelalter ist ausschließlich romanisch geprägt,14 alles Nordische wie die Edda oder das Nibelungenlied findet in seinen Kanon keine Aufnahme. Drittens das deutsche Jahrhundert von etwa 1750 bis 1850, beginnend mit der Aneignung des Mittelalters durch Bodmer, mit Herder und Goethe als den zentralen Gestalten, dann von Hölderlin, Jean Paul und den Romantikern, vor allem Novalis und den Brüdern Schlegel, bis zu wenigen Dichtern der Mitte des 19. Jahrhunderts wie Rückert oder Mörike reichend. Der Beginn einer deutschen Wissenschaft mit den Humboldts und Grimms, mit Ritter und Boeckh und ihr weiterer Fort- (und Nieder-)gang im Verlauf des Jahrhunderts sind dabei ebenfalls Teil des Kanons. Viertens die englische Poesie des Viktorianischen Zeitalters als Vollendung der deutschen Romantik verstanden, mit der zweiten Generation der englischen Romantiker, Shelley, Byron und Keats beginnend, in Dante Gabriel Rossetti gipfelnd, über Robert Browning und George Meredith bis zu Walter Pater reichend – auch Carducci und Pascoli, die Italiener, reihen sich in dieses Schema als Fortsetzer der deutschen Romantik ein. Fünftens die eigene Gegenwart, bestehend aus George und Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder und Borchardt selbst, neben einigen wenigen, die er außer diesen gelten läßt, wie etwa Emil Strauß.

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Zur schwierigen Datierung der Antike bei Borchardt, deren maximale Ausdehnung von 800 v. Chr. bis 1000 n. Chr. Reicht, vgl. Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 12. Vgl. Günther Freymuth: „Rudolf Borchardts Begriff von römischer Dichtung.“ In: Neue Deutsche Hefte. 28. Jg. 1981, S. 270-281. Vgl. die Doppelrede „Die Antike und der deutsche Völkergeist“, Reden, S. 272-308, bes. S. 276ff.

1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“

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Borchardts Kanon bleibt in den rund vierzig Jahren von 1906 bis zu seinem Tod 1945 weitgehend stabil. Zu leichten Schwankungen kommt es immer dann, wenn sich Borchardts Interesse verlagert. So gilt Browning ihm 1912, da er behauptet, er lebe „seit zehn Jahren mit dem Dichter“, der ihm als die „ergiebigste“ 15 Gestalt der englischen Poesie erscheint, noch viel, er plant sogar eine Auswahlausgabe aus Brownings Werk zu übersetzen, aber Browning gerät in den folgenden zwanzig Jahren fast völlig aus seinem Gesichtsfeld, bis er sich im Zusammenhang mit der Anthologie Die Fremde Muse wieder mit ihm beschäftigt. Die einzige wirkliche Erschütterung, die Borchardts Kanon erfährt, ist seine Begegnung mit den Versen Edna St. Vincent Millays 1933, die als das Werk einer Frau, einer Zeitgenossin und vor allem einer Amerikanerin seine Konstruktion gleich dreifach gefährden. Die Bedrohung wird indes sofort mit großem rhetorischen Aufwand und mit der Aneignung einzelner Gedichte durch ihre Übertragung unschädlich gemacht: Nun erscheint Millay als neue Sappho und schließt damit gleichsam den Kreis, den Borchardts Kanon beschreibt.16 Dem literarischen Kanon steht bei Borchardt ein „Deutungskanon“ zur Seite, der aus dem literarischen Kanon gewonnen und ihm gleichzeitig zugrundegelegt wird. 17 Im Januar 1921 entwirft Borchardt einen Zyklus von fünf Reden, in dem er die „Fünf Grundbegriffe der abendländischen Gesinnung und Gesittung“ darstellen will. Der Titel dieses Zyklus soll „Geist des Mittelalters“18 lauten, die einzelnen Begriffe „Zucht“, „Dienst“, „Minne“, „Gnade“ und „Ehre“.19 Borchardt leitet diese Begriffe nicht nur aus der Antike ab, sondern verfolgt auch ihren Weg in die Gegenwart, so daß das ganze Spektrum seines literarischen Kanons abgedeckt ist. Einen weiteren Höhepunkt dieses Wertesystems nach dem Mittelalter sieht Borchardt in Deutschland vor der Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts, wo es noch einmal europaweite – „abendländische“ – Wirkung habe: „Zwischen 1820 und 1848 trägt die europäische Gesellschaft das Gepräge eines deutsch reformierten Lebens. Heiligung von Unterricht, Erziehung, 15 16

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Borchardt an Schröder, November 1911, Briefwechsel 1901-1918, S. 345. Vgl. Borchardts Aufsatz „Die Entdeckung Amerikas. Die Poesie von Edna St. Vincent Millay“ (1935), Prosa III, S. 439-472 und Die Entdeckung Amerikas. Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay. Gedichte, Übertragungen, Essays. Hrsg. von Gerhard Schuster. München 2004. Andere Kanones, die bei Borchardt eine Rolle spielen, sollen für diese Untersuchung keine größere Bedeutung haben, also etwa geschichtliche Ereignisse und Gestalten, Länder und Landschaften, Kulturen und Volksgruppen, Blumen oder Papiersorten. Borchardt an unbekannt, 21. Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 263. Borchardt an Hugo Schäfer (nichts abgesandt), Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 280.

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I. Grundlagen der Anthologien

Bildung, von Dienst am Staate und Herrschaft im Staate, von Liebe und Ehe, von Weltgedächtnis und Weltausblick, von Opferung des einen für viele, des Reichen für Arme, des Hohen für Niedere, des Christen für Wilde, des Menschen für die Idee, und die Verklärung dieses Aufbaus durch die geheiligte Scham nach allen Seiten.“20 Borchardt hält selbst zeitlebens an diesen Werten fest und richtet seine eigene Arbeit an ihnen aus. An seinen Werken ist dieser „Wertekanon“ überall abzulesen, dominiert als Minnekonzeption die Liebesgedichte wie den Durant oder die Übertragungen von Dantes Vita Nuova und der Comedia, läßt sich an den großen Reden ebenso ablesen wie an den Erzählungen und prägt nicht zuletzt auch Borchardts Anthologien. c) „Selbstbildung“ und Krise Es gibt wohl nur wenige deutsche Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in deren Werk die Vergangenheit derart gegenwärtig ist wie in dem Rudolf Borchardts. Sein lyrisches, dramatisches, sogar sein erzählerisches Werk sind dem Inhalt, der Form und den Werten nach der Vergangenheit verpflichtet, in seinen Reden, Abhandlungen und Essays wird fast unablässig von der Vergangenheit gesprochen und Vergangenes heraufbeschworen – selbst die Zukunft scheint ihm nur als ein Wiederaufleben der Vergangenheit denkbar zu sein. Borchardt ist konservativ in jeder seiner Äußerungen, etwa wenn er bereits in einem seiner ersten veröffentlichten Texte, dem „Gespräch über Formen“, den Niedergang der klassischen Philologie beklagt, 21 wenn er in „Worms. Ein Tagebuchblatt“ (1907) die Zerstörung des Alten bei der Restaurierung des Wormser Doms anprangert, wenn er während der Weimarer Republik verzweifelt und trotzig an der Monarchie festhält, wenn er sich mit Vorliebe in toskanische Villen einmietet, wenn er Dantes Comedia in ein konstruiertes Mittelhochdeutsch überträgt oder wenn er mit „Die Beichte Bocchino Belfortis“ eine im Mittelalter angesiedelte Verserzählung in der Art der dramatischen Monologe Robert Brownings schreibt. Dennoch ist Borchardts Werk trotz aller Bindung an die Vergangenheit und aller Rückgriffe auf die literarische Tradition keineswegs epigonal. Für die bloße Weiterführung überkommener Formen und Inhalte ist Borchardt als Denker zu eigenwillig, als Dichter zu originell. Das Programm, das er seinem Kanon 20 21

„Schöpferische Restauration“, Reden, S. 239. „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 17f.

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zugrundelegt und das er 1927 in der gleichnamigen Rede am eindrücklichsten formuliert hat, nennt er daher nicht ohne Grund „Schöpferische Restauration“: Beide Teile ergeben ein untrennbares Ganzes, die Wiederherstellung des Vergangenen und das eigene schöpferische Werk. Kein Teil ist ohne den anderen denkbar, die eigene dichterische Arbeit nicht ohne den Bezug auf die Tradition, das Reden von der Vergangenheit nicht ohne schöpferische Kraft. Borchardt sieht die Tradition – den lebendigen Umgang mit der Vergangenheit, das Vertrautsein mit der Überlieferung – nicht für selbstverständlich an.22 Sie sei kein Gemeingut und nichts, in dessen Besitz man durch die Weitergabe von Generation zu Generation allein gelangen könne. Borchardt ist davon überzeugt, daß Tradition nur individuell erarbeitet werden kann, wie es zur gleichen Zeit auch T.S. Eliot lakonisch formuliert: „It [tradition] cannot be inherited, and if you want it you must obtain it with great labour.“23 Das seit der Antike tradierte Konzept der „Selbstbildung“24 legt nicht nur die Arbeit der eigenen Bildung, sondern ebenso die Verantwortung für die kollektive Tradition in die Hände des Einzelnen. Auch Borchardts Vorstellung von Bildung wird von diesem Konzept der „Selbstbildung“ dominiert,25 es kehrt in seinem Werk von seiner Studienzeit, die fast ausschließlich der „great labour“ der „Selbstbildung“ gewidmet ist, bis zu den späten Schriften, nicht zuletzt in seinen Anthologien, die auch als Mittel zur Weitergabe dieser „Selbstbildung“ gelesen werden können, immer wieder. Es lohnt sich daher ein Blick auf Borchardts Bildungsgang, der ein doppelter sein muß: auf Dokumente aus seiner Studienzeit einerseits, andererseits auf rückblickende Texte wie den „Brief an den Verleger“ (1906), den „Eranos-Brief“ (1923/24) und „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“ (1927), die bereits den eigenen Bildungsgang stilisieren, die eigene Leistung verklären und sich von den durchlaufenen Bildungsinstitutionen distanzieren.

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Zu Borchardts Verhältnis zur Tradition vgl. auch Daniela Gretz’ Analyse der Passagen seiner theoretischen Prosa, in denen von der Figur des „Erben“ bzw. des „Nachlaßverwalters“ die Rede ist (Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 218-225). T.S. Eliot: „Tradition and the individual talent“ (1919). In: Selected Prose. Hrsg. von John Hayward. Harmondsworth 1955, S. 21-30, hier S. 23. Zur Tradition der „Selbstbildung“ vgl. Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt/M. 1993, S. 18-25; vgl. auch Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. 1994. Zur Selbstbildung bei Borchardt vgl. Meike Steiger: Textpolitik. Zur Vergegenwärtigung von Geschichte bei Rudolf Borchardt. Würzburg 2003, S. 35ff.

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I. Grundlagen der Anthologien

Borchardt, Jahrgang 1877,26 geboren in Königsberg, aufgewachsen in Berlin, wird in jüngeren Jahren zunächst privat erzogen, bevor er 1885 auf das Französische Gymnasium kommt. Als seine Leistungen dort nachlassen, wird er 1887 in die Obhut von Friedrich Witte auf das Gymnasium in Marienburg geschickt und verbringt dort „6 traurige Jahre“,27 bevor er mit seinem Mentor 1893 nach Wesel zieht, wo er 1895 die Reifeprüfung ablegt. Das Universitätsstudium beginnt er im selben Jahr in Berlin an der Friedrich-Wilhelm-Universität. Der Schwerpunkt seiner Studien liegt auf der klassischen Philologie, aber er besucht auch historische, germanistische, archäologische und theologische Veranstaltungen, lernt Sanskrit und Arabisch – sein „ursprünglich maßlos breit angelegtes humanistisches Studium“, wie er es später nennt. 28 1896 wechselt er nach Bonn, 1898 nach Göttingen, wo er beabsichtigt, sein Studium mit einer altphilologischen Dissertation abzuschließen. 1901/02 bricht er das Studium endgültig ohne Abschluß ab und reist für mehrere Jahre ruhelos durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien. In den erhaltenen Briefen aus Borchardts Studienzeit ist seine spätere Kritik der am Gymnasium und in der Universität vermittelten Bildung sowie ihren Repräsentanten noch nicht herauszulesen. Zweifellos ist Borchardt ein außergewöhnlich fleißiger Student, dessen Wissen ihn bald über seine Kommilitonen erhebt und der besonders in den Briefen an seine Geschwister den Stolz auf die eigene Leistung nur mühsam verbergen kann; so berichtet er an seine Schwester Helene einmal von der „leider! übertrieben hohen meinung die man hier von mir hat“, gibt sich scheinbar bescheiden, um sich gleich darauf wieder aufzuspielen: „soviel um einen leidlichen doktor machen zu können, weiss ich seit anderthalb jahren schon“.29 Dabei ist ihm durchaus bewußt, daß er sich viel zumutet. An den Bruder Philipp schreibt er schon früh: „Du hast vielleicht nicht unrecht, wenn Du meinst, meiner pläne seien immer auf einmal zu viel. Du unterschätzest aber, dass gerade der junge philolog lernen muss, sich rasch auf verschiedenen gebieten einzuarbeiten.“ Und er läßt eine Aufzählung 26

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Eine Biographie Borchardts bleibt ein Desiderat; die beste Darstellung seines Leben findet sich weiterhin in: Borchardt – Heymel – Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hrsg. von Reinhard Tgahrt und Werner Volke. Marbach am Neckar 1978. Borchardt an Margarete Ruer, 26. Juni 1901, Briefe 1895-1906, S. 150. „Der Dichter über sich selbst“, Prosa VI, S. 199-202, hier S. 199. Borchardt an Helene Borchardt, 4. Dezember 1898, Briefe 1895-1906, S. 45f. Borchardts Kleinschreibung der Substantive in den Texten aus dieser Zeit geht nicht auf George zurück, sondern auf die Philologen aus der Schule Jacob Grimms, auf die sich auch George beruft. Vgl. etwa auch Borchardts vor der Bekanntschaft mit Gedichten Georges entstandene erste Gedichtsammlung Zehn Gedichte (1896), jetzt in: Gedichte II Übertragungen II, S. 71-86.

1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“

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seiner derzeitigen Arbeiten und Pläne folgen: „betrachtungen über Lessings Alkibiadesentwürfe“, „mythologische paralipomena“, „Hölderlin“, Hercules und Cacus als „genuin italisch[es] Gewächs“ und eine „Prometheusarbeit“ – ein beachtliches Pensum.30 Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß Borchardts Studienzeit und die ihr folgenden Jahre voller innerer und äußerer Unruhe und Unglück sind, was in seinen Briefen selten zur Sprache kommt und oft nur zwischen den Zeilen herauszulesen ist. Noch immer leidet er unter seiner Kindheit: „Hinter mir liegt eine freudelose und freundlose Kinderzeit und Jünglingsjahre voller Arbeit und schwerer Kämpfe, [...] die ich ohne Beistand als sehr junger Mensch, allein durchzuhalten hatte.“31 Dazu kommt, daß Borchardt spätestens seit 1898, dem Jahr des ersten Italien-Aufenthalts, unentschlossen zwischen einer durch sein Studium vorgezeichneten Universitätskarriere und dem erträumten Leben als Dichter steht. Bereits 1896 war als Privatdruck eine erste Sammlung Zehn Gedichte erschienen, und auch in den folgenden Jahren entstehen Gedichte und andere literarische Texte. Obwohl angenommen werden darf, daß er auch weiterhin intensiv studiert, tragen zwei Ereignisse dazu bei, daß er sich über seinen künftigen Weg zunehmend unsicherer wird. Das erste dieser einschneidenden Ereignisse ist die von Borchardt im „Eranos-Brief“ für Hofmannsthal geschilderte Begegnung mit Herders Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Borchardt erzählt, daß er „gegen leichte freiwillige Dienstleistungen ungehinderten Zutritt in alle Büchersäle der Universitätsbibliothek“ hatte und „dort ein kleines altes Buch fand, nach den ersten Sätzen weiter und zu Ende las, und als ich fertig war, noch einmal vom Anfang zu Ende und noch ein und ein ander Mal, bis zur Schließerstunde, da ich es denn wie im Schlafe abstellte [...] ich hatte zum ersten Male, was ich suchte. Meine leidenschaftliche Unruhe und Ungeduld war keine Kinderkrankheit gewesen, sondern gerechter nötiger Drang in ungerechter und unverdienter, unwürdiger Lage. Die Welt des Geistes die ich verlangte, gab es, hier war sie. Die Schöpfergewalt, die Formen strömt, Urformen, aus Urform Neuform und Wiederform, aus Unform durch Seele wieder zur Form, ja sie war da, und wie 30

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Borchardt an Philipp Borchardt, 13. Februar 1898, Briefe 1895-1906, S. 21f. Vgl. auch den Arbeitsplan im Brief an Heinrich Goesch, 13. August 1899: „Nun habe ich für die ferien einen genauen arbeitsplan aufgestellt, griechische redner mit ausnahme von Demosthenes (den ich kenne), dazu was man so braucht, attische Geschichte, recht antiquitäten.“, ebd., S. 67ff. Vgl. „De Hyla commentationem scripsit Rudolfus Borchardt.“ Eine Göttinger Seminararbeit aus dem Jahr 1899. Lateinisch und deutsch. Aus dem Nachlaß hrsg. von Gerd von der Gönna. München 2006. (Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 6) Borchardt an Vera Borchardt, 11. Oktober 1900, Briefe 1895-1906, S. 109.

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sie aus dem Ewigen stammte, ja, so war sie ewig; wie sie ewig war, so war sie allgegenwärtig, fast allwissend. Der Dichter war Dichter nicht durch Kunst — es gab keine Dichtkunst. Er war es als Mensch, durch Menschheit. Sprache war Dichtung. Wort war Ausruf, nicht Bezeichnung. Staunen des Menschen war sein Beiwort, Handlung und Befehl sein Verbum. Stil war nicht ein Erzeugnis, sondern ein Intensitätsgrad. Die vorgestellte Welt wie die sinnliche gehörte allen. Da stand es. Auf dem Titel stand: ‚Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts von Johann Gottfried Herder‘ .“32 Es gibt einige Ursachen, diesen fast dreißig Jahre später geschriebenen Bericht (Eranos erscheint 1924) als Stilisierung zu lesen. Der erste Grund dafür ist, daß sich in den Briefen jener Zeit keinerlei Hinweis auf Herder finden läßt.33 Abgesehen davon ist Herders Älteste Urkunde kein „kleines“ Buch, sondern besteht schon in der Erstausgabe (1774-76) aus zwei Quartbänden von 383 und 210 Seiten, eine mehrfache Lektüre, begonnen „an einem frühsommerlichen Nachmittage“ 34 bis in die Abendstunden hinein, ist also mehr als unwahrscheinlich. Hier muß zumindest ein Erinnerungsfehler vorliegen. Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts ist eine Abrechnung mit der rationalen Bibelauslegung und eine eigenwillige Interpretation der Genesis als poetischer Schöpfung sowie eine Rückführung des Schöpfungsmythos auf eine allen Religionen gemeinsame „Schöpfungshieroglyphe“. Diese Auseinandersetzung mit dem Alten Testament und dessen Exegese spielt bei Borchardt allerdings keine Rolle. Die Aspekte, die Borchardt dagegen hervorhebt, entstammen vor allem, wie Hildegard Hummel gezeigt hat, Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770) – wieder ein Hinweis auf einen Erinnerungsfehler. Fest-

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„Eranos-Brief“, Prosa I, S. 286-326, hier S. 310-12. Vgl. zu Borchardt und Herder auch Daniel Hoffmann: „‚Schöpfungsgewalt, die Formen strömt.‘ Rudolf Borchardt, ein Befreiter aus Herders Geist.“ In: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas. Hrsg. von Christoph Schulte. Hildesheim 2003, S. 225-246. Nach Alexander Kissler: „Wo bin ich denn behaust?“ Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs. Göttingen 2003, S. 258 wird Herder in Borchardts Briefen erstmals am 17. November 1912 erwähnt, in einem Brief an Josef Hofmiller, Briefe 1907-1913, S. 246; indes findet sich bereits in dem Aufsatz „Über Alkestis“, Prosa II, S. 262, von 1910 die Formulierung „die ältesten Urkunden des Menschengeschlechts“ und in der Rede „Die Neue Poesie und die Alte Menschheit“ von 1912 der Hinweis auf den „revolutionären Ruf“ Herders: „Poesie ist die Muttersprache des Menschengeschlechts“, Reden, S. 107; vgl. dasselbe auch im Brief an Schröder vom 18. Oktober 1912, Briefwechsel 1901-1918, S. 445. „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 311; vgl. auch Dieter Burdorf: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart 2001, S. 450f. und Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 41.

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zuhalten an dieser „kombinatorischen Rezeptionstechnik“35 bleibt als für Borchardt wichtigster Punkt Herders Beharren auf dem Schöpferischen, auf dem göttlichen Moment in der menschlichen und mehr noch in der künstlerischen Tätigkeit. Auch die berühmte und von Borchardt mehrmals mit Herder in Zusammenhang gebrachte, hier nur paraphrasierte Wendung „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“36 ist für Borchardts Poetologie, wie noch zu zeigen sein wird, von größter Bedeutung. Sie findet sich vor Herder schon in der Aesthetica in nuce (1762) seines Zeitgenossen und Vorläufers Johann Georg Hamann, 37 wie Borchardt Königsberger, der Herder stark beeinflußt hat und den auch Borchardt einige Male erwähnt.38 So wird Herder – zumindest, da sich zur unmittelbaren Wirkung keine Dokumente finden lassen, im Nachhinein – zu einem bedeutenden Einfluß auf Borchardts Bild von der Dichtung stilisiert.39 Dennoch: Herders Beharren auf dem Moment des Schöpferischen und der Bedeutung der Poesie vergrößert zweifellos Borchardts Distanz zur Wissenschaft, wie sie an der Universität praktiziert wird, und provoziert den Konflikt zwischen vermeintlich unschöpferischer Wissenschaft und schöpferischer Dichtung. Er fühlt sich herausgefordert, nach Herders Vorbild eine eigene Verbindung von beidem zu suchen. Von dem zweiten, weitaus besser dokumentierten Erlebnis dieser Art, der Begegnung mit den Versen Hofmannsthals und Georges, erzählt Borchardt ebenfalls im „Eranos-Brief“, übrigens im Aufbau ganz analog zum Herder-Erlebnis.40 Beide Schilderungen, die nur wenige Seiten auseinan35 36

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Hildegard Hummel: Rudolf Borchardt. Interpretationen zu seiner Lyrik. Frankfurt/M. 1983, S. 8-10. Johann Gottfried Herder: Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts. Zweiter Band, welcher den Vierten Theil enthält (1776). In: Sämmtliche Werke. Band 7. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1884, S. 1-172, hier S. 23. Bei Borchardt vgl. außer den in Anm. 33 genannten Stellen auch: „Der Dichter und das Dichterische erscheinen mir […] als ein Gegenstand, der eine Betrachtungsweise fast wie die der vergleichenden Naturgeschichte erfordert, als das Phänomen, das Herder, der große Vater und Ahnherr dieser Betrachtungsweise, die ich mir zu eigen gemacht habe, mit den Ihnen allen bekannten schlichten Worten umschrieb: ‚Poesie ist die Muttersprache des Menschengeschlechts‘“ („Der Dichter und das Dichterische“ (1920), Prosa I, S. 254) und „Der Dichter und die Geschichte“ (1927), Prosa IV, S. 230. Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. In: Sämtliche Werke II. Band: Schriften über Philosophie/Philologie/Kritik 1758-1763. Hrsg. von Josef Nadler. Wien 1950, S. 195-217, hier S. 197. Etwa in der Rede „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 230. Zur Bedeutung Herders für Borchardt vgl. außerdem auch Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation.“ Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk. Tübingen 2003, S. 69-71 und Susanne Hofmann: Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts. Paderborn 1995, S. 19-22. Ernst A. Schmidt weist auf die Entsprechungen von Borchardts „Herder-Erlebnis“ mit Heinrichs von Ofterdingen Lektüre des rätselhaften provenzalischen Buch in Novalis’ Roman hin, vgl. Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 37-40.

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derliegen, lassen das Erlebnis der Lektüre durch die Darstellung ihrer Umstände noch bedeutender erscheinen. Beide Begegnungen mit dem Neuen fallen in eine Phase des Überdrusses, eines Gefühls des Ungenügens an Büchern, hier heißt es: „Ich griff nach Büchern, verwarf sie, griff nach neuen“, 41 dort: „Ich [...] ließ in langen Nachmittagstunden, völlig einsam und traurig, hunderte von Büchern durch die halbmüßigen Hände laufen, hier und da eine Seite lesend, nur selten mich zu langer Lektüre verlocken lassend“,42 beide Male lassen die Bedingungen keineswegs auf eine glückliche Entdeckung hoffen: „indes ein übermütig leerer Tag mit einem mutlos dumpfen wechselte“ 43 hier, dort „an einem frühsommerlichen Nachmittage, badschwül wie immer in der Stromrinne erstickter Luft“; beide Male erfolgt die Lektüre wie in einem Rausch, bei Herder „als ich fertig war, noch einmal vom Anfang zu Ende und noch ein und ein ander Mal, bis zur Schließerstunde, da ich es [das Buch] denn wie im Schlafe abstellte“,44 bei Hofmannsthal und George: „Ich entsinne mich, wie ich unter dem Lesen der ersten Verse ein Papier aus meiner Mappe zog und abzuschreiben begann, das Ganze, und heimnahm, und am Abend bereits auswendig wußte“.45 Die Begegnung Borchardts mit den Versen Hofmannsthals und Georges dürfte sich Anfang 1898 zugetragen haben – gegenüber Karl Wolfskehl datiert er sie auf Ostern,46 gegenüber Otto und Hedwig Deneke auf den Februar.47 Daß er sich sofort für die neu entdeckten Dichter einzusetzen beginnt, zeigt, wie sehr ihn die Gedichte Hofmannsthals und Georges am Herzen liegen. So schreibt er schon am 13. April des selben Jahres an den Literaturhistoriker Richard M. Meyer, der einen Aufsatz über Hofmannsthal und George in den Preussischen Jahrbüchern veröffentlicht hatte, ob dieser nicht bei der Beschaffung der nur verstreut erschienenen Texte der „jungen Wiener dichter“ behilflich sein könne, da der „Dramatische Verein“ in Bonn, in dessen Vorstand er, Borchardt, sich befinde, eine Lesung dieser Texte zu veranstalten plane.48 Borchardts neue 41 42 43 44 45 46 47 48

„Eranos-Brief“, Prosa I, S. 317. Zu den Parallelen zwischen der Schilderung des „HerderErlebnisses“ und Borchardts spätem Aufsatz „Die Tonscherbe“, Prosa IV, bes. S. 62, vgl. Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 43. „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 311. Ebd., S. 318. Ebd., S. 311. Ebd., S. 319. Borchardt an Karl Wolfskehl, 31. März 1901, Briefe 1895-1906, S. 134. Borchardt an Otto und Hedwig Deneke, 18. März 1902, Briefe 1895-1906, S. 180. Vgl. Briefe 1895-1906, S. 26; ein Faksimile des Briefes ist abgedruckt in: Borchardt – Heymel – Schröder a.a.O., S. 42.

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Leidenschaft kann indes nicht verhindern, daß die von ihm organisierte Lesung in Bonn – mit Ernst Hardt als Vorleser – ein Mißerfolg wird.49 Immerhin ist der kurze Text, mit dem Borchardt in der Bonner Zeitung vom 24. Mai 1898 den Abend angekündigt hatte,50 seine erste Veröffentlichung seit dem Privatdruck Zehn Gedichte und seine erste öffentliche Publikation überhaupt – bezeichnenderweise ein Text über Hofmannsthal und George, die sein ganzes Dichterleben bestimmen werden. Beide sind in diesen frühen Dokumenten noch stets beieinander gedacht, als Anführer einer neuen literarischen Bewegung: „Der ‚Kreis‘, in den ich angezogen worden war, blieb mir eine Ellipse, mit zwei Brennpunkten“, wie es in der Aufzeichnung Stefan George betreffend51 (1936) heißt. Immer mehr gerät Borchardt jedoch in Opposition zu George und seinem Kreis, während mit Hofmannsthal eine zwar nicht konfliktfreie, aber doch dauerhafte Freundschaft entsteht, die in mancher gemeinsamen Arbeit wie dem HesperusJahrbuch 1909 und der Arbeit für die Bremer Presse auch ihren literarischen Niederschlag findet; in jenem heißt es bereits: „Die Zukunft ist in Hofmannsthal“. 52 Daß Hofmannsthal für Borchardt immer wichtiger wird, so daß aus der Begegnung mit den Versen Hofmannsthals und Georges im „Eranos-Brief“ eine Begegnung mit den Gedichten allein Hofmannsthals wird, liegt auch daran, daß George sich Borchardt, der unmittelbar nach seiner ersten Lektüre Kontakt mit beiden Dichtern aufzunehmen versucht, weitaus unnahbarer zeigt als Hofmannsthal, weshalb sich Borchardt schließlich mit dessen Kreis und Person überwirft, ohne dabei aber die große Achtung vor Georges Frühwerk aufzugeben.53 Es kann hier nicht darum gehen, das schwierige Verhältnis Borchardts zu Hofmannsthal und das noch schwierigere zu George noch einmal dar-

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Vgl. ebd., S. 43 und Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend. Hrsg. von Ernst Osterkamp. München 1998 (Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, Band 6/7), S. 13f. „Wiener Dichter in Bonn“, Prosa IV, S. 173f. Rudolf Borchardt: Aufzeichnung Stefan George betreffend a.a.O., S. 12. Zur Entwicklung des Bildes von George und Hofmannsthal bei Borchardt vgl. auch Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 258-263. „Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘“ (1909), jetzt in: Prosa I, S. 95. Borchardt hat George offenbar die „Heroische Elegie“ geschickt, worauf er brieflich von einem „Obmann“ Georges – Carl August Klein, dem Herausgeber der Blätter für die Kunst – als „einen der Unsern“ begrüßt wird. Auf die spätere Zusendung der „Pathetischen Elegie“ und anderer, handschriftlich beigefügter Gedichte reagiert man dagegen ablehnend. Offensichtlich war George darüber erbost, daß Borchardt beide in der Insel veröffentlicht hatte, die George als seinen eigenen Unternehmungen feindlich ansah. Vgl. Aufzeichnung Stefan George betreffend a.a.O., S. 17f.

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zustellen. 54 Drei Punkte jedoch sind an Borchardts „HofmannsthalErlebnis“ besonders von Bedeutung: 1. Die Werke Hofmannsthals und Georges sind die wichtigsten zeitgenössischen Vorbilder für Borchardts eigenes literarisches Werk. Zwar hat Borchardt nach der Begegnung mit Hofmannsthals und Georges Schriften zunächst keine Gedichte mehr verfasst, 55 bald jedoch scheint deren Lektüre die eigene Schaffenskraft verstärkt angeregt zu haben. Dies belegt bereits ein Brief an Heinrich Goesch vom 28. August 1899, dem das Sonett „Die barke sagt“ beigefügt ist, sowie der Zusatz „Du bekommst baldigst gedichte!!“ 56 1900 erscheint die „Heroische Elegie“ als Privatdruck, im Jahr darauf die „Pathetische“ und die „Saturnische“, alle dann auch mit anderen Gedichten in der Insel.57 Damit hat Borchardt den Grundstock für sein späteres Werk sowie für sein späteres Renommée als Dichter gelegt. 2. Die Dichtungen Georges und Hofmannsthals werden für Borchardt auch bald zum Gegenstand theoretischer Auseinandersetzung. Er wendet erstmals die in seinem Studium der Altphilologie erlernten inter54

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Vgl. zu Borchardt und Hofmannsthal neben den genannten: Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte. Hamburg 1961, S. 76-124; Jürgen Prohl: Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Studien über eine Dichterfreundschaft. Bremen 1973; Wolfgang Matz: „Restitutio in integrum. Rudolf Borchardt und Hugo von Hofmannsthal: Auch eine Poetik der Moderne.“ In: Neue Rundschau. 108. Jg. 1997, Heft 4, S. 25-37; Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001, S. 172-212; zu Borchardt und George: Werner Kraft: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 125-157; Günther Freymuth: „Ein Feind im Kreise Stefan Georges.“ In: Neue Deutsche Hefte. 22. Jg. 1975, S. 721-729; Ernst Osterkamp: „Poesie des Interregnums. Rudolf Borchardt über Stefan George.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Hrsg. von Ernst Osterkamp. Berlin 1997, S. 1-26; Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995, S. 148-168; Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 18901945. Tübingen 1998, S. 296-313; Dieter Burdorf: „Kopf statt Ohr. Rudolf Borchardt als Kritiker Stefan Georges.“ In: Stefan George: Werk und Wirkung seit dem „Siebenten Ring“ a.a.O., S. 353-377; Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 255-295 und ders.: „Von Minne und Krieg. Drei Stationen in Rudolf Borchardts Auseinandersetzung mit Stefan George.“ In: George-Jahrbuch. 6. Band 2006/2007. Hrsg. von Wolfgang Braungart und Ute Oelmann, S. 55-79. Vgl. Borchardt an Karl Wolfskehl, 31. März 1901, Briefe 1895-1906, S. 135: „Ich habe damals den Gedichten Georges und Hofmannsthals ein unermüdlich eindringliches Studium zugewandt und als unmittelbare Folge davon nicht sowol durch einen Entschluss, als durch innere Notwendigkeit mich dazu verbunden gesehen, alle eigene Produktion zu unterlassen, da jedes Klingen unwillkürlich in einer fremden Form zu sprechen begann. Dieser Zustand hat mehr als zwei Jahre gedauert, ich habe während dieser Zeit kein Gedicht gemacht, und mich im stillen dazu beredet, meine früheren künstlerischen Versuche möchten wol wertlos, meine künstlerischen Gaben auf ein sehr geschultes Ohr und einen guten Geschmack beschränkt sein.“ Borchardt an Heinrich Goesch, 28. August 1895, Briefe 1895-1906, S. 78f. Vgl. Ingrid Grüninger: Rudolf Borchardt. Verzeichnis seiner Schriften. Marbach 2002, Nr. 20-22 und 77, 78 und 81.

1. Entstehung des Kanons: „Selbstbildung“

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pretatorischen Methoden und sein erworbenes Wissen auf Dichtung der Gegenwart an. Was sich schon in einigen dozierenden früheren Briefen andeutet – 1899 macht er sich zu einem „wirklichen kenner“58 der neuen Dichter, 1902 schreibt er an die Redaktion der Preussischen Jahrbücher selbstbewußt: „Welche Entwickelung die von George ausgehende Bewegung seither genommen hat, darüber glaube ich besser unterrichtet zu sein als der grösste Teil der heute um Literatur bemühten“ 59 –, gipfelt zunächst in der am 8. September in Göttingen gehaltenen „Rede über Hofmannsthal“. Es ist der erste Text Borchardts, in dem Hofmannsthal über George gestellt wird, quasi als dessen Vollender. Zwar bliebe George der Verdienst, daß „eine verwilderte Sprache [...] gebändigt, ein Stil konstituiert, ein Vorrat rechtmäßiger Formen geschieden und ausgebildet“ 60 worden sei, jedoch verhindere sein lebensferner Ästhetizismus und das Umsichscharen einer Jüngergemeinde, daß George das Leben erfassen und ebenso, daß er wirken könne. Dazu sei, so Borchardt, ein „Ganzes“61 gefordert. 3. Dieses „Ganze“ – man kann hier ohne weiteres das im Brief an Herbert Steiner beschworene „Centrum“ erahnen –, das Borchardt in Hofmannsthal verwirklicht sieht, liefert ihm das Vorbild für die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit und führt ihm vor, wie eine glückliche Vereinigung von Dichtung und Philologie – zwischen denen er sich krisenhaft hin- und hergerissen sieht – aussehen kann. Dieses „Ganze“ wird in der „Rede über Hofmannsthal“ wiederholt umschrieben, es erscheint als „Einheit des Daseins“, 62 als „Allgemeingültigkeit“ und „Enzyklopädie“63 – hier nicht als bloße Auflistung von Wissen verstanden, sondern im romantischen Sinne einer Wissenschaftliches, Religiöses und Menschliches, Vergangenes und Gegenwärtiges umfassenden Weltsicht. So kann Borchardt Hofmannsthals Werk „in die Tiefe so enzyklopädisch wie in die Breite“ nennen und eine „Reihe der großen Weltbilder“, in denen „eine Welt [...] konzipiert“ 64 sei. Hofmannsthal sei eine „innere Beschaffenheit“ eigen, eine „Qualität, an der die Fülle der Welt sich zur Form entschieden 58 59 60

61 62 63 64

Borchardt an Heinrich Goesch, 24. September 1899, Briefe 1895-1906, S. 88. Borchardt an die Redaktion der Preussischen Jahrbücher, April 1902, Briefe 1907-1913, S. 191. Ohne Imprimatur Borchardts 1905 veröffentlicht, jetzt in Reden, S. 45-103, hier S. 60. Vgl. auch Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische a.a.O., S. 170f. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der „Rede über Hofmannsthal“: Roland Stark: „Solange quäl ich mich damit, es ist ein Martyrium.“ Rudolf Borchardt und sein Verleger Julius Zeitler 1898-1907. Ein Dissens. München 2005. (Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 4) „Rede über Hofmannsthal“, Reden, S. 64. Ebd., S. 49. Ebd., S. 91f. Ebd., S. 76f.

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I. Grundlagen der Anthologien

hatte.“ 65 „Fülle der Welt“ ist für Borchardt das Hauptkennzeichen von Hofmannsthals Werk. In dieser Welthaltigkeit sieht er das, was er für sich selbst erstrebt: nicht die Entscheidung für Dichtung oder Wissenschaft, sondern die Auflösung dieser scheinbaren Opposition, die Vereinigung von beidem in einer totalen Weltsicht, wie sie Hofmannsthal exemplarisch gelungen sei. Auch Hofmannsthal ist Philologe – seine Habilitationsschrift Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo (1901) nennt Borchardt „ein schwer zu übertreffendes Muster beschreibender Philologie“66 – und kann doch gleichzeitig ein bedeutender Dichter sein. So zeichnet sich in der „Rede über Hofmannsthal“, freilich noch sehr unvollkommen, schon Borchardts Dichtungstheorie ab, nach der mit der von Herder übernommenen Schöpfungsidee und der eigenen Bildung eben jene an Hofmannsthal so bewunderte poetische „Welthaltigkeit“ zu erreichen sei. Die Unentschlossenheit bleibt und wird für Borchardt zur Krise. Fünf Dinge sind es, die Borchardts Leben in diesen Jahren vor allem prägen: Geldsorgen, unglückliche Frauengeschichten, eine auffällige Ruhelosigkeit, mehrere Krankheiten und dabei, trotz dieser Hindernisse, immer wieder Phasen intensiver Arbeit.67 Sein Verhalten in diesen Jahren zwischen 1899 und 1906 trägt mitunter pathologische Züge. Borchardts Geldsorgen – eine Konstante seines Lebens – sind gerade in seinen jungen Jahren von existenzieller Art. Immer wieder stellt der Vater die Zahlungen ein,68 um den Sohn zum Abschluß seiner Dissertation zu zwingen, immer wieder müssen Freunde, vor allem der geduldige Otto Deneke, aushelfen.69 An Frauengeschichten ist etwa Borchardts Affäre mit der Tochter des Altphilologen Georg Kaibel, Agnes, belegt, 70 die Borchardt „kompromittiert“ habe, indem er sie gezwungen habe, zu seiner Wirtin zu kommen, um anschließend, mittlerweile unbekannt abgereist und bereits mit einer ande65 66 67

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Ebd., S. 86. Ebd., S. 75. Vgl. den langen Brief Friedrich Leos an Borchardt, 10. Mai 1902, Briefe 1895-1906, S. 193201. Leo, der väterliche Lehrer und Mentor, beschreibt Borchardt, wie er ihn zuletzt gesehen hat – „ein gebrochener Körper, in Augenblicken der Ermüdung das Gesicht eines 40jährigen Mannes, ergraute Schläfen, grauenhafte Nervosität in jedem Worte und jeder Bewegung, Gewaltsamkeit in jedem Urteile“ (S. 195) – , um ihm den früheren Borchardt – er sei der „hinreissendste junge Mensch“ gewesen, dem Leo seit Wilamowitz begegnet sei – entgegenzuhalten. Als Ursache der Krise diagnostiziert auch er Borchardts Unentschlossenheit: „Welche Gedanken Sie zu den leitenden Ihres Lebens machen, weiß ich nicht. Der Dichter, der Kritiker, der Philolog stehen für meine Augen bei Ihnen in einer Verbindung über die mein Urteil mich im Stiche läßt.“ (S. 200) Vgl. Borchardt an Otto Deneke, 18. November 1901, Briefe 1895-1906, S. 162-164. Vgl. etwa Borchardts Bettelbrief an Otto Deneke vom 8. August 1904, Lord und Bettler, S. 109-112. Vgl. Friedrich Leo an Borchardt, 10. Mai 1902, Briefe 1895-1906, S. 196-198.

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ren Frau liiert, brieflich die Beziehung zu beenden. Ähnliche Affären sind überliefert, dazu die durchaus spektakuläre Geschichte eines Duells mit einem Kommilitonen, das Borchardt angeblich drei Monate Festungshaft einbringt. 71 Diesem – gespielten oder wirklichen – Casanovaleben entspricht Borchardts örtliche Ungebundenheit, zwischen 1899 und 1906 reist er mehrmals nach Italien und England, im August 1900 hält er sich in Irland auf, 1901 kehrt er nach Berlin zurück, fährt im Februar 1902 nach Wien zu Hofmannsthal, reist von dort unvermittelt ab, ist in Göttingen und wieder in Berlin, Anfang 1903 in der Toskana, in Florenz, Lucca und Pisa, 1905 in Bozen, Venedig, München, Volterra und Basel-Land, wo er sich bis Mai 1906 in Arlesheim niederläßt. Längere Aufenthalte sind vor allem durch Krankheiten bedingt: 1901 bricht Borchardt gesundheitlich zusammen; er verbringt die Zeit von April bis Oktober zur Kur in Bad Nassau, seine dortige Liebschaft mit Margarete Ruer ist literarisch ausführlich dokumentiert;72 im Januar 1903 erkrankt er in Florenz an Typhus, und 1904 schreibt er, er habe „Unterleibskrebs“.73 Trotz all dem schafft Borchardt es immer wieder, intensiv zu arbeiten, er selbst gibt nicht zuletzt diese Arbeit als Ursache für seine Krankheit an: „Die Erschütterungen, von denen ich spreche [gemeint ist die Affäre mit Agnes Kaibel] und die unmässige leidenschaftliche Arbeit, durch die ich sie zu betäuben suchte – Arbeit ist das einzige Narkotikum, das auf mich Einfluss hat, wenn ich aufgewühlt bin – alles das hat mich nach Nassau gebracht.“74 Nimmt man noch den großen Druck hinzu, unter den er angesichts seines noch nicht abgeschlossenen Studiums von seiner Familie gesetzt wird (und sich wohl auch selbst setzt), muß man davon ausgehen, daß Borchardt seine „Selbstbildung“ in jenen Jahren zum Schaden seiner Gesundheit und seiner Nerven betreibt. Seine Arbeit ist zunächst, auch noch eine Weile nach der Kur, die an der Dissertation, die er Ende 1898 begonnen hat75 und deren Fertigstellung er bereits im Septem71

72 73 74 75

Nach eigenen Angaben hat er „einen Schuft an seinem Stammtische im Wirtshause mit der Peitsche traktiert […] der seine Frau mißhandelt hatte und ihm nachher zwei von seinen erbärmlichen Knochen entzweigeschossen“, Borchardts an Margarete Ruer, 26. Juni 1901, Briefe 1895-1906, S. 147. Was damals genau geschehen ist, konnte bislang nicht ermittelt werden. Rudolf Borchardt: Vivian. Briefe, Gedichte, Entwürfe 1901-1920. Hrsg. von Friedhelm Kemp und Gerhard Schuster. Marbach 1985. Borchardt an Otto Deneke, 8. August 1904, Lord und Bettler, S. 109. Borchardt an Margarete Ruer, 26. Juni 1901, Briefe 1895-1906, S. 148. Vgl. Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, Briefe 1895-1906, S. 51. Darin heißt es, er werde „bei Leo, ein stück aus der dissertation“ vortragen, von der „der erste, ganz für sich bestehende teil [...] ganz fertig“ sei. Erwähnt ist die Lesung aus der Dissertation bei Leo auch in einem auf Ende Februar datierten Brief an den Bruder Philipp; er vermerkt darin „mit freude seine [Leos] zufriedenheit“ (ebd., S. 56).

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ber 1899,76 ihr Erscheinen im Oktober 190077 vorgibt. Später wird er behaupten, er habe in Halle promoviert.78 Sogar in Wien versucht er offenbar noch, seine Dissertation fertigzustellen, 79 und er schreibt Margarete Ruer nach über vier Monaten, daß er nun ein „Doktor“ sei.80 Auch in dem Brief an deren Vater Walter Ruer schreibt er sich einen Doktortitel, ein Studium in Oxford sowie ein „freies selbständiges und disponibles Vermögen von 820000 Mark“ zu. 81 Daß er zurückgewiesen wird, ist zwar nicht dokumentiert, aber sicher. Wie weit Borchardts Dissertation tatsächlich gediehen war, muß unklar bleiben, nichts davon ließ sich bisher auffinden. 82 Immerhin führt sie Borchardt noch 1923 in einer Auflistung seiner Werke unter der Rubrik „Abhandelnde Prosa“ als „vergriffenen Privatdruck“ unter dem Titel „De paraclausithyro et hymenaeo quaestiones selectae“.83 Auch später gibt Borchardt Freunden und Verlegern gegenüber immer wieder vor, daß Werke längst fertig seien, obwohl tatsächlich wenig oder gar nichts davon zu Papier gebracht ist. Die Tatsache, daß Borchardt sein Studium nicht abschließt und damit auf eine Universitätskarriere verzichtet, bedeutet nicht, daß er nicht mehr mit wissenschaftlichem Anspruch arbeitet, vielmehr strebt er danach, das erworbene Wissen unabhängig von der Universität anzuwenden; er wird in den folgenden Jahren Wissenschaft und Poesie religiös überhöht miteinander verbinden und so auch die Grundlagen für seine Anthologien schaffen. Im Sommer 1903 etwa beginnt er die Trobadors, die deutschen Minnesänger und Dante systematisch zu lesen – zwei Jahre später hat er in diesem Zusammenhang vor, ein Buch „Wege nach Alt-Deutschland“ zu

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78 79 80 81 82

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Den Freund Heinrich Goesch bittet er „in großer Unruhe“, seinem Vetter zu sagen: „Ich hätte meine arbeit noch am ende des semesters abgegeben“, Borchardt an Heinrich Goesch, 8. September 1899, Briefe 1895-1906, S. 79f. Vgl. Borchardt an Julius Zeitler, 3. Oktober 1900, Briefe 1895-1906, S. 107: „Ich habe vor fast einem Jahre über eine Spezialfrage der antiken Lyrik promoviert und stehe jetzt im Staatsexamen. Im November erscheint von mir bei Trübner in Strassburg ‚Motive und Gattungen. Ein Versuch zur Geschichte der Lyrik bei den Griechen. 1. das Lied vor der Thüre. 2. das Lied bei der Hochzeit. 3. Das Gedicht auf dem Grabe.‘“ Vgl. auch Borchardt an Margarete Ruer, 10. August 1901, Vivian a.a.O., S. 40. „Vita“, Prosa VI, S. 7f., die deutsche Übersetzung ebd., S. 552-554. Vgl. Borchardt an Otto Deneke, 1. März und 18. April 1902, Lord und Bettler, S. 105f. Borchardt an Margarete Ruer, 26. Februar 1902, Briefe 1895-1906, S. 171. Borchardt an Walter Ruer, 11. April 1902, Briefe 1895-1906, S. 184-191. Zur Legendenbildung um Borchardts Dissertation vgl. Max Rychner: „Erinnerung an Rudolf Borchardt.“ In: Zeitgenössische Literatur. Charakteristiken und Kritiken. Zürich 1947, S. 57-71, hier S. 70; vgl. auch Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 36 Abgedruckt in Ulrich Ott: „Rudolf Borchardt und die klassische Altertumswissenschaft.“ In: Rudolf Borchardt 1877-1945 a.a.O., S. 295-299.

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schreiben,84 außerdem liest er Hegel und dessen italienischen Fortführer, Benedetto Croces Estetica come scienza dell’espressione e linguistico generale (1902);85 1905 recherchiert er im Stadtarchiv von Volterra (Notizen dazu haben sich im Nachlaß erhalten) und plant einen „Versuch über die vorflorentinische Kultur Toskanas“ 86 – poetisches Resultat dieses archivischen Forschens ist der erst 1923 veröffentlichte dramatische Monolog „Die Beichte Bocchino Belfortis“. Gleichzeitig entstehen weitere Dichtungen. Mit dem „Vivian“-Erlebnis wird erstmals Borchardts Krise literarisch verarbeitet – in einer Vielzahl von Briefen, Gedichten und dem Plan zu einem Roman, „Annus Mirabilis“. Borchardts Zustand in diesen Jahren, aber auch noch in späteren, ist schon von seinen Zeitgenossen als krankhaft beschrieben worden, so bemerkt etwa Theodor Lessing in seiner Autobiographie Einmal und nie wieder sehr hellsichtig Borchardts „männischen Willen zu geistiger Usurpatur“ und seinen Hang zu „Prahlhanserei“ und „Aufschneiderei“;87 Anton Kippenberg, der Leiter des Insel-Verlages, schreibt nach jahrelangen Streitigkeiten mit Borchardt am 27. Dezember 1912 an Hofmannsthal: „Ich weiß, daß Borchardts Sünden, die ja zahlreich sind wie der Sand am Meer, durch pathologische Veranlagung entschuldigt werden“;88 Rudolf Alexander Schröder, der als Borchardts treuester Freund gelten kann, schreibt in einem Brief ebenfalls an Hofmannsthal vom 27. Januar 1927: „Alles Üble, das er tut fällt ja direkt auf ihn zurück und ist ja auch so sehr ein an der Oberfläche sitzendes Kranke“,89 und Friedrich von der Leyen konstatiert in seinen Erinnerungen: „Die Ärzte nennen Borchardts allzu zwiespältige Begabung pseudologia phantastica“. 90 Kai Kauffmann hat im Anschluß an Stefan Breuers Analyse des George-Kreises, Ästhetischer Fundamentalismus91 (1995), seiner Arbeit Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“92 (2003) die These zugrundelegt, Borchardt sei ein „Narzißt“, gar ein 84 85 86 87 88 89 90 91 92

Vgl. Borchardt an Julius Zeitler, 21. Mai 1905, Briefe 1895-1906, S. 344. Vgl. S. 79-81 dieser Arbeit. Vgl. Borchardt an Philipp Borchardt, 9. Juni 1905, Briefe 1895-1906, S. 352f. Theodor Lessing: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen. Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe 1935. Gütersloh 1969, S. 319. Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929. Hrsg. von Gerhard Schuster. Frankfurt/M. 1985, S. 479. Zitiert nach Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische. Drei Reden von 1920 und 1923. Hrsg. von Gerhard Neumann, Gerhard Schuster und Edith Zehm, München 1995 (Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft Band 4/5), S. 231f. Friedrich von der Leyen: Leben und Freiheit der Hochschule. Erinnerungen. Köln 1960, S. 230. Vgl. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus a.a.O., S. 148-168. Zur Kritik an Breuer vgl. zuletzt Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 53-61. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., besonders S. 7-41.

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„Musterfall von Narzißmus“.93 So sehr der Vergleich der medizinischen Narzißmusforschung mit den von Borchardt an den Tag gelegten Verhaltensweisen diese These bestätigen mag, ist von solcherlei Ferndiagnosen doch abzusehen, zumal ihr Gewinn für die Analyse von Borchardts Texten, wie Kauffmanns hervorragendes Buch selbst zeigt, gering ist.94 Borchardts mehrfach belegte Hochstapeleien und Lügen95 finden sich indes auch in Form von etwa falschen Verfasserangaben oder nicht kenntlich gemachten Eingriffen in die Texte in seinen Anthologien wieder, wie noch zu zeigen sein wird. Am 15. August 1906 schreibt Borchardt an seinen Vater: „Ich hoffe, dass meine Laster die Kehrseite von Eigenschaften gewesen sind, die nur die rechten Umstände brauchen, um sich zu entwickeln. Diese Umstände aber sind heut da, und glücklichere als ich in meinem grössten Unglück zu hoffen wagte. Ich habe mein eigenes Haus und einen Fleck an den ich gehöre, einen Menschen dem ich etwas sein kann; Ordnung und Sparsamkeit, ständiger Überblick über Ausgaben und Sorge für Einnahmen, Rechtlichkeit und Strenge in allem, all das hat erst jetzt für mich einen Sinn bekommen, ist mir aber auch für ein anständiges Leben unentbehrlich geworden.“96 Anlaß dieses glücklichen Neuanfangs ist die Heirat mit der Malerin Karoline Ehrmann am 5. Juli 1906 in London. Bereits als er sie kennenlernt, wird Borchardt derart euphorisch: „Sie sehen am Tone dieses Briefes, dass ich über die Krise fort bin“;97 1905 schreibt er an den Bruder Philipp: „Ich bin im Begriffe to start life, alles was hinter mir liegt 93

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Kai Kauffmann: „Momente des Fragmentarischen. Zur Analyse des narzißtischen ‚Stils‘ im essayistischen Werk Rudolf Borchardts.“ In: Literatur ohne Kompromisse. ein buch für jörg drews. Hrsg. von Sabine Kyora, Axel Dunker und Dirk Sangmeister. Bielefeld 2005, S. 297-319, hier S. 316. Daß auch dieser Aufsatz Kauffmanns den angeblichen Narzißmus Borchardts voraussetzt, beeinträchtigt nicht seine Leistung der Beschreibung der Bewegungen und Brüche in Borchardts essayistischem Werk. Vgl. zur Kritik an Kauffmanns Argumentation Markus Neumann: „Neuere Forschungen zu Rudolf Borchardt.“ In: Göttingsche Gelehrte Anzeigen. 257. Jg. 2005, Heft 1/2, S. 138-145: „wo er [d.i. der „psychologische Aspekt“] in den deutenden Passagen wieder zum Vorschein kommt, wirkt er meistens wie aufgeschraubt.“ (S. 145); auch Daniel Hoffmann sieht keinen Grund, „Borchardt auf die Couch zu legen und eine narzißtische Persönlichkeitsstruktur zu diagnostizeiren“ („Provokanter Denker des 20. Jahrhunderts. Aktuelle Publikationen zu Rudolf Borchardt.“ In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften. 51 Jg. 2005, Heft 4, S. 612-619, hier 614). Eindrucksvolle Belege liefern etwa Roland Stark: „Solange quäl ich mich damit, es ist ein Martyrium.“ Rudolf Borchardt und sein Verleger Julius Zeitler 1898-1907 a.a.O. und „Ein Heldentenor der Weltgeschichte.“ Erinnerungen an Rudolf Borchardt (1898-1990). Ausgewählt und zum Porträt geordnet von Ernst T. Harbricht. München 2007 (Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 12), besonders auf den ersten Seiten. Borchardt an Robert Martin Borchardt, 15. August 1906, Briefe 1895-1906, S. 429f. Borchardt an Karoline Ehrmann, 1. Juni 1904, Briefe 1895-1906, S. 216.

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ist ohne Eigenwert“.98 Die Heirat mit Karoline beendet vorerst seine Krise: Das unstete Leben wird seßhaft, man geht dauerhaft nach Italien und bezieht im August 1906 die Villa Sardi di Vallebuia bei Lucca, finanziell kann man sich durch das Erbe der Frau vorerst ein sorgenfreies Leben leisten.99 Mit seiner Familie verträgt er sich wieder – er habe mit der „Familie einen trotz aller Vergangenheit reinen und guten Frieden gemacht“, schreibt er an Deneke100 –, und auch mit Hofmannsthal nimmt er mit der Bekanntmachung seiner Hochzeit wieder Kontakt auf.101 Bereits 1907 werden die Jahre vor dieser glücklichen Befriedung „in den Rang einer Initiations- und Inkubationszeit erhoben“; 102 Borchardt spricht Hofmannsthal gegenüber von den „so strengen und so heiligen Jahren, die mich zu dem was ich heut bin, entschieden haben“.103 Auffällig an dieser nicht sehr konkreten Aussage sind die Worte „streng“ und „heilig“, deren erstes sich offenbar auf die überstandene Krise bezieht und deren zweites dieses Leid in einen höheren religiösen Kontext stellt, als wäre es der Wille einer höheren Macht gewesen, daß Borchardt diese Krise durchlebt und geläutert und auf einer höheren Stufe aus ihr hervorgeht – eine Stilisierung des eigenen Wegs und der eigenen Leistung ins Religiös-Metaphysische, die von nun an fester Bestandteil des Borchardtschen Sprechens vom Dichtertum im weitesten Sinne sein wird. In diesem Jahr 1906 wird mit dem fragmentarischen „Brief an den Verleger“ 104 sowohl die später so bedeutende Verbindung und Überhöhung von Wissenschaft, Politik und Poesie erstmals formuliert als auch der „Wertekanon“ zumindest andeutungsweise dargestellt. Der literarische Kanon ist nach dem Studium der Altphilologie und der neueren deutschen Literatur sowie den eigenen Lektüreerfahrungen mit englischen und italienischen Dichtern abgesteckt. Auch spätere Arbeiten sind embryonenhaft vorhanden, die „Exposition des Gesamtwerks“ 105 entworfen; 1936 heißt es von den Jahren zu Beginn des Jahrhunderts, daß sie „den 98 99

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Borchardt an Philipp Borchardt, 27. Juni 1905, Briefe 1895-1906, S. 357. Vgl. zu der unglücklichen Ehe mit Karoline Ehrmann und ihrem Leben und Werk: Gerhard Schuster: „Das Land hat keine Kinder und kein Licht.“ Die Malerin Karoline Borchardt geb. Ehrmann (1873-1944). Mit einem Beitrag von Caroline Saltzwedel. München 2006. (Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 8) Borchardt an Otto Deneke, 7. September 1906, Lord und Bettler a.a.O., S. 119. Vgl. Briefwechsel, S. 20f. Gerhard Schuster: „Toscana als geistige Lebensform“ a.a.O., S. 151. Borchardt an Hofmannsthal, 21. Februar 1907, Briefwechsel, S. 43. „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 11-31. Vgl. Gerhard Schuster: „Toscana als geistige Lebensform“ a.a.O., S. 152. Zum entworfenen wie zum geschriebenen Werk Borchardts vgl. auch Gerhard Schuster: „Zur Geschichte von Borchardts Œuvre.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 114129.

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Riesenstoff an geistig-seelisch-sinnlichem Vorrat angehäuft haben, für dessen völlige Ausarbeitung ein Menschenleben dann fast zu kurz scheint.“106 Die ersten, oftmals erst viel später veröffentlichten Übertragungen sind begonnen oder deuten sich an: Landors Imaginary Conversations ebenso wie andere Engländer, Dante ebenso wie die Trobadors und Minnesänger, Pindar ebenso wie andere Griechen. Die „Jugendgedichte“ dieser Jahre enthalten den Kern des späteren lyrischen Werkes, das nie vollendete Drama „Päpstin Jutta“ wird begonnen, die Verserzählungen „Durant“ und „Die Beichte des Bocchino Belfortis“ entstehen, der „Kamelien“-Aufsatz von 1906 läßt bereits Der leidenschaftliche Gärtner erahnen, die Essays über Volterra und Pisa zeichnen sich ab und auch die Anthologien zwanzig Jahre später bewegen sich in dem hier bereits umrissenen literarischen wie ideologischen Rahmen.

106 Borchardt an Erika Mitterer, 18. April 1936, Briefe 1936-1945, S. 110.

2. Stabilisierung des Kanons: Heimat und Gegnerschaft

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2. Stabilisierung des Kanons: Heimat und Gegnerschaft a) Subjektivität des Kanons Borchardt, für den das Wort „Tradition“ eine so große Bedeutung hat, unternimmt es nie, den Begriff näher zu bestimmen. Es ließe sich – analog zu Wolfgang Schullers Untersuchung von Borchardts Gebrauch des Worts „Nation“ – zeigen, daß sein Gebrauch sich nicht gravierend von dem damals wie heute üblichen unterscheidet.107 „Tradition“ ist demnach das „im Gedächtnis einer kulturellen Gemeinschaft überlieferte Wissen, die damit verbundenen Normsysteme und ihr künstlerischer Formenkanon“108 – ein lebendiger Bestand an Überliefertem, begrenzt auf einen Kulturraum, der hier Deutschland und das Abendland umfaßt. Jedoch ist wie „Nation“ auch „Tradition“ bei Borchardt „ein metaphysischer [...] Begriff“, „in den man nicht hineingeboren werden kann, sondern nur sich hineinbilden“. 109 Tradition und Nation sind nur bei denen, die ihre Bestimmung und Aneignung durch „Selbstbildung“ unternommen haben. Borchardts Begriff von Tradition ist indes noch enger, da er unter dem Bestand des Überlieferten überhaupt nur das verstehen will, was er sich selbst als solchen aufgestellt und angeeignet hat. Damit ist auch die Entscheidung über die Lebendigkeit des traditionellen Bestands in seine Hände gegeben, die Tradition völlig ihres objektiven Charakters beraubt: Denn über Leben oder Tod im Bestand des Überlieferten herrscht damit nur er. Was andere Institutionen, Schulen, Universitäten etc. überliefern, wird von ihm noch einmal überprüft – mit stark abweichendem Ergebnis. So spricht er im Nachwort seiner Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie den Dichtern des 19. Jahrhunderts, „Büchner, Heine, Grabbe, Freiligrath, Kinkel, Hebbel, dem ‚Münchner Dichterkreis’, dem Naturalismus“, Gerhart Hauptmann oder Theodor Storm110 die Anthologiewürdigkeit ab, den bisher weniger beachteten anonymen Dichtern des Mittelalters, Bürger oder dem lyrischen Werk Heinrich von Kleists aber zu. Auch seine Übersetzungen, etwa von Dante, den Provenzalen oder Walter Savage Landor 107 Vgl. Wolfgang Schuller: „Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt.“ In: Dichterische Politik. Studien zu Rudolf Borchardt. Hrsg. von Kai Kauffmann. Frankfurt/M. 2002 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik 4), S. 11-25, hier S. 24. 108 Renate Lachmann und Caroline Schramm: „Tradition.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Dritte Auflage. Band III: P-Z, Berlin und New York 2003, S. 660-663, hier S. 660; erst diese dritte Auflage des Reallexikons enthält einen Eintrag „Tradition“. 109 „Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht“ (1931), Prosa IV, S. 337. 110 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 448.

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sind als Versuche zu sehen, diese Texte erstmals oder wieder für ein deutsches Publikum in den lebendigen Bestand der Tradition einzureihen. Durch das Wort des Dichters Borchardt erst werden sie lebendig, nicht durch die Tatsache, daß sie überliefert sind. Borchardt gesteht die Subjektivität seines Kanons zu keiner Zeit ein: Sein Kanon ist „die Tradition“. Einerseits kann es einen rein objektiven Begriff von Tradition, eine allgemeinverbindliche Bestimmung ihres Bestands nicht geben – diese ist nur als Ideal möglich. Man muß sich damit abfinden, daß sich jeder etwas anderes unter der „Tradition“ vorstellt, daß zum Wesen eines jeden Kanons gerade seine Wandelbarkeit gehört. Andererseits kann es auch einen rein subjektiven Begriff von Tradition nicht geben, da sie durch das Fortbestehen in einer Gemeinschaft bedingt ist und sich das Individuum niemals völlig von diesem gemeinsamen Element losmachen kann. Die Unmöglichkeit einer solchen subjektiven Bestimmung des Kanons hat Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode (1960) anhand des Begriffs „Geschmack“ zu erklären versucht. Entgegen der Vorstellung, nach der „Geschmack“ subjektiv zu sein scheint, betont Gadamer gerade die Ausrichtung des „Einzelnen im Hinblick auf ein Ganzes“,111 das historisch in der Gemeinschaft gewachsen ist. Jedes Verständnis von Tradition, jeder Kanon, auch Borchardts, ist somit sowohl objektiv durch den Bezug zum Ganzen als auch subjektiv durch die individuelle Auswahl daraus. Gadamers Bestimmung des Begriffs „Geschmack“ zeigt aber auch, wie eigenartig Borchardts Umgang mit der Tradition ist. Von Geschmack ist bei ihm nie die Rede; hier gibt es kein „mir gefällt“, nur ein „es ist“. Die wie auch immer subjektive Bestimmung des Kanons erscheint bei Borchardt immer in einer Form, die deren scheinbar selbstverständliche Objektivität voraussetzt. b) Außenseitertum Am 11. Oktober 1900 schreibt Borchardt rückblickend an seine Schwester Vera: „Hinter mir liegt eine freudelose und freundlose Kinderzeit und Jünglingsjahre voller Arbeit und schwerer Kämpfe, [...] die ich ohne Beistand als sehr junger Mensch, allein durchzuhalten hatte.“ 112 Borchardt macht sich früh zum Außenseiter; die Freudlosigkeit und Einsamkeit seiner Kindheits- und Jugendjahre, wie er sie in den Briefen seiner Studen111 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 43. 112 Borchardt an Vera Borchardt, 11. Oktober 1900, Briefe 1895-1906, S. 109.

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tenzeit schildert, bildet auch noch das Hauptmotiv des einzigen geschriebenen, seiner Kindheit gewidmeten ersten Teils der Autobiographie Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt (1927). Diese stilisiert Borchardt zu einem einsamen Kind. Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung seiner „wie Robinson“ verbrachten Tage in dem dunklen „Saal der Pompejanerin“ seines Elternhauses, in denen er sich einem „kleinen Demiurgen“ gleich eine eigene Welt schafft. 113 Die Mutter erscheint so gut wie gar nicht, die Geschwister nur als Staffage, und so ist es vor allem der Vater, der aktiv Borchardts Einsamkeit verursacht. Er ist abwesend und abweisend, er ist es, der Borchardt immer wieder aus der Familie ausschließt, der bestimmt, daß Borchardt nicht in den jährlichen Sommerurlaub der Familie mitgenommen wird, um stattdessen von dem „Studiosus“ Schulz unterrichtet zu werden. Dieser Herr Schulz entpuppt sich, wie Borchardt nicht ohne Sinn für das Komische der Situation schildert, als seiner Aufgabe durchaus nicht gewachsen: Da er die Nächte trinkend verbringt, schläft er tagsüber und Borchardt bleibt sich und seiner Lektüre überlassen. Nachdem sein Vater von den Eskapaden des Herrn Schulz erfährt, schickt er den Sohn für den Rest des Schuljahres in die Pension eines Herrn Halbherr. Diese „dem Drange eines Geborgenseinwollens“114 seines Sohnes erneut entgegenlaufende Ausweisung durch den Vater bringt nun zu der emotionalen Distanz auch eine räumliche. Erstmals muß Borchardt das Elternhaus verlassen. Er schildert die Zeit der „kindischen Gefangenschaft“ 115 als Kostgänger in der dumpfen und gleichgültigen Pension des Herrn Halbherr am Ende seiner Autobiographie. Sein Vater wird ihn noch mehrmals fortschicken; als Borchardt zehn ist, gibt er ihn in die Hände des befreundeten Oberlehrers Friedrich Witte nach Marienburg, später, als dieser nach Wesel versetzt wird, muß Borchardt ihm folgen. So schreibt er während des Studiums wiederum an seine Schwester Vera: „Alle Erfolge, alle grosse Meinung und Schätzung in der ich stehe, alle Leistungen, die ich aufzuweisen haben werde, werden mir das eine nie ersetzen können, was ich bitterlich vermisse, Heimat, Liebe.“116 Die Arbeit der „Selbstbildung“ ist Borchardt auch ein Ersatz für die Zurückweisung, die er als junger Mensch erfahren hat und weiterhin erfährt. Auch unter seinen Kommilitonen und Altersgenossen findet er nur wenig Anschluß. Obschon er etwa mit Heinrich Goesch und Otto Deneke – auch Borchardts ehemaliger Lehrer Alfred Körte kann hier dazuge113 114 115 116

„Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 135-139. Ebd., S. 159. Ebd., S. 161. Borchardt an Vera Borchardt, 11. Oktober 1900, Briefe 1895-1906, S. 110.

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zählt werden – Freunde hat, hebt er in seinen Briefen mehrmals hervor, daß er keine Gesellschaft habe: „Ich bin absolut einsam, einsamer als ich es selbst in Italien gewesen bin. Ich muss aber hinzufügen, dass das zum teil mein eigner wille ist. die hiesigen philologischen studenten sind durchaus schlechte gesellschaft natürlich auch noch mit der kläglichsten cliquenwirtschaft die ein ‚verein der philologisch bedürfnislosen‘ nur irgendwie leisten kann, das zeigt sich vor allem im seminar. Ich bin ganz auf mich angewiesen und beinahe zufrieden damit.“117 In diesem frühen Brief stilisiert Borchardt sich bereits zum Außenseiter, allerdings noch eingeschränkt („zum teil“, „beinahe“); erst später wird Borchardt sein Außenseitertum mit großem Selbstbewußtsein nach außen vertreten. Aber auch hier dient als Rechtfertigung der Einsamkeit bereits die Überlegenheit der eigenen Bildung, das Außenseitertum ist nicht nur ein ungeselliges Beiseitestehen (das weitere Zeit zur Arbeit der „Selbstbildung“ verschafft), sondern in erster Linie ein intellektuelles Darüberstehen. So schreibt er im selben Brief über ein Seminar bei Georg Kaibel: „von einigermaassen umsichtiger beurteilung eines textes, einigermaassen geschmackvoller formaler analyse, einigermaassen eindringender erschöpfung des stofflichen haben die braven nicht ƪơưƭƯ˜Ƶ ƳƪƩƜƭ,118 und schon eine mittelmäßige leistung musste Kaibel ungewohnt vorkommen.“119 Zwar schränken das wiederholte „einigermaassen“ und die nur vorsichtige Erhebung durch eine „mittelmäßige“ die eigene Leistung noch ein, aber der Stolz auf die eigene Bildung und vor allem auf die Überlegenheit über die Mitstudenten ist unverkennbar. Erst mit der Zeit allerdings werden sich die Bestandteile des eigenen Anspruchs zu einem geschlossenen System festigen, wird die Abgrenzung von anderen eine ausgedehnte ideologische Rechtfertigung erfahren. Wie dieses Gefühl für die Überlegenheit der eigenen „Selbstbildung“ auch zugleich mit dem Gefühl einer sittlichen Überlegenheit verbunden wird, zeigt der Fall Eduard Liscos, der in Borchardts Briefen an Heinrich Goesch verhandelt wird. Lisco, der zu Borchardts Freundeskreis gehört, ist, wie Borchardt offenbar von Dritten erfahren hat, der Frau „einer gewissen klasse“120 verfallen, seine genauen „vergehungen“ lassen sich den erhaltenen Briefen allerdings nicht entnehmen. Als Borchardt wenige Tage 117 Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, Briefe 1895-1906, S. 50. 118 Griech.: „den Schatten eines Traums“. 119 Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, Briefe 1895-1906, S. 51. Vgl. auch Borchardt an Vera Borchardt, 27. November 1898: „[D]ie menschen und besonders meine fachgenossen, die philologischen studenten, sind so vollkommen kulturlos und übelriechend dass jeder verkehr sich von selber verbietet.“ (ebd., S. 44) 120 Borchardt an Heinrich Goesch, 13. August 1899, Briefe 1895-1906, S. 70.

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später einen Brief von Lisco erhält, berichtet er Goesch darüber und bringt die moralischen „vergehungen“ Liscos in einen Zusammenhang mit dessen sprachlicher Nachlässigkeit: der fehlenden „beherrschung der sprache“ entspreche die fehlende Selbstbeherrschung in Dingen der Lebensführung. Gleichzeitig wird Lisco in eine Masse von „millionen“ Menschen eingeordnet, die sich scheinbar dumpf von „einem grossen unsichtbaren schema“ und einer „art höherer macht“ leiten lasse und von der sich Borchardt nicht nur durch seine Beherrschung der Sprache, sondern auch – so wird suggeriert – durch eine größere sittliche Reife abgrenzen kann. Bezeichnend ist das Verständnis von Freundschaft, das in dem Fazit des Briefes zum Ausdruck kommt: „wie ihm eine geistige gemeinschaft mit mir nur elemente einfügen kann, die er mit seinen eigenen qualitäten organisch zu verbinden schlechterdings nicht im stande ist, [...] so kann es mir nicht gleichgültig sein, an wen ich mich ausgebe.“ 121 Freundschaft versteht Borchardt als etwas, das nicht auf gegenseitigem Geben beruht. Gebender ist allein Borchardt, der aber Lisco, da dieser anscheinend abgesunken ist, mit seinen Gaben nicht mehr erreichen kann; die beiden befinden sich in verschiedenen Sphären, Lisco in der Masse, Borchardt darüber, dazwischen verlaufe eine Grenze, die „organisch“ nicht mehr überwunden werden könne. Sowohl Borchardts Ichbezogenheit als auch sein vernichtendes, scheinbar endgültiges Urteil nicht nur über Freunde begegnen in seinen Briefen und Werken häufig, nicht zuletzt auch in den Nachworten zu seinen Anthologien; beides ist Teil seiner immer wieder erneuerten Selbstversicherung und Abgrenzung gegen andere. c) Der Kanon als „Geist und Körper eines Ganzen“122 Die Einheit der Tradition, die Gadamer in einen subjektiven und in einen objektiven Teil scheidet, steht bei Borchardt nie in Frage. Seine persönliche Auswahl ist der alleinverbindliche und gültige Bestand des Überlieferten – Borchardt ist die Tradition. So wie er sich „zur eigenen Universität“ werden mußte, wird er seine „eigene Tradition“. 123 Dementsprechend heißt es schon im „Brief an den Verleger“: „In mir lief ein hellenisierter Orient und ein wandernder, erobernder, sein Schicksal jugendlich jagender Norden römisch zur Provincia Germania zusammen, in mir war Wolfram und Lessing, Holbein und der Meister von Liesborn, in mir Brahms, das 121 Borchardt an Heinrich Goesch, 28. August 1899, Briefe 1895-1906, S. 74f. 122 „Der Dichter über sich selbst“ (1929), Prosa VI, S. 200. 123 Ebd.

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Portal von Chartres, die dithmarsische Ballade von der Rosenblume, 2. Könige XXIII,124 Hartmann von Aue und der ganze Goethe, vom tragischen Rokoko der Mitschuldigen und des Buchs Anette bis zu den zeitlosen Erzengelworten des mystischen Chors.“125 Ganz ähnlich heißt es im „Eranos-Brief“: „Überall eher war Deutschland, als zwischen den geographischen Grenzen von 97. Nirgends war es mir näher als in mir selber. In mir hatte ich es zu suchen, in mir was ich nicht fand zu holen.“126 Und in der Autobiographie: „die Geschichte meines Lebens [ist] die Geschichte des Zusammenbruchs der deutschen Überlieferung gewesen [...] und des Versuchs eines Einzelnen, diese aus den Trümmern zu ergreifen und in sich herzustellen.“127 Aus diesen Zitaten wird deutlich, daß die „Selbstbildung“ der Tradition einen sehr konkreten Ort zuweist: den eigenen „Geist“ und Körper. Das Bild des Körpers als Ort der von ihm angeeigneten Tradition verwendet Borchardt auffällig häufig, so spricht er etwa von dem „fast biographischen Bedürfnis, mit dem man sich die eigene Lebensperiode früher oder später, wohl oder übel auf den eigenen Leib zuschneiden muß“. 128 Und seit der Begegnung mit den Werken Georges und Hofmannsthals etwa habe er „daran gearbeitet mir jene gebundenen Bestände wiederfreizuspalten und zu Geist und Körper eines Ganzen zu erheben“.129 Wichtig ist dabei, daß es ein „Ganzes“ gibt, daß der angeeignete Bestand eine natürliche Ordnung, eine „Form“ hat. Wenn Borchardt gegenüber seinem Freund Goesch die Befürchtung ausspricht, er habe noch immer „das gefühl, dass George, der alte Goethe e tutti quanti in Dir unorganisch stehen“,130 so hat er als den idealen Zustand eben eine solche organische – seine – Ordnung im Blick. Daß diese organische Ordnung mehr umfasst als ein lebendiges Wissen von der Tradition, wurde schon an Borchardts Auseinandersetzung mit Lisco deutlich, sie enthält immer auch einen Kanon von Werten. „Die Arbeit am literarischen Kanon ist [...]

124 Vgl. zur Deutung dieser Bibelstelle, an der „ein gottlos gewordenes Volk zum Glauben zurückgezwungen“ wird, als programmatisch für Borchardts Werk: Johannes Saltzwedel: „Archimedische Dichtung. Rudolf Borchardt und das Unzeitgemäße.“ In: Das wilde Fleisch der Zeit. Rudolf Borchardts Kulturgeschichtsschreibung. Hrsg. von Kai Kauffmann. Stuttgart 2004, S. 64ff. 125 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 23f. 126 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 314. 127 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 147. 128 „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts“ (1927), Reden, S. 324f. 129 „Der Dichter über sich selbst“, Prosa VI, S. 200. 130 Borchardt an Heinrich Goesch, 18. August 1900, Briefe 1895-1906, S. 103.

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immer auch Arbeit am Ich“,131 der innere Zusammenhalt dieses inneren Bestandes gleichbedeutend mit der Stabilität des Selbst. Wenn dort alles einen festen Platz einnimmt, ist das Selbst vor „Dekomposition“ 132 geschützt. Ein weiterer Hinweis auf Borchardts Überzeugung, er selbst sei Träger der Tradition, ist das vielfach bezeugte Auswendigwissen ganzer Werke. Karl Eugen Gass berichtet von einem Gespräch mit Borchardt über Dante, bei dem er „alle Stellen, die er benötigte, auswendig“ gewusst habe.133 Für eine vollständige Aneignung der Werke spricht auch, daß Borchardt in der Lage war, ad hoc und auswendig fremde Texte ins Deutsche zu übersetzen, wie es Franz Blei in seiner Autobiographie überliefert; hier heißt es von Borchardt, daß er, „nannte man etwa Robert Herrick, sofort das schönste Gedicht dieses barocken Engländers zitierte, bezweifelte man Voltaires lyrische Qualität, alsogleich dem mit einem Gedichte Voltaires widersprach, das er französisch zitierte, um dem gleich eine außerordentliche Verdeutschung folgen zu lassen.“ 134 Gleiches gilt natürlich auch für die Aneignung der eigenen Werke, die sich an der Tatsache, daß Borchardt seine Reden stets frei hielt und stundenlang niemals niedergeschriebene Werke deklamierte, zeigen läßt. Unter den zahlreichen Belegen dafür seien Max Rychners Erzählung von der mündlichen Improvisation der Dissertation in Göttingen 135 sowie der Bericht Gustav HillardSteinböhmers über die zweieinhalbstündige Rezitation eines „schwierigen Versdramas in gereimten Jamben“ vor Max Reinhardt 136 genannt. Und auch seine Nachlässigkeit Büchern gegenüber – Gass bemerkt angesichts von Borchardts Bibliothek in Saltocchio 1938, sie sei „unvollständig, willkürlich und in sorgloser Unordnung“137 – spricht dafür, daß er eher der Aneignung als der materiellen Versicherung des Bestands vertraut.

131 Alexander Kissler: „Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 16. 132 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 29. Vgl. Borchardt an Zeitler, 21. Mai 1905, Briefe 1895-1906, S. 342: „Bedingung ist für mich absolute eherne Einheit der Form. Ich bin gegen fremde Formlosigkeiten zu unerbittlich um mir selbst ein fragmentarisches Räkeln gestatten zu können.“ 133 Karl Eugen Gass: Pisaner Tagebuch. Aufzeichnungen. Briefe. Hrsg. von Paul Egon Hübinger. Heidelberg und Darmstadt 1961, S. 94f. 134 Franz Blei: Erzählung eines Lebens (1930). Wien 2004, S. 363f. 135 Max Rychner: „Erinnerung an Rudolf Borchardt“ a.a.O., S. 70. 136 Vgl. die Schilderung in Gustav Hillard-Steinböhmers Helden und Narren der Welt. München 1954, S. 251f. Vgl. auch den „Bericht“ einer angeblich niedergeschriebenen „Iphigenie“ bei Franz Blei: Erzählung eines Lebens a.a.O., S. 364. Vgl. auch Dichter lesen. Band 2: Jahrhundertwende. Hrsg. von Reinhard Tgahrt. Marbach 1989 (Marbacher Schriften 31/32), S. 168-170. 137 Karl Eugen Gass: Pisaner Tagebuch a.a.O., S. 158.

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d) Selbstbewußtsein und Bildungskritik: „Der Brief an den Verleger“ „[M]eine Art ist die des Heimatlosen“, heißt es in „Der Brief an den Verleger“, „Sie wissen, daß ich keine Heimat habe wie viele, viele andere meines Alters, denen das Wort einen unwirklichen, halb gemeinen halb herzwehmachenden Klang hat“. Die eigene Heimatlosigkeit erklärt Borchardt hier, trotz der Erfahrungen der Kindheit, historisch. Durch die im 19. Jahrhundert zunehmende Mobilität, den „Bewegungen des Volksganzen“,138 sei für viele eine klar zu bestimmende Heimat nicht mehr vorhanden. Borchardts Argumentation ist der Versuch, die eigene Heimatlosigkeit, zunächst rein räumlich verstanden, durch ihre Einbettung in das Schicksal einer ganzen Generation abzumildern und so erträglich zu machen. Die Ortswechsel der Kindheit sollen durch ihre Verteilung auf ein Kollektiv ihr Schmerzhaftes verlieren. Dennoch gibt es eine Heimatlosigkeit, die mehr umfaßt als nur die Unklarheit über die eigene räumliche Verortung; in Borchardts Autobiographie heißt es: „Ich habe keine Heimatstadt gehabt und gekannt und erst spät erfahren daß ich ein Heimatland habe; daß ich ein Vaterland habe, erst an mir selber in reifen, bitteren Stunden. So habe ich auch kein Elternhaus und keine Familie gehabt und es wäre ein müßiges Zugeständnis an das Schema der Autobiographie wenn ich von Land, Provinz, Stamm und Stadt, Vätern und Eltern ausginge.“139 Hier wird der Begriff der Heimat umfassend verstanden: nicht nur als Raum, sondern auch politisch und privat. Auch diese Heimat muß er sich selbst erst schaffen – „heimatlos überwertet er Heimat“, 140 wie es Adorno knapp formuliert. Tatsächlich bleiben alle Aspekte dieses erweiterten Heimatbegriffes auch nach 1906 trügerisch: Die Ehe mit Karoline Ehrmann, die zunächst die krisenhaften Jahre beendet und Sicherheit zu bieten scheint, bleibt kinderlos und damit in Borchardts Augen unerfüllt, sie wird nach Jahren der Trennung 1917 geschieden; auch in Italien, wo durch den Bezug der Villa Sardi zunächst eine örtliche Heimat entsteht, findet Borchardts Rastlosigkeit kein Ende: Obwohl er zumeist in der Toskana bleiben wird, wechselt er regelmäßig, meist aus finanziellen Gründen, den Wohnort; schließlich wird ihm auch das selbsterarbeitete „Vaterland“141 keine verläßliche Größe bleiben, zu groß wird die Kluft zur Wirklichkeit, und schließlich muß er

138 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 25. 139 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 64f. 140 Theodor W. Adorno: „Die beschworene Literatur. Zur Lyrik Rudolf Borchardts.“ In: Noten zur Literatur. Frankfurt/M. 1998, S. 536-555, hier S. 544. 141 Vgl. S. 67-73 dieser Arbeit.

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mit ansehen, wie der Nationalsozialismus einen völlig anderen Weg als den von ihm erträumten einschlägt. Dennoch: Das Jahr 1906 ist ein bedeutender, wohl der bedeutendste Einschnitt in Borchardts Leben. Erweisen sich auch die äußeren Umstände, die dazu führen, als trügerisch, so bleibt ihm doch die angeeignete Heimat der Tradition, der Kanon, das Weltbild. Neu ist von 1906 an vor allem auch Borchardts Selbstbewußtsein. Dokument dieses „auf höherer Stufe integriertem Selbstbilds“142 ist der 1906 verfaßte „Brief an den Verleger“. Dieser „Brief“ ist Fragment geblieben und soll vordergründig in Form eines offenen Briefes seinem Verleger Julius Zeitler erklären, warum Borchardt das offenbar verabredete Buch „über deutsche Fragen“ nicht mehr schreiben kann, um stattdessen ein Buch über die italienischen Zustände anzukündigen. Gleichzeitig enthält der Brief die Rechtfertigung seines nun selbstbewußt zur Schau getragenen Außenseitertums. „Die jahrelange Entfernung von den Mittelpunkten der nationalen Bewegung, jene selbstgewollte Verbannung“, tatsächlich ja vor allem eine Zeit großer Not, wird nun zum selbstgewählten räumlichen und geistigen Exil stilisiert. Seine Distanzierung von dem, „was heut schreibt“, und dem, „was heut liest“,143 ist programmatisch und Teil eines neuen Zustands, der ihn „beseligt und bereichert“: Sein Außenseitertum ist nun erst ein „wahres Abseits“.144 Gleichzeitig hebt Borchardt noch einmal die Unversehrtheit des „Centrums“ all seines Schaffens hervor. Seine bisher entstandenen Dichtungen und seine politische Tätigkeit widersprächen sich keinesfalls, sondern bildeten im selben „Zentrum des Seelischen und Künstlerischen“ eine „Einheit“.145 Zu Borchardts neuem Selbstbewußtsein gehört auch, daß er zu seinem nicht abgeschlossenen Studium steht. 146 Es gehört durchaus Mut dazu, sich in einer Zeit, in der Bildung mehr und mehr über einen universitären Abschluß definiert wird und das Ideal der „Selbstbildung“ zunehmend verdächtig wird,147 sich ausschließlich auf ebendiese verlassen zu wollen. Dies ist nicht nur ein Problem der Autorität, die der eigenen Bildung unabhängig von den Autoritäten des Bildungssystems verschafft werden muß, sondern auch ein Problem der Zeit und vor allem eines des Geldes. „Selbstbildung“ ist zunächst brotlos; die Arbeit der Lektüre, des For142 143 144 145 146 147

Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 36. „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 11f. Ebd., S. 29. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 17f. Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 18901933. Köln Weimar Wien 1997, S. 49f.

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schens, des Lernens und der Ordnung halten vom Geldverdienen ab und bringen nichts ein – erst mit der Anwendung des dadurch angeeigneten Wissens kann wenigstens theoretisch auch außerhalb der Universität Geld verdient werden. An diesem Punkt ist Borchardt um 1906 angelangt: Er ist willens, mit seiner Arbeit Geld zu verdienen, mit seinem Wissen in Konkurrenz zur Universität zu treten, zu veröffentlichen, zu schreiben, dichterisch wie kritisch zu wirken.148 Obwohl Borchardts Verhältnis zur Veröffentlichung seiner Werke gespalten bleibt, wird sie für ihn eine finanzielle Notwendigkeit, denn er hofft eine Familie ernähren zu müssen. Dabei glaubt er, daß sein Wissen, seine Fähigkeiten und die Qualität seiner Publikationen andere dazu bringen können, mit seiner unrühmlichen Vergangenheit abzuschließen: „Ich zweifele keinen Augenblick daran, dass im ersten Momente, in dem die Publizität meines Namens unbestritten ist, jedermann unter das was er meine Vergangenheit nennt einen Strich ziehen und einen Modus mit mir zu finden sich bemühn wird.“149 Borchardt begründet im „Brief an den Verleger“, in dem er ausführlich seinen Bildungsgang von der Schule bis zur Universität darstellt, seine „Selbstbildung“ als Reaktion zum einen auf seine „schlechten Lehrer“, zum anderen wieder auf die dadurch mögliche Erhöhung über seine Mitschüler: „Ich hatte schlechte Lehrer und fühlte mich lieber Pindar und Livius oder Goethe und Molière als ihnen gegenüber Schüler; in einem Alter, in dem die emanzipierteren Knaben um mich her die elende Literatur der achtziger Jahre an sich rissen und in sich schlangen, hatte mich die Begierde nach italienischen und englischen Büchern um zwei Sprachen bereichert und ich griff unersättlich nach Sanskrit und Arabisch“. Wohin der Weg, den er mit diesem Drang zur Bildung eingeschlagen hatte, führen würde, darüber scheint bei ihm kein Zweifel bestanden zu haben: „ich sollte einen Gelehrten geben, einen Philologen nämlich“. Der Glaube, daß „alle Möglichkeiten des deutschgeborenen Mannes, die geistigen wie die seelischen und alle tätigen im Professor gipfeln“,150 stellt sich jedoch während der Studienjahre als Irrglaube heraus. Borchardt, nachdem er „sechs Jahre dazu gebraucht“ habe, „es zu erkennen“, sieht sich damit ganz auf sich selbst gestellt: Die Universität konnte, entgegen seiner Hoffnung, seinem Bildungsdrang nicht genügen. Weil „niemand mehr mich lehren 148 Vgl. Borchardts Brief an den Bruder Philipp vom 14. März 1906 über seine literarischen Pläne und darüber, welche Verlage für eine Veröffentlichung seiner Werke in Fragen kommen (Briefe 1895-1906, S. 410-416). 149 Borchardt an Philipp Borchardt, 27. Juni 1905, Briefe 1895-1906, S. 359f. 150 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 16f. Schon im „Gespräch über Formen“ klingt die Kritik am deutschen Gymnasium und der universitären Philologie an, vgl. Prosa I, S. 15-17.

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konnte, was ich zu lernen hatte“,151 sei ihm nur die „Selbstbildung“ geblieben. Borchardt kann durch diese Arbeit außerhalb der vorgegebenen Bahnen ein umso stärkeres Selbstbewußtsein auf das Erreichte ausbilden, und so betrachtet er durchaus „jenes Studium und was es mir bis heute zu geben nicht aufhört als einen ungeheuren preislosen Gewinn“, und er ist sich sicher, „jenen Beschäftigungen einen Teil der Distinktion zu verdanken, deren ich mir den heute tätigen Literatoren gegenüber bewußt bin“.152 Mit dem Wissen um die Superiorität der eigenen Bildung, der Vorstellung, allein vom Wesen der wahren Tradition Kenntnis zu haben, sowie dem elitären Abwenden von der Masse der anderen nimmt Borchardt bewußt eine aristokratische Pose ein. Der Adel sei, wie Borchardt schreibt, zur Jahrhundertmitte mit dem „Vorhang von 1848, der beim Niederfallen unser gesamtes soziales Gefüge verändert hatte, indem er breite Bevölkerungsschichten proletarischer Herkunft an die Oberfläche und noch höher hob, Schichten ohne Geschichte, ohne Erinnerungen, unfähig, das geistige Geflecht aus Aufklärung, Klassizismus und Romantik zu nutzen und zu durchdringen, nur widerstandsfähig und brutal, ohne jedes Schuldgefühl und ohne Scham“153 an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt worden und habe seine Funktion als Förderer der Künste und damit als Bewahrer der Tradition verloren. Diese Funktion will Borchardt übernehmen. Er wird damit zum Retter der Tradition, wobei seine Legitimation nicht mehr das Blut und der Reichtum sein können, sondern allein die eigene Bildung. Zwar gibt es auch bei Borchardt den Gedanken, daß von seiner Großmutter Emilie Leo „zu stammen adlig macht“, aber auch hier ist eben nicht an die Weitergabe adligen Blutes gedacht, sondern an die Selbstverständlichkeit, in der Tradition zu leben, und an das Fortleben einer intellektuellen, bildungsbewußten Haltung, die „jeden außer dem höchsten Anspruch in Leben und Gedanken“ 154 ausschließt. Bei Borchardt äußert sich diese Vorstellung der Adels-Nachfolge nun aber nicht nur im überheblichen Stolz auf die eigene Bildung, im Gestus der Distinktion, im Sprechen von oben herab, im Verwenden von ausgefallenen und schwierigen Wörtern, im Anspielen auf entlegenes Wissen, sondern auch in der Aneignung aristokratischer Lebensformen wie etwa dem Leben in 151 „Der Dichter über sich selbst“, Prosa VI, S. 200. 152 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 18. 153 „Italien und die deutsche Dichtung.“ In: Rudolf Borchardt: L’Italia e la poesia tedesca. Hrsg. von der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V. Übersetzt und erläutert von Gerhard Schuster und Ferruccio Delle Cave. Stuttgart 1988, S. 99. 154 „In Memoriam“ (1904), Prosa VI, S. 10. Zur Bedeutung von Emilie Leo für Borchardt vgl. auch Meike Steiger: Textpolitik a.a.O., S. 15-17.

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toskanischen Villen, der Abscheu vor der Erwerbsarbeit oder der kostspieligen Beschäftigung mit teuren Hobbies wie dem Anbau und der Pflege seltener Blumen. Ein bedeutender Einfluß auf Borchardts aristokratischen Habitus kommt dabei zweifellos aus England. Das Ideal des Dandy, selbst durch eine bürgerliche Übernahme adliger Lebensformen entstanden, 155 gelangte über englische Originale wie Swinburne, Rossetti oder Pater sowie deutsche Vermittler wie Hofmannsthal, George und Kassner zu Borchardt, an dem Hofmannsthal früh eine „lächerliche und ermüdende Anglomanie“156 feststellt. Schon die „künstliche Welt“ seiner Göttinger Studentenbude versucht er zu einer nach ästhetisch-aristokratischem Geschmack eingerichteten Wohnung zu stilisieren, mit einem „altertümlichen sopha“, einem Tisch „mit dem sanften silberschimmer des alten polierten birkenholzes“ oder einem „schrank in alten einfachen empireformen“.157 Auch in Hofmannsthals Rodauner Haus bewundert er „Louis XV-Möbel“ und „Dienstmädchen“. Hier sind nun aber nicht nur die Möbel aristokratisch, sondern auch die Umgangsformen: „Die Stufe des Gestimmtseins, das diesen kleinen Kreis gerade des Abends beherrscht, ist eine so hochgelegte, der gesellschaftliche Ton ein so hochmütig gehobener, dass das schöne Tafelgeschirr, Silber und Blumen, Kerzen an den Wänden und evening dress wie selbstverständlich dazugehören“, wie Borchardt berichtet, der an diesem Essen mit einem „auf Borg gemachten“ Frack teilnimmt.158 Als Borchardt im August 1906 die Villa Sardi bei Lucca bezieht, tritt zu seiner aristokratischen Geisteshaltung endlich auch die angemessene Umgebung. So beschreibt er Julius Zeitler die Villa als „ein mächtiges barockes Haus mit monumentalen Zufahrten und über zwanzig Sälen und Zimmern, in einem alten französischen Garten mit geschnittenen Taxuswänden und einem verwilderten Park dabei“, in deren Räumen „alles mit schönen alten Möbeln Betten Wäsche Porzellan Cristalleria und Küchengerät aufs reichlichste ausgestattet“159 sei. Und Friedrich Wolters berichtet er stolz: „Von eigener Dienerschaft haben wir eine Köchin und einen Mann, dem ich eine Livrée aus gestreiftem Zwilch mit Tombakknöpfen

155 Vgl. Markus Neumann: Die „englische Komponente“. Zu Genese, Formen und Funktionen des Traditionsverhaltens im Werk Rudolf Borchardts. Göttingen 2007, S. 30f. 156 Hofmannsthal an Schröder, 26. April 1902, Vgl. auch Vivian a.a.O., S. 212. 157 Borchardt an Heinrich Goesch, 10. September 1899, Briefe 1895-1906, S. 81-84. 158 Borchardt an Otto Deneke, 18. März 1902, Briefe 1895-1906, S. 173-177. Vgl. auch Borchardts „Rede über Hofmannsthal“, in dem er die Bedeutung des „Tod des Tizian“ unter anderem daran festmacht, daß darin das Leben „von oben herab“ angesehen sei: „ein Herr sprach“, Reden, S. 87. Vgl. „Hugo von Hofmannsthal“, Prosa I, S. 458f.: „Er war Weltmann und Hofmann“. 159 Borchardt an Julius Zeitler, 14. August 1906, Briefe 1895-1906, S. 426f.

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angezogen habe“.160 Michael Landmann erinnert sich an Borchardts Neigung zum „signorablen Leben“,161 und daß sich dieses Gebaren auch später nicht geändert hat, bezeugt noch Karl Eugen Gass, der nach einem Empfang bei Borchardt in Saltocchio 1938 notiert: „er wünscht sehr, als Aristokrat und Herr zu erscheinen.“162 e) Bildungskritik von Friedrich Schlegel bis Borchardt So singulär, wie Borchardt sich zu stilisieren liebt, ist er freilich nicht, denn gerade die Vorstellung, daß die Emanzipationen des 19. Jahrhunderts, vor allem die Befreiung der unteren Schichten, daß Industrialisierung und zunehmende Merkantilisierung der Bildung schaden, ist nicht neu, sondern eine Konstante der Bildungskritik seit den 1820er Jahren.163 So läßt sich von Friedrich Schlegels Signatur des Zeitalters (1820-23) an eine Reihe von bildungskritischen Schriften über Nietzsches Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ (1872) und seine zweite Unzeitgemäße Betrachtung „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ (1873/4), Lagardes Deutsche Schriften 164 (1878/81), Treitschkes Die Zukunft des Deutschen Gymnasiums (1883/90) oder Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) bis ins 20. Jahrhundert hinein bilden.165 Deren Ausführungen lassen sich in vier Hauptargumenten zusammenfassen, die auch Borchardt übernimmt:

160 Borchardt an Friedrich Wolters, 17. Oktober 1906, Briefe 1895-1906, S. 439. 161 Michael Landmann: „Rudolf Borchardt 1877-1945.“ In: „Figuren um Stefan George“ (Castrum Peregrini. 37. Jg. 1988, Heft 183), S. 80-85, hier S. 82. 162 Karl Eugen Gass: Pisaner Tagebuch a.a.O., S. 157. 163 Vgl. grundlegend für das Folgende Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. Stuttgart 1983. 164 Paul de Lagarde: Deutsche Schriften. Vierte Auflage. Gesammtausgabe letzter Hand. Göttingen o.J.; darin besonders die beiden Aufsätze „Zum Unterrichtsgesetze“ (1878), S. 168-217 und „Noch einmal zum Unterrichtsgesetze“ (1881), S. 264-282. In „Der Brief an den Verleger“ konstatiert Borchardt ein Herabsinken der Gattung zeitkritischer Schriften, die „[s]eit dieser Feder, die den Händen des greisen LaGarde [sic] erst im Tode entfiel“ (Prosa VI, S. 12), mit jedem Nachfolger immer mehr abstumpfe. Auch in Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie ist Lagarde mit „Strophen“ vertreten (S. 382, 423f.). 165 Die angegebenen Schriften oder ihre Verfasser kannte und schätzte Borchardt, vgl. im Einzelnen die entsprechenden Anmerkungen. Zur Kritik der deutschen Bildung, vor allem der Universität in Borchardts Generation vgl. auch Carola Groppes Arbeiten: Die Macht der Bildung a.a.O. und: „‚Verschwunden ist die Arena der Olympia.‘ Zum Verhältnis von Ästhetizismus, Jugendstil und Bildungsidee bei Rudolf Borchardt.“ In: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Hrsg. von Andreas Beyer und Dieter Burdorf. Heidelberg 1999, S. 111-137.

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I. Grundlagen der Anthologien

1. Durch die zunehmende Abhängigkeit von „einem Geldinteresse und Handelsprinzip, von der öffentlichen Meinung und dem Publikum“166 drohe der Verlust der Selbständigkeit der Bildungsanstalten. 2. Bildung sei keine Anhäufung leblosen Wissens, sondern Dienerin einer lebendigen Tradition. Dementsprechend fordert Nietzsche eine innere Bildung, kein „Wissen um Bildung“;167 Wissen solle, so auch die Forderung Langbehns, organisch und nicht mechanisch angeordnet und vermittelt werden.168 3. Der „Adel unserer gelehrten Bildung“ müsse, wie es bei Treitschke heißt, gegen „Verflachung“169 geschützt werden. Daher sei das „Eindringen [...] oft ganz roher und träger Elemente“170 in die höheren Lehranstalten und der damit einhergehende Verlust an Qualität durch die Zunahme an Quantität zu verhindern. Auch Nietzsche konstatiert den Niedergang der Bildung durch eine Ausweitung des Publikums bei gleichzeitiger Senkung ihres Anspruchs; Bildung verkomme zu einer Massenversorgung, deshalb lehnt auch er „Volksbildung“171 ab. 4. Es sei nötig, die wahre Bildung auf eine auserlesene „Minderheit“172 zu beschränken. Auch Nietzsche zielt auf eine Elite ab: „nicht Bildung der Massen kann unser Ziel sein sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen“.173

166 Friedrich Schlegel: „Signatur des Zeitalters.“ In: Kritische Schriften und Fragmente. Band 4: 18121823. Hrsg. von Ernst Behler und Hans Eicher. Paderborn 1988, S. 251-334, hier S. 333. 167 Friedrich Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.“ In: Kritische Studienausgabe. Band I: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-73. Hrsg. von Georgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999, S. 243334, hier S. 273. Trotz „deutlicher Distanz“ (Stefan Breuer: „Nietzsche-Translationen. Typen der Nietzsche-Rezeption in der deutschen Rechten.“ In: Widerspruch. Zur frühen Nietzsche-Rezeption. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik von Andreas Schirmer und Rüdiger Schmidt. Weimar 2000, S. 271-290, hier S. 274) hat Borchardt die genannten Schriften Nietzsches wohl gekannt, allgemein schreibt er im „Brief an den Verleger“, er habe Nietzsche erst kennengelernt, als dessen „Stöße gegen die Philisterburgen“ nur „die bekannte offene Tür“ (Prosa VI, S. 16) bei ihm eingerannt haben. Vgl. auch Kai Kauffmann: „Nietzscheanische Funken? Zum Verhältnis zwischen Friedrich Nietzsche und Rudolf Borchardts Kulturdenken.“ In: Jugendstil und Kulturkritik a.a.O., S. 15-27, hier S. 16f. 168 Vgl. August Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Leipzig 1922, S. 274 (die Erstausgabe erschien anonym: „Von einem Deutschen“). 169 Heinrich von Treitschke: Die Zukunft des Deutschen Gymnasiums. Leipzig 1890, S. 3. 170 Ebd., S. 30. 171 Friedrich Nietzsche: „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten.“ In: Kritische Studienausgabe. Band I a.a.O., S. 641-752, hier S. 699. 172 August Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher a.a.O., S. 270. 173 Friedrich Nietzsche: „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ a.a.O., S. 698.

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In Josef Hofmillers Aufsatz „Vom alten Gymnasium“174 aus dem Jahre 1917 kehren noch einmal alle Argumente der Bildungskritiker des 19. Jahrhunderts wieder: die Bedrohung der Bildung durch den Druck der Industrie, die Betonung, daß Tradition etwas Lebendiges, Organisches sei, die Ablehnung einer Bildung für alle175 und die Bedeutung derer, „die den Zusammenhang mit der Vergangenheit als etwas Lebendiges wissen und empfinden, verkünden und erhalten“:176 „Eine der stärksten, wenn nicht überhaupt die stärkste Bewegung unserer Geistesgeschichte, ist das Bemühen um die Wiedereroberung unserer literarischen Vergangenheit.“177 Es ist wahrscheinlich, daß Hofmiller hierbei an die lose Gruppe um Hofmannsthal, Schröder und Borchardt denkt. Borchardt hatte Hofmiller über die Süddeutschen Monatshefte kennengelernt, deren Mitherausgeber dieser war. Brieflicher und persönlicher Kontakt bestand seit April 1908, als Hofmiller Borchardt in der Villa dell’Orologio bei Lucca besuchte; im Juni erscheint in den Monatsheften der erste von zahlreichen Beiträgen Borchardts, „Renegatenstreiche“. Borchardt hat die bildungskritischen Aufsätze Hofmillers, die alle zuerst in den Monatsheften erschienen sind und für die spätere Buchveröffentlichung überarbeitet wurden, zweifellos gekannt und mit ihm auch über pädagogische Fragen korrespondiert.178 Borchardt kritisiert dabei im Einklang mit Nietzsche und Hofmiller das Herabsinken der Gymnasien zu bloßen Lieferanten eines Abschlusses; hier werde „der straffe zuverlässige einseitig geschulte Technit“ produziert, „der zu unserem nationalen Aufbau die gleichbehauenen unterschiedlosen anonymen Bausteine liefert“ – damit seien auch noch alle zufrieden und stolz „auf das Nulle, die Lüge und die Spreu“. Dagegen setzt Borchardt auf eine an alte Vorbilder angelehnte elitäre „deutsche Gelehrtenschule“, mit der entgegen der vorherrschenden „Entgötterung der Familie“ und „Entwertung der menschlichen Spiritualität“ die vermittelte Bildung wieder „wertvoll“179 gemacht werden könne. 174 Josef Hofmiller: Vom alten Gymnasium. Drei Aufsätze zur Schulreform. München 1917, S. 3-58. Hofmillers Aufsatz enthält zahlreiche sehr ins Detail gehende Vorschläge zur Verbesserung der Situation; er war selbst Gymnasiallehrer und ist neben Lagarde, der von 1853-1866 als Gymnasiallehrer tätig war, bevor er den Lehrstuhl für orientalische Sprachen in Göttingen übernahm, einer der wenigen Praktiker in der langen Reihe von Bildungskritikern. 175 „Es gibt keine allgemeine Bildung! Bildung ist ihrem Wesen nach Wille zum Besonderen, Hingabe an ein Besonderes“ (ebd., S. 21). 176 Ebd., S. 7. 177 Ebd., S. 53. 178 Borchardt an Hofmiller, 22. August 1916, Briefe 1914-1923, S. 127. Vgl. Hofmillers Brief an Borchardt vom 26. Juni 1916, wo es heißt: „Ich bin gegenwärtig mit Schulfragen, die mich all die Jahre her bewegen, angelegentlicher beschäftigt“ (Josef Hofmiller: „Briefe an Rudolf Borchardt.“ In: Neue Deutsche Hefte. 5 Jg. 1958/9, S. 702-709, hier S. 708). 179 Borchardt an Hofmiller, 30. Juli 1916 (nicht abgesandt), Briefe 1914-1921, S. 122f.

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I. Grundlagen der Anthologien

Drei Jahre später, am 9. März 1919, hält Borchardt in Bremen die erst jetzt veröffentlichte „Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung“, die mit der Feststellung einer totalen Zerstörung beginnt: „Ich glaube, dass wir so völlig untergegangen sind, wie es heute fast unmöglich ist, dem Volke zu sagen. Völlig, vollständig.“180 Er fordert hier, wieder ohne ins Detail zu gehen, eine „wilde Schule“, losgelöst und unabhängig vom Staat, bei der er die Hoffnung hat, daß aus ihr „der deutsche Geist wieder hervorgehe“.181 Borchardt ist in der Reihe deutscher Bildungskritiker einer der wenigen, der die Misere der deutschen Bildung als Teil der eigenen Bildungsgeschichte darstellt. In seinem „Eranos-Brief“ ist diese Darstellung auch die Darstellung der, wie er behauptet, heruntergekommenen Bildungsinstitutionen, die er durchlaufen hat. Zwar beschreibt er den Zustand des humanistischen Gymnasiums in der Provinz durchaus noch als intakt: „man verwaltete ein unabsehbares eisernes Erbe: das der klassischen deutschen Humanität“,182 aber groß ist die Enttäuschung an der Universität, von der er sich die Vertiefung und Ausdehnung seines Wissens erhofft hatte, um nun festzustellen, daß „die großen Schatzkammern [...] geplündert“ seien. Schuld an dieser „Katastrophe“,183 an diesem „Bruch der Tradition“ 184 habe der Umstand, daß ständig den „Trugphänomenen des Fortschritts“185 nachgegeben werde, dann, daß die exakten Wissenschaften sich immer weiter ausdehnten und eine Spezialisierung in allen Fächern um sich greife und schließlich auch hier, daß durch das Eindringen der unteren sozialen Schichten das Niveau der Bildung immer weiter sinke. Borchardts Ideal, von dem er die Bildungsinstitutionen seiner Zeit sich entfernen sieht, ist das im Geist der Romantik und des Idealismus durch Wilhelm von Humboldt reformierte humanistische Gymnasium. In seiner Autobiographie Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt stellt Borchardt ausführlich den Abfall vom Idealzustand dieses „preussischen Hellenismus“186 dar. Schon Nietzsche richtet sein Ideal einer „klassischen Bildung“187 am griechischen Vorbild aus und diagnostiziert, daß, da schon die Lehrer eine solche nicht mehr besitzen, sie auch bei den Schülern nicht 180 Rudolf Borchardt: „Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung.“ Aus dem Nachlaß herausgegeben von Gerhard Schuster. In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 73-85, hier S. 76. Vgl. auch Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische. Drei Reden von 1920 und 1923 a.a.O., S. 200f. 181 „Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung“ a.a.O., S. 84. 182 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 288. 183 Ebd., S. 292. 184 Ebd., S. 307. 185 Ebd., S. 303. 186 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 111. 187 Friedrich Nietzsche: „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ a.a.O., S. 685.

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mehr erwartet werden könne. Die „alte Schule“, die „den Anwärter eines gottverordneten und gottseligen Gelehrtenstandes“ gebildet habe, 188 sei durch das Aufsteigen und die Forderungen „jener neuen Massen“ und des „neuen Unternehmertums“ zu immer neuen Zugeständnissen und „ohnmächtigen Halbexperimenten“189 gezwungen. Die Verantwortlichen hätten dabei, so heißt es bei Borchardt, versäumt zu bedenken, daß nicht alle „gleichen geistigen Anforderungen in gleicher Weise genügen“ können; auch Borchardt gilt eine allgemeine Bildung weder als realisierbar noch als wünschenswert. Aus dem Blick gerate bei den dauernden Zugeständnissen an die neuen wirtschaftlichen Bedürfnisse die Bewahrung der Tradition. Dementsprechend bitter klingt Borchardts Fazit: „Die Schatzhüter“ – die Bewahrer der „geschichtlichen Überlieferung“ – „konnten heimgehen“.190 Der ideale Zustand, den Borchardt für das alte humanistische Gymnasium umschreibt: „Eine Tradition wurde vermittelt, und wer sie empfing, war damit und wurde damit selber Tradition“,191 sei für immer verloren – auch hier verbindet Borchardt die Tradition mit demjenigen, der sie trägt. f) Gegnerschaft Der Umstand, daß bei Borchardt der Kanon bzw. die Tradition nicht von der eigenen Person zu trennen sind, bedingt sein Außenseitertum mit. Alternative Positionen müssen, so sie nicht der eigenen angepaßt werden können, abgelehnt werden. Daher ist es Borchardt sowohl unmöglich, sich einer Gruppe anzuschliessen, als auch eine Gruppe um sich zu scharen. Das war nicht von Anfang an so. Um die Jahrhundertwende zählt er sich noch zu den „anhängern“192 jener um George und Hofmannsthal gruppierten Dichter und Intellektuellen, wenig später kann er sich mit der Veröffentlichung seiner Gedichte in den von Rudolf Alexander Schröder betreuten Heften der Insel 1902 bereits als Teil dieser Bewegung sehen. Noch später gibt ihm die Veröffentlichung seiner Gedichte in der Insel die Gelegenheit, sich zum Nachfolger der Romantiker zu stilisieren, wenn er von „jenen erlauchten Heften, die für ein späteres Jahrhundert den höchsten Stand der deutschen Literatur seit den Horen und dem Athenäum bedeuten

188 189 190 191 192

„Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 111. Ebd., S. 113f. Ebd., S. 117. Ebd., S. 109. Borchardt an Heinrich Goesch, 8. August 1899, Briefe 1895-1906, S. 62.

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I. Grundlagen der Anthologien

werden“,193 spricht. Dennoch muß er schon bald das Scheitern der Bewegung feststellen, er distanziert sich von ihr194 und versucht sogar, die Hefte mit seinen Gedichten aus dem Handel zu ziehen.195 Das Scheitern der „ästhetischen Bewegung“ begründet er mit ihrer Unfähigkeit, über den Augenblick hinaus ein Programm zu etablieren, das die eigenen Bedingungen und ihre historische Situation dauerhaft mitdenkt,196 letztlich mit ihrer Unfähigkeit, die deutsche Nation als Ganzes würdig zu vertreten.197 Borchardt wendet sich von anderen ab und der Vergangenheit und der Arbeit an ihrer Restauration zu. So schreibt er 1909 an das Ehepaar Landmann: „Je mehr sich in mir das Gefühl davon befestigt, wie gänzlich brückenlos und unvermittelt ich in dieser Welt stehe, wie wenig selbst diejenigen, mit denen ich wohl gemeine Sache mache, meine Voraussetzungen teilen, meine Grundsätze mitmachen, meine Arbeitsweise auch nur von ferne begreifen; je fester andererseits das Verhältnis wird, das mich mit den Quellen meiner Kraft, einer grossen Vergangenheit, verbindet und mich, wo immer ich auftrete, zum Restaurator macht, um so mehr begreife und verehre ich die Fügung, die mich fürs erste erfolglos gewollt hat.“198 Borchardt wird immer wieder mit seiner Erfolglosigkeit kokettieren, etwa in dem Aufsatz „Über das Recht des Dichters, verkannt zu bleiben“ (1926) und dem Fragment gebliebenen Rechenschaftsbericht „Der verlorene Posten“ (um 1932). Was genau an der „Fügung“ seiner Erfolglosigkeit jedoch verehrungswürdig sein soll, sagt er nicht. Borchardt übernimmt von Nietzsche ein Modell, das der Gegenwart Unverständnis vorwirft und die eigene Wirkung in eine bessere Zukunft projiziert.199 Festzuhalten bleibt, daß er bis zum Ende seines Lebens trotz kurz- oder langfristiger Zweckallianzen sich zum Einzelkämpfer stilisieren und die „Schöpferische Restauration“ als ein Ein-Mann-Unternehmen betreiben wird.

193 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 14. Vgl. auch „Die Gestalt Stefan Georges“, Prosa I, S. 435, wo die ersten Hefte der Blätter für die Kunst „die Anfänge der größten deutschen poetischen Bewegung seit der Romantik“ genannt werden, und Borchardts Brief an Hofmannsthal, 5. August 1912, wo Hofmannsthal, Schröder und Borchardt selbst mit den „deutschen dichterischen Archegeten zwischen 1770 und 1800“ gleichgesetzt werden (Briefwechsel, S. 107). 194 Vgl. „Epilog zur Insel“ (1902), Prosa IV, S. 177-184. 195 Vgl. Borchardt an den Insel-Verlag, 25. Juli 1904, Briefe 1895-1906, S. 234. 196 „Ankündigung“ (1909), Prosa VI, S. 201f. Vgl. Kai Kauffmann: „Philologische Anmerkung zu Rudolf Borchardts Text ‚Ankündigung‘.“ In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. 50. Jg. 2000, S. 103-105. 197 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“ (1912), Reden, S. 111f. 198 Borchardt an Edith und Julius Landmann, 29. Dezember 1909, Briefe 1907-1913, S. 283f. 199 Vgl. Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007, S. 160-170.

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Seine kompromißlos zur Schau gestellte Außenseiterrolle ist allerdings nicht unproblematisch. Denn die Vorstellung, es besser zu wissen als alle anderen, und der Umstand, daß es ihm unmöglich ist, etwas, das nicht seinem Programm entspricht, anders als feindlich wahrzunehmen, bringen ihn in die Position einer grundsätzlichen Gegnerschaft. Tatsächlich gibt es wohl außer dem von Karl Kraus kein literarisches Werk der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das derart auf Gegnerschaft ausgerichtet ist wie das Borchardts. In seinen Reden, Abhandlungen, Essays und Rezensionen vertritt er seine Thesen fast nie, ohne andere dabei anzugreifen und abzuwerten, die Rede „Schöpferische Restauration“ zum Beispiel besteht gut zur Hälfte aus der Darstellung dessen, wogegen sich die „Schöpferische Restauration“ richtet.200 Sein erzählerisches Werk, besonders der Roman, wendet sich gegen den Verfall der Werte nach dem Ersten Weltkrieg, und selbst sein dichterisches Werk enthält Elemente dieser „Gegnerschaften“,201 nicht zuletzt in den „Jamben“, die fast ausschließlich aus Angriffen bestehen. Besonders charakteristisch ist dabei weniger die Gegnerschaft an sich als die Heftigkeit ihres Tons. Ihr Hauptcharakterzug ist selten die sachliche Auseinandersetzung, sondern das Beschimpfen. Die Berliner Literatur: „abgeleierte veraltete Zoten Wedekinds und Schnitzlers [...], Dostojewskynachahmungen dritter Verspülung und Whitmannachahmungen zehnten Aufgusses“,202 der Nobelpreis: der „Literaturmaskenball der aufgeklärten Provinz“, 203 Wilamowitz-Moellendorffs Übersetzungen: „bare Barbareien“, seine Person und Wirkung: „ein geistiges Unglück“,204 Barlachs Dramen: „Kuriositäten“, Agnes Miegels Balladen: „Effekthaschereien veralteter Mache“, 205 Thomas Manns Werk: „eine Verleugnung der deutschen Würde“,206 Brecht: ein „talentloser Dialogisierer von ödem Radau“.207 In einer unvollendeten Replik auf eine Rezension seiner Schrift Führung durch den Sozialisten Fritz Brügel ist von der „Makulatur literarischer Höhlenbewohner und Wegelagerer“, von „Ignoranten vom Schlage B.’s“, von dessen „ungefährem Schulkladdendeutsch“, „Schulknabenweisheit“ und „Schulknabenglauben“ die Rede208 – die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, man konsultiere etwa Johannes Saltzwedels Sammlung.209 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209

„Schöpferische Restauration“, Reden, S. 232-235 und 241-248. „Intermezzo“ (1910), Prosa I, S. 106. Borchardt an Arthur Eloesser, Mitte April 1921, Briefe 1914-1923, S. 333. „Zwei Preise“ (1929), Prosa IV, S. 252. „Die Wissenschaft des Nicht-Wissenswerten“ (1908), Prosa I, S. 64. „Revolution und Tradition in der Literatur“ (1931), Reden, S. 215. „Der Dichter und die Geschichte“ (1927), Prosa IV, S. 226. „Baccalaureus über Faust“ (1928), Prosa I, S. 417. „Zum Attentätertum in der Literarkritik“ (1938), Prosa VI, S. 347 und 359. Johannes Saltzwedel: „Die üblichen Spiegelfechter.“ Rudolf Borchardts Invektiven. Rotthalmünster 2005. (Titan. Mitteilungen des Rudolf-Borchardts-Archivs 2)

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Da Borchardt die Tradition und sich selbst in eins setzt, ist Kritik an seinen Ansichten stets eine Kritik an ihm selbst, ist andererseits die Verteidigung seiner Ansichten eine Verteidigung seiner bedrohten Person. Borchardts Gegnerschaft ist Selbstverteidigung. So kennt seine Gegnerschaft keine Konzessionen, keine Milde, keine Ironie, keinen Spott: Sie ist immer ernst, offen, unversöhnlich und total. Borchardts Gegnerschaft ist monologisch, sie will keine Antwort, denn sie will mit ihrem Gegenüber endgültig abschließen. So ist Borchardts einziger Brief an George aus dem Jahre 1906 zu lesen: „Ich nehme Urlaub von Ihnen“ heißt es dort und: „Es ist mein erster Brief und mein letzter an Sie, und sieht eine Antwort nicht voraus“; 210 Borchardt schließt damit jeden weiteren Kontakt aus und selbst die „letztversparte Möglichkeit“ eines Verhältnisses auf Distanz schickt er „zu vernichten“ sich an.211 „Vernichten“: Das ist es, was Borchardts Gegnerschaft will, eine Bedrohung des eigenen Selbst für immer wegschaffen. Ein solcher Vernichtungszug ist auch Borchardts Reaktion auf Friedrich Gundolfs Aufsatz „Das Bild Georges“, der neben Ludwig Klages’ Stefan George und Friedrich Wolters’ Herrschaft und Dienst als Negativbeispiel auch Borchardts Rede über Hofmannsthal behandelt. Gundolfs Text ist eine Verteidigung Georges nicht nur gegen Borchardts „Bild“ von George, sondern auch eine Verteidigung gegen Borchardts These, dass Hofmannsthal seinen Vorläufer George übertreffe. Borchardt fehle, so heißt es bei Gundolf, die Fähigkeit der „plastischen darstellung“, er habe „gar kein verhältnis zum Werden“, ihm gehe „ein wesentliches organ ab: das für die wirklichkeit“, seine Darstellung habe „etwas schielendes“.212 Auch Borchardts „eigne produktion“ schont Gundolf nicht; in einer Anmerkung – der einzigen des Textes – heißt es unter anderem im Zusammenhang mit Borchardts Dante-Übertragung, er habe dafür das „stationäre Deutsch der russischen Juden“ gewählt; indes ist Gundolf gewillt, auch Verdienste in Borchardts Darstellung zu würdigen und zu nennen. Dessen Entgegnung, der Aufsatz „Intermezzo“,213 1910 in den Süddeutschen Monatsheften erschienen, übertrifft Gundolfs Bosheiten bei weitem. Borchardt will mit dem „Muckerhäuflein“ 214 des George-Kreises um 210 Borchardt an Stefan George, 14. Januar 1906, Briefe 1895-1906, S. 399. 211 Ebd., S. 401. 212 Friedrich Gundolf: „Das Bild Georges.“ In: Jahrbuch für die geistige Bewegung. Hrsg. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. 1. Jg. 1910, S. 19-48, hier S. 30-33 passim. 213 „Intermezzo“, Prosa I, S. 105-138. Eine erste, unmittelbare Reaktion stellt die „Erklärung“ dar, Lord und Bettler, S. 153-157. Zur Auseinandersetzung zwischen Borchardt und den Mitgliedern des George-Kreises, besonders in sprachlicher Hinsicht, vgl. das Kapitel „Fälschungsvorwürfe“ in: Hans Peter Althaus: Mauscheln. Ein Wort als Waffe. Berlin 2002, S. 109-126. 214 „Intermezzo“, Prosa I, S. 106.

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Wolfskehl und Gundolf – den Borchardt beharrlich bei seinem eigentlichen Namen „Gundelfinger“ nennt – abrechnen, es entsteht dabei ein Meisterwerk aggressiver Kritik. Die Vernichtung des feindlichen George-Kreises ist in diesem Text tatsächlich vollständig: dichterisch (die Texte seien „immer pauvrerer Quark“ 215 ), moralisch (es fehle „geistige Rechtschaffenheit“216), intellektuell und wissenschaftlich („Wer auf einem Beine stehend in wenig Jahren zwei Wälzer über Shakespeare und Goethe improvisiert, hat uns nichts zu lehren“217) und sexuell („Ihr habt den schlaffsten und flausten, den weibischen Mann“218). Borchardt gelingt es, seine Gegnerschaft und ihr kreatives Potential dichterisch und wissenschaftlich nutzbar zu machen. Schon der „Intermezzo“-Aufsatz zeigt, wie Borchardts Gegnerschaft ihn zu einer langen und originellen, bei aller Heftigkeit durchaus auch hellsichtigen und klugen Kritik inspiriert. 219 Gegnerschaft ist Borchardt Impuls nicht nur zu kritischer Arbeit. Gegner sind dann Werke, die von den eigenen übertroffen werden sollen. Dies gilt vor allem für Borchardts Übersetzungen – man denke an Borchardts Ausfälle gegen die Übersetzungen Dantes von Otto Hauser220 oder gegen die von Wilamowitz im „Gespräch über Formen“.221 Auch Borchardts Anthologien wie die großen wissenschaftlichen Arbeiten – die Interpretationen von Dante, Homer und anderen – beziehen ihre kreative Energie aus dem Willen zum Übertreffen oder Richtigstellen früherer, vermeintlich schlechter oder falscher Versuche. Die Gegnerschaft erzwingt durch die Absetzung von anderen Meinungen die Originalität der eigenen. Borchardts Gegnerschaft ist wie das eigene Werk vielfältig und umfaßt zahlreiche Bereiche. Als Gelehrter ist er – siehe oben – gegen den Verfall der Bildungsinstitutionen und für ein Wiederanknüpfen an die romantischen Bildungsideale, als Philologe ist er gegen die Vulgarisierung in seinem Fach222 und für ein Wiederanknüpfen an die Verdienste der deutschen Philologie im 19. Jahrhundert. Als Politiker – seine 215 216 217 218 219 220 221 222

Ebd., S. 108. Ebd., S. 105. Ebd., S. 115. Ebd., S. 136. Vgl. auch Borchardt an seinen Bruder Ernst, 13. Oktober 1908, wo er Gundolf einen „dummdreisten Castraten“ nennt (Briefe 1907-1913, S. 184). Ein ähnlich furioser Angriff ist der auf den Münchner Hygieniker Max Ritter von Gruber: „Ansprüche der Betriebstechnik auf Revision der Geschichte der deutschen Philosophie“ (1924), jetzt in: Prosa I, S. 327-342. Im „Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 12 und in „Dante und deutscher Dante“ (1908), Prosa II, S. 354-388. „[A]rm, leer und ungebildet“ (Prosa I, S. 12). „[W]o ist das Niveau so grauenhaft rapid gesunken, wo hat sich die Geste so jäh vulgarisiert, als in der klassischen Philologie seit 1870“ („Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 17).

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I. Grundlagen der Anthologien

politischen Schriften füllen einen ganzen Band der Werkausgabe – ist Borchardt gegen die Weimarer Republik, gegen die Naziherrschaft und für eine Monarchie nach den Idealen des Mittelalters; als Dichter gegen „das ganze Geschlecht grimassierender Windbeutel um uns her“,223 gegen eine Dichtung ohne „Vorbilder, ohne Scham“, ohne Form, Strenge, Gattung und Reinheit,224 von der er seine Zeit dominiert sieht, und für eine Dichtung nach dem Muster der von ihm kanonisierten Dichter und Werke und die an alte Formen wiederanknüpfende Georges oder Hofmannsthals; als Dramatiker gegen das Theater seiner Zeit, das sich Finanzdruck, Zeitgeist und Kino beugt,225 und für das „welthaltige“ Theater Max Reinhardts und Hofmannsthals; als Übersetzer gegen die blutleeren Übersetzungen à la Wilamowitz, deren „Stillosigkeit“ sie „von Beachtung und Beurteilung ausschließt“,226 und für eine Übersetzung nach älteren und seltenen Mustern,227 als publizierender Dichter schließlich gegen das „deutsche VerlagsBuchhandlungs- Zeitungs- Rezensionen- Publikumswesen“ 228 überhaupt. Wie noch zu zeigen sein wird, sind nicht zuletzt auch Borchardts Anthologien Dokumente einer solchen Gegnerschaft.

223 224 225 226 227

„Intermezzo“, Prosa I, S. 124f. Vgl. „Rede über Hofmannsthal“, Reden, S. 56. Vgl. etwa „An Max Reinhardt“, Prosa I, S. 475-477. „Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 12. Borchardt erwähnt im „Gespräch über Formen“ die „metrischen Stücke in Herman Grimms Ilias, Ödipus und Antigone von Hölderlin; die Alkestisszenen von Hofmannsthal; mit großen Beschränkungen das eine und das andere aus Stolbergs griechischen Gedichten und Bürgers Versuch eines Homers im Blankvers [...]. Aber auch alles, was Wieland übersetzt hat.“ (Prosa I, S. 44) 228 Borchardt an Schröder, 21. Mai 1922 (nicht abgesandt), Briefwechsel 1919-1945, S. 62.

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3. Systematisierung des Kanons: Poesie und Ewigkeit a) Der Dichter und sein „Centrum“ Als der Industrielle, Kunsthistoriker und Mäzen Eberhard Freiherr von Bodenhausen-Degener am 6. Mai 1918 knapp fünfzigjährig überraschend stirbt, hält Borchardt sechs Tage später die Grabrede. Darin heißt es: „Den Kampf um die Schalen hat er [Bodenhausen], der immer Siegreiche, auskämpfen können, nicht den um den Kern, darin keinem Menschen zu siegen gegeben ist. Mit jedem neuen Siege wurde Bahn und Raum unermeßlich; je tiefer er zum Kerne drang, um so deutlicher ging der Kampf um den innerlichen Besitz seiner Zeit in etwas wie eine unendliche Funktion über, in das einsame Ringen um den Sinn des Daseins […] Er hatte den Mittelpunkt, den er mit tiefster Treue suchte, nicht gefunden, die Welt, die er, der Faustischste unter allen Wesen seiner Generation, zu schaffen suchte, nicht geschaffen. Sich selbst hatte er unvermerkt geschaffen, er war der Mittelpunkt, den er nicht fand.“229 Für eine Grabrede ist diese Passage ungewöhnlich dunkel. Zunächst fällt daran eine eigenartige Raummetaphorik auf. Von einem „Kern“ bzw. einem „Mittelpunkt“ und von „Schalen“, die diesen Kern umgeben, ist die Rede. Dann wird von einem „Kampf“ um diese „Schalen“ auf dem Weg zu dem „Kern“ gesprochen, dabei würden „Bahn und Raum unermeßlich“ – mit der Verengung zu einem Kern hin ist also eine Ausweitung ins Unendliche verbunden. Der „Kern“ oder „Mittelpunkt“, von dem die Rede ist, bleibt offenbar für den Menschen unerreichbar, auf den Weg dorthin kann er sich aber, kämpfend, machen, er wird dabei „einsam“, und je weiter er gelangt, desto mehr geht es um das Wesentliche, um das eigene „Dasein“, um das eigene Selbst: Am Ende habe Bodenhausen „sich selbst“ gefunden als den „Mittelpunkt, den er nicht fand“. Dies steht offenbar in Zusammenhang mit den „unermeßlich“ werdenden „Bahn und Raum“; die Kenntnis und Schaffung des eigenen Selbst führt in Bereiche, die von „seiner Zeit“ losgelöst, also ewig sind. Der Gedankengang findet sich auch in der zehn Jahre später entstandenen Erzählung „Die Begegnung mit dem Toten“ wieder. Sie ist ebenfalls auf Eberhard von Bodenhausen bezogen und sollte in einem geplanten Gedenkbuch Borchardts Grabrede zur Seite gestellt werden. Die ebenfalls weitgehend 229 „Rede am Grabe Eberhard von Bodenhausens“, Prosa I, S. 183f. Vgl. auch das spätere Gedenkbuch Eberhard von Bodenhausen. Ein Leben für Kunst und Wirtschaft. Hrsg. von Dora Freifrau von Bodenhausen-Degener. Düsseldorf 1955. Borchardts Rede dort S. 359-362.

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dunkle Erzählung kann durch den Vergleich mit der Grabrede wenigstens stellenweise erhellt werden. Hier sagt der Erhard genannte Bodenhausen zum Erzähler: „Der Kern der Sache sind wir selbst.“ Später heißt es von dieser „Gegend“ wie in der Grabrede, man könne in sie „nicht mit Willen kommen“, sondern nur, „wenn etwas in uns ruht, geraten. Dies nannte ich den Kern der Sache.“230 Im Licht dieses Zitats erscheint der „Kampf“ um den „Kern“ überhaupt als aussichtslos, da nur ein willenloses Tun, ein Ruhen einen in den Kern „geraten“ lässt; wohl nicht ohne Grund spricht diese Worte ein Toter. Der Kern, der von Schalen umlagert wird, ist eine zentrale Denkfigur bei Borchardt. So sei der Geist des Menschen und des Dichters, wie es in der Rede „Dichten und Forschen“ heißt, „Ring um Ring und aber um den Ring gelegt, dessen Umfang Menschheit ist und dessen Mitte Gottheit“.231 Von dem dritten Band der „Prosaischen Schriften“ Hofmannsthals, 1917 erschienen, heißt es, er gleiche „einem lebenden Zellorganismus der Natur; ein heiliger Kern, umgeben von seinen nährenden Stoffen“. 232 An anderer Stelle ist von den Wissenschaftlern die Rede, „die tagaus tagein Kern von Schale sonderten ohne zu fragen, ‚ob du Kern oder Schale seist‘ und Goethisch zu antworten: ‚Ist nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?‘“233 Und in der Doppelrede „Die Antike und der deutsche Völkergeist“ (1928) zitiert Borchardt anläßlich der Frage, ob die Antike im Wesen des Deutschen „Kern“ oder „Schale“ sei, noch einmal Goethes Verse, seinem Gegenstand entsprechend das Wort „Natur“ durch „Kultur“ ersetzend: „Und so sag ichs denn zum letzten Male, Kultur hat weder Kern noch Schale, du selber frage dich allermeist, ob du Kern oder Schale seist.“234 Den eben angeführten Zitaten lassen sich noch einmal die wichtigsten Aussagen Borchardts über den „Kern“ entnehmen: Er ist jedem Menschen eigen, im „Herzen“ bzw. in einem nicht näher bezeichneten „Innern“ zu finden, er ist selbst „heilig“ und „göttlich“ und von Schalen um-

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„Die Begegnung mit dem Toten“, Erzählungen, S. 511-520, hier S. 516f. „Dichten und Forschen“, Reden, S. 209. „Hugo von Hofmannsthals Prosaische Schriften“, Prosa I, S. 178-181, hier S. 178. „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 307. „Die Antike und der deutsche Völkergeist“, Reden, S. 285. Borchardt zitiert nach dem Gedächtnis. Im Original heißen die Verse aus „Ultimatum“ von 1822: „Und so sag’ ich zum letzten Male:/ Natur hat weder Kern/ Noch Schale;/ Du prüfe dich nur allermeist,/ Ob du Kern oder Schale seist!“ (Johann Wolfgang Goethe: Gedichte. Dritter Theil. Weimar 1890 [Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 3. Band], S. 106).

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geben,235 die nur menschlich sind. Es ist dies die Vorstellung dessen, der sich selbst als den Träger der Tradition sieht. Es ist dies die Vorstellung, die auch Dantes Comedia, auf deren Übertragung Borchardt fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gewendet hat, durchzieht. Auch Hölle, Purgatorio und Paradies der Comedia sind in Schalen angelegt, besonders im Paradies findet man das Nebeneinander einer sich gleichzeitig weitenden und verengenden Bahn – durch die Himmelssphären von der Erde weg, gleichzeitig dem dreieinigen Gott näher. Auch hier ist das Göttliche nur durch größtmögliche Annäherung zu erreichen, aber nicht zu durchdringen. Im Empyreum des XXXIII. und letzten Gesangs des Paradieses tritt Dante dem „Ewig Licht“ des dreieinigen Gottes gegenüber. Aber die selbstgenügsame, „alleine in aus-dir-lehnen/ allein in um-dich-wissen, selbstdurchdrungen,/ selbstinbewusst“ ruhende Gottheit ist dem menschlichen Verständnis wie dem menschlichen Blick entzogen, denn Dante darf nur ihren Abglanz, „licht zurückgeschlagen“, erschauen.236 Der göttliche „Kern“ – sein „Centrum“ –, um den Borchardts Denken kreist, den er sich im eigenen Körper vorstellt, der aber ebensogut in der denkbar weitesten Entfernung zur Erde gedacht werden kann – er bleibt beide Male gleich unerreichbar –, ist offenbar der Ort, an dem die „metaphysischen Begriffe“237 „Tradition“ oder „Nation“ ihren Sitz haben. Andere solche Begriffe, wie sie sich bei Borchardt finden lassen, sind etwa, je nach Zusammenhang, „Poesie“, „Dichtung“, „Menschheit“, „Europa“, „Deutschland“, „Reich“, „Volk“, „Leben“ oder „Natur“; allgemeiner noch erscheinen sie als „Geheimnis“,238 „Heiliges“239 oder eben „Göttliches“. 240 Der Begriff des „Göttlichen“ bleibt unbestimmt, erscheint als Neutrum ebenso wie als Maskulinum, im Singular (der „unbekannte Gott“241) wie im Plural („die Götter“242), aber auch in Form der Gesandten einer höheren Macht, etwa den Musen. Da die Gestalt des Göttlichen

235 Vgl. das Bild von „Centrum“ und „Peripherie“ im Brief an Herbert Steiner, S. 5f. dieser Arbeit. 236 Rudolf Borchardt: Dantes Comedia Deutsch. Hrsg. von Marie Luise Borchardt, Ernst Zinn und Ulrich Ott. Stuttgart 1967, Paradies XXXIII, V. 121ff., S. 466f. 237 „Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht“, Prosa IV, S. 337, vgl. S. 29 dieser Arbeit. 238 Vgl. Borchardts Rede „Das Geheimnis der Poesie“ (1930), Reden, S. 123-139. Vgl. auch die Interpretation und Kontextualisierung dieser Rede von Frieder von Ammon: „Über das Gegenteil sprechen. Berlin 1930: Rudolf Borchardts Rede ‚Das Geheimnis der Poesie‘ im Kontext.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 161-181. 239 Etwa in „Vergil“, Reden, S. 256. 240 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 205. 241 „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 32; „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 283. 242 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 255.

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jenseits der menschlichen Vorstellungskraft ist, muß sie „in Ewigkeit“243 ein Geheimnis bleiben. Als „Dienst“244 an dieser Idee des Göttlichen sieht Borchardt die Arbeit der „Selbstbildung“, denn wie bei Nietzsche dienen auch bei Borchardt die „wahren Bildungshungrigen [...] etwas Überzeitlichem“.245 Als ein solcher „Dienst“ lässt sich sein ganzes Schaffen, lassen sich die Idee der „Schöpferischen Restauration“, seine theoretischen Schriften, sein politisches Engagement, seine Dichtungen, seine Übertragungen wie seine Anthologien, sogar die Arbeit des „leidenschaftlichen Gärtners“ verstehen. Außer dem Weg durch die Schalen des Menschseins im eigenen Körper oder der Fahrt durch die Himmelssphären hinauf ins Empyreum gibt es in Borchardts Denken noch eine weitere Möglichkeit, sich der Gottheit zu nähern: die Heraufbeschwörung der unerreichbaren Vergangenheit eines Goldenen Zeitalters. Der Mensch sei in diesem paradiesischen Urzustand dem Göttlichen weitmöglichst angenähert, sowohl Mensch und Gott als auch die Menschen untereinander und ihre Umgebung seien miteinander im Einklang gewesen; dies sei der Zustand, der des Menschen wahre „Menschheit“ bedeute, hier nur habe er „sein Zentrum in sich selbst“246 gehabt. Die Sprache des Menschen im Urzustand seiner Göttlichkeit sei die Poesie, die „Muttersprache des Menschengeschlechts“ gewesen. Da die Poesie so immer an Jenseitiges rührt, ist sie stets religiös. Im Laufe der Zeit sei das Bewußtsein für die menschliche Göttlichkeit jedoch verloren gegangen. Es sei der Dichter gewesen, in dem sich zunächst die menschliche Göttlichkeit noch erhalten habe, der poeta vates, der den Dichter und Priester in sich vereinigte. Zu Borchardts Zeit, da sich schon lange auch der Priester vom Dichter gelöst habe,247 sei die Poesie als „das einzige Phänomen der Urmenschheit, das noch unter uns [...] einherschreitet“, 248 übriggeblieben. Da sie allein an den paradiesischen Zustand des Einvernehmens zwischen Mensch und Gott erinnern könne, handle sie stets von dieser eigentlichen Menschlichkeit, also – Borchardts 243 244 245 246

„Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 123. „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 239. Friedrich Nietzsche: „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ a.a.O., S. 729. Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente. Band 2: 1798-1801. Hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn 1988, S. 226. 247 Vgl. Novalis: „Dichter und Priester waren im Anfang Eins, und nur spätere Zeiten haben sie getrennt. Der ächte Dichter ist aber immer Priester, so wie der ächte Priester immer Dichter geblieben – und sollte nicht die Zukunft den alten Zustand der Dinge wieder herbeyführen?“, Das philosophische Werk I. Hrsg. von Richard Samuel. Stuttgart 1960 (Schriften. Zweiter Band), S. 444f. 248 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 253.

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Beispiel ist ganz unbescheiden der eigene Joram – von „Ihnen und mir“,249 sie ermögliche als Relikt aus dem Goldenen Zeitalter wenigstens eine vorübergehende „Heimkehr ins Menschliche“.250 So komme der Poesie – und mit ihr dem Dichter – eine Mittlerfunktion zu zwischen Mensch und Gott. Als solche schlage sie eine „Brücke zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen“.251 Für den Menschen sei der Dichter eine „Transmission zu Gott“ 252 und die Poesie, wie es bei Hamann heißt, die Übersetzung „aus einer Engelsprache in eine Menschensprache“253 oder, wie Borchardt es nennt: die Zurüstung eines „incomprehensablen“ Göttlichen für die „Welt der Praxis, der Wahrscheinlichkeit, des Intellektes, der Kausalität“,254 Umwandlung eines Geistes in „Fleisch“.255 Der Dichter könne das Göttliche nur auf irdische Weise für irdisches Verständnis darstellen, denn das eigentlich Göttliche müsse dem Menschen doch verborgen bleiben; Dichter und Poesie setzten lediglich die „letzten Grenzen“ vor „dem Unerforschlichen“.256 Hier wird noch einmal deutlich, was Borchardt meint, wenn er „Form“ sagt.257 Was der Dichter dichtet, ist die Zurüstung einer jenseitig vollkommenen Form für das Diesseits, seine Aufgabe ist die „Gewahrung des geheimen Innern im Äußern durch schaffendes Auge, Bannung des Gewahrten in den Zauber des geweihten Lautes, Verewigung des Gebannten in der heiligen Formel der Vätersprache.“ 258 „Form“ ist die göttliche Ordnung, gespiegelt in menschenmöglicher Darstellung. Das Göttliche ist ewig, der Dichter steht vermittelnd zwischen ihm und der Welt. Seine Poesie ist „nicht von dieser Welt“,259 seine Sprache

249 „Erbrechte der Dichtung“, Reden, S. 176. 250 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 106. 251 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 285. Bei Herder heißt es, die Poesie stelle „zwo Welten auf Einmal dar“ (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791). In: Herders Sämmtliche Werke. Dreizehnter Band. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1887, S. 196); dieselbe Vorstellung bei Novalis: „Die Menschenwelt ist das gemeinschaftliche Organ der Götter. Die Poesie vereinigt sie wie uns.“ (Novalis: Das philosophische Werk I a.a.O., S. 461) 252 „Erbrechte der Dichtung“, Reden, S. 181. 253 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce a.a.O., S. 199. 254 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 127. 255 Ebd., S. 125. 256 Ebd., S. 139. 257 Vgl. zu Borchardts Formbegriff auch Dieter Burdorf: Poetik der Form a.a.O., S. 449-502; zur „Form“ als „Medium der Selbstkonstitution“ vgl. Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 212. 258 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 194. 259 „Das Geheimnis der Poesie, Reden, S. 134.

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ist, wie die Götter, ewig:260 „Es ist das Vorrecht des Dichters, mit dem Sterblichen nur insoweit zu tun zu haben, als es ein Unsterbliches ist, weil es dem Dichter und nur ihm angeboren ist, in keiner andern Atmosphäre zu gedeihen, als in der Atmosphäre der Unsterblichkeit“.261 Damit steht er zwischen beiden Welten. Hildegard Hummel hat in ihrer Interpretation von Borchardts Versepos „Der ruhende Herakles“ (1913), in dem Borchardt nach eigenen Angaben seinen „Begriff des Halbgöttlichen zu fixieren gesucht“ habe, 262 diesen Zwischenzustand des Dichters näher bestimmt. Sie sieht in Herakles, der als „schöpferischer Mensch“ von den Göttern verstoßen worden sei und von den Menschen gedemütigt werde, eine Darstellung der eigenen Position Borchardts als Dichter.263 Der Verlust der Ureinheit von Mensch und Gott geht einher mit der zunehmenden Entfremdung des Menschen von der ihn umgebenden Natur. In einem kurzen, seinerzeit unveröffentlichten Text aus dem Jahr 1937, „Mensch und Jahr“, beschreibt Borchardt anläßlich des kürzesten Tages des Jahres das menschliche Verhältnis zum Zyklus des Werdens und Vergehens in der Natur.264 Dieser Zyklus sei tragisch, denn er handele von Leben und Tod, dem der Natur, aber auch dem des Menschen: „Unter dem alljährlichen Schema des Erdenrhythmus von Ausleben und Wiedergeburt fühlen wir den uns zugemessenen [...] Tod und Geburt.“265 Der Mensch jedoch habe sich diesen Rhythmus „abgewöhnt“,266 er habe sich nicht nur mit dem beliebigen Fortzählen des Kalenders eine scheinbare Unendlichkeit geschaffen, sondern auch sein Leben vom Wechsel der Jahreszeiten unabhängig gemacht. Das Extrem dieses naturfernen Daseins sei das Leben der Großstadt, in der der göttliche Rhythmus der Natur durch „das Schütteln und Schwanken der uns bewegenden Maschinen“267 ersetzt sei und die Borchardt in allem den negativen Gegenpart zum Idealzustand liefert: zur Form die Formlosigkeit, zur Tiefe die Oberfläche, zur Religion den Positivismus und Materialismus, zum Menschen den Arbeiter und zum Ewigen das Schnellebig-Vergängliche.

260 Vgl. zu Borchardts Vergöttlichung der Poesie auch Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 27-36. 261 „Erbrechte der Dichtung“, Reden, S. 177. 262 Borchardt an Hofmannsthal, 30. November 1913, Briefwechsel, S. 153. 263 Hildegard Hummel: Rudolf Borchardt. Interpretationen zu seiner Lyrik a.a.O., S. 176-185. 264 Vgl. auch Borchardts Gedichte „Kürzester Tag“ (1901), Gedichte, S. 108 und „Rund ums Jahr“ (1928), ebd., S. 317f. 265 „Mensch und Jahr“, Prosa VI, S. 346. 266 Ebd., S. 344. 267 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 213.

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Es sei nun die Aufgabe der göttlichen Poesie und der „unbegrenzten Ahnung“ des Dichters, 268 den Menschen daran zu erinnern, daß er die „Zeit im Blut“269 habe und daß hinter dem irdischen Zyklus von Leben und Tod die göttliche Ewigkeit stehe. In Borchardts Rede „Das Geheimnis der Poesie“ heißt es dazu, es sei „ein mechanistischer Irrtum zu glauben, der dichterische Mensch drücke die zufällige Welt seiner irdischen Umgebung aus und sei als Dichter in naturnahen Epochen naturnah, in naturfremden notwendigerweise naturfremd. Er drückt überhaupt dem organischen gegenüber nichts aus als Leben und Tod, Leben als das Reich des Sterblichen und daher tragisch, Tod als das Reich des unsterblich wiederkehrenden Lebens und daher verklärt, den Frühling als das Versprechen, den Sommer als das Herbstgeweihte, den Winter als die Hoffnung, Mond und Nachtigall nicht weil sie da sind, sondern weil sie vergänglich sind und dennoch ewig wiederkehren, das Menschenherz in seinem zyklisch tragischen Umlaufe, die seelische Welt als den erhabenen Raum göttlicher Pulse.“270 Die Poesie überwindet den Zyklus und schafft das Ewige und Göttliche dahinter.271 Es ist nicht zu übersehen, daß Borchardt vieles an seiner Vorstellung von der Göttlichkeit der Poesie von Herder, Schiller und den Romantikern übernommen hat. Borchardt kannte Ricarda Huchs zweibändiges Werk über die deutsche Romantik.272 Huchs Arbeit steht am Beginn sowohl der dichterischen wie auch der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Romantik um 1900, die sich in den folgenden Jahrzehnten immer weiter ausdehnen wird.273 Den Kapiteln „Romantische Philosophie“ und „Die neue Religion“ im ersten sowie „Romantische Weltanschauung“, „Neue Wissenschaften“ und „Die Kunst des Unendlichen“ im zweiten 268 269 270 271

„Rede über Hofmannsthal“, Reden, S. 76. „Mensch und Jahr“, Prosa VI, S. 344. „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 135f. Vgl. Alexander Kissler: „‚Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht.‘ Individuum und Geschichte in den Reden und Essays Rudolf Borchardts.“ In: Weimarer Beiträge. 45. Jg. 1999, Heft 2, S. 218-239, hier S. 230-230. 272 Ricarda Huch: Blüthezeit der Romantik. Leipzig 1899 und Ausbreitung und Verfall der Romantik. Leipzig 1902; Borchardt kannte auch Huchs Romane, vgl. Borchardt an Deneke, 1. April 1900, Briefe 1895-1906, S. 97, wo die Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren (1893) erwähnt werden, und die „Erinnerungen an Rudolf Borchardt“ von Dora Zeitler, wo Vita Somnium Breve (1903) und eine Zahnbürste Borchardts einziges Gepäck ausmachen (Roland Stark: „Solange quäl ich mich damit, es ist ein Martyrium“ a.a.O., S. 38). 273 1926, zu der Zeit, da Borchardts Anthologien erscheinen, stellt Julius Petersen fest, daß „die heutige Literaturgeschichte beinahe mit Romantikforschung gleichgesetzt werden kann“. Auch der Titel seines Buchs verdeutlicht diesen Zusammenhang: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Leipzig 1926, S. 2.

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Band hat Borchardt zweifellos manches für sein eigenes Denken entnommen, mehr jedoch von den dort behandelten Dichtern und Denkern selbst. Mit diesen teilt er jene „Sehnsucht“, die einerseits in einem vorantikischen Urzustand, andererseits im Einklang mit der Natur bzw. in beidem ein ideales Leben erhofft, wie sie auch in den von Borchardt in seine Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie aufgenommenen Gedichten jener Zeit zum Ausdruck kommt; in Schillers „Fabelland“ der „Götter Griechenlands“274 oder in Hölderlins „Der Neckar“275 ist das Ideal die Antike, in Friedrich Schlegels „Im Walde“,276 Tiecks „Ruf der Romantik“277 und den Gedichten Eichendorffs die Einheit von Mensch und beseelter Natur. Allerdings sind sich die Theoretiker um 1800 über die Unmöglichkeit einer Erfüllung dieser Sehnsucht im Sinne einer Wiederkehr des wie auch immer gearteten unschuldigen Urzustandes bewußt. Sowohl Herder mit seiner Idee einer „Kette der Bildung“, die ein „progressives Ganzes von Einem Ursprunge in Einer großen Haushaltung“ sein solle, 278 als auch Schiller in seiner Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ gehen von einer linearen Entwicklung aus, und Schillers Satz „Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen“279 setzt ein triadisches Geschichtsmodell voraus, bei dem die Zukunft eben nicht eine bloße Wiederherstellung vorsieht, sondern eine bewußte Wiederkehr des „naiven“ Zustands auf reflexiver Ebene. Diese Vorstellung einer linearen Entwicklung ist bei Borchardt nicht denkbar, da das Göttliche für ihn „ewig“ ist und daher unveränderlich. Die Menschheit kann diesem Ewigen nahe oder fern sein, zwei Pole, deren Abwechslung Borchardts Bild von der Geschichte bestimmen. 280 Er ordnet die Zeiten nach ihrem „Gehalt an gesteigerter Individualität“.281 Ist dieser hoch, ist die Zeit „menschlicher“, das heißt göttlicher und dem Ursprung näher. Solche Zeiten sind neben der Antike das Mittelalter zwischen 1100 und 1400, das Jahrhundert von 1750 bis 1850 in Deutschland und das englische victorianische Zeitalter. Aber es gibt eben an jedem dieser Zeitalter ein Ungenügen, eine mögliche 274 275 276 277 278

Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 237-243. Ebd., S. 244f. Ebd., S. 335. Ebd., S. 363. Johann Gottfried Herder: „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (1772). In: Herders Sämmtliche Werke. Fünfter Band. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1891, S. 1-156, hier S. 134. Vgl. auch Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit a.a.O., S. 353: „Die Kette der Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet.“ 279 Friedrich Schiller: „Über naive und sentimentalische Dichtung.“ In: Sämtliche Werke. Band V: Erzählungen. Theoretische Schriften. Hrsg. von Wolfgang Riedel. München 2004, S. 695. 280 Vgl. Alexander Kissler: „‚Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht.‘“ a.a.O., S. 228f. 281 Ebd., S. 230.

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weitere Annäherung, ein glücklicheres „Davor“ 282 – man könnte auch sagen ein „Dahinter“ –, das Borchardt immer weiter zurück und am liebsten als „Rückerlebnis [...] bis in den Schöpfungstag hinein und den Lebenshauch aus Gottes Mund“283 sich aneignen will. Dies ist das letzte Ziel, die Sehnsucht von Borchardts „Schöpferischer Restauration“. b) Was den Dichter zum Dichter macht In Borchardts romantischer Konzeption vom Dichter steckt ein Widerspruch. Der Dichter teilt mit allen Menschen sowohl die in Gottnähe verbrachte Vergangenheit eines paradiesähnlichen Goldenen Zeitalters als auch die unergründliche Göttlichkeit des „Kerns“ im eigenen Innern. So heißt es in der Rede „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“: „Das tiefste Dichterische in uns kommt aus der geheimnisvoll geheimnislosen Quelle die wir mit allen teilen, die in jeder menschlichen Brust so entspringt wie jede sichtbare Lymphe des Organismus.“284 Wie seiner eigenen Gottnähe ist jedoch der Mensch auch seinem ursprünglichen Dichtertum entfremdet: „Wir haben es völlig verlernt, daß das Wesen der Sprache an das Geheimnis des Göttlichen in uns, des schöpferischen Ausdrucksverlangens gebunden ist, und bedienen uns der Sprache als eines rein intellektualistischen, durch Übereinkommen regulierbaren Systems von Bezeichnungen. Ich habe mein Leben damit verbracht und werde es damit zu Ende bringen, das Wort als den mir verliehenen Funken des Urschöpfungsaktes, des Ewigen, in mir zu verehren.“ 285 Nicht jeder also unternimmt es bzw. ist in der Lage, es zu unternehmen, wie Borchardt, im Herderschen Sinne auf das „Ewige“ in sich zu lauschen und es durch die „Muttersprache des Menschengeschlechts“, die Poesie, zum Ausdruck zu bringen. Dies erklärt, warum Borchardt in seiner Zeit mit ganz wenigen Ausnahmen keinen anderen Dichter gelten lassen kann. Da die Poesie durch den göttlichen Kern jedem Menschen eingegeben ist, sei sie, wie auch die Kunst des Lesens im Brief an Herbert Steiner, nicht erlernbar. Sie sei eben keine Kunst, wie es die Malerei oder die Bildhauerei sind, da es für sie keine Werkzeuge wie Pinsel und Meißel gebe, ihr auch kein „mitteilbares lehrbares und lernbares Verfahren, eine Tech282 Vgl. Karl Heinz Bohrer: „Rudolf Borchardts Phantasma einer antikischen Vorgeschichte.“ In: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik. Hrsg. von Wolfgang Lange und Norbert Schnitzler. München 2000, S. 47-49. 283 „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts“ (1927), Reden, S. 339. 284 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 118f. 285 „Die Entwertung des Kulturbegriffes“ (1929), Reden, S. 320f.

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nik“286 zugrundeläge, sondern sie entstehe allein durch „ein zweites Gehör, beherrscht von einem zweiten Gesicht“, vollziehe „sich unter dem Walten des Rhythmus“, der „angeboren“ 287 sei. Wahre Poesie hervorzubringen sei der Dichter also nicht begabt – was ja wieder nur die Eignung zur Anwendung einer oberflächlichen Technik bedeuten würde – „sondern vorherbestimmt, ein ungeheurer Unterschied“,288 wie Borchardt in der Rede „Das Geheimnis der Poesie“ betont, in der auch von der „Sendung“ und vom „düsteren Ernst der Schickung“ des Dichters die Rede ist. Der Vorstellung, daß der Dichter zur Poesie vorherbestimmt ist, scheint eine andere zu widersprechen, die in Borchardts Denken eine fast noch bedeutendere Rolle einnimmt: die nämlich, daß sich das Göttliche nicht als verläßliche Größe im Dichter erweist, sondern ihn plötzlich und unerwartet trifft. Auch hier wird die göttliche Macht nicht näher bestimmt: In der Rede „Über den Dichter und das Dichterische“ heißt es, zunächst im Plural, der Dichter werde „von den Göttern besucht“, und im nächsten Satz im Singular: „er wird vom Gotte besessen und beherrscht“. 289 Meist ist es jedoch die Muse, die den Dichter besucht; sie besingt Borchardt schon in dem Gedicht „Meine Muse“.290 Die Muse ist bei Borchardt „keine Allegorie und keine Personifikation [...], sondern ein himmlisches Wesen, ein heiliger Geist, eine Einbläserin oder Wandlerin, ein Göttliches, das einen Menschen, ein Unsterbliches, das einen Sterblichen sich zum Werkzeuge zubereitet“.291 Der Dichter „singt nur, wenn ‚die Muse will‘“, wenn er „gottbesucht, gottbesessen, gottberauscht“292 der Welt enthoben ist. In diesem Zustand ist der Dichter willenlos, er wird völlig zum Werkzeug der höheren Macht: „Er schreibt nicht, er wird ge-

286 287 288 289 290

„Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 124. Ebd., S. 134. Ebd., S. 131. „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 255. Das Gedicht findet sich in Borchardts erster Gedichtsammlung Zehn Gedichte, jetzt in: Rudolf Borchardt: Gedichte II Übertragungen II, S. 80. Zur Muse als Mittlerin zwischen Mensch und Gott in Borchardts lyrischem Werk am Beispiel seiner zweiten Frau Marie Luise und der „Schöpfung aus Liebe“ vgl. Vinzenz Buchheit: „Diotima rediviva. Wandel durch Liebe bei Rudolf Borchardt und Hölderlin.“ In: Euphorion. 99. Jg. 2005, Heft 4, S. 527-544, besonders S. 529-531. 291 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 124f. Vgl. auch die Interpretation von Borchardts Gedicht „Pause“ bei Gerhard Neumann: „Dichter, Herr und Improvisator. Rudolf Borchardt als Redner.“ In Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische a.a.O., S. 7-58, hier S. 55-58. 292 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 257f.

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schrieben. Er will nicht, er ist gewollt. Er könnte nicht, wenn er wollte, auch anders. Er muß, wie er tut.“293 Borchardts Vorstellung von dem von Gott besuchten Dichter und von der dabei im Augenblick entstehenden Poesie entspricht indes kaum seiner eigenen Arbeitsweise. 294 Schon zu Lebzeiten erscheinen einzelne Gedichte und Texte von ihm in verschiedenen Fassungen,295 posthum ist die von Bernhard Fischer besorgte textkritische Ausgabe der Bacchischen Epiphanie 296 das eindrucksvollste Dokument seines Ringens mit Sprache und Form. Die Bacchische Epiphanie entstand in einem Zeitraum von rund zehn Jahren zwischen 1901 und 1912 – veröffentlicht wurde sie erst 1924 in den Vermischten Gedichten – in einer Vielzahl einzelner Fassungen und in einem langen Prozeß von Streichungen, Verschiebungen und Einschüben. Borchardts Arbeitsweise scheint dabei genau die zu sein, die er in polemischer Zuspitzung mehrmals Flaubert vorwirft, den er keinen Dichter nennen mag, sondern einen Handwerker, „der mit kranken, frenetischen, wutgelben Augen dasitzt, um den vollkommenen Satz zu schreiben [...], der über die erste Schicht seines Produktes, nicht den ersten Entwurf, die zweite, dritte, fünfte, zwanzigste legt, lasiert, abschleift, neu malt“.297 Der Widerspruch zu einer Dichtung, die es „in das Gebiet des Unvergänglichen, in die Sphäre der Unsterblichkeit zieht“ und die „nicht, wie der Gnadenlose wähnt, Kunst ist, sondern wie der Begnadigte erfährt, Gunst“,298 ist offensichtlich. Borchardt ist sich dieses Problems schon früh bewußt geworden; bereits in dem Brief an Herbert Steiner, der auch die Lehre vom richtigen Lesen enthält, sieht er die Muse sowohl bei der Inspiration als auch bei der Arbeit danach am Werk: „Gute Verse machen kann nur der, zu dem die Muse kommt, und welche seiner Verse schlecht sind, sagt ihm auch die Muse, nicht die Metrik; sie ist Gewissen des Ohrs wie der Seele, und es lässt sich schärfen, – aber auch wieder nur durch die Muse.“299 Die umfassendste Darstellung seiner Lösung des Problems findet sich in einem Brief 293 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 131. 294 Zum Problem der Vorherbestimmung und Inspiration des Dichters vgl. auch HansJoachim Wierzejewski: Rudolf Borchardts Auffassung von der Dichtung (unter besonderer Berücksichtigung seines Dantebilds). Diss. Duisburg 1964, S. 47-56. 295 Vgl. exemplarisch Ernst Osterkamps „Plädoyer für eine kritische Neuausgabe von Rudolf Borchardts Lyrik; zugleich ein Versuch, das ‚Sonett auf sich selbst‘ zu verstehen.“ In: Rudolf Borchardt 1877-1945 a.a.O., S. 249-277. 296 Rudolf Borchardt: Bacchische Epiphanie. Textkritisch hrsg. von Bernhard Fischer. München 1992. (Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, Band 3) 297 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 278. 298 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 222. 299 Borchardt an Herbert Steiner, 31. August 1911, Briefe 1907-1913, S. 374.

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Borchardts an die Dichterin Erika Mitterer vom 18. April 1936. 300 Der Brief antwortet auf einen nicht erhaltenen Brief, in dem Mitterer über mangelnde Inspiration klagt. Borchardt beruhigt sie: Auch wenn „er“ den Dichter „lange nicht besucht“ habe, könne man doch „den Himmlischen nicht pfeifen“. Dennoch gebe es „auch bei den grössten Dichtern ausser den Gedichten die sich selber gemacht haben, Gedichte, und ausserordentliche, die gemacht worden sind“,301 das heißt Gedichte, die ohne Besuch einer göttlichen Macht entstanden sind. Es sei die Poesie eben nicht nur ein „Es geschieht mir“, wie es Mitterer nennt, sondern es sei damit auch eine Arbeit verbunden: „Sie, wir können die Poesie selber so wenig beeinflussen und an ihr künsteln wie der Gärtner an seiner Pflanze, aber den Boden aus dem sie kommt, unser geistiges Ganzes, unser Ausdrucksvermögen, unsere allgemeinen sinnlichen und plastischen und kritischen und wissensmässigen und taktmässigen und denkmässigen Mittel können wir garnicht ständig und unermüdlich genug durcharbeiten, wie der Gärtner seine Erde nicht einen Augenblick in Ruh lassen darf.“302 Was Borchardt dabei im Auge hat, ist die Arbeit der „Selbstbildung“, ist die Tradition. Er verweist auf die Dichter des antiken Griechenlands, die „die gesamte poetische Literatur ihres Volkes“ auswendig können mussten und kannten, genau wie nach ihnen „Milton, Shakespeare, Goethe, Browning“. Die Arbeit mit und an der Tradition sei ebenso wichtig wie die inspirierte Poesie selbst, die ja „ein Stück Überlieferung wenigstens als die Voraussetzung“ sei, „von der aus die individuelle Schöpfung oder Findung sich abschiesst.“303 Für die Arbeit, die ohne den göttlichen Besuch auskommen muß, hat Borchardt den Begriff der „Leidenschaft“, eines der zentralen Worte in seinem Werk. „Leidenschaftlich“ ist der von Gott Besuchte, aber auch der, der „lange nicht besucht“ wurde, ganz dem alltäglichen Sprachgebrauch folgend, bei dem man sowohl (von innen) von Leidenschaft erfüllt als auch (von außen) von ihr befallen sein kann: „unmässige leidenschaftliche Arbeit“ 304 nennt Borchardt schon als Begründung für den Zusammenbruch Anfang 1901, allein im „Eranos-Brief“ kommt das Wort 300 Werner Kraft hat den damals mit anderen – analog zu Wielands bzw. Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“ – als „Briefe an eine junge Dichterin“ 1947/8 in mehreren Zeitschriften (Vgl. Grüninger 2002 Nr. 725-728) bekannt gewordenen Brief eingehend gedeutet, vgl. Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte a.a.O., S. 496-504 passim. 301 Borchardt an Erika Mitterer, 18. April 1936, Briefe 1936-1945, S. 111f. 302 Ebd., S. 113. Über die parallele Arbeit von Dichter und Gärtner wird im letzten Kapitel dieser Arbeit noch zu sprechen sein. 303 Ebd., S. 113f. 304 Borchardt an Margarete Ruer, 26. Mai 1901, Briefe 1895-1906, S. 148.

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fünfmal vor, und noch sein letztes fertiggestelltes Buch heißt Der leidenschaftliche Gärtner. 1939 schreibt Borchardt einen Essay zum hundertsten Geburtstag von Walter Pater, der früh eine seiner Leitfiguren gewesen ist.305 Darin überträgt er eine außergewöhnlich lange Passage, den Schluß der berüchtigten „Conclusion“ von Paters Buch The Renaissance. Studies in Art and Poetry (1873), das seinem Verfasser den Vorwurf einhandelte, durch den angeblichen Aufruf zum Hedonismus darin die Sitten der Jugend verderben zu wollen. Zwar fehlt Paters „Conclusion“ die Borchardtsche Vorstellung eines „Göttlichen“ völlig, dennoch trifft sie sich mit seinem Denken in der Bedeutung, die dem Begriff der „Leidenschaft“ zugemessen wird: „Wir haben eine Frist, und dann kennt unsere Stätte uns nicht mehr. Einige verbringen diese Frist in Unempfindlichkeit, einige mit großen Leidenschaften [high passions] – die weisesten, zumindest unter den ‚Kindern dieser Welt‘, mit Kunst und dem Sänger [the song]. Denn unsere Freiheit liegt in der Auspressung der Frist, in der Durchpulsung zugemessener Zeit mit so viel Herzschlägen wie immer tunlich. Große Leidenschaften mögen unser Lebensgefühl befeuern, der Rausch und der Schmerz der Liebe, die mannigfaltigen Formen begeisterter Tätigkeit, selbstloser oder welcher immer – die so vielen von uns natürlich zukommen. Nur darauf, daß es Leidenschaft sei, bestehe Du […]. Um diese Weisheit ist die dichterische Leidenschaft, der unstillbare Durst nach Schönheit, die Liebe zur Kunst um der Kunst willen, am tiefsten erfahren. Denn die Kunst, die Dir entgegenkommt, nennt sich Dir ganz offen zu nichts berufen, als Deinen Augenblicken die höchste Beschaffenheit zu leihen, – und nur um dieser Augenblicke willen.“306 Paters „Conclusion“ kommt ohne den Besuch der Muse aus, er sieht ihn nicht vor. Sein Konzept ist atheistisch: Die Leidenschaft führt zur Intensivierung des Lebens, seiner Zusammendrängung in „Augenblicke“ von „höchster Beschaffenheit“, weil die „Frist“ des Lebens von unbestimmter, aber kurzer Dauer ist, und die Ewigkeit eines Lebens nach dem 305 Pater sei für seine Generation bald ein „Teil der deutschen Bildungsgeschichte geworden“ geworden, namentlich für Hofmannsthal („Walter Pater. Zu seinem hundertsten Geburtstage, Prosa III, S. 402-422, hier S. 421). Vgl. Martina Lauster: „The Critic’s Critic: Rudolf Borchardt’s Centenary Essay ‚Walter Pater‘ (1939).“ In: The Reception of Walter Pater in Europe. Ed. by Stephen Bann. London 2004, S. 169-186 und Heide Eilert: „‚... daß man über die Künste überhaupt gar nicht reden soll.‘ Zum Kunst-Essay um 1900 und zur PaterRezeption bei Hofmannsthal, Rilke und Borchardt.“ In: Jugendstil und Kulturkritik a.a.O., S. 51-72. 306 „Walter Pater“, Prosa III, S. 410f. Die englischen Originalstellen nach Walter Pater: The Renaissance. Studies in Art and Poetry. Oxford 1986, S. 153. Vgl. zum Begriff der „Leidenschaft“ auch S. 302 dieser Arbeit.

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Tod fragwürdig geworden ist. Bei Borchardt dient die Intensivierung des Lebens dazu, diese Ewigkeit des Göttlichen zu spiegeln und irdischen Verhältnissen erträglich zu machen. Die Kunst dient bei beiden der Erfahrung des Lebens in seiner intensivsten Form, gegen die Endlichkeit bei Pater oder stellvertretend für die Ewigkeit bei Borchardt. Es ist nicht verwunderlich, daß Borchardt am Ende seines Aufsatzes über Walter Pater den Vorwürfen des Hedonismus auf seine Art begegnet, indem er hervorhebt, „wie viel der hohe Engländer dazu beigetragen hat, uns zu spannen, uns zu reinigen, zu vereinheitlichen, zu erglühen und allerdings auch zu zwingen. Denn durch ihn vor allem ist unserem formflüchtigen Volk die Form wieder zu einer Ordnung des Innern geworden“. 307 Unklar bleibt auch hier, wer mit dem „uns“ gemeint ist, Borchardts Generation, die Deutschen allgemein, oder „Ich“. Wichtig ist Borchardt, daß auch hier die Kraft der Leidenschaft in eine „Form“ gebannt wird, es geht ihm wie stets um eine „Ordnung des Innern“, die ihre Entsprechung in der jenseitigen vollkommenen Ordnung des Göttlichen hat. c) Poesie und Religion Borchardt weist dem Dichter ausdrücklich eine religiöse Rolle unter den Menschen zu, er beansprucht sie auch für sich selbst; diese habe er in den verlorenen Urzeiten als poeta vates schon gehabt und habe sie als Mittler zwischen dem Göttlichen und den Menschen noch immer. Allerdings bleibt das Göttliche dabei durchaus unbestimmt, kann das Religiöse, von dem Borchardt spricht, keiner bereits existierenden Religion zugeordnet werden. Zwar ist Borchardt Jude durch Geburt, aber es gibt bei ihm keine Hinweise auf ein praktiziertes Judentum oder irgendein Interesse an jüdischem Leben. Im Gegenteil: Er lehnt es ab, ein Jude genannt zu werden und mit dem Judentum allgemein in Verbindung gebracht zu werden: „Jede Überlieferung jüdischer Art im Guten und Befeindeten, jedes Gefühl jüdischer Geschlossenheit oder gar jüdischen Volkstums ist mir nicht nur fremd, sondern, wo es mir später je entgegentrat, unheimlich und grauenhaft gewesen“,308 wie er an Max Brod schreibt. Als Willy Haas ihn in der Literarischen Welt als Juden anredet und ihn den „interessantesten, sensibelsten, stilistisch glänzendsten ‚Restaurator des deutschen klassischen, humanistischen Geistesgutes‘“ nennt, um dann ganz allgemein 307 „Walter Pater“, Prosa III, S. 422. 308 Borchardt an Max Brod, 19. November 1931, Briefe 1931-1935, S. 93f.

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kulturelle Leistungen anderer Juden anzusprechen, 309 reagiert Borchardt überaus heftig mit dem „Offenen Brief an den Herausgeber des Ring“ und besteht auf seiner eigenen, selbsterarbeiteten Tradition: „Weder die Juden, noch die Antisemiten, die mich für sich in Anspruch zu nehmen wünschen oder sich für die Ignorierungen, die sie erfahren, in der bei uns alltäglichen Form gemeiner Schmähungen rächen, können die Festigkeit, mit der ich den Weg meiner Überlieferungen verfolge, umstimmen oder einschüchtern“.310 Gleichzeitig lehnt er die Vorstellung einer Religion ab, die sich über ihre Rasse definiert: Für ihn sind die Juden ein Volk nicht durch ihre rassische Zusammengehörigkeit, sondern allein durch das sie einende Ewige, „das ein Volk zum Volke macht, Idee und Tradition“. – „Nichts als Tradition und Bildungsgeschichte also und immer wieder Bildungsgeschichte und Tradition formen diesen letzten unter uns lebendigen Rest des antiken Völkergemisches zu jener Einheit.“311 Borchardt hat sich entschlossen, einer anderen Idee zu folgen und sich eine andere Tradition anzueignen – daher ist er nach seinen Begriffen kein Jude. Dennoch ist Borchardts Verhältnis zum Judentum nicht so eindeutig ablehnend, wie es in seinen Selbstaussagen erscheint; spätestens als ihn der Nationalsozialismus zu einem Juden macht, ob er will oder nicht, muß er sich mit dem Judentum auseinandersetzen.312 Davon abgesehen ist Borchardt selbst in einem Umfeld aufgewachsen, dessen Entstehung George L. Mosse in seinem Buch Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus nachgezeichnet hat: Die Assimilation der Juden an das deutsche Bildungsgut, die Aufgabe der jüdischen Identität zugunsten eines „deutschen Selbstverständnisses“313 und des deutschen Bildungskanons war mit der Konversion der Ahnen, die Borchardt zwar an den Anfang des 309 Die Passage aus Willy Haas’ Artikel „Vom Tage für den Tag“ vom 15. Juni 1928 zitiert nach den Anmerkungen zu „Brief an den Herausgeber des ‚Ring‘“, Prosa VI, S. 571. Vgl. auch Haas’ früheren Aufsatz „Zur dichterischen Morphologie des Selbsthasses (Der Fall Borchardt)“ (1922). In: Das Spiel mit dem Feuer. Berlin 1923, S. 138-147. 310 „Brief an den Herausgeber des ‚Ring’“, Prosa VI, S. 177. 311 Ebd., S. 180f. 312 Zu Borchardts Judentum vgl. Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte a.a.O., S. 34-44, Friedmar Apel: „Jüdischer Selbsthaß. Rudolf Borchardts ‚Buch Joram‘ und die Aporien eines Begriffes.“ In: Literatur und Demokratie. Festschrift für Hartmut Steinecke zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Alo Allkemper und Norbert Otto Eke. Berlin 2000, S. 161-168; Alexander Kissler: Wo bin ich denn behaust? a.a.O., S. 78-110; Kai Kauffmann: „‚Ein so stummes wie unerschöpfliches Bildungsproblem.‘ Rudolf Borchardt zwischen jüdischer Familienherkunft und deutscher Kulturmission.“ In: Das wilde Fleisch der Zeit a.a.O., S. 83128; Alexander Kissler: „‚Ein fremdes Blut in deinen Adern.‘ Rudolf Borchardt und das Judentum.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 25-35. 313 George L. Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Frankfurt/M. 1992, S. 20.

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19. Jahrhunderts vorverlegt, tatsächlich aber erst bei seinen Eltern vor seiner Geburt stattgefunden hat, vollständig vollzogen. Borchardt bezeichnet sich indes wiederholt als „Christ“ 314 und die „Kreuznahme“ seiner Königsberger jüdischen Vorfahren als eine kulturelle Leistung, 315 aber auch mit seinem Christentum verhält es sich nicht anders als mit seinem Judentum. Ihm ist es weniger durch seinen Gehalt als durch seine Tradition und als Träger von Poesie von Bedeutung; die deutsche Poesie habe nichts damit zu tun, „was in den Kirchen der christlichen Bekenntnisse gelehrt wird“, denn: „Christlich ist der Geist der deutschen Poesie darum, weil das Christentum der Geist der deutschen Geschichte ist, weil die Entwicklung des Seelen- und Geistesgehaltes der abendländischen Religion im deutschen Volke trotz allen täuschenden Anscheins noch nicht annähernd abgeschlossen ist und es unmöglich ist, daß sie in neue Phasen der Herrschaft über die Seele des Volkes tritt, ohne nicht gleichzeitig sich seiner Poesie wieder zu bemächtigen.“316 Nicht die Offenbarung des Christentums, sondern der kulturelle Raum, den es geschaffen hat, ist für Borchardt relevant. Er ist kein christlicher Dichter wie sein Freund Schröder, dessen christlichem Werk Borchardt fremd gegenübersteht.317 Borchardts Religion ist weder christlich noch jüdisch, sie ist eine Religion der Tradition, 318 der „heiligen Überlieferung“, 319 in der die Kultur „sakramentalen Charakter“320 hat: eine Religion der Poesie. Wie Novalis, bei dem es heißt: „Bey den Alten war die Religion schon gewissermaßen das, was sie bey uns werden soll – practische Poesie“,321 kann auch Borchardt nur im Sinne dieses Ideals und seiner Tradition die etablierten Religionen rechtfertigen und gelten lassen. Sein „Dienst“ an der Tradition ist im romantischen Sinne indes durchaus religiös, zeigt sich doch darin nach Schleiermachers berühmter Formulierung ein „Sinn und Geschmack fürs 314 Etwa im Brief Borchardts an Max Brod vom 19. November 1931, Briefe 1931-1935, S. 94. Vgl. zu Borchardts Christentum auch Werner Kraft: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 55-61. 315 Zu dieser „Kreuznahme“ als Konstrukt vgl. Kauffmann: Rudolf Borchardt und „Der Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 1-4 und Jürgen Manthey: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München 2005, S. 597-600. 316 „Dichtung und Christentum“, Prosa IV, S. 205. 317 Zwar lobt Borchardt gegenüber Schröder wenigstens acht seiner Gedichte der Sammlung Mitte des Lebens. Geistliche Gedichte (1930), aber die angekündigte „Besprechung“ wird nicht geschrieben, vgl. den nicht abgesandten Brief Borchardts an Schröder, 10. November 1930, Briefwechsel 1919-1945, S. 224-226, und den abgesandten, ebd., S. 226-228. 318 Vgl. J. G. Herder: „Religion ist die älteste und heiligste Tradition der Erde“ (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit a.a.O., S. 387). 319 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 75. 320 „Die Entwertung des Kulturbegriffs“, Reden, S. 315. 321 Novalis: Das philosophische Werk I a.a.O., S. 53f.

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Unendliche“. 322 Die Heiligkeit der Poesie ist „substantiell“, 323 Borchardt kann von seinem Konstrukt einer göttlichen Poesie deshalb schon nicht absehen, weil sie ein integraler Bestandteil seiner Weltsicht ist und der Verleugnung seines göttlichen „Centrums“ gleichkäme. Der Umstand, daß Borchardt auf sich auch die Religiosität der Poesie konzentriert, hat zur Folge, daß diese Religion nur einen Stifter, einen Verkünder, eine Institution hat: ihn selbst. Borchardts Religion ist also auch deshalb nicht christlich, weil sie letztlich auf eine „Selbstheiligung“ hinausläuft.324 Auffällig stilisiert sich Borchardt gar zu einem neuen Christus, 325 wenn in seinen Reden zur Dichtung der Dichter über das „Scheinbild der Vergänglichkeit“ 326 triumphiert, wenn die Erlösung des Menschen, sein „Zurückgenommenwerden an einen göttlichen Busen“327 möglich wird durch des Dichters „Opferung des einen für viele“, 328 ja durch das „Opfer seiner selbst“.329 d) Poesie und Politik Nicht nur den religiösen Künder bezog der Dichter einer paradiesischen Urzeit in Borchardts Vorstellung auf sich, sondern auch die „politische Rede, die Paränese“.330 Borchardt nimmt diese Verantwortung ernst, und in zahlreichen Reden, Zeitungsartikeln und großen Essays – in „Handlungen und Abhandlungen“, wie seine 1928 erschienene Sammlung heißt – versucht er, im Sinne des Ewigen zu wirken.331 Allerdings ist Borchardts 322 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Hamburg 2004, S. 30. 323 Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 33. 324 Alexander Kissler: „Die Welt des Wirklichen‘“ a.a.O., S. 223. Vgl. ebd. auch Kisslers Unterscheidung zwischen einem „messianische[n] Ich“, dessen Ziel die Expansion, und einem „demiurgischen Ich“, dessen Ziel die „reflexiv nicht mehr zu bewältigende Allmacht“ ist. 325 Vgl. Pia-Elisabeth Leuschners Darstellung von Borchardts „Dante-Bild“: „Die ‚Epilegomena I‘ begeben sich in ein Analogie-Verhältnis zu dem wichtigsten Erzählparadigma, das dem Denken des christlichen Abendlandes zugrunde liegt – nämlich der Opferung des Sterblichen an Christus, um der Menschheit ihre Unsterblichkeit zu gewinnen – und vollstrecken es an der historischen Figur Dantes.“ („Rudolf Borchardt als ‚Durante‘ Alighieris. Borchardts Dante-Bild – funktional.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 130-148, hier S. 142) 326 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 221. 327 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 118. 328 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 239. 329 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 118. 330 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 256. 331 Zu Borchardts politischen Schriften sei allgemein auf die grundlegende Arbeit von Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O. verwiesen.

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Unternehmungen in dieser Richtung sehr wenig Wirkung und noch weniger Erfolg beschieden, beides bleibt größtenteils auf einen überschaubaren Kreis von Freunden und Anhängern beschränkt. Phasenweise geht Borchardt nur sehr widerwillig oder gar nicht an die Öffentlichkeit. Zweifellos leidet er unter der geringen Resonanz und oft verweist er daher auf England, in dem der Dichter weitaus besser in das öffentliche Leben des Staates eingebunden sei und durch die „Gnade des Herrschers“332 sogar öffentliche Ämter bekleide. Dennoch: Der Dichter darf sich bei Borchardt eben nicht mit den Problemen der Gegenwart befassen, denn es sind „überhaupt nur eine Vergangenheit und die Zukunft lebendige Zeitkategorien des Menschengeistes [...] und die einzige tote und nulle die Gegenwart“.333 Dieser Forderung nach Enthaltsamkeit im politischen und gesellschaftlichen Tagesgeschäft widersprechen scheinbar Borchardts Schriften und Reden zur Politik, die sich durchaus auch mit tagespolitischen Ereignissen auseinandersetzen. Borchardt rechtfertigt sich in einem Brief an Max Brod: „Ich sehe meine Aufgabe nicht in Teilnahme an der Tagespolitik, aber sie ist, ungestalt und triebhaft wie sie daherkommt, für ihre Deutung auf Meinesgleichen angewiesen.“ 334 Geschehnisse der Tagespolitik können dem Dichter nur Anlässe sein, auf die Göttlichkeit des Herkommens und der Tradition zu verweisen. Dies ist für Borchardt eine der Hauptaufgaben des Dichters, und niemanden hält er dafür für geeigneter als sich selbst, dem Politik „das Centrum meiner Natur [ist], das, von wo aus nach überallhin Wege führen“.335 Trotz seines toskanischen Exils gründet Borchardt sein Engagement auf das „sakramentale Geschenk“ der Zugehörigkeit zum deutschen Volk. Wie das Dichtertum sei auch diese sowohl durch Geburt gegeben als auch durch die Aneignung der Begriffe „Volk“, „Nation“ oder „Reich“ ein Ergebnis der „Selbstbildung“. So hat auch „das deutsche Volk, mit dem ich mich eines fühle und dessen Sprache meine Gedanken, dessen Geschichte meine Seele, dessen Boden meinen Leib aufgebaut hat“,336 seinen Ort in Borchardt selbst, besitzt er „das Volk in sich“,337 und seine Arbeit gilt ihm als Dienst an dem politischen Ideal, das er in sich trägt. 332 333 334 335

„Die deutsche Dichtung im Leben der Nation“, Prosa IV, S. 368. „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 221. Borchardt an Max Brod, 19. November 1931, Briefe 1931-1935, S. 92. Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 25. Oktober 1907, Briefe 1907-1913, S. 193f. Vgl. auch Johannes Saltzwedel: „Archimedische Dichtung. Rudolf Borchardt und das Unzeitgemäße“ a.a.O., S. 70-72. 336 Borchardt an Max Brod, 19. November 1931, Briefe 1931-1935, S. 93. 337 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 228.

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Auch dieses politische Ideal ist göttlichen Ursprungs.338 Die Begriffe, in die es gefaßt wird, wechseln zwischen „Volk“, „Deutschland“, „Preußen“,339 „Nation“ oder „Reich“, aber die „Spiritualität und [...] Geistigkeit des Volkes“,340 seine Göttlichkeit341 sind seine unstrittige Grundlage, der Begriff des „Volkes“ erscheint als „eine göttliche Fiktion, ein heiliges Wesen“, dem man „Majestät, Dichtung, Kunst, Seele, Allgewalt“ zuschreibt. 342 Schon durch die Idealität des politischen Begriffs muß Borchardt das Engagement in der Tagespolitik und dessen Parteien ablehnen – und den Versuchen seiner Zeitgenossen, ihn für die eigene Partei zu vereinnahmen oder ihn der gegnerischen zuzuschlagen, die eigene verkannte und überlegene Überparteilichkeit343 gegenüberstellen. Sein Engagement gilt nicht dem aktuellen politischen System, sondern allein dem Ideal einer höheren Nation. Genauso wie er christliche Poesie nicht anerkennt, lehnt er auch „vaterländische Poesie“ ab, denn „Poesie ist, indem sie und weil sie Poesie ist, latent immer vaterländisch und wird indem sie sich auf das Gemeinsame statt auf das Sonderwesen bezieht, aus der latent vaterländischen eine offenbare.“ 344 Wenn Borchardt also Volk sagt, so meint er damit nicht seine deutschen Zeitgenossen, sondern ein ideales deutsches Volk, das dem von Novalis’ Fragmenten nicht unähnlich ist, wo es heißt: „Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden.“345 Und: „Deutschland ist echte Popularität und darum ein Ideal.“346 Da Borchardt jedoch die Diskrepanz zwischen seinem Ideal und dem Zustand seiner Zeit erkennt, disqualifiziert er in seiner Rede „Schöpferische Restauration“ den Begriff des Volkes zugunsten des Begriffes der „Nation“. Dies sei „kein praktischer und kein Zweckbegriff, dessen Träume in einem Musterstaate gipfeln. Sie ist ein inkommensurables, leidenschaftliches Ganzes, 338 Vgl. Gustav Hillard: „Rudolf Borchardt als metapolitischer Dichter.“ In: Neue Deutsche Hefte. 18. Jg. 1971, Heft 1, S. 26-37. 339 Vgl. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 353436 und Johannes Saltzwedel: „Einblick ins All durch Liebe die es schuf. Rudolf Borchardt, Preuße auf verlorenem Posten.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt XI/2007, S. 11-24. 340 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 111. 341 Zum Zusammenhang von Nation und Religion bei Borchardt vgl. Wolfgang Schuller: „Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt“ a.a.O., S. 19f. 342 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 238. 343 „Es liegt in meiner Natur [...] am Menschen nichts höher zu achten als Unabhängigkeit, und jedes Tun und jedes Wort, das mit Preisgabe der Unabhängigkeit erkauft ist, zu übergehen wie schlechte Gesellschaft“ („Der verlorene Posten“, Prosa VI, S. 207). 344 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 225. Vgl. auch: „Es gibt keine religiöse Poesie, denn Poesie ist immer Religion, wie es keine vaterländische Poesie gibt und geben kann, denn Poesie ist das ganze Vaterland.“ („Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 139) 345 Novalis: Das philosophische Werk I a.a.O., S. 432/3. 346 Ebd., S. 438f.

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das seinen höchsten Begriffen viel mehr als Gehorsam zollen will – unendlichen Glauben, stumme Ehrfurcht.“347 Außer dem Begriff „Nation“ verwendet Borchardt für das Ideal der gottgegebenen deutschen Staatsordnung auch den Begriff des „Reiches“. Zunächst ist das „Sakrament des Reiches“, so der Titel eines Aufsatzes Borchardts aus dem Jahr 1932, eine gottgegebene Ordnung und als solche ein irdisches Abbild der göttlichen Ordnung mit den Kaiser an der Spitze und insgesamt ein „Sinnbild der Menschheit“.348 An dieser monarchischen Ordnung hält Borchardt auch während der Weimarer Republik leidenschaftlich fest.349 Ihr historisches Vorbild ist das Reich der Stauferkaiser, aber auch hierbei geht es weniger um historische Realitäten als um die „Ganzheit“ einer idealen, vorbildlichen Herrschaftsstruktur und ihrer Werte.350 Das „Reich“ ist ihm die übergeordnete Idee, die den Geist über den tatsächlichen Geschäften der Politik darstellt: „der Staat regiert nur, das Reich herrscht“.351 Auf eine Wiederkunft dieses Zustands nach mittelalterlichem Vorbild hofft Borchardt und das Mittel, das diese Wiederkunft herbeiführen kann und soll, ist die Poesie. Ihre „Forderung“ sei, daß der Begriff der Nation „den Geist der deutschen Geschichte und die Geschichte des deutschen Geistes in sich wieder erlebt und wieder erbaut, bewahrt, selber zu einem lebenden Stücke deutscher Geschichte und deutschen Geistes, deutscher Art wird.“352 Sie sei immer „vaterländisch“ und ein Ausdruck von „Glaube an die Heiligkeit und Ewigkeit des Deutschen“.353 Der in der gegenwärtigen Generation aber nur unterirdisch wirksame ewige deutsche Volksgeist könne mit dem gegenwärtigen Publikum nicht wieder in Amt und Würden gesetzt werden, auch hier bleibe man auf die Zukunft verwiesen. Eine „Minderheit, die geheiligte Auslese über dem Pöbel, die Vorform eines neuen Volkes zu der das Morgen ‚Ja‘ sagen kann“,354 die nach Borchardts Vorstellungen gebildet werden solle, könne als eine solche Grundlage für eine zukünftige Wiederkehr des deutschen Volksgeistes dienen. Auch hier kann er sich auf Friedrich Schlegel berufen: „An dem Urbilde der Deutschheit, welches einige große vaterländische Erfinder aufgestellt ha347 „Das Reich als Sakrament“, Prosa V, S. 459. 348 Ebd, S. 460. 349 Vgl. seine Rechtfertigung der Monarchie in „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 232f. 350 Vgl. Borchardts Brief an Schröder vom 13. Juli 1907, Briefwechsel 1901-1918, S. 82f.; vgl. auch Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 87. 351 „Das Reich als Sakrament“, Prosa V, S. 459. 352 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 249. 353 „Die Neue Poesie und die alte Menschheit“, Reden, S. 110. 354 „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“, Reden, S. 396.

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ben, läßt sich nichts tadeln als die falsche Stellung. Diese Deutschheit liegt nicht hinter uns, sondern vor uns.“ 355 Borchardt ist entschlossen, „mit allem was ich habe und vermag, in jeder Form in der ich es vermag, zu jenem nun ins Empyreum entrückten Deutschen zu steuern, das wir schon einmal verkörpert zu haben glaubten und das wieder zurückverkörpert werden muss.“356 Auch diese Vorstellung wird sowohl von der danteschen Metaphorik von um die Erde gelagerten Sphären – „Schalen“ – als auch von der Verkörperung der Tradition – hier des Deutschen – beherrscht. Für Borchardt besteht kein Zweifel: Deutschland ist das auserwählte Land, die Deutschen sind die „Erwählten Gottes“. 357 Borchardt übernimmt dabei weitgehend die Argumentation von Johann Gottlieb Fichte,358 der in seinen Reden an die Deutsche Nation (1807), besonders in der IV. Rede „Hauptverschiedenheit zwischen den deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft“ die Superiorität der Deutschen damit begründet, daß sie die römische Kultur in sich aufgenommen hätten, ohne dabei – wie die romanischen Völker – ihre Sprache aufgegeben zu haben. In ihrer Sprache, dem Deutschen, rede also weiterhin „die menschliche Natur“, 359 seien Bild und Idee ungetrennt, sei wahre Bildung möglich. Derart herausgehoben aus den Völkern Europas sind die Deutschen auch bei Borchardt, hier heißt ihre Leistung „Mischbarkeit“, 360 die – auch in den Anthologien dokumentierte – Fähigkeit, Anregungen aus anderen Kulturen sich einzuverleiben (quasi als eine „Selbstbildung“ des Volkes), ohne dabei das „Ewige“ der eigenen Kultur preiszugeben. Daher liege es an den Deutschen allein, das mit dem Tod der „alten Frömmigkeitsfor-

355 Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Band 1: 1794-1797. Hrsg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn 1988, S. 242. 356 Borchardt an Arthur Eloesser, Mitte April 1921, Briefe 1914-1923, S. 330. Zum Bild der Nation als menschlichem Körper vgl. auch Wolfgang Schuller: „Nation und Nationen bei Rudolf Borchardt“ a.a.O., S. 17f. 357 „Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr“, Prosa V, S. 220. 358 Auf die Kontinuität Fichte – Borchardt, die sich bei diesem durch direkte Namensnennung nicht belegen lässt, verweist auch Gerhard Neumann im Vorwort zu Der Dichter und das Dichterische, „Dichter, Herr und Improvisator. Rudolf Borchardt als Redner“ a.a.O., S. 3941. 359 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Hrsg. von Reinhard Lauth. Hamburg 1978, S. 58. 360 Vgl. Gustav Seibt: „Römisches Deutschland. Ein politisches Motiv bei Rudolf Borchardt und Ernst Kantorowicz.“ In: Sinn und Form. 46. Jg. 1994, Heft 1, S. 61-71, bes. S. 68f. Die Vorstellung der „Mischbarkeit“ als Kennzeichen einer überlegenen Kultur findet sich auch in Borchardts Pisa-Buch und im Garten von Der leidenschaftliche Gärtner.

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men“361 zusammengebrochene Europa wieder aufzurichten. Auch Europa ist nichts weiter als eine „metapolitische Ordnung“,362 eine Idee, die nicht geographisch oder rassisch, sondern allein ideologisch-spirituell zu bestimmen ist, als eine „höchste Gemeinbürgschaft für ein heiliges Gut“. 363 Nach Borchardt ist Europa „bis auf geringe Reste kein aktueller Begriff mehr, sondern ein historischer. Und, ich darf das stolze und entscheidende Wort hinzufügen, nur der Deutsche besitzt ihn, ja, es ist deutsch, ihn zu besitzen, und nur wer ihn besitzt, ist wahrhaft deutsch.“364 Und: „Das Gefühl der Verantwortung für Europa besitzen wir allein.“365 Zu der Tatsache, als einzige das neue – ideale – Europa konzipieren zu können,366 prädestiniere die Deutschen auch der Umstand, daß „Staaten zu bauen“ als „die Form, die alle ihren Gehalt und Bestand unter sich“ ordne, „eine der tiefsten und auszeichnendsten Anlagen des Deutschen“ sei.367 Ein wichtiges Vorbild für Borchardts Bild von Europa ist – ohne daß er dessen Hoffnung auf die Jesuiten teilen würde – Novalis’ Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ (1799), in dem die Begriffe „Europa“ und „Christenheit“ zu „einer heiligen Ureinheit“ 368 verschmolzen werden. Wichtigste Gemeinsamkeit beider ist die Bedeutung einer einenden Macht, die bei Novalis die Christenheit, bei Borchardt jedoch, ohne daß er das Christentum völlig ablehnen würde, die Deutschen sind – die wiederum bei der „Neuorganisation des Erdteiles“369 nur auf den Dichter, Borchardt

361 „Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs“ (1917), Prosa V, S. 325-334, hier S. 325. Die Notizen Borchardts bilden den ersten Teil von Hofmannsthals Rede „Die Idee Europas“ (1917), Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze II: 19141924. Frankfurt/M. 1979, S. 43-54. 362 Gustav Hillard: „Rudolf Borchardt als metapolitischer Dichter“ a.a.O., S. 33. 363 „Der europäische Begriff“, Prosa V, S. 326. 364 „Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr“, Prosa V, S. 255. 365 „Der Krieg und die deutsche Verantwortung“, Prosa V, S. 309. 366 Vgl. auch Gregor Streim: „Deutscher Geist und europäische Kultur. Die ‚europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz.“ In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. 46. Jg. 1996, S. 174-197, hier S. 178. Auch Streim verweist auf Fichte. 367 „Das Reich als Sakrament“, Prosa V, S. 455. 368 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 237; Borchardt erwähnt Novalis’ Aufsatz außerdem in der Rede „Dichten und Forschen“ (Reden, S. 204), in „Die großen Trobadors“ (Prosa II, S. 348) und in „Mittelalterliche Altertumswissenschaft“ (Prosa III, S. 74). Zur Deutung von Novalis’ „Europa“-Aufsatz bei Borchardt vgl. auch Susanne Hofmann: Bildung und Sehnsucht a.a.O., S. 26-30. Vgl. auch Borchardts Fragment „Europa“, Prosa IV, S. 7-40 und Richard Herzinger: „Kulturtotalitarismus. Von Novalis über Borchardt bis Botho Strauß: Zyklische Wiederkehr des deutschen Antimodernismus?“ In: Dichterische Politik a.a.O., S. 81-95. 369 „Der Krieg und die deutsche Verantwortung“, Prosa V, S. 309.

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selbst, in dem „die Gemeinschaft als eine Ewigkeit, als eine Unsterblichkeit integriert“370 ist, hoffen können. Borchardts politische Entwürfe sind keineswegs originell, sondern lassen sich bei vielen Dichtern und Intellektuellen seiner Zeit, mit mehr oder weniger großen Abweichungen im einzelnen, finden. In Kurt Sontheimers Studie Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik etwa wird, obwohl Borchardt nicht genannt wird, vieles von dessen Gedanken zu „Führung“, „Reich“, „Volk“ oder „Nation“ beschrieben und analysiert.371 Auch Daniela Gretz’ Buch über Die deutsche Bewegung zeigt, das Borchardt, der sich stets als Einzelkämpfer gibt, tatsächlich als Teil einer durchaus gleichgesinnten Bewegung gesehen werden kann, deren Gemeinsamkeiten und Entwicklungen sie, von der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys ausgehend, bei Geisteswissenschaftlern wie Herman Nohl, der den Begriff der „deutschen Bewegung“ prägt, Heinz Kindermann und Paul Kluckhohn, Hermann August Korff und Friedrich Meinecke sowie bei Dichtern wie George, Hofmannsthal und eben Borchardt darstellt. 372 Originell und wohl auch singulär ist dabei allerdings seine Verbindung einer Rückführung aller Politik (und aller anderer Disziplinen) auf die Poesie einerseits mit der Konzentration eben dieser Poesie auf die eigene Person andererseits. Indes zeigt sich so, daß Borchardt durchaus ein Kind seiner Zeit ist, und auch sein zumindest zeitweiliger Erfolg wird damit erklärbar: Was heute in seiner Mischung aus Gelehrsamkeit, Prophetie, Dichtung und Philosophie eher befremdet, war damals dem Publikum vertraut, etwa durch Nietzsche, bei dem sich die Vorstellung, daß der bedeutende Mensch, das Genie, zwischen Dichter und Philosoph changierend, Anspruch auf eine führende Rolle in der Gesellschaft habe, zuerst findet.373 In dieser Tradition stehen die Schriften Houston Stewart Chamberlains, des George-Kreises, Arthur Moeller van den Brucks, Rudolf Pannwitz’ oder Oswald Spenglers; 374 in der Weimarer Republik herrscht dabei zunehmend ein nationalistischer Akzent vor, der sich in der Gewißheit eines deutschen Sendungsbewußtseins äußert.375

370 Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische a.a.O., S. 60. 371 Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 (1962). München 1978, besonders S. 214-255 passim. 372 Vgl. Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., bes. S. 135-145. 373 Vgl. Heinz Schlaffer: Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen a.a.O., S. 131-149. 374 Vgl. Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 58-63. 375 Vgl. Sontheimer a.a.O., S. 223.

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e) Poesie und Wissenschaft Wie Religion und Politik steht in Borchardts Denken auch die Wissenschaft unter dem Primat der Poesie. Sie enthalte „Geschichte und Philosophie, Naturlehre, Volksrecht und Gotteskunde“; sie „findet Recht, ahnt Gesetz, setzt Zusammenhang, sammelt Vergangenheit, ahnt Zukunft, versöhnt den Gott, dessen Wesen sie lehrt, kennt und äußert die Seele, ordnet die Welt, vergleicht die reißende Spannung zwischen Unglück und Glück, Tod und Leben, durch die Entdeckung der Kausalität“.376 Allein diese mit dem höchsten Anspruch versehene, alles umfassende Totalität mache die wahre Poesie aus: „Die Poesie, die nicht als ein totalitäres Verhalten des Menschengeistes beim Gewitter, bei der Blume, bei der Talform, beim Dialektwort, beim geschichtlichen Vorgang und bei der Schuldfrage so entscheidend auftreten kann, wie sie es bei Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Browning, Hofmannsthal tut, philologisch, theologisch, politisch, historisch, botanisch – um die geläufigen Schulworte statt der dichterischen zu verwenden –, verdient nur, de l’Académie zu sein, das heißt morgen dem Nichts zu verfallen.“377 Indem sie alle Wissenschaft in sich enthält, ist die wahre Poesie stets „enzyklopädisch und strebt zur Universalität“.378 „Enzyklopädie“ ist hier allerdings nicht im modernen Sinne zu verstehen – eben nicht als Ansammlung von objektivem Wissen, als eine „rein formelhafte Enzyklopädie“ 379 wie die der Franzosen; vielmehr erscheint Poesie als ein „Kompendium der sittlichen und der sinnlichen, der menschlichen und der göttlichen Welt, als das Finden einer Lehre und als universal“,380 also ganz im Sinne einer „Romantisch-poetischen Ansicht der Wissenschaften“,381 in der mit Novalis gilt: „Je poetischer, je wahrer“.382 Der Dichter wird so selbst zu einer „Akademie“,383 denn die Poesie erfaßt die Welt und stellt sie dar, und zwar nicht nur in ihren äußeren Erscheinungen und Zusammenhängen, sondern – und hier sei wiederum auf Novalis verwiesen: „Der Poet versteht die Natur besser, wie der wissenschaftliche Kopf“384 – 376 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 194f. 377 Ebd., S. 207. Gegen die Académie vgl. auch „Die deutsche Dichtung im Leben der Nation“, Prosa IV, S. 364. 378 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 137. Vgl. zu Borchardts Vorstellung von der Poesie als Enzyklopädie Wierzejewski a.a.O. S. 56-58. 379 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 232. 380 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 196f. 381 Novalis: Schriften. Dritter Band: Das philosophische Werk II a.a.O., S. 377. 382 Novalis: Das philosophische Werk II a.a.O., S. 647. 383 „[D]as deutsche Postulat, daß der Dichter selber eine Akademie sei“ (Prosa IV, S. 368). 384 Novalis: Schriften. Dritter Band: Das philosophische Werk II a.a.O., S. 468.

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auch in ihrem Inneren, in ihrer der oberflächlichen Wahrnehmung verborgenen Tiefe. Von Homer und Pindar über Dante, Herder, Goethe und anderen bis zu Hofmannsthal 385 und eben auch Borchardt reicht eine Reihe von Dichtern, deren „Universalität“ Borchardt etwa am Beispiel Goethes in seiner Rede „Über den Dichter und das Dichterische“ vom 23. März 1920 exemplarisch darstellt.386 In der Rede „Dichten und Forschen“ unterscheidet Borchardt streng zwischen einer echten Wissenschaft und einer falschen. Für jene gelte, daß hier „die Poesie die Wissenschaft in sich“387 mitenthalte, eine Einheit, die den „authentischen Rechtszustand“ 388 der Urzeit darstelle. Diesen „Rechtszustand“ sieht Borchardt das letzte Mal in der aus dem Geist der Romantik hervorgegangenen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts realisiert, die das, „was Novalis und Tieck voreilig und in manchen Punkten vorwitzig entwarfen, was August Wilhelm und Friedrich Schlegel nur zum Teil formulieren konnten“,389 auf eine sichere Basis gestellt habe – sie reicht mit seinen Lehrern, ihren letzten Ausläufern, Friedrich Leo, Franz Bücheler, Hermann Usener und anderen, an Borchardt selbst heran; eine Kontinuität, auf die er, der von sich sagt, er sei „nicht nur als wissenschaftlicher Arbeiter, sondern auch als Dichter der dankbare Sohn der aus dem Geiste der Romantik wiedergeborenen deutschen Universität“, 390 gerne verweist. 391 Auch sein Programm einer „Mittelalterlichen Altertumswissenschaft“, in der ja alle wissenschaftlichen Disziplinen vereint sein sollen, steht mit ihrem enzyklopädischen Blick in der Tradition der Romantik und baut auf den Leistungen der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts auf.392 In den Schriften dieser deutschen Wissenschaft lasse sich „die ganze Menschheit“393 finden. Es ist für Borchardts Verständnis von Wissenschaft bezeichnend, daß er an seinen Lehrern nicht nur die wissenschaftliche Leistung hervorhebt, sondern auch ihre Nähe zur Poesie, wie sie ihm die Dichtungen Friedrich Leos394 oder die Übersetzung von Ho385 Vgl. Reden, S. 138 und 199. Zu Hofmannsthal als dem Dichter von Borchardts erträumter Universität vgl. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen a.a.O., S. 178-180. 386 Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische. a.a.O., S. 59. 387 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 205. 388 Ebd., S. 193. 389 „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts“, Reden, S. 342. 390 „Der Dichter über sich selbst“, Prosa VI, S. 200. 391 Vgl. u.a. „Aus der Bonner Schule. Erinnerungen eines Schülers an Franz Bücheler“ (1908), Prosa VI, S. 45-56 oder „Friedrich Leo“ (1944), ebd., S. 261-293. 392 „Mittelalterliche Altertumswissenschaft“ (1927), Prosa III, S. 71-92. 393 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 290. 394 Vgl. Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, Briefe 1895-1906, S. 52 und Deutsche Denkreden, S. 464; vgl. auch S. 169f. dieser Arbeit.

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mers Ilias durch Herman Grimm, die Borchardt im „Gespräch über Formen“ erwähnt, 395 belegen. Als geistiger Nachfahr dieser Wissenschaft versteht Borchardt seine Aufgabe: „Restauration der Überlieferung und Wiederherstellung der Verbindung mit der eigenen nationalen und der Vergangenheit der urverwandten Völker. Analog der gleichen Aufgabe die sich vor 100 Jahren die Romantik stellte. Wiederherstellung der Gestalt in jedem Sinn, Ent-Intellektualisierung der Wissenschaften, Wiederbefruchtung der Universitäten durch den einzigen schöpferischen den dichterischen Geist.“396 Außerhalb dieser letzten Blüte Dichtung wie Forschung vereinender Geister sieht Borchardt seine Gegenwart beherrscht vom allgegenwärtigen Verlust der Einheit. Es sei vor allem dem von der Wissenschaft eingeschlagenen Weg zuzuschreiben, daß die Poesie verkümmert und der Wissenschaft der Blick auf das „Ganze“ verlorengegangen sei. Dies sei in erster Linie durch die spätestens mit der Jahrhundertwende vollzogenen Spezialisierung der Disziplinen geschehen, durch die den Forschern der Maßstab abhanden gekommen sei, mit dem der „Unterschied zwischen Wißbarem und Wissenswürdigem“ 397 auszumachen gewesen war. Das Prinzip des l’art pour l’art wurde, so Borchardt, auf die Wissenschaft übertragen und ihre alten Götter wurden durch die neuen ersetzt: „der historische Materialismus, der naturwissenschaftliche Monismus, der philosophische Positivismus, die Wut der philologischen Materialsammlung und Quellenforschung ad hoc, der Naturalismus in Literatur und Poesie“. In diesem „Irrlichtertanz“ 398 gerieten nicht nur die Wurzeln der deutschen Wissenschaft im Idealismus 399 in Vergessenheit, sondern durch die ausschließliche Orientierung am Fortschritt die Vergangenheit und Tradition insgesamt, es sei alles Alte und „Ewige“ verbannt und letztlich die Verbindung zu den Göttern verloren, das „Menschliche“ preisgegeben worden. Die Methode einer Wissenschaft, die auch poetisch ist, kann und soll eben nicht eine positivistische und objektive sein, sondern nur die, derer sich auch die Dichtung bedient. „Setzung und Deutung der Welt“ seien die Aufgaben einer Poesie, die „Geschichte und Philosophie, Naturlehre, Volksrecht und Gotteskunde“ 400 in sich vereine, und zwar als „Schöp395 „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 44. 396 Borchardts Ankündigung einer Rede „Die heutigen geistigen Aufgaben Deutschlands“ (Borchardt an Hans Feist, 30. November 1922, Briefe 1914-1923, S. 453). 397 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 201. 398 „Ansprüche der Betriebstechnik“, Prosa I, S. 330. 399 Vgl. ebd., S. 328. 400 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 194.

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fung“, genauer als „Nachschöpfung der gottgeschaffnen und gottdurchwirkten Welt“.401 Der Dichter selbst sei dabei ein „vollstreckender Schöpfer einer Schöpfungswelt“, 402 durch dessen Nachvollzug der göttlichen Schöpfung die Spannung zwischen „Gott und der Menschenseele in ihrem Prozeß von Sterblichkeit zu Unsterblichkeit“ aufgelöst, die Welt, indem ihr die Widersprüche genommen werden, „erlöst“403 werde. Möglich sei diese Schöpfung der „Setzung und Deutung der Welt“ nicht durch Bildung und Begabung des Dichter-Forschers, sondern wieder durch die Gnade des göttlichen Besuchs. Durch diesen könne die Welt etwa anhand eines Indizes wie der Tonscherbe mit einem verlorenen Gedicht Sapphos,404 in „Epiphanien“405 oder, wie Borchardt es selbst nennt, „mit ihren eigenen postulativen Mitteln, im ungeheuren Aperçu, schlagartig“406 gesetzt und gedeutet werden, „durch das, was Goethe den ‚schaffenden Spiegel‘ genannt hat, durch das Gegenteil des Sonderns, die schlagartige Anschauung eines Ganzen, die man Intuition oder Phantasie genannt hat, die aber besser heißt, was sie ist, Vision“, beschworen werden. 407 Borchardt verwendet auch hier das Bild „eines sich selbst gehörenden und in allen seinen Organen auf seinen eigenen absoluten Gehalt wie auf ein schlagendes Herz bezogenen Körpers, der dadurch, daß er mit sich selber im Einklange steht, sich der ungeheuren Forderung des höchsten Einklanges mit dem Geheimnis des Geschehens bis an die Grenzen der Menschheit nähert.“408 Ein Historiker, der mit einer solchen schöpferisch-dichterischen Methode arbeitet, wird ein Historiker, von dem Friedrich Schlegel sagt, er sei „ein rückwärts gewandter Prophet“.409 Es entsteht auf diese Weise eine eigenartige faktisch-fiktive Parallelwelt, eine „Phantasmagorie“, die Norbert Miller mit den Welten Karl Mays, mit Angria und Gondal der Geschwister Brontë oder dem Orplid von Mörike und seinen Studienfreun-

401 Ebd., S. 205. 402 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 131. 403 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 205. Vgl. Kissler, „Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht“ a.a.O., S. 232. 404 Vgl. Norbert Millers Aufsatz „Geschichte als Phantasmagorie. Rudolf Borchardts Aufsatz ‚Die Tonscherbe‘.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen a.a.O., S. 265-280, vor allem S. 272f.; der Titel des Aufsatzes greift Adornos Wort von Borchardts „ersehnter Phantasmagorie“ auf (Theodor W. Adorno: „Die beschworene Literatur“ a.a.O., S. 539). 405 Zu Borchardts „epiphaner Geschichtsphilosophie“ vgl. Karl Heinz Bohrer: „Rudolf Borchardts Phantasma einer antikischen Vorgeschichte“ a.a.O., bes. S. 51ff. 406 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 203. 407 „Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer“, Prosa II, S. 70. 408 Ebd., S. 104. 409 Friedrich Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente. Band 2 a.a.O., S. 111.

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den vergleicht.410 Borchardt hat sich ganz bewußt von einer Wissenschaft losgesagt, die er von Faktentreue, „Quellenvermittlung“ und „Quellenstolz“ 411 einerseits und von den falschen Modernisierungen eines Wilamowitz andererseits beherrscht sieht. Er ersetzt diese durch eine Methode, die Karl Heinz Bohrer polemisch eine „Mischung aus Gelehrsamkeit, Dilettantismus und genialer Intuition“412 nennt, eine Methode, bei der die Ergebnisse nicht mit Fakten belegt werden können (und müssen), sondern bei der Wahrheit und Richtigkeit durch die Präsenz eines göttlichen Funkens garantiert werden sollen. Für seine historischen und philologischen Entwürfe wie auch für seinen Kanon gilt demnach, was er über Walter Paters „Epiphanien“ der Imaginary Portraits und des Marius schreibt: daß sie eine „Beschwörung und Wiederherstellung eines Gewesenen durch ‚Phantasie und Leidenschaft‘“ seien, „durch den traumhaften Entschluß und die bildende Kraft [...] mit allen für ihr Charakteristisches geweckten Sinnen, und mit der vollen Souveränität der Phantasie [...], wie ein Gott Schöpfer, der dem Unmöglichen gebietet“.413 Borchardt behauptet, daß es unmöglich sei, aus einer Vielzahl von Fakten zu versuchen, die Vorzeit zu einem Ganzen zu rekonstruieren und zu sagen „wie es wirklich war“. Er betont demgegenüber, daß es eine solche „Richtigkeit“ allein auf der Basis von Fakten nicht geben könne. „Richtig“ und vollständig sei nur die Ganzheit des gottinspirierten poetischen Entwurfs. So interpretiert er Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, gegen die er inhaltlich zahlreiche Einwände hat, nicht als rein wissenschaftliches Werk mit Kriterien wie „richtig“ oder „falsch“, sondern als „Schöpfung“ und „Epos“. 414 Nadlers Methode sei eben „nicht positivistisch, sondern durch und durch divinatorisch und visionär“.415 In der Rede „Erbrechte der Dichtung“ aus dem Jahr 1911 betont Borchardt, daß das Historische in seinem Joram richtig sei, weil es eine historisch korrekte Herstellung der Vergangenheit nicht geben könne und daher der Begriff des „Anachronismus“ wertlos sei, da er „die Möglichkeit

410 Vgl. Norbert Miller: „Geschichte als Phantasmagorie“ a.a.O., S. 277. 411 Karl Heinz Bohrer: „Rudolf Borchardts Phantasma einer antikischen Vorgeschichte“ a.a.O., S. 42. 412 Ebd., S. 54. 413 „Walter Pater“, Prosa III, S. 415f. Vgl. Martina Lauster: „The Critic’s Critic: Rudolf Borchardt’s Centenary Essay ‚Walter Pater‘ (1939)“ a.a.O., S. 180-182. 414 „Josef Nadler, zur Verleihung des Martin Bodmer-Preises der Gottfried Keller-Stiftung“ (1929), Prosa I, S. 461-470, hier besonders S. 466f. 415 Ebd., S. 468. Zu Borchardt und Nadler vgl. auch Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 361-368.

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korrekter Rekonstruktion, […] das Dasein des historisch exakten Sinnes“ 416 voraussetze, der aber dem echten Dichter fehlen müsse. Ausschlaggebend ist auch hier allein die „innere Form“, das „Leben“ der historischen Vision. Und noch in seinem letzten großen Entwurf, „Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer“ (1944), hebt Borchardt hervor, daß es eine objektive Ansicht der Vergangenheit nicht geben könne. Die großen „echtentsprungenen“ Geschichtsbilder der „darstellenden Phantasie“ 417 hätten „weder ‚subjektive‘ noch ‚objektive‘ Richtigkeit“, sondern „ihre Richtigkeit in sich selbst“. So kann Borchardt leicht seine Vorliebe für die als causae victae von der Geschichtsschreibung beiseitegelassenen Ereignisse und Perioden oder – besonders in den Anthologien – für vom Kanon seiner Zeit unberücksichtigte Dichter und Epochen rechtfertigen: Das „ungeheure Aperçu“ der dichterischen Schöpfungskraft läßt sie stets als wesentlich und richtig erscheinen. Schon Ricarda Huch weist auf die Bedeutung der „Divination“ in der romantischen Wissenschaft hin. 418 Ein Echo von Schleiermachers Bestimmung der Poesie als „das unwillkürliche freie Spiel der Phantasie“ – hier allerdings „mit dem wesentlichen Moment der Besinnung“419 – findet sich auch in Benedettos Croces420 Estetica (1902), die Borchardt wohl noch vor dem Erscheinen der ersten deutschen Übersetzung auf Italienisch gelesen hat.421 Borchardt kann sich vor allem auf Croces Begriff der „Intu416 „Erbrechte der Dichtung“, Reden, S. 180. Vgl. auch das „Nachwort zu ‚Joram‘“, Prosa I, S. 53-61. 417 Borchardt denkt dabei an „Otfried Müllers Dorer, Winckelmanns Stilbild der Antike, Thierrys archaisches Frankenreich, Mommsens Sullaisches Restaurations- und Cäsarisches Reichsbild, vor allem aber Gibbons und Burckhardts souveräne Gesamtlesungen“, „Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer“ (Prosa II, S. 103f.). Man ergänze die Liste getrost um Borchardts eigenes Werk. Zur Deutung der Passage vgl. auch Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S 73-79. 418 Ricarda Huch: Ausbreitung und Verfall der Romantik a.a.O., S. 80. 419 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hamburg 1984, S. 131. 420 Zu Borchardt und Croce vgl. vor allem Dieter Burdorf: „Das metaphysische Italien. Kultur, Geschichte und Dichtung bei Rudolf Borchardt und Benedetto Croce.“ In: Das Europa-Projekt der Romantik und die Moderne. Ansätze zu einer deutsch-italienischen Mentalitätsgeschichte. Hrsg. von Silvio Vietta, Dirk Kemper und Eugenio Spedicato. Tübingen 2005, S. 173-205; vgl. auch Inge Sommer: Untersuchungen zu Rudolf Borchardts Italien-Rezeption. Diss. Bonn 1967, S. 28-43, Michael Neumann: „Eidos. Borchardt zwischen Croce und Warburg.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen a.a.O., S. 156-193, bes. S. 160-166 und den (allerdings unvollständigen) Carteggio Croce – Borchardt. A cura di Emanuele Cutinelli-Rèndina. Napoli 1997. 421 Vgl. Rudolf Borchardt: „L’Italia derubata e i musei stranieri“ (in: L’Italia e la poesia tedesca. Hrsg. von der Deutsch-Italienischen Vereinigung e.V. Übersetzt und erläutert von Gerhard Schuster und Ferruccio Delle Cave. Stuttgart 1988, S. 11-20), wo Croce als „il primo estetico del mondo“ (S. 18) genannt wird. Borchardts Aufsatz erschien in der römischen Tageszeitung La Tribuna am 29. Oktober 1904, im Jahr vor der ersten deutschen Übersetzung.

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ition“ berufen, unter der dieser eine durch die Phantasie vermittelte Erkenntnis versteht und die er als identisch mit der Kunst selbst bestimmt.422 Wie nach ihm Borchardt geht auch Croce von der „Unteilbarkeit des Kunstwerks“, von seiner „Identität“423 – Borchardt würde sagen: von seiner Form – aus. Und auch Croce zitiert Herder: „Die Poesie ist ‚die Muttersprache des Menschengeschlechts‘; die ersten Menschen ‚waren von Natur aus erhabene Dichter‘.“424 Croce spricht in seiner Estetica meist nur von der „Kunst“ – die Einschränkung, die Borchardts ästhetisches Denken dominiert, daß die Poesie unter den Künsten die höchste und unmittelbarste sei, findet sich explizit erst in einem 1908 in Heidelberg gehaltenen Vortrag Croces mit dem Titel „Die reine Intuition und das lyrische Grundwesen aller Kunst“. Hier heißt es: die reine Intuition [ist] ihrem Wesen nach Lyrizität“. Diese „reine Intuition“ kommt nach Croce ohne Begriff und Reflexion aus – es ist die, mit der der Mensch ein „Dichter“ ist, indem er nichts anderes tut als eine Empfindung darzustellen.425 Den gleichsam „naiven“ Zustand, in dem sich der Mensch als ein rein intuitiv empfindender Dichter befindet, lokalisiert Croce nicht in einer Frühzeit, er betrachtet ihn nicht als „historisches Faktum“: „Die Kunst, die Poesie, die Intuition und der unmittelbare Ausdruck ist der Moment des Barbarentums und der Naivität, der ewig im Leben des Geistes wiederkehrt: die nicht chronologische, sondern ideale Kindheit“ 426 der Menschheit. Dies gilt wohl auch für Borchardts romantische Vorstellung von der Poesie. Schon August Wilhelm Schlegel hat das Bild des Dichters als ein „vor allen anderen Sterblichen begünstigter Liebling der Natur, ein Vertrauter und Bote der Götter, deren Offenbarungen er jenen überbringt“, als „nur ein Geschöpf der dichtenden Phantasie“427 abgetan. Indes gibt es 422 Benedetto Croce: Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Theorie und Geschichte. Nach der zweiten durchgesehenen Auflage aus dem Italienischen übersetzt von Karl Federn. Leipzig 1905, besonders S. 3-22. 423 Ebd., S. 20. 424 Ebd., S. 26. 425 Benedetto Croce: „Die reine Intuition und das lyrische Grundwesen aller Kunst.“ In: Kleine Schriften zur Ästhetik in zwei Bänden. Ausgewählt und übertragen von Julius von Schlosser. Tübingen 1929 (Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übertragung. Hrsg. von Hans Feist. II.2.), S. 113-138, hier S. 131. Erstmals erschien der Aufsatz als „L’intuitione pura e il carattere lirico dell’arte“ in Croces Buch Problemi di estetica e contributi alla storia dell’estetica italiana (Bari 1910). 426 Benedetto Croce: „Die reine Intuition und das lyrische Grundwesen aller Kunst“ a.a.O., S. 125f. 427 August Wilhelm Schlegel: „Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache.“ (1795) In: Sprache und Poetik. Hrsg. von Edgar Lohner (Kritische Schriften und Briefe 1), S. 141-180, hier S. 141.

3. Systematisierung des Kanons: Poesie und Ewigkeit

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eine solche Distanzierung von der Vorstellung des mit den Göttern verkehrenden Dichters bei Borchardt nicht. Er zieht sie in keiner seiner schriftlichen Äußerungen in Zweifel, 428 denn sie dient ihm sowohl als Grundlage seiner Ansprüche als Dichter und zur Immunisierung gegen Kritik als auch als ein Mittel zur Stabilisierung des eigenen Selbst, als ein wesentlicher Bestandteil seiner inneren „Form“.

428 So ist Borchardts Vorstellung von dem vom Gott besuchten Dichter nicht, wie Alexander Kissler behauptet („Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 100), eine „Säkularisierung“ oder gar eine „endgültige Rhetorisierung“ einer „ursprünglich biblischen Glaubenswahrheit“, erstens weil diese Vorstellung keine biblische, sondern eine antike ist und zweitens weil Borchardts fehlende Distanz dazu es nahelegt, davon auszugehen, daß er eher an eine Inspiration des Dichters durch eine göttliche Macht glaubt – wie auch immer das im einzelnen aussehen mag – als daß er sie, und gar „endgültig“, rhetorisiert.

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I. Grundlagen der Anthologien

4. Verbreitung des Kanons: Aneignung und Wirkung a) Statische Literaturgeschichte Die Tatsache, daß Borchardt sich die Tradition auf den eigenen Leib „zuschneidet“,429 hat zur Folge, daß er nie von der Tradition sprechen kann, ohne von sich selbst zu sprechen. So handelt etwa das Nachwort zu seiner Übertragung von Dantes Comedia kaum von Dantes Text, aber um so mehr von Borchardts Suche nach einer adäquaten deutschen Sprache dafür und von der mutmaßlichen literaturgeschichtlichen Einordnung weniger des Originals als seiner eigenen Übertragung, in der er eine „Rückgebärung [...] der eigenen Nationalantike“ 430 sieht. Ebenso ist der „Eranos-Brief“, Borchardts Beitrag zu der von ihm veranstalteten Festschrift zu Hofmannsthals fünfzigstem Geburtstag 1924, ein Stück Autobiographie, das nur unter anderem Borchardts Begegnung mit Hofmannsthal zum Gegenstand hat und in erster Linie die Geschichte von Borchardts „Selbstbildung“ und seiner Distanzierung von den Institutionen der Bildung ausführlich darstellt. Überhaupt ist die Grundkonstellation der zahlreichen Texte Borchardts über Hofmannsthal die der „Erinnerungen an Hofmannsthal“ (1929), wo es heißt, er könne von Hofmannsthal nicht sprechen, ohne sich selber „wenigstens in so weit zu erwähnen wie zu einer allgemeinen Verständlichkeit meines Berichts erfordert wird“; 431 Hofmannsthal erscheint hier als „mein Führer“ und „mein Glück“, der Freundschaft der beiden wird schließlich ein für den Leser – der Text erschien zuerst in den Münchner Neusten Nachrichten – kaum nachvollziehbarer „sakramentaler Charakter“ zugeschrieben. Spricht Borchardt nicht explizit von sich, so tut er es implizit, indem er wie von sich spricht. Der früheste Text, an dem dieses Phänomen deutlich ablesbar ist, dürfte „Veltheim“ aus dem Jahr 1908 sein, eine Erinnerung an den in England zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilten, als Baron von Veltheim auftretenden Abenteurer, Hochstapler und Heiratsschwindler Ludwig Kurtze (1857-1930), den Borchardt wohl während seiner Schweizer Zeit kennengelernt hat. Kurtzes Taten lassen sich durchaus auch als Spiegelungen von Borchardts eigenen Hochstapeleien lesen, etwa denen gegenüber Margarete Ruer und ihrem Vater. Auch Michael Landmann, der Sohn von Julius und Edith, erinnert sich, daß Borchardt 429 „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts“, Reden, S. 324f. 430 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 526. 431 „Erinnerungen an Hofmannsthal“, Prosa VI, S. 187.

4. Verbreitung des Kanons: Aneignung und Wirkung

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„nächtelang die unwahrscheinlichsten Geschichten“ erzählt habe. 432 In Borchardts Text wird Veltheim zu einer mythischen, „den Urkräften näheren“ Figur stilisiert, die die anderen Menschen mit „Religion“433 anstaunen. Er erscheint als urweltlicher Erzähler,434 dessen unbewußte Echtheit und Ursprünglichkeit gerade in seinen Lügen – lügenhaft wie die „ältesten Menschheitsurkunden“ – zutage trete: Der Text wird zu einer Apotheose des Lügners, der in Borchardts Formulierung mit „Utislügen, Schelmuffskylügen, Falstafflügen, Shakespearesche[n], Cervantes’sche[n] Lügenfunde[n]“ 435 dem Dichter angenähert wird und als Sprachrohr der „alten jugendlichen heiligen Wildnis“ und als „ganzes Stück Menschheit“ 436 erscheint, entsprechend Borchardts Vorstellung von der Poesie, die dem Menschen die Annäherung an seinen göttlichen Kern oder Ursprung ermöglicht.437 Borchardts Bild von Dante ist ebenfalls als verkapptes Selbstporträt zu verstehen, besonders des frühen Borchardt der Jahre nach 1900, in die seine erste intensive Auseinandersetzung mit Dante fällt.438 1907 spätestens und bis in die Zwanziger Jahre hinein plant Borchardt ein Buch, das die Zeit mit Margarete Ruer zum Gegenstand haben und das „Annus Mirabilis“ heißen soll.439 Inhaltlich wie formal wird es als eine Entsprechung zu Dantes Vita Nova konzipiert: ein „Produkt aus Prosa und Vers Minnetheorie und verschleierter Autobiographie, Seelenanalyse und Literaturgeschichte“, wie Borchardt es nennt. 440 Die Verbindung von „verschleierter Autobiographie“ und Dantes Vita Nova stellt Borchardt, wenngleich implizit, in den 1923 erschienenen, aber wohl früher geschriebenen „Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova“ noch einmal her, indem er Dante ebenso wie sich selbst als angegriffen und bedroht darstellt und die Vita Nova als „eine zu Zwecken geschriebene Verteidigungsschrift“ liest, als „die Apologie einer heftig angegriffenen Lebensführung, in einem Momente geschrieben, in dem nur noch die Bravierung sich praktischer Bedrohungen praktischer Pläne und Absichten Dantes, bürgerlicher Ambitionen und Laufbahnsfragen zu erwehren versprechen 432 433 434 435 436 437

Michael Landmann: „Rudolf Borchardt 1877-1945“ a.a.O., S. 81. „Veltheim“, Prosa VI, S. 37. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 40. Ebd., S. 43. Vgl. zur Stilisierung Veltheims „zu übermenschlicher Größe“ Alexander Kissler: „Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 205-207. 438 Vgl. zusammenfassend Pia-Elisabeth Leuschner: „Rudolf Borchardt als ‚Durante‘ Alighieris“ a.a.O., S. 130. 439 Vgl. die erhaltenen Fragmente in Vivian, S. 125-141 und das Nachwort ebd., S. 173f. 440 Borchardt an Ernst Borchardt, 2. Oktober 1907, Briefe 1907-1913, S. 136.

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konnte“. Der Antrieb, der dieser Verteidigungsschrift zugrundeliege, besteht dabei aus denselben Werten, die auch Borchardt seinen Schriften programmatisch unterlegt: „das Herrlichste der alten Zeit zu sammeln [...]: alle Lichter der Weisheit und Gelehrsamkeit zu illuminieren; Logik, Treue, Diskretion, Einheitlichkeit, Strenge, Bürgerlichkeit zu erweisen, wo Unstete, Wankelmut, Indiskretion, Zersplitterung, Lockerheit, Unbürgerlichkeit vorgeworfen waren [...] sich mit einer höchsten Anstrengung zugleich zu rehabilitieren und zu habilitieren.“441 Die Rechtfertigung der Tatsache, daß ein Nichtadliger sich Aufgaben und Bildung des Adels anmaßt, gilt sowohl für Dante als auch für Borchardt: Dies „konnte kein Ritter und höfischer Mensch, [...]: nur ein italienischer Bürger wie Alaghieros Sohn konnte das, weil er anders war, aber an sie glaubte und sein wollte wie sie.“442 Auch an anderer Stelle lassen sich Parallelen zwischen Dante und Borchardt ziehen. So heißt es in „Der andere Dante“ von diesem, er sei sich „im eigenen Leben [...] so vereinsamt vorgekommen“ daß er „sich zur selbständigen Partei erhoben hatte.“ 443 Auch Pindars Gegnerschaft – „Pindar schlägt um sich“ – läßt sich leicht als eine Spiegelung von Borchardts eigener Gegnerschaft erkennen, der Pindars Werk als die auf die „Verachtung stolzer Geister für den gemeinen und frechen Haufen“ 444 gegründete Artikulation der Anliegen des echten, das heißt göttlich gerechtfertigten Adels erklärt. Die Konstruktion von Parallelen zwischen Borchardt und anderen Dichtern bleibt nicht auf Biographisches beschränkt. Auch in theoretischen Äußerungen schafft Borchardt solche Übereinstimmungen. Allen von Borchardt kanonisierten Epochen, Werken und Dichtern wird die Vorstellung von der Göttlichkeit der Poesie unterschoben. Ihrer Poesie liege ebenso die Einheit der Disziplinen wie die Einheit des Volkes zugrunde: Sie erscheint als der „Gemeinschaftsausdruck“ und die „elementare Nationalangelegenheit“,445 als der Ausdruck eines „aus seinen Lebenden, seinen Toten und seinen Göttern bestehende[n] kollektive[n] Individuum[s]“.446 Und so gelte auch für Pindar wie für die römischen Dichter, für Dante oder Goethe: „Es ist der höchste Anspruch, mit dem die Poesie je aufgetreten ist, seit sie in Urzeiten mit aller Vorstufe der Kultur verschwistert in der gleichen Knospe gelegen haben mag: heilige Enzyklopä441 442 443 444 445 446

„Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova“, Prosa II, S. 430. Ebd., S. 469. Vgl. auch Alexander Kissler: „Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 119f. „Der andere Dante“, Prosa VI, S. 327. „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 226. Ebd., S. 142. Ebd., S. 144.

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die zu sein.“447 Gottgleich sind sowohl Dichtung (Hofmannsthals Erzählung „Die Frau ohne Schatten“ erscheint als „das kleine unsterbliche und fast heilige Buch“448) als auch Dichter. Über Dante Gabriel Rossetti heißt es: „Von den drei großen Elementargewalten [Rossetti, Browning und Meredith], die, über einer an sich schon einzigen Generation großer Männer zur Hochwelt aufgebaut, das viktorianische Zeitalter Englands unmittelbar an das Deutsche Jahrhundert anschließen, ist Dante Gabriel Rossetti am stärksten und unverkennbarsten mit dem königlichen Umriß der Gnade Gottes umschrieben und am raschesten in Reich und Herrschaft über Menschen eingetreten.“449 Die Geschichte der Dichtung, ja die Geschichte der Welt erscheint bei Borchardt als die Geschichte der Rückwendungen zu ihrem göttlichen Ursprung. Borchardts Vorbild für diese Art der Restitution des göttlichen Ursprungs ist Herder, über das von ihm verkündete Programm heißt es im „Eranos-Brief“: „Erforschung war Handeln, Leben, Schaffen. Schaffen war Beschwören, Hervorzaubern, Beleben, Wiederherstellen. Danken war Erinnern. Erinnern war Vorverkündigen.“ 450 Dieses Programm sieht Borchardt immer wieder realisiert; glaubt man ihm, so ist die Literaturgeschichte voller „Herder-Erlebnisse“: wenn er die Begegnung Horaz’ mit den Versen Pindars mit dem Ereignis, „vor dem unter Herders Anrührung im Wetzlar von 1772 die Schuppen der altersschwachen Epoche fielen“,451 vergleicht, wenn er die Vita Nova „herderisch zu sprechen“ eine „älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ 452 oder Rossettis Übersetzungen „echt herderisch“ 453 nennt. Gleichzeitig scheint die gesamte Literaturgeschichte Borchardts Programm der „Schöpferischen Restauration“ unterworfen zu sein. Stets wird darin mit dem Wiederherstellen des Vergangenen auch die „Erfindung“454 untrennbar verbunden, ja die Erneuerung des Alten und Göttlichen scheint überhaupt nur durch Schöpfung möglich zu sein. Exemplarisch ist dieses Programm am Beispiel der Poesie der deutschen Romantik ebenfalls im „Eranos-Brief“ formuliert: In ihr wie in der griechischen, zum ersten Male wieder, lag Schöpfung, Sammlung, Forschung, Deutung, Einsicht, Gestaltung und Gesang auf eine noch heimlichere 447 „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 206. 448 „Über Hofmannsthals Erzählung“, Prosa I, S. 220. 449 „Dante Gabriel Rossetti“, Prosa III, S. 365. Vgl. zur Selbstspiegelung Borchardts in Dante und Rossetti auch Werner Kraft: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 45-52. 450 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 315f. 451 „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 139. 452 „Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova“, Prosa II, S. 391. 453 „Dante Gabriel Rossetti“, Prosa III, S. 381. 454 „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 151.

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und einsamere Urmacht zurückgefordert und in ihr verinnigt: die menschliche Seele in ihrem Prozesse mit der Ewigkeit. Strömend aus dem Mittelpunkte des Alls, der Poesie, wachsend zu den beiden Fernpolen der Transzendenz, der Philosophie und der Musik, radial sich alles Leben der menschlichen Geistseele als des immanenten Gleichnisses der Goethischen Weltseele einrundend, ruhte und rollte dieser Kosmos aus sich und in sich, und verbürgte seinen Bewohnern die Einheit des Lebens: [...] Wenn die Poesie zum ersten Male seit Plato wieder philosophischer geworden war als die Geschichte, das Naturwissen wieder dichterisch, das ahnende bestimmend, das mächtigbestimmende ahnungsvoll wie in Goethes Farbenlehre, das erinnernde prophetisch wie in Novalis’ ‚Europa‘, – wenn die neuen Forschungen, die den Orient und den Occident historisierten, aus dem Frieden der musischen Hände in denen sie ruhten emporstiegen, in Diez und Uhland wie in den Grimm und Rückert Dichter und Forscher, und in den Humboldt Dichter und Allergründer, Allerbauer, Allumfasser untrennbar lagen – welches Wort boten Europas Sprachen, um den Stand und Beruf dieser Geister bei einem triftigeren Namen zu nennen als dem einfachen griechischen der Weisheit? es wäre denn der mittelalterliche ihm ebenbürtige der Minne. Einblick ins All durch Liebe die es schuf – die es durchs gleiche wieder schaffend erblickt, erblickend wieder schafft: dies war die göttliche Sendung dieser ins Göttliche blickenden und seiner gewissen deutschen Seele.455

Borchardts Literaturgeschichte wird auf diese Weise in vielerlei Hinsicht verzahnt: Pindar stelle „vorionisch althellenisch gebliebenes Urgriechentum“ dar,456 Hartmann von Aue sei ein Fortführer der Antike,457 Herder oder Rossetti seien Erneuerer des Mittelalters, die englischen Dichter des 19. Jahrhunderts bis Walter Pater Vollender der deutschen Romantik, Hofmannsthal gar verkehre „mit drei Jahrtausenden, mit allen Sprachen gebildeter Völker, mit allen zu Form aufgestiegenen Literaturen, ihren Geistern und ihrem Geiste“,458 und alle vereinen sich in Borchardt selbst. So heißt es in den „Epilegomena zu Dante I“: „Der Schritt, den die deutsche Poesie mit Herder, Voß und Goethe in den heroischen Stil der von Helden singenden Menschheit hinein tat, als Homer sich offenbarte und eine ganze schulmäßige Poetik durch Deutschland für den Okzident stürzte: dieser Schritt ist für die erste Urzeit der modernen Völker Europas, das Mittelalter, erst heut zu tun, und heut wie ehemals tut ihn auf den von Sehern vorgeahnten Pfaden nur und allein die Poesie.“459 Zwar bleibt in dieser Passage Borchardt, der ja im Namen der Poesie jenen Schritt der Aneignung des europäischen Mittelalters macht, hinter dem Abstraktum 455 456 457 458 459

„Eranos-Brief“, Prosa I, S. 294f. „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 187. „Der Arme Heinrich“, Prosa II, S. 323f. „Hofmannsthal“, Prosa I, S. 458. „Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova“, Prosa II, S. 389f.

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der Poesie verborgen, aber noch im selben Absatz, wo dann unvermittelt von seiner Übertragung der Vita Nova die Rede ist, wird klar, daß er sich selbst an die Leerstelle seiner Konstruktion setzt. Die Literaturgeschichte läuft auf Borchardt zu, der sie seiner Ansicht nach sowohl erstmals vollständig und nach den richtigen Grundsätzen überschaut als auch alleine fortzuführen in der Lage ist. Die Vereinnahmung von Werken und Dichtern wird spätestens jedoch da problematisch, wo sie einen lebenden Dichter betrifft, der sich wehren kann; dies ist der Fall bei Hugo von Hofmannsthal. Ernst Osterkamp hat in seiner Deutung von Borchardts Gedicht „An Hofmannsthal“ (1903) die von Borchardt betriebene Vereinnahmung Hofmannsthals und das von ihm konstruierte „Ausschließlichkeitsverhältnis“ 460 zwischen den beiden beschrieben. „Ich, und ich allein“ schreibt Borchardt an Hofmannsthal, könne diesem „die Verbindung mit Welt und Geschichte [...] erleichtern“.461 Immer wieder versucht Borchardt, sich zum alleinigen Sprachrohr des bewunderten Freundes zu machen: „Was in Zukunft über Sie schreibt, vermittelt nicht zwischen dem Publikum und Ihnen sondern zwischen dem Publikum und mir.“ 462 Die Stellung Borchardts zu Hofmannsthal findet ihre Parallele sogar im Verhältnis Schillers zu Goethe, der mit seinem zweiten Brief an Goethe als ein Wortführer Deutschlands und „der gesamten Nachwelt“ aufgetreten sei und „allein imstande ist, Goethe zu zeigen“. 463 Der Hofmannsthal, dessen Deutungsherrschaft Borchardt beansprucht, ist eine „ideale Gestalt“,464 denn die reale vermag sich Borchardts Usurpationsversuchen durchaus zu entziehen und zögert bei gemeinsamen Projekten wie der Fortsetzung des Hesperus oder dem Plan einer Zeitschrift für die Bremer Presse so lange, bis sie gar nicht oder ohne Borchardt realisiert werden. Nur selten revoltiert Hofmannsthal übrigens gegen Borchardts Vereinnahmungen, am deutlichsten anläßlich des „Eranos-Briefes“ in seinem Brief vom 4. Februar 1924.465

460 Ernst Osterkamp: „Rudolf Borchardt: ‚An Hofmannsthal‘.“ In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. 17. Jg. 1984, Heft 1, S. 1-20, hier S. 12. 461 Borchardt an Hofmannsthal, 26. Mai 1903, Briefwechsel, S. 16f. 462 Borchardt an Hofmannsthal, 11. Oktober 1906, Briefwechsel, S. 30. 463 „Rede über Schiller“, Reden, S. 164. Vgl. Werner Vordtriede: „Rudolf Borchardt und die europäische Tradition.“ In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 1978, S. 729-741, hier S. 730-732. 464 Ernst Osterkamp: „Rudolf Borchardt: ‚An Hofmannsthal‘“ a.a.O., S. 5. 465 Hofmannsthal an Borchardt, 4. Februar 1924, Briefwechsel, S. 330-334.

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Borchardt gebraucht das Bild der Knospe,466 wenn er von dem Urzustand der alle Disziplinen enthaltenden Poesie spricht, und als eine sich zur Blüte öffnende Knospe versteht er die Literaturgeschichte, ja die Geschichte überhaupt; er ist der Überzeugung, „daß es in der Welt der Idee und des Menschengeistes und seiner Formen, im Gegensatze zur Natur, keine Entwicklungen gibt, sondern nur Entfaltungen, und daß daher die Einheit der Wissenschaften vom Menschen nicht in der letzten Summe ihrer bewiesenen und wißbaren Wahrheiten liegt, sondern in ihrer gesamten Geschichte, einschließlich der Geschichte ihrer Irrtümer.“ 467 Bei diesen „Entfaltungen“ handele es sich, wie Borchardt einmal anläßlich von Goethes Gedichten bemerkt, nicht um ein „Nacheinander“ in der Abfolge der Zeit, sondern um ein „Auseinander“468 einer um ein Zentrum – der Poesie – gelagerten Einheit in verschiedene Manifestationen. Literaturgeschichte als eine aufeinander aufbauende Entwicklung wird dabei, obwohl Borchardt ja immer durchaus ein schöpferisches Element annimmt, weitgehend von der Vorstellung dieses sich wie die Blütenblätter um einen Punkt zentrierenden „Auseinanders“ überlagert. Die Literaturgeschichte wird dadurch eher statisch als progressiv. Borchardt geht es nicht darum, sich als Nachfolger von Pindar, Dante, Herder, Goethe oder Rossetti zu stilisieren,469 denn dies wäre ja nur in der Vorstellung eines „Nacheinanders“ möglich, sondern Pindar, Dante, Herder, Goethe oder Rossetti erscheinen vielmehr als andere Borchardts. Durch das göttliche Aperçu, in dem in Borchardts „Vision“ eine „richtige“ Geschichte entsteht, wird der Visionär selbst zu einem Handelnden der Geschichte: Er ist die Geschichte. Unter diesen Bedingungen muß Borchardts Umgang mit den Texten der kanonisierten Dichter ein anderer als der übliche sein, was an seinen Übersetzungen und vor allem an seinen Anthologien zu zeigen sein wird. Wo der fremde Dichter so sehr vereinnahmt wird, daß er als alter ego erscheint, wird auch der fremde Text derart angeeignet, daß er zu einem eigenen Text wird und als solcher behandelt werden kann. b) Ideales Publikum und Wirkung Der Umstand, daß Borchardt die Tradition ausschließlich auf seine Person konzentriert, sie aber gleichzeitig als eine nationale Angelegenheit defi466 467 468 469

„Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte“, Prosa II, S. 206. „Ansprüche der Betriebstechnik“, Prosa I, S. 335. „Goethe zum 22. März 1932“, Prosa III, S. 308. Vgl. Alexander Kissler: „‚Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht‘“a.a.O., S. 230.

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niert, verlangt, daß Borchardt wirkt, damit die Tradition von ihm auf andere übergehe. Der Wille zur Wirkung ist Borchardts Bestimmung von Tradition inhärent: Sie wird als etwas verstanden, was seinen Platz idealerweise im „Volk“ hat. Um den Ur-, Ideal-, und Wunschzustand einer in allen Teilen des Volkes verankerten Tradition zu erreichen, muß er an die Öffentlichkeit gehen und auf sie einwirken, seine „prophetische Mission, die eine politische Mission ist“,470 erfüllen. Der Wille zu wirken und die Gegnerschaft sind dabei zwei Seiten eines ideologischen Programms: „Grundsätzliche theoretische und pract[ische] Gegnerschaft gegen den modernen Zeitgeist in allen seinen geistigen, politischen und kulturellen Äußerungen, Erziehung der Mitzeit zu einer schöpferischen Auffassung des Traditionsbegriffs als organischen Prinzips der nationalen Plastik (Weiterführung der Herderschen Linie)“,471 wie er es 1932 als Antwort auf die Frage des Brockhaus-Verlages nach seiner hauptsächlichen Leistung formuliert. Ein ‚Nationalpädagoge‘ mit „nationalpädagogischen Texten“, als den Daniela Gretz ihn wie Stefan George sieht,472 ist er dennoch nicht: Sein Ziel ist nicht Erziehung, sondern Überwältigung, er ist kein Pädagoge, kein Praktiker, sondern ein Prophet. Was die „Schöpferische Restauration“ genau ist, wer sie durchführen soll und wie die Welt danach aussehen wird, erfährt man bei Borchardt nur bruchstückhaft. Dieses Abbrechen vor dem entscheidenden Punkt hat auch Kai Kauffmann als Wesenszug von Borchardts Essays ausgemacht: „Es gibt eine ganze Reihe von Schriften, die genau an der Stelle abrupt enden, an der Borchardt nach der Verwerfung anderer Ideologien und Kulturkonstrukte sein eigenes Programm, eine eigene Version darlegen müsste.“ 473 Dennoch besteht Borchardt auf der Verbindlichkeit seines Kanons für andere, auch wenn er dabei immer wieder hin- und hergerissen ist zwischen seinem „stürmischen Einflußwillen“, 474 dem Wunsch nach Wirkung wie dem Wunsch zu veröffentlichen, und der Resignation über die Zurückweisung durch das Publikum. Vorgeschoben ist in diesem Kampf um Wirkung 470 „Über den Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 259. Vgl. Kisslers Prägung von Borchardts „messianischem Ich“, dessen Ziel die Expansion sei, dem er ein „demiurgisches Ich“, dessen Ziel die „reflexiv nicht mehr zu bewältigende Allmacht“ sei, gegenüberstellt (Alexander Kissler: „‚Die Welt des Wirklichen ist aus Resten gemacht.‘“ a.a.O., S. 222f.). 471 Borchardt – Heymel – Schröder a.a.O., S. 390f. 472 Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 18. Borchardt stilisiert sich selbst gern zum Volkserzieher, ohne dabei konkret zu werden. Vgl. seine Rede „Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung.“ a.a.O. und S. 43-45 dieser Arbeit. 473 Kai Kauffmann: „Momente des Fragmentarischen“ a.a.O., S. 312. 474 Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag. Zu einem unbekannten Brief an Anton Kippenberg.“ In: Buchhandelsgeschichte 1982/3. Beilage des Börsenblatts des Deutschen Buchhandels Nr. 80 vom 24. September 1982, S. B 97- B 114, hier S. B 109.

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nicht selten der mit den Instanzen, die zwischen ihm und seinem Publikum stehen: Sein Zorn gilt Verlegern wie Buchhändlern gleichermaßen.475 „Der für Volkheit optierte, war sein Leben lang der Mann des Privatdrucks.“476 So heißt es bei Theodor W. Adorno über das eigenartige Verhältnis zwischen Borchardt und seinem Publikum, zwischen seinem Anspruch und seiner Wirkung. Trotz seiner relativen Popularität in den Zwanziger Jahren, in denen seine Werke bei Rowohlt erschienen und er etwa im Mai 1926 bei einer Umfrage der Literarischen Welt, welche Dichter in eine neue „Sektion für Dichtkunst“ der „Akademie der schönen Künste“ aufgenommen werden sollten, hinter Thomas Mann (1421 Stimmen), Franz Werfel (682) und Gerhart Hauptmann (594) mit 461 Stimmen auf einen erstaunlichen vierten Platz kam,477 war er nie ein wirklich viel gelesener Autor. Sein Ideal scheint das „ehrenvolle Nichterscheinen“ 478 zu sein, wie Werner Kraft die Publikation der „Jugendgedichte“ (1912) nennt. Schon früh heißt es über den ersten Auswahlband der Blätter für die Kunst: „Du kannst Dir denken dass ich das buch mit etwas wehmütigen gefühlen in der hand hielt, jeder viehhändler kann es sich kaufen und darüber reden, jeder entgleiste sekundaner es ‚recensieren‘, wo ist unsere heimlichkeit und heiligkeit hingekommen?“479 Solche „heimlichkeit und heiligkeit“ ist jedoch der gewünschten und geforderten Wirkung abträglich, und die will Borchardt gerade in den Zwanziger Jahren, in denen die großen Reden, Übertragungen und auch die Anthologien entstehen und erscheinen, nicht nur auf dem Gebiet der Dichtung, sondern auch auf politischem Gebiet. Indes muß er bald resignieren: „Wie Ihnen bekannt ist, habe ich meine ersten Werke (Joram, Villa Jugendgedichte, Pressedrucke) nur als Privatdrucke ausgehen lassen und mir einen schriftstellerischen Beruf im Grunde nie zuerkannt. Wenn ich mit Kriegsende dem zum Teile vorwurfsvollen Drängen derjenigen nachgab, die mich und meine Thätigkeit öffentlich für notwendig, gar unentbehrlich, erklärten und meiner Abson475 Vgl. neben zahlreichen Briefen auch die Rede „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“ (1929) (Reden, S. 345-396), die gleichnamigen Essays (1930) (Prosa IV, S. 264-281 und 282-291) sowie die Schrift „Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht“ (1931) (Prosa IV, S. 299-345). Dazu: Herbert Göpfert: „‚Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur.‘ Rudolf Borchardt und der Buchhandel.“ In: Das Buch in der dynamischen Gesellschaft. Festschrift für Wolfgang Strauß zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Werner Adrian, Franz Heinze, Peter Meyer-Dohm und Christian Uhlig. Trier 1970, S. 123-131 und Gisela Bruchner: „Rudolf Borchardt und der Buchhandel. Ein Beitrag zur Situation des deutschen Buchhandels in den letzten Jahren der Weimarer Republik.“ In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens. 14. Jg. 1974, Sp. B137-B167. 476 Theodor W. Adorno: „Die beschworene Literatur“ a.a.O., S. 545. 477 Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung a.a.O., S. 21. 478 Werner Kraft: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 167. 479 Borchardt an Helene Borchardt, 4. Dezember 1898, Briefe 1895-1906, S. 47f.

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derung womöglich noch die Mitschuld an der allgemeinen Desorientierung beimassen, so haben die verflossenen zehn Jahre in denen meine Schriften am Markte gestanden haben, den unzweideutigen Beweis dafür erbracht, dass sie an ihm nicht an ihrer Stelle sind, und dass meine frühere Zurückhaltung auf der richtigen Schätzung des verschwindend geringen Leserkreises beruht, den eine Produktion wie die meine interessieren kann.“480 Borchardt sieht sein Selbst durch den Gang an die Öffentlichkeit und die dort erfahrene Zurückweisung beschädigt und kompensiert sie in der Glorifizierung des eigenen Außenseitertums. Unfähig, zwischen sich und seinen Schriften zu trennen, empfindet er die Kritik an seinem Werk und die Nichtbeachtung durch das Publikum als Kränkung: „In jedem anderen Volke, dem in Zeiten seiner tiefsten Schande und Ohnmacht ein Mensch nahezu alle Gattungen seiner Dichtung und Sprache aus dem Nichts erneuert hätte, würde sich der Kreis alles Generösen, alles Freien und Willigen, Jugendlichen, Streitbaren fest um ihn schliessen, einen Kern bilden, eine Körperschaft und Kraftquelle schaffen [...] und der Öffentliche Geist des Landes würde mit diesen aufblühenden und verzweifelten Kräften im Bunde sein.“481 Derart gekränkt zeigt Borchardt sich jedoch nur in einem nicht abgesandten Brief, öffentlich wird diese Heftigkeit durch eine gespielte Gelassenheit verdeckt; so heißt es in „Der Dichter über sich selbst“ (1929): „Es ist mir immer gleichgiltig gewesen ob meine Arbeiten augenblicklichen oder allgemeinen Erfolg hatten, denn sie finden kein Publikum vor.“482 Da nun Borchardt unter diesen Voraussetzungen seine Ziele nicht unmittelbar erreichen kann, da nicht nur ihm, sondern der Poesie überhaupt ein „natürliches Publikum“,483 nämlich das ganze Volk, fehle, setzt er seine Hoffnung auf ein zukünftiges Publikum, das zu schaffen er als eines der Hauptziele seiner Tätigkeit sieht. Diesem Unternehmen geht die Erkenntnis voraus, daß der Dichter spätestens im 19. Jahrhundert vom Volk nicht mehr gebraucht werde, daß er seine religiöse wie politische Funktion in einem organischen Volksganzen verloren habe.484 Nachdem das Volk den Dichter von seinen Aufgaben suspendiert habe, suspendiert nun der Dichter in seiner Rede zur „Schöpferischen Restauration“ das Volk und spaltet den Begriff in den „Pöbel“ einerseits, mit dem er nichts 480 481 482 483 484

Borchardt an den Horen-Verlag (nicht abgesandt), Oktober 1929, Briefe 1924-1930, S. 362. Borchardt an Schröder (nicht abgesandt), 21. Mai 1922, Briefwechsel 1919-1945, S. 63f. „Der Dichter über sich selbst“, Prosa VI, S. 202. „Dichten und Forschen“, Reden, S. 191. „Der Dichter und das Dichterische“, Prosa I, S. 270ff.

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I. Grundlagen der Anthologien

mehr zu schaffen haben will und kann, und in eine gebildete Elite andererseits, der er zugesteht, die wahre „Nation“ bilden zu können;485 nur für diese „Minderheit, die geheiligte Auslese über dem Pöbel, die Vorform eines neuen Volkes zu der das Morgen ‚Ja‘ sagen kann“,486 will er arbeiten. Sein Ziel ist die Bildung einer Elite, aus der heraus sich irgendwann ein neues Volk bilden kann. Dazu muß er um jeden einzelnen Leser ringen, auf den die eigene Ideologie übertragen werden muß: „Ich muss mir meine Leser erst schaffen, diejenigen nämlich, die mich lesen wie ich gelesen sein will. Auch wer mich heut gerne liest, und ein halb Hundert sind es ja wohl, liest mich anders und liest mich mit schlimmen Nachbarschaften, liest mich aus schlimmen Begriffen heraus. Ein Revirement dieser Begriffe muss allem anderen vorausgehen. Darum all dies Reden, Bekämpfen, Verneinen Widerlegen, Vernichten, bei dem mir selber, nimm mein Wort darauf, oft übel wird.“487 Das neue Publikum entsteht so als eine Schöpfung Borchardts, bei der dieser den einzelnen Leser sowohl von anderer, feindlicher Lektüre – „schlimmen Nachbarschaften“ 488 – fernhalten als auch von feindlichen Begriffen ablösen muß, damit aus ihm ein Leser mit Borchardts Kanon und Borchardts Begriffen werde. Borchardts Reden enden nicht selten in Aufrufen, es ihm nachzutun und in seinem Sinne zu wirken, wie etwa die Rede „Der Dichter und die Geschichte“: „Ich heiße einen jeden, der das Vaterland herstellen will, es in sich selber herstellen, auf den Wegen, die ich Ihnen gezeigt habe. Das Ganze wird den Teilen folgen müssen; ich heiße jeden in sich selber so viel des Ganzen erleben und wieder erlebt in sich darstellen, wie die Kräfte seines Lebens ihm zugestehen, und die Blicke nach den unkäuflichen Instanzen des nationalen Lebens lenken, wo die großen geistigen Parolen der deutschen Zukunft schon fern aufrücken, wie Donner über die Berge.“489 Bei Borchardts geistigem Imperialismus geht die Eroberung eines zukünftigen Publikums Hand in Hand mit der Durchsetzung seines Kanons. Erst wenn das Publikum seinen Kanon als alleinigen Kanon akzeptiert, kann es sein Publikum sein. Borchardt beschreibt sein ideales Publikum, das durch Annahme seines Kanons das Paradies verwirklichen soll, in der Rede „Dichten und Forschen“ wie folgt: „Wenn ich mir ein Publikum 485 486 487 488

„Schöpferische Restauration“, Reden, S. 249. „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“, Reden, S. 396. Borchardt an Ernst Borchardt, 13. Oktober 1908, Briefe 1907-1913, S. 184. Vgl. die von Max Krell überlieferte Anekdote, in der Borchardt die Veröffentlichung einer Novelle in der Vossischen Zeitung ablehnt, nachdem er in Krells Büro Ödön von Horvath begegnet war: „Sie werden mir zugeben, dieser junge Mensch, dieser Ungar, wäre eine unmögliche Nachbarschaft“ (Max Krell: Das alles gab es einmal. Reinbek 1965, S. 131f.). 489 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 235.

4. Verbreitung des Kanons: Aneignung und Wirkung

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vorstelle, das die ‚Wahlverwandtschaften‘, den ‚Divan‘, ‚Hermann und Dorothea‘, ‚Iphigenie‘, ‚Pandora‘ läse, Schillers Gedichte einschließlich solcher, die man bis in sehr hohe Kennerkreise hinein zu überschlagen pflegt, Oberon, Klopstocks Oden, Jean Paul und immer wieder Jean Paul, Kleists und Arnims Novellen, die Dichter des Altertums und des Mittelalters, die, wie Sie sagen, mit den Mitteln ihrer Zeit ihre Zeitgenossen zu glücklicheren, oder, wie ich sagen könnte, unglücklicheren aber weiseren Menschen gemacht haben – wenn ich mir ein solches Publikum vorstelle, so habe ich ja mit einem Schlage jenes utopische Paradies, von dem wir in vermessenen Stunden träumen.“490 Damit dieses Paradies nicht mehr nur ein utopisches Ideal ist, sondern verwirklicht werden kann, muß Borchardt wirken; nur so kann der Kanon Borchardts auf andere übergehen und im Volk verankert werden, wie es seine Bestimmung ist. Gleichzeitig sichert diese Wirkung nicht nur das Projekt der „Schöpferischen Restauration“, sondern auch den Fortbestand der von Borchardt angeeigneten Tradition, die ohne ihre Expansion durch Wirkung – etwa durch den Tod ihres Trägers – aufs höchste gefährdet ist. Um zu wirken, braucht Borchardt ein Medium, das seinen Kanon zuverlässig auf andere überträgt. Dieses Medium ist bei Borchardt zunächst das gesprochene Wort. In öffentlichen Reden spricht er von seinem Kanon und dessen „Centrum“, ohne daß es ihm jedoch dabei möglich wäre, den ganzen Kanon darzustellen – kann er doch durch die zeitliche Begrenzung einer Rede stets nur Ausschnitte daraus geben oder einen verkürzenden Überblick liefern. Hierbei bedient er sich zweier Mittel, die man als anthologische Kleinformen bezeichnen kann. Die eine ist das Zitat, 491 oft auch indirekt als Anspielung, das durch seine Auswahl sich innerhalb des Kanons bewegt und exemplarisch auf ihn verweist, das aber auch Borchardts Darlegungen selbst beglaubigen soll. Die andere quasianthologische Form ist die Liste, die in Borchardts Texten häufig vorkommt, etwa in der oben zitierten Passage über den Kanon des zukünftigen Publikums oder ebenfalls in der Rede „Dichten und Forschen“, in der Borchardt eine Liste enzyklopädischer Dichter von Platon und Dante über „Herder, Schiller, Goethe und der Romantik und zu Robert

490 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 190. Indem er sein ideales Publikum ein „utopisches Paradies“ nennt, deutet Borchardt an, daß er an eine Realisierung selber nicht recht glauben will, auch geht er nie darauf ein, wie sie denn erreicht werden soll; auch hier zeigt sich, daß Borchardt eben kein Praktiker ist, kein „Pädagoge“ (Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 237), sondern ein Dichter, der „Visionen“ heraufbeschwört. 491 Vgl. die „Anthologie Borchardtscher Übersetzungen antiker Texte im Kontext der Prosa“ in Ernst A. Schmidts Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 203-211.

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I. Grundlagen der Anthologien

Browning und Hofmannsthal“ 492 aufführt, die er später als Beispiel für Poesie, die „als ein totalitäres Verhalten des Menschengeistes“ auftrete, mit „Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Browning, Hofmannsthal“493 nur wenig verändert wiederholt. Obwohl eine Wirkung des Redners Borchardt und damit auch seines Kanons mehrfach belegt ist,494 ist ein dauerhaftes Weiterleben des Kanons in anderen dennoch zweifelhaft. Borchardt hat das Problem in einer seinerzeit unveröffentlicht gebliebenen „Notiz“ (1914) erkannt: Eine Rede sei, so heißt es da, „Handlung und Leiden, eine gelebte Lebensstunde, und als solche unermeßlich, unaussprechlich, unwiederbringlich, vergessen“. Das gesprochene Wort ist flüchtig, wird nicht oder falsch verstanden und ist von der Aufmerksamkeit und der Bereitwilligkeit der Zuhörer abhängig. Ähnliches gilt, wenn die Reden oder andere Texte, die einer Expansion seines Kanons dienen sollen – und das tun in einer gewissen Weise alle Texte Borchardts – in Zeitschriften oder Tageszeitungen veröffentlicht werden. Auch hier hängt die Wirkung der einzelnen Texte von der Aufmerksamkeit und dem Interesse des Lesers ab, dazu erschweren das Umfeld des Textes – das vom ihm ablenken oder ihm gar widersprechen kann – und der Gebrauchscharakter des Mediums zusätzlich seine Rezeption. Dennoch setzt Borchardt auf das gedruckte Wort: „Denn die gesprochene Rede ist Welt, und will nur in Wandlungen beharren, will sich vertausendfältigen und verflüchtigen, sich geben, sich ernähren, erobern, sich anpassen, sterben um erneuert aufzuleben; die veröffentlichte ist das Bild dieser Welt und will, einsam in den Grenzen ihres Stiles, dauern.“495 Noch während des Ersten Weltkriegs ist die Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit seiner Reden groß, und Borchardt erhofft sich, Dauer auf andere Weise zu erreichen: „Ich wende mich wie bisher so auch weiter an die neue Generation, die ich nicht als Redner in Versammlungen erreiche, sondern mit dem Buche aus meiner Seele, dem Verse aus meinem Blute und den Gestalten aus meinem Spiele und meiner Kraft die Schöpfung nach eigenem Sinne und eigener Not zu wiederholen.“496 Auf das „Spiel“ 492 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 198. 493 Ebd., S. 207. Das „Nachwort zu ‚Joram‘“ (1907) (Prosa I, S. 53-61), enthält im Text verteilt fast alle relevanten Namen: Homer, die frühgriechischen Lyriker und großen Dramatiker, Dante, Boccaccio, Carducci, Chaucer, Rossetti, Keats, Byron, Swinburne, Goethe, A.W. Schlegel, Hofmannsthal, Luthers Bibel, Klopstock und die Minnesänger. 494 Eine Schilderung von Borchardts Wirkung als Redner gibt etwa Schröder in der Einleitung zu Reden, S. 36f. Über Borchardts Reden als Inszenierung des „Dichterischen“ und damit als Annäherung an das Unendliche vgl. Gerhard Neumann: „Dichter, Herr und Improvisator. Rudolf Borchardt als Redner“ a.a.O., S. 34f. 495 „Notiz. Zu einem geplanten Redenband“, Prosa V, S. 191. 496 Borchardt an Hofmannsthal, 16. Juli 1916, Briefwechsel, S. 180.

4. Verbreitung des Kanons: Aneignung und Wirkung

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wird er nach zahlreichen Versuchen, auf deutschen Bühnen zu reüssieren, irgendwann aufhören seine Hoffnungen zu setzen; bleiben die „Verse“ und das „Buch“ allgemein, die beide gedruckt – eben als Buch – zu denken sind.497 So entstehen neben den Reden für die Bremer Presse die zahlreichen kanonbildenden Ausgaben, neben den Übertragungen vor allem die Anthologien. Die Anthologie bietet die beste Möglichkeit einer beispielhaften Präsentation des Kanons in einem dauerhaften Medium. Zwar ist auch hier eine vollständige Darstellung des Kanons unmöglich – diese zu liefern vermag allein eine Bibliothek. Borchardts Anthologien zeigen Ausschnitte seines Kanons, die aber dennoch, vor allem durch die Nachworte, einen Schluß auf das Ganze erlauben.498 Die Vorteile des Buches als Medium sind dabei unübersehbar: Es ist monolithisch, das heißt, es bildet in sich ein Ganzes und ist vor „schlimmen Nachbarschaften“ gefeit, wobei Borchardts Anthologien sogar in einem größeren, seinem Anliegen entsprechenden Kontext stehen, dem Verlagsprogramm der Bremer Presse; es ist von einiger Dauer, nicht zuletzt durch die sorgfältige und hochwertige Herstellung in den Werkstätten der Bremer Presse – und es existiert mehrfach, nämlich in einer Auflage zwischen 3000 und 5000 Stück, was den potentiellen Wirkungskreis gegenüber dem gesprochenen Wort deutlich erhöht. Borchardts Anthologien sind, wie alle seine Äußerungen, Teil der „Schöpferischen Restauration“. Sie sind restaurativ, weil sie versuchen, verschüttete Traditionen wieder freizulegen und zu dokumentieren, und gleichzeitig die Hoffnung zum Ausdruck bringen, diese nun dauerhaft lebendig erhalten zu können. Sie sind so auch ein Dienst an der göttlichen und ewigen Poesie und ein Mittel, das zukünftige Publikum als Bedingung für das irdische Paradies zu schaffen. Sie sind darüber hinaus Ausdruck von Borchardts Gegnerschaft, sie sind ein Mittel der Eroberung, da sie gegen konkurrierende Kanones gerichtet sind, was sich an den Nachworten, aber teilweise ebenso an Borchardts Umgang mit den von ihm versammel497 Lesungen eigener Werke hat Borchardt nur sporadisch und offenbar eher ungern gehalten. Etwa ist die Rede „Erbrechte der Dichtung“ (1910) als Einleitung in eine Lesung des „Buches Joram“ gehalten worden; einen anschaulichen Bericht einer Lesung von „Wannsee“ und der „halbgeretteten Seele“ vor enttäuschenden „zwanzig Personen“ wenige Tage nach der Berliner Rede „Das Geheimnis der Poesie“ im Dezember 1930 gibt ein Brief Borchardts an Schröder, 8. Januar 1931, Briefwechsel 1919-1945, S. 264f. 498 Die vorliegende Arbeit versteht sich auch als die Erfüllung von Gerhard Neumanns Wunsch, daß dem „Phänomen der Kanonbildung bei Borchardt, nicht zuletzt durch Abfassung von Anthologien, als ein wesentliches Medium seiner Poetologie“ (Gerhard Neumann: „Dichter, Herr und Improvisator. Rudolf Borchardt als Redner“ a.a.O., S. 20), eine eigene Untersuchung gewidmet werden möge.

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I. Grundlagen der Anthologien

ten Texten ablesen lässt. So stabilisieren seine Anthologien durch eine gültige Festschreibung in dauerhafter Gestalt sowohl Borchardts Kanon als auch die Persönlichkeit des Anthologisten selbst, dessen geistiger Besitz nun durch die schriftliche Fixierung in eine „Form“ gebracht ist.

II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien 1. Die Entwicklung der Anthologie seit dem 19. Jahrhundert a) „Objektive“ und „subjektive“ Anthologien Literaturwissenschaftliche Forschung über Anthologien, sofern sie nicht einzelne Sammlungen zum Gegenstand hat, braucht Kriterien, mit deren Hilfe sie die Anthologien beschreiben und miteinander vergleichen kann. Ihr Gegenstand ist daher fast ausschließlich der Typus von Anthologie, auf den die meisten, idealerweise alle dieser Kriterien zutreffen. Im Folgenden soll dieser Typus „objektive“ Anthologie genannt werden. Bei diesen sind die Kriterien für die Zusammenstellung der einzelnen Texte transparent und jederzeit objektivierbar, ihr Anspruch ist allgemein, er gilt der Repräsentation eines wie auch immer gearteten Kanons, der mit dem Kanon des Lesers – dem literarischen Kanon wie dem Kanon von moralischen Wertvorstellungen – eine weitgehende Übereinstimmung anstrebt. Eine „Wiederentdeckung verschollener Autoren“ erfolgt hier nur, „sofern dies den Kanon lediglich auffrischt, ohne ihn infrage zu stellen“. 1 Der objektive Anspruch bleibt jederzeit bestehen, was gleichzeitig auch ihre Beschreibbarkeit ermöglicht: „[D]a das subjektive Movens einer jeden Anthologie sich einer typisierenden Einordnung widersetzt, sind sie dennoch – verallgemeinernd – in ihrer Komplexität zu beschreiben“, wie es in Dietger Pfortes grundlegendem Aufsatz über „Die deutschsprachige Anthologie“ heißt.2 Die Gestalt des Herausgebers bleibt bei der „objektiven“ Anthologie im Hintergrund, läßt sich aber in der Regel nicht völlig verleugnen. Nicht ohne Grund sind die Anthologien des 19. Jahrhunderts vor allem durch ihre Titel im Gedächtnis geblieben: „unsichtbar bleiben viele

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Joachim Bark: „Rezeption als Verarbeitung von Texten. Am Beispiel von Anthologien und Lesebüchern.“ In: Der alte Kanon neu. Zur Revision des literarischen Kanons in Wissenschaft und Unterricht. Hrsg. von Walter Raitz und Erhard Schütz. Opladen 1976, S. 208-224, hier S. 214. Dietger Pforte: „Die deutschsprachige Anthologie.“ In: Die deutschsprachige Anthologie. Band 1. Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie 1800-1950. Hrsg. von Joachim Bark und Dietger Pforte. Frankfurt/M. 1970, S. xii-cxxiv, hier S. cxi.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

Anthologisten“,3 wie es bei Pforte heißt; Ausnahmen wie der 1836 erstmals erschienene „Echtermeyer“4 sind eher selten. Auch Kurt Pinthus, der Herausgeber der bedeutendsten Sammlung expressionistischer Lyrik, Menschheitsdämmerung (1916), bestätigt diesen Befund indem er feststellt, daß die Anthologie ihren Anthologisten töte, da zwar – wenn überhaupt – die Namen der Anthologisten im Gedächtnis blieben, kaum aber ihre Person, geschweige denn ihr eigenes dichterisches Werk. Als Beweise nennt er neben Meleagros, Benjamin Neukirch, Friedrich von Matthisson, Hans Benzmann und Theodor Echtermeyer auch sich selbst.5 Die „objektive“ Anthologie ist der häufigste Typus der Anthologie; Günther Häntzschels Untersuchung von über zweitausend Lyrikanthologien aus den Jahren 1840 bis 19146 hat genau diesen Typus zum Gegenstand. Häntzschel sieht in diesen Anthologien die hauptsächlichen „Distributionsorgane“ von Lyrik. Ihre Auflagen übersteigen selbst die der erfolgreicheren Sammlungen einzelner Dichter im Lauf der Jahre um ein Vielfaches – eine der erfolgreichsten Anthologien dieser Art, eben den 1836 erstmals erschienenen „Echtermeyer“, gibt es noch immer.7 Diese Anthologien legen es, wie Roderich Wais gezeigt hat, nicht nur darauf an, einen Kanon von mustergültigen Texten und Autoren zu bestätigen, sondern auch eine Reihe von moralischen Werten und sozialen Rollenbildern festzuschreiben.8 Das Extrem einer solchen „objektiven“ Anthologie in jüngerer Zeit (und ganz ohne den moralischen Aspekt) ist etwa die von Dirk Ippen besorgte Sammlung Des Sommers letzte Rosen. Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte, deren Bestand aus der Sichtung von fünfzig Anthologien des 20. Jahrhunderts gewonnen wurde; die Gedichte sind in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit darin abgedruckt. Die „schwierige und stets subjektive Arbeit“ der Auswahl, so heißt es im Vorwort, hätten Ippen „die Herausgeber der fünfzig beliebtesten Anthologien abgenommen, die in diesem 3 4 5 6 7 8

Ebd., S. xxx. Theodor Echtermeyer (Hrsg.): Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen. Hrsg. von Alfred Rausch. 43. Aufl. Halle 1921. Vgl. S. 236-239 dieser Arbeit. Kurt Pinthus: „Die Anthologisten. Ihr seltsam tragisches Schicksal.“ In: Magnum. Jahresheft 1964, S. 81-84, hier S. 81f. Günter Häntzschel: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997. Zuletzt Ernst Theodor Echtermeyer, Peter Geist und Elisabeth K. Paefgen (Hrsg.): Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neue Ausgabe. Berlin 2005. Roderich Wais: Soziale Rollenbilder in populären deutschen Lyrikanthologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diss. Berlin 1973. Vgl. zu den Anthologien dieser Zeit auch Jörg Schönert: „Die populären Lyrik-Anthologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zum Zusammenhang von Anthologiewesen und Trivialliteraturforschung.“ In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft. 9. Jg. 1978, S. 272-299.

1. Die Entwicklung der Anthologie seit dem 19. Jahrhundert

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Buch berücksichtigt werden. Unser Auswahlverfahren war hingegen objektiv, da rein statistisch geprägt.“ Das so vermeintlich „beliebteste“, weil am häufigsten in den gesichteten Anthologien vertretene Gedicht ist demnach Ludwig Uhlands „Frühlingsglaube“ („Die linden Lüfte sind erwacht“)9 – schon dieser Umstand zeigt, wie Michael Braun zu Recht moniert,10 die Fragwürdigkeit des Verfahrens. Ein ähnliches Prinzip liegt der Sammlung Die Lieblingsgedichte der Deutschen zugrunde, die aus einer Umfrage des Westdeutschen Rundfunks nach den Lieblingsgedichten seiner Hörer entstanden ist; folgerichtig sind darin die Gedichte nach der Reihenfolge ihrer Nennung abgedruckt.11 Günter Häntzschel versucht in seiner Arbeit Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914 die von ihm gesichteten Anthologien anhand von neunzehn Kategorien beschreibbar zu machen.12 Man wird bemerken, daß keine dieser Kategorien guten Gewissens auf die Anthologien Borchardts angewendet werden kann. Zwar mag man einwenden, daß Borchardts Sammlungen außerhalb des von Häntzschel untersuchten Zeitraums liegen, dennoch zeigt sich, daß es einen Typ von Anthologie gibt, bei dem Häntzschels Schematismus nicht verfängt und der daher in seiner Untersuchung auch nicht berücksichtigt wird. Die von Stefan George und Karl Wolfskehl herausgegebene dreibändige Sammlung Deutsche Dichtung (1900– 1902), die ja durchaus in seine Zuständigkeit fällt, wird oberflächlich mehr 9

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Dirk Ippen (Hrsg.): Des Sommers letzte Rosen. Die 100 beliebtesten deutschen Gedichte. München 2001, S. 5. An zweiter und dritter Stelle stehen Goethes „Der Fischer“ und Mörikes „Das verlassene Mägdlein“. Nach dem gleichen Prinzip wurde zusammengestellt Dirk Ippen (Hrsg.): Jeder Atemzug für Dich. Die 100 beliebtesten deutschen Liebesgedichte. München 2003. Michael Braun: „Das bleibt! Bleibt was? Vom Gebrauchswert eines Lyrik-Kanons und der Unzuständigkeit der Literaturkritik.“ In: Warum wir lesen, was wir lesen. Beiträge zum literarischen Kanon. Hrsg. von Olaf Kutzmutz. Wolfenbüttel 2002 (Wolfenbütteler Akademie-Texte Band 9), S. 67-75, hier S. 71. Die Lieblingsgedichte der Deutschen. Mit einem Nachwort von Lutz Hagestedt. Düsseldorf 2001. Das liebste Gedicht der Deutschen ist demnach Hermann Hesses „Stufen“, gefolgt von Eichendorffs „Mondnacht“ und Rilkes „Herbsttag“; Uhlands „Frühlingsglaube“ kommt nur auf Rang 27. Hagestedt spielt in seinem Nachwort auf Borchardts Anthologie an, wenn er schreibt: „Rilkes ‚Der Panther‘ gehört zweifellos zum ‚Ewigen Vorrat‘ deutscher Poesie.“ (ebd. S. 171) Für den Zeitraum von 1848 bis 1870 sind dies: Überblickssammlungen ‚für Schule und Haus‘; Populäre Überblicksauswahlen; Einzelne Zeiträume; Balladen und Romanzen; Lieder und Volkslieder; Weitere Gattungen; Parodien und Travestien; Politische Lyrik; Geschichte in Gedichten; Geistliche Lyrik; Stammbuchverse und Sprüche; Anthologien für Mädchen und Frauen; Lyriksammlungen für Kinder; Deklamatorien; Anthologien mit Lyrik fremder Nationen; Anthologien regionaler und mundartlicher Lyrik; Einer Persönlichkeit gewidmete Anthologien; Zu wohltätigen Zwecken veranstaltete Sammlungen; Periodika: Jahrbücher und Musenalmanache; für den Zeitraum ab 1871 sind einige Kategorien weggelassen bzw. ergänzt: Poetische ‚Hausschätze‘; Erbauliche Lebensbegleiter und Die politische Lyrik (mit nun sieben Unterkategorien).

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

erwähnt als behandelt, die überaus populäre Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik Will Vespers (1906) fehlt völlig. Roderich Wais stellt für die Zeit um 1900 einen Bruch in der Repräsentation eines Wertesystems in den populären Lyrikanthologien fest. Er sieht in den Anthologien dieser Zeit eine Entwicklung zu „Weltverleugnung“ und „Gegenwartsfeindlichkeit“,13 die er in Vespers Ernte vollendet sieht. Die sozialen Rollenbilder, die in den populären Anthologien des 19. Jahrhunderts dominierten – Soldat, Bauer, Mutter – treten hier nicht mehr in Erscheinung, dem stabilen Wertesystem jener Sammlungen steht nun eine „moralische Indifferenz“ gegenüber. Auch die nationale Geschichte wird nicht mehr verklärt, Historisches spielt kaum eine Rolle; stattdessen zählt Wais eine große Anzahl von Gedichten „über die Vergänglichkeit des Lebens“, in denen er die „Ahnung“ nach einem „unbestimmbaren Transzendenten“ ausgedrückt sieht.14 Dieser von Wais in den Anthologien dieser Zeit festgestellte Bruch ist indes freilich nur sekundär und folgt dem Bruch in der Produktion von Lyrik bzw. in der Weltanschauung nur nach: Der ideologische Bruch und die Neubewertung des Kanons hängen dabei zusammen.15 Vor 1900 ist diese Neubewertung bereits vorgezeichnet, allerdings mit einem ganz anderen Vokabular. So wenden sich Theodor Fontane mit seiner Antholoige Deutsches Dichter-Album (1852), die sich ausdrücklich gegen „Schwulst, Pathos und Bilderwust“ ausspricht und dem „Einfachen, Frischen und Gesunden“ wieder zu seinem Recht verhelfen will,16 oder Theodor Storm mit seiner „kritischen“ Anthologie Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius (1870), in der er bemängelt, daß die „Mittelmäßigkeit“ in „fast allen Anthologien“ einen so „unverhältnismäßigen Raum“ einnehme, gegen die Sammlungen ihrer Zeit. 17 Der bedeutendste Anreger dieses neuen Typus von Anthologie bzw. der Auflösung des über einen so langen Zeitraum stabil gehaltenen Wertesystems ist allerdings weder ein Dichter noch ein Anthologist, sondern ein Philosoph. Friedrich Nietzsche greift in seiner ersten Unzeitgemässen Betrachtung David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller (1873) den Typus des „Bildungsphilisters“ an, der den gewonnenen Krieg dazu mißbrauche, die Überlegenheit der deut13 14 15 16 17

Roderich Wais: Soziale Rollenbilder in populären deutschen Lyrikanthologien a.a.O., S. 223f. Ebd., S. 258f. Dieser neue Kanon soll am Beispiel von Borchardts Ewigem Vorrat im Vergleich zu den Sammlungen von Echtermeyer, Vesper und George/Wolfskehl exemplarisch dargestellt werden. Vgl. S. 235-253 dieser Arbeit. Theodor Fontane (Hrsg.): Deutsches Dichter-Album. Berlin 1852. Theodor Storm (Hrsg.): Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie. Hamburg 1870.

1. Die Entwicklung der Anthologie seit dem 19. Jahrhundert

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schen Kultur als gegeben anzusehen und nun mit großem „Behagen an der eigenen Enge“18 alles daran setze, daß „um Gotteswillen bei uns alles beim Alten“ bleibe.19 Dabei vergesse der Bildungsphilister, daß die „grossen heroischen Gestalten“ der sogenannten „Klassiker“ „Suchende“ waren – einen Begriff, den später Hofmannsthal in seiner Schrifttums-Rede wieder aufnehmen wird20 –, Suchende, die „die ächte ursprüngliche deutsche Kultur“ finden wollten, die Strauß und seinesgleichen mit der ihnen eigenen „Vulgarität der Gesinnung“ 21 einfach als schon gefunden und fertig voraussetzten.22 Angriffsziel Nietzsches ist dabei erstens der Kanon des Bildungsphilisters, der sich zusammensetze aus den „Klassikern“ selbst und, was die zeitgenössische Produktion angeht, einerseits aus dem „Epigonentum“ als „freie Copien der anerkanntesten und berühmtesten Werke der Klassiker“, andererseits aus der „Nachahmung der Wirklichkeit bis zum Aeffischen“, die „das Glück, die Heimlichkeit, die Alltäglichkeit, die bäuerische Gesundheit und alles Behagen“ mit Vorliebe zum Gegenstand habe.23 Zweitens attackiert Nietzsche aber auch das moralische Wertesystem, das die von Häntzschel und Wais untersuchten „objektiven“ Anthologien des 19. Jahrhunderts prägt – man vergleiche auch seinen Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (1873). Die „subjektive“ Anthologie ist keine Erfindung der Zeit um 1900, tatsächlich ist sie älter, bleibt aber, etwa als Sammlung von Abschriften „schöner Stellen“24 auf nicht zur Veröffentlichung vorgesehene „Privatanthologien“ beschränkt. Als Beispiel für die „subjektive Anthologie“ in ihrer Reinform kann die vom Fischer-Verlag 1978 begonnene Taschenbuch-Reihe Mein Lesebuch gelten: Auswahl, Anordnung, Bearbeitung (Kürzung), Rechtfertigung und Kommentierung sind hier völlig den Herausgebern überlassen. Erster Band der Reihe, bei dem an eine Serialisierung offenbar noch nicht gedacht ist, ist die Sammlung Hubert Fichtes, der vom Barock bis zur eigenen Gegenwart eine eigenständige, chronologisch angeordnete Sammlung von eher weniger bekannten Texten deutscher Literatur bietet. Nicht alle Bände der Reihe bleiben auf die deutsche Literatur beschränkt, ausdrücklich sieht der kurze Vortext des Verlags vor, 18 19 20 21 22 23 24

Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. In: Kritische Studienausgabe. Band I: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-73 a.a.O., S. 159-242, hier S. 168. Ebd., S. 170. Vgl. S. 139f. dieser Arbeit. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller a.a.O., S. 193. Ebd., S. 167. Ebd. S. 169-171. Dietger Pforte: „Die deutschsprachige Anthologie“ a.a.O., S. xxxiiif.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

daß die Herausgeber – „Schriftsteller von heute“ – „ganz subjektiv ausgewählte Texte der Weltliteratur vorstellen“. Viele dieser Lesebücher – etwa von Heinrich Böll, Luise Rinser oder Günter Wallraff – sind so sehr ihrer Zeit verhaftet, daß man sie heute nicht ohne ein Gefühl der Peinlichkeit in die Hand nimmt, andere ragen heraus, weil die Herausgeber einen originellen Zugang gefunden haben. Neben der Sammlung von Eckhard Henscheid, der die von ihm ausgewählten Texte ausführlich kommentiert, ist hier vor allem das Lesebuch Alfred Anderschs zu nennen; er führt in seinem Vorwort aus, warum er davon absieht, seinen Privatkanon von Lieblingstexten zusammenzustellen, um stattdessen eine Sammlung exemplarischer Beschreibungen in Poesie und Prosa vorzulegen. 25 Einzige Rechtfertigung für die Reihe Mein Lesebuch sind die Namen ihrer Herausgeber, die vom Verlag nicht aufgrund ihrer Reputation oder Eignung als Herausgeber von Anthologien beauftragt wurden, sondern aufgrund ihres dichterischen Ranges oder Repräsentationsgrades: Der Umstand, daß die Photographie des Herausgebers den Umschlag dominiert, wäre bei jeder anderen Anthologie undenkbar, ebenso die Häufigkeit, mit der die Herausgeber in den Einleitungen ihrer Sammlungen „ich“ sagen. „Subjektive“ Anthologien zu sein ist auch den Anthologien Borchardts vorgeworfen worden: Der Ewige Vorrat sei nichts anderes als „die Privatschatulle eines eigensinnigen Ästheten“, 26 heißt es etwa in einer Rezension Friedrich M. Reifferscheidts kurz nach dem Erscheinen des Buches. Auch für Borchardt selbst erscheint seine Tätigkeit für die Bremer Presse schon früh lediglich als „ein Umsetzen des Was und Wie meines Lesens.“27 Dennoch unterscheiden seine Anthologien sich in einem Punkt von den späteren Bänden der Reihe Mein Lesebuch: Sie erheben einen weitaus höheren Anspruch. Er ist schon ihren Titeln abzulesen: Deutsche Denkreden, Ewiger Vorrat deutscher Poesie, Der Deutsche in der Landschaft oder, bei den nur geplanten: Deutsche Renaissancelyrik, „Deutsche Sonette“, „Grundvesten deutscher Wissenschaft“ – sie zielen auf das Absolute, das Deut25

26 27

Alfred Andersch (Hrsg.): Mein Lesebuch. Frankfurt/M. 1978. Anderschs Ansatz ist dem Borchardts in seiner Anthologie Der Deutsche in der Landschaft ähnlich, aber auf andere Phänomene als das der Landschaft ausgeweitet; Shelleys Gedicht „Die Wolke“ (S. 24-26) ist in Borchardts Übertragung wiedergegeben, die Andersch im Vorwort als „eines der größten deutschen Gedichte“ würdigt: „Dieses ist, in Englisch oder Deutsch, ein wahres Wunder der Darstellung einer allumfassenden, stets gegenwärtigen Naturerscheinung. Die Wolke wird in allen ihren Aspekten gezeigt, in unvergeßlichen, weil originalen Sprachbildern.“ (S. 10) Friedrich M. Reifferscheidt: „Kritische Glosse zu Rudolf Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie.“ In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst. 24. Jg. 1927, Band 2 (April), S. 92-99, hier S. 92. Borchardt an Hofmannsthal, 13. September 1912, Briefwechsel, S. 120.

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sche, das Ewige, das Unveränderliche. Borchardt erkennt dabei selbst die Unmöglichkeit, seine Anthologien mit anderen zu vergleichen: „Darum können diese Sammlungen [der Bremer Presse] sich nicht vorgenommen haben, mit irgend welchen sonst bestehenden zu concurrieren, und sie sind vielmehr mit ihnen überhaupt nicht zu vergleichen“, 28 heißt es im Nachwort zu Der Deutsche in der Landschaft. Auch Gustav Hillard setzt Borchardts Anthologien, hier den Ewigen Vorrat, von anderen Gedichtanthologien als „einzigartigen und großartigen Versuch“29 ab, und Heinz Piontek stellt fest, „daß es sich hier um eine einmalige Form der Anthologie handelt“.30 So gilt für Borchardts Anthologien, was Kurt Pinthus von einer bestimmten Gruppe von Anthologien sagt: Diese seien „Anthologien, deren Bedeutung in der Persönlichkeit des Herausgebers und seines besonderen persönlichen Urteils beruht, Fontanes Deutsches Dichteralbum, Hofmannsthals Lesebuch, Rudolf Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie“; in ihnen sei die „dichterische Geltung [...] stärker als das Gewicht der Anthologie.“31 Wobei die „dichterische Geltung“ hier nicht die Geltung der einzelnen versammelten Gedichte meint, sondern die ihrer Auswahl, Anordnung und Rechtfertigung. Michael Braun zitiert Harald Hartungs Satz: „Anthologien bauen am Kanon mit, aber sie sind selbst nicht kanonisch“, 32 nennt aber selbst Ausnahmen: Hans Magnus Enzensbergers 1960 erstmals erschienenes Museum der modernen Poesie und eben Kurt Pinthus’ Menschheitsdämmerung. In diese Reihe kanonischer Anthologien gehören auch Borchardts Anthologien, die eben keine „höchst anfechtbare Momentaufnahmen“ darstellen, wie Michael Braun behauptet, 33 sondern auch rund achtzig Jahre nach ihrem Erscheinen zumindest teilweise noch verfügbar sind und von Zeit zu Zeit gewürdigt werden.34 Eine der Fragen also, die, besonders für die wirkungsreichste der Borchardtschen Anthologien, Ewiger Vorrat deutscher Poesie, in dieser Arbeit beantwortet werden soll, hat Heinz Piontek 1958 gestellt: „Daß diese Auswahl es zu 28 29 30 31 32 33

34

Rudolf Borchardt (Hrsg.): Der Deutsche in der Landschaft, S. 486. Gustav Hillard: „Bemerkungen zum Problem der Anthologie.“ In: Merkur. 3. Jg. 1949, Heft 4, S. 395-400, S. 395ff. Heinz Piontek: „Schatzkammer der Poesie“ (Rezension zur 4. Auflage des Ewigen Vorrats). In: Westermanns Monatshefte. 99. Jg. 1958, Heft 1, S. 88-90, hier S. 80. Kurt Pinthus: „Die Anthologisten. Ihr seltsam tragisches Schicksal“ a.a.O., S. 84. Zitiert nach Michael Braun: „Das bleibt! Bleibt was?“ a.a.O., S. 72. Ebd., S. 70. Braun erwähnt den Titel von Borchardts Anthologie mehrmals als Beispiel für das Auseinanderklaffen zwischen dem Anspruch einer Anthologie und ihrer Wirkung, wie es ja tatsächlich bei vielen Anthologien festzustellen ist: „was hier als überzeitlicher lyrischer Kanon drapiert ist, hat sich nur wenige Jahre später als verdorrte Stilblüte entpuppt.“ Ein „Neuromantiker“, wie ihn Braun nennt, ist Borchardt nicht. Vgl. etwa zu Deutsche Denkreden Lorenz Jäger: „Rudolf Borchardts ideale Universität.“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. Juli 2004, S. 58.

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einer vierten Auflage gebracht, ja, daß sie noch immer den Ruhm für sich in Anspruch nehmen darf, die bedeutendste Sammlung unter ihresgleichen zu sein – worauf beruht es?“35 b) Anthologien in Deutschland 1900-1930 Als bedeutendstes Dokument des Wandels um 1900 und als Vorbild für die Anthologien Hofmannsthals und Borchardts, aber auch für viele andere, muß Stefan Georges und Karl Wolfskehls Anthologie Deutsche Dichtung genannt werden, deren drei Bände zwischen 1900 und 1902 im jährlichen Abstand als Privatdrucke in einer zunächst sehr kleinen Auflage (403 Exemplare beim ersten, 303 bei den anderen Bänden) und in sehr aufwendiger künstlerischer Gestaltung von Melchior Lechter erstmals erschienen und erst bei ihrer Wiederveröffentlichung 1910 eine breitere Wirkung entfalten können. 36 Der erste Band ist Jean Paul gewidmet, der zweite Goethe und der dritte, Das Jahrhundert Goethes, versammelt zwölf Dichter von Klopstock bis Meyer. Diese Auswahl steht nicht nur für den moralischen Wandel, den Roderich Wais in den Anthologien dieser Zeit nachgewiesen hat, sondern vor allem – und folgenreicher – für einen neuen literarischen Kanon. Ihre Bedeutung haben die Bände der Deutschen Dichtung daher nicht nur wegen ihrer Ausstattung, sondern durch die eigenwillige Auswahl erlangen können. Von Jean Paul sind hier nicht die humoristischen Erzählungen versammelt, sondern die von den Herausgebern als Prosagedichte eingerichteten „Begeisterung-Stellen“, 37 von Goethe nicht das „deutschtümlich derbe oder das weichlich empfindsame“ – das „Leichtflüssige“, wie es Friedrich Wolters nennt38 –, sondern vor allem die 35 36

37 38

Heinz Piontek: „Schatzkammer der Poesie“ a.a.O., S. 80. Stefan George und Karl Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band I: Jean Paul; Band II: Goethe; Band III: Das Jahrhundert Goethes. Nachdruck der Erstausgaben mit Nachworten von Ute Oelmann, Stuttgart 1989, 1991 und 1995. Zu den Bänden vgl. neben Ute Oelmanns Nachworten Gerhard R. Kaiser: „Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George/ Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt.“ a.a.O.; Manfred Koch: „Artistische Verehrung. Zur Neuausgabe der Jean-Paul-Anthologie von George und Wolfskehl.“ In: Jahrbuch der JeanPaul-Gesellschaft. 28. Jg. 1993, S. 169-173 und Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 241-257. Gretz’ Darstellung ist nicht immer zuzustimmen; besonders zweifelhaft ist ihre Behauptung, Deutsche Dichtung sei eine „Nationalanthologie“ mit einem „nationalpädagogischen Anspruch“ (S. 242), da die Anthologie doch zunächst ausdrücklich nur für eine kleine Elite gedacht war. Anderes mag für den späteren George gelten. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Sämtliche Werke Abteilung I Band 5. München 1963, S. 322. Friedrich Wolters: Stefan George und Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930, S. 213.

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symbolischen Gedichte des Divan und der späten Jahre, in Das Jahrhundert Goethes schließlich nicht die im 19. Jahrhundert so populären Geibel, Uhland oder Storm, auch die Ballade fehlt, sondern die vernachlässigten Hölderlin, Novalis und Brentano. Bedeutend und grundlegend ist die Sammlung über den George-Kreis hinaus; Arnold Zweig etwa schreibt, daß sie zur Geschmacksbildung der Deutschen in jener Epoche „entscheidend“ beigetragen habe, und Friedrich Sieburg urteilt, sie habe „das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Lyrik grundlegend verändert“.39 Auch für Borchardts Anthologien ist die Sammlung ein wichtiges Vorbild, wie im Vergleich mit dem Ewigen Vorrat deutscher Poesie zu zeigen sein wird. Neben der Neubestimmung des Kanons ist dabei der Gestus der Anthologie ein wichtiger Aspekt. Wie Borchardts Anthologien später ist Deutsche Dichtung monolithisch, die Herausgeber ignorieren bewußt die ihnen vorangegangene Rezeption der Dichter und präsentieren sie in ihrer Auswahl wie Neuentdeckungen und Zeitgenossen, als „neue Dichter“.40 Auch die bisherige Forschung wird ignoriert und abgelehnt,41 obwohl die Herausgeber, vor allem Wolfskehl, wie Ute Oelmanns Nachworte zeigen, durchaus mit philologischen Methoden arbeiten. Durch die Exklusivität des Druckes, die besondere Schrift und die kostbare Ausstattung werden die Dichter heroisiert und sakralisiert, 42 was die dreibändige Anthologie deutlich von den Anthologien des 19. Jahrhunderts abhebt. Der strenge Ton, der die Auswahl begründet und jeden Zweifel daran ausschließt, soll dem Leser die Möglichkeit nehmen, die Sammlung zu hinterfragen. Sie will als Ganzes gelesen werden. Auch darüber wird im Zusammenhang mit dem Ewigen Vorrat noch zu sprechen sein. Gerechtfertigt wird die Anthologie von George und Wolfskehl in der „Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung“43 zunächst jedoch nicht durch die neue Auswahl – es sei nicht Ziel der Sammlung, „eine bestehende“ zu verdrängen –, sondern durch die Ausstattung: „Einem kreise von künstlern aber und schönheitsliebenden sei nicht verwehrt seine anforderungen zu betonen und seine verehrten meister-dichter in einer ausstattung zu lesen die dem gehobenen geschmack entspricht“. Angesprochen wird hier – auch die kleine Auflage und die Veröffentlichung als Privatdruck zeigen das – eine kleine Gruppe von Verständigen mit „gehobenem geschmack“. 39 40 41 42 43

Beide zitiert nach Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, S. 304. George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band I: Jean Paul a.a.O., S. 5. George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band II: Goethe a.a.O., S. 6. Vgl. Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 249ff. George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band III: Das Jahrhundert Goethes a.a.O., S. 5.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

Deutsche Dichtung steht in engem Zusammenhang mit dem elitären poetischen und ästhetischen Programm Stefan Georges und konstruiert eine Ahnenreihe, die sowohl dem eigenen Werk als auch dem anderer, meist zweitrangiger Dichter, die er als „Kreis“ um sich geschart hat, und ihrem Organ, den unregelmäßig erscheinenden Blättern für die Kunst, vorangeht. Die Bände der Anthologie dienen der „Etablierung eines Traditionszusammenhangs zur poetologischen Legitimation“, 44 eines Zusammenhangs, wie Karl Wolfskehl schreibt, durch eine „lückenlose Aufeinanderfolge die in den Bestrebungen der Blätter gipfelt seit Klopstocks Tagen“. George erscheint so als „Vollender und Neuerer“45 der dargestellten Entwicklung der deutschen Dichtung: Über ihn führt der Weg in die Zukunft. In den zwanziger Jahren dann erscheinen auffallend viele Anthologien, für die als Vorbild die Sammlung von George und Wolfskehl ausgemacht werden kann: die in der Bremer Presse erschienenen Anthologien, also Hofmannsthals Deutsches Lesebuch (erste Auflage 1922, zweite, erweiterte 1926), Deutsche Epigramme (1923) und Wert und Ehre deutscher Sprache (1927), Borchardts Deutsche Denkreden (1925), Ewiger Vorrat Deutscher Poesie (1926) und Der Deutsche in der Landschaft (1927) sowie die von Josef Bernhart besorgten Lieder der deutschen Mystik (1922), daneben eine Reihe anderer Anthologien deutscher Literatur wie Caesar Flaischlens Das Buch unserer deutschen Dichtung (zwei Bände, 1925), Josef Hofmillers Das deutsche Antlitz (1926), Julius Harts Die deutsche Seele (1926), Ludwig Fuldas Buch deutscher Epigramme (1929) sowie Friedrich Wolters’ dreibändige Hymnen und Lieder der christlichen Zeit (ab 1909, erstmals gesammelt 1922/23), seine mit Walter Elze herausgegebene Stimmen des Rheines (1923) und Der Deutsche. Ein Lesewerk in fünf Bänden (1925-27). Allen diesen Anthologien ist gemeinsam, daß sie nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs auf verschiedene Weise versuchen, das „Deutsche“ neu zu bestimmen und die deutsche literarische und kulturelle Tradition dabei wieder zugängig zu machen und zu bewahren. International gilt es, den Ruf wieder herzustellen, national das eigene Selbstbewußtsein durch den Verweis auf die große Tradition zu stärken. Der Einfluß von Deutsche Dichtung ist dabei in verschiedenem Maße festzustellen, auch wenn dort das „Deutsche“, das für die Zeit nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt der anthologischen Bestrebungen rückt, noch keine Rolle spielt.

44 45

Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 242. Wolfskehl an George, 29. August 1900, zitiert nach Ute Oelmann: Nachwort zu George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band I: Jean Paul a.a.O., S. 109.

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Die schmale Anthologie Das deutsche Antlitz, besorgt von Josef Hofmiller, der als Herausgeber auch für die Bremer Presse tätig ist, gibt sich dabei am unverbindlichsten. In seinem Nachwort nennt Hofmiller das Buch ein „kleines Lesebuch für große Leute“ und eine „thematische und kontrapunktische Phantasie über das Thema“.46 Unverbindlich erscheinen aber nur die Auswahl und Anordnung der Texte, nicht deren Inhalt. Denn in den um Richard Wagners von Hofmiller besonders hervorgehobenen Aufsatz „Was ist deutsch?“ gruppierten Texten betrachtender und essayistischer Prosa – größtenteils aus dem Umkreis der Süddeutschen Monatshefte – verbirgt sich eine durchaus ernst zu nehmende Aussage darüber, wie denn das Deutsche Hofmillers Meinung nach beschaffen sei. Räumliche Ausdehnung, deutsche Geschichte, Sprache, Bildung und Überlieferung, soziales Leben, Kunst, Literatur und Musik werden in exemplarischen Texten dargestellt. Als vorbildliche Menschen werden zum Teil mit zwei Texten die Dichter Goethe, Jean Paul, Mörike, Herder, Stifter und Eichendorff, die Maler Marées und Thoma sowie die Musiker Bach, Pfitzner, Weber, Beethoven und Wagner vorgeführt. An den Texten lassen sich zudem offenbar typisch deutsche Eigenschaften ablesen, die auch in den anderen Anthologien jener Zeit immer wieder hervorgehoben werden: ein besonderes Heimat- und Naturgefühl in den Texten Dauthendeys, Stifters und Johannes von Müllers (S. 11-29), Innerlichkeit wie in Paul Nikolaus Cossmanns „Der innere Aufstieg“ (S. 196-202), die Fähigkeit, Fremdes sich anzueignen, ohne dabei das Eigene aufzugeben, wie sie in Andreas Heuslers „Von germanischer und deutscher Art“ (S. 29-40), Wagners „Was ist deutsch?“ (S. 40-51, bes. S. 43f.), den Aphorismen Goethes (S. 78-88) und dem Ausschnitt über „Unsere Sprache“ aus Fichtes Reden an die deutsche Nation47 (S. 88-97) hervorgehoben wird, Geselligkeit wie im Text von Louis Ehlert (S. 120-125) sowie Wagemut und Tatkraft wie in Treitschkes Schilderung Friedrich Wilhelms III. in „Trost aus dunklen Tagen“ (S. 185-195). Wesentlich weniger unverbindlich erscheint Caesar Flaischlens Das Buch unserer deutschen Dichtung, das schon durch seinen Umfang beeindruckt: In zwei Quartbänden von 852 und 886 Seiten versammelt es deutsche Gedichte, dazu ganz und in Ausschnitten Dramen, Erzählungen und Romane, wobei der erste Band den Jahren 1500-1800 gewidmet ist, der zweite Band ausschließlich Goethe und Schiller – dem Vorwort ist zu entnehmen, daß diesen beiden aus dem Nachlaß des 1920 verstorbenen Flaischlen posthum herausgegebenen Bänden noch ein weiterer für das 46 47

Josef Hofmiller (Hrsg.): Das deutsche Antlitz. München o. J. [1926], S. 203. Vgl. S. 71f. dieser Arbeit.

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19. Jahrhundert hätte folgen sollen.48 Allein der Goethe und Schiller gewidmete Band ersetzt jeweils eine kleine Werkausgabe. Von Goethe sind unter anderem enthalten: eine großzügige Auswahl aus den Gedichten und Dichtung und Wahrheit sowie Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wahlverwandtschaften, Götz von Berlichingen, Clavigo, Faust I, Egmont, Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso, Die natürliche Tochter und Faust II, alle vollständig. Auf Goethe beruft sich Flaischlen auch in seinem Vorwort, in dem er ausführlich dessen Entwurf für ein lyrisches Volksbuch zitiert. Goethe hatte 1808 auf Anregung von Friedrich Immanuel Niethammer und dessen Schrift „Das Bedürfnis eines Nationalbuches, als Grundlage zur allgemeinen Bildung der Nation betreffend“ sowohl den Entwurf für ein lyrisches Volksbuch49 als auch ein „Schema zu einem Volksbuch, historischen Inhalts“50 skizziert. Beide Texte wurden um die Jahrhundertwende – jener in der Zeitschrift Von Fels und Meer 1889/90, dieser in der großen Weimarer Ausgabe 190751 – erstmals gedruckt, so daß sie für die Anthologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewissen Bedeutung erlangen konnten. Zwei Punkte sind Flaischlen an Goethes Überlegungen besonders wichtig. Zum einen dessen Forderung, daß „nur das Beste“ aufgenommen werden solle, damit „etwas Fertiges, Abgeschlossenes, Vollbrachtes“ dargestellt werde; zum andern der Anspruch, das Volk, „eine ungebildete bildungsfähige Menge“, durch ein „höheres, aber ihrem Zustande Analoges“52 zu bilden, wobei mehr der „Charakter, nicht der Geschmack“ zu bilden sei. Außerdem folgt Flaischlen Goethes Maßgabe, nach der ein „solches Buch nur durch Masse imponieren“ könne: „Es muß dergestalt Gehalt- und Formreich sein, daß nicht leicht jemand sagen könne: er sei im Stande es zu übersehen.“ 53 Flaischlen beruft sich auf Goethes Entwurf, erkennt und bedauert aber auch dessen Scheitern in den immer weiter in die Breite gehenden Notizen zu einem Volksbuch, das Goethe, so Flaischlen, zu einem „Weltbuch“ geworden wäre. So sieht Flaischlen sein Unternehmen als Realisation von Goethes Ausgangspunkt: der Idee eines Volks- oder „Nationalbuches“. Flaischlen will der „Sehnsucht“ des Volkes nachkommen, „die Schriften der Großen, auf denen seine Kultur und seine Ethik 48 49 50 51 52 53

Das Material im Nachlaß umfasst Gedichte von vierundzwanzig Dichtern von den Gebrüdern Schlegel und Novalis bis zu Rückert, Platen und Droste-Hülshoff (DLA). Johann Wolfgang Goethe: [Lyrisches Volksbuch] (1808). In: Epoche der Wahlverwandtschaften 1807-1814. München 1987 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Band 9), S. 615-618. Johann Wolfgang Goethe: „Schema zu einem Volksbuch, historischen Inhalts“ (1808), ebd., S. 605-615. Vgl. den Kommentar ebd., S. 1266 und 1269. Ebd., S. 616. Johann Wolfgang Goethe: „Schema zu einem Volksbuch“ a.a.O., S. 618.

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aufbaut, als geschlossenes Ganzes zusammenzuhaben, als Denkmal eigenen Wollens und Werdens.“54 Dabei ist es ihm nicht so sehr um die Bildung dieses Volkes zu tun, auch ist er nicht an ideologischer Einflußnahme interessiert. Sein Ziel ist die Bewahrung des literarischen Bestands des deutschen Volkes. Im Gegensatz zu Hofmiller rechtfertigt Flaischlen seine Anthologie dabei mit der Situation seiner Zeit: In der „Zersplitterung unserer Welt“ sei sein Buch ein „unerläßliches Gebot“. Sein Vorwort schließt so esoterisch wie pathetisch mit einer Vision, was sein Buch unserer deutschen Dichtung dem deutschen Volk einmal wird sein können: „Wir stehen vor den Toren einer neuen Weltgestaltung; und so möge dieses Werk, das im stolzen Glauben an den Aufstieg unseres Volkes vor hundert Jahren einst gedacht und nun Gestalt gewonnen hat, von diesen als köstlichster Besitz genommen werden. Seine Dichter haben es geschaffen. Möge unser Volk, was sie ihm gaben, immer aufs neue zu Tat werden lassen und zu festem Boden unter seinen Füßen und zu Haus und Heimat, und möge es immer sich eins fühlen mit dem Geist, der es durch Jahrhunderte hindurch von Höhe zu Höhe trug.“ Während sich die bisher genannten Anthologien darauf beschränken, das „Deutsche“ nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs neu zu bestimmen, und darauf verzichten, das „Deutsche“ mit anderen Nationen zu vergleichen oder gar als anderen Nationen überlegen darzustellen, schlägt das von Friedrich Wolters und Walter Elze herausgegebene „Lesebuch für die Deutschen“ Stimmen des Rheines (1923) einen schrillen antifranzösischen Ton an. Erschienen ist das Buch während der Besetzung des Ruhrgebiets, seine ausführliche Einleitung basiert auf einer Rede Wolters’, die er am 15. März 1923 in Marburg auf der Rheinlandfeier des Hochschulverbandes – einer Protestveranstaltung gegen die Besetzung des Ruhrgebietes – gehalten hat. 55 Der aggressive Gestus dieses Textes prägt die ganze Anthologie. Wolters, aus Uerdingen gebürtig, also Rheinländer wie George, hatte in Paris studiert und 1903 in Breslau mit der Arbeit Studien über Agrarzustände und Agrarprobleme in Frankreich 1700-1790 promoviert; umso erstaunlicher erscheint seine Frankophobie. Die Einleitung gliedert sich in drei Teile. Im ersten, „Das Heilige Reich“, werden Kultur, Glauben und Kunst des Deutschen Reiches geschildert, das, wie Wolters mehrfach hervorhebt, im Rhein seinen Ur54 55

Caesar Flaischlen (Hrsg.): Das Buch unserer deutschen Dichtung. Band 1: Die Frühzeit 1500-1800; Band 2: Goethe und Schiller. Königstein im Taunus und Leipzig 1925, hier: Band 1, Vorrede, o.P. Vgl. Groppe: Die Macht der Bildung a.a.O., S. 259-261. Die Rede wurde später in Wolters’ Vier Reden für das Vaterland (Breslau 1927) unter dem Titel „Der Rhein unser Schicksal“ in der Buchfassung veröffentlicht.

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sprung und seine Mitte habe und erst unter dem schädlichen Einfluß des französischen Rokoko untergegangen sei.56 Dem französischen Feind gilt der zweite Abschnitt, „Die Ohnmacht und der Feind“, in dem die Franzosen als Vertragsbrecher, Mordbrenner und Totenschänder 57 erscheinen; Wolters schreibt: „Nur Kinder und Narren können sich täuschen über die Tiefe und Niedertracht des französischen Hasses“, den nicht nur „einige böse Führer“ hegten, sondern „das ganze französische Volk“.58 Der dritte Teil der Einleitung weist mit seiner Überschrift „Das Neue Reich“ schon auf Georges gleichnamigen Gedichtband hin, der zwar erst 1928 erscheinen wird, den Kreismitgliedern aber schon früher bekannt gewesen sein dürfte.59 Hier wird der Verfall der deutschen Gesellschaft – die Herrschaft des Kapitals, der unverbindlich werdende christliche Glaube, der Untergang der Bildung – geschildert. Es seien nun die Dichter, so heißt es im Anschluß – auch hier fehlt der Blick in die Zukunft nicht –, die aus diesen Trümmern das „Neue Reich“ errichten werden, und zwar geschehe dies nun durch die Sprache allein, „das unberührte und allberührende, das keuscheste und reichste Eigen des Volkes“. Goethe und Hölderlin hätten begonnen, diese „neue Welt“60 aus dem Geiste der Dichtung zu schaffen, ihr Vollender sei George, dem nun auch „die zweite Schöpfung des Rheins aus dem Geiste der Sprache“61 obliege. Zwei längere Passagen aus Georges Gedicht „Der Dichter in Zeiten der Wirren“ schließen die Einleitung ab. Der anthologische Teil ist ebenfalls dreigeteilt, wobei die Gliederung derjenigen der Einleitung entspricht. Der erste Teil, „Rheinlob“ überschrieben, enthält Landschafts- und Städtebeschreibungen sowie Schilderungen des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens am Rhein in Zeugnissen vor allem aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert. Der zweite Teil, nur scheinbar neutral „Franzosen am Rhein“ genannt, birgt in drei Abschnitten „Anspruch und Abweisung“, „Schändung, Raub, Zerstörung“ und „Wegbereiter des Feindes, Ideologen und Verräter“ das antifranzösische Herzstück der Sammlung. Hier stehen neben politischen Überlegungen und frankreichfeindlichen Aussagen etwa Goethes oder Moscheroschs (aus der Geschichte des Philanders von Sittewald) Schmähungen 56

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Friedrich Wolters und Walter Elze (Hrsg.): Stimmen des Rheines. Ein Lesebuch für die Deutschen. Breslau 1923, S. 29. Eine von Wolters’ ersten Veröffentlichungen, die gemeinsam mit Friedrich Andreae verfassten Arkadischen Launen (Berlin 1908), ist selbst dem dann so gescholtenen Rokoko verpflichtet. Wolters und Elze (Hrsg.): Stimmen des Rheines a.a.O., S. 37f. Ebd., S. 48. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George a.a.O., S. 582-585. Wolters und Elze (Hrsg.): Stimmen des Rheines a.a.O., S. 71. Ebd., S. 73.

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von „Vaterlandsverrätern“ wie Forster oder Börne und ausführliche Schilderungen von „Franzosengreueln“ seit dem 17. Jahrhundert. Im letzten Teil, dem vorangehenden entgegengesetzt, wird noch einmal das „Deutsche“ beschworen, wobei die üblichen Gegensatzpaare – Bildung und Wissenschaft („Gebildetheit“) oder Tiefe und Oberflächlichkeit – mehrmals thematisiert werden. Auch dieser Teil schließt mit der Hoffnung auf deutsche Selbstbesinnung,62 denn, so heißt es in der Einleitung, Deutschland habe sich nichts vorzuwerfen als allein das lügenhafte Schuldbekenntnis nach dem Ersten Weltkrieg. Die Frage jedoch, wie das beschworene „Neue Reich“ aussehen solle, wie es aus der Sprache der Dichter in das deutsche Volk gelangen könne und inwieweit es mit dem im ersten Teil des Buches beschworenen „Heiligen Reich“, das von den über die Römer siegenden Germanen bis zum Einbruch des Rokoko reiche, im Zusammenhang stehe, vermag das Buch nicht zu beantworten. Dennoch läßt sich erahnen, daß auch Wolters und Elze auf das etwa vom George-Kreis propagierte „Geheime Deutschland“ setzen, dessen Wiederkunft mit der Bildung der nachfolgenden Generationen durch die Veröffentlichung des Meisters George und seiner Anhänger – etwa den Stimmen des Rheines – gelingen soll. Bemerkenswert bleibt vor allem die Konstruktion des Buches, bei der sich Einleitung und Anthologie gegenseitig ergänzen und illustrieren: Erst die Argumentation und deren Belege zusammen ergeben das Ganze, die „großen und einenden Erinnerungen“ 63 werden zu einer kollektiven, die Vielzahl der Stimmen des Rheines werden zu einer einzigen. Die antifranzösische Tendenz, die man bei Borchardt durchaus auch finden kann,64 fehlt seinen Anthologien, sieht man von einigen abfälligen Bemerkungen über den französischen Nationalcharakter und die französi62 63 64

Burckhardt, Brief an Preen. In Wolters und Elze (Hrsg.): Stimmen des Rheines a.a.O., S. 311. Wolters und Elze (Hrsg.): Stimmen des Rheines a.a.O., S. 9. So etwa am Anfang der in Freiburg am 4. Februar 1927 gehaltenen Rede „Der Dichter und die Geschichte“, wo Borchardt hervorhebt, er habe „für dies alte Land der Franzosenschlachten und Franzosenverwüstungen dreier Jahrhunderte“ die Waffen getragen (Prosa IV, S. 207). Dort erzählt er auch, er habe es „vor zwei Jahren“ abgelehnt, ins Französische übersetzt zu werden, „so lange französische Heere auf deutschem Boden stehen und der Deutsche im Straßburg Erwins und Kolmar Grünewalds sogar aus dem Gastrecht ausgeschlossen ist, mit einem Nein ohne jede Bedingung.“ (ebd., S. 232) Gemeint ist Borchardts Brief an Henri Buriot-Darsiles vom 7. Dezember 1925: „Zwischen solchen Wünschen und ihrer Erfüllbarkeit stehen leider, und auf unabsehbare Zeit, von der burgundischen Pforte bis Koblenz Ihre Heere“ (Briefe 1924-1930, S. 109-111). Buriot-Darsiles veröffentlichte den kurzen Briefwechsel bereits 1927 unter dem Titel „Rudolf Borchardt. Traducteur, anthologiste et … nationaliste allemand“ in der Revue de l’enseignement des langues vivantes. 44. Jg. 1927, Heft 6 vom Juni, S. 258-262 und Heft 7 vom Juli, S. 298-308. Vgl. auch Werner Kraft: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 420-422.

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sche Landbevölkerung in Wilhelm von Humboldts „Die französische Nutzlandschaft“ ab, das sich in Der Deutsche in der Landschaft findet.65 Dennoch stehen seine Anthologie und die Wolters’ in einem engen Zusammenhang. Borchardt hat Wolters sowie Berthold Vallentin wohl 1905 kennengelernt und mit beiden auch seit Ende des Jahres korrespondiert, wobei sein launiger Ton und die Anrede der beiden als „Freunde“ auf ein durchaus engeres intellektuelles und persönliches Verhältnis schließen lassen; Wolters schickt er auch die ersten Proben seiner Übersetzung von Dantes Vita Nova; 66 beide beginnen etwa gleichzeitig, aus dem Mittelhochdeutschen zu übersetzen.67 Zu diesem Zeitpunkt haben sich Wolters und Vallentin dem George-Kreis noch nicht so eng angeschlossen und hat Borchardt sich noch nicht endgültig von George gelöst. Das Verhältnis mußte sich aber trüben, als Wolters und Vallentin sich George weiter annäherten und Borchardt sich 1906 brieflich von diesem losgesagt hatte. So sind die wenigen Briefe Borchardts an Wolters aus den Jahren 1908 und 1910 Abschiedsbriefe, die eine zunächst persönliche, dann geistige Trennung immer deutlicher und endgültiger aussprechen, bis er Wolters mit seinem letzten Brief endgültig den „Lügnern Fälschern und Buhlknaben“,68 die die Mitglieder des George-Kreises für ihn längst sind, überläßt. Trotz einer seither feindlich beibehaltenen Distanz gibt es zwischen den beiden mehr Gemeinsamkeiten, als sie sich eingestanden hätten, zumal in den zwanziger Jahren, in denen beide sowohl durch Anthologien als auch durch eine intensive Rednertätigkeit hervortreten.69 Wolters’ Anthologie Der Deutsche. Ein Lesewerk70 besteht aus fünf Teilen, die in zehn Heften zwischen 1925 und 1927 ausgeliefert wurden – insgesamt 1355 Seiten. Die einzelnen Teile sind überschrieben mit „Das Bild der Antike bei den Deutschen“ (1925), „Sicht in Vorzeit und Mittelalter“ (1926), „Die Neuzeit im Deutschen Bereich“, „Die Gestalt des Deutschen“ und „Erde· Gewächs und Weltall“ (alle 1927) – somit sind die ersten drei Teile vor allem der Geschichtsschreibung gewidmet, der letzte der Naturwissenschaft. Versammelt ist betrachtende und wissenschaftliche deutsche Prosa, meist in Ausschnitten aus größeren Werken, seltener

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Rudolf Borchardt (Hrsg.): Der Deutsche in der Landschaft, S. 78f. Borchardt an Berthold Vallentin und Wolters, 2. Dezember 1905, Briefe 1895-1906, S. 379. Vgl. Borchardt an Wolters, 17. Oktober 1906, Briefe 1895-1906, S. 433f. Vgl. S. 203f. dieser Arbeit. Borchardt an Wolters, 8. Mai 1910, Briefe 1907-1913, S. 314. Bittere Worte über den eben verstorbenen Wolters findet Borchardt noch 1930 in „Pseudognostische Geschichtsschreibung“, Prosa IV, S. 292-294. Friedrich Wolters (Hrsg.): Der Deutsche. Ein Lesewerk. Breslau 1925-1927.

1. Die Entwicklung der Anthologie seit dem 19. Jahrhundert

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auch dichterische Texte. 71 Besonders im vierten Teil „Die Gestalt des Deutschen“72 finden sich eben jene scheinbar charakteristisch deutschen Eigenschaften wieder, die sich in Hofmillers Das deutschen Antlitz wie auch in den Anthologien Borchardts finden lassen. So beginnt schon der erste Abschnitt des ersten Kapitels, das mit „Volkstum und geschichtliches Erbe“ überschrieben ist, mit zwei Abschnitten aus Fichtes Reden an die deutsche Nation, deren erster – „Bewahrung deutschen Wesens gegen Rom“ – bereits die Fähigkeit darstellt, sich Fremdes anzueignen, ohne das Eigene aufzugeben. Ein großer Teil dieses Bandes ist dem „grossen Menschen“ gewidmet, zunächst in einem allgemeinen Teil, „Artung grosser Menschen“ überschrieben, gefolgt von „Vorbilder“ und „Lobreden“, dem dann im zweiten Heft die „Einzelgestalten“ folgen, „Staatliche Menschen“ von Theoderich bis Bismarck und „Geistige Menschen“ von Mathilde von Quedlinburg bis Nietzsche. Auch Wagemut und Tatendrang sind mehrfach thematisiert, am deutlichsten in dem „Notwendigkeit des gefahrvollen Lebens“ überschriebenen Stück aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft (IV, S. 38), ebenso wie die Geselligkeit in dem den Band abschließenden Abschnitt „Bünde“. Man mag in dieser Totalität einiges von Goethes Forderung nach einem historischen Volksbuch erfüllt sehen, nicht zuletzt die nach einem „tüchtigen Gehalt“ und einem „großen Vorrat“,73 der dazu nötig sei. Es entsteht bei der Anlage des Buches eine interessante Verdoppelung der Perspektive auf das, was „der Deutsche“ sein soll: Dieser erscheint nämlich in den ausgewählten Texten nicht nur als Betrachteter, sondern auch als Betrachter. Während Darstellungen seiner Geschichte seit der Antike abgedruckt sind, erscheint er als Betrachter erst ab etwa 1750. Der älteste Text der Sammlung ist mit großem Abstand ein Abschnitt aus Leibniz’ „Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben“ von 1679 (III, S. 303), chronologisch setzt sich die Reihe fort mit Lessing (1750; IV, S. 90f.), Gessner (1756; I, S. 154 und V, S. 74f.), Haller 71

72 73

Vgl. die Autobiographie von Wolters’ Schüler Rudolf Fahrner, der berichtet, selbst einen Großteil des Materials gesammelt und vorab gesichtet zu haben: „Für den ersten Teil [...] und für den dritten bis fünften Teil [...] überliess Wolters mir die Sammlung der Stücke.“ (Rudolf Fahrner: Erinnerungen 1903-1945. Aus dem Nachlaß hrsg. von Stefan Bianca. Genf 1998, S. 109) Josef Hofmiller vermerkt in einer Rezension des „Lesewerks“, an dem er außerdem lobt, daß es „deutsch“ und gar „nationalistisch“ sei, daß schon ein Gefühl des „dankbaren Respekts“ angesichts der Funde darin „jede Kritik verstummen“ lassen müsse (Josef Hofmiller: „Deutsche Lesebücher.“ In: Süddeutsche Monatshefte 25. Jg. 1927/28, Heft 1, S. 79f.). Dieser vierte Teil steht im Mittelpunkt der Analyse von Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 262-270. Johann Wolfgang Goethe: [Lyrisches Volksbuch] (1808), „Schema zu einem Volksbuch, historischen Inhalts“ a.a.O., S. 605f.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

(1757; V, S. 136) und Bodmer (1758; II, S. 139). Spätestens beim geschichtlichen Überblick, der bis zu Bismarck und seiner Zeit reicht, kollidieren von der Mitte des 18. Jahrhunderts an Betrachter und Betrachtete, das Bild wird durch dieses Ineinander dichter und intensiver – auf diese Weise erscheint auch hier das „große Jahrhundert deutschen Geistes“ als die vorbildliche Zeit, die Wolters wie Borchardt im 19. Jahrhundert vor allem durch die Leistungen der Wissenschaft fortgesetzt sehen. Dabei wählt Wolters auch Texte aus seiner Gegenwart aus. Bezeichnenderweise stammen diese alle von Autoren aus dem George-Kreis und dessen Umfeld: Friedrich Gundolf ist allein achtzehnmal vertreten, außer ihm Melchior Lechter, Ernst Bertram, Kurt Hildebrandt, Berthold Vallentin oder Karl Reinhardt. 74 Wolters schreckt sogar nicht davor zurück, das ungeschriebene Gesetz, nach dem der Anthologist sich niemals selbst in die Anthologie aufnimmt, zu brechen:75 Von ihm stammen neunzehn Texte.76 Die am häufigsten vertretenen Autoren sind jedoch Herder, Goethe und Nietzsche, ein Umstand, der zeigt, daß es Wolters, wie Borchardt, nicht um exakte Wissenschaft geht. Dies belegt auch die große Zahl von Ausschnitten aus dichterischen Werken wie Hölderlins Hyperion, Heinses Ardinghello, Gessners Idyllen, Tiecks Franz Sternbald, Jean Pauls Titan oder Stifters Nachsommer und Hochwald. Überschneidungen mit Borchardts Anthologien gibt es einige – zumal ein Kapitel „Lobreden“ (IV), ein anderes „Landschaft“ (V) heißt: So etwa finden sich aus den Deutschen Denkreden Herders Rede auf Winckelmann (S. 7-22) in Der Deutsche in Ausschnitten als „Schwerer Durchbruch Winckelmanns“ (III, S. 191-193) und „Winckelmanns Tod“ (IV, S. 71f.) sowie „Goethe auf Wieland“ (S. 69-98) gekürzt als „Lobrede auf Wieland“ (IV, S. 74-79); aus Der Deutsche in der Landschaft finden sich Goethes „Granit“ (S. 137-141) in einer etwas längeren Version (V, S. 56-58), Alexander von Humboldts „Steppe“ (S. 122-136) deutlich gekürzt als „Steppen“ (V, S. 59-62), Forsters „Amsterdam“ (S. 70-72) stark abweichend (V, S. 196) 74 75 76

Gretz sieht darin zu Recht einen „Anspruch auf Erbschaft“ des George-Kreises formuliert, Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 258. Vgl. Dietger Pforte: „Die deutschsprachige Anthologie“ a.a.O., S. xxvii: „Als peinlich wird oft empfunden, wenn der Anthologist, der gleichzeitig Schriftsteller ist, eigene literarische Produkte in die Anthologie aufnimmt.“ Die Werke, aus denen die Texte ausgewählt sind, ergeben dabei eine fast vollständige Bibliographie der Woltersschen Schriften: Über die theoretische Begründung des Absolutismus im 17. Jahrhundert und Arkadische Launen (beide 1908), Die neue Gartenkunst (1911), Mensch und Gattung (1912), Hymnen und Sequenzen (1914), Colbert (1921), Heldensagen der germanischen Frühzeit (1922), Lobgesänge und Psalmen, Stimmen des Rheines (allein sechs mal) und Von der Herkunft und Bedeutung des Marxismus (1923) sowie Der Donauübergang und der Einbruch in Serbien im Herbst 1915 (1925).

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und Hehns „Italische Landschaft“ (S. 403-417) stark gekürzt als „Plastische Landschaft des Südens“ (V, S. 225f.). Diese Überschneidungen sind insofern interessant, als die Anthologien Borchardts und Wolters’ „Lesewerk“ beide in den Jahren 1925 bis 1927 erscheinen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß ein gegenseitiger Einfluß besteht. Zum einen fehlen dafür die Belege, zum andern liegen die beiden besonders ähnlichen Teile Der Deutsche in der Landschaft und der fünfte Teil des „Lesewerks“ zeitlich zu nahe beieinander. Ein deutlicher Unterschied zwischen Borchardts und Wolters’ Anthologien besteht im Publikum, das sie jeweils ansprechen wollen. Sind Borchardts Anthologien für ein gehobenes Bürgertum bzw. für eine ideale Elite gedacht, so ist Wolters’ „Lesewerk“ als Schulbuch konzipiert. Zum Erscheinen der ersten beiden Teile hat Wolters eine „Voranzeige zu einem Lesewerk für die oberen Klassen der höheren Lehranstalten“ 77 verfasst, die in einer Auflage von 40000 mit beigefügtem Bestellzettel an die Schulen des Deutschen Reichs verschickt wurde78 – sogar an ein ergänzendes Bilderwerk wurde gedacht.79 Zwei seiner Ziele hebt Wolters in der „Einführung“ darin besonders hervor: Zunächst die Kritik an der Wissensvermittlung seiner Zeit, bei der die Lehrweise des Wissens wichtiger geworden sei als das Wissen selbst. Dem will Wolters die „unmittelbare Darreichung sinnlichen Stoffes“ entgegensetzen und damit „ein erstes Wissen davon geben, wie der Deutsche die Bereiche der Natur und Geschichte in seiner Prose bildhaft gestaltet hat“. Diese „Prose“ bildet den zweiten Schwerpunkt der „Einleitung“. Auch deren Entstehung ist an das „Jahrhundert des deutschen Geistes“ gebunden: „Die gute neuhochdeutsche Prose beginnt erst mit dem Erwachen unserer klassischen Dichtung, dauert solang der Atem Goethes, Jean Pauls und der Romantiker sie trägt und formt sich auf diesen Wurzelgrund zurückgehend ein zweites Mal mit der Erweckung des neuen Wortes durch den Dichter unserer Tage“ – gemeint ist damit natürlich George. 80 Zwar enthält das „Lesewerk“ nur wenige dichterische Werke und gar keine Verse, dennoch bestehe zwischen Dichtung und guter Prosa ein enger Zusammenhang, werde diese doch von jener beseelt: „Auch schöne Prosa ist wie die Dichtung schöne Haltung des Menschen“, sie sei „die sprachliche Gebärde eines wohlgera77 78 79 80

Friedrich Wolters: Voranzeige zu einem Lesewerk für die oberen Klassen der höheren Lehranstalten. Der Deutsche. Einführung in das Werk und Inhalt der ersten beiden Teile. Breslau 1925. Vgl. Wolters an George, 29. Juli 1925. In: Stefan George und Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904-1930. Hrsg. von Michael Philipp (Castrum Peregrini. 47. Jg. 1998, Heft 233-234-235), S. 203 und Carola Groppe: Die Macht der Bildung a.a.O., S. 279. Ebd., S. 276. Friedrich Wolters, Voranzeige zu einem Lesewerk a.a.O., S. 3

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tenen beseelten Geistes“. Wolters’ „Lesewerk“ soll über die Vermittlung des Inhalts hinaus auch als Lehrwerk für eine gute Sprache dienen können. Um beides – Schönheit der Prosa und Inhalt (oder „Sinn“) – gemeinsam zu erfassen, empfiehlt Wolters das laute Lesen der in seiner Anthologie versammelten Prosa: „sie ist klarer beim gemessenen als beim raschen, schöner beim lauten als beim stummen Lesen“ – auch dies ein Hinweis auf die Herkunft Wolters’ aus dem George-Kreis, in dem das laute Lesen eine bedeutende rituelle Rolle spielt. Wolters’ „Lesewerk“ bleibt nicht ohne Kritik. So bespricht etwa Hans Lamer die Sammlung im Deutschen Philologen-Blatt. Als Altphilologe beklagt er, daß Der Deutsche eine Darstellung der Antike nicht „nach dem heutigen Stande der Altertumswissenschaft vor Augen“81 stelle, sondern zum großen Teil ältere Texte bringe. Lamer belegt seinen Einwand mit Zahlen: Aus dem Zeitraum von 1756-1799 seien dreiundsechzig Stücke ausgewählt, aus dem Zeitraum von 1901-1924 dagegen nur sechzehn. Das Werk sei damit „inhaltlich völlig veraltet“; der Schüler werde auf diese Weise „ganz in die Irre geführt“, muß er doch den Eindruck gewinnen, daß die Altertumswissenschaft heute „fast vertrocknet“ sei. Er moniert etwa die Darstellung der Antike mit Ausschnitten aus Creuzers Symbolik und Mythologie der Alten Völker, Moritz’ Götterlehre und gar Heinses Ardinghello, die er für veraltet und wenig lehrreich hält. Lamers Fazit lautet: Das „Lesewerk“ sei „sehr empfehlenswert; nur nicht für die Leser, an die W. zunächst gedacht hat, für Schüler“. Wolters reagiert auf diese Kritik in dem Vortrag, den er wohl 1926 zu seinem „Lesewerk“ hält,82 1927 in der zweiten Fassung der „Voranzeige“, die nun „Ankündigung“83 heißt, sowie in einer expliziten „Erwiderung auf die Besprechung durch den Herrn Oberstudiendirektor Prof. Dr. Lamer“, die wohl dieser „Ankündigung“ beigeheftet war. An seiner Argumentation wird noch einmal die Nähe zum Denken seines früheren Freundes Borchardt erkennbar. Wolters verteidigt seine Anthologie gegen die Vorwürfe mit dem Argument, daß sie kein Lehrbuch der Altertumswissenschaft sein wolle, und erklärt den Mangel an Texten aus den letzten Jahren mit seiner Ablehnung der Entwicklung der Wissenschaft zu einer 81

82 83

Hans Lamer: (Besprechung von) „Friedrich Wolters, Der Deutsche. Ein Lesewerk.“ In: Deutsches Philologen-Blatt. Korrespondenz-Blatt für den akademisch gebildeten Lehrstand. 34. Jg. 1926, Nr. 1 vom 6. Januar, S. 15f. Eine weitgehende Nichtberücksichtigung der Gegenwartsliteratur moniert auch Erwin Ackerknecht in seiner Rezension der letzten drei Teile des Lesewerks in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. 30. Jg. 1927/28, 1. Heft vom Oktober 1927, S. 52. Im Stefan George-Archiv Stuttgart hat sich sowohl ein handgeschriebener Entwurf als auch eine maschinenschriftliche Fassung dieses Vortrags erhalten. Friedrich Wolters: Ankündigung zu einem Lesewerk für die oberen Klassen der höheren Lehranstalten. Der Deutsche. Einführung in das Werk und Inhalt der fünf Teile. Breslau 1927.

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immer größeren Spezialisierung der Disziplinen – wie sie ja auch Borchardt beklagt. Wolters zitiert Theodor Mommsen: „Unsere Wissenschaft ist so in die Tiefe gewachsen, dass sie dadurch für die Erziehung der Knaben unbrauchbar geworden ist.“84 Dieser spezialisierten Wissenschaft will Wolters das Ideal einer „Bildung“ gegenüberstellen, die nicht nur durch den „Humanismus geadelt“ 85 sei, sondern auch durch den Dienst am „göttlichen Geheimnis“86 – eine Vorstellung, die sich auch bei Borchardt findet – gegenüber der modernen Wissenschaft ausgezeichnet sei. „Richtigkeit“ 87 – ebenfalls ein Borchardtsches Wort und eine Borchardtsche Vorstellung – könne es in dieser in verschiedene „Schulen“ zersplitterten Wissenschaft keine mehr geben, dafür aber in den von ihm versammelten Texten: „Niemand, der die Wissenschaft ganz kennt, der ihr wirklich gedient hat, und daher auch ihre engen Grenzen gefühlt und erfahren hat, wird ihr den Hochmut zumuten, sie könne etwa von der Antike mehr erfassen, als unsere Dichter und großen Betrachter.“88 Noch einmal hebt Wolters hervor, daß es weniger um die Beurteilung der „stofflichen Einteilung“89 gehe als um die Erkenntnis der „guten deutschen Prosa“.90 Das „beste Sprachgut“ gelte es der „form- und haltlosen Sprache“91 der neuen Wissenschaft entgegenzusetzen: Texte also, bei denen Form und Inhalt eine Einheit bildeten; denn der „rechte Forscher und Schilderer“ trage – und auch diese Formulierung könnte von Borchardt sein – „Form und Inhalt in notwendiger Verschmelzung vor, weil er eben liebt, wo er forscht, und sieht, wo er weiss, und weil er fühlt, wo er erkennt, liebt, wo er lehrt und bildet.“92 Letztlich verfolgen beide, Borchardt und Wolters, dasselbe Ziel. Beiden geht es um die Bewahrung einer von ihnen erst genauer bestimmten Tradition, beide setzen ihre Hoffnungen auf die Zukunft, die sie sich nur vage durch die Annahme ihrer Bildungsbemühungen geprägt vorstellen können. Bei Wolters scheitern diese Bemühungen jedoch schon bei der Zulassung seines „Lesewerks“ als Schulbuch.93 Auch sein Meister George ist nicht recht zufrieden. Obwohl er in der „Ankündigung“ als „der Dichter und geistige Führer unserer Tage“ erscheint, der „von neuem den Weg 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Friedrich Wolters: „Vortrag über das Lesewerk.“ Typoskript (StGA), S. 1. Ebd., S. 16. Friedrich Wolters: Ankündigung zu einem Lesewerk a.a.O., S. 29. Ebd., S. 7. Vgl. S. 79 dieser Arbeit. Friedrich Wolters: Zur Kritik des Woltersschen Lesewerkes „Der Deutsche“. Breslau o.J. [1927]. Friedrich Wolters: Ankündigung zu einem Lesewerk a.a.O., S. 6. Friedrich Wolters: „Vortrag über das Lesewerk“ a.a.O., S. 19. Friedrich Wolters: Zur Kritik des Woltersschen Lesewerkes a.a.O., o.P. Friedrich Wolters: „Vortrag über das Lesewerk“ a.a.O., S. 22. Vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung a.a.O., S. 279.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

zum alten Urgrund unserer Bildung aufgestossen“ 94 habe, unterstützt George das Lesebuch nicht. So schreibt er an Wolters’ Frau Erika: „An dem lesebuch hab ich bei genauer betrachtung nur gemischte freude: er macht mir zu viele dinge die andre auch machen könnten“.95 Offenbar hat er größeres Interesse daran, daß Wolters seine Geschichte des GeorgeKreises Stefan George und die Blätter der Kunst, die 1930 erscheinen wird, zügig fertigstellt.

94 95

Friedrich Wolters: Ankündigung zu einem Lesewerk a.a.O., S. 10. George an Erika Wolters, 29. Juni 1924, Stefan George und Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904-1930 a.a.O., S. 189.

2. Willy Wiegand und die Bremer Presse

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2. Willy Wiegand und die Bremer Presse Die Zwanziger Jahre sind Borchardts erfolgreichstes wie produktivstes Jahrzehnt. Von der Bibliographie seiner Werke in Wilperts und Gührings Erstausgaben deutscher Dichtung fallen 33 von 61 Nummern in diese Zeit: mehr als die Hälfte. Seine Schriften beginnen ab 1920 bei Rowohlt zu erscheinen, eine der bedeutendsten Literaturzeitschriften jener Zeit, die Literarische Welt, widmet ihm eine Ausgabe, 96 auch andere Zeitschriften wie das Tagebuch und Tageszeitungen, vor allem die Münchner Neuesten Nachrichten und die Neue Zürcher Zeitung, veröffentlichen Texte von ihm; außerdem erscheinen Werke, die schon seit 1906 entstanden oder geplant worden waren – Borchardt beginnt, könnte man sagen, seine Ernte einzufahren. Es erscheinen die bereits lange zuvor begonnenen Übersetzungen, die Auswahl aus Walter Savage Landors Imaginary Conversations (1923), die Trobadors (1924), Hartmans Der arme Heinrich (1925), Pindar (1929) und, nach Teilveröffentlichungen 1922 und 1923, der vollständige Dante Deutsch (1930), außerdem Ausgewählte Werke 1900-1918 (1924) und die gesammelten Reden und Schriften Handlungen und Abhandlungen (1928). Begünstigt werden diese Veröffentlichungen auch durch den Umstand, daß sich nun endlich eine Regelung zu finden scheint, die Borchardts finanzielle Lage zu verbessern verspricht: 1924 einigen sich Borchardt, der Rowohlt Verlag und der Verlag der Bremer Presse darauf, daß Rowohlt, zu dem Kontakte schon 1912 bestanden, Borchardts eigenes literarisches Werk – seine „eigentliche Publikation“97 – verlegt, während der Verlag der Bremer Presse die Herausgaben und Übersetzungen Borchardts veröffentlichen soll. Borchardt erhält dafür von Rowohlt 8000, von der Bremer Presse 4000 Goldmark jährlich.98 Dieser Einigung vorausgegangen waren lange Auseinandersetzungen mit Rowohlt, die für Borchardts Umgang mit seinen Verlegern symptomatisch sind. Nachdem die anfängliche Euphorie verflogen ist, daß Rowohlt „mein Verleger“ 99 geworden ist, folgen bald die ersten „Rowohltschen 96 97 98

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Die Literarische Welt vom 9. April 1926 mit Beiträgen von Borchardt selbst, Hugo Schäfer, Thomas Mann, Jakob Wassermann, Karl Vossler, H.H. Schaeder und Eduard Korrodi. Borchardt an Rudolf Alexander Schröder, 18. Dezember 1912, Briefwechsel 1901-1918, S. 512. Dies geht aus der „Auflistung bestehender Verlagsverträge Rudolf Borchardts von 19241931“ (DLA) von der Hand Willy Wiegands, dem Verleger der Bremer Presse, hervor; Wiegand spricht hier von insgesamt 18 Büchern, auf deren Fertigstellung sich Borchardt im April 1924 vertraglich verpflichtet habe; 1926 wurde dieser Vertrag „mit der Massnahme, dass die Tantiemen von 15% auf 17½% erhöht werden“, verlängert. Borchardt an Ludwig Curtius, 16. September 1920, Briefe 1914-1923, S. 257.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

Verdrießlichkeiten“ 100 . (Angeblich) ausbleibende Zahlungen, (angeblich) nicht abgesprochene Veröffentlichungen und (angeblicher) Vertragsbruch auf Seiten Rowohlts unter anderem bringen Borchardt dazu, dem Verlag 1922 mitzuteilen: „Ich lege auf die Fortführung von Beziehungen zu einem von solchen Gesinnungen geleiteten Institute keinen Wert [...] und [wünsche], lieber ein Handwerk zu treiben als mich solchen Erfahrungen weiter ausgesetzt zu sehen.“101 Und an Schröder schreibt er: „Jedes Wort wird gebrochen, keine Frist gehalten Versprechen sind blosse male fide ausgelegte Köder, und dazu kommen Hundsfottereien, wie dieser ohne meinen Willen und meine Genehmigung nach uncorrigiertem Rohsatze für ein Butterbrot vergebene Vorabdruck des Erben in einem mir odiosen Literatenblättchen. Ich bin es satt, ich bin es satt.“102 Die Verbindung mit Rowohlt hält trotz der zwischenzeitlichen Einigung keine zwei weiteren Jahre. 1926, nachdem Rowohlt seit 1924 bereits nichts mehr von Borchardt veröffentlicht hat, treten zu den weiterhin vorhandenen Problemen die zunehmenden Vorwürfe Borchardts, Rowohlt würde seine Ladenpreise zu niedrig ansetzen und ihn dadurch um Geld bringen, außerdem das Erscheinen der Schriften nach den veröffentlichten sieben Bänden absichtlich verschleppen. 103 Doch auch Rowohlt hat allen Grund, die Geschäftsverbindung mit Borchardt zu beenden, wie sein Biograph nahelegt: „Rudolf Borchardt gehörte zu den ganz Wenigen, denen es gelang, Ernst Rowohlt, dem wirklich der Sinn für Humor nicht fehlte, zu erzürnen. Nach Empfang eines Vorschusses händigte der unberechenbare Schriftsteller seinem Verleger ein Paket ein, das anstatt eines Manuskriptes einen Packen unbeschriebenen Papiers enthielt. Rowohlt fühlte sich verletzt und brach die Beziehungen zu Rudolf Borchardt für immer ab.“ 104 Daß die Verbindung mit Rowohlt überhaupt zustande100 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), Ende Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 281. 101 Borchardt an den Rowohlt Verlag, 17. April 1922, Briefe 1914-1923, S. 420. 102 Borchardt an Schröder (nicht abgesandt), 21. Mai 1922, Briefwechsel 1919-1945, S. 61. Gemeint ist der ohne Borchardts Erlaubnis erfolgte Abdruck der „Geschichte des Erben“ in der Zeitschrift Der neue Merkur vom April 1922. 103 Vgl. dazu etwa Borchardt an Wiegand, 28. Juli 1925, Briefe 1924-1930, S. 96-100; Borchardt erwähnt „13 Bände“, die in den Schriften „in drei Jahren“ (S. 99) erscheinen könnten. 104 Paul Mayer: Ernst Rowohlt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Zum 80. Geburtstag Ernst Rowohlts am 23. Juni 1967 gedruckt für seine Freunde und die Freunde seines Verlages. Reinbek 1967, S. 73. Das Abliefern von leerem Papier bei einem Verleger ist wie das Improvisieren nie geschriebener Werke eine der sich um Borchardt rankenden, in verschiedenen Fassungen existierenden Legenden. Belege für diesen Fall gibt es keine, lediglich einen Hinweis im Brief Borchardts an Wiegand vom 17. Januar 1926 (Briefe 1924-1930, S. 116), in dem von einer durch Rowohlts Verschulden nicht erfolgten ManuskriptÜbergabe die Rede ist. Immerhin gibt es einen früheren Fall, der etwas besser belegt ist. So schreibt Kippenberg am 27. Dezember 1912 an Hofmannsthal: „[W]ohl habe ich allen

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gekommen ist, muß verwundern, wenn man bedenkt, wie sehr Borchardt schon früh auf seine „Nachbarschaften“ 105 wert legt. Zwar ist Rowohlt kein ausgesprochen linker Verlag, aber er verlegt einige ausgesprochen linke Autoren wie Johannes R. Becher, Rudolf Leonhard oder Alfons Goldschmidt.106 Zudem war 1920 Kurt Pinthus’ Anthologie expressionistischer Dichtung Menschheitsdämmerung erschienen, die Borchardt verabscheuen mußte. Die Bremer Presse, die ihre Ursprünge im Bremer Geldpatriziat hat, paßt weitaus besser zu Borchardts konservativ-aristokratischer Grundhaltung: Zu ihr sind die Kontakte ebenfalls schon älter. Die Bremer Presse,107 aus der später der Verlag hervorging, wird bereits 1910 auf Anregung Rudolf Alexander Schröders von dem Juristen Willy Wiegand, dem Sohn des Generaldirektors der deutschen Lloyd, als technischem Leiter und dem Altphilologen Ludwig Wolde als literarischem Leiter gegründet. Die Gründung der Presse fällt auf den Höhepunkt einer Welle von zahlreichen Bemühungen um schönere, künstlerisch und handwerklich anspruchsvoll gestaltete Bücher. Vorbild dieser Unternehmungen sind englische Pressen des Arts and Crafts Movement wie die 1890 gegründete Doves Press oder die Kelmscott Press.108 Besonders letztere, 1891 von William Morris gegründet, wird zum Anreger einer ganzen Bewegung. Morris wandte sich

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Grund, mich von Borchardt fern zu halten. Er hat seinerzeit sich einen erheblichen Geldbetrag dadurch von uns erschlichen, daß er uns ein, angeblich sein Manuskript zum ‚Annus Mirabilis‘ enthaltendes, mit Zeitungen oder Gott weiß was gefülltes, Paket übergab, während die Zahlung der Summe an die Übergabe des Manuskripts gebunden war“. Statt die ihm bereits überwiesene Summe zurückzuzahlen, habe er dann „später Ansprüche, die er sonstwie an den Insel-Verlag zu haben vorgab, aus der Luft gegriffen und, wie er das ja zu tun liebt, den Spieß umgedreht, um die Sachlage zu verschleiern.“ (Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929 a.a.O., S. 480) Borchardt an Ernst Borchardt, 13. Oktober 1908, Briefe 1907-1913, S. 184. Vgl. Borchardt an Stefan Grossmann, November 1920 [?]: „Vor anderthalb Jahren, als Rowohlt mit vollen Segeln in den Kommunismus fuhr, sagte ich ihm, er wette auf das falsche Pferd. [...] Heut mag er das schöne Stück Geld berechnen, das ihn sein Irrtum schon gekostet hat.“ (Briefe 1914-1923, S. 260f.) Vgl. im Folgenden zur Geschichte der Bremer Presse: Buchkunst und Dichtung. Zur Geschichte der Bremer Presse und der Corona. Hrsg. von Bernhard Zeller und Werner Volke. München 1966; Die Bremer Presse. Königin der deutschen Privatpressen. Eine Rückschau mit einem Verzeichnis aller erschienenen Werke von Josef Lehnacker. München 1964; Rudolf Alexander Schröder: „Von meinen Bemühungen um das schöne Buch“ (1951). In: Die Aufsätze und Reden. Zweiter Band. Frankfurt/M. 1952 (Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dritter Band), S. 926-934; Harald Keller: „Willy Wiegand und die Bremer Presse.“ In: Für Rudolf Hirsch. Zum siebzigsten Geburtstag. Frankfurt/M. 1975, S. 52-65 und Christopher Burke: „Luxurity and austerity: Willy Wiegand and the Bremer Presse.“ In: Typography papers. 2. Jg. 1997, S. 105-128. Zu den englischen Vorbildern der Bremer Presse vgl. auch Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 177f.

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gegen den Niedergang der Buchdruckerkunst ab etwa 1830 und die damit einhergehende zunehmende Mechanisierung in der Buchherstellung und stellte statt dessen nach dem Vorbild mittelalterlicher Handschriften in Handarbeit kostbare und aufwendig ausgestattete, illustrierte und mit selbstgeschnittenen Lettern handgesetzte und -gedruckte Bücher her. Sehr bald wird der Einfluß des Arts and Crafts Movement und jener englischen Pressen auch in Deutschland sichtbar, zum einen an der großen Zahl neugegründeter Verlage, die sich vor allem um moderne Literatur in schöner Ausstattung bemühen, den „Kulturverlegern“109 wie etwa Samuel Fischer oder Eugen Diederichs, zum anderen an neuen künstlerisch-literarischen Zeitschriften wie den von Stefan George und seinem Kreis seit 1892 herausgegebenen Blättern für die Kunst, Pan (1895-1900), Jugend (1896-1940) und der kurzlebigen, aber einflußreichen Insel (1900-02), die von den Vettern Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder sowie dem umtriebigen Literaten Otto Julius Bierbaum gegründet wurde. In der Insel sind die späteren Gründer und Mitarbeiter der Bremer Presse, Schröder, Borchardt und Hofmannsthal, als Beiträger bereits vereint. Zu Beginn des Jahrhunderts werden dann die ersten Privatpressen – 1907 die JanusPresse in Leipzig und die Ernst-Ludwig-Presse in Darmstadt, 1913 die Cranach-Presse in Weimar – gegründet, als deren bedeutendste heute die Bremer Presse gelten kann. Diese Pressen und andere Unternehmen dieser Art sind ganz bewußt keine auf Gewinn ausgerichteten Unternehmen, sondern meist die Liebhaberei wohlhabender Männer wie eben Wiegands für die Bremer Presse, Heymels für die Insel, Bodenhausens für den Pan, Kesslers für die Cranach-Presse und den Pan oder später Martin Bodmers für die Corona. Nicht zuletzt ermöglicht die Tätigkeit dieser Financiers einem notorisch armen Dichter, wie Borchardt es ist, die Sicherung seiner Existenz. In diesen Unternehmungen werden schöne, kostbare und literarisch anspruchsvolle Bücher und Zeitschriften für wenige hergestellt. So heißt es in dem Gründungsprogramm der Bremer Presse, das von Wiegand und Wolde sowie dem Bremer Kunsthändler Leopold O. H. Biermann und den Dichtern Borchardt – obwohl nach eigenen Aussagen „ohne jedes Bibliophilengefühl“ 110 –, Hofmannsthal und Schröder unterzeichnet ist: „Der Apparat, der für die mustergültige Herstellung eines Buches erfordert wird, ist kostspielig; der Zeichner, der Verfertiger des Papieres, der Metall- und Holzschneider, der Setzer, Drucker, Binder und Vergolder, müssen sich für einen bestimmten Zweck zu ungewöhnlicher Anstren109 Vgl. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991, S. 279-281. 110 Borchardt an Schröder, Ende 1911, Briefwechsel 1901-1918, S. 379.

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gung vereinigen, und wie die Dinge liegen, wird nur eine geringe Zahl von Kunstfreunden und Sammlern das Resultat solcher Mühe honorieren.“111 Zunächst erscheinen die Bücher der Bremer Presse als Privatdrucke in meist nicht mehr als 250 Exemplaren. Die Presse besitzt eine eigene Werkstatt mit eigenen Handwerkern, zuerst in Bremen, dann in Tölz, zuletzt in München. Dieser Umstand macht sie unabhängig von anderen Betrieben, und die Tatsache, daß alle Arbeitsgänge an einem Ort überwacht werden können, garantiert die Qualität der hergestellten Bücher. Optisch ist vor allem die englische Doves Press das Vorbild: Auf Illustrationen und Ornamentik wird weitgehend verzichtet, die Antiqua, die man für die meisten Veröffentlichungen verwendet, garantiert optische Unverwechselbarkeit. Sie ist von Willy Wiegand selbst entworfen und geschnitten worden und existiert zunächst nur in 16 Punkt, dann auch in 12 und in 11 Punkt, womit der Ewige Vorrat gedruckt wird. Später folgen eine griechische Schrift, eine „deutsche“ (mit der Luthers Bibel gedruckt wird) und eine „Liturgica“. Ganz bewußt entscheidet man sich bei den meisten Veröffentlichungen gegen die damals weitgehend übliche Fraktur, nicht zuletzt um auf eine Kontinuität und Tradition seit der Antike zu verweisen. Die Antiqua der Bremer Presse orientiert sich an deutschen und italienischen Lettern des 15. Jahrhunderts. So vereinigt die Schrift bereits die drei Zeitalter, die auch die literarischen Schwerpunkte des Unternehmens bilden: eine antike Schrift, nach mittelalterlichen Vorbildern in der Gegenwart geschnitten. Der einzige Buchschmuck, den man sich leistet, sind dabei die von Anna Simons in Holz geschnittenen Initialen und Titel. Die erste Programmschrift des Verlages legt den Schwerpunkt auf die buchkünstlerischen und buchherstellerischen Ziele, die auch einen Großteil seines Ruhms begründen werden: Ein ausgesprochen literarisches Programm wird hier noch nicht formuliert. Dafür wird versprochen, daß man die Sorgfalt, die man der Ausstattung des Buches angedeihen läßt, auch auf die veröffentlichten Texte verwenden will: „Wissenschaftlicher Wert wird unseren Darbietungen insofern einwohnen, als wir keinen älteren Text veröffentlichen werden, der nicht einer Bearbeitung von zuständiger Seite unterlegen hätte, keine Übersetzung, die nicht auch sprachwissenschaftlich auf das nachhaltigste begründet wäre.“112 Als Autoren und Herausgeber arbeiten neben den Unterzeichnern des Programms Philologen und Dichter wie Carl von Kraus, Max Hecker, Carl Georg von Maassen, Friedrich Seebass, Karl Vossler, Max Mell oder Josef Hofmiller für die Bremer 111 Zitiert nach: Buchkunst und Dichtung a.a.O., S. 43. 112 Buchkunst und Dichtung a.a.O., S. 43.

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Presse. Gerade die philologische Sorgfalt, die man den veröffentlichten Texten angedeihen läßt, hebt die Bremer Presse von den anderen Privatpressen ab, die sich meist auf die schöne Präsentation der Texte beschränken. Buchkunst ist bei den Büchern der Bremer Presse kein Selbstzweck, sondern steht in engem Zusammenhang mit dem Überlieferungswert der von ihr veröffentlichten Texte. Dieses elitäre Programm muß Borchardt entgegenkommen, der schon früh die „heimlichkeit und heiligkeit“113 von Privatdrucken in kleiner Auflage lobt, sich lange Zeit scheut, überhaupt zu veröffentlichen, und es dann nicht selten später bereut, „herzugeben“.114 So ist er, wie er an Heymel schreibt, froh, daß „das Wolde Wiegandsche Geschäfte [...] glücklich entriert und geschlossen“ worden ist: „Damit ist nicht nur meinen Einkünften ein fester Hauptstamm gesichert, sondern die Möglichkeit erspriesslicher Zusammenarbeit mit angenehmen, ernsthaften und unterrichteten Leuten eröffnet“.115 Borchardt ist euphorisch und voller Pläne: „was wir wieder drucken werden sollte allen eine Gänsehaut des Entzückens machen“, schreibt er an Hofmiller und nennt sogleich eine „Regermanisierung des Rolandsliedes, und ältester Chansons de Geste, Altitalienische Lyriker, [...]; Hesiod. Briefe römischer Grosser aus der Zeit von Cäsars Tod. Älteste Provenzalen: und so fort. Ortnit und Wolfdietrich“116 oder „Erstes Jahr: von mir teils herausgegeben teils formell neugestaltet Tacitus Germania lateinisch, Hartmanns armer Heinrich nach dem Prinzip der Münsterausgabe, Pindar deutsch (ca. 10 Gedichte), vor ihnen Michael Kohlhaas. Zweites Jahr 1ter Band meiner Gedichte nach dem Griechischen, 1t Band meiner Minnesinger, Eine Übersetzung entweder Ciceros Correspondenz oder das erste Buch Herodot, ein deutsches Buch, das noch nicht feststeht. Und so weiter, mit Wellen und Winden.“117 Offenbar erhofft sich Borchardt, für die Bremer Presse eine Rolle einnehmen zu können, die er schon einmal für den Insel-Verlag einzunehmen wünschte. 118 Für diesen konzipiert er 1907 die sogenannte „Münster-Ausgabe“ 119 und verpflichtet sich zur Lieferung dieser „nach seinen Plänen hergestellten Ausgabe der Hauptwerke der mittelalterlichen deutschen und deutschverwandten Literaturvölker in einzelnen Bän113 114 115 116 117 118 119

Borchardt an Helene Borchardt, 4. Dezember 1898, Briefe 1895-1906, S. 47. Borchardt an Schröder (nicht abgesandt), 21. Mai 1922, Briefwechsel 1919-1945, S. 63. Borchardt an Alfred Walter Heymel, 25. Januar 1912, Briefe 1907-1913, S. 380. Borchardt an Hofmiller, 17. November 1912, ebd., S. 426. Borchardt an Heymel, 25. Januar 1912, ebd., S. 381. Vgl. Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 180. Vgl. Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag. Zu einem unbekannten Brief an Anton Kippenberg“ a.a.O.

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den“,120 des Romans „Annus Mirabilis“ sowie einer Ausgabe von „Vermischten Schriften“ in drei Bänden durch einen Vertrag vom 16. Januar 1908, 121 dem aber, so Borchardt, ein „lamentables Ende beschieden war“.122 Borchardt erwartet sich dabei vom Insel-Verlag und seinem Verleger Anton Kippenberg mehr, als für ihn arbeiten zu können und bei ihm zu veröffentlichen: Er will eine „wirkliche und wertvolle Acquisition für den Verlag“123 sein. Wie er Heymel schreibt, liege in ihm ein „Complex ganz dunkler und vager Machtmittel und ganz präciser Kulturabsichten, eine ganze durchgedachte Ideologie [...], deren Umsetzung ins Leben mir wie dem Staate, die eigenen Mittel glatt versagen.“124 Für diese Umsetzung hat sich Borchardt den Insel-Verlag ausersehen – hier will er sein „Programm“ realisieren, will die „Einheit“ der „Gesamt-Politik“ des Verlages gewährleisten. Was Borchardt sich vorstellt, ist ein Medium, das seine „geistigen Grundlagen eines Programms, geistigen Kriterien, geistigen Ziele“125 nach außen vertritt, kurz, das die innere Einheit oder „Form“ seines Geistes – die seinen Kanon mit einschließt – umsetzt und seine Wirkung unterstützt oder überhaupt erst ermöglicht. Um dem „Ausdruck eines dumpfen nationalen und gesellschaftlichen Bedürfnisses“ 126 zur Heranbildung einer neuen Kultur entgegenzukommen und dabei gleichzeitig diesen Vorgang nach seinen Vorstellungen zu gestalten, will Borchardt der ‚Herrscher‘ des Insel-Verlages werden. Was ihm vorschwebt, ist eine ideale und ausschließliche Verbindung zwischen ihm, dem Dichter und alleinigen ideologischen und literarischen Gestaltgeber des Verlags, und dem Verleger als ausführendem und kaufmännischem Teil: „Ich bedarf für meine politischen Absichten kaufmännischer Fassungen, er für seine Geschäfte der Einbeziehung in einen hohen Zusammenhang nationaler Kultur. Und hier ist, ein allgemeinstes Convenu vorausgesetzt, kein Contrast zwischen dem politischen und dem geschäftlichen Interesse denkbar, weil wirklich das geschäftlich gute im letzten Sinne nur der ener120 Neben der „Münster-Ausgabe“ plant Borchardt auch eine „Euphorion-Ausgabe“ mit Werken der Zeit „von ca. 1720 an“ (Borchardt an Hofmiller, 17. November 1912, Briefe 1907-1913, S. 427) für den Insel-Verlag. Beide sollten nach seiner Vorstellung mit Kinderbüchern „von absoluter Werbe- und Durchschlagskraft“ (Borchardt an Anton Kippenberg, 21. September 1907, ebd., S. 123) finanziert werden. Vgl. zu Borchardts Kritik des Kinderund Jugendbuches auch „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 144-149. 121 Der Vertrag hat sich im DLA erhalten. 122 Borchardt an Hofmiller, 17. November 1912, Briefe 1907-1913, S. 427. 123 Borchardt an Heymel, 13. Juli 1907, ebd., S. 99. 124 Ebd., S. 101f. 125 Ebd., S. 109. 126 Ebd., S. 106.

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gischen Anschauung bedarf um sich als ideologisch gut zu erweisen, ebenso wie alles was meine Ideologie als schlecht verwirft, im letzten Sinne des Gesamtgeschäftes schlecht sein muss, auch geschäftlich.“ 127 Und: „Ich brauche die selbständige Unternehmung im höchsten Sinne, die auch mich nur im höchsten Sinne braucht“128 – dieser höchste Sinn ist dabei nichts anderes als Borchardts Vorstellung von der Göttlichkeit und Ewigkeit der Poesie und ihrer Macht in allen Bereichen; er braucht einen Verlag, der mit ihm dieser Idee dient und damit lediglich eine handwerkliche und logistische Dependence oder Fortsetzung des Dichters Borchardt wäre.129 Der Verlag soll zur geistigen Heimat Borchardts werden. Borchardt ist entschlossen, sich seine „Verleger selber zu schaffen statt mit Instituten zu paktieren die mich vom Bene placitum der absoluten Verworfenheit abhängig machen oder mindestens zu ihr in Beziehungen bringen würden gegen die meine hygienischen Instinkte sich sträuben.“130 Kompromisse kann Borchardt daher keine machen, denn jede Modifikation an seiner Idee bedeutet eine Gefährdung der inneren Stabilität und einen Eingriff in sein Selbst. Dies kann er nicht dulden, eine Zusammenarbeit mit ihm ist daher praktisch unmöglich. Selbstverständlich scheitert unter diesen Voraussetzungen die Zusammenarbeit mit Kippenberg, der es nicht akzeptieren kann, das Programm seines Verlages derart aus der Hand zu geben. Entsprechend schreibt ihm auch Borchardt in einem langen Brief, der als Abrechnung zu lesen ist: „Ich habe längst aufgehört Sie davon überzeugen zu wollen, dass eine geistige Institution geistige Programme haben muss“.131 Wesentlich deutlicher wird er seinem Bruder Philipp gegenüber: „Wir [Heymel, Hofmannsthal und Borchardt selbst] sind geistige Personen mit geistigen Absichten, er ist ein kleiner Büchertrödler, dessen Ziel nur ist, einen gutgehenden Verlag dritten oder vierten Ranges zu machen, mit Sachen die nichts kosten, Übersetzereien, Neudruckereien ohne Zusammenhang und neue geistige Arbeit, Sammelsurien u. dgl.“ Sein Fazit: „Lassen wir’s“.132 Auch Kippenberg scheint mit Borchardt auf keinen Fall mehr zusammenarbeiten zu wollen: „Nach meiner Überzeugung muß jede Borchardt’sche 127 Borchardt an Heymel, 13. Juli 1907, Briefe 1907-1913, S. 110. 128 Ebd., S. 102. 129 Vgl. auch Borchardts Schwärmerei für das englische Verlagswesen: „Der Verleger selbst beschränkt sich absolut auf Calculation und Vertrieb und betrachtet jeden Übergriff in die Sphäre seiner literarischer Experten als Narrheit die zu sicherem Verluste führen muss“ (Borchardt an Heymel, 27. August 1909, Briefe 1907-1913, S. 255). Vgl. auch „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“, Reden, S. 353. 130 Borchardt an Hofmannsthal, 4. März 1907, Briefwechsel, S. 54. 131 Borchardt an Kippenberg, 11. Mai 1909, Briefe 1907-1919, S. 234. 132 Borchardt an Philipp Borchardt, Oktober 1909, Briefe 1907-1913, S. 269-271.

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geschäftliche Verbindung, wie alle früheren, mit einer Differenz enden“133 – eine Prophezeihung, die auch für alle späteren Geschäftsverbindungen zwischen Borchardt und Verlegern Geltung haben wird. Nach dem Ersten Weltkrieg gestaltet sich die Aufrechterhaltung eines elitären Betriebs wie der Bremer Presse zunehmend schwierig, die Öffnung für ein breiteres Publikum wird notwendig. So beschließen die Leiter der Bremer Presse, „den Rahmen der Tätigkeit zu erweitern“ und „die im Handbetrieb gewonnene typographischen und technischen Erfahrungen durch Herausgabe billiger Bücher einem breiteren Käuferkreis zugänglich“134 zu machen. Der Verlag der Bremer Presse wird gegründet. Borchardt, der diese „unausweichliche Entwicklung“ schon „seit Jahren“ 135 vorausgesehen und gefordert haben will, sieht nun einmal mehr die Chance gekommen, sein Programm einem Verlag zu oktroyieren. Mit einem langen Brief an Wiegand vom Februar 1921 versucht er, seine Vorstellungen durchzusetzen. Er fragt: „Wo liegt das Neue was Du bringen willst?“ und antwortet gleich selbst: „Neue Literatur willst und kannst Du nicht bringen, alte nicht billiger – wesentlich – verkaufen und nicht besser – wesentlich – ausstatten als die Insel, Müller, tutti quanti“, auch die „Namen der verantwortlichen Editoren, Autoren, Übersetzer“ (die dem Publikum gleichgültig seien) könnten einen neuen Verlag nicht rechtfertigen. Das Neue könne nur, so Borchardt, im „Programm“136 des Verlags liegen, es müsse damit ein „Wagnis“ eingegangen werden, eine „Vision“ werde dafür gebraucht. Er, Borchardt, trage diese „Vision“ in sich: „Ich habe seit fünfzehn Jahren einen ausgearbeiteten geistigen Zusammenhang in mir, den zu verkörpern ich auf der Welt bin, den unabhängig von meiner dichterischen Produktion, durch Anregung und Durchgeistung von geschäftlichen und anderen Mitarbeitern an den Tag zu stellen eine meiner höchsten Lebenspflichten ist“. 137 Borchardt sieht die Möglichkeit gekommen, endlich seine alten Pläne für den Insel-Verlag fünfzehn Jahren später mit der Bremer Presse zu realisieren: „Ich habe die Leitung im Hintergrunde, werde alle alten Pläne ausführen – Münster & Euphorionausgabe etc –,

133 Kippenberg an Hofmannsthal, 27. Dezember 1912, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929 a.a.O., S. 479. 134 So das von Günther Hildebrandt, Wiegand und Wolde unterzeichnete „Exposé über die Gründung eines Verlages der ‚Bremer Presse‘ 1921“, Buchkunst und Dichtung a.a.O., S. 45. 135 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), 29. Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 285. 136 Borchardt an Wiegand, Ende Februar 1921, Briefe 1914-1923, S. 297-299. 137 Ebd., S. 309f. Das Jahr, auf das er anspielt, ist das Jahr 1906, in dem seine Kanonbildung abgeschlossen war.

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Kippenberg hat nichts zu lachen“.138 „Inzwischen“ fange sein „Name an umzulaufen“, 139 und deshalb scheint der richtige Zeitpunkt gekommen, seine „Vision“ zu verwirklichen. „Der Verlag ist bisher nichts als das Papier seiner Constitution als einer Geschäftsfirma und der Zusammenhang von Menschen die zu drucken und zu vertreiben gelernt haben. Alles übrige ihm zu geben bin ich nicht nur bereit sondern sehe meine schönste Lebensaufgabe darin.“140 Kann dies nicht geschehen, „interessiert“ ihn der Verlag der Bremer Presse „überhaupt nicht“.141 Doch da Wiegand offenbar zögert, sich für die Vorstellungen Borchardts empfänglich zu zeigen, Zeit vergeht, ohne daß Borchardt durch Veröffentlichungen in der Bremer Presse Geld verdienen kann, andere offenbar zugesicherte Zahlungen Wiegands ausbleiben, wird Borchardt zunehmend gereizt – es geht ihm schließlich auch um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Villa Mansi in Monsagrati beziehen zu können:142 „Mein Beruf ist an sich schwer und undankbar genug, ich habe das was ich schliesslich den Menschen gebe, an mir und in mir teuer genug zu bezahlen, – niemand hat das Recht, mich ausserdem noch in Unruhe zu stürzen, in Not zu bringen, zu quälen und zu häkeln.“143 Denn: „Ich betrachte die Verbindung mit mir und die Überlasssung meiner Arbeiten als eine Ehre für denjenigen, der sie geschäftlich geriert.“144 Die Bremer Presse verzichtet auf die Ehre, sich in dichterischen und programmatischen Fragen ausschließlich von Borchardt leiten zu lassen. Borchardt ist darüber zunächst gekränkt: „Aber ich resumiere mich dahin, dass der Verlag in der ganzen abgelaufenen Zeit weder mein Mitarbeiter in irgend einem höheren Sinne des Wortes, noch über sein inneres und äußeres Leben mit mir in irgend einem lebendigen und lebenfördernden Contacte, noch überhaupt für mich am Leben, noch in meinen Lebensfragen mit mir solidarisch gewesen ist.“145 Dennoch wird er nicht zuletzt nach der Neuregelung seiner Geschäfte mit dem Verlag von 1924 an, wenn auch mit 138 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), 29. Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 285. Aus dem erhofften Zustandekommen der beiden Buchreihen wird nichts, dennoch stehen Borchardts Veröffentlichungen im Verlag der Bremer Presse in Kontinuität dazu. 139 Borchardt an Wiegand, Ende Februar 1921, Briefe 1914-1923, S. 310. 140 Borchardt an Wiegand, April 1921, Briefe 1914-1923, S. 349. 141 Borchardt an Wiegand, Ende Februar 1921, Briefe 1914-1923, S. 311. 142 Vgl. Borchardt an Hans Feist (nicht abgesandt), August 1921, Briefe 1914-1923, S. 360f. 143 Ebd., S. 364. 144 Borchardt an Wiegand, 14. August 1921, Briefe 1914-1923, S. 368. Vgl. auch: „Ich kann nicht mehr zugeben dass wir alle zittern und zagen weil Wolde für die Ehre mit mir zu arbeiten erst empfänglich gemacht werden muß.“ (Borchardt an Wiegand, 20. April 1921, ebd., S. 336) 145 Borchardt an die Bremer Presse, 27. Oktober 1922, Briefe 1914-1923, S. 447.

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zunehmender innerer Distanz, zu einem festen und prägenden Bestandteil des Verlagsprogramms. Die Programmschrift des Verlages der Bremer Presse von 1921 macht im Gegensatz zum Gründungsmanifest von 1913, sicherlich nicht zuletzt durch die Erkenntnis, durch Drucke in kleiner Auflage und aufwendiger Ausstattung nicht mehr weiterbestehen zu können, auch konkrete Angaben zum literarischen Profil: „Das literarische Programm soll alles das umfassen, was als Grundlage unseres heutigen geistigen Lebens empfunden wird, und zwar Übersetzungen aus der griechischen und lateinischen Literatur, Dichtung des Mittelalters, bedeutende deutsche Werke des 16.-19. Jahrhunderts, englische, französische und italienische Werke in Urtext oder Übersetzung, sowie Übertragungen aus den orientalischen Literaturen.“146 Als Übersetzer werden Borchardt und Schröder, als Mitarbeiter bei der Auswahl der Texte zusätzlich noch Hofmannsthal genannt, die Veröffentlichung zeitgenössischer Werke ist offenbar noch nicht vorgesehen. In einer weiteren Programmschrift, Hofmannsthals „Ankündigung eines neuen Verlages“, die 1922 einzeln als erste Publikation des neugegründeten Verlages gedruckt wird und viele Übereinstimmungen mit Borchardts Ideen zeigt, wird besonders hervorgehoben, daß die Veröffentlichungen des Verlages eine Einheit bilden sollen, da „seine Mitarbeiter einen Kreis bilden, darin Gelehrte – Philologen – und Dichter einander die Hände reichen“ und „dieser Kreis sich als eine geistige Einheit selber wahrnimmt und nach außen fühlbar“147 mache; gewährleistet werde diese Einheit durch die „Ahnung des Ganzen in all und jedem geistigen Tun“ der Mitarbeiter – man mag als Vorbild für diesen Kreis durchaus an den denken, den George um sich geschart hat. Ziel der Unternehmung ist eine Wirkung, die das „zersplitterte“ Publikum der Gegenwart durch ein neues zu ersetzen vermag, das unter anderem mit den Bemühungen des Verlages „erst wieder gemacht werden“148 soll. Vorbild der eigenen Arbeit ist auch hier der „Zustand von 1800 bis 1820“, den Hofmannsthal nicht als „ein Gewesenes, sondern als ein noch fortwirkendes Leben“ verstanden wissen will. Die Bremer Presse stellt sich in die Nachfolge einer Zeit, in der die Aneignung der Antike und des Mittelalters zu einer ersten Blüte 146 So das „Exposé“, Buchkunst und Dichtung a.a.O., S. 46. Orientalische Werke erschienen entgegen der Ankündigung im Verlag der Bremer Presse nicht. 147 Hugo von Hofmannsthal: „Ankündigung eines neuen Verlages.“ In: Buchkunst und Dichtung a.a.O., S. 48-51, hier S. 48 (später als „Ankündigung des Verlages der Bremer Presse“ in Hugo von Hofmannsthal: Reden und Aufsätze II: 1914-1924. Frankfurt/M. 1979, S. 176179). 148 Hugo von Hofmannsthal: „Ankündigung eines neuen Verlages“ a.a.O., S. 49f.

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gelangt war und die Hofmannsthal nun „selbst zur Antike“149 geworden ist; so umfaßt der zunächst ungedruckt gebliebene „Unmaßgebliche Einteilungsentwurf“, den er seiner „Ankündigung“ beifügt, vier Gruppen, mit denen die philologischen und dichterischen Leistungen des „Zustands von 1800 bis 1820“ weitergeführt werden sollen: „Orientalia“, „Deutsche Sprache und Literatur“, „Antike“ und „Römische Literatur u. Latinität des Mittelalters“.150 Tatsächlich lassen sich auch im Rückblick die veröffentlichten Werke der Bremer Presse als dem von Hofmannsthal beschworenen „geistigen Dienst“151 und jenem „Ganzen“ verpflichtete Einheit lesen, die den Bogen spannt von der Antike über das Mittelalter und das „Jahrhundert des deutschen Geistes“ bis in die Gegenwart. Dies gilt auch für die Anthologien, für Hofmannsthals Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge und für die zahlreichen Pläne, die nicht realisiert wurden, etwa eine Sammlung „Deutsche Predigten aus tausend Jahren“ von Josef Nadler oder Auswahlbände aus den Werken Alexander von Humboldts, Herders (als dessen Herausgeber Borchardt vorgesehen war) und anderer. Der „großartigen Geschlossenheit“ 152 – oder, um einen Borchardtschen Begriff zu verwenden: der „Form“ – des Verlagsprogramms entspricht die Einheitlichkeit ihrer handwerklichen Umsetzung. Alle Bücher der Bremer Presse zeichnen sich durch die einheitliche von Wiegand entworfene Schrift aus, durch die von Anna Simons geschnittenen Initialen, durch die gleiche Ausstattung, die qualitätvollen Papp-, Leinen oder Ledereinbände, das hochwertige Papier und den einheitlichen Satzspiegel. Diese dichterische wie handwerkliche Einheit ist wesentlich das Verdienst Willy Wiegands, der den Verlag nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden Ludwig Woldes 1922 alleine weiterführt.153 Wiegand besitzt tatsächlich eine „Vision“, wie Borchardt sie von einem Verleger fordert (wenn sie auch nicht der „Vision“ entspricht, die Borchardt sich wünscht), seine Bedeutung für die Bücher der Bremer Presse ist nicht zu unterschätzen. Er prägt nicht nur als handwerklicher Leiter und Formgeber das äußere Erscheinungsbild der Bremer Presse, auch als literarischer Ideengeber und Planer arbeitet er an der Verwirklichung des Programms tatkräftig mit. So zeugen die veröffentlichten Bücher der Bremer Presse von einer erstaunli149 150 151 152 153

Ebd., S. 48. Ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Harald Keller: „Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 52. Eine ausführliche Würdigung der Bremer Presse und der Leistung Wiegands, „who almost single-handedly co-ordinated its financial, literary and typographic interests“, bei Christopher Burke: „Luxurity and austerity“ a.a.O.

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chen programmatischen Geschlossenheit. Wiegand hat stets das Ganze im Blick und denkt, wie sich an vielen seiner Briefe ablesen läßt, stets in Zusammenhängen; so heißt es über das Verlagsprogramm etwa in einem Brief an Borchardt: „Im Wesentlichen also Beschränkung auf Deutschland und auf die Antike, und weniger Herausgaben einer einzelnen Persönlichkeit, eines einzelnen Werkes, eher die Verbindung, Entwicklung.“154 Auch der nicht realisierte Plan der vierbändigen „Volkslied“-Anthologie Borchardts ist Teil eines solchen größeren Ganzen. Sie sollte den Zeitraum von 1350 bis 1620 umfassen und durch eine von Borchardt besorgte Ausgabe der Minnesänger sowie durch eine wiederum mehrbändige Sammlung der Dichtung des Barock155 eingerahmt werden; auch Sammlungen des katholischen und des protestantischen Kirchenliedes waren vorgesehen. Mit den veröffentlichten Bänden, den Anthologien Hofmannsthals und Borchardts und den Ausgaben von Werken Goethes (Iphigenie auf Tauris und Hermann und Dorothea 1922, Faust 1925), Schillers (Der Verbrecher aus verlorener Ehre und Demetrius 1922, Gedichte sowie die von Hugo von Hofmannsthal „nach einem älteren Vorbilde“ herausgegebene Selbstcharakteristik 1926), Hölderlins (Elegien 1922 und Hymnen 1924) und anderer ist das Programm der Bremer Presse selbst eine repräsentative Großanthologie der deutschen Literatur. Wiegands Mitarbeit und Anteil an den Ausgaben seines Verlages ist groß. Es kann wohl behauptet werden, daß Ausgaben wie Hofmannsthals Deutsches Lesebuch oder Borchardts Der Deutsche in der Landschaft ohne seine Hilfe kaum hätten in diesem Umfang fertiggestellt werden können. 156 Wiegand läßt recherchieren, läßt Abschriften anfertigen, beschafft Bücher aus dem Antiquariatshandel und macht selbst Vorschläge zur Auswahl einzelner Texte. Für Borchardt ist es zusätzlich ein Glück, einen Verleger gefunden zu haben, der ihn gerade finanziell großzügig unterstützt. Was dabei an Wiegand besonders bewundert werden muß, ist die große Geduld, die er für Borchardt aufbringt, mit der er seine Vorwürfe und Zornausbrüche, sein Säumen und seine Ansprüche erträgt und ihn immer wieder ermutigt, zur Arbeit anhält und an ihm als einer zentralen Figur seines

154 Wiegand an Borchardt, 3. Juni 1923 (DLA). 155 Für dieses ab 1925 geplante Projekt waren Hofmannsthal, Walther Brecht, Schröder, Walter Benjamin und Karl Wolfskehl als Herausgeber der nach Gattungen unterteilten einzelnen Bände vorgesehen. Vgl. Hugo von Hofmannsthal und Walther Brecht: Briefwechsel. Hrsg. von Christoph König und David Oels. Göttingen 2005, S. 88, S. 124f., S. 128-130; Hugo von Hofmannsthal: „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse.“ Hrsg. von Werner Volke. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 1963, S. 44-189, hier S. 144. 156 Vgl. zu Wiegands Anteil an Der Deutsche in der Landschaft S. 180-188 dieser Arbeit.

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II. Das Umfeld von Borchardts Anthologien

Verlags festhält, auch wenn Borchardt die Bedeutung seines Verlegers, des „Feuerkopf[s] Wiegand“,157 nur selten honoriert. Borchardt haben die zwanziger Jahre dennoch keine finanziellen Gewinne gebracht, noch immer ist seine Existenz alles andere als gesichert; er wirft Wiegand vor, als Kaufmann versagt zu haben: „Ich halte Wiegand als Verleger und Buchhändler für total unbrauchbar. Soweit ich habe beobachten können, ist er der Totengräber jedes Unternehmens geworden, an das er seine unglückliche Hand gelegt hat“, und seine schlechten Eigenschaften seien, „verbunden mit seiner kindischen Eifersucht und der leider im Wachsen begriffenen Wichtigmacherei und Persönlichkeitsspalterei, die hinter seinem Schmeicheln und seiner äusserlichen Unterordnung liegt, deleterisch.“158 Als im Herbst 1932 der Angelsachsen-Verlag das Restprogramm der Bremer Presse übernimmt, hat Borchardt bereits mit dem Georg Müller-Verlag erfolglos über die Übernahme seines Gesamtwerkes verhandelt159 sowie einen Vertrag über eine „Goethe-Biographie, die zum 100. Sterbetag und zwar nicht nach dem 15. Januar 1932 vollständig und druckfertig in den Händen des Verlages sein muss“,160 abgeschlossen.

157 Borchardt an Christine von Hofmannsthal, 24. August 1924, Briefwechsel, S. 342. 158 Borchardt an Schröder, September 1929, Briefwechsel 1919-1945, S. 142. 159 Dies geht aus Wiegands „Auflistung bestehender Verlagsverträge Rudolf Borchardts von 1924-1931“ (DLA) hervor. 160 So der Wortlaut des Vertrags vom 20. Dezember 1930, der sich im Nachlaß Borchardts im DLA erhalten hat; die Goethe-Biographie bleibt indes ungeschrieben.

3. Die Anthologien Hugo von Hofmannsthals

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3. Die Anthologien Hugo von Hofmannsthals Von Hugo von Hofmannsthal erscheinen in den zwanziger Jahren drei Anthologien im Verlag der Bremer Presse: Deutsches Lesebuch in zwei Bänden (1922/23, eine zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage 1926161), Deutsche Epigramme (1923) und Wert und Ehre deutscher Sprache (1927). Die Anthologien Borchardts und Hofmannsthals bilden eine Einheit, nicht ohne Grund werden die sich in Format und Aufmachung gleichenden – Deutsches Lesebuch, Der Deutsche in der Landschaft, Ewiger Vorrat deutscher Poesie und Wert und Ehre deutscher Sprache – vom Verlag auch in einer Kassette angeboten. Außer dem Verlag verbindet beide Anthologisten eine langjährige Freundschaft, gegenseitige Anteilnahme, gemeinsame Arbeit seit dem Jahrbuch Hesperus (1909) und ein bei allen Unterschieden ähnliches literaturpolitisches Programm, getragen von der Sorge um den Fortbestand der Tradition des deutschen Geistes. Hofmannsthal gibt allerdings nicht erst für die Bremer Presse Anthologien heraus; die erste von ihm veranstaltete Sammlung ist Deutsche Erzähler,162 1912 in vier Bänden im Insel-Verlag erschienen. Die Anthologie, die von Goethe bis Sealsfield reicht (und damit schon den Zeitraum der späteren Anthologien absteckt), ist eine „objektive“ Anthologie und durchaus konventionell. Hermann Hesse moniert nach ihrem Erscheinen nicht zu Unrecht, sie würde nichts dem „feineren Leser“163 Unbekanntes erhalten. Obwohl die Sammlung Deutsche Erzähler darüber hinaus zunächst auch noch ein „buchhändlerischer Fehlschlag“164 ist, wird sie vielleicht gerade durch ihre geringe Originalität zu Hofmannsthals erfolgreichster und haltbarster Anthologie. In immer neuen Auflagen und um einen von Marie Luise Kaschnitz besorgten zweiten, sie ins 20. Jahrhundert fortführenden 161 Zu den Änderungen im Einzelnen vgl. Werner Volkes Anmerkung zu Hofmannsthal an Wiegand, 27. Juni 1924 a.a.O., S. 114f. Eine eingehende Analyse der Struktur der zweiten Auflage des Lesebuchs findet sich bei Daniela Gretz: Die Deutsche Bewegung a.a.O., S. 288-298. 162 Hugo von Hofmannsthal (Hrsg.): Deutsche Erzähler. Leipzig 1912. Vgl. auch Werner Volke: „‚Wir haben nicht wie die Franzosen einen Kanon... .‘ Herausgeben als Aufgabe des Dichters.“ In: Hofmannsthal-Jahrbuch. 6. Jg. 1998, S. 177-205, hier S. 178-185. 163 Hermann Hesse in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Dezember 1912, jetzt in: Die Welt als Buch II. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1911-1916. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M. 2002 (Sämtliche Werke 17), S. 165f. Hesse schrieb natürlich auch im Hinblick auf das von ihm herausgegebene Meisterbuch (Berlin 1913), das auch weniger bekannte deutsche Prosa und Dichtung aus dem gleichen Zeitraum versammelt. 164 Eike Middell: „Vom Umgang des Dichters mit Dichtung. Zu den editorischen Bemühungen Hugo von Hofmannsthals.“ In: Hugo von Hofmannsthal: Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Hrsg. von Ursula Renner und G. Bärbel Schmid. Würzburg 1991, S. 109-122, hier S. 112. Vgl. auch Werner Volke: „‚Wir haben nicht wie die Franzosen einen Kanon...‘“ a.a.O., S. 182 und 184.

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Band erscheint sie bis heute. 1912 konnte auch ein anderer als Hofmannsthal eine solche Reihe von Erzählungen ohne ein anderes Hilfsmittel als sein Gedächtnis 165 zusammenstellen, daher mußte die herausgeberische Leistung eines originellen und gebildeten Dichters wie Hofmannsthal enttäuschen – heute, da sowohl die Kenntnis der klassischen deutschen Erzählungen als auch ihr Vorhandensein in den Haushalten nicht mehr vorausgesetzt werden können, hat das Buch eine neue Bedeutung bekommen, denn es bietet nun eine Art Basis- oder Anfängerkanon und steht als solcher nicht mehr wie bei Hofmannsthal und seinen Zeitgenossen am Ende einer Lektüreerfahrung, sondern an deren Anfang. Trotz der Konventionalität der Sammlung liest indes Borchardt aus ihrem Vorwort eine „Rückkehr“ Hofmannsthals „zu sich selber“166 heraus und sieht so die Grundlage gegeben für eine neue Annäherung und Zusammenarbeit nach einer Zeit des Schweigens; später schreibt er über die „vom ersten Augenblicke an klassische Auswahl“, es sei darin die „schönste, die lieblichste und zugleich triftigste, deutsche Prosa“167 vereinigt. Abgesehen davon sind in Hofmannsthals Vorwort schon Themen angesprochen, die sich auch noch in den Vorworten der Anthologien für die Bremer Presse und in der Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ sowie in den Nachworten von Borchardts Anthologien finden lassen, etwa wenn von der besonderen „Eigenart“ des deutschen „Geistes“168 und seiner „Tiefe“169 die Rede ist oder wenn „über alles Wirkliche hinaus ein beständiges Einatmen des Jenseitigen, Verborgenen“170 an den deutschen Erzählungen festgestellt wird. Während des Ersten Weltkriegs erscheint, ebenfalls im Insel-Verlag, das nächste anthologische Unternehmen Hofmannsthals, die mit einem „Österreichischen Almanach“ (1915) vorgestellte „Österreichische Bibliothek“,171 in der bis 1917 sechsundzwanzig Bände im Format der Inselbücherei erscheinen. Zwar zeichnet Hofmannsthal als Herausgeber des Almanachs und der Reihe, aber er besorgt lediglich deren ersten Band, Grillparzers politisches Vermächtnis. Das Vorhaben krankt in erster Linie an seiner schwierigen Rechtfertigung. Die Deutschen Erzähler enthalten neben deutschen auch schweizerische und österreichische Erzähler – sie postu165 Vgl. Hofmannsthals Vorwort zu Deutsche Erzähler, jetzt in: Reden und Aufsätze I: 1891-1913. Frankfurt/M. 1979, S. 425-431, hier S. 425. 166 Borchardt an Hofmannsthal, 2. Dezember 1912, Briefwechsel, S. 136. 167 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 287. 168 Hugo von Hofmannsthal, „Deutsche Erzähler“ a.a.O., S. 426. 169 Ebd., S. 428. 170 Ebd., S. 430. 171 Vgl. zu Hofmannsthals anthologischen Bemühungen um Österreich auch Werner Volke: „‚Wir haben nicht wie die Franzosen einen Kanon...‘“ a.a.O., S. 185-195.

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lieren damit eine Einheit der Sprache. Diese kann aber als Rechtfertigung für Hofmannsthals These, daß Österreich „ein Wesen ist“,172 nicht dienen. Die Österreichische Bibliothek versammelt fast ausschließlich politische oder historische Texte, versucht künstlich eine österreichische Kontinuität und Einheit seit den Zeiten Walthers von der Vogelweide zu konstruieren. Insgesamt bleibt aber unklar, was genau es mit der „Österreichischen Idee“173 auf sich hat, die Hofmannsthal irgendwo zwischen eigener Geschichtskonstruktion und Utopie, zwischen Maria Theresia, dem Ersten Weltkrieg und einer unbestimmten Zukunft zu finden glaubt. Zu dieser ideologischen Unklarheit kommt der Umstand, daß seine für Österreich bestimmte Bibliothek ausgerechnet in Leipzig erscheint – „gleichzeitig Deutscher und Österreicher zu sein scheint mir [...] unmöglich“, 174 wie Leopold von Andrian an Hofmannsthal schreibt. Der Plan scheitert – wie auch eine von Hofmannsthal erwogene „Tschechische Bibliothek“, eine Sammlung mit „Fremden Erzählern“ und eine erweiterte Neuauflage der Deutschen Erzähler nicht mehr realisiert werden. Erfolgreicher sind Hofmannsthals Anthologien für den Verlag der Bremer Presse. Wie Borchardt hat auch Hofmannsthal, dessen eigentliche Verlage Fischer und Insel waren, wegen der herrschenden Inflation finanzielle Gründe, für die Bremer Presse als Herausgeber tätig zu werden. „Wenn von beiden Bänden des Lesebuchs in kürzester Zeit je 5000 Exemplare abgesetzt werden könnten, so würde meine Arbeit mich u. meinen Haushalt für die Frist von 6-8 Wochen über Wasser halten“,175 wie es in einem Brief an den Verleger aus dem Jahr 1922 heißt. Neben der Herausgeberschaft der Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge, die zwischen 1922 und 1927 in sechs Heften erscheint, seien noch Hofmannsthals Pläne für Anthologien erwähnt, die vor allem in die Anfangszeit des Verlages der Bremer Presse fallen: 1923 „Die Antike der Deutschen“ mit Texten von Herder, Wieland, Lessing, Winckelmann; Schiller, Goethe, Humboldt; Hölderlin, Novalis; Bachofen; Rohde, Nietzsche, J. Burckhardt; Borchardt, Klages und Schuler, 176 im selben Jahr außerdem ein „Gartenbuch“ mit

172 Hugo von Hofmannsthal: „Österreichische Bibliothek. Eine Ankündigung.“ In: Reden und Aufsätze II: 1914-1924 a.a.O., S. 434-439, hier S. 433. 173 So der Titel eines Aufsatzes von Hofmannsthal aus dem Jahr 1917, ebd., S. 454-458. 174 Andrian an Hofmannsthal, 18. September 1913, Briefwechsel. Hrsg. von Walter H. Perl. Frankfurt/M. 1968, S. 202. 175 Hofmannsthal an Wiegand, 26. November 1922, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 132. 176 Vgl. Hofmannsthal an Wiegand, 2. April 1923, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 87.

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Texten von Bacon, Chambers, Jean Paul und E.A. Poe177 sowie „Deutsche Geisteskreise in Briefen“, als deren erstes Zentrum Hofmannsthal Johannes von Müller mit Bonstetten, Herder, Heyne, Gleim, Heinse, Woltmann vorschwebte, andere Kreise sollten Bürger und Runge zum Mittelpunkt haben; 178 schließlich 1925 die bereits erwähnte mehrbändige Sammlung mit Texten aus dem 17. Jahrhundert. Borchardts und Hofmannsthals Sammlungen sind nicht nur durch ein Verlagsprogramm miteinander verbunden, sie ergänzen sich auch: Deutsches Lesebuch und Ewiger Vorrat deutscher Poesie versammeln deutsche Prosa und Poesie, die andern liefern dazu Erweiterungen: Deutsche Epigramme Verse in Distichen, Der Deutsche in der Landschaft Landschaftsbeschreibungen, Deutsche Denkreden akademische Gedenkreden und Wert und Ehre deutscher Sprache Äußerungen zur deutschen Sprache. Überschneidungen gibt es dabei nur zwei: Schillers Elegie „Nänie“ findet sich sowohl in den Deutschen Epigrammen (S. 16), deren längster Text sie ist, wie auch im Ewigen Vorrat (S. 298), der sonst keine Epigramme enthält; Goethes „Granit“ steht sowohl im Deutschen Lesebuch (Band II, S. 6-10 der ersten und Band I, S. 224-228 der zweiten Auflage) als auch in Der Deutsche in der Landschaft (S. 137-141). In den beiden letztgenannten Bänden gibt es noch eine ganze Anzahl von Texten, die denselben Quellen entnommen sind, Landschaftsbeschreibungen finden sich hier wie dort von Heinse, Bettina von Arnim, Schinkel, Fallmerayer, Moltke, Ritter und Hehn. Gerechtfertigt werden Hofmannsthals Anthologien nicht nur in den Vorworten, sondern auch durch seine Rede „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“, die er am 10. Januar 1927 im Auditorium maximum der Universität München hält, deren Rektor Karl Vossler sie auch zugeeignet ist. 179 In allen diesen Texten erscheint die eigene Gegenwart als „eine sehr harte, finstere und gefährliche Zeit“, 180 als eine Zeit großer religiöser, politischer und wissenschaftlicher Zerrissenheit, in der alles 177 Vgl. Hofmannsthal an Wiegand, 18. und 28. April 1923, ebd., S. 90 und 92. Vgl. Friedrich Georg Jünger: Gärten im Abend- und Morgenland. München und Esslingen 1960, S. 5. Das Buch wurde von Wiegand besorgt, Jünger schrieb lediglich die Einleitung dazu. 178 Vgl. Hofmannsthal an Wiegand, 19. Juni und 18. Juli 1923, ebd., S. 98 und 100. Vgl. auch den Brief Wiegands an Borchardt vom 7. Januar 1925 (DLA), in er dem im Zusammenhang mit geplanten Anthologien Borchardt auch an „die Dichterkreise des 18. und 19. Jahrhunderts: das preussische Rokoko, den Göttinger Dichterkreis“ erinnert; offenbar ist dieser Plan von Hofmannsthal auf Borchardt übergegangen, ohne jemals konkreter zu werden. 179 Hugo von Hofmannsthal, „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“, erstmals veröffentlicht als Sonderdruck der Neuen Deutschen Beiträge im Verlag der Bremer Presse, München 1927, jetzt in: Reden und Aufsätze III: 1925-1929. Aufzeichnungen. Frankfurt/M. 1980, S. 24-41. 180 Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache. Vorwort“, ebd., S. 131.

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Überlieferte und Bestehende in Frage gestellt wird und – zumal nach den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs – in seinem Fortleben gefährdet ist: „Das Begrenzte, auf dem allein wir geistig zu fußen vermögen, ist im Begriff, sich zu verflüchtigen wie Rauch“, 181 wie es in der Rede „Vermächtnis der Antike“ 1926 heißt. Hofmannsthals Anthologien sind in dieser sich rapid verändernden Zeit der Ausdruck einer Suche nach dem festen Punkt, „an dem auch noch die eigene Gegenwart einen Halt zu finden vermöchte“. 182 Halt gibt in diesem Fall die Tradition, der „Besitz“ – und die Anthologien wahren diesen „Besitz“ nicht nur in Form von Texten, sondern auch in einer Reihe von vorbildlichen Charakteren, „bei denen der ganze Mensch die Feder geführt hat“,183 ihren Verfassern. Durch die „Gedenktafeln“, die Hofmannsthal der zweiten Auflage des Deutschen Lesebuchs beifügt, sollen deren „Hauptwerke manche edle geistige Gestalt, ehe ihre Umrisse für die Nation völlig verdämmern, ins Gedächtnis der Aufnehmenden kräftiger zurückrufen, damit der Reichtum, der noch unser Besitz ist, den heraufkommenden Generationen nicht als eine Armut überantwortet werde.“184 Es ist dies nicht nur ein Akt des Andenkens, denn darüber hinaus bilden gerade die „Gedenktafeln“ eine Ahnenreihe beispielhafter Vorbilder der eigenen Arbeit. Besonders sei der Verlust der Tradition, so Hofmannsthal, an der Verwilderung der Sprache zu bemerken. Sie sei „bald der Verwahrlosung“ anheimgefallen, „bald der Pedantrie oder der Affektation“ und stecke „voller zerriebener Eitelkeit, falscher Titanismen, voller Schwächen, die sich für Stärken ausgeben möchten“. 185 Hofmannsthal nimmt dabei endgültig Abschied von seinem Engagement für Österreich, denn den Raum, den er benennt – „vom Bodensee bis an die Kurische Nehrung, von der Weser bis ins steirische Gebirge“186 – faßt er nicht als politische, sondern nur als eine sprachliche Einheit; konsequenterweise bezieht sich sein Begriff „Nation“ auf diesen Sprachraum. Auch diesen Raum sieht Hofmannsthal in seiner Existenz gefährdet, fehle doch hier, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, etwa Frankreich, eine „mittlere Spra181 Hugo von Hofmannsthal: „Vermächtnis der Antike“ (1926), ebd., S. 13-16, hier S. 14. Vgl. Borchardts Lob im „Eranos-Brief“, in dem „großartigen“ Lesebuch würden „ewige Nothelfer und Schutzgötter ihm [dem Volke] beistehen durch diese Nacht der Geschichte“, Prosa I, S. 287. 182 Gerhard R. Kaiser: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation...“ a.a.O., S. 134. 183 Hugo von Hofmannsthal: „Vorrede“ zum Deutschen Lesebuch, Reden und Aufsätze II a.a.O., S. 170. 184 Hugo von Hofmannsthal: „Notiz zum ‚Deutschen Lesebuch’“, Reden und Aufsätze III a.a.O., S. 99. 185 Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“ a.a.O., S. 129. 186 Hugo von Hofmannsthal: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ a.a.O., S. 35.

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che“. Statt dieser gebe es nur „eine sehr hohe dichterische Sprache und sehr liebliche und ausdrucksstarke Volksdialekte“. Seinen Ausdruck könne das Volk nicht in der „Gebrauchssprache“ finden, sondern ausschließlich „in den hohen Sprachdenkmälern und in den Volksdialekten“. Eine „mittlere Sprache“ aber, die allein „das Gesicht der Nation“ ausmache und „in der sich die Geselligkeit der Volksglieder untereinander auswirkt“, bilde sich nur da, wo sie allen gemein sein könne. Eine solche „Geselligkeit“ existiere in Deutschland also nur in den Dialekten der einzelnen Volksgruppen und in den höchsten Werken der Literatur – Hofmannsthals Beispiele sind Goethe, Hölderlin und Novalis, die allein „sprachgemäß“187 seien –, in diesen allerdings nur in einem idealen, weil schriftlichen Raum, den eben das „Schrifttum“ umreiße. Hier entstehe – und nicht durch „Heimatboden“, „Handel und Wandel“ oder Politik – durch ein „geistiges Anhangen“ eine Gemeinschaft, die allein als „Nation“ 188 gelten könne. Der elitäre Zug, der auch Hofmannsthals Argumentation eigen ist, kann nicht übersehen werden. Wichtig ist ihm allein die hohe, nur wenigen zugängliche Dichtung, denn die Volksdialekte scheiden, da sie dem Volk als ganzem unzugänglich sind, aus. Die Sprache ist mehr als nur ein Mittel zur Verständigung: „Die Sprache ist ein großes Totenreich; unauslotbar tief; darum empfangen wir aus ihr das höchste Leben. Es ist unser zeitloses Schicksal in ihr, und die Übergewalt der Volksgemeinschaft über alles Einzelne.“189 Hier rede etwas „Vergangenes“, werde ein „eigentümlicher Zusammenhang“ wirksam, hinter dem „ein Etwas“ walte, „das wir den Geist der Nation zu nennen uns getrauen“190, ein Gedankengang, der sich auch in Fichtes vierter Rede an die deutsche Nation findet, aus der in Wert und Ehre deutscher Sprache eine längere Passage wiedergegeben ist (S. 177-190) und deren Wirkung auch schon in den theoretischen Schriften Borchardts und in den Anthologien Hofmillers und Wolters’ nachgewiesen wurde. Hinter der „Seele“ und der „Urkraft“ des Volkes,191 die Hofmannsthal hier in der Sprache ausmacht, verbirgt sich etwas ähnlich Esoterisches und wenig Greifbares wie hinter Borchardts Vorstellung von „Poesie“, dem „Göttlichen“ und „Ewigen“, das in Dichtung, Politik, Religion und Wissenschaft wirksam sei. Jene „Tiefe“,192 die etwa in der Sprache der Deut-

187 188 189 190 191 192

Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“ a.a.O., S. 128-130. Hugo von Hofmannsthal: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ a.a.O., S. 24. Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“ a.a.O., S. 132. Hugo von Hofmannsthal: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ a.a.O., S. 24. Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“, a.a.O., S. 132. Hugo von Hofmannsthal: „Deutsche Erzähler“ a.a.O., S. 428.

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schen Erzähler die „träumende Seele“ 193 als „besondere Eigenart [...] des Gemüts“ 194 zum Ausdruck bringe, ist bei Hofmannsthal ein zentrales Kriterium für gültige, klassische Dichtung. Doch nicht nur Texte, sondern auch Dichter, „deren Sprache und Tonfall“ als „besonders wahr schienen“, zeugen von dieser Tiefe: „Sie haben gut geschrieben, weil sie gut gedacht und rein gefühlt haben, und indem sie uns sich selbst auszusprechen meinen, wird das Volksgemüt in ihnen redend.“195 Goethe kann unter diesen auch hier als besonderes Muster gelten. Von ihm und seiner geistigen wie sprachlichen Entwicklung ist in der Vorrede des Deutschen Lesebuchs daher auch am meisten die Rede, auch sind von ihm allein mehrere Stücke aufgenommen, nämlich drei,196 sowie fünf bzw. sieben, die an ihn gerichtet sind oder von ihm und seinem Werk handeln,197 denn er scheine „als ein lang und gewaltig Lebender dreien Geschlechtern zuzugehören, und in jedem aufs neue steht er als das Haupt der Seinigen“. Er „redet als der Volksgeist selbst, indem er doch nur meint, sein einziges volles Herz auszusprechen.“198 Nun, nach dem Ersten Weltkrieg, da dieser selbstverständliche „Besitz“ des Volksgeistes und der Umgang damit verlorengegangen sei, gebe es auf der Spur dieses ursprünglichen Volksgeistes aber doch eine Bewegung von „Suchenden“, die Hofmannsthal in der Schrifttums-Rede an zwei Beispielen darstellt, dem Dichter-Seher und dem Wissenschaftler. Als Vorbild für diesen werden Max Weber, Karl Vossler oder Josef Nadler vermutet, als Vorbild für jenen George, Rudolf Pannwitz oder eben Borchardt. 199 Bezieht man die entsprechende Passage auf Borchardt, dann erkennt Hofmannsthal dessen „Anhauch des Genies“ wie auch dessen „Stigma des Usurpators“, den Willen, seine Gefolgsleute „unbedingt“ zu unterwerfen. Er sei „Liebender und Hassender und Lehrer und Verführer 193 194 195 196

Ebd., S. 431. Ebd., S. 426. Hugo von Hofmannsthal: „Deutsches Lesebuch“ a.a.O., S. 170. „Von deutscher Baukunst“ (1. Aufl. I, S. 60-70/2. Aufl. I, S. 72-82), „Philipp Neri, der Heilige“ (I, S. 123-135/I, S. 135-147) und „Granit“ (II, S. 6-10/I, S. 224-228). 197 „Goethes Mutter. An ihren Sohn“ (I, S. 105-107/I, S. 117-119), Solgers „Brief über Goethes Wahlverwandtschaften“ (I, S. 159-166/I, S. 171-178), Zelters „Beschreibung von Herrnhut“ in einem Brief an Goethe (II, S. 14-20/I, S. 236-242), „Bettina von Brentano. An Goethe“ (II, S. 38-41/I, S. 275-278) und Feuchterslebens „Einwirkungen Goethes“ (II, S. 218-220/II, S. 204-206) sowie, nur in der zweiten Auflage, ein Brief Caroline Schlegels an Goethe (I, S. 287-289) und aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe: „Goethe Bogen schiessend“ und „Der tote Goethe“ (II, S. 64-76). 198 Hugo von Hofmannsthal: „Deutsches Lesebuch“ a.a.O., S. 171. 199 Vgl. Friedmar Apel: „Gemeinschaft aus dem Elementaren. Hugo von Hofmannsthal und Josef Nadler.“ In: Essayismus um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann. Heidelberg 2006, S. 213-221, hier S. 220.

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zugleich“ und eigentlich mehr „Prophet als Dichter“. 200 Auch wird die Einheit von Borchardts Werk als Dienst an einer einzigen Idee, eben der des Zusammenhalts der Welt durch „Poesie“, dargestellt: „sein Hauptwerk ist ein nie geschriebenes, dem alles was er von sich gibt nur Prolegomena sind, als solche belanglos, bedeutsam nur in der von ihm und den Seinen ersehnten Relation zum Hauptwerk.“ Dabei werde er „sich gelegentlich auch der literarischen Formen bedienen“, aber: „Sein Drama wird ihm zum Mythos des eigenen Ichs aufschwellen, sein Roman wird kosmische Geheimnisse umschließen, wird Märchen, Historie, Theogonie und Bekenntnis zugleich sein wollen. Je großartiger, fragmentarischer er sich gibt, um so großartiger wird er verlangen, als ein Ganzes, als das einzige Ganze dieser zerrissenen Welt genommen zu werden...“. Auch die Ichbezogenheit Borchardts beschreibt Hofmannsthal und seinen Anspruch, „daß alles mit ihm, mit seiner Seelenwanderung neu anfangen müsse“ und daß er nur gelten lassen könne, was „aus ihm wiedergeboren“ werde, und er es daher verschmähe, „Ordnungen zu empfangen“, um stattdessen „Ordnungen, die von ihm gesetzt sind, aus[zu]teilen“.201 Gemeinsam sei beiden Typen – hier im Herrschenwollen des DichterSehers, dort im „Dienenwollen“ des Wissenschaftlers – „ein strenges, männliches Gehaben“, in dem das „witternde, ahnende deutsche Wesen“ wieder zutage trete. Hofmannsthals Hoffnung ist nun, daß sich aus diesen Suchenden eine neue geistige Bewegung formiere, die an die Romantik zwar anknüpfen soll, aber nicht wie diese durch „verantwortungsloses Wesen“ 202 und „halben Glauben“ zum Scheitern verurteilt wäre, sondern durch eine „titanische Grundhaltung“ zu „der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation“ beitrage und so „die Sicherung des Geistigen Raumes“ betreibe. Was Hofmannsthal ersehnt, ist eine der „Schöpferischen Restauration“ Borchardts vergleichbare Bewegung: „eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könne.“203 Was diese Revolution bringen soll, ist die Restitution des deutschen Geistes und seiner Sprache, einen Zustand also wie jenen im „Jahrhundert des deutschen Geistes“, das Hofmannsthal „von Lessings Hervortreten bis gegen das Jahr 1848“ umgrenzt. Damals sei „der Sprachquell hervorgebrochen, aus dem wir unser ganzes geistiges Leben schöpfen“ – seither 200 201 202 203

Hugo von Hofmannsthal: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ a.a.O., S. 32. Ebd., S. 33f. Ebd., S. 35ff. Ebd., S. 38ff.

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sei „deutsches geistiges Wesen neuerdings in der Welt erkannt“.204 Dieser Zustand könne aber nur wieder erstehen und bestehen, wenn es in Deutschland eine „wahre nationale Geselligkeit“ 205 gebe. Deutschland fehle diese Geselligkeit wie auch ein verbindlicher Kanon 206 aus historischen Gründen, es bestehe das „Gegenteil jener Einhelligkeit“, „kein Zusammenhang“ sei in der „Ebene der Gleichzeitigkeit“, den eben eine „Geselligkeit“ gewährleisten würde, aber auch in der „Tiefe der Geschlechterfolge“, 207 wo ihn ein bewußter bewahrender Umgang mit der eigenen Tradition gewährleisten könne. Eine solche traditionsbewußte Geselligkeit sichere durch gegenseitige Aufmerksamkeit und Rivalität, durch gegenseitige Kontrolle und gemeinsames Maß und eine „Sprachnorm“, 208 wie sie in Frankreich bestehe, das Fortleben des nationalen Geistes in der Gemeinschaft. Als ein Dokument einer solchen vorbildlichen Geselligkeit hat Hofmannsthal wohl auch 1923 die Anthologie „Deutsche Geisteskreise in Briefen“ geplant, in der Briefwechsel um einzelne Persönlichkeiten wie Johannes von Müller, Bürger oder Runge von eben jener gemeinsamen Anregung und Arbeit gezeugt hätten. Einen solchen „Geisteskreis“ als einen Kern- und Ausgangspunkt einer „konservativen Revolution“ erhofft sich Hofmannsthal offenbar nicht nur von den beiden beschriebenen Typen des Suchenden, sondern auch von der Bremer Presse. 209 So schreibt er an Wiegand 1925: „Treten Schaeder und Burckhardt in ein engeres Verhältnis zum Verlag, so ist ein gutes Teil von dem was man unter dem Begriff eines Kreises – dem George’schen höchst unähnlich – erwünscht und erhofft hat, verwirklicht [...]. Auch auf Dr Benjamin zähle ich in ähnlichem Sinne.“ 210 Für den „Zusammenhalt des Kreises“ sorge der allen Mitgliedern gemeinsame „Wille zum geistigen Dienst“,211 „das Dahingegangene zu vergegenwärtigen“ sei für alle „die wahre Aufgabe“.212 In Hofmannsthals Text „Euro204 Hugo von Hofmannsthal: „Deutsches Lesebuch“ a.a.O., S. 169f. 205 „Wir haben nicht wie andere Völker die schöne Kontinuität der Geschichte noch das schmiegsame Band der wahren nationalen Geselligkeit [...], kein einfaches Wort fasst uns zusammen.“ (Hugo von Hofmannsthal: „Anmerkung des Herausgebers“ zu Heft 1 der Neuen Deutschen Beiträge, Reden und Aufsätze II a.a.O., S. 200) 206 „Wir haben nicht wie die Franzosen einen Kanon“ („Deutsches Lesebuch“ a.a.O., S. 170). 207 Hugo von Hofmannsthal: „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ a.a.O., S. 28. 208 Ebd., S. 25f. 209 Vgl. S. 129f. und 183f. dieser Arbeit. 210 Hofmannsthal an Wiegand, 14. Februar 1925, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 132. Von den erwähnten Hans Heinrich Schaeder, Benjamin und Carl J. Burckhardt traten alle als Beiträger in den Neuen Deutsche Beiträgen in Erscheinung, Burckhardts Kleinasiatische Reise erschien als Sonderveröffentlichung 1926 auch separat. 211 Hugo von Hofmannsthal: „Ankündigung eines neuen Verlages“ a.a.O., S. 49. 212 Hugo von Hofmannsthal: „Wert und Ehre deutscher Sprache“ a.a.O., S. 132.

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pa“ (1925) fällt sogar Borchardts Begriff der „Schöpferischen Restauration“: „Unsere Epoche ist eine Epoche der Wiederherstellung – obwohl der Ausdruck der Schwäche nie so ohne Scham, und der Wille zur Disintegration nie so ungezügelt war. Hinter dem Treiben der Untergangspropheten und Bacchanten des Chaos, der Chauvinisten und Kosmopoliten, der Anbeter des Moments und der Anbeter des Scheines, im großen ernsten Hintergrund der europäischen Dinge sehe ich die wenigen über die Nationen verstreuten Individuen, welche zählen, sich auf einen großen Begriff einigen: den Begriff der schöpferischen Restauration.“213 Um von einem solchen noch kleinen Kreis aber die „Geselligkeit“ einer ganzen geistigen Nation, ja sogar ganz Europas zu erreichen, muß Hofmannsthal – wie Borchardt – „geistespolitisch“214 wirken, muß er, wie es im Vorwort des Deutschen Lesebuchs heißt, den Leser „in seiner Einbildungskraft mitschaffen“215 und hoffen, daß dieser die Lehren nachvollziehe und nun seinerseits in diesem Sinne zu wirken beginne. Nur mit einem derart nachvollziehenden, mitarbeitenden Leser kann die „konservative Revolution“, die Hofmannsthal im Auge hat, gelingen. Borchardts Rede „Schöpferische Restauration“ bietet sich nicht nur durch ihre zeitliche Nähe und die Ähnlichkeit ihres Schlagworts zum Vergleich mit Hofmannsthals „Schrifttum“-Rede und Vorworten für die Bremer Presse an. Borchardt hat Hofmannsthals Rede zweifellos gekannt – daß er sie in seinen Briefen nicht erwähnt, spricht nicht dagegen, sondern eher dafür, daß er sich von der Schilderung des „Suchenden“ getroffen fühlte –, und seine Rede, am gleichen Ort nur zwei Monate später, am 9. März 1927, gehalten, liest sich in vielem wie eine Korrektur. Allerdings geht es beiden in der Sache um etwas Ähnliches. Einig ist Borchardt mit Hofmannsthal in der Feststellung, daß die deutsche Sprache im Volk „keine Wurzel“ habe, ein „künstliches Erzeugnis“ sei und sich darüber hinaus in einem „erbarmungswürdigen Zustand“ befinde. 216 Einig ist er mit Hofmannsthal auch darin, in den Jahren etwa zwischen 1770 und 1830 die große Zeit des deutschen Geistes und seiner Sprache zu sehen. Allerdings teilt Borchardt Hofmannsthals Kritik an der Romantik nicht; ausführlich hebt er gerade deren restaurative Verdienste und ihre, Antike und Mittelalter wiederbelebenden, dichterischen wie wissenschaftlichen Leistungen hervor. Ebenso ausführlich beschreibt Borchardt den Nieder213 Hugo von Hofmannsthal: „Europa“, Prosa IV. Hrsg. von Herbert Steiner. Frankfurt/M. 1955, S. 242f. (fehlt in der späteren Ausgabe). 214 Hofmannsthal an Anton Kippenberg, 9. Februar 1919, Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel mit dem Insel-Verlag 1901-1929 a.a.O., S. 723. 215 Hugo von Hofmannsthal: „Deutsches Lesebuch“ a.a.O., S. 174. 216 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 248.

3. Die Anthologien Hugo von Hofmannsthals

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gang des deutschen Geistes nach der Hochblüte der Romantik217 durch Kapitalismus und Rationalismus und den damit erfolgten Riß in der Überlieferung, den Hofmannsthal erst in seiner eigenen Zeit konstatiert. Da nun seit der Romantik „der historische Begriff des Volkes [...] zersprungen“218 sei und der Großteil der Deutschen den Volksgeist aufgegeben habe, setzt Borchardt seine Hoffnungen wie Hofmannsthal auf eine Elite, die allein diesen Geist noch verkörpern könne und die er „Nation“ nennt. Auch Borchardt geht von einem „Kreis“ aus, von „Mittelpunkten“, um „aus dem Goetheschen ‚kleinsten Kreis’“ die „Restauration Deutschlands“ zu beginnen. Nur von diesem elitären „Volksteil“ sei zu hoffen, daß „er den Geist der deutschen Geschichte und die Geschichte des deutschen Geistes in sich wieder erlebt und wieder erbaut, bewahrt, selber zu einem lebenden Stücke deutscher Geschichte und deutschen Geistes, deutscher Art“219 werde. Allerdings ist bei Borchardt von „Geselligkeit“ bezeichnenderweise keine Rede – denn er erhofft, wie bereits gezeigt wurde, weniger Mitarbeit als Nachfolge. Er ist ein „Usurpator“, und die Vorstellung einer „Geselligkeit“, in der nur ein Mitglied anders denkt als er, ist ihm unerträglich. So scheitert etwa die Fortsetzung des Jahrbuches Hesperus – schon das erste war eine schwere Geburt – an Borchardts Weigerung, den Kreis der Mitarbeiter zu erweitern. Hofmannsthal, der Gerhart Hauptmann als Mitarbeiter durchsetzen möchte, wolle er „um keinen Preis“220 zustimmen. Hofmannsthal dagegen glaubt: „In einer Zeit wie der unseren, in der es an jeder selbständigen Kraft mangelt und die Jugend die Versprechungen nicht hält, haben alle Parteiunterschiede vor der Potenz zu schweigen und müssen alle bewiesenen und positiven Potenzen sich vereinigen“.221 Für Borchardt dagegen ist jede von seiner Idee abweichende Meinung eine Schwächung der Potenz – und daher nicht akzeptabel. Der Unterschied, der in diesen verschiedenen Haltungen zwischen den Dichtern und „Geistespolitikern“ Hofmannsthal und Borchardt zum Ausdruck kommt, dort die Bereitwilligkeit, die eigene Position für die Durchsetzung der eigenen Interessen zurückzustellen, hier die generelle Verweigerung jeglicher Zugeständnisse, prägt auch die Anthologien der beiden Freunde. 217 Zum Zusammenhang von „Schöpferischer Restauration“ und Vorstellungen der Romantik vgl. Meike Steiger: „‚Schöpferische Restauration.‘ Zur politischen Romantik-Rezeption.“ In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik. 13. Jg. 2003, S. 147-162, zu Hofmannsthal und Borchardt vor allem S. 156-162. 218 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 241. 219 Ebd., S. 249. 220 Borchardt an den Insel-Verlag, 3. Juli 1909, Briefe 1907-1913, S. 250. 221 So zitiert im Brief Borchardts an Schröder, 6. März 1910, Briefwechsel 1901-1918, S. 280.

III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien 1. Der Geist der deutschen Wissenschaft a) Einheit: Deutsche Denkreden Borchardts erste Anthologie Deutsche Denkreden, Ende 1925 erschienen, kann als seine unpopulärste gelten – falls man auf Borchardt eine Kategorie wie „populär“ überhaupt anwenden mag. Seit die letzten Exemplare 1932 nach dem Ende des Verlages der Bremer Presse an den Angelsachsen-Verlag verkauft und wenig später verramscht wurden, ist die Anthologie nicht mehr wieder aufgelegt worden. Sogar Borchardt selbst scheint sich darüber im klaren gewesen zu sein, daß sein Buch kaum einen größeren Leserkreis würde ansprechen können – selbst von seiner Frau erwartete er nicht, daß sie das Buch lesen würde, wie der Anfang von Borchardts Widmungsgedicht an sie zeigt: „Obwol Du sagst Du wirst es niemals lesen“.1 Dennoch ist Borchardt mit dem fertigen Buch sehr zufrieden; so schreibt er an seinen Verleger: „Die Denkreden liegen allerdings auf dem Tische und in der Hand wie eine gediegene Erzstufe, die sie auch sind. Prachtvoll das bronzebraune und das Massive.“2 Und auch Hofmannsthal zeigt sich, ebenfalls Wiegand gegenüber, erfreut: „Der Band Denkreden ist eine imponierende Sache geworden. Ich freue mich für Sie und mit Ihnen. Es ist alles daran aus einem Guss, die Auswahl, das Nachwort, die Anmerkungen. Es ist das Schönste was bis jetzt vom Verlag gemacht wurde.“3 Tatsächlich sind die Deutschen Denkreden im Format höher und breiter als die anderen Anthologien der Bremer Presse, genauso schlicht gestaltet, aber weniger umfangreich, was den Band in den Proportionen angenehmer werden läßt. Auf 479 Seiten sind hier zweiundzwanzig „Denkreden“ versammelt, die zwischen zwei (Boeckh auf Steffens, S. 153f.) und zwei1 2 3

„In ‚Deutsche Denkreden‘“, Gedichte II/ Übertragungen II, S. 165. Borchardt an Wiegand, 17. Januar 1926, Briefe 1924-1930, S. 115. Hofmannsthal an Wiegand, 18. Dezember 1925, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 144.

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undvierzig (Gervinus auf Schlosser, S. 297-339) Seiten lang sind. Den Reden selbst, die jeweils eine eigene Titelseite haben, folgen Borchardts Nachwort (S. 447-457), ein „Index. Biographisch“ (S. 459-469), in dem ausgewählte „Redende und Angeredete“4 (S. 456) mit ihren Lebensdaten und einer knappen Charakterisierung meist in einem langen Satz vorgestellt werden, ein „Index. Bibliographisch“ (S. 471-478) und das Inhaltsverzeichnis (S. 479). 1943, achtzehn Jahre nach dem Erscheinen des Buches, geht Borchardt in einem Brief an Vittorio Santoli auf seine Arbeit an den Anthologien der Bremer Presse ein und schreibt von den Denkreden: „Per le Gedenkreden un anno di ricerche pazienti, di confronti e di eliminazioni, anche riluttanti, bastarono appena.“5 Das Jahr „geduldiger Forschungen“ läßt sich dokumentarisch nicht nachweisen, unwahrscheinlich ist es dennoch nicht. Wie immer dürfte der ursprüngliche Plan und das Programm mit Wiegand mündlich besprochen worden sein, das erste Mal wohl schon im Sommer 1923, dann im Sommer 1924, als Borchardt in München wohnt, abschließend vor dem Beginn der Drucklegung bei Wiegands Besuch vom zweiten bis fünften Mai 1925 bei Borchardt in der Villa Chiapelli bei Pistoia. Als frühester Hinweis auf die entstehende Anthologie dürfte ein Zettel gelten, auf dem Borchardt zwölf der später zweiundzwanzig Reden auflistet, versehen mit einer kurzen bibliographischen Angabe. Außerdem steht auf dieser Liste die jeweilige Signatur der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Der Zettel scheint also ein unmittelbares Dokument von Borchardts Recherchen dort zu sein und hat, da er sich im Nachlaß der Bremer Presse befindet, dem Verlag wohl dazu gedient, die ersten Reden abzuschreiben. Danach wurden diese Versionen, wie es Wiegands Arbeitsweise entsprach, mit den späteren Drucken verglichen.6 Bei zwei Reden ist von Borchardt mit einem anderen Stift und wahrscheinlich später „part.“ hinzugefügt worden, wohl um anzuzeigen, 4

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Borchardts Unterscheidung in „Redende“ und „Angeredete“ ist nicht ganz richtig; „angeredet“ werden eigentlich die Zuhörer der jeweiligen Rede, die „Angeredeten“, die Borchardt meint, sind die Gegenstände der Reden. Nachfolgend seien dennoch Borchardts Bezeichnungen übernommen. Borchardt an Vittorio Santoli, 4. März 1943, Briefe 1936-1945, S. 545. Hierbei führt Wiegands Gründlichkeit etwa dazu, daß er den Schluß der Rede Jacob Grimms auf seinen Bruder auffindet, wie er Borchardt nicht ohne Stolz mitteilt: „Der beiliegende Abzug wird Dich erfreuen; er enthält den Schluss der Rede von Jakob Grimm auf Wilhelm. Du wirst Dich entsinnen, dass in der von Hermann Grimm besorgten Ausgabe der Kleineren Schriften der Schluss fehlte, da nach einem Vermerk Hermann Grimms das letzte Blatt der Handschrift sich nicht mehr gefunden hatte. Durch einen Zufall habe ich gefunden, dass der Schluss der Rede sich in einer späteren Auswahl aus den Kleineren Schriften befindet.“ (Wiegand an Borchardt, 22. Juli 1925, DLA) Grimms Rede ist wiedergegeben nach: Auswahl aus den Kleineren Schriften von Jacob Grimm. Berlin 1871, S. 120-145.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

daß sie für den Druck gekürzt werden sollen. Dies ist neben der nicht aufgenommenen Rede Niebuhrs auf Carstens die Rede Gervinus’ auf Schlosser, die auch gekürzt noch die längste des fertigen Buches ist.7 Kürzungen, die Borchardt später für den Schluß von Herders Schrift auf Lessing vorgesehen hatte, ein Ende nämlich nach der drittletzten Zeile auf Seite 45, damit „mit der grossen Apostrophe ein rednerischer Abschluss gewonnen“ werde und „das nachhinkende formlose Schreibewort“8 wegfiele – und damit die letzten beiden Abschnitte sowie die Verse aus Vergils fünfter Ekloge –, konnten nicht mehr realisiert werden, da die Seiten schon gedruckt waren.9 Im Briefwechsel mit Wiegand spielen die Denkreden erst während des Herstellungsprozesses eine Rolle – am 19. Mai 1925 übersendet Wiegand Borchardt die ersten acht gesetzten Reden, am 22. Juli die Hälfte des Bandes. Dabei geht es Wiegand vor allem um die Vereinheitlichung der Reden, ob also etwa die in den Quellen unterschiedlich bezeichneten Texte nun „Rede“ oder „Gedächtnisrede“ genannt werden sollen, ob sie „gelesen, gesprochen oder gehalten“ sein sollen, ob man „feierliche Sitzung“ oder „öffentliche Sitzung“ schreiben solle, wie genau die Akademie der Schönen Künste in Berlin oder der Saal der Königsberger Universität zu nennen seien. 10 Borchardt, dem die Genauigkeit Wiegands in solchen Dingen oft zu viel wird, tut dessen ausführlich geschilderte Anliegen großzügig ab: „Nun erlaube mir, alles was Du zur einheitlichen Regelung der Denkreden-Titulatur zur Erwägung stellst, mit einem Federzuge zu durchstreichen. Wir sind nicht dazu da, völlig belanglose Quisquilien des akademischen Comments oder des Zeitschnörkels exact zu conservieren, sondern setzen unsere ganze Materie auf frischen Fuss. Alle Reden sind für uns gehalten. Wenn Du der Akribie den Zoll eines kurzen bibliographischen Anhanges entrichten willst, was hübsch aber nicht unentbehrlich ist, so vermerke in ihm die exakten Titel.“11 So geschieht es, und auch sonst folgt Wiegand Borchardts Vorschlägen: „Ich für mein Teil würde vor jeder Rede nur gedruckt haben x auf y, und alle Einzelheiten (Tag Ort Gelegenheit pp) dem Inhaltsverzeichnisse oder Anhange zugeteilt wünschen.“12 Der biographische Anhang ist erst spät entstanden. Zwar regt

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Kürzungszeichen finden sich als drei Auslassungspunkte auf den Seiten 297, 323, 330, 333, 334 und 339. Borchardt an Wiegand, 28. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 100. Vgl. Wiegand an Borchardt, 5. August 1925, DLA. Wiegand an Borchardt, 19. Mai 1925, DLA. Borchardt an Wiegand, 22. Mai 1925, Briefe 1924-1930, S. 77f. Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 90.

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Borchardt schon am 14. Juni 1925 einen solchen an,13 doch am 22. Juli liegt er Wiegand noch immer nicht vor. 14 Borchardt reagiert nicht, und Wiegand findet sich im September schon damit ab, daß es diesen Anhang nicht geben wird: „Von den biographischen Notizen willst Du, wie ich annehme, absehen. Sonst müsste ich sie schon umgehend von Dir erhalten.“15 So hat Borchardt den biographischen Anhang offenbar erst kurz vor Abschluß des Bandes geschrieben – was man den in einen Satz gedrängten, hymnisch-hastigen Charakterisierungen durchaus anmerken kann. Borchardt selbst spricht in seinem Nachwort von einer gewissen „Willkür“ (S. 449), die dem Titel seiner Sammlung anhaften würde. Tatsächlich kann man dem Titel des Buches nicht entnehmen, was denn hier für eine Gattung versammelt ist, und es bleibt – wie Lorenz Jäger bemerkt 16 – unklar, wem oder was mit diesen Denkreden gedacht wird. Auch Borchardt selbst unternimmt es in seinem Nachwort nicht ernsthaft, die Gattung der von ihm versammelten Reden zu definieren. Erst eine nähere Betrachtung der Sammlung und ihres Anhanges schränkt den Begriff der „Denkrede“ ein auf etwas, das man – trotz einiger Ausnahmen – als „akademische Denkrede“17 bezeichnen könnte. Damit ist der scheinbar weite Begriff der Denkrede 18 auf das vergleichsweise enge Gebiet der Wissenschaft und der Universität eingeschränkt. Es mag an dem derart entlegenen Gegenstand liegen, daß Deutsche Denkreden kein großer Erfolg beschieden war. Einige der Texte widersprechen dabei sogar dem Titel, unter dem sie versammelt sind: Sie sind keine Reden und nur in gedruckter Form veröffentlicht worden. Borchardt erklärt im Nachwort, daß der „literarische 13

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„Dagegen hielte ich es für nötig, dass der Anhang über die weniger bekannten Namen des Buches Auskunft gäbe, am besten in Indexform.“, ebd. Im Anschluß folgt die Charakterisierung Lobecks, wie sie später fast wörtlich in Deutsche Denkreden (S. 464f.) steht. Nach Borchardts Angaben haben unter anderen Lobeck und Bessel zum Kreis um seine „väterliche Großmutter“ Emilie Borchardt geb. Leo gehört, vgl. Borchardt an Max Brod, September 1932 (Entwurf), Briefe 1931-1935, S. 164f. Wiegand an Borchardt, 22. Juli 1925, DLA. Wiegand an Borchardt, 23. September 1925, DLA. Lorenz Jäger: „Rudolf Borchardts ideale Universität“ a.a.O. Vgl. zur akademischen Festrede Jochen Zwick: „Akademische Erinnerungskultur, Wissenschaftsgeschichte und Rhetorik im 19. Jahrhundert. Über Emil Du Bois-Reymond als Festredner.“ In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaft. 1. Jg. 1997, S. 120-139, insbes. S. 122f. Vgl. die Bestimmung des Begriffes der „Denkrede“ in Gerhart Pohls Anthologie Unsterblichkeit. Deutsche Denkrede aus zwei Jahrhunderten. Berlin 1942. Gedacht wird in dieser Anthologie, die siebenunddreißig Reden enthält – davon sechs, die auch in den Deutschen Denkreden stehen – an „Kaiser und König, Staatsleute, Feldherrn, Denker, Künstler“ („Zum Geleit“, S. 11f.).

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Gattungsbegriff“ (S. 456) – von ihm gar nicht erst aufgestellt – damit „natürlich gesprengt“ worden sei: „Weil Herder als einsamer leidenschaftlicher Autor keine öffentliche Lehrkanzel besass, von der aus er Abbt19 Lessing Winckelmann beklagen und verkünden konnte – weil Niebuhr seinen Vater, Gervinus seinen Lehrer zu preisen und zu verteidigen und verewigen keine Gemeinschaft hätte finden können, (wir nennen Kompositionen, die nur der Raummangel unserer Sammlung entzieht,) darum sind diese ganz im fortkreisenden Rhythmus der Anrede geborenen Sätze nicht minder Sätze des Redners, und wenige Federzüge des Schreibers die an ihnen haften, die ein Strich beseitigt – hier hat er sie beseitigt – beirren das Bild.“ (S. 456) Mit diesem Satz rechtfertigt Borchardt die Aufnahme der Texte von Herder auf Winckelmann (S. 7-21), Herder auf Lessing (S. 23-46), Bessel auf Olbers (S. 197-205) und Gervinus auf Schlosser (S. 295-339). Er ist in seiner Gedrängtheit und Heftigkeit übrigens typisch für Borchardts Nachwort – das zweimalige Ansetzen mit „weil“, die parataktische Fügung, mehrere zu lange Einschübe, das Wiederaufnehmen des weit auseinandergerissenen Satzes mit „darum“, die positiv wie negativ heftige Sprache und der unruhige, abwechselnd beschleunigende und retardierende Satzbau sind der gesprochenen Sprache näher als der geschriebenen, so daß das Nachwort durchaus selbst wie eine Rede wirkt. Jedoch sind in den Texten nicht nur die „Federzüge des Schreibers“ entfernt worden, sondern auch wichtige Elemente der Reden selbst, so fehlen deren Anreden grundsätzlich, und auch die meisten Schlußformeln sind gestrichen worden. Einige der versammelten Reden fallen aus dem akademischen Rahmen. Steht schon etwa Herder außerhalb der Universität, aber innerhalb ihrer Disziplinen, wie auch die von ihm angeredeten Winckelmann und Lessing, so sind mit den Reden Treitschkes auf die Königin Luise (S. 365368) und Mommsens auf Moltke20 (S. 365-368) zwei Menschen angesprochen, die ihrer Tätigkeit und ihrem Status nach der Universität und ihren Disziplinen fernstehen. Bei der Aufnahme dieser Reden geht es, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, um die Darstellung einer „Geisteshal-

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Die Aufnahme von Herders Schrift auf Thomas Abbt (1768) war tatsächlich für den Band geplant gewesen, wie aus einem Brief Wiegands an Borchardt vom 7. Januar 1925 (DLA) hervorgeht, in dem er Borchardt um „Durchsicht der Herderschen Reden auf Abbt, Winckelmann und Lessing“ bittet. Vgl. auch „Moltkes Denkmal in Bremen“, Gedichte S. 229, und „Sprüche für das Moltkedenkmal in Bremen“ (alle 1911), Gedichte II/ Übertragungen II, S. 126 sowie dazu Markus Neumann: „Sprüche für Bremen – zu Rudolf Borchardts Gedenkinschriften.“ In: Das wilde Fleisch der Poesie a.a.O., S. 169-195.

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tung“,21 die Borchardt auch über die Grenzen der Universität hinaus als wirksam erkennt und dokumentieren will. Die Texte des Buches sind chronologisch nach dem Datum der Reden bzw. dem Erscheinungsjahr der Texte geordnet. Ausnahmen ergeben sich aus naheliegenden Gründen: So stehen die vier zwischen 1835 und 1859 gehaltenen Reden August Boeckhs auf Wilhelm von Humboldt, Steffens, Schelling und Alexander von Humboldt außerhalb der Chronologie hintereinander nach dem Datum der ersten, was zur Folge hat, daß durch die Verschiebung der folgenden Reden die Rede Carl Ritters auf den damals noch lebenden Alexander von Humboldt (1844) hinter der Boeckhs auf den toten Alexander von Humboldt (1859) steht. Es folgen die beiden Reden von bzw. auf Bessel gegen die zeitliche Abfolge aufeinander und auch am Ende des Buches ist die Chronologie noch einmal aufgegeben worden, damit die beiden Reden des einzigen zum Zeitpunkt des Erscheinens noch lebenden Redners, Adolf Harnack, am Ende der Sammlung stehen.22 Ein Großteil der Texte ist unmittelbar nach dem Tod der jeweils angeredeten Person gehalten – bei der nächsten Sitzung der Akademie.23 Andere sind später entstanden, zwischen Winckelmanns Tod und Herders Schrift etwa liegen dreizehn Jahre, zwischen Dietrich Ludwig Gustav Karstens Tod und Leopold von Buchs Rede wie auch zwischen Heinrich Wilhelm Olbers’ Tod und Friedrich Wilhelm Bessels Rede vier Jahre. Bei anderen ist ein konkreter Anlaß erkennbar, Johann Friedrich Herbarts Rede auf Kant etwa ist an dessen 86. Geburtstag gehalten. Offenbar ist das Andenken bei den älteren Texten noch nicht so sehr an die runde Jahreszahl gebunden wie bei den späteren (oder auch noch heute); diese haben, wo sie nicht unmittelbar auf den Tod des Angeredeten reagieren, fast alle einen runden Geburtstag zum Anlaß: die Reden Jacob Grimms 21 22

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Vgl. Gerhart Pohls Vorwort zu seiner Anthologie Unsterblichkeit: „Was diese Reden alle zu der Einheit bindet, [...] – es ist ihre Haltung“ (S. 14f.). Diese Verstöße gegen die Chronologie gehen auf eine Anregung Wiegands zurück: „Die chronologische Reihenfolge habe ich auf beiliegendem Blatte [fehlt] verzeichnet. Gibst Du mir keine andere Weisung, so nehme ich an, dass diese Reihenfolge auch für den Druck massgebend sein soll. [...] Die Rede von Rosenkranz auf Bessel (1846) müsste eigentlich der Ritterschen Rede auf Humboldt (1844) nachfolgen. Hältst Du es nicht aber für richtiger, sie […] voranzustellen, da sie dann an die Besselsche Rede auf Olbers unmittelbar anschliesst? Die beiden Harnackschen Reden habe ich an den Schluss gestellt, obwohl sie nach dem Datum der ersten (1889) noch vor Mommsen und Leo stehen müssten. Aber als einziger noch Lebender steht Harnack wohl besser am Ende.“ (Wiegand an Borchardt, 19. Mai 1925, DLA) Eine Sammlung von Grabreden hat später Rudolf Alexander Schröder eingeleitet: Ewiges Gedächtnis. Worte am Grabe großer Deutscher. Hamburg 1942. Von den fünfzehn Reden hier steht allein Lobecks Rede auf Herbart auch in Deutsche Denkreden.

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auf Schiller, Treitschkes auf die Königin Luise, Leos auf Lachmann und Harnacks auf August Neander feiern alle den hundertsten Geburtstag der Angeredeten, Harnacks Rede auf Melanchthon den vierhundertsten Geburtstag. Zwischen diesen Texten stehen Reden, die zu Lebzeiten und in Anwesenheit der Angeredeten gehalten werden: Boeckhs Rede auf Steffens zur Begrüßung des neuen Mitglieds in der Berliner Akademie, Ritters Rede auf Alexander von Humboldt zur Feier des vierzigsten Jahrestages seiner Rückkehr nach Europa und Mommsens Rede auf Moltke zu dessen neunzigstem Geburtstag. Diese Reden leben von der Unmittelbarkeit der persönlichen Ansprache, die wissenschaftlichen Verdienste des Angeredeten werden dabei nur sehr kurz gestreift. Selbst in Ritters Rede auf Alexander von Humboldt, in der Ritter vergleichsweise ausführlich dessen wissenschaftlichen Werdegang würdigt, steht der Mensch im Mittelpunkt, ist die Anwesenheit des Angeredeten spürbar. Nach Ritters Ansprache, an deren Ende er Humboldt hochleben läßt, ist sogar die kurze „Entgegnung Alexander von Humboldts“ (S. 234) abgedruckt. Diejenigen Reden, die unmittelbar auf den Tod des Angeredeten reagieren, sind ebenfalls von der persönlichen Bekanntschaft des Redners mit seinem Gegenstand geprägt. Neben der wissenschaftlichen Leistung steht daher bei diesen Reden der Mensch, wie ihn der Redner selbst kannte, im Vordergrund, nicht also nur der große Gelehrte, wie Rosenkranz in seiner Rede auf Bessel sagt, sondern auch „einer der reinsten liebenswürdigsten Menschen“ und dessen „Pflichttreue, seine Redlichkeit, sein Wohlwollen, seine bereitwillige Aufopferung, seine Freundlichkeit, seine Bonhomie“ (S. 223). Ein Beispiel für eine solche Rede ist auch die, welche Jacob Grimm auf seinen ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Bruder Wilhelm hält. Hier ist der Redner selbst ein Teil des wissenschaftlichen wie privaten Lebens des Angeredeten – in keinem anderen Text der Denkreden spricht der Redner so viel von sich wie in diesem. Keine der Darstellungen des Bandes ist daher auch so lebhaft und eindringlich wie die Schilderung Wilhelm Grimms durch seinen Bruder; Kindheit, Schulzeit, Studium, Leben verbrachten die Brüder gemeinsam, Interesse und gemeinsame Arbeit, die Philologie, die Sammlungen der Märchen und Sagen, das Deutsche Wörterbuch und anderes einten sie bei allen Unterschieden, die Jacob Grimm nicht verschweigt. Diese Unmittelbarkeit geht den Reden, die lange nach dem Tod des Angeredeten gehalten werden, natürlich ab. So ist Leo für die Schilderung Lachmanns als Menschen auf die schriftlich überlieferten „Erzählungen seiner Freunde“ (S. 388) angewiesen. Hier steht etwas anderes im Mittelpunkt, die Kontinuität, die wissenschaftliche Bedeutung, die dem Angere-

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deten nach wie vor zukommt, das Vorbild, das er den Wissenschaftlern der Generation des Redners ist, Vorbild dafür etwa, „was alles Eines Menschen Kraft umfassen, lernen, denken, und ergründen kann!“ (S. 68), wie es in Herbarts Rede auf Kant heißt. „An diesem Manne wollen wir unsere Seele aufrichten“ (S. 393) – der Ausruf Leos in seiner Rede auf Lachmann bezeichnet recht gut die Rolle, die die Figur des Angeredeten als Wissenschaftler wie als Mensch für die Generation des Redners haben kann und soll. Die Angeredeten, die lebenden wie die toten, sind in allen Reden präsenter, als sie durch eine bloße Darstellung ihrer wissenschaftlichen und menschlichen Qualitäten präsent sein würden. In Jacob Grimms Rede auf seinen Bruder ist dieser am Anfang und Ende gegenwärtig, zunächst „nachts im Traum, ohne alle Ahnung seines Abscheidens“ (S. 273), dann durch sein Werk: „denn auf allen Blättern steht vor mir sein Bild und ich erkenne seine waltende Spur“ (S. 294). Auch Herbart ist Lobeck noch gegenwärtig – „sein Bild lebt in unserem Gedächtnis“ (S. 193) –, genauso wie Olbers für Bessel: „Gross und sich immer gleich steht er vor meinen Augen – in der Zeit voller Kraft im Jahre 1804 und im hohen Alter im Jahre 1837“ (S. 205). Vergegenwärtigung auf diese Weise ist eine der großen Leistungen der Deutschen Denkreden; die Vergegenwärtigungen der einzelnen Reden addieren sich dabei zu einer einzigen: die Vergegenwärtigung – oder „Auferstehung“, wie es bei Pohl24 heißt – der durch Zeiten und Orte getrennten Geister der deutschen Wissenschaft in einem Buch. Wenn es in Rosenkranz’ Rede auf Bessel heißt, er solle nun „völlig unerwartet das Organ des öffentlichen Ausdruckes eines Schmerzes werden“ (S. 209), so klingt dabei an, daß die Redner ihre Rede bei allen persönlichen Reminiszensen und aufrichtiger Emotion oft weniger aus freiem Antrieb als aus akademischer Konvention halten. Sie sprechen nicht für sich, sondern vor allem im Namen einer Gemeinschaft: Ein Großteil der Reden des Bandes sind an den Festtagen bzw. öffentlichen Sitzungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gehalten. „Im Namen der Akademie“ (S. 153) richtet Boeckh sein Wort an Alexander von Humboldt, „aus der Mitte des Vereins“ (S. 127) Schleiermacher an Philipp Carl Buttmann, im Namen der „Deutschen Städte“ (S. 368) Mommsen an Moltke. Durch das Fortleben der Toten in der Erinnerung und der Evokation der Redenden entsteht aber darüber hinaus eine Gemeinschaft, die über die der Zuhörer hinausreicht. Alexander von Humboldt spricht sie in seiner kurzen Dankesansprache an, wenn er von der „Freundschaft“ und ihrem „Gedächtnis“ spricht, von dem „Ganzen“ und 24

Gerhart Pohl: „Zum Geleit.“ In: Unsterblichkeit a.a.O., S. 15.

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dem „Gefühl eines solchen Gemeinguts der Intelligenz“ (S. 234). Er setzt so einen Raum voraus, in dem sich die in den Deutschen Denkreden versammelten Redner in der Tat wie selbstverständlich bewegen. Dieser Raum ist der der deutschen Wissenschaft, in ihm sind die Redner, ihr Publikum und die Angeredeten, sind Lebende und Tote vereint.25 Diese Einheit voraussetzend, kann Lobeck ohne weiteres von Herbart sagen, daß „sein Ruhm der unsrige ist“ (S. 193) – nicht weil die Nachfolger Herbarts irgendeinen tatsächlichen Anteil an dessen wissenschaftlichen Erkenntnissen hätten, sondern weil beide durch etwas vereint sind, das auf den einen wie auf den anderen wirkt. Die Einheit besteht daher nicht durch den Zusammenhalt, den eine Universität, eine Akademie oder eine Institution zu geben in der Lage ist, sondern durch etwas Höheres: durch einen Geist, den Geist der deutschen Wissenschaft. Dieser Geist der deutschen Wissenschaft ist in Deutsche Denkreden auf verschiedene Weise wirksam. Da Borchardt seiner Anthologie in dieser Hinsicht keine eindeutigen Hinweise mitgegeben hat, bleibt es dem Leser überlassen, den Geist in seinen verschiedenen Erscheinungsformen darin ausfindig zu machen. Der Reiz der Anthologie liegt dabei auch im Zusammenspiel dieser Lesarten, bei denen jeweils ein anderer Aspekt des Geistes der deutschen Wissenschaften im Vordergrund steht. So kann man Deutsche Denkreden etwa als eine Sammlung beispielhafter Reden und Redner lesen. Borchardt geht im Nachwort im einzelnen nicht auf die speziell rednerische Qualität der Texte seiner Anthologie ein – und auch hier soll dies nicht geschehen, obwohl sie kaum bestritten werden kann. Schon der Titel der Sammlung macht deutlich, so viele Fragen er auch offen läßt, daß das Buch auf jeden Fall Reden enthält. Da sein Herausgeber gerade in den Zwanziger Jahren vor dem Erscheinen des Buches in erster Linie als Redner hervorgetreten ist, werden vor allem die Zeitgenossen Borchardts das Buch mit seinen eigenen Reden in Zusammenhang gebracht haben. Setzt man aber nun den Schwerpunkt der Lektüre nicht auf das Rhetorische, sondern auf den ersten Teil des Wortes „Denkreden“ – „um den Nachdruck nicht auf die Rede, sondern auf das bewahrte Andenken einer hingeschiedenen Person zu legen“ (S. 449), wie Borchardt in seinem Nachwort schreibt –, so ist das Buch ein Dokument einer bestimmten 25

Haruki Yasukawa („Die ‚leidenschaftlichen Gärtner‘“ a.a.O., S. 106) erinnert in diesem Zusammenhang zu Recht an Nietzsches Verweis auf Schopenhauers Vorstellung einer „Genialen-Republik“: „ein Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.“ (Friedrich Nietzsche: „Die Philosphie im tragischen Zeitalter der Griechen.“ In: Kritische Studienausgabe Band 1 a.a.O., S. 799-872, hier S. 808)

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Kultur des Andenkens. Hierbei steht dann die Haltung des Redners einem Toten gegenüber und sein Umgang mit dessen Nachruhm im Vordergrund, es geht also auch um den Umgang mit der Präsenz des Verstorbenen, sei diese wissenschaftlicher oder menschlicher Art. Der Anfang der Rede Herbarts auf Kant mag dies verdeutlichen: „Das Gedächtnis grosser Verstorbener feierlich zurückzurufen, den Gefühlen unauslöschlicher Verehrung einmal wieder Sprache gönnen, ist nicht bloss natürlich, nicht bloss herzerhebend: vielmehr es ist schuldiger Dank für fortwirkende Verdienste; wohltätige Ermunterung für jüngere Zeitgenossen; und Tröstung für solche, die, nach vollbrachter Arbeit, tiefer ins Alter vorrückend, sich nun fragen, ob wohl nicht menschliche Vergesslichkeit das Werk ihres Lebens samt ihrem Namen zu vertilgen drohe?“ (S. 49) Neben Dank und Verehrung, die hier zum Ausdruck gebracht werden sollen – und bereits eine Präsenz des Angeredeten bewirken –, geht es Herbart in erster Linie um das „Fortwirken“ Kants in seinen Nachfolgern, Herbarts Zeitgenossen. „Beklagen und verkünden“ (S. 456), wie Borchardt über Herders Texte schreibt, ist die Grundhaltung der Denkreden – sie weisen damit in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich. Der Nachruhm und die Sicherheit des Andenkens ziehen sich – als ein Zeichen der Einheit der deutschen Wissenschaft über die Zeit hinweg – durch alle Reden des Bandes. So reicht dieser nicht nur von den Vorgängern der Angeredeten – „Was sie geleistet haben, erkenne ich als reines Gold!“ (S. 199), zitiert Bessel Olbers’ Respektbezeugung vor seinen wissenschaftlichen Ahnen – bis zu den Angeredeten und zur Gegenwart des Redners, sondern auch darüber hinaus, bis schließlich zu Borchardt und dem Leser des Buches. Auf diese Weise entsteht ein Werk, „woraus denn unsere Nachkommen schöpfen könnten, um mit standhafter Neigung ein so würdiges Andenken immerfort zu beschützen, zu erhalten und zu verklären“ (S. 98), wie es in Goethes Rede auf Wieland heißt. Darüber hinaus dokumentieren die Reden eine religiöse Haltung den Angeredeten gegenüber. 26 Nicht nur einmal ist von Heiligkeit die Rede, etwa wenn Goethe in seiner Rede auf Wieland von seinem „lieben, werten, ja heiligen Gegenstand“ (S. 73) spricht, oder wenn Herder an Winckelmann gerichtet davon spricht, daß das „Grab eines Toten [...] heilig“ (S. 12) sei. Borchardt leitet die Gattung der Denkrede selbst aus einer religiösen Haltung her. Er fragt zu Anfang seines Nachworts – wie um Einwänden rechtzeitig vorzubeugen –, warum 26

Vgl. die Rezension Karl Weinbergers zu Deutsche Denkreden, wo es über die Rede Boeckhs auf Humboldt heißt: „Die Merkmale seiner Rede, die die Merkmale jeder echten Denkrede sein sollten, sind diese: Ehrfurcht vor der Stunde des Gedenkens, Ehrfurcht vor der Tatsache des Gedenkens, Ehrfurcht vor der Notwendigkeit des Gedenkens.“ (Vivos voco. Zeitschrift für neues Deutschtum 5. Jg. 1926, Heft 7, S. 259)

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denn Reden versammelt seien, wo doch ein Aufsatz sie an „Masse, Ruhe und Gleichmass, an erschöpfendem und kritischem Gehalte“ leicht übertreffen könne. Aber jenseits dieser „bloss literaturmässigen und scholastischen Begriffe“ seien die von ihm versammelten Reden eben mehr als nur Reden, da sie gleichzeitig an „das Lebendige und Ursprüngliche“ (S. 449) rührten, „zwischen dem Menschlichen, von dem der Redner ein wortführender Teil ist, und dem Göttlichen, in das der angeredete Genius gebettet ist“ (S. 451), stünden. Auf diese Weise fügt Borchardt die von ihm versammelten Reden in seine eigene religiöse Anschauung ein, nach der der Mensch im Zyklus des Lebens und dem Dualismus seines irdischen Daseins und eines höheren göttlichen Lebens gefangen ist. So betrachtet hat eine Gedenkrede „fast liturgische Formen“ (S. 450), ist sie „ein urtümlicher Menschheitsakt in einer ewigen, weil zyklischen, in einer symbolischen, in einer heiligen Situation“ – zyklisch, weil ein „Toter, wie alle Toten“ (S. 450) sei –, ist sie ein archaischer Akt, „wo Ahnen herabgerufen werden um der Gemeinschaft anzuwohnen, die ihrer Hilfe entbehrt“ (S. 451). Die Gemeinschaft der deutschen Wissenschaft steht auf diese Weise stellvertretend für die göttliche Gemeinschaft der Menschen überhaupt. Die Einheit der deutschen Wissenschaft besteht aber nicht nur über die Zeit hinweg, sondern geht auch über die Grenzen der einzelnen Disziplinen hinaus. Deutsche Denkreden sind die Darstellung der Totalität der deutschen Wissenschaft und ihrer Disziplinen. Es finden sich darin unter anderem die Rede eines Theologen und Dichters auf einen Altertumswissenschaftler (Herder auf Winckelmann), eines Altertumswissenschaftlers (Boeckh) auf einen Sprachforscher (Wilhelm von Humboldt), einen Naturhistoriker (Steffens), einen Philosophen (Schelling) und einen Geographen (Alexander von Humboldt), eines Philologen auf einen Dichter (Jacob Grimm auf Schiller), eines Philologen auf einen Philosophen (Lobeck auf Herbart) und die eines Philosophen auf einen Astronomen (Rosenkranz auf Bessel). Mit diesen Reden wird ein akademisches Leben vorgeführt, in dem die einzelnen Disziplinen sich austauschen und aneinander Anteil nehmen und in dem die Redner auch in Dingen, die außerhalb ihrer Disziplinen liegen, soweit bewandert sind, daß sie innerhalb der Universität darüber sprechen können, ohne einerseits Angst haben zu müssen, sich eine fachliche Blöße zu geben, und ohne andererseits auf ihr Publikum Rücksicht nehmen zu müssen. Dieser Zustand wird im Ineinander von Redner und Angeredetem, im gleichzeitigen Ineinander der verschiedenen Disziplinen sinnfällig – es ist ein vergangener Zustand, wie Borchardt auch an anderer Stelle mehr als einmal deutlich macht, etwa in der am 3. März 1925, also im Jahr des Erscheinens der Deutschen Denkreden

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gehaltenen Rede „Dichten und Forschen“, in der er besonders scharf die Spezialisierung der einzelnen Disziplinen der Wissenschaft seiner Zeit, die „Entfernung der Front vom Zentrum“,27 beklagt. Man kann das Interesse bei der Lektüre des Buches auch nur auf die Angeredeten richten: Dann erhält man eine Reihe von exemplarischen Würdigungen großer deutscher Denker und Wissenschaftler wie etwa Lessings, Kants, der Brüder Humboldt oder Schillers. In diesen wird nicht nur die wissenschaftliche Leistung und Bedeutung der Angeredeten gewürdigt und deren Werdegang und akademische Laufbahn geschildert, sondern eben auch ihr Charakter dargestellt, an ihre menschliche Haltung als Kollege und Privatmann erinnert. Dabei gehen die Reden des Bandes oft über die Würdigung des Angeredeten hinaus. Dies ist der Fall bei Boeckhs Rede auf Schelling, die eigentlich eine Rede auf Leibniz ist und zur „Feier des Leibnizschen Jahrestages am 5. Juli 1855“ (S. 475) gehalten wurde und, indem sie Schellings Verhältnis zu Leibniz in den Mittelpunkt stellt, zwei Gedenkanlässen gerecht wird; Rosenkranz spricht in seiner Rede auf Bessel ausführlich über die Leistung Kants, Jacob Grimm in seiner Rede auf Schiller ebenso ausführlich über (den als Redner ebenfalls in der Sammlung vertretenen) Goethe und Harnack über die Philosophie Schleiermachers – auch er ist als Redner vertreten –, die Neander erst zum Protestantismus konvertieren ließ (S. 403). Mehrmals wird die Bedeutung der Romantik für den jeweils Angeredeten hervorgehoben: in Jacob Grimms Rede auf seinen Bruder (S. 280), in Leos Rede auf Lachmann (S. 373), und auch Harnacks Rede auf Neander geht auf dessen Bekanntschaft mit dem „Zaubergarten der Romantik“ (S. 400) ein. Stehen bei dieser Lektüre des Buches zunächst nur die Leistungen der Angeredeten und ihr Herkommen im Vordergrund, so werden im biographischen Index Redner und Angeredete vermischt und gleichermaßen gewürdigt. Am Ende der Sammlung reiht sich Borchardt als Verfasser des Index’ selbst in die Reihe der Redner und Würdiger ein. Seine Darstellung ist nicht so ausführlich, wie die von ihm versammelten Reden es sind, und auch auf dem engen Platz nicht so kritisch, aber ebenfalls mit eindrücklichem Pathos dargebracht.28 Insgesamt läßt sich die Anthologie als eine Geschichte der deutschen Wissenschaft von 1750 bis 1900 lesen. Sie ist durch die verschobene 27 28

„Dichten und Forschen“, Reden, S. 199. Gustav Steinbömer (Hillard) würdigt diese „litererarischen Epitaphien“ als eine „bedeutsame, sonst unbekannte und ungeübte Literaturform“; was hier gesagt sei, gehöre bei manchen „im Wesentlichen und durch seine Schönheit der Formulierung zu dem Bedeutsamsten, Besinnlichsten und Erleuchtendsten, was über diese Männer geäußert worden ist“ („Deutsche Denkreden.“ In: Der Ring. 1. Jg. 1926, Heft 39, S. 749-750).

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Chronologie, die den Rednern und nicht den Angeredeten folgt, nicht einheitlich, und sie ist nicht vollständig, da der Schwerpunkt eher auf den Geistes- als auf den Naturwissenschaften liegt und manche Disziplinen wie die Medizin oder die Jurisprudenz ganz fehlen. Auch lassen sich nicht nur die Reden selbst, sondern auch der Anhang als eine solche Geschichte lesen, da alle Texte in unterschiedlichem Maße auf die Situation der Wissenschaft zur Zeit des Angeredeten, sein Herkommen, seine Studienzeit, seine Lehrer, dann auf seine eigene wissenschaftliche Karriere und seine Veröffentlichungen, schließlich auf seine Bedeutung und auf Nachfolger eingehen. Zwar ist das wissenschaftliche Herkommen und der Nachruhm als Zeichen für die Kontinuität der deutschen Wissenschaft wichtig, trotzdem steht bei jedem der Angeredeten das Neue im Vordergrund, das er in die deutsche Wissenschaft einbringt. Die Geschichte der deutschen Wissenschaft liest sich hier vor allem als eine Geschichte der Neuerungen: Winckelmann markiert für Herder den Aufbruch des deutschen Geistes aus dem „dicksten Walde“ (S. 9) zur Antike hin, Lessing den ersten Höhepunkt der deutschen Sprache: „So lange Deutsch geschrieben ist, hat, dünkt mich, niemand, wie Lessing, Deutsch geschrieben“ (S. 25); Karsten ist für Buch derjenige, der „Deutschland zuerst lernte [...] was Mineralien sind“ (S. 101), Alexander von Humboldt verdanken wir nach Ritter die „wissenschaftliche Wiederentdeckung der Neuen Welt“ (S. 229), Lachmann nach Leo unter anderem den Kanon der drei großen mittelalterlichen deutschen Dichter Hartmann, Wolfram und Walter (S. 386). Auch in Borchardts biographischem Index wird vor allem das Verdienst der aufgeführten Wissenschaftler gewürdigt. Bessel sei „der erste der mitten im Elende des deutschen Zusammenbruches durch die Errichtung der Königsberger Sternwarte die Wissenschaft des im Vaterlande verhungerten Kepler und der aus dem Vaterlande zu ausländischer Hilfe gewanderten Johann und Wilhelm Herschel vorbildlich für die ganze Welt in den Väterboden zurückverpflanzte“, und Boeckh derjenige, der „den noch immer andauernden Renaissanceformen gelehrter Einzelkennerschaft ein Ende“ gemacht habe und „sie durch den neuaufgestellten Begriff der klassischen Altertumswissenschaft“ ersetzte (S. 461), Herbart schließlich verdankten wir die „wissenschaftliche Begründung einer auf Kants ethischen Rigorismus gegründeten Pädagogik“ (S. 464). Harnacks Rede auf Melanchthon, die letzte Rede des Buches, rundet Deutsche Denkreden in mehrerlei Hinsicht zur Einheit. Erstens, weil Harnack am Ende seiner Rede auf die Kontinuität der Antike in Melanchthons „christlichem Humanismus“ (S. 445) hinweist und damit scheinbar auf den ersten Text des Buches, Herders Schrift über Winckelmann und dessen Bedeutung für die deutsche Entdeckung der Antike Bezug nimmt.

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Zweitens, weil der einzige noch lebende Vertreter der deutschen Wissenschaft, Harnack, eine Rede auf ihren seiner Meinung nach ersten Vertreter, Melanchthon, hält, der „den Typus des deutschen Professors“ (S. 426) überhaupt erst geschaffen habe. Drittens spricht Harnack als der Historiograph der Preussischen Akademie der Wissenschaften, an deren Gedenktagen die meisten Reden in Borchardts Sammlung gehalten wurden. Harnack ist sich in seiner 1900 erschienenen Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin29 mit Borchardt darin einig, daß die „Generation von Gelehrten, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts [des 19.] aufgetreten ist“, mit der „die moderne Wissenschaft in allen ihren Disciplinen begründet, ja geschaffen und unser Vaterland an die Spitze der wissenschaftlichen Bewegung Europas gestellt“ wurde, für Deutschland „die Epoche einer zweiten Renaissance“ darstelle. Weiter heißt es bei Harnack: „In ihnen glühte das heilige Feuer der Begeisterung für das Wahre, Gute und Schöne. Mit dem reinsten Eifer für die Wissenschaft verbanden sie ein starkes und lebendiges Gefühl, einen edlen Freiheitssinn und eine kräftige Überzeugung von der wesentlichen Einheit aller höheren Erkenntnisse. Von einer erhebenden Weltanschauung getragen, strebten sie darnach, eben diese Anschauung durch ihre wissenschaftliche Arbeit zu erweitern und zu befestigen. Die Preussische Akademie hat die Ehre gehabt, die Mehrzahl dieser deutschen Gelehrten zu ihren ordentlichen Mitgliedern zählen zu dürfen; sie hat von ihnen den Gehalt und die Form, sie hat den Ruhm, aber auch heilige Pflichten als Erbe empfangen.“30 Es ist diese „kräftige Überzeugung von der wesentlichen Einheit aller höheren Erkenntnisse“, die sowohl Harnacks Geschichte als auch Borchardts Sammlung dokumentieren wollen, der eine als Historiker, der andere als Herausgeber einer Anthologie.31 Beiden ist dabei klar, daß die Akademien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Tod 29

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Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet von Adolf Harnack. Drei Bände. Berlin 1900. Band 1/I: Von der Gründung bis zum Tode Friedrich’s des Großen. Band 1/II: Vom Tode Friedrich’s des Großen bis zur Gegenwart. Band II: Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften. Band III: Gesammtregister über die in den Schriften der Akademie von 1700-1899 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden (bearbeitet von Otto Köhnke). Ebd., Band 1/II, S. 657f. Zu Borchardts Ideal der preußischen Universität vgl. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 414-433. Vgl. Konrad Burdachs 1924 in der Eranos-Festschrift zu Hofmannsthals fünfzigstem Geburtstag veröffentlichten Aufsatz „Die deutschen wissenschaftlichen Akademien und der schöpferische nationale Geist“ (in: Eranos. Hugo von Hofmannsthal zum 1. Februar 1924. München 1924, S. 29-60), in dem allerdings mehr die Geschichte der Bemühungen der Preussischen Akademie der Wissenschaften um die Pflege der deutschen Sprache im Mittelpunkt steht und die Rolle, die den Dichtern dabei zugedacht wird.

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Alexander von Humboldts zum letzten Rückzugsort dieser „reinen Wissenschaft“ geworden sind, während außerhalb der Akademien sich die Wissenschaft im Zuge der „Arbeitstheilung“ längst in ihre einzelnen Disziplinen zersplittert hat.32 Innerhalb dieser Klammer, welche die Rede Harnacks auf Melanchthon bildet, gibt es eine Vielzahl von Bezügen. So schließt Boeckh in seiner Rede auf Alexander von Humboldt an jene auf Schelling an, indem er zu Beginn erwähnt, daß damals auch die fünfzigste Wiederkehr des Eintrittstages Humboldts in die Akademie zu feiern war (S. 185); so zitiert Rosenkranz in seiner Rede auf Bessel den Einleitungssatz der Lobeckschen Rede auf Herbart (S. 193) und fügt hinzu: „Diese Worte sprach von dieser Stätte zu seiner Entschuldigung Lobeck, als er in unnachahmlichen Zügen uns ein verklärendes Bild des dahingegangenen Herbart entwarf. Ich nehme daher jene Worte Lobecks für mich doppelt in Anspruch, indem ich völlig unerwartet das Organ des öffentlichen Ausdrucks eines Schmerzes werden soll, der seinen Nachhall weit über die Grenzen unseres deutschen Vaterlandes bis jenseits der Meere senden wird“ (S. 209). Leos Rede auf Lachmann wiederum verweist auf Jacob Grimms Rede auf Schiller. Es heißt dort, daß, so wie dieser nicht über Schiller sprechen konnte, ohne über Goethe zu sprechen, auch er, Leo, nicht über Lachmann sprechen könne, ohne „unwillkürlich“ über Jacob Grimm zu sprechen (S. 287).33 In diesen zahlreichen Bezügen innerhalb der Reden, in der chronologischen wie inhaltlichen Geschlossenheit, in der Gleichförmigkeit der Haltung der Redner, in der Auswahl und Anordnung der Reden und Redner entsteht eine Form, die durchaus der eines Kunstwerks entspricht; auch Borchardt selbst spricht ja von „confronti“ und „eliminazioni“ und legt so ein künstlerisches Verfahren bei der Herausgabe der Deutschen Denkreden nahe. Während die Anthologie schon gedruckt wird, korrespondieren Borchardt und sein Verleger noch über einen möglichen Titel für die Sammlung; am 22. Mai 1925 schreibt Borchardt an Wiegand: „Als Gesamttitel ist mir noch eingefallen: Denkreden/ grosser Deutscher/ auf/ Deutsche Grösse. Gefällt Dir das nicht so belassen wirs bei den ‚Deutschen Denkreden‘.“34 Wiegand hat aber doch Einwände: „Der neue Titel ‚Denkreden 32 33

34

Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin a.a.O., Band 1/II, S. 977-982. Vgl. Borchardts späten Gedenkaufsatz „Friedrich Leo“: „Als Scherer über Jacob Grimm zu handeln hatte, hat er, heißt es, erklärt, daß er nur über Jacob Grimm und Lachmann sprechen könne, oder garnicht. Für Leo und Wilamowitz gilt das Gleiche [...]“ (Prosa VI, S. 291). Borchardt an Wiegand, 22. Mai 1925, Briefe 1924-1930, S. 77f.

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grosser Deutscher auf deutsche Grösse‘ ist sehr schön. Aber meinst Du nicht, dass man leicht den Eindruck eines Wortspiels haben könnte? Die einfache Fassung ‚Denkreden auf grosse Deutsche‘ würdest Du nicht vorziehen? Freilich ist auch hier das substantivisch gebrauchte ‚Deutsche‘ gerade am Schluss des Titels nicht ganz geschickt, weil man noch ein folgendes Substantiv erwarten könnte.“ 35 Borchardt zieht seinen Vorschlag wieder zurück: „Ich anticipierte und billige [...] alle Deine Gegengründe gegen meine neuen Titelvorschläge; sie sind nur Apologien dafür dass wir das Rechte nicht haben: den Ausdruck des pairskammerhaften gleichstehender Grosser die einander das letzte Recht sprechen. Und wenn man das Rechte nicht hat bleibe es beim Bescheidensten: Deutsche Denkreden.“36 Auch Wiegand ist damit einverstanden: „Je kürzer ein Titel ist, um so stärker wirkt er schliesslich.“37 Borchardts Vorschlag bleibt der Anthologie dennoch im Nachwort erhalten: mit seinem Buch wolle er „statt einer Gemeinschaft der Heiligen eine Gemeinschaft geistiger Grösse in Redenden und Angeredeten“ (S. 456) präsentieren. Man mag bei Borchardts Titelvorschlag an Walter Benjamins 1936 pseudonym erschienene Anthologie Deutsche Menschen denken, die den berühmten Untertitel „Von Ehre ohne Ruhm/ Von Größe ohne Glanz/ Von Würde ohne Sold“ trägt. Tatsächlich sind sich Benjamin und Borchardt hier erstaunlich nahe. Beide stellen die große Epoche des deutschen bürgerlichen Zeitalters dar, dieser aus wissenschaftlicher, jener aus privater Sicht, beide sehen das Ende des „Geistes“ der Epoche da, wo Fortschrittsglaube und Materialismus den Sieg davongetragen haben. Benjamin zitiert in seinem Vorwort einen Brief des 76-jährigen Goethe, in dem dieser den Untergang seiner Epoche durch „Reichthum und Schnelligkeit“ voraussieht; seine Anthologie reicht mit Overbecks Brief an Nietzsche bis 1883 – also weit über das von Goethe prognostizierte, von Benjamin selbst in die Gründerzeit datierte Ende der Epoche hinaus, „da das Bürgertum nur noch die Positionen, nicht mehr den Geist bewahrte, in welchem es diese Positionen erobert hatte“. 38 Der Geist wirkt aber dennoch nach – Benjamins Sammlung will es belegen. Auch für Borchardt 35 36 37

38

Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA. Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 88f. Werner Kraft bringt Borchardts Wort „Denkrede“ in Verbindung mit Georges Verdeutschung des holländischen Wortes für „Idee“ in „Denkbild“ („denkbeeld“) (Stefan George. München 1980, S. 100f.). Wiegand an Borchardt, 22. Juli 1925, DLA. Vgl. auch Borchardts „Rede über Hofmannsthal“, wo es über Hofmannsthals „Notizen über ein Gedichtbuch von Stefan George“ („Gedichte von Stefan George“, 1896) heißt, sie seien dadurch schon musterhaft, „daß sie einem Genie von seinem Pair Recht sprechen lassen“ (Reden, S. 74). Walter Benjamin (Hrsg.): Deutsche Menschen. Frankfurt/M. 2008 (Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe Band 10), Vorwort, S. 10.

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lebt dieser Geist, nachdem er für die Mehrheit des Volkes schon verschwunden ist, gerade in einzelnen Vertretern der deutschen Wissenschaft noch fort.39 Indes kann auch Borchardt für seine Gegenwart nur feststellen: „Die Zeit von der Leo in der Lachmannrede gesprochen hat, da diejenigen, die nur gelernt haben, dass wenig lernen auch lernen sei ‚mit lahmen Federn flügge werden wollen‘ ist nicht nur längst da, sondern in diejenige übergegangen, in der sie sich als Fluglehrer établieren.“40 Borchardt ignoriert, daß es eine deutsche Wissenschaft nicht geben kann, daß Wissenschaft entweder international ist oder gar nicht. Ihm ist es nur um eine speziell deutsche Wissenschaft zu tun, die mehr sein soll als nur die, die zufällig in Deutschland betrieben wird. Was ist nun das Charakteristische dieser deutschen Wissenschaft, der Borchardts Buch ein Denkmal setzen will? Es erscheint zunächst, wie auch in Benjamins Deutsche Menschen und übrigens auch in den Anthologien Wolters’ und Hofmannsthals, als eine „Geisteshaltung“. Schon Melanchthon, den Harnacks Rede als den ersten deutschen Professor darstellt, wird zu einem „Muster von Klarheit, Ordnung und eleganter Angemessenheit des Vortrags – nicht nur als Theolog, auch als Historiker, Philolog, Grammatiker – als Didaktiker“ (S. 441f.); dabei machten ihn „das unermüdliche wissenschaftliche Streben, die ausgebreitesten Kenntnisse, die Ehrfurcht vor der Wahrheit, der zuversichtliche Glaube an die sittigende Macht der Bildung und [...] eine unvergleichliche Lehrgabe“ (S. 425) zu einem Vorbild nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch; auch Lessings „Bescheidenheit und Würde“ (S. 32), Alexander von Humboldts „Weltbürgertum“ (S. 188), Herbarts „Humanität“ und „hellenischer Sinn“ (S. 194), um nur ein paar wenige zu nennen, zeugen von dieser „Geisteshaltung“. Der Charakter wird dabei sogar noch wichtiger als die Fehlerlosigkeit der wissenschaftlichen Forschung. Dies klingt nicht nur in Gervinus’ Rede an, der in seinem „Totengerichte“ über Schlosser „mit aller Offenheit und Wahrheit“ (S. 297) Fehler in dessen Werk nachweist und auch dessen „Mangel an Selbstbeherrschung, an Duldung und Unbefangenheit“ (S. 303) beklagt. Dabei spiegelt sich der Charakter des Angeredeten – hier ist es Schlosser –, seine „allseitige, unbefangene Erwägung“ und „Gewissenhaftigkeit“ (S. 314) in der ebenfalls der „Offenheit“ und „Wahrheit“ verpflichteten Darstellung des Redners – hier ist es Gervinus

39 40

Vgl. Borchardts Rede „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts“, Reden, S. 340-342. Borchardt an Nadler, Ende Januar 1927, Briefe 1924-1930, S. 179. Der von Borchardt zitierte Passus in den Denkreden, S. 393.

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– wider.41 In Herders Schrift auf Winckelmann begegnet man einer Argumentation, die auch Borchardt für die Rechtfertigung seiner Höherschätzung der „Form“ vor allen Fragen der Richtigkeit verwendet. Von Winckelmanns Werken heißt es: „so viel Mangelhaftes diese im Detail haben mögen, im idealischen Ganzen, worauf er arbeitete, ist’s richtig“ (S. 17) – auf das „idealische Ganze“, das Werk und Mensch kraft eines Höheren zusammenhält, kommt es, bei Herder wie bei Borchardt, ausschließlich an. Dies ist der hinter den Deutschen Denkreden stehende Geist der deutschen Wissenschaft. Durch diesen haben auch die beiden Texte, bei denen zwar der Redner, nicht aber der Angeredete dem akademischen Umfeld entstammt, die einander folgenden Reden Treitschkes auf die Königin Luise und Mommsens auf Moltke, hier ihre Berechtigung. Die Königin Luise ist nicht nur durch ihre „Schönheit“ (S. 345) und ihre „Natürlichkeit“ (S. 346) hervorzuheben, sondern in erster Linie, weil sie „eine Heldin“ gewesen sei, „wie die vielen Männer Helden waren“ (S. 343), und weil ihre Haltung den Feinden und vor allem in einer schlimmen Zeit ihrem Land und ihren Untertanen gegenüber (vgl. S. 355) vorbildlich gewesen sei; Moltke, „welcher nie den Kleinmut und nie den Übermut gekannt und bis in das höchste Greisenalter den klaren und festen Gleichmut sich bewahrt hat“, ist als Schriftsteller, „der die Schlachten so zu beschreiben verstand wie zu gewinnen“ (S. 367), Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Aufgenommen in Deutsche Denkreden sind die Rede auf ihn wie die Rede auf die Königin Luise, weil der Geist, der sie verdienstvoll macht, derselbe ist, der auch die deutschen Wissenschaft eint. Es bleibt die Frage, was an dem Geist der deutschen Wissenschaft gerade das Deutsche sein soll. Auf diese Frage geht Benjamin gar nicht ein, Borchardt widmet ihr einen Großteil seines Nachworts. Eng mit der Bestimmung des Deutschen geht seine Abgrenzung gegen andere Nationen einher, hier gegen die Redner Englands, allen voran Burke, oder gegen die „Reihe fast klassischer Geschichtsredner“ (S. 452) in Italien. Diesen Rednern habe das deutsche Volk, so Borchardt, nichts Vergleichbares entgegenzusetzen, weil in Deutschland der „Geist der Öffentlichkeit des ideell

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Vgl. Borchardts Würdigung seines Lehrers Friedrich Leo, wo es heißt, er stelle „keinen Gelehrten vor die Nachwelt [...], sondern eine herrlich organisierte Natur, von deren völligem Einklang zwischen Schönem und Reichem ein mächtiger Zauber immer ausgegangen wäre, gleichgiltig was er übrigens betrieben und womit er sich Menschen mitgeteilt hätte.“ („Friedrich Leo“, Prosa VI, S. 281f.)

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vorschwebenden nationalen Gemeinschaftsraumes“ (S. 452) fehle.42 Einen solchen brauche aber gerade eine Gattung, in der mit der „öffentlichen Rede“ und der „Klage um Tote“ eine politische und eine religiöse Gattung zusammenfielen, „kompakte Christenheit“ und „kämpfende Demokratie“ seien dafür die Voraussetzungen. Diese beiden Begriffe seien dem deutschen Volk jedoch „geschichtlich fremd“, politisch fehlten die Voraussetzungen dafür im 19. Jahrhundert durch die Zersplitterung des Landes in Einzelstaaten, religiös durch seine konfessionelle Spaltung. Das deutsche Volk sei geradezu dadurch zu charakterisieren, daß es sich nie dauerhaft einem „Gemeinschaftsbegriffe“ unterzuordnen vermocht hätte. So sei etwa das Christentum im deutschen Volk erst ganz aufgenommen worden, als sich dessen Gemeinschaftsgedanke im Individualismus der Mystik gebrochen habe. Gleiches gelte auf politischem Gebiet: Auch hier fasse sich das deutsche Volk „praktisch zu absehbaren Unternehmungen soweit sie endlich sind, vorübergehend zusammen, mit dem Vorbehalte, seine ganze Unendlichkeit nur im Einzelnen, nicht in der Gemeinschaft zu erblicken“.43 Immer strebe das deutsche Volk nach „seinen uralten Formen“: „der Leugnung und der Aufhebung der Gemeinschaft als eines transzendenten und göttlichen Zusammenhanges, der Heimkehr in die Transzendenz und Göttlichkeit des Einsamen, der kleinen und der kleinsten Einheiten“ (S. 454), weshalb ihm auch die öffentliche Rede etwas „Betrügerisches und Blendendes“ sei, nicht umsonst gelte das Wort „rhetorisch“ in Deutschland als ein „Scheltwort“. Borchardt zufolge gibt es daher nicht viele Dokumente eines Redens von „redewerten Dingen“, wie sie Religion und Politik darstellen, aber es gibt sie: „So hat es eine der grössten Bezeugungen menschlicher Geistes- und Seelenkraft im deutschen Volke nur zu den bescheidenen Bildungen bringen können, die wir darum hervorgesucht haben, weil die hier unternommene Einsammlung des deutschen Reichtums auch an den verkümmerten Bildungen nicht vorübergehen will, die unsere Ansätze zum Versagten offenbaren.“ (S. 455) Diese fänden sich „begreiflicherweise nicht auf dem religiösen und nicht auf dem politischen Gebiete, sondern dem einzigen, auf dem der Deutsche sich zur Nation erhoben hat, dem geistigen und dem geis-

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Diese Klage findet man am deutlichsten schon in Adam Müllers Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall (1812) formuliert, vgl. Gerhard Neumanns Vorwort in Der Dichterische und das Dichterische, S. 36-41. Vgl. auch Borchardts Aufsatz „Öffentlicher Geist“ (1916), Prosa I, S. 154-164, in dem er das in Deutschland aus Tradition fehlende „Bedürfnis nach politischer Anteilnahme“ und die Tendenz des Deutschen zum „privaten Leben“ (S. 158) beklagt.

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tesgeschichtlichen“ (S. 455f.),44 fern der Masse also „in stillen Schreibstuben und kleinen Versammlungskammern und in Gremien der Akademien. Hier haben wir gesucht und gefunden.“ (S. 456) Beispiele wahrhaft deutscher Rhetorik seien nicht nur schon zu ihrer Zeit entlegen und nur einer kleinen Elite zugänglich gewesen, dazu mittlerweile völlig verloren und nur durch eine quasi archäologische Arbeit wieder zugänglich zu machen, sie ergeben auch kein vollständiges Bild der deutschen Wissenschaft, seien „verkümmerte Bildungen“ oder, wie Borchardt an Wiegand schreibt: „Es ist das Schicksal unserer Sammlung nichts aufweisen zu können was unsern grössten Denkern gerecht wird. Kant und Hegel fehlen, Schelling ist in einen Leibniztag gerahmt. Das ist ein Denkmal der Zeit, die höchstens über Analogien hinweg eine Stellung zu den schöpferischen Philosophen fand. Wer denn auch hätte hier so sprechen können wie Bessel über Olbers? Die Philosophie bricht ohne Erben ab.“45 Die Unvollständigkeit der Sammlung erkläre sich dadurch, daß viele der großen deutschen Denker und Wissenschaftler keinen Nachfolger mehr gefunden haben, der angemessen über sie spricht. So beklagt Borchardt bereits im „Eranos-Brief“, daß am Ende des 19. Jahrhunderts „die Berliner Universität nicht mehr im Stande“ gewesen sei, „für die Zentenarsfeiern Savignys und Hegels würdige und kompetente Redner zu bestellen: die matten Elogien der dazu bestimmten längst verschollenen Pedanten, das eine davon schon mit grammatischen Fehlern einsetzend, stehen als traurige Zeugen des eingetretenen Verfalles in der so großartig beginnenden Reihe ihrer Kasualschriften“.46 Eine vollständige Reihe der großen deutschen Wissenschaftler zu präsentieren, darum ist es Borchardt aber auch nicht zu tun: Ihm geht es um Beispiele einer eigenen deutschen Rede und der Haltung ihrer Redner. Aus diesem Grund ist die Auswahl der Texte in einem gewissen Sinne beliebig; es ist nicht Borchardts Ziel, einen Kanon von Denkreden zu etablieren – die Reden haben trotz des Kunstwerkcharakters des Buches 44

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Vgl. noch einmal Pohls Anthologie Unsterblichkeit, dessen Begriff des Deutschen sehr viel unproblematischer ist und dessen aus vielen Bereichen stammende Reden ihm alle als Dokumente für „das ewige Deutschland“ (S. 8) und „das sich unaufhörlich wandelnde, ewig gleiche Gesicht des Deutschen“ (S. 9) gelten, da sie „allesamt die Züge einer Familie, der großen Familie unsere Volkes tragen“ (S. 11). Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 88f. „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 300. Hier mit der Schreibung “Kausalschriften”; vgl. aber den Druck in Eranos a.a.O., S. XIII. Gemeint sind Carl Georg Bruns: Zur Erinnerung an Friedrich Carl von Savigny. Vortrag gehalten in der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 21. Februar 1879. Berlin 1879 (Bruns beginnt: „‚Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt!‘ Das ist ein Dichterwort, was seine Wahrheit nicht blos im Kreise der Familie hat.“) und Friedrich Harms: Zur Erinnerung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vortrag gehalten in der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 3. Juni 1871. Berlin 1871.

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ihre Funktion in erster Linie darin, auf den Geist, der sie eint, zu verweisen. Ein Anlaß, dies mit besonderem Nachdruck zu tun, mag Borchardts Auseinandersetzung mit dem neuen Präsidenten der bayerischen Akademie der Wissenschaften, dem Hygieniker Max Ritter von Gruber gewesen sein, dessen Antrittsrede unter dem Titel „Gefahren für die deutsche Wissenschaft“ in der Septemberausgabe der Süddeutschen Monatshefte 1924 veröffentlicht wurde. Borchardt reagiert auf Grubers Ablehnung des deutschen Idealismus als einen Irrtum der deutschen Wissenschaftsgeschichte mit dem Aufsatz „Ansprüche der Betriebstechnik auf Revision der Geschichte der deutschen Philosophie“, der am 10. September 1924 in den Münchner Neuesten Nachrichten erscheint und eine Debatte lostritt, die noch bis zum Februar des nächsten Jahres andauert. Borchardts Aufsatz ist nicht nur eine Zurückweisung der Gruberschen Ansichten, sondern auch ein leidenschaftliches Plädoyer für eine religiöse, spekulative Fundierung der deutschen Philosophie und Wissenschaft sowie für die Verdienste der aus diesem Geist entstandenen deutschen Universität. Er wendet sich mit Hegel, dessen Berliner Antrittsvorlesung Borchardt zitiert, gegen die „sogenannte kritische Philosophie“, die dem „Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht“ habe, „indem sie versichert, bewiesen zu haben, daß vom Ewigen und Göttlichen, vom Wahren nichts gewußt werden könne“.47 Die Deutschen Denkreden lassen sich vor diesem Hintergrund auch als ein Manifest lesen, mit dem der wahre Geist der deutschen Wissenschaft gegen die Angriffe von Gruber und seiner Richtung noch einmal dokumentiert und im Namen des Ewigen, Göttlichen und Wahren den Feinden vorgehalten werden soll. Gleichzeitig ist das Buch auch ein „Dienst“, den der Herausgeber dem Geist der deutschen Wissenschaft erweist: „Ein Ahnendenkmal will den Schrein/ Bestellt von frommen Meistern“, wie es in Borchardts Widmungsgedicht an seine Frau heißt, wobei die „frommen Meister“, die den Schrein der deutschen Wissenschaft bestellen, sowohl die in dem Band vereinten Redner sein können als auch – stellvertretend für andere – Borchardt selbst. „Obwol Du sagst, Du wirst es niemals lesen,/ Blick dennoch hin“. Dieser Aufforderung entsprechen durch die Wahl desselben Verbs die beiden letzten Zeilen des Gedichts: „Blickt auch der Werktag nicht hinein,/ Doch weiß er sich bei Geistern.“ Die Geister sind zweifellos die in dem Buch versammelten Vertreter der deutschen Wissenschaft, unklar ist, was der „Werktag“ sein soll: Am ehesten wollen die Verse wohl sagen, daß, obwohl man das Buch nur an Feiertagen aufschlagen wird – analog zu den 47

Rudolf Borchardt: „Ansprüche der Betriebstechnik auf Revision der Geschichte der deutschen Philosophie“, Prosa I, S. 337.

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Feiertagen der Akademien, an denen die meisten der Reden darin gehalten wurden, oder bezogen auf Weihnachten, da Borchardt das Buch seiner Frau schenkt – man auch an den anderen Tagen sich der Nähe des Geistes der deutschen Wissenschaft gewiß sein kann. Es lohnt sich ein Seitenblick auf zwei den Deutschen Denkreden ganz ähnliche Anthologien, Fritz Strichs ein Jahr früher erschienene Deutsche Akademiereden (1924) und das von Anton Kippenberg und Friedrich von der Leyen herausgegebene Buch deutscher Reden und Rufe (1942). Fritz Strichs Buch hat mit Borchardts Anthologie das Umfeld der Texte gemeinsam: die deutschen Akademien. Jedoch versammelt Strich keine Gedenkreden, sondern Reden allgemeiner Art, die zwar ebenfalls an den Festtagen der Akademien gehalten wurden, aber von einem Gegenstand einer Disziplin in einer auch für die Vertreter anderer Disziplinen verständlichen Form sprechen. Strich hebt in seiner Einleitung die Bedeutung hervor, „welche der Geist der akademischen Anstalten und Persönlichkeiten für das Leben der Nation besitzt“, und grenzt sie gegen die französische Akademie ab: Sei diese ein Zentrum des gesamten geistigen Lebens, dem es vor allem um „Regeln und Gesetze“ zu tun sei, gehe im Gegensatz dazu den deutschen Akademien die Achtung der „Freiheit des Geistes über alles“. Die allen Reden des Buches gemeinsame „nationale Art“48 sei schon mit dem ersten Text des Buches, Schillers „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, vorgegeben: der deutsche Idealismus. Auch wenn keine Rede von ihm aufgenommen sei, lebe doch „der Geist Fichtes“49 in allen Reden des Buches. Obwohl Strich die Bedeutung des Idealismus für die Nation und die seiner Redner und ihrer Reden für die Lösung aktueller Problem des „nationalen Lebens“ 50 hervorhebt und beispielhaft Nationalismus und Humanismus dabei verbunden sieht, erkennt er den Idealismus durchaus auch als Gefahr, denn er diene „dem Wissen um des Wissens willen“. Die „Zwecklosigkeit“ sei die „Seele der deutschen Kultur“. Werde jedoch derart die Praxis – die „Tat“ – aus dem geistigen Leben ausgeschlossen, drohe der Verlust des idealen Zieles. Zwar bedeute Zwecklosigkeit Freiheit, Ziellosigkeit jedoch sei der „Tod“. Angesichts dieser Situation zeigten die versammelten Reden den „aktiven Geist der deutschen Wissenschaft“ und vollzögen „die Synthese von Erkenntnis und Wille“. Strich erkennt durchaus, daß die Reden durch ihren festlichen Anlaß dem alltäglichen Wissenschaftsbetrieb enthoben sind und auch daß ihr hoher Ton 48 49 50

Fritz Strich (Hrsg.): Deutsche Akademiereden. Leipzig 1924, S. VIIf. Ebd., S. XII. Ebd., S. VIIIf.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

sich von den üblichen Veröffentlichungen abhebt. Nur an den akademischen Festtagen werde noch jenes „Gefühl der Gemeinschaft“ beschworen, das unter der Spezialisierung der einzelnen Disziplinen und dem Verlust ihres Zusammenhangs längst verlorengegangen sei.51 Die Einheit der deutschen Wissenschaft und ihre Bedeutung erscheinen bei Strich als etwas Abgelegtes, das nur künstlich aufrecht erhalten wird. 52 Bei Borchardt wird der Geist der deutschen Wissenschaft nicht hinterfragt, das Pathos und die beschworene Kontinuität der von ihm versammelten Reden nicht als festtägliche Pose verstanden, sondern als aufrichtiger Ausdruck eines transzendenten Gemeinschaftsgefühl ernstgenommen. Das Buch deutscher Reden und Rufe faßt den Gegenstand sehr viel weiter als die Anthologien Borchardts und Strichs, sowohl was die Gattung angeht – es seien sowohl „Reden und Vorreden“ als auch „Aufrufe und Nachrufe“ versammelt worden, schreiben die Herausgeber in ihrem knappen Geleitwort –, als auch was die Redenden betrifft: „Könige und Feldherren, Staatsmänner und Geschichtschreiber, Bekenner und Prediger, Dichter und Künstler, Philosophen und Philologen, Wahrer des Rechts und Führer der Erziehung, Meister der Technik und Meister der Naturwissenschaften erheben ihre Stimme.“ Auch zeitlich greift die Auswahl weiter, reicht von Luther bis zur Jahrhundertwende – der letzte Text, Alfred Lichtwarks „Der Deutsche der Zukunft“, stammt aus dem Jahr 1905. Borchardts und Strichs Sammlungen beginnen beide erst Ende des 18. Jahrhunderts, enden aber ebenso um 1900. Bei Kippenbergs und von der Leyens Sammlung mag der Verzicht auf jüngere Texte auch dadurch bedingt sein, daß sie nicht in die Verlegenheit kommen wollten, Texte aus nationalsozialistischer Zeit aufnehmen zu müssen. Tatsächlich merkt man ihrer Anthologie ihr Erscheinungsjahr 1942 erfreulich wenig an. Das Vorwort bleibt ideologisch unverbindlich, und in der Formulierung, daß die Reden und Rufe des Buches – im dritten Jahr des Krieges – zur Besinnung mahnten und auf die ewigen Wurzeln deutscher Kraft wiesen, 53 klingt sogar eine deutliche Distanz zur nationalsozialistischen Politik an. Eine nationale Gemeinschaft beschwören jedoch sowohl Kippenberg und von der Leyen als auch Strich. Bei diesem erscheint die kleine Gemeinschaft der Akademie in einem engen Bezug zur großen der Nation, denn: „Der akademische Geist will das Leben der Nation vom Geist aus 51 52 53

Fritz Strich (Hrsg.): Deutsche Akademiereden a.a.O., S. Xf. Das Beschwören einer besseren Vergangenheit als Topos der akademischen Festrede besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreibt auch Jochen Zwick: „Akademische Erinnerungskultur“ a.a.O., S. 122. Anton Kippenberg und Friedrich von der Leyen (Hrsg.): Das Buch deutscher Reden und Rufe. Leipzig 1942, S. 5.

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deuten, klären, lenken und gestalten“,54 darüber hinaus sogar das „ganze Leben“ und selbst die Kunst prägen „und über sich selbst hinaus erheben.“55 Die Herausgeber des Buches deutscher Reden und Rufe wollen mit ihrer Sammlung zeigen, wie eine „stolze Gemeinschaft“ dadurch entsteht, daß Große von Großen sprechen.56 In ihrem Geleitwort wird ein Satz Herders zitiert, der auch in Borchardts Nachwort zu Deutsche Denkreden stehen könnte: „Wir wollen die Namen unserer verstorbnen Edeln nicht verhallen lassen mit dem letzten dumpfen Wurf der Totenschaufel; wir wollen sie wenigstens nach ihrem Tode kennen und schätzen lernen, da es aus so manchen Ursachen vorzüglich deutsches Schicksal sein möchte, oft nicht eher recht gekannt und genannt zu werden als nach dem Tode.“ Auch Das Buch deutscher Reden und Rufe erwartet das Gedenken nicht nur von seinen Lesern, sondern macht es selbst zum Gegenstand. Es enthält zahlreiche Gedenkreden, unter anderem die Reden Herders auf Lessing, Goethes auf Wieland, Lobecks auf Herbart und Bessels auf Olbers, die auch in Deutsche Denkreden stehen. Der explizite Bezug zum Leben der Nation fehlt bei Borchardt indes fast völlig, wird ja gerade die fehlende Öffentlichkeit der Reden beklagt. Obwohl die Wirkung der Reden scheinbar ganz auf das akademische Umfeld beschränkt bleibt, stehen hier das akademische Leben und die akademische Gemeinschaft stellvertretend für die große, politisch wie religiös verwehrte nationale Einheit, es erscheint an diesem von der Öffentlichkeit entlegenen Ort „eine der grössten Bezeugungen menschlicher Geistesund Seelenkraft im deutschen Volke“ (S. 455f.). Borchardts Argumentation gleicht derjenigen Hofmannsthals in dessen zwei Jahre später gehaltener „Schrifttums“-Rede. Hier wie dort entsteht die Nation in einem vom gemeinen Volke losgelösten, geistigen Raum und in dessen „Geselligkeit“. Was bei Borchardt zunächst nur ein wissenschaftlicher Raum mit einer „wissenschaftlichen Geselligkeit“ zu sein scheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen, wie bei Hofmannsthal, als ein in erster Linie dichterischer. Denn in Borchardts poetologisch-weltanschaulichem System ist, wie gezeigt wurde, alles der Poesie untergeordnet. Die Axiome der Wissenschaft seien stets in der Hand der Poesie,57 heißt es in Borchardts Rede „Dichten und Forschen“, in der Borchardt darlegt, daß „die Poesie die Wissenschaft in sich mitenthält“ und auch in einer Zeit, in der die Wissenschaft sich ihr entfremdet habe, „die schöne heimliche Macht des unzer54 55 56 57

Fritz Strich (Hrsg.): Deutsche Akademiereden a.a.O., S. VII. Ebd., S. IX. Anton Kippenberg und Friedrich von der Leyen (Hrsg.): Das Buch deutscher Reden und Rufe a.a.O., S. 5f. Vgl. „Dichten und Forschen“, Reden, S. 203.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

störbaren Urverhältnisses nie völlig eingebüßt“58 habe. So verwundert es nicht, daß auch in den Deutschen Denkreden der Geist der deutschen Wissenschaft dieser noch höheren Macht untersteht. Auch hier bemüht Borchardt das Bild vom Kern und seinen Schalen, denn „der Sphärenring der die Geisterwelt dieses elysischen Planeten umschliesst, eines Sterns, wie es scheint, der Wissenschaft, ist die deutsche Poesie, und er wirkt nicht nur als umgebender Ring, sondern tief in Lebensluft und Erdreich des Kerns hinein. Nicht nur dass die Dichter den Reigen führen – die dichterische Wiedergewinnung des Tragikers Tacitus durch Leo, die eigentlich hier her gehört hätte, die pindarisch freie und singende Anrede Boeckhs an Steffens, die aufgenommen ist – um nur das wenigste zu sagen – sind unser Eigentum, das wir hier zum bewussten, und, bei so viel entbehrender Trübsal des Verlustes und der Beraubung – stolzen Besitze haben erheben wollen.“ (S. 456f.) Zwar loben auch Strich und Kippenberg und von der Leyen die sprachlichen Qualitäten der von ihnen versammelten Texte, aber nur bei Borchardt erscheint die deutsche Wissenschaft als ausdrücklich poetisch. Konsequenterweise bestimmt Borchardt die Gattung der Denkrede als aus der Poesie hervorgegangen: Die Denkrede sei durch ihre religiöse Grundhaltung und durch ihren Zusammenhang mit dem EwigZyklischen an sich „eine dichterische Urform“ und als solche „dichterisch wie das Liebeslied, und fromm wie das Opfer der Menschenseele am Altar“ (S. 451). Tatsächlich ist nicht nur die Rede Boeckhs auf Steffens wie viele Beispiele des Bandes, etwa die beiden Texte Herders, an sich bereits dichterisch, es werden darin auch oft ausdrücklich die dichterischen Qualitäten des Angeredeten gewürdigt: „Sie haben auch jenseits der Grenzen derjenigen Wissenschaften, denen unsere Akademie gewidmet ist, den dichterischen Sinn, der Ihr ganzes Wesen durchdringt und erhebt, in freiem Spiel entfaltet.“ (S. 153), heißt es bei Boeckh, der Steffens’ dichterischen Sinn später noch einmal präzisiert: „Aber was in der Wissenschaft vollendet sein kann, der Geist, der sie durchweht, das vollendet der Genius, der auch dem Kunstwerke die Weihe gibt: und in Ihnen regt sich der Genius.“ (S. 154) Da Borchardt sich selbst als den einzigen Träger und Verkünder einer von der Poesie durchdrungenen und beherrschten Welt sieht, verwundert es nicht, daß das Buch geradezu auf Borchardt zuzulaufen scheint. Sein Nachwort folgt den Reden als jüngster Text, und man kann es durchaus als Abschluß einer Reihe lesen, deren letztes Glied die anderen erst erklärt und ihre Anordnung rechtfertigt. Überhaupt ist, wie Kai Kauffmann ausführt, durch die Wirkungsstätten der meisten Redner und Angeredeten 58

Ebd., S. 205.

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sowie durch die Orte, an denen ein Großteil der Reden gehalten wird, mit Königsberg, Berlin, Bonn und Göttingen ein Raum umrissen, der dem von Borchardts eigenem Bildungsgang entspricht. 59 Darüber hinaus finden sich in den Deutschen Denkreden zahlreiche weitere Bezüge zu Borchardts Werk und Leben. So wird die Sammlung von zwei Texten Herders eröffnet, dem Borchardt eine große Bedeutung für seinen eigenen geistigen Werdegang wie für die deutsche Kultur zuschreibt, werden in Gervinus’ Rede auf Schlosser ausführlich dessen Danteforschungen gewürdigt (S. 336) – fünf Jahre später wird Borchardt ihn in die „Ehrentafel des deutschen Dantegedächtnisses“ aufnehmen, die er seiner Comedia deutsch voranstellt. Auf die für Borchardt zentralen Epochen der Geistesgeschichte, auf die Antike und die deutsche Romantik, wird mehrfach verwiesen. Vor allem jedoch betont die Aufnahme und Hervorhebung seines Lehrers Friedrich Leo die Kontinuität des Geistes der deutschen Wissenschaft bis zu Borchardt hin. Er widmet Leo, dessen Rede auf Lachmann bereits dessen romantische „Beschränkung auf die Poesie“ (S. 375) würdigt, eine seiner hymnischsten Charakterisierungen des biographischen Index: Leo sei die „letzte Blüte und Frucht der letzten philologischen Schule Deutschlands, der Bonner [...] mit dessen Aufstellung die Philologie in Deutschland zu ihrem Ausgange, der Dichtung, zurückkehrte und ihren Zyklus schloss.“ (S. 464) Schon 1899, als Student, sagt Borchardt von Leo, dieser sei „beinahe ein dichter“,60 und noch kurz vor seinem Tod nennt er ihn in einem wohl 1944 entstandenen Essay, der der Denkreden würdig wäre, einen „vollkommenen Menschen“ 61 und hebt die „feste Stellung“ hervor, die er Borchardts Ansicht nach „in derjenigen Geschichte der deutschen Literatur [hat], die auch die deutsche Wissenschaft in sich einbegriffen hat“.62 Leo wird so zur idealen Verkörperung von Poesie und Wissenschaft. Borchardt selbst, der nicht promoviert hat und für den eine Karriere an der Universität nicht möglich ist, steht dem akademischen Betrieb seiner Zeit, wie nicht zuletzt an seiner Entgegnung auf die Rede Grubers deutlich wird, sehr kritisch gegenüber. Durch die Aufnahme von Texten, die nicht dem universitären Umfeld entstammen, hat er sich als Herausgeber die wenigstens theoretische Möglichkeit einer Aufnahme in seine eigene Sammlung offengehalten. Texte, die ohne weiteres in den Deutschen Denkreden stehen könnten, gibt es von Borchardt durchaus: von der „Rede über Hofmannsthal“ (1902) und dem Fragment gebliebenen Aufsatz „Aus 59 60 61 62

Kai Kauffmann: Rudolf Borchardt und der „Untergang der deutschen Nation“ a.a.O., S. 418. Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, Briefe 1895-1906, S. 52. „Friedrich Leo“, Prosa VI, S. 261-293, hier S. 261. Ebd., S. 283.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

der Bonner Schule“ (1908) über Franz Bücheler und Hermann Usener bis zum bereits erwähnten Essay „Friedrich Leo“63 (1944). Für die bei Rowohlt begonnene Werkausgabe plant er sogar einen eigenen Band mit solchen „Denkschriften“.64 Dennoch hat Borchardt der Versuchung widerstanden, eigene Texte in seine Anthologie mit aufzunehmen: Er ist darin ohnehin schon im Geist mit den Angeredeten und Rednern vereint. Diesen Geist hat Borchardt, wie auch die künstlerische Anordnung des Buches, freilich selbst konstruiert; es ist bezeichnend, daß er im Nachwort kaum auf das Umfeld der Reden – die Universität, die Akademie – eingeht, sondern vor allem seine selbst gesetzten politischen und religiösen Implikationen darlegt. Derart von Borchardt eingenommen, werden auch die Deutschen Denkreden ein Dokument der „Schöpferischen Restauration“. Schöpferisch als ein Kunstwerk, restaurativ, da ein vergangener Zustand – das Ideal der preußischen Universität – wieder ins Recht gesetzt werden soll, indem der Dichter und Wissenschaftler Borchardt der deutschen Universität seiner Zeit ein Beispiel vorsetzt, wie sie eigentlich sein sollte. Nicht nur aber im Hinblick auf die Universität will er seine Anthologie gelesen sehen, sondern „dem Volke“ soll sie gewidmet sein (S. 449). Es sollen diese Texte und ihr Geist aus der „Transzendenz und Göttlichkeit des Einsamen, der kleinen und kleinsten Einheit“ (S. 454), der sie entstammen, wieder zum „Eigentum“ und „stolzen Besitz“ (S. 457) des ganzen Volkes – einem idealen zukünftigen Publikum – übergehen, damit dieses wenn schon keine politische oder religiöse Einheit, so doch wenigstens eine geistige Einheit unter dem Patronat der Dichtung wieder sein möge. b) Grundlagen: „Grundvesten der Bildung deutscher Nation“ Über den Plan für die nicht veröffentlichten Anthologie mit dem Titel „Grundvesten der Bildung deutscher Nation“ 65 schreibt Willy Wiegand 1949 rückblickend an Alfred W. Beerbaum, den ersten Biographen und Bibliographen Borchardts: Ein von mir vorgeschlagenes Buch, das leider nicht über die unvollständige Material-Sammlung hinausgekommen ist. Das grosse Jahrhundert deutscher Wissen63

64 65

Vgl. etwa dessen Anfang: „Unter den Gedenktagen, die Deutschland jahrelang nur in seinen Katakomben hätte begehen können und füglich nicht anders als mit Blick und Silbe Eingeweihter begangen hat, sind glänzendere als derjenige den ich hier in seinen nachträglichen Kranz hänge, kein heiligerer.“ (Prosa VI, S. 261) Vgl. Borchardt an Wolf Przygode, 20. Mai 1922, Briefe 1914-1923, S. 429. Vgl. den Katalog Borchardt – Heymel – Schröder a.a.O., S. 340.

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schaft war meiner eigenen Generation schon vor dem ersten Weltkriege nicht mehr im Bewußtsein, d.h. der Zeitraum 1750-1850. In diesem Zeitraum hatte die deutsche Wissenschaft wesentlichen Anteil an der Begründung neuer Wissenschaften bezw. an der Aufteilung in einzelne Zweige, z.B. der Altertumswissenschaft in Archäologie, Philologie etc. Auf fast allen Gebieten erscheinen deutsche grundlegende Werke, z.B. Geologie (Werner, Leopold von Buch), Vergleichende Sprachwissenschaft (Schlegel, Wilhelm von Humboldt, Bopp), Klassische Altertumswissenschaft (Friedr. August Wolf, Boeckh), Geographie (Carl Ritter), Meteorologie (Dove), Karl Ernst von Baer: Anthropologie etc. Jedem dieser Werke geht eine zusammenfassende Vorrede voraus, die den Inhalt des Werkes in einer Ueberschau giebt, und die regelmässig darlegt, aus welchem Grunde die Beschäftigung mit gerade dieser Wissenschaft den Menschen fördert. Fast nirgends wird die humanistische Einstellung dieses Zeitalters so deutlich wie in diesen Vorreden. Ich hatte deshalb Borchardt vorgeschlagen, diese Vorreden zusammenzustellen, und ein zusammenfassendes Nachwort zu schreiben. Borchardt begrüsste den Plan sehr und gab mir manche Hinweise für die Auswahl. Etwa 80 oder 100 Stücke wurden ausgeschrieben und Borchardt vorgelegt.66

Mit Borchardt hat dieser Anthologieplan zunächst also nichts zu tun; er geht auf Wiegands Idee und Initiative zurück und zeigt, wie sehr Wiegand sein Verlagsprogramm zu formen sucht. Mit wenigen Ausnahmen stammen alle erhaltenen Vorarbeiten, Listen, Notizen, Exzerpte und Abschriften von ihm. In einem langen Brief vom 28. März 1925 schildert er Borchardt erstmals seinen Plan, eine Sammlung von wissenschaftlichen Schriften – Einleitungen, Vorworte, „selbständige Abhandlungen oder Akademiereden“ – aus den Jahren zwischen 1780 und 1840, die sowohl einen „klassischen“ wie „begründenden Charakter“ haben sollen, herauszugeben. Das Buch solle einen Umfang von etwa 700 Seiten haben, ein großer Teil der zunächst vorgesehenen etwa fünfzig Texte im Umfang von zehn bis fünfzehn Seiten seien bereits abgeschrieben. Wiegand schlägt Borchardt vor, diesen Band herauszugeben: „Der Vorschlag ergiebt sich nun von selbst, ob Du bereit sein würdest, aus diesem Material oder aus etwas nach Deiner Anweisung Hinzuzugewinnendem ein Buch zu machen, daß sich den Gedenkreden an die Seite stellen ließe. Daß das Buch nur mit Deiner Billigung gemacht werden könnte versteht sich ebenso von selbst wie daß es überhaupt nur von Dir gemacht werden kann.“67 Damit Borchardt sich mit dem Plan vertraut machen kann, legt Wiegand seinem Brief eine Liste bei, die das Ergebnis der bereits geleisteten Arbeit darstellt, seinen eigenen Worten zufolge jedoch „kaum als Skelett des für die Auswahl in Betracht kommenden Materials anzusehen“ sei. Er kündigt außerdem an, das Material, also in erster Linie wohl die bereits 66 67

Wiegand an Alfred W. Beerbaum, 13. August 1949, DLA. Wiegand an Borchardt, 28. März 1925, DLA.

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vorhandenen Abschriften, zu schicken, damit es Borchardt vor dem Besuch Wiegands vom 25. bis 29. April sichten könne. Bei diesem Treffen gibt Borchardt dem Projekt, das Wiegand zunächst nur „Wissenschaftsbuch“ genannt hat, einen Titel: „Grundvesten der Bildung deutscher Nation“.68 Borchardt hat offenbar also den Vorschlag, das Buch herauszugeben, zumindest nicht abgelehnt (was ja das Ende des Buches bedeutet hätte); dafür allerdings, daß Borchardt, wie Wiegand – siehe oben – schreibt, den Plan sehr begrüßt hätte, gibt es keinen Hinweis: Schon in seiner ersten Äußerung nach dem Treffen ist seine kritische Distanz deutlich erkennbar, die er dem Projekt seines Verlegers gegenüber nicht mehr ablegen wird. Am 22. Mai 1925 schreibt er Wiegand: „Der Plan der Grundvesten ist mir unter der Durchsicht der Auszüge leider weder klarer geworden noch glücklicher und gelungener oder Gelingen verheissender erschienen und an fast allem sind mir Zweifel über Zweifel aufgestiegen.“ 69 Auch Wiegands Euphorie scheint zunächst gebremst: „Was die Grundvesten betrifft, so ist mir freilich auch klar geworden, dass der chaotische Materialhaufen, den ich Dir mitbrachte, nicht als Unterlage dienen kann.“ Dennoch zweifelt er nicht an Borchardts Einverständnis und scheint fest entschlossen, an den „Grundvesten“ weiterzuarbeiten: „Ich stelle mir nun den eigentlichen Arbeitsvorgang so vor, dass ich die Geschichte der einzelnen Wissenschaften durcharbeite [...]. Hiernach würde ich weiter versuchen, Vorschläge für das Material zusammenzustellen. Ist es Dir erwünscht, so würde ich versuchen, Exemplare der wichtigeren Gebiete der Geschichte der Wissenschaften für Dich zu besorgen, damit Du diese Vorschläge genauer kontrollieren kannst.“70 Borchardt zögert jedoch weiterhin: „Über die Grundvesten schreibe ich Dir ein andermal ausführlicher. Für jetzt nur soviel, dass ich Deinen jetzigen Pessimismus so wenig teile wie Deinen anfänglichen Optimismus. Dein Material ist im höchsten Maasse schätzbar brauchbar und interessant“.71 Nach dem Abschluß der Deutschen Denkreden schlägt Wiegand unter anderem vor, nun mit der Arbeit an den „Grundvesten“ zu beginnen: „Ich selbst habe leider einige Wochen kaum daran arbeiten können, kann aber von jetzt an wieder ständig daran bleiben und werde Dir im Oktober weiteres Material senden

68

69 70 71

Vgl. Hans Feist: „Besuch bei Borchardt.“ In: Münchner Neueste Nachrichten, 18. Juli 1927, S. 1: „Und dann stellt er neben das Eigene und neben das Übersetzungswerk eine Reihe von Erneuerungen und Herausgaben, Buch nach Buch, die er als die Grundfesten der Bildung deutscher Nation bezeichnet.“ Borchardt an Wiegand, 25. Mai 1925, Briefe 1924-1930, S. 78. Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA. Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 90f.

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können.“72 Aber es schieben sich andere Projekte dazwischen, an Anthologien der Ewige Vorrat, Der Deutsche in der Landschaft, Deutsche Renaissancelyrik und immer wieder die Übersetzung von Dantes Comedia. So verschwindet das Vorhaben der „Grundvesten“ aus dem Briefwechsel, nur gegenüber Marie Luise Borchardt versucht Wiegand noch einmal, seinen Plan ins Gespräch zu bringen: „Endlich müssten dann noch die ‚Grundfesten‘ wenigstens so weit durchgesprochen werden, dass ich Anhaltspunkte für die weitere Arbeit gewinnen könnte.“ 73 Es ist jedoch anzunehmen, daß sich Borchardt nie ernsthaft mit Wiegands Plan beschäftigt. 1928, als die Zusammenarbeit zwischen Borchardt und Wiegand wieder enger wird, ergibt sich noch einmal die Möglichkeit, den Plan der „Grundvesten“ mit Borchardt als Herausgeber zu realisieren. Aber offenbar hat Wiegand diesen doch schon aufgegeben, als er an Borchardt am 13. September 1928 schreibt: „Willst Du mich gelegentlich wissen lassen, ob Du von der Veröffentlichung des Buches, das den Titel ‚Grundvesten der Bildung deutscher Nation‘ führen sollte, endgültig Abstand nehmen willst? Ich habe den Eindruck, dass Dir dieses Buch nicht mehr sympathisch ist.“74 Neue Differenzen und das Ende des Verlages der Bremer Presse 1932 beenden die Zusammenarbeit zwischen Wiegand und Borchardt endgültig; die Anthologie wird von keinem der beiden weitergeführt. Wiegands Arbeit an den „Grundvesten“ war niemals so weit gediehen, daß eine Veröffentlichung der Anthologie möglich gewesen wäre, und obwohl sich ein ganzes Konvolut dazu erhalten hat, ist es unmöglich und müßig, eine Rekonstruktion der Anthologie zu versuchen. Es handelt sich bei dem Vorhandenen nur um Vorarbeiten, eben um eine „unvollständige Material-Sammlung“. Da es Borchardt überlassen gewesen wäre, die Texte zu redigieren, sie eventuell zu kürzen, „die gelegentlichen Verweisungen auf das nachfolgende Werk“ zu entfernen und vor allem „die Frage der Aufnahme oder Fortlassung“75 zu entscheiden, und da er dies mit einiger Sicherheit nie geleistet hat, läßt sich von dem geplanten Buch lediglich aus den vorhandenen Materialien Wiegands ein vages Bild gewinnen. Darin befinden sich neben zahlreichen Blättern mit Notizen, biographischen Angaben und Exzerpten aus wissenschaftsgeschichtlichen Werken einige Listen, die die verschiedenen Stadien der Arbeit Wiegands dokumentieren, die meisten von ihnen grob nach Disziplinen geordnet. Die Abschriften, 72 73 74 75

Wiegand an Borchardt, 5. August 1925, DLA. Ob Wiegand weiteres Material geschickt hat, ist nicht bekannt. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 29. Mai 1926, DLA. Wiegand an Borchardt, 13. September 1928, DLA. Wiegand an Borchardt, 28. März 1925, DLA.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

die offenbar angefertigt wurden und die auch Borchardt zumindest teilweise vorlagen, sind bis auf zwei – Tobias Mayers „Betrachtung über die Eigenbewegung der Fixsterne“ und Wilhelm von Humboldts „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ – verloren. Insgesamt umfassen diese Listen etwa hundertfünfzig verschiedene Titel, jedoch entsprechen diese hundertfünfzig Texte sicher nicht dem Umfang, den die „Grundvesten“ einmal würden gehabt haben. Realistischer scheint es, von einem Umfang auszugehen, der sich zwischen den von Wiegand ursprünglich vorgesehenen fünfzig Stücken und etwa siebzig – diese Zahl legen einige der erhaltenen Listen nahe – bewegen dürfte. Ähnlich unklar ist die Lage, versucht man das Programm des Buches zu rekonstruieren, auch wenn man hierzu ausführliche Ausführungen in Wiegands Briefen findet, die durch seine im Nachlaß befindlichen Notizen und Vorarbeiten bestätigt werden. Der erste, grundlegende Entwurf findet sich schon in seinem Brief vom 28. März 1925. Seinen Ausgangspunkt hat der Plan Wiegand zufolge in den Arbeiten für die zweite Auflage von Hofmannsthals Deutschem Lesebuch. Bei der Suche „im Bereiche der deutschen Wissenschaft um 1800 nach etwas Geeignetem und vorzuschlagenden Stücken“ habe Wiegand erkannt, „einen wie ausgesprochen klassischen Charakter die wissenschaftlichen Schriften aus dem Zeitraum von etwa 1780 bis 1840 haben.“ Er habe zudem festgestellt, daß in dieser Zeit eine „innere Beziehung der Wissenschaft zum Menschen“ bestanden habe, die man an diesen Schriften ablesen könne „wie nur an dichterischen Werken“. Gleichzeitig vollziehe sich hier „so etwas wie ein Kristallisationsprozess, eine Anzahl wissenschaftlicher Gebiete werden von dem bisherigen Zusammenhang abgetrennt und als selbständige Disziplinen behandelt, andere Forschungsgebiete werden überhaupt neu erschlossen, zudem unter allgemeinen Gesichtspunkten in Beziehung gesetzt.“ Dieses doppelte Phänomen will Wiegand in „einer Anzahl von Schriften“ dokumentieren. Sie sollten „einen begründenden Charakter haben, indem in ihnen zum ersten Male die neue Wissenschaft als solche behandelt wird, und gerade in ihnen muß der klassische Geist der Zeit besonders sichtbar werden, während sie zugleich eine Vorstellung von der großen Selbständigkeit und Verzweigtheit der deutschen Wissenschaft geben.“ Tatsächlich habe er bei seinen weiteren Forschungen nicht nur eine „erstaunliche Fülle“, sondern auch eine große geistige Einheit in den Darstellungen aus jener Zeit festgestellt – so, als wären sie alle „von einer großen geistigen Brudergemeinde geschrieben“: Auch hier ist das Ideal einer geistigen „Geselligkeit“ nicht zu übersehen. Das Buch, das diese Texte exemplarisch versammeln soll, könne „also eine Vorstellung des klassischen Geistes jener Epoche geben und zeigen, wie nahe die wissen-

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schaftliche Betrachtung der Antike stand, nicht nur in den Geisteswissenschaften, sondern gleicherweise auch in den Naturwissenschaften. Zugleich würde sich erweisen, welchen großen und zumeist begründenden Anteil Deutschland damals an den Wissenschaften gehabt hat. Es wäre ein Beitrag zu der noch ungeschriebenen Geschichte der Wissenschaft. Das Buch würde auf manche geistige Persönlichkeit hinweisen, die kaum noch gelesen und nur dem Kenner noch bekannt sind, wie z. B. auch der Bremer Treviranus, der Begründer der Biologie; andere, wie die beiden Humboldts und Goethe würden besonders hervorgehoben.“ Neben der Betonung dieses klassischen Geistes – der in Wiegands Briefen durchaus vage bleibt – und des für die nachfolgenden Wissenschaften grundlegenden Charakters der Texte könne zudem ein Textkorpus wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gebracht werden, das „man als unbekannt bezeichnen“ müsse bzw. das als „ganz verschollen“76 gelten könne. Dies ist der Stand vor Wiegands Besuch bei Borchardt Ende April 1925, bei dem es freilich nur unter anderem um das „Wissenschaftsbuch“ geht.77 Das Ergebnis dieser Besprechung über die geplante Anthologie ist nicht nur ein Titel, sondern auch eine zweiseitige Liste Wiegands, die bereits mit dem neuen Titel versehen ist und unter der Überschrift „Mit B. als noch durchzusuchen besprochen“ fünfundsiebzig Namen und Werke auflistet. Darunter befinden sich viele, die bei Borchardt nicht überraschen: seine Lehrer, Usener, Bücheler, Ernst Curtius, Justi und Leo, dann Otfried Müllers Dorer, Mommsen, Gervinus, Burckhardt, Nietzsches „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“, Lagardes Deutsche Schriften, politische und militärische Schriften von Gentz, von Stein, Moltke und Clausewitz, der Dante-Übersetzer Philaletes (d. i. Johann von Sachsen), Novalis’ „Europa“-Aufsatz oder Achim von Arnims Einleitung zu Des Knaben Wunderhorn. Borchardt gibt seinem Verleger auch Hinweise zur weiteren Arbeit und empfiehlt ihm die Lektüre von Bursians „Geschichte der klassischen Philologie“. 78 Borchardts Vorschläge sind mit dem von 76 77

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Wiegand an Borchardt, 28. März 1925, DLA. So erscheint es auf einem „Mit B. zu besprechen“ überschriebenen Blatt Wiegands (DLA) nach den „Gedenkreden“ und dem „Vorrat“ an dritter Stelle, gefolgt von dem zweiten Anthologieplan der „Renaissance- und Cavalierslyrik“, den Korrekturen für den Armen Heinrich und Dante. Außerdem sind neben Übersetzungen anderer Autoren des Verlags als „Weitere Arbeit“ von Wiegand zur Besprechung vorgesehen ein „Griechisches Lesebuch“, „Herder“, „Deutsche und die Landschaft“ und „historisches Volkslied, Volkslieder, Minnesänger“. Vgl. Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA: „Ich stelle mir nun den eigentlichen Arbeitsvorgang so vor, dass ich die Geschichte der einzelnen Wissenschaften durcharbeite, wobei die verschiedenen Bände der Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, zu der auch die Bursian’sche Arbeit über die Geschichte der klassischen Philologie gehört, die Du

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Wiegand entworfenen Programm vor allem deshalb kaum vereinbar, weil ihnen zum großen Teil der „begründende Charakter“ fehlt, die Mehrzahl von ihnen stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch Wiegand erkennt nach seinem Besuch bei Borchardt nicht nur die Mangelhaftigkeit seines bisher gesammelten Materials, sondern auch eine programmatische Akzentverschiebung: „Eine Aenderung des ganzen Planes ergibt sich aber schon durch den Titel, den Du dem Buche gegeben hast. Es wird sich also nicht mehr darum handeln, in dem Buche den ausgesprochen klassischen Charakter der deutschen Wissenschaft um 1800 zu zeigen, sondern die Entwicklung des deutschen geistigen Lebens überhaupt in dem Zeitraum von etwa 1750-1850.“79 Tatsächlich sind von Borchardts Vorschlägen aber nur wenige in Wiegands Listen aufgenommen worden: von Dahlmann die Einleitung in die Politik, von Wilhelm Grimm die Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen, J.C. Zeuss’ „Die Deutschen und ihre Nachbarvölker“ und Wilhelm von Humboldts „Einleitung zur Kawi-Sprache“. Eine Veränderung des Konzepts in obigem Sinne ist nicht zu erkennen – und auch Borchardt kehrt in seinem nächsten Brief, in dem er ankündigt, über das Projekt „ein andermal ausführlicher zu schreiben“, zu Wiegands ursprünglichen Ausgangspunkt zurück: „Dein Grundgedanke, die Einigung aller dieser disparat scheinenden geistigen Thaten und Gründungen in Humanität, der Centrierung auf den Menschen hin und vom Menschen aus (lass mich den Begriff des klassischen durch diesen ersetzen) verdient nicht nur festgehalten zu werden, sondern ist der entscheidende. Auch dass die grossen Allgemeinfassungen in Einleitungen Nachworten Rückblicken als abgeschlossene Stücke das Werk rückgespiegelt im Geiste des Werkmannes, also erhöht durch die zweite Dimension, am schönsten zeigen, bleibt einverstanden.“80 Das einleuchtende, aber komplizierte Vorhaben, eine überzeugende Darstellung nicht in einer eigenen Abhandlung, sondern durch das bloße Vorführen der Texte zu erreichen, erweist sich – darüber scheinen sich

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mir angabst, sehr nützlich sind. Hiernach würde ich weiter versuchen, Vorschläge für das Material zusammenzustellen.“ Im Konvolut zu den „Grundvesten“ finden sich Notate und Exzerpte zu diesen Arbeiten, neben fünf Blatt mit Bleistiftnotizen Wiegands zu Conrad Bursians Geschichte der Philologie der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (München 1883) auch zu anderen Bänden aus der Reihe Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, die ab 1864 von der historischen Commission der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München herausgegeben wurde, siebzehn Blatt zu der Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus von Franz X. Wegele (München 1885) und mehrere Blätter zu Victor Carus’ Geschichte der Zoologie bis auf Joh. Müller und Charl. Darwin (München 1872). Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA. Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925 Briefe 1924-1930, S. 91.

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Wiegand und Borchardt einig zu sein – als das zentrale Problem des Anthologieplans. So scheitert das Projekt nicht zuletzt daran, daß es nicht gelingt, genügend Texte zu finden, die allen Kriterien Wiegands entsprechen. Dieser sieht einen geeigneten Text etwa in Alexander von Humboldts Abhandlung über die „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“, die „überhaupt eines der besten Beispiele für die ideale Forderung ist, die an jedes einzelne Stück zu stellen wäre“, oder auch in Friedrich Schlegels Abhandlung „Über Sprache und Weisheit der Indier“, aus der sich vielleicht, so Wiegand, „das entscheidende Stück gewinnen“ ließe, „das die Anregung zum Studium des Sanskrit in Deutschland gegeben hat“. Diese beiden Texte, in sich geschlossene Abhandlungen, vereinen Programmatik (das Sprechen über Wissenschaft) mit Praxis (der Wissenschaft selbst) und haben dazu noch eine nachweisbare Wirkung auf die ihnen nachfolgende Wissenschaft. Eine solche ideale Verbindung ist jedoch in der Tat nur in den seltensten Fällen gegeben; Wiegand muß daher auf Vorreden und Vorworte zurückgreifen, wie es schon sein erster Entwurf vorsieht: „was als Einleitung oder Vorwort bezeichnet ist, hat zunächst den Charakter einer selbständigen Abhandlung, und die gelegentlichen Verweisungen auf das nachfolgende Werk lassen sich, wenn nötig, wohl beseitigen.“81 Damit würde wenigstens die Programmatik, aus der sich dann die Praxis ableiten ließe, deutlich gemacht werden können. Wiegand stellt das Problem an einem Beispiel dar: „[W]ie soll z. B. die Vorstellung eines historischen Werkes anders gegeben werden, als durch die Einleitung von Niebuhrs Vorlesungen über Römische Geschichte? Ein Abschnitt aus dem Werke selbst würde den Leser verwirren, und wie sollte auch ein solcher begrenzter Abschnitt Niebuhrs geschichtliche Vorstellungen und die Methode seiner Arbeit veranschaulichen können. Die Vorrede gibt immerhin eine Ahnung der Aufgabe, die Niebuhr sich gestellt hat, und zugleich von seiner historischen Stellung innerhalb der Geschichtswissenschaft, und die Stelle, von der aus er selbst bei Abschluss seines Werkes das Ganze noch einmal überschaut, und an der er zusammenhängend ausspricht, was ihn als begleitendes und erklärendes Wort notwendig erscheint, ist vielleicht doch in diesem und in ähnlichen Fällen die geeignetste, um dem Leser doch wenigsten eine Vorstellung der geistigen Atmosphäre zu geben, in der das Werk entstanden ist.“82 Borchardt regt daraufhin an, da er erkennt, daß doch „nicht allen [...] die Gabe verliehen“ sei, „sich selbst anzuschauen“, „ob nicht eine Ergänzung der Einleitungen nach der Seite der eigent-

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Wiegand an Borchardt, 28. März 1925, DLA. Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA.

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lichen Leistung hin die Sammlung belebt und vertieft“, 83 um zeigen zu können, „wie so grosse Problemstellungen praktisch umgesetzt worden sind“. Wiegand greift diesen Vorschlag nicht auf, sicher nicht nur, weil ihn sein ursprünglicher Plan nicht vorsieht, sondern weil er erkennt, daß seine Realisation den Rahmen des Buches sprengen würde. Letztlich scheitert das Unternehmen der „Grundvesten“ wohl auch daran, daß Borchardt keinen Weg sieht, aus der Fülle des Materials bei der gegebenen Problemstellung ein Buch zu machen, das seiner Forderung nach „Form“ entsprechen würde. So heißt es schon in seiner ersten Äußerung über Wiegands Plan: „Diesen Band dürfen wir nur machen, wenn ihm alles Willkürliche und Äusserliche der Vorreden Auswahl abgestreift und er zu dem gemacht wird was er fordert zu sein. Und das Ganze ist nicht übers Knie zu brechen, sondern an lange und bedächtige Lesungen und Erwägungen gebunden.“ 84 Und später: „Gewiss wollen wir weder Blümchen pflücken noch Pages choisis geben sondern nur Ganzes und aus dem Vollen, wie, wird sich von Fall zu Fall entscheiden.“85 Aber zu diesem „Ganzen“ und „Vollen“ gelangen die „Grundvesten“ nicht. Dies hat seine Ursache nicht nur in der oben skizzierten Schwierigkeit, einen derart ehrgeizigen Plan umzusetzen, sondern auch in Borchardts Unfähigkeit, sich fremde Ideen anzueignen und mit ihnen zu arbeiten. Borchardts Vorschläge für das Buch zeigen einen gewissen Mngel an Sensibilität gegenüber dem Plan seines Verlegers. Seine Distanz dazu legt er nicht ab; es ist sicher nicht übertrieben, wenn Wiegand ihm unterstellt, daß das Buch ihm „nicht mehr sympathisch“ sei – es war dies wohl von Anfang an der Fall. Trotz Borchardts Distanz zu Wiegands Plan ist dieser mit seinen Anthologien nicht unvereinbar. Schon Wiegand spricht ja in seinem ersten Brief davon, daß die geplante Anthologie „den Gedenkreden an die Seite“ zu stellen sei. Abgesehen von Borchardts Vorschlägen, die zum Teil eng mit seiner parallel laufenden Arbeit an den Denkreden verbunden sind (und Namen wie Mommsen, Lachmann, Lobeck, Schlosser oder Neander vorsehen), haben beide, die erschienene Anthologie und die nicht erschienene, auffällige Gemeinsamkeiten. Beide gelten dem „Geist der Wissenschaft“, dessen Merkmale – „Humanität“ etwa oder „hellenischer Sinn“ – sich schon an den Deutschen Denkreden zeigen, jedoch räumt Wiegand, anders als Borchardt, der Poesie keine Vorherrschaft ein. Beide Sammlungen hätten sich ergänzt, denn die Perspektive ist jeweils eine andere. Die 83 84 85

Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, Briefe 1924-1930, S. 91. Borchardt an Wiegand, 22. Mai 1925, ebd., S. 78. Borchardt an Wiegand, 14. Juni 1925, ebd., S. 91.

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„Grundvesten“ liefern, wie der Titel schon sagt, die Grundlage, das Fundament der deutschen Wissenschaft, die Denkreden stellen dagegen ihre Kontinuität dar, pathetisch gesagt: das Gebäude der deutschen Wissenschaft. Die Texte der Denkreden müssen vor allem als Rückblick gelesen werden, die der „Grundvesten“ im Hinblick auf das ihnen Nachfolgende. Jene präsentieren die Haltung des Andenkens an einen Wissenschaftler und an dessen Leistung, diese die Haltung des Wissenschaftlers selbst, jene das Sprechen von Wissenschaftlern über Wissenschaftler, diese das Sprechen von Wissenschaftlern über ihre Wissenschaft. Beides geschieht im selben Raum, dem der deutschen Wissenschaft. Darüber hinaus steht die geplante Sammlung auch im Kontext der Veröffentlichungen des Verlages der Bremer Presse und dem Plan einer Reihe von Einzelausgaben deutscher Denker und Wissenschaftler, an deren Planung Borchardt maßgeblich beteiligt war. Auch Wiegand sieht diesen Zusammenhang der einzelnen Anthologien, deren große Namen jeweils durch eine diesen zur Seite zu stellende Einzelauswahl gewürdigt werden sollten: „Am allerschwierigsten wird die Entscheidung bei denjenigen sein, die die eigentlichen Angelpunkte des Buches bilden werden, bei Kant, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt und Hegel. Sie werden wohl auch in dem Buche etwas über den Wolken sein, und werden ihr eigentliches Leben in den einzelnen Ausgaben gewinnen, die sonst gewissermassen die eigentliche Erweiterung und Ergänzung der Grundvesten bilden. Es wird in dieser Hinsicht in den Grundvesten auch nicht anders sein können als im Ewigen Vorrat, wo ja Goethe und Schiller auch nur haben angedeutet werden können. Freilich wird in den Grundvesten dieser Mangel sehr viel fühlbarer sein.“86 Als Herausgeber solcher Einzelausgaben, die eine repräsentative Auswahl aus dem Werk eines Gelehrten hätten darstellen sollen und den Anthologien in der großen Anthologie des Verlagsprogramms an die Seite gestellt worden wären, waren vorgesehen: Borchardt für Herder, Hermann Schmalenbach oder Hans Ludwig Linkenbach87 für Leibniz, Eduard Spranger, später Walter Benjamin für Wilhelm von Humboldt, ferner waren Auswahlbände aus dem Werk von Jacob Grimm, Schelling, Hamann und Alexander von

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Wiegand an Borchardt, 9. Juni 1925, DLA. In der Bremer Presse erscheint 1925 eine von Schröder besorgte Auswahl von Schillers Gedichten sowie Hölderlins Elegien (1922) und Hymnen (1924), beide herausgegeben von Friedrich Seebass. Vgl. Borchardt an Martin Bodmer (nicht abgesandt), 1. Oktober 1929, wo es über Wiegand heißt, er habe „an die Leibnizausgabe des unbrauchbaren Göttinger Linkenbach Summen über Summen verschwendet ohne eine druckbare Seite zu erhalten“ (Briefe 1924-1930, S. 347).

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

Humboldt geplant.88 Für Borchardts Herder-Auswahl, die schon seit dem Frühjahr 1925 im Gespräch war,89 hatte Wiegand ihm bereits die dreiunddreißig Bände umfassende große Suphansche Ausgabe besorgt. Wie so oft bedankt sich Borchardt dafür, indem er zugleich vertröstet: „sei bedankt für die herrliche Herdergabe die inzwischen bei mir eingegangen ist und mich mit soviel Stolz und Ehrfurcht, was Gegenstand und Besitz angeht, als wärmster Erkenntlichkeit für Deine Teilnahme und Güte erfüllt. Nur ein Mittel zur Verfügung ist mir gegeben, den Herderband zu einer so schönen Probe unserer Ansichten zu machen als meinen Kräften irgend gegeben ist. Überblickt man freilich das Gebäude von Leistung, das solch ein Einzelgeist, – von dem Range derer für die das Wort Individuum eigen erfunden scheint – hinter sich gelassen hat, so verzagt man vor der Aufgabe, ihm wählend und urteilend in Kürze und Eile, wie es denn anders nicht geht, zu genügen, dennoch so, dass alles wirklich begründet und nicht oben abgeschöpft sei.“90 „Der Herder allein ist für normale Arbeiter die Arbeit eines vollen Jahres“,91 wie es etwas früher bereits heißt. Wiegand drängt mehrmals, die Arbeit daran zu beginnen, und Borchardt kündigt im April 1927 in einem Briefentwurf sogar an, sowohl den Herder noch abzuliefern als auch die Suphansche Ausgabe wieder zurückgeben zu wollen92 – aber zumindest ersteres geschieht nicht. c) Expansion: Der Deutsche in der Landschaft Erstmals erwähnt wird Borchardts Anthologie Der Deutsche in der Landschaft (1927) noch mit dem Titel „Der Deutsche und die Landschaft“ Ende April 1925 auf einem Zettel Wiegands, der „Mit B. zu besprechen“ überschrieben ist. Nach dem Erscheinen des Ewigen Vorrats im April 1926 und der Übersetzung weiterer Gesänge von Dantes Comedia wird die Arbeit an dem „Landschaftsbuch“ 93 dann wieder aufgenommen. Ein weiterer Besuch Wiegands bei Borchardt Anfang Oktober 1926 dürfte neben Dante in erster Linie der neuen Anthologie gegolten haben: Nach diesem Datum geht es im Briefwechsel zwischen Wiegand und Borchardt bereits um 88

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Vgl. Wiegand an Borchardt, 9. Juni und 5. August 1925, DLA. Außerdem erscheinen im Verlag der Bremer Presse Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1925), besorgt von Erich Becher, und Fichtes Reden an die deutsche Nation, herausgegeben von Carl Georg von Maassen (1922). Vgl. Borchardt Brief an Wiegand (nicht abgesandt), 28. März 1925, Briefe 1924-1930, S. 73. Borchardt an Wiegand, 28. Juli 1925, ebd., S. 94f. Borchardt an Wiegand, 28. März 1925, ebd., S. 72. Borchardt an Wiegand (Entwurf), 19. April 1927, Briefe 1924-1930, S. 200f. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 17. Juli 1926, DLA.

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Detailfragen und bis in den April des folgenden Jahres – als große Teile des Buches bereits gesetzt sind – um das noch immer ausstehende Nachwort, auf dessen Fertigstellung Wiegand unablässig drängen muß. Als es ihm endlich vorliegt, ist Wiegand keineswegs begeistert. Er schreibt Borchardt einen Brief, der einen für seine Verhältnisse durchaus heftigen Ton anschlägt: „Meine Bedenken in Bezug auf den letzten Passus sind die nachstehenden: Der Abschnitt beginnt mit dem Dank an die Herren der [Bayerischen] Staatsbibliothek, und sowohl durch diese Stellung als durch die Fassung bildet dieser Dank den eigentlichen Ausgangspunkt und damit den wesentlichen Inhalt. Anstatt eines einfachen Dankes aber, wie er mir vorgeschwebt hatte, beziehst Du die Arbeit dieser Herren in die Tätigkeit einer Sühnegemeinschaft oder Restitutionsgemeinschaft ein. Es scheint mir ganz unmöglich, die Beamten der Staatsbibliothek ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung auf solche Weise als an den geistigen Absichten unseres Verlages und unserer Ausgaben teilhabend hinzustellen. Es handelt sich um zehn oder zwölf Herren, die im Katalogsaal, im Lesesaal, im Ausleihzimmer für unsere Bücherbestellungen tätig sind, wissenschaftlich gebildete Beamte mit zum Teil eigener wissenschaftlicher Betätigung, von denen wir nur wissen, dass sie uns auf das freundlichste und hilfsbereiteste zur Seite stehen, von denen wir aber in keiner Weise wissen, inwieweit sie sich mit unseren Arbeiten identifizieren können oder wollen. Ich muss daher befürchten, dass durch einen so abgefassten Dank eher eine Verstimmung erzeugt wird als eine Freude, und eine Verstimmung muss ich bei der voraussichtlich grossen Inanspruchnahme die wir der Bibliothek in den kommenden Jahren noch zumuten müssen, unter allen Umständen zu vermeiden suchen.“ Doch nicht nur, daß Borchardt die Mitarbeiter der Bayerischen Staatsbibliothek ohne ihr Wissen in seine Vorhaben miteinbezieht, stört Wiegand. Mehr noch ärgert ihn die Einbeziehung des Verlages und seiner anderen Autoren in die Anliegen Borchardts, ja Borchardts Anliegen überhaupt: „Du sprichst in dem Abschnitt von der ‚von uns unternommenen Wiederherstellung des Deutschen Jahrhunderts‘. Da in dem ersten Satze des Abschnittes von ‚uns und den Unseren‘ gesprochen wird, so kann der Leser das erste ‚uns‘ nur auf den Herausgeber, d.h. auf Dich beziehen, und er muss demnach auch den zweiten Satz so auffassen, als ob die ‚Wiederherstellung des deutschen Jahrhunderts‘ von Dir unternommen sei, eine Auffassung die noch verstärkt wird durch die nachfolgende Einschränkung, dass die Ausführung selbst nicht das Werk eines Einzigen sei. Ich sehe ganz davon ab, dass ich selbst mir unter dieser Formulierung der Wiederherstellung eines Jahrhunderts nichts denken kann, und dass ich demnach befürchten muss, dass diese Formulierung nur eine missver-

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ständliche Ausdeutung unserer Absichten erfahren wird, was mir selbst in Bezug auf den Verlag keineswegs gleichgültig sein kann. Die Ausdeutung aber, die diese Sätze in Bezug auf Deine Person erfahren müssen, kollidiert mit den Arbeitsbeziehungen, die wir sonst unterhalten. Mit dem gleichen Rechte kann beispielsweise Hofmannsthal für sich in Anspruch nehmen, dass er zu einer geistigen Wiedererweckung des Zeitraumes von 1750-1850 beitrage, nicht nur durch das Lesebuch, sondern auch durch andere längst vorbereitete Ausgaben, die folgen werden. Ich darf auch darauf aufmerksam machen, dass Hofmannsthal überhaupt der erste gewesen ist, der innerhalb unserer Ausgaben, und zwar in der 1922 erschienenen Vorrede zum Lesebuche, auf dieses Deutsche Jahrhundert hingewiesen und von der Notwendigkeit der Erkenntnis dieses Zeitraumes gesprochen hat. Es geht also doch nicht an, Hofmannsthals Arbeit und Anteil auf die Weise zu ignorieren, wie es durch diese Fassung geschieht. Andererseits glaube ich bestimmt nicht, dass Hofmannsthal etwa mit einer veränderten Fassung, die seine Arbeit erkennbar einbezöge, einverstanden sein würde, denn ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er diese Formulierung der Wiederherstellung des Deutschen Jahrhunderts als weit über unsere Arbeitsmöglichkeiten hinausgehend niemals gutheissen würde.“ Wiegand bittet Borchardt darum, den betreffenden Abschnitt ganz fortzulassen: „Auf diese Weise unterbleibt ja auch die Erwähnung der durchgesehenen zweitausend Bände, und so kann der von Dir befürchtete Verdacht, als wolltest Du Dich ‚mit fremden Federn schmücken’ nicht aufkommen. Es dürfte wohl auch ohnehin keinen Leser geben, der so töricht wäre, bei einer geistig so vollkommen durchdachten Arbeit, wie sie ja der Inhalt des Nachwortes zu erkennen gibt, auf einen solchen Gedanken zu verfallen. Dass im übrigen meiner und Dr. Happs etc. Mitarbeit bei diesen Ausgaben prinzipiell nicht gedacht werde, hatten wir schon bei den Denkreden besprochen, und auch in Bezug auf das Landschaftsbuch ist von einer Abweichung von unserer Verständigung bisher nie die Rede gewesen.“94 In der Fassung des Nachworts, die dann schließlich veröffentlicht wird, sind Borchardts Usurpationsansprüche im Sinne seiner „Schöpferischen Restauration“ jedoch nur unwesentlich gemildert. Dort ist im letzten Absatz, der offenbar nicht fortgelassen, sondern von Borchardt lediglich noch einmal überarbeitet wird, zwar weiterhin von „uns und den unseren“ die Rede, aber die Mitarbeiter der Staatsbibliothek sind nun weniger deutlich in die Anliegen des Verlages einbezogen und werden nur 94

Wiegand an Borchardt, 20. April 1927, DLA. Der erwähnte Alfred Happ ist Herausgeber des in Regensburg erschienenen Jahrbuchs Die neue Dichtung, dessen Ausgabe für 1924 seinen Aufsatz „Rudolf Borchardts Schriften“ (S. 142-168) enthält.

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noch für ihre Verdienste um das „technische“ Möglichwerden der Sammlung erwähnt – die „zweitausend Bände“ haben diese nun lediglich „auf den Tisch gelegt“, damit sie „allerdings gelesen, durchblättert, angeprobt“ werden konnten „um die fünfhundert Seiten dieses Buches endgiltig zu gewinnen“. „Wenn der Leser diese fünfhundert Seiten“, so heißt es darin weiter, „als eine Einheit im Sinne der Geschichte des deutschen Geistes empfindet – und wir hoffen das –, wenn er – und wir sind dessen sicher – durch die Empfindung und das innere Erlebnis dieser Einheit sich einen Teil jenes grösseren Ganzen erarbeitet, das mit Recht das Jahrhundert des deutschen Geistes genannt worden ist, so tritt er in eine schwebende Geistergemeinschaft, eine organische mit denjenigen aus deren zu Tage liegender und aus deren sich bescheiden verbergender Arbeit entstanden ist, was an diesem Buche eine Restitution verlorener deutscher Geistesgröße ist. Sie allein zu bewirken konnte ein einziger Arbeiter nicht ausreichen; auch wäre es in einem tieferen und zarteren Sinne kaum wünschbar gewesen; was vielen, einem Geschlechte, schuldig und ohne Schuld, abhanden kam, nur viele können es schliesslich wieder einbringen, ein Geschlecht; nicht dass dies Buch es wäre oder hinter sich enthielte: genug wenn es dazu beiträgt es zu bilden.“ (S. 500f.) Die von Wiegand monierte Formulierung der „von uns unternommenen Wiederherstellung des Deutschen Jahrhunderts“ erscheint hier nur scheinbar zahmer als die „Restitution verlorener deutscher Geistesgröße“. Die „schwebende Geistergemeinschaft“ ist die, die auch in Deutsche Denkreden beschworen wird. Dennoch: Borchardt bleibt darin als „einziger Arbeiter“ die einzige greifbare Figur, an deren Arbeit der Leser durch Empfindung und Nachvollzug zu jener „Restitution verlorener deutscher Geistesgröße“, eben Borchardts „Schöpferischer Restauration“, beitragen soll. Auch Hofmannsthal, den Wiegand gegen die Urfassung des Borchardtschen Nachworts verteidigen zu müssen glaubt und der die spätere Fassung offenbar von Wiegand zur Lektüre erhält, moniert daran eine Rücksichtslosigkeit Borchardts: „Ich überlas soeben Borchardts außerordentlich schönes u. gehaltvolles Nachwort zu dem Landschaftsbuch“, heißt es in einem Brief an Wiegand: „Ich sehe er macht sich (Seite 2.) meinen Lieblingsgedanken einer durch diese Sammlungen zu fördernden höheren Geselligkeit zu eigen; das ist mir sehr lieb. Aber dieser Geist der Geselligkeit den wir in die Nation tragen wollen, sollte billig bei uns selber anfangen. Wenn er (Seite 9) in Bezug auf diese Sammlungen nur von ‚unseren Nachworten‘ spricht, so spricht er, meine Sammlungen ausschließend, nur von den seinigen – da ich lauter Vorworte gemacht habe –, und ist in diesem Augenblick (vielleicht unbewusst) so unaufmerksam, so un-

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höflich, so ohne ‚égards‘, so ungesellig wie nur ein rechter Deutscher und verleidet einem gleich in der Wurzel die Lust am Ganzen, indem er zeigt, dass ein Hauch von höherer Geselligkeit nicht einmal ins eigene Haus dieser Unternehmung zu tragen ist. Merkwürdig auch, dass Sie etwas der Art nicht bemerken; das sind doch die eigentlich wichtigen Dinge, keineswegs Kleinigkeiten. – Vielleicht können Sie nun noch veranlassen, dass er an dieser Stelle von Vor- und Nachworten spricht.“ 95 Borchardt ändert diese Stelle zwar, nachdem Wiegand ihm Hofmannsthals Bitte übermittelt hat, 96 aber so, daß sie auf keinen Fall als Zugeständnis an den Willen Hofmannsthals gelesen werden kann: Er ersetzt „mit unseren Nachworten“ durch „mit diesen Notizen“, 97 eine Formulierung, die durchaus als Provokation zu lesen ist, zumal es Borchardt ein leichtes gewesen wäre, die ihm von Wiegand vorgeschlagene Formulierungen „Vor- und Nachworte“ oder „Geleitworte“ zu übernehmen. Unabhängig von der Diskussion um einzelne Formulierungen und Borchardts wiederholten Versuchen, andere in seine Vorhaben miteinzubeziehen, zeigt der Schluß seines Nachworts erstmals, was für eine große Bedeutung die Arbeit anderer für die Anthologien der Bremer Presse hat. Den Hauptanteil der Arbeit trägt jedoch auch hier der Verleger, Wiegand selbst, vor allem bei der Beschaffung des Materials. In Borchardts Nachlaß findet sich eine (leider unvollständige) kommentierte Auflistung von Verfassern, deren Werke von Wiegand und seinen Mitarbeitern auf ihre Eignung für das „Landschaftsbuch“ hin gelesen wurden.98 Bei einigen ist vermerkt, daß die Lektüre ohne Ergebnis geblieben ist, für die anderen dient die Liste als Inhaltsverzeichnis der beiliegenden Abschriften von Ausschnitten aus den gelesenen Werken. Die Liste umfasste zweiundvierzig Nummern, deren erste acht durch das fehlende erste Blatt verloren sind.

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Hofmannsthal an Wiegand, 21. Mai 1927, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 168. Beide Seitenangaben Hofmannsthals beziehen sich auf S. 486 von Borchardts Nachwort. Wiegand an Borchardt, 28. Mai 1927, DLA. Vgl. Borchardt an Wiegand, 29. Mai 1927: „Statt Nachworte an der zweifelhaften Stelle lies ‚Notizen‘“ (Briefe 1924-1930, S. 203). Die Blätter befinden sich im Konvolut zu Borchardts geplanter Anthologie der „Renaissancelyrik“, DLA. Die Liste, deren erstes Blatt fehlt, dürfte Wiegands Brief vom 20. September 1926 beigelegen haben, in dem es heißt: „Das inzwischen noch gesammelte Material für das Landschaftsbuch geht heute an Dich ab. [...] Eine Aufstellung über die neuen Stücke findest Du beiliegend. Die Materialsammlung wäre dann abgeschlossen, falls Du mir nicht noch irgendwelche Direktionen gibst.“ Borchardt bedankt sich am 28. September 1926: „Unter den neuen Landschaftsstücken sind vorzügliche, ich schreibe schon am Nachwort.“ (Briefe 1924-1930, S. 137)

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Die fertige Anthologie Der Deutsche in der Landschaft enthält insgesamt vierundsiebzig Texte von neunundvierzig Autoren. Einige dieser Texte sind wiederum unterteilt, bei manchen sind Ausschnitte aus verschiedenen Quellen unter einer Überschrift zusammengefasst, die dann wiederum mit Unterüberschriften versehen sind (sie sind im Inhaltsverzeichnis, S. 521523, in Klammern angegeben). Dies ist der Fall etwa bei dem letzten Stück der Anthologie, Prokesch Ostens „Orientalische Studien und Entwürfe“ (S. 473-481), dessen einzelne Teile „Wadi-Halfa“, „Alexandria“ und „Salamis“ aus drei verschiedenen Werken Prokeschs stammen; ähnliches gilt für „Chorographische Aufrisse aus Griechenland“ von Ernst Curtius (S. 418-425). Die Texte von Immermann (S. 290-300), Welcker (S. 337345) und Moltke (S. 349-356) vereinen verschiedene Ausschnitte aus einem Werk, wie dies auch – wobei allerdings die Unterüberschriften durch Asterisken ersetzt sind – bei den Auszügen aus Goethes Werther (S. 2528)99 und den „Briefen aus der Schweiz“ (S. 40-48)100 sowie aus Bettina Brentanos Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde (S. 309-319), hier „Rheinlandschaft“ überschrieben,101 der Fall ist. Allein dreiundzwanzig dieser vierundsiebzig Stücke stehen auf der vierunddreißig Stücke umfassenden Liste Wiegands, also rund ein Drittel, wobei deren Anteil, da die Liste unvollständig ist, sicherlich noch höher sein dürfte. Zudem wird damit auf „schon damals vorgeschlagenen Stücke“ verwiesen, so daß angenommen werden kann, daß der Liste bereits

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Hier ist die Quellenangabe – „Sophienausgabe, 19. Band“ (d.i. Johann Wolfgang Goethe: Werke. 19. Band. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1899) –, besonders irreführend, denn es ist lediglich „S. 7 ff.“ angegeben, tatsächlich stehen die Stücke jedoch recht weit auseinander: Es handelt sich um die Briefe vom 10. und 12. März ebd., S. 7-9 und um den zweiten Absatz des Briefes vom 18. August (ebd., S. 73-75). 100 Die Stellen aus „Briefe aus der Schweiz“ stehen in der Sophienausgabe, Band 19 a.a.O., S. 223-228 und S. 234-240 und sind den Briefen vom 3. und 27. Oktober entnommen, beginnend mit dem zweiten Absatz auf S. 223, mit einem angeschlossenem Absatz (vgl. Der Deutsche in der Landschaft, S. 41 oben) und unter Auslassung der Stelle über die französische Leibeigenschaft S. 235, Z. 21-26. 101 Auch diese Stücke sind deutlich gekürzt. Ausgewählt sind Briefe aus dem Jahre 1808, beginnend am 25. Juni, erster Absatz ([Bettina von Arnim:] Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde. Seinem Denkmal. Erster Theil. Berlin 1825, S. 235f.), dann folgen der zweite und dritte Absatz des Briefes vom 5. Juli (S. 238-41) und, ohne daß der Beginn eines neuen Briefes durch einen Asterisk kenntlich gemacht wäre (Der Deutsche in der Landschaft, S. 311 oben), der erste Absatz des Briefes vom 7. Juli. Es folgt der ganze, „Am frühen Morgen“ überschriebene Abschnitt (S. 243-245), dann der Anfang des Briefes vom 18. Juli bis auf die letzten drei Zeilen des ersten Absatzes und den zweiten Absatz (S. 250f.) bis S. 256 oben, wo der ausgewählte Text mitten im Satz endet. Die nächsten Abschnitte stammen aus dem „Am Abend“ überschriebenen Brief (S. 274-276) und aus dem langen Brief vom 8. August (S. 330-331).

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eine andere vorangegangen war,102 was den Anteil der aus der Lektüre der Angestellten der Bremer Presse gewonnenen Stücke weiter erhöht. Von den Vorschlägen dieser Liste nun stammen alle in der Anthologie enthaltenen Texte von Curtius (S. 418-425), Forster (S. 70-75 und 89-95), Buch (S. 149-160 und 214-226), Warsberg (S. 453-462), Welcker (S. 337-345), Immermann (S. 290-300), aber auch die Texte von Bettina Brentano (s.o.), Droste-Hülshoff (S. 306-309), Gessner (S. 22-25), Tieck (S. 320-324), Passarge (S. 444-453), Ludwig Richter (S. 304-306), Poeppig (S. 239-242), Abich (S. 264-271) und Herder (S. 36-40), dessen Ausschnitt aus dem Journal meiner Reise im Jahre 1769 Wiegand „weniger des Buches als Herders wegen“ beilegt. Andere vorgeschlagene Texte bzw. Verfasser sind von Borchardt nicht berücksichtigt worden, so etwa erstaunlicherweise Stücke aus Titan oder Flegeljahre des von Borchardt so hochgeschätzten Jean Paul, 103 und auch Texte von Steffens, Sealsfield, Runge, Ludwig Ross, Maler Müller, Winckelmann, Philipp Joseph von Rehfues und Johann Friedrich von Tscharner sind nicht in das Buch aufgenommen worden. Ohne Ergebnis durchgesehen wurden offenbar Werke von Pückler, Arndt, Eichendorff, Geibel, Hoffmann, Goltz sowie Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg und Heines Reisebilder. Wiegand hebt in seinem Begleitbrief den großen Aufwand hervor, den die Suche nach geeigneten Stücken gemacht habe.104 Verblieb der große Teil der Arbeit beim Verlag, so kamen die Direktiven, nach denen diese Arbeit erfolgen sollte, zweifellos von Borchardt. Wie auch der ursprüngliche Plan der Anthologie dürften sie zuerst in mündlichen Besprechungen zwischen dem Autor und seinem Verleger entworfen worden sein. Einige der Texte werden Borchardt schon bei diesen Besprechungen vorge102 Dafür spricht auch ein Brief Wiegands an Marie Luise Borchardt vom 29. Mai 1926 (also vier Monate vor der Liste), in dem er davon schreibt, daß er, um „mit Rudolf das Buch über die Landschaft durchsprechen können“, ihm „das bisherige Material“ vorlegen möchte; in einem weiteren Brief an Marie Luise Borchardt vom 16. Juni 1926 heißt es dann: „An dem ‚Deutschen in der Landschaft‘ arbeiten wir also eifrig weiter. Ich bin sehr glücklich über Rudolf’s prinzipielle Billigung.“ (DLA) 103 Vgl. Borchardts Rede „Dichten und Forschen“, in der er sich einen idealen Leser vorstellt, der unter anderem „Jean Paul und immer wieder Jean Paul“ (Reden, S. 190) liest. In Borchardts Nachwort heißt es rechtfertigend, daß sich die Sammlung „dem fassungslosen Landschaftstraume Jean Pauls“ versagt habe, damit „diese virtuosen Gebilde ohne Körper und ohne wahren Daseinsgrund, deren phantastisches Füllhorn dem Dichter in die Hand gegeben war, um es willkürlich zu verspielen und zu verschwenden“ (S. 493f.), nicht aus dem Zusammenhang der Erzählung gerissen würden – mit einiger Wahrscheinlichkeit richtet sich dieser Passus auch gegen Stefan Georges und Karl Wolfskehls Auswahl aus den Werken Jean Pauls im Rahmen der Anthologie Deutsche Dichtung, vgl. S. 241 dieser Arbeit. 104 „Es hat noch allerhand Arbeit gekostet, die meiste Arbeit steckt ja in dem, was Du nicht siehst, d.h. in dem vergeblich Durchgesehenen“ (Wiegand an Borchardt, 20. September 1926, DLA).

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schwebt haben, Goethes „Granit“ gehört sicherlich dazu, auch Texte der Brüder Humboldt und Carl Ritters. Zwar sind explizite Äußerungen über die Kriterien, nach denen Wiegand und seine Mitarbeiter für Der Deutsche in der Landschaft lasen und auswählten, nicht überliefert, aus Briefen Borchardts und aus seinem Nachwort lassen sie sich aber zumindest teilweise rekonstruieren. Ein Hinweis auf Borchardts Programm für Der Deutsche in der Landschaft läßt sich in seinem Brief an Wiegand vom 28. Januar 1927 finden, in dem er die von Wiegand vorgeschlagene Aufnahme des Stückes von Alexander von Humboldt über die Besteigung des Chimborazo (S. 109-114) zwar billigt und gutheißt, aber doch einen Zweifel anbringt und anmerkt, daß sie sich nicht mit den „zum Teil gewaltigen, zT mindestens musterhaften Stücken die wir von A.H. haben“ messen könne: „sie überschreitet die leise Stilgrenze zwischen der Darstellung der Erdoberfläche als solcher (Gegenstand unseres Buches) und der Reise als solcher, in der es sich in erster Linie um den Reisenden handelt, seine Sensationen physiologischer und neurodynamischer Art, Wandern Klettern, schlechten oder guten Weg und so Tausenderlei.“105 Es geht Borchardt also nicht um eine Anthologie von Stücken von Reiseliteratur,106 sondern allein um Landschaftsschilderungen, um Anschauung und Darstellung der Natur. Es geht ihm darüber hinaus um den Stil des Betrachters bzw. um seine Haltung zum Betrachteten; so sei, wie Borchardt in seinem Nachwort schreibt, alles das nicht aufgenommen worden, „was die heilige Natur und die fromme und geheimnisvolle Erde nur zu einem Vorwande nimmt um die eigene Gefallsucht und Rührwitzigkeit an den Mann zu bringen, gleichgiltig ob es sich um sternisierende Reisende oder um Heinrich Heines Reisebilder handelte“ (S. 494), wobei mit „sternisierende Reisenden“ etwa M. A. von Thümmels im Stil Laurence Sternes verfaßte Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich im Jahr 1785 bis 1786 (1791-1805) gemeint sein dürfte. Auch die Qualität der Prosa ist, wie bei Wolters’ Lesewerk, zweifellos ein zentrales Kriterium für die Aufnahme eines Textes in die Sammlung. Sie scheint eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, daß Borchardt sie im 105 Borchardt an Wiegand, 28. Januar 1927, Briefe 1924-1930, S. 181. 106 Eine solche Anthologie von Texten über die Fortbewegung in der Landschaft ist die zweifellos von Der Deutsche in der Landschaft beeinflusste Sammlung Das deutsche Wanderbuch (München 1931), die Josef Hofmiller herausgegeben hat. Es enthält die Ausschnitte aus Bettina Brentanos Goethes Briefwechsel mit einem Kinde in Borchardts Einrichtung und mit derselben Überschrift „Rheinlandschaft“ (S. 205-211), außerdem die ebenfalls bei Borchardt stehenden Stücke von Kleist („Würzburg“, S. 28-30, bei Borchardt S. 286-289) und Steub („Bozen“, S. 45-49, bei Borchardt als „Südtirol“ S. 466-473), außerdem Goethes Brief aus der Schweiz vom 13. Oktober (S. 13-14, bei Borchardt S. 40-48) und ein längeres Stück von Heinses „Besteigung des Rigi“ (S. 86-90, bei Borchardt S. 55-59).

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Nachwort nicht eigens erwähnt – aufmerksame Rezensenten haben die Prosa des Bandes, „dessen sprachliches Niveau eine schwellenlose Hochebene“107 ist, dagegen bemerkt. Wiegand war Borchardt bei der Zusammenstellung des Buches ein Partner, auf den er sich verlassen mußte, schließlich konnte er von Italien aus kaum die geleistete Arbeit in den deutschen Bibliotheken überprüfen. So folgt er nicht selten Wiegands Rat, der in der oben erwähnten Liste im Falle Welcker dessen „Stücke aus seinem Tagebuch der griechischen Reise“ als „die einzige Darstellung dieser Art, wie im Gehen geschrieben, und dabei so lebhaft und anschaulich“ anpreist, oder im Falle Winckelmann zu den „kleinen Stellen“, die aus dessen Werk abgeschrieben wurden, anmerkt, daß sie „ganz unzulänglich“ seien und „von Winckelmann keine Vorstellung“ gäben. Auch die Aufnahme der Chimborazo-Besteigung von Alexander von Humboldt geht ja auf seine Initiative zurück. Dennoch ist Der Deutsche in der Landschaft ein Werk Borchardts,108 von ihm stammen die Direktiven, nach denen die „zweitausend Bände“ durchsucht wurden, von ihm stammen Auswahl, Anordnung, Redaktion und die Einrichtung der Texte. Von Borchardt ist die Abgrenzung der Stücke, die Wahl des Ausschnitts der in den seltensten Fällen abgeschlossenen Texte. Außerdem sind die Texte in Orthographie109 und Zeichensetzung vereinheitlicht, eventuelle Sperrungen und dergleichen im Original etwa werden stets nicht übernommen. Häufig sind die Texte stillschweigend gekürzt.110 Zum überwiegenden Teil betreffen diese Kürzungen Stellen, die nicht unmittelbar der Beschreibung der Landschaft gelten. So sind in Victor Hehns „Italische Landschaft“ (S. 403-417), das den Großteil des Kapitels „Landschaft“ aus Hehns Italien. Ansichten und Streiflichter wiedergibt, neben den einleitenden Sätzen vor allem Quellenangaben, Zitate und Verweise weggefallen – etwa der Verweis auf Alfred Meißners Beschreibung der Stalaktitenhöhle an Kap Caccia, in der Schilderung der italienischen Sonnentage (bei Borchardt S. 409) der Abschnitt „die Eidechse steckt verbor107 Walter Benjamin: „Landschaft und Reisen.“ In: Gesammelte Schriften III.1: Kritiken und Rezensionen. Frankfurt/M. 1980, S. 88-94, hier S. 93. 108 Vgl. den Brief Otto Heuscheles an Rudolf Borchardt über Der Deutsche in der Landschaft vom 20. Juli 1927, DLA: „Das Werk ist eine Einheit und wenn Ihre Bescheidenheit es nicht dulden möchte, dass ich es Ihr Werk nenne, wo doch so viele mitschufen, so möchte ich es doch das Ihrige nennen, weil kein Mensch in der Nation es hätte ebenso schaffen können, wie Sie es getan, weil Sie hier die Anwaltstelle der Nation so wundervoll versahen.“ Heuschele rezensierte sowohl die Erstausgabe (Ostsee-Zeitung vom 16. November 1927) als auch die Neuausgabe 1953 (Neue Schweizer Rundschau. 21. Jg. 1953/54, Heft 5, September 1953, S. 305-307). 109 „Mahler“, „Thal“, „sept Moncels“ (Sophienausgabe a.a.O., S. 8 und S. 236) etwa werden zu „Maler“, „Tal“ und „Septmoncels“ (S. 25 und S. 45). 110 Vgl. S. 185 dieser Arbeit.

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gen in Hecken und Spalten“ mit den anschließenden Zitaten aus Theokrit und Vergil, die Quellenangabe zu Theophrast, die griechische Bezeichnung des Lorbeer und die lateinische Bezeichnung der Olive samt dem griechischen Zitat aus Pindar,111 die Verweise auf Humboldt, Livius und Horaz, der kleine Exkurs über Gervinus und den Frühling bei Gottfried von Straßburg, sowie die Verweise auf die Maler Achenbach und Calane am Ende.112 All dies sind Stellen, die der Leser in dem bei Borchardt abgedruckten Text – vielleicht mit der Ausnahme des Satzes über die Eidechsen – nicht vermißt. Gleichzeitig bekommt der Text – da Verweise auf andere Texte wegfallen – eine Autonomie, die dem erratischen Charakter von Borchardts Anthologien entspricht. Auch hat Borchardt den ausgewählten Textstücken größtenteils eigene Überschriften gegeben und nur in einigen wenigen Fällen, etwa bei Ritter, Goethe („Der Granit“), Welcker oder Alexander von Humboldt („Über Steppen und Wüsten“) die Originaltitel der Stücke oder der Werke, aus denen die Stücke genommen sind, beibehalten. Zumeist bezeichnen diese von Borchardt hinzugefügten Titel lediglich den Namen der Landschaft, den sie beschreiben, und heißen schlicht „Nizza“, „Tahiti“, „Die Krim“ oder „Attische Landschaft“, nur manchmal kommt dabei die Bewegung des Betrachters („Übergang über die Pyrenäen“, „Besteigung des Horeb“) oder die Methode der Betrachtung („Physiognomie des Pflanzenreiches in Brasilien“, „Militärische Ansicht Spaniens“ oder „Chorographische Aufrisse aus Griechenland“) zum Ausdruck. Die Ordnung der Anthologie ist ungleich der der Denkreden nur sehr grob chronologisch. Der erste Text, „Nizza“ von Sulzer (S. 6-10; 1775/76 enstanden, 1780 erschienen), ist zwar einer der ältesten, der älteste jedoch ist der Gessners (1756 entstanden), und auch die jüngsten, die beiden Stücke Heinrich Nissens aus Italische Landschaft (1883), stehen nicht am Ende der Sammlung, wohl aber im letzten Teil (S. 425-435). Begrenzt wird die rund hundert Jahre umfassende Sammlung einerseits durch die ersten Reiseschilderungen, die nun nicht mehr auf Latein, sondern auf Deutsch verfasst werden – „dass die historische Geographie und aufnehmende Landeskunde in Deutschland so viel älter ist als die Schule Carl Ritters“ solle und könne das Buch indes nicht darstellen (S. 490) –; andererseits durch das Entstehen eines speziell feuilletonistischen Stils mit Prokesch, Warsberg, Fallmerayer oder Steub (S. 499). Dazwischen lässt 111 Der Grund für das Weglassen der griechischen Zitate dürfte freilich auch ein praktischer sein: Die Bremer Presse hatte keine griechischen Lettern in 11 Punkt, mit denen Der Deutsche in der Landschaft gesetzt ist. 112 Victor Hehn: Italien. Ansichten und Streiflichter. Nachdruck der zweiten, stark vermehrten Auflage Berlin 1879. Darmstadt 1992, S. 49-60 passim.

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sich in den „geschichtlichen Verschlingungen“ (S. 491) der einzelnen Stücke eine Entwicklung ablesen, die Borchardt im Nachwort ebenfalls skizziert. Zu Beginn der Sammlung stehen Texte, die sich sehr wenig mit der Natur an sich befassen, hier ist die Landschaft immer bereits kultiviert oder, wie in dem Text von Gessner, ganz als locus amoenus antikisiert. Goethe und Heinse stehen daran anschließend, so Borchardt, für den Durchbruch eines Naturgefühls, wie es durch Rousseau „befreit“ wurde und wie es dann in Deutschland bald „zu Stil und Präcision erkühlt“ (S. 491) worden sei. Große Bedeutung komme hierbei Goethe zu, in dem noch beides, der Naturschwärmer und Naturanalyst, vereint sei. In Goethes Nachfolge und im romantischen Geist entstünden dann die wissenschaftlichen Disziplinen, wie es ja auch in den Denkreden angedeutet wird und in den „Grundvesten“ dokumentiert worden wäre. Zentrale Gestalten sind hier Alexander von Humboldt und Carl Ritter, der „mit Proben und Nachgeschlechtern wie billig den Kern des Buches ausmacht“ (S. 497). Ein anderes Anliegen von Borchardts Anthologie ist es klarzustellen, daß der Prosastil der Romantiker keinesfalls, wie es das Vorurteil wolle, verschwommen und verstiegen sei, sondern „trocken, genau, so ungefärbt dass er farblos wirken kann, wesentlich und sachlich“ und daher alles andere als „leichte Lektüre“ (S. 496). Daher stünden in seiner Sammlung die „Poesie und Wissenschaft der grossen Romantik“ (S. 497) mit Novalis und Bettina Brentano einerseits, Carl Ritter und den Humboldts andererseits nebeneinander. Der Kreis zu den antikisierenden Texten am Anfang der Sammlung schließe sich an ihrem Ende, wenn die Wiederentdeckung des befreiten Griechenlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand von Betrachtungen im Geiste Ritters wird (S. 498). Einen Ausblick auf die Gegenwart gibt Borchardt im Nachwort ebenfalls: „Harry Kesslers Notizen über Mexiko, Karl Försters, des Gärtners, Beschreibung Corsicas muss sich der Leser selber ins Buch legen“113 (S. 500). Abgesehen von diesem groben Schema sind die in Der Deutsche in der Landschaft versammelten Texte eher auf ihre Einheit hin als auf eine historische Entwicklung zu lesen. Dies gilt etwa für die „fünf wesentlichen Möglichkeiten des menschlichen Verhaltens zur toten und lebenden Erde“, die Borchardt in seiner Anthologie berücksichtigt haben will: „dem sinnlich empfindenden und darstellenden zur Landschaft, dem geologisch geognostischen zur Struktur, dem naturwissenschaftlich aufnehmenden, das all ihre Züge in Kosmos vereinigt, dem geographischen im strengen 113 Gemeint sind Harry Graf Kesslers Notizen über Mexico (Berlin 1898) und Karl Försters „Reise nach Corsica. Garten- und Pflanzenerlebnisse.“ In: Die Gartenschönheit. 7. Jg. 1926, Heft 12, S. 321-326.

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Sinne, das die gewordene, die werdende und die durch Menschen gewandelte, Menschen wandelnde durchdringt, dem historisch geographischen schließlich, das die Landeskunde zur Länder- und Nationenkunde entwickelt“ (S. 491). Auch diese „Möglichkeiten“ stehen in der Anthologie in „Verschlingungen“, und gerade indem sie sich in ihrer Abwechslung bis zur Unkenntlichkeit abschleifen, wird das Buch ein „Ganzes“ (S. 485). „Wie vier [eigentlich fünf] Hauptansichten des Erdkörpers, die sich im neunzehnten Jahrhundert den Deutschen erschlossen [...] in diesem Buch sich verbinden, das zu entwickeln, hieße ein zweites schreiben“, 114 wie Walter Benjamin in seiner Rezension bemerkt. Ähnliches gilt für andere mögliche Ordnungskriterien, etwa das der beschriebenen Gegenden. Hier lässt sich höchstens eine gewisse Tendenz ausmachen. Griechenland und Italien sind mit elf bzw. zehn Texten die am häufigsten beschriebenen Länder, gefolgt von Frankreich, vor allem seinem Alpenraum (neun Texte), und Deutschland (acht). Von den außereuropäischen Gegenden sind Südamerika (sechs) und Asien (fünf) am häufigsten vertreten. Es fehlen Nordeuropa, Nordamerika oder China. Gar keiner Weltgegend zuordnen lassen sich die Texte des Buches, deren Landschaften rein imaginär sind, wie in den Texten von Gessner, Goethe („Aus Werther“), Novalis und Tieck. Das Prinzip der Einheit in der Vielfalt herrscht auch bei den Verfassern der einzelnen Texte. Keinesfalls finden sich nur Wissenschaftler darunter, sondern Menschen der unterschiedlichsten Berufe, Mathematiker (Sulzer), Philologen (Jacob Grimm), Ärzte (Siebold), Archäologen (Curtius), Maler (Richter), Architekten (Schinkel), Historiker (Gregorovius, Hehn, Nissen, Müller), Juristen (Steub), Philosophen (Hirschfeld), Generäle (Moltke, Roon), Diplomaten (Warsberg), Hortologen (K. Ritter), Geologen (Abich, von Buch), Geographen und Naturforscher (Carl Ritter, Hügel, Alexander von Humboldt, Pallas u.a.), Zoologen (Lichtenstein, Poeppig), Botaniker (Martius) und Dichter (Bettina Brentano, Heinse, Immermann, Kleist). Dementsprechend sind die von Borchardt gewählten Ausschnitte Werken der unterschiedlichsten Gattungen entnommen, sie stammen nicht nur aus wissenschaftlichen Werken (A. v. Humboldt, C. Ritter), sondern auch aus Reisebeschreibungen (Moritz, Carus), Tagebüchern (Welcker), Briefen (W. von Humboldt, Kleist, Droste-Hülshoff), Reden (Jacob Grimm) und Dichtungen (Goethe, Stifter, Novalis). 114 Walter Benjamin: „Landschaft und Reisen“, a.a.O., S. 92. Vgl. auch Gert Mattenklott: „Das Andere mit dem Eigenen vermählen. Kosmologie und erdgeschichtliche Betrachtung – die Anthologie ‚Der Deutsche in der Landschaft‘.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 85. Jg. 1990, 10. April, S. L8.

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Durch diese Vielfalt und Abwechslung lässt sich innerhalb der Anthologie so etwas wie eine Ordnung nur in kleinen Gruppen von Texten finden.115 Oft stehen mehrere Stücke desselben Autors hintereinander (Heinse S. 55-64, Forster S. 70-77, W. von Humboldt S. 78-89, Carl Ritter S. 167-213) oder Texte, die die gleiche Gegend betreffen (die Schweiz bei Goethe, Stolberg und Heinse, S. 40-59, Griechenland bei Welcker, Müller, Moltke, S. 337-356 und Curtius, Fallmerayer, Gregorovius, S. 377-403), andere aufeinanderfolgende Stücke sind durch die Disziplinen ihrer Verfasser verbunden (Moltke und Roon als Generäle, 116 S. 349-362) oder durch ihren dichterischen Charakter (Droste-Hülshoff, Brentano, Tieck, Novalis, Stifter, S. 306-333). Häufig sind nur zwei aufeinanderfolgende Texte miteinander verbunden wie die beiden Schilderungen einer Bergbesteigung durch Seetzen und Alexander von Humboldt (S. 102-117) oder die beiden folgenden, Wüsten gewidmeten Darstellungen von Lichtenstein und wiederum Alexander von Humboldt (S. 117-136); andere sind durch ihren Aufbau oder durch die Besonderheit des Blicks ihrer Verfasser verbunden wie die Texte Fallmerayers und Passarges (S. 435-453) oder durch das in ihnen zum Ausdruck kommende Erhabene – dort des Meeres, hier der Berge – bei Herder und Goethe (S. 36-48). Fast ebenso häufig wie diese Parallelen sind allerdings auch die zum Teil heftigen Brüche, so etwa das Aufeinanderfolgen von Bergen und Wüsten (siehe oben) oder von Brussa und Würzburg bei Hammer-Purgstall und Kleist (S. 281-289). Einen Bruch gibt es auch zwischen Buch, der als Geologe die Auvergne schildert, und Karl Ritter, der als Botaniker Haiti schildert, wodurch sich sowohl der Blick der Verfasser als auch die geschilderte Landschaft völlig voneinander unterscheiden (S. 220-233); gleiches gilt für Martius, der sehr poetisch und ebenfalls mit dem Blick des Botanikers einen Tag im brasilianischen Urwald schildert, und das darauffolgende Stück von Poeppig, der eine fast tote Antilandschaft in den Anden beschreibt (S. 234-243). „Verschlingungen“ der unterschiedlichen Aspekte ergeben auch bei den verschiedenen Möglichkeiten, die Anthologie zu lesen, schließlich eine Einheit. Seine Leser könnten darin, wie Borchardt schreibt, „ganz nach 115 Das Verhältnis in der Anthologie aufeinanderfolgender Stücke zueinander hat Gerhard R. Kaiser bereits gesehen und als „Parallelen“, „Steigerungen“, „Kontraste“, „Kontrastparalellen“ und „Unterbrechung von Zusammengehörigem“ kurz dargestellt. Vgl. seine beiden Aufsätze „Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George/Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt“ a.a.O. und „‚Restauration deutscher Kulturtotalität aus ihren gesamten Beständen.‘ Rudolf Borchardts Anthologien“ a.a.O.; die Der Deutsche in der Landschaft betreffenden Stellen sind weitgehend identisch und stehen S. 130 bzw. S. 392f. 116 Beide erscheinen unter anderen im „Eranos-Brief“ als „antik zugeschnittene Gestalten“ und als Vertreter eines noch nicht „durch die Erfolgssicherheit angebeteter Materie, siegreicher Methoden, mathematischer Sicherheit“ mechanistischen Militärs (Prosa I, S. 306).

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eigener Art und Neigung wählen und reisen: wählen nach Subjekten, reisen je nach zusagenden Objekten. Wem hier ein älterer Ton zu nüchtern, ein neuerer strenger zu trocken erscheint, der wird, indem er vor ihm flieht, einem entgegengesetzten Leser begegnen, den es aus dem zu blumigen und reichen ins recht genau und fein entworfene zieht. Blosse Neugier kommt allenfalls auf ihre Kosten, sehnsüchtige Anschauungswünsche, erdgebundene und beschränkte, schlüpfen in ein entfesseltes Flügelkleid, Wissbegierde sieht sich ins tiefe und gegründete gezogen, Lerneifer wird gelehrt, einzeln gewahrtes zu grösseren Anschauungen zu verbinden, der Kenner, der Gelehrte, der eines Führers leicht enträt, sieht gleichwol auf einen Griff die Summe dessen vor sich, was sonst verstreut, unzugänglich, vergessen liegt, und auch ihm nicht leicht als ein Ganzes vor dem Innern.“ (S. 485). Über die Möglichkeit der Belehrung und Bildung des Lesers hinaus sieht Borchardt die Tatsache, daß hier „auf einen Griff“ bisher nur schwer Zugängliches erstmals und in einer gültigen Form zusammengestellt sei, als weiteres Verdienst seiner Sammlung an. Borchardt sei lediglich „mit den Fingern“ gereist, wie es Wiegand nennt.117 Auflisten lassen sich immerhin: Deutschland, Italien nicht südlicher als Rom, Teile von England und Irland, Teile von Österreich und der Schweiz, im Ersten Weltkrieg Teile von Frankreich; eine geplante und seinen Verlegern schon vertraglich zugesicherte Reise nach Griechenland Mitte der zwanziger Jahre kommt nicht zustande – daß die meisten Texte des Buches griechischen Landschaften gelten, ist also sicher kein Zufall. Auch über die Anthologie hinaus ist Landschaft immer wieder ein Thema von Borchardts Texten,118 in der „Rede über Hofmannsthal“ (1902), im Essay „Villa“ (1908) bis zum späten Pisa. Ein Versuch (1938), dazu in einer Vielzahl von Prosaminiaturen wie „Worms. Ein Tagebuchblatt“ (1907), „Pisa und seine Landschaft“ (1934), „Volterra“ (1935), in den Fragmenten „Volterra“ (1906), „Mainau“ (1920), „Garfagna“ (1940) und „Die Apuanischen Alpen“ (1940) sowie in den (noch unveröffentlichten) „Nachrichten aus Shelleys und Byrons Lande“ (um 1908) und „Asolando“ (um 1924).119 Selbst seine Übersetzung von Dantes Comedia hat einen Bezug zur Land117 Wiegand an Alfred W. Beerbaum, 13. August 1949, DLA. 118 Vgl. zur Bedeutung der Landschaft bei Borchardt auch das Kapitel über Borchardt in Friedmar Apels Deutscher Geist und deutsche Landschaft. Eine Topographie. München 1998, S. 159-180, der, obwohl das Kapitel „Der Deutsche in der Landschaft“ heißt, leider gar nicht auf Borchardts Anthologie eingeht. 119 „Worms. Ein Tagebuchblatt“ (Prosa III, S. 250-267); „Pisa und seine Landschaft“ (Prosa III, S. 101-114); „Volterra“ (Prosa III, S. 239-256); „Volterra“ (Lord und Bettler, S. 132-134); „Mainau“ (Prosa VI, S. 322-325); „Garfagna“ (Prosa VI, S. 377-381); „Die Apuanischen Alpen“ (Lord und Bettler, S. 188-190); „Asolando“ und „Nachrichten aus Shelleys und Byrons Lande“ (beide DLA).

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schaft, wenn er Dante in seinem Nachwort als Landschaftsdichter darstellt und die Göttliche Komödie als „die genaue Beschreibung einer gewaltigen Hochgebirgsreise“ liest, eine „auf die genaueste persönliche Erfahrung und die schärfste Beobachtung der Einzelheit gestützte Darstellung gegebener und unumgänglicher geophysischer und geobiologischer Verhältnisse“.120 In diesem Kontext verwundert eine Anthologie Der Deutsche in der Landschaft nicht. Jedoch steht nicht nur die Landschaft im Zentrum der Sammlung, sondern auch wieder das Deutsche; der „binomische Titel“ deutet an, daß es sich hier um „keine Galerie von Landschaftsbildern schlechthin“ handelt. Die Texte der Anthologie sind von Deutschen geschrieben, und sie sind, glaubt man Borchardt, nicht nur charakteristisch deutsch, sondern auch überhaupt nur in Deutschland möglich: „Es ist der Deutsche in der Länderwelt der Erde, der Deutsche in der Landschaft, und es ist darum ein nur innerhalb der deutschen geistigen Geschichte und Charakterwelt, nur deutsch mögliches Buch. Ein Engländer in der Landschaft, ein Franzose, ein Italiener, ein Holländer, ein Russe in der Landschaft ist ihm von keiner Seite ausserhalb unserer Grenzen her zur Seite zu stellen.“ 121 (S. 487) Auf diese Weise wird das Deutsche zum Hauptanliegen des Buches, obwohl deutsche Landschaften kaum Gegenstand der Texte sind. Tatsächlich wird die geschilderte Landschaft überhaupt unwichtig, wie ja auch durch die „Verschlingungen“ der Anordnung die Verfasser der Texte, ihre wissenschaftliche Disziplin und die Textgattungen sekundär werden. Es bleibt das ihnen gemeinsame Deutsche. So entsteht eine „platonische Landschaft“,122 die die einzelnen Landschaften enthält und zusammenhält. Nur durch eine speziell deutsche Haltung zur Landschaft werde das Buch ein „Ganzes, als geistiger Körper in Relation zu einem ersten andern Ganzen und einem zweiten andern Ganzen, – dem Ganzen der deutschen Nation und dem Ganzen der Erde“ (S. 485). Folgt man Borchardt, so ist die jeweils geschilderte Landschaft auch deshalb von untergeordneter Bedeutung, weil der Deutsche gewissermaßen ortlos ist: „der Deutsche ist überall zu Haus und nicht zu Haus, ist zu Haus wo er eben steht. Die Welt geht in ihn ein, indes er in die Welt 120 „Epilegomena zu Dante II“, Prosa II, S. 512. Zur Gebirgsmetaphorik in Borchardts literaturhistorischen Aufsätzen vgl. Dieter Burdorf: „Riese, Berggipfel, Leuchtturm. Die metaphorische Erhebung des Dichters vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.“ In: Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Gerhard R. Kaiser und Heinrich Macher. Heidelberg 2003, S. 1-26, hier S. 13-18. 121 Einen Versuch, dies in Borchardts Geist dennoch zu tun, stellt die von Karl Eugen Gass besorgte Sammlung von Landschaftschilderungen italienischer Gegenwartsautoren Das Antlitz Italiens (Essen 1943) dar. 122 Walter Benjamin: „Landschaft und Reisen“, a.a.O., S. 92.

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aufgeht. Er ist der alte Wanderer seiner Geschichte, der Gast auf Erden. Der eigener Schiffahrt fast ganz Beraubte macht sich auf seinen Sohlen zum Kinde aller Breiten. Der eigener länderverknüpfender und besiegelnder Politik fast ganz Enterbte überblickt nach Teilung der Erde aus den nur ihm eigenen Höhen des Geistes eine kosmisch tellurische Verhältniswelt, die auf keinen Karavellen und Briggs der seefahrenden Eroberer zu erschiffen war. Der Arme und Verarmte, dem es nicht zum Zehrpfennig, geschweige zum Reisegelde langen will, ergreift aus der Bücherstube123 heraus die Welt durch Begründung erobernder Wissenschaften. Das nie zur Ruhe gekommene Kind der Völkerwanderungen bricht durch seine unzeitigen Grenzen immer wieder in die Welt hinaus und sucht sich Reiche, sieht sie, wie sie keiner vor ihm sah, und schreibt seine Gesichte, prüft das von anderen Völkern geschriebene an den siegreichen Massstäben seines neuen kritischen Vermögens, des Ertrages seiner erzwungenen kummervollen Gelehrsamkeit, streicht aus und zeichnet neu. Der Nachfahr Dürers liegt über die Kleinwelt der Natur gebeugt mit dem mikroskopierenden Liebesblicke des versonnen Naturwesens selber, indes neben ihm ein Bruder, Walt neben Vult,124 mit dem makroskopierenden des Welterforschers in See sticht. Das Schauspiel des Ganzen, wie es sich zwischen 1770 und 1870 abgespielt hat, ist kaum zu ahnen, nicht zu beschreiben.“ (S. 488f.) Ausführlicher geht Borchardt noch einmal auf diese Argumentation in seinem 1928 geschriebenen Aufsatz „Deutsche Reisende – deutsches Schicksal“ ein. Auch hier begründet Borchardt die Heimatlosigkeit der Deutschen mit der Völkerwanderung, schildert seitenlang sich bewegende deutsche Völker, wie es auch die von ihm bewunderten Theodor Mommsen und Josef Nadler zu tun lieben, und legt dar, wie die weitere ruhelose Geschichte der Deutschen, vom 14. Jahrhundert an, im Dreißigjährigen Krieg etc. dazu beigetragen habe, daß der Deutsche kein (bzw. immer nur ein flüchtiges) Heimatgefühl entwickelt habe und nie gelernt habe, sein Land zu lieben. Der Deutsche sei ein Weltbürger, seine Heimat die Welt, er sei auf Expansion ausgerichtet: „Seine Geschichte hat ihn zentrifugal gemacht; seine Weltbürgerlichkeit gegen die Bürgergesinnung der anderen, sein Universalismus gegen die Nationalidee der anderen ist keine Charakterschwäche, sondern seine Formung und Fügung. Kein Volk der Erde sieht einen solchen Prozentsatz der Seinen geschlossen in fremden Gren123 Vgl. das Nachwort zu Deutsche Denkreden, wo Borchardt schreibt, er habe die ausgewählten Reden „nicht auf Kanzeln und Tribünen, sondern in stillen Schreibstuben“ (S. 456) gefunden. 124 Ein weiterer Hinweis auf Jean Paul: Walt und Vult sind die Hauptfiguren in seinem Roman Flegeljahre (1804/05).

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zen sich zufrieden geben, kein Volk der Erde hat eine so ungeheure Diaspora der Individuen aufzuweisen. Das Volk, das mit dem mächtigsten und edelsten Teile seines Volkstums fast alle Völker Europas durchgründet und fast alle Staaten Europas, zum Teile, wie den französischen, englischen, italienischen, in zwei- und dreifacher Schichtung, aufgebaut, und mit geistiger Wiederholung dieses Weges, als einziges in Europa die Geschichte und Geistesgeschichte aller dieser Völker aus dem Grunde erforscht und geschrieben hat, wird dem tiefen Triebe, sich der Gesinnung der anderen gleichzusetzen, nur vorübergehend widerstreben können“. Damit erkläre sich der „so ungeheuer überwiegende Anteil Deutschlands an der Erforschung der Welt und der Darstellung der erforschten“125 aus einem dem Deutschen fehlenden Gefühl von Heimatverbundenheit und dem gleichzeitigen Drange, in die Welt zu fahren. Diesen Drang zur Expansion und seine Leistung – eine geistige und deshalb „friedliche Eroberung der Erde“ 126 – zu dokumentieren, ist auch ein Anliegen von Borchardts Anthologie. Sie ist dabei angesichts einer zunehmenden nationalistischen Literatur zu jener Zeit, bei der das „Völkische“ 127 und die „Scholle“ im Mittelpunkt steht, eine denkwürdige Gegenstimme. Ihre geistige Grundlage offenbart die Anthologie insbesondere in einer Passage aus Wilhelm von Humboldts Text „St. Jean de Luz“ (S. 9597) von der Reise 1799/1800: In jedem gefühlvollen Zeichner der Natur hat die tote oder die beseelende Kraft ein sichtbares Übergewicht. Homer und die Griechen schildern die Natur lieber in der Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten und der Fülle ihrer Bewegung; die nordische Phantasie Ossians verweilt vorzugsweise bei ihren rohen, wüsten und finsteren Massen. Aber noch fehlt uns der Dichter, welcher, tiefer eindringend, den formlosen Stoff wahrhaft mit dem Bildungstrieb gattete, und matte Beschreibungen aus seinem Kreise verbannend den Kampf und die Vereinigung der Schöpferkräfte selbst einführte. Er würde vielleicht die Kosmogonie einige Schritte weiter führen, aber wenigstens gewiss den unbebautesten Teil der Dichtkunst, die didaktische, mit einem unbekannten Muster bereichern. Denn nicht Welten durch Welten zu entzünden, und Fabeln an Fabeln zu reihen ist es, was die dichterische Einbildungskraft hier sucht. Sie will im Menschen die Kräfte erregen, 125 „Deutsche Reisende – deutsches Schicksal“, Prosa III, S. 7-22, hier S. 16f. Der Aufsatz war für die Zeitschrift Atlantis bestimmt, erschien aber unter dem Titel „Deutsche Reisende“ zuerst in den Münchner Neuesten Nachrichten am 3. und 4. Dezember 1928; erst 1932 erschien er unter dem endgültigen Titel in Atlantis (Heft 7, S. 402-408) und als Seperatdruck in einer Auflage von 500 Exemplaren. Vgl. Ingrid Grüninger: Rudolf Borchardt. Verzeichnis seiner Schriften a.a.O., Nr. 47, 373 und 411. 126 Josef Mühlberger: „Der Deutsche in der Landschaft.“ In: Neue Literarische Welt. 4. Jg. 1953, Heft 15 vom 10. August 1953, S. 8. 127 Vgl. Borchardts Kritik an diesem Begriff schon 1908 in der Rezension „Zum deutschen Altertum“, Prosa VI, S. 312-317.

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durch die er eine solche Schöpfung ausser sich begreifen, eine ähnliche in sich nachbilden kann. Denn [...] auch in sich begreift er diese Elemente nur einzeln, und nur der Einbildungskraft ist es gegeben, sie wenigstens auf Augenblicke zu ihrer ursprünglichen Einheit zu verknüpfen. (S. 96f.)

Dieser Abschnitt, der mit der eigentlichen Schilderung der Landschaft nichts mehr zu tun hat, ist mit Grund von Borchardt nicht gestrichen worden. Tatsächlich läßt er sich als Programm für die ganze Sammlung lesen, als Forderung, die nicht nur von dem unmittelbar folgenden Stück – Pallas’ „Die Krim“ (S. 98-102) – und den dem Humboldtschen Text zeitlich nachfolgenden – den Texten der Romantiker – erfüllt zu sein scheint, sondern von allen Texten des Bandes. Keiner der Texte ist dabei im eigentlichen Sinne didaktische Dichtung,128 sie stehen der Poesie sprachlich und inhaltlich sehr nahe, sie sind immer auch dichterisch, und das mit Bedacht. So schreibt Borchardt von den Anthologien der Bremer Presse: „Aber es ist freilich einer der heimlichen Grundsätze unserer Sammlungen, immer auf den schwebenden Punkt des geschichtlichen Lebens abzuzielen, an dem die Unterschiede zwischen Dichtung und Forschung verfliessen“ (S. 494) und spricht damit die unauflösliche Verbindung von Poesie und Wissenschaft auch in den Texten von Der Deutsche in der Landschaft an, wo „Träume neben Vesten, Gedichte neben erhabenen Verallgemeinerungen“ (S. 488) stünden. Die Poesie ist bei Borchardt stets mit dem Ursprung der göttlichen Schöpfung verbunden. Dementsprechend zielen die Texte auch hier auf die „heilige Natur und die fromme und geheimnisvolle Erde“ (S. 494), auf das „Weltganze“, 129 auf den Kosmos (S. 491): Sie „haben es dennoch immer mit dem Geheimnisse selber zu tun, in allen seinen dem Menschengeiste zugänglichen Formen, vom verhüllten und enthüllbaren, annäherungsweise mehr und mehr auswickelbaren Geheimnisse der Natur selber und des Menschen, das heisst der Geschichte, bis zum ewig Verhüllten der Gottheit selber.“ (S. 488) So vollziehen die Texte der Anthologie die Bewegung von Goethes „Granit“ (S. 137-141) – eines weiteren programmatischen Textes – jeder für sich nach: Indem Goethe von dem scheinbar Kleinsten, dem Stein, spricht, spricht er zugleich von dem „menschlichen Herzen“ (S. 138) und stellt auf diese Weise die Ureinheit aller irdischen Dinge vor dem „ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist“ (S. 139f.), her – eine Formulierung, die auch von Borchardt selbst stammen könnte. In einem Brief Borchardts aus dem Jahre 1909, in dem es von der Struktur seines Aufsatzes 128 Vgl. das „Fragment“ Schellings in Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 301-305. 129 „Deutsche Reisende - deutsches Schicksal“, Prosa III, S. 21.

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über Hofmannsthals Alkestis heißt, er sei zunächst „Kritik, dann constructiv, dann nur noch poetisch“, wird bereits diese Denkbewegung Goethes für seine eigene als vorbildhaft erwähnt: „Ein solches, nur ursprünglich viel sublimeres Gefühl muss Schiller gehabt haben, als er über das Erhabene schrieb oder Goethe bei der Abhandlung über den Granit. Ich verdanke es meiner Schule, dass ich immer vom Punkte aus das All entwickele, vom Einzelfall zum Problem aufsteige und es ist am Ende nur noch Laune die Behandlung und Entwicklung der Probleme nach dem Einzelfall zu nennen.“130 Auch in Der Deutsche in der Landschaft ist der Einzelfall der jeweiligen Landschaft und ihrer Phänomene gegenüber dem Ganzen sekundär. Der Zielpunkt aller Texte ist, so Borchardt, bei allen derselbe. Diese speziell deutsche Art der Weltaneignung als ihre gleichzeitige Transzendierung sei der anderer Völker überlegen: „Daß sie die Welt, die sie ausbeuten, und in dieser Welt sich selber kennen, wenn sie sie kennen, danken sie dem einzigen ihrer Brüder, der die Welt gewann, weil er die Erfahrung, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist, vermocht hatte, aus Versagung in Schöpfung zu verwandeln.“131 Die geistige Aneignung der Welt ist überhaupt die Bedingung ihrer Transzendierung, der Nachvollzug der Schöpfung geht der Neuschöpfung in der Poesie voraus: Dies ist das Modell von Borchardts Selbstbild und der „Schöpferischen Restauration“. Jeder einzelne Text in Der Deutsche in der Landschaft wird zu einem Teil der „Schöpferischen Restauration“, ist Nachschöpfung und Neuschöpfung zugleich, und auch Borchardt selbst leistet als Herausgeber diese Arbeit, durch Lektüre und Auswahl einerseits, durch Anordnung und Kommentierung andererseits. Die Idee einer Transzendierung der Welt in Poesie, die ja hier auch die Transzendierung und Entmaterialisierung des Deutschen beinhaltet, ist dabei gleichzeitig eine Verklärung der eigenen Lebenssituation; Borchardt, der im italienischen Exil lebt und sich stolz als „heimatlos“132 bezeichnet, rechtfertigt sein Engagement für die deutsche Politik und seine Ansprüche auf die allein gültige Bestimmung des Deutschen in Politik, Wissenschaft und Poesie überhaupt. Hier kehrt die Vorstellung der um einen Kern gelagerten Schalen wieder, mit derselben doppelten Raumvorstellung: Wenn Borchardt „vom Punkte aus das All“ entwickelt, so bewegt er sich eigentlich auf das „Centrum“ zu, auf den Goetheischen „ältesten ewigen Altare“, Zielpunkt ist stets der Raum des ewigen Göttlichen, der Poesie, in dem alles – deutsche Nation, Wissenschaft, Landschaft – seinen imaginären Ursprung und Mittelpunkt hat. 130 Borchardt an Edith und Julius Landmann, 29. Dezember 1909, Briefe 1907-1913, S. 288. 131 „Deutsche Reisende – Deutsches Schicksal“, Prosa III, S. 22. 132 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 25.

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2. Ewiger Vorrat deutscher Poesie a) Vorläufer und Entstehung: Die „Münster-Ausgabe“ Von der Feier zu seinem fünfzigsten Geburtstag im Kreis seiner Familie berichtet Borchardt seiner Mutter: „Charmant waren die Babies, die mit einer selbst, unter Aufsicht der Köchin, gebackenen kleinen Prinzregenten-Torte und einem frischen grünen Lorbeerkranz auf einem Kissen aufzogen, und dazu ein Wechsellied aus dem Ewigen Vorrat allerliebst aufführten. Auch zu den ersten Figuren eines Menuetts hatte es noch gereicht.“133 Die Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie ist knapp ein Jahr nach ihrem Erscheinen 1926 bereits ein fester Bestandteil des Borchardtschen Familienkanons geworden – nicht zuletzt deshalb, weil er als Grundlage der poetischen Erziehung von Borchardts Kindern dient. Zweifellos ist der Ewige Vorrat diejenige seiner Anthologien, die Borchardt am meisten am Herzen lag, an der er am längsten herumgedacht, an der er am intensivsten gearbeitet hat. Der Ewige Vorrat ist auch die einzige seiner Anthologien, für die er eine Neuauflage ernsthaft plant und eine Überarbeitung immer wieder in Erwägung zieht. Mit dem Angelsachsen-Verlag und dessen Leiter Georg Eltzschig, der die Bestände der Bremer Presse übernommen hat, wird im Frühjahr des Jahres 1933 über eine solche Neuauflage für den Herbst verhandelt. Jedoch sollen hierbei aus Kostengründen einzelne Gedichte ausgetauscht werden, nicht das ganze Buch umgearbeitet werden.134 Die Neuausgabe im Angelsachsen-Verlag kommt nicht zustande, aber Borchardt sieht weiterhin die Notwendigkeit, das Buch wieder verfügbar zu machen. 1937 beklagt er, daß die Auflage „in Höhe der 5000 Exx Erstauflage seit vier Jahren vollständig vergriffen“135 sei, und 1944 heißt es: „Das Buch wird bei der starken Nachfrage antiquarisch unerschwinglich hoch angesetzt, das geht so nicht weiter.“136 Auch in den Monaten vor Borchardts Tod, als an eine Realisation der Neuauflage kaum noch zu denken ist, bleibt das Buch wenigstens im Famili133 Borchardt an Rose Borchardt, 9. Juni 1927, Briefe 1924-1930, S. 205; aufgeführt wurde wahrscheinlich das „Hasel“ überschriebene Tanzlied auf S. 55f. 134 Vgl. den Brief von Robert Voigt, der als Anwalt die Interessen seines Schwagers in Deutschland vertrat, an seine Schwester Marie Luise Borchardt, 11. Mai 1933: „Ich will ihm [Eltzschig] auch sagen, dass Borchardt noch einige Aenderungen in den Ewigen Vorrat hineinbringen möchte, indem er einige Gedichte auswechselt, falls das nicht mit Kosten und Umständen verbunden ist.“ Am Rande des im Durchschlag erhaltenen Briefes ist, wohl von Voigt nach dem Gespräch mit Eltzschig, notiert: „ist zu machen“ (DLA). 135 Borchardt an den Jakob Hegner Verlag, 23. September 1937, Briefe 1936-1945, S. 254. 136 Borchardt an Robert Mächler, 1. März 1944, Briefe 1936-1945, S. 651.

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enkreis Gegenstand lebhafter Diskussionen. So heißt es in den „Erinnerungen an 1944/45“ von Borchardts Sohn Cornelius über das Leben in Trins, wo sich Borchardt und seine Familie seit Ende Oktober 1944 aufhalten: „Natürlich ist stets die Rede von Dichtung und Gedichten. [...] Da wir auch keinen ‚Ewigen Vorrat‘ besitzen, muss Rudolf Borchardts Gedächtnis herhalten. Stark wird auch der ‚Ewige Vorrat‘ selber debattiert. Gedichte, die meine Mutter gern darin gehabt hätte und andere lieber nicht, werden zum Gegenstand erregter Diskussionen.“137 Ähnliches erzählt auch Borchardts Witwe selbst: „Ich hatte kurz vor seinem Tode noch lange Unterhaltungen mit ihm über das Buch [den Ewigen Vorrat]. Ich wollte die zu lange Johannes Minne heraus haben, dafür das Gedicht von Morungen und andere aus der Manessischen Handschrift herein haben, auch von Walther ‚Ich sass auf einem Steine‘ – er gab auch nach, aber so lebhaft wir darüber debattierten, ich erinnere jetzt nicht mehr, welche Gedichte es genau waren. Auch [von] Rückerts Amaryllis Gedichten fand ich nur zwei dem Zeiturteil standhaltend ...“138 Der Ewige Vorrat ist die Anthologie Borchardts mit der längsten Vorgeschichte. Borchardt selbst gibt den Entstehungszeitraum in seinem Nachwort mit „jahrelang“ (S. 443), später mit „dreiundzwanzig Jahren“ an, in denen an und aus den Gedichten „gedacht und gewählt worden“ sei,139 an anderer Stelle mit „25 anni”,140 womit der Beginn der Beschäftigung in die Jahre zwischen 1901-1903 fiele. Bei Marie Luise Borchardt ist einmal die Rede von der Anthologie, „an der er seit seinen Studentenjahren herumdenkt“,141 was die Anfänge der Anthologie noch ein paar Jahre zurückdatieren würde, da Borchardt 1896 begonnen hat zu studieren. Erste überlieferte Hinweise auf Gedichte, die er später in die Sammlung aufgenommen hat, datieren auf das Jahr 1898, von dem er rückblickend schreibt, er habe damals in Bonn „in Litzmanns literarhistorischen Übungen durch die Interpretation der damals für ‚Wahnsinnsprodukte‘ gehaltenen ‚Patmos‘ und ‚Rhein‘ als erster den Beweis ihrer Kunstform erbracht“. 142 1901 heißt es in einem Brief an Karl Wolfskehl, er habe als 137 Vgl. Cornelius Borchardt: „Erinnerungen an 1944/45.“ In: Rudolf Borchardt: Anabasis. Aufzeichnungen - Dokumente - Erinnerungen 1943-1945. Hrsg. von Cornelius Borchardt in Verbindung mit dem Rudolf Borchardt Archiv. München 2003, S. 207-244, hier S. 241. 138 Gerhard Schuster: „Chronik der Ereignisse 1943-1945.“ (Marie Luise Borchardt; Gesprächsaufzeichnung Gerhard Schuster, 1981) In: Anabasis a.a.O., S. 253-372, hier S. 353. Welches Gedicht Heinrichs von Morungen gemeint ist, läßt sich nicht feststellen. 139 Borchardt an den Angelsachsen-Verlag (Entwurf) 1932, Briefe 1931-1935, S. 178. 140 Borchardt an Vittorio Santoli, 4. März 1943, Briefe 1936-1945, S. 545 141 Marie Luise Borchardt an Josef Nadler [?] (unvollständiger Entwurf?), DLA. 142 Rudolf Borchardt: „Noten“ zu „Hölderlin und endlich ein Ende“ für Handlungen und Abhandlungen (1926), Prosa I, S. 405. Vgl. auch Borchardt an seinen Bruder Philipp, 13. Februar

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„sehr junger Mensch“ sich schon „darein gefunden, ausser Goethe Hölderlin Platen und Mörike nur noch antike Dichter zu lesen“143 – alle vier Dichter sind noch im Ewigen Vorrat mit fünf oder mehr Gedichten vertreten. Eine wichtige Vorstufe für den Ewigen Vorrat ist der erste Anthologieplan Borchardts nach seiner Krise 1906. Es handelt sich hierbei um die bereits erwähnte „Münster-Ausgabe“, die Borchardt für den Insel-Verlag entwirft,144 eine mehrbändige Sammlung mit Texten des deutschen Mittelalters „von den grossen frühen Minnesängern (beileibe nicht Walther) bis zu den letzten grossen Mystikern in einer geschlossenen Serie“. 145 Als erste Bände waren dafür geplant: „Höfische Minnesinger Tristan I (beide von mir) Meier Helmbrecht und Dithmarschenchronik“. 146 Zum ersten Band der „Höfischen Minnesänger“, einem Buch, das Borchardt auch später nicht aus den Augen verlieren wird und dessen einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Spuren der Ewige Vorrat enthält, finden sich im Nachlaß zahlreiche Fragmente, deren zwei posthum veröffentlicht wurden.147 Von den im Ewigen Vorrat abgedruckten haben sich frühe Fassungen von Spervogels „Wurzel des Waldes“, „Kristans Ballade“,148 „Herzog Utzen Abblasen“ (unvollständig) und zwei Fassungen von Wolframs „Ursprinc bluomen“ als „Ausbruch blustes“ und als „Fülleborn Blustes“ erhalten.149

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1898, wo offenbar darauf Bezug genommen wird: „mein Hölderlin, an dem ich viel reine freude hatte, harrt noch immer in der redaktion der Köln.zeit. der auferstehungstrompete“ (Briefe 1895-1906, S. 22); Hölderlins „Patmos“ steht im Ewigen Vorrat auf S. 306-315. Borchardt an Karl Wolfskehl, 31. März 1901, Briefe 1895-1906, S. 133f. Vgl. dazu Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag. Zu einem unbekannten Brief an Anton Kippenberg“ a.a.O. Vgl. auch S. 124-127 dieser Arbeit. Borchardt an Schröder, 16. September 1907, Briefwechsel 1901-1918, S. 118. Borchardt an Schröder, 30. November 1907, Briefwechsel 1901-1918, S. 134; Stücke aus der „Dithmarschenchronik“ im Ewigen Vorrat auf S. 20-22. Wolfram von Eschenbach: „Seine Klauen/ Durch die Wolke sind geschlagen“ und Neidhart von Reuental: „Hör nur wie die Vögel aber tönen“, Gedichte II/ Übertragungen II, S. 349352, vgl. auch den Anhang ebd. S. 453ff. Vgl. zu Kristans „Ich wollte, dass der anger sprechen solte“ auch „Zum deutschen Altertum“ (1908), Prosa VI, S. 316. Auch Alfred Walter von Heymel hat das Gedicht übertragen, es erscheint als „Der Anger“ in: Jugend. 36. Jg. 1910, S. 841; Borchardt hat Heymel bei der Übertragung des Gedichts beraten, vgl. Heymel an Borchardt, 20. August 1909 (DLA) und Borchardt an Heymel, 27. August 1909, Briefe 1907-1913, S. 260. Heymels Übertragung „Herr Anger. Nach dem Mittelhochdeutschen des Herrn Christian von Hamle“ steht dann „Als Motto“ in der zweiten Auflage von Heymels Sammlung Zeiten. Gesammelte Gedichte aus den Jahren 1895-1910. Zweite Auflage. Leipzig 1910, S. 3. Obwohl diese und andere Übertragungen bei Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag“ a.a.O., S. B 113 für den Band Gedichte II Übertragungen II angekündigt werden, sind sie dort nicht enthalten und weiterhin unveröffentlicht. Vgl. zu dem erhaltenen Material Gedichte II Übertragungen II, S. 454f. Die Texte stammen fast alle aus Des Minnesangs Frühling. Hrsg. von Karl Lachmann und Moriz Haupt. Vierte Ausgabe. Besorgt von Friedrich Vogt. Leipzig o.J. und aus Deutsche Liederdichter des 12.-14. Jahrhunderts. Eine Aus-

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Zur Rechtfertigung der Ausgabe und zu den Prinzipien, die Borchardts seiner Übertragung der Texte zugrundelegt, verfaßt er eine „Denkschrift über die Notwendigkeit und Grundsätze der Herausgabe älterer deutscher Literatur“.150 Einen Teil der Arbeit daran erledigt er zusammen mit Saladin Schmitt – dem Vetter Stefan Georges und späteren Intendanten des Bochumer Schauspielhauses –, der im Sommer 1907 einen Monat bei Borchardt verbringt, 151 aber feststellen muß, daß „was wir eigentlich zusammen zu erledigen hatten […] schon abgeschlossen dalag.“152 Was genau die beiden erarbeitet haben, bleibt unklar, auch geht die „Denkschrift“ in den Auseinandersetzungen zwischen Kippenberg und Borchardt verloren, der Plan einer „Münster-Ausgabe“ wird nicht verwirklicht. Offenbar hat Kippenberg die „Denkschrift“ zurückbehalten, um das Manuskript von Borchardts (nicht über das Stadium der Konzeption herausreichendem) Roman „Annus Mirabilis“ zu erpressen. Besonders geärgert hat Borchardt darüber hinaus, daß Kippenberg bereits 1909 die von Karl Wolfskehl und Friedrich von der Leyen herausgegebene wahl von Karl Bartsch. Vierte Auflage besorgt von Wolfgang Golther. Berlin 1906 entnommen, welche Borchardt beide besaß, vgl. Schuster a.a.O., S. B 112f. 150 Vgl. den Tagebucheintrag Harry Graf Kesslers vom 21. Dezember 1907, Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Vierter Band: 1906-1914. Hrsg. von Jörg Schuster u. a. Stuttgart 2005 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft 50.4), S. 389. 151 Vgl. Saladin Schmitt an Borchardt, 26. Juli 1907 (DLA). Vgl. auch Schmitts Briefe an Ernst Bertram (DLA). Am 4. August 1907 heißt es noch: „Borchardt ist sehr fein und sehr sehr gütig. Heute brachte er mir das zweite numerierte Exemplar seiner Rede über Hofmannsthal, eines sehr hohen, wertvollen Buches. Es scheint, dass wir in den Hauptdingen einer Meinung sind.“ Wesentlich härter urteilt er rückblickend bereits am 16. Oktober 1907: „Borchardt hat von uns schon zu viel Distance, als dass dort noch intimere Wege hinüber und herüber möglich wären; 10 Jahre legen zwischen Menschen Wälle. Und dann ist sein ganzes Wesen, so hart es klingt, Schaffen aus dem Neid auf andere und aus der Verachtung für andere. Er will Positives geben aus negativen Anstrichen; wie soll sich dieser ewige Dualismus überbrücken? Dieser Mann hat so viel und so furchtbar gehasst, dass er ein glänzender Kritiker geworden ist; ein Schaffender wird er nie sein; Hagen hat keine Kinder. Er richtet seinen wahren Savonarola-Hass gegen George und muss sich doch sagen und sagt es sich auch, dass ihm der Magnifico [d.i. George] noch mit jeder Zeile überlegen ist. Rilke ist ein süsslicher Bänkelsänger, Hofmannsthal senil, Thomas Mann ein Cretin; ausser ihm selbst bleibet einzig – Rudolf Alexander Schröder! – Ich habe mich davon überzeugen müssen, dass uns dieser Mann nur sehr Bedingtes geben kann; ausser seinem bestechlichen Wissen nichts. Lass es Dich nicht ungut berühren, dass ich so abfällig über einen Menschen urteile, in dessen Haus ich einen – übrigens durchaus nicht heiteren – Monat verbrachte; seine schroffe Ungerechtigkeit macht auch die gelassenste Natur notwendig reaktionär. Auch äusserlich ist dieser brutale Marat-Kopf, durch den Dich die polnisch-jüdische Descendenz nur noch allzu deutlich ansieht, zu allem anderen geneigt als Liebe einzuflössen. Mit diesem Jakobiner von geborgtem Adel haben wir – und ich weiss, dass ich hier für viele sprechen kann – nichts gemein. –“ Vgl. die Passage auch in Robert Boehringers Nachwort zu Saladin Schmitt: Die so gegangen sind. Düsseldorf und München 1964, S. 79. 152 Saladin Schmitt an Ernst Bertram, 11. September 1907, DLA.

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Sammlung Älteste deutsche Dichtungen veröffentlicht, die Borchardt nur als doppelten Affront auffassen kann: Erstens kommt einer der beiden Herausgeber aus dem ihm feindlichen Lager Georges, zweitens enthält das Buch Texte, die auch für die „Münster-Ausgabe“ in Frage kämen. Borchardt sieht in dem Band, der „durch seine Methode dem ganzen polemischen Begriff meines Unternehmens widerstreitet“,153 daher einen „Übergriff in die Sphäre“ der von ihm geplanten Reihe und sieht nun durch den „Haufen so abscheulicher und stilloser, halbschlächtiger Bücher“154 auch seinerseits keinen Grund mehr, die Zusammenarbeit mit dem Insel-Verlag fortzusetzen. Er verliert zunächst überhaupt das Interesse an einer Ausgabe mittelalterlicher Dichter. Das zweite Buch, das als Grund dafür gelten kann, daß Borchardt seine Sammlung mittelalterlicher Literatur im Allgemeinen und der Minnesänger im Besonderen nicht mehr weiterverfolgt, sind die Übertragungen seines ehemaligen Freundes Friedrich Wolters, den er nun ebenfalls im feindlichen Lager des George-Kreises sieht. Beide haben gemeinsam begonnen, mittelalterliche Dichter zu übersetzen, und sich brieflich darüber ausgetauscht. So schreibt ihm Borchardt im Oktober 1906: „Was ich von den Versen bisher gelesen habe finde ich unsäglich schön und, die Methode anlangend, wahrhaft glücklich und nacheiferungswürdig […]. Wenn Sie nicht den Meier Helmbrecht machen wollen, so mach ich ihn.“155 Wolters hatte bereits seine Übertragungen aus Heinrich von Morungen als Privatdruck auf Japanpapier veröffentlicht,156 später erschienen Übersetzungen mehrerer Minnesänger in den Blättern für die Kunst.157 Gesammelt erscheinen Wolters’ Übersetzungen als Minnelieder und Sprüche158 wie die Ausgabe von Wolfskehl und von der Leyen ebenfalls 1909, und da Borchardts Bemühungen um eine eigene Ausgabe gescheitert sind und sein Verhältnis zu Wolters seinen freundschaftlichen Charakter verloren hat, ist sein Urteil nun wesentlich strenger: „[E]in so begabter Mensch“,

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Borchardt an den Insel-Verlag, 3. Juli 1909, Briefe 1907-1913, S. 250. Borchardt an den Insel-Verlag, 1. Juni 1909, Briefe 1907-1913, S. 233. Borchardt an Wolters, 17. Oktober 1906, Briefe 1895-1906, S. 433. [Friedrich Wolters:] Die Meisten und Schönsten Lieder des Herren Heinrich von Môrungen für Unsere Lieben Frauen. In unser Deutsch übertragen und gedruckt Im beginnenden Frühling des guten Jahres 1906 zu Nieder-Schönhausen. 157 Friedrich Wolters: „Minnelieder.“ In: Blätter für die Kunst. Achte Folge 1908/09, S. 139-147. 158 Friedrich Wolters: Minnelieder und Sprüche. Übertragungen aus den deutschen Minnesängern des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts. Berlin 1909. Später mit Hymnen und Sequenzen (1914) und Lobgesänge und Psalmen (1922) gesammelt als Hymnen und Lieder der christlichen Zeit (Berlin 1922-1923).

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so heißt es an Edith und Julius Landmann, „darf sich auch einmal so verirren.“159 Erstmals erwähnt wird der Ewige Vorrat in einem Brief Marie Luise Borchardts an Wiegand aus der Frühphase des Verlages der Bremer Presse, in der sich die Einigung zwischen Borchardt, Rowohlt und Wiegand erst abzuzeichnen beginnt; sie schreibt über die Arbeit ihres Mannes: „Solange die augenblicklichen Verhältnisse anhalten wird es am besten sein die Publikationen in den Vordergrund zu rücken die auf Ausgaben u. Sammlungen heraus kommen u. nicht die Anforderungen künstlerischer Originalarbeiten stellen. B. denkt an die Ihnen so angenehme Sammlung Ewiger Vorrat usw., das deutsche Sonett, die mittelalterliche Lyriker Anthologie u.a.m.“160 Die Anthologien Ewiger Vorrat deutscher Poesie und „Das deutsche Sonett“ sind als einzige unter der Rubrik „Ausgabe“ als „abgeschlossen, zum Druck bestimmt“ in Borchardts großer Werkübersicht, die 1923 in der Zeitschrift Die Dichtung erscheint,161 aufgeführt; „Das deutsche Sonett“ wird jedoch offenbar nie ernsthaft in Angriff genommen, letztmals erwähnt wird der Plan am 3. Juni 1923 in einem Brief Wiegands an Borchardt162 – immerhin ist jedoch das Sonett die im Ewigen Vorrat am häufigsten vertretene lyrische Form. Auch an einer Anthologie mittelalterlicher Dichter für den Verlag der Bremer Presse arbeitet Borchardt wohl nie ernsthaft. Zwar scheint er hier zunächst seine Pläne für die „MünsterAusgabe“ realisieren zu wollen, was immerhin teilweise mit seiner Ausgabe des Armen Heinrich geschieht; und noch 1928 plant er, „rückwärtshin die Brücke zwischen [seiner Übersetzung der] Trobadors und Cavalieren [dem „Renaissancelyrik“-Projekt] durch eine massgebende und schön lesbare Sammlung des Minnesangs zu schliessen, die mir immer wieder 159 Borchardt an Edith und Julius Landmann, 29. Dezember 1909, Briefe 1907-1913, S. 289. Borchardt plante offenbar, den Band zu rezensieren, angeschlossen an einen „Aufsatz über die Minnesänger zum hundertfünfzigsten Jahrestag der ersten Bodmerschen Ausgabe“. Über seine geplante „Rezension der Wolterschen Übersetzungen, die Ihnen wohl nicht erfreulicher gewesen sein können als mir“, heißt es: „Die Kritik wird schonend“. Vgl. auch Heymel an Borchardt, 17. Dezember 1909 (DLA): „Mittlerweile gelangte die [Wolterssche] Uebertragung in meine Hände und ich muss ehrlich gestehen, ich bin mit der Arbeit nicht einverstanden. Es geht eben nicht, wenigstens nicht mit den Mitteln, die der Durchschnitt unserer Literaten zur Verfügung hat. Die Unmöglichkeit des ganzen Unterfangens für mässig Begabte wurde mir nie klarer als bei dem Versuch, ich möchte sagen, bei dem Einbruch, begangen am Herrn Anger.“ 160 Marie Luise Borchardt an Wiegand, 4. März 1922, DLA. 161 Abgedruckt bei Ulrich Ott: „Rudolf Borchardt und die klassische Altertumswissenschaft“ a.a.O., S. 297. 162 Dort heißt es über die Vorhaben des Verlages unter anderem: „und was Du uns sonst geben willst, vor allem der Ewige Vorrat, das Deutsche Sonett, das deutsche Mittelalter etc.“ (Wiegand an Borchardt, 3. Juni 1923, DLA).

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abgefordert wird und für die ich begonnen habe, Sammlungen anzulegen“, und auch die „anonyme geistliche Poesie des Mittelalters“ will er „eines Tages noch sammeln“163 – aber nichts dergleichen geschieht. So ist der Ewige Vorrat der einzige Anthologieplan aus der Frühphase des Verlags der Bremer Presse, der realisiert wird. Während der vier Jahre, die vergehen, bis das Buch dann Ende April 1926 ausgeliefert wird, muß Wiegand Borchardt immer wieder drängen, die Sammlung doch endlich fertigzustellen, von der er sich nicht zu Unrecht einen gewissen Verkaufserfolg verspricht: „Sehr dringend möchte ich Borchardt nahe legen, ob sich nicht jetzt die Herausgabe des ‚Ewigen Vorrats deutscher Poesie‘ verwirklichen liesse. [...] Das Buch würde zweifellos einen sehr guten Absatz haben, und Borchardt würde auch hierdurch eine gewissen regelmäßige Einnahme haben.“164 Borchardt arbeitet am Ewigen Vorrat vor allem während seiner Zeit in München, wo er von Juni 1923 bis August 1924 in der Wohnung von Hans Feist (dem Übersetzer Croces) lebt und, selbst ohne eigene Mittel, von Wiegand aus- und zur Arbeit angehalten wird. Feist besitzt eine riesige Bibliothek, und es ist anzunehmen, daß diese Bibliothek die Grundlage von Borchardts Anthologie ist. Diese dürfte sich somit, ohne daß das genauere Verhältnis dabei aufzuschlüsseln wäre, aus Gedichten, die Borchardt sich schon früh angeeignet hat, aus Gedichten, die er nur in Feists Bibliothek nachschlagen muß, und wohl auch aus Gedichten, die er erst beim Stöbern und Blättern dort findet, zusammensetzen. Proben, die Borchardt Wiegand während jener Zeit zukommen läßt, findet dieser „so schön“, „daß ich Dich nicht genug bitten kann, uns das Buch doch bald zu geben.“165 Aber er muß weiter drängen und sich damit abfinden, daß die Sammlung bei steigenden Herstellungskosten nicht mehr „zu Weihnachten“ 1923 wird erscheinen können, ihm so eine „günstige Verkaufsgelegenheit“ entfällt und dem Verlag „eine sehr schwere Last aufgebürdet wird.“166 Gleichzeitig wissen auch schon andere von der geplanten Anthologie, Hofmannsthal etwa freut sich auf den „Eisernen Vorrat“, wie er das Buch beharrlich nennt, und plant, eine „daran zu knüpfende Arbeit (=Anzeige)“ zu schreiben.167 Es ist anzunehmen, daß Borchardts Arbeit an der Anthologie im Mai 1925 weitgehend abgeschlossen ist, da Wiegand Schröder mitteilt, daß der Verlag „immerhin jetzt mit dem Satz des Ewigen Vorrats“ beginne, „mit der vagen Hoffnung, ihn dermaleinst auch 163 164 165 166 167

Borchardt an Wiegand, 28. September 1928, Briefe 1924-1930, S. 278. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 23. April 1923, DLA. Wiegand an Borchardt, 3. Juni 1923, DLA. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 7. September 1923, DLA. Hofmannsthal an Wiegand, 21. Oktober 1924, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 124; die genannte „Anzeige“ wird nicht geschrieben.

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publizieren zu können“.168 Da die Anthologie jedoch „in dem neuen kleineren Grade unserer Antiqua gedruckt werden“ soll, deren Schnitt zwar schon fertig, aber noch nicht ausgegossen ist,169 verzögert sich die Herstellung. Im September bekommt Borchardt die ersten Korrekturbogen, teilweise aus Zeitgründen noch in der größeren Schriftgröße, 170 in dem Weihnachtsprospekt der Bremer Presse findet sich der Band für den kommenden Januar angekündigt,171 und am 26. März 1926 kann Wiegand dann Marie Luise Borchardt endlich mitteilen: „Die ersten Exemplare des Ewigen Vorrats, der nun fertig ausgedruckt ist und an dem der Buchbinder arbeitet, werden in etwa 14 Tagen fertig sein.“172 Die ersten Leser sind zufrieden – Hofmannsthal schreibt an Wiegand: „seit einigen Tagen lese ich im ‚ewigen Vorrat‘, mit innigem Vergnügen. Es sind etliche sehr schöne Gedichte darin, die ich nie gekannt hätte, und über dem ist die Anordnung zart u. geistreich, man hat intensiv Freude davon, wird man’s immer mehr gewahr.“173 Auch der Verleger selbst zeigt sich zufrieden: „Der Ewige Vorrat hat sich bis jetzt, in Anbetracht der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, ganz befriedigend verkauft, es sind bis jetzt rund 700 Exemplare abgesetzt, und ich denke, dass der Verkauf zu Weihnachten gut sein wird.“174 Ewiger Vorrat deutscher Poesie kann auch als die Anthologie Borchardts gelten, die am meisten Aufsehen erregt hat, was sich an zahlreichen zustimmenden und ablehnenden Rezensionen ablesen läßt; gleichzeitig hat die Sammlung sich auch als Borchardts wirkungsvollste erwiesen. Dies gilt auch im Hinblick auf ihr nachfolgende Anthologien, etwa für Katharina Kippenbergs ungeheuer erfolgreiche Anthologie Deutsche Gedichte, 175 die rund ein Viertel ihres Bestands mit Borchardts Anthologie teilt und auch programmatisch einiges von ihm übernommen zu haben scheint.176 Auch 168 169 170 171 172 173 174 175 176

Wiegand an Schröder, 16. Mai 1925, DLA. Wiegand an Borchardt, 15. August 1925, DLA. Vgl. Wiegand an Borchardt, 21. und 23. September 1925, DLA. „Neuerscheinungen Weihnachten 1925“, abgedruckt bei Christopher Burke: „Luxurity and austerity“ a.a.O., S. 117. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 26. März 1926, DLA. Hofmannsthal an Wiegand, 14. Juni 1926, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 148. Wiegand an Borchardt, 20. September 1926, DLA. Katharina Kippenberg (Hrsg.): Deutsche Gedichte. Leipzig 1937. Vgl. das Nachwort, ebd. S. 128:, wo es unter anderem heißt: „Bei der Anordnung wurde versucht, die Gedichte, damit sie um so frischer gelesen würden, möglichst aus jedem nicht künstlerischen Zusammenhang, also auch dem chronologischen, zu lösen, soweit dies dem Stilgefühl angängig erschien.“ Vgl. Marie Luise Borchardts Brief an Gustav Hillard, 17.Januar 1952 (DLA): „Übrigens glaube ich daß dies Nachwort [zum Joram] doch wirkt – wie auch das des Ewigen Vorrats – Wie viele (schlechte) Copien sind doch erschienen –

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Werner Kraft, der sich bis an sein Lebensende mit dem Ewigen Vorrat auseinandergesetzt hat, dient er als wichtiges Vor- und Gegenbild seiner eigenen Anthologie Wiederfinden. 177 Von Borchardts Anthologien ist der Ewige Vorrat am häufigsten wieder aufgelegt worden, war zeitweise sogar als Taschenbuchausgabe erhältlich und ist noch heute als fotostatischer Nachdruck der Erstauflage beim Verleger der Werkausgabe verfügbar.178 Auch in der Forschung hat der Ewige Vorrat vor allem durch Borchardts provokante Einrichtung von Hölderlins „Hälfte des Lebens“ als „Skizze zu einer Ode“179 (S. 354) Beachtung gefunden. Die Arbeiten, die sich darüber hinaus der Anthologie und ihren Eigenheiten widmen, sind nicht eben zahlreich. Zu vernachlässigen sind dabei etwa der Aufsatz von Leonard Olschner, „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Lyrische Tendenzen zwischen Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) und Transit (1956)“,180 in dem Borchardts Anthologie kaum mehr als erwähnt wird, und das Ka-

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darunter die Anthologie von Kath. Kippenberg – die in ihrer Anordnung und in der Aufnahme der von B absichtlich übergangenen Gedichte eine gewisse Polemik sind. B lächelte darüber. So wird ein ‚stilles gleichsam magisches Wirken‘ den Gedanken weitergeben – oft allerdings im Protest und im Nichtverstehen –.“ Werner Kraft (Hrsg.): Wiederfinden. Deutsche Poesie und Prosa. Erste Auflage. Heidelberg 1954; zweite, vermehrte Auflage. Heidelberg 1962. Kraft beruft sich in seinem Vorwort zur Rechtfertigung seiner Anordnung ausdrücklich auf Borchardt: „Indem ich die Dichter nicht chronologisch anordne, sondern alle Gedichte und Prosastellen, auch die von einem Autor, untereinander mische, wie Rudolf Borchardt dies schon zögernd in dem herrlichen aber einseitigen ‚Ewigen Vorrat deutscher Poesie‘ (1926) als erster getan hat, versuche ich, ein sachbestimmtes Bild deutscher Lyrik zu geben, ohne durch zu starke Schematisierung die Freiheit des Lesers einzuschränken.“ Vgl. in Ingrid Grüninger: Rudolf Borchardt. Verzeichnis seiner Schriften a.a.O. die Nummern 755, 757, 758, 760, 761, 762 und 764. Vgl. Ludwig Strauß: „Hälfte des Lebens“ (1950). In: Schriften zur Dichtung. Göttingen 1998 (Gesammelte Werke Band 2), S. 253-277, hier 273f.; Gerhard Neumann: „Rudolf Borchardt. Der unwürdige Liebhaber.“ In: Zeit der Moderne. Zur deutschen Literatur von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher, Fritz Martini und Walter MüllerSeidel. Stuttgart 1984, S. 89–118; Michael Knaupp: „Hölderlin und endlich ein Ende.“ In: Le pauvre Holterling. Blätter zur Frankfurter Ausgabe. Nr. 8. Frankfurt/M. 1988, S. 98-103; Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993. Hrsg. von Werner Volke, Bruno Pieger, Nils Kahlefeldt und Dieter Burdorf. Tübingen 1993 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Band 17), S. 85-88; Christian Wagenknecht: „Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen a.a.O., S. 132–142; Rolf Bulang: „Der entstellte Hölderlin. Rudolf Borchardts Version des Gedichts ‚Hälfte des Lebens‘ als Ausdruck seiner Selbstbehauptung gegen Stefan George.“ In: Literatur zum Gebrauch: Hollaender und andere. Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Weimarer Republik. Hrsg. von Walter Delabar und Carsten Würmann. Berlin 2002, S. 219-233; sowie Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch zu Hölderlins Poetik. Frankfurt/M. 2005, S. 68-70. Leonard Olschner: „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Lyrische Tendenzen zwischen Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) und Transit (1956).“ In: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Hrsg. von Nicholas Saul, Daniel Steuer, Frank Möbus und Birgit Illner. Würzburg 1999, S. 185-195.

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pitel über den Ewigen Vorrat in der Dissertation von Doris Haneberg, in dem Borchardts Sammlung im Unverstand nicht nur als Vorgänger nationalsozialistischer Kulturpolitik erscheint, offenbar Heinrich und Ewald von Kleist verwechselt werden und sogar einmal auch Borchardts Name nicht richtig geschrieben wird – ausgerechnet „Borchert“.181 Die umfangreiche Monographie von Jacques Grange, Rudolf Borchardt 1877-1945. Contribution à l’étude de la pensée conservatrice et de la poésie en Allemagne dans la première moitié du XXe siècle, mittlerweile größtenteils überholt, bringt eine ausführliche Darstellung von Borchardts Anthologien, vor allem des Ewigen Vorrats, aber zu einer Analyse kaum Ansätze.182 Die schon erwähnten Aufsätze Gerhart R. Kaisers sind verdienstvoll, bleiben aber weitgehend an der Oberfläche; Johannes Saltzwedels schönes Heft „Ganz und gar aus dem Leben heraus.“ Rudolf Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie als Ernstfall schöpferischer Restauration ist vor allem durch den ihm angehängten Nachweis der Eingriffe und Quellen schätzbar;183 jüngster Beitrag zu Borchardts Sammlung ist das mehrheitlich dem Ewigen Vorrat gewidmete Kapitel über Borchardts Anthologien in Daniela Gretz’ Arbeit Die deutsche Bewegung.184 b) „Ordnungsprinzip: das Ewige“185 Der große Anspruch der Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie ist schon ihrem Titel186 zu entnehmen, wobei die Verbindung von „ewig“ und „Poesie“, kennt man Borchardts Vorstellung von der Dichtung, tautologisch zu sein scheint, ist Poesie bei ihm doch immer ewig. So hat das Wort „ewig“ hier einen doppelten Sinn: Es erhebt zum einen Anspruch auf die Gültigkeit der Anthologie (der darin versammelten Gedichte und der Sammlung selbst) für alle Zukunft – der ursprüngliche Schlußsatz von 181 Doris Haneberg: Deutschsprachige Anthologien aus den Jahren 1906-1953. Voraussetzungen und Auswirkungen von nationalsozialistischer Kulturpolitik. Diss. Berlin 1988, S. 36-38. Der haarsträubendste Satz darin ist dieser: „Zu Unrecht spricht man der nationalsozialistischen Kulturpolitik den ‚Geist der Barbarei‘, d.h. einen in dieser Form neuen restriktiven Umgang mit Literatur zu, der in Ausmerzung und Bücherverbrennung gipfelte.“ (S. 38); dies alles auf nur drei Druckseiten. 182 Jacques Grange: Rudolf Borchardt 1877-1945. Contribution à l’étude de la pensée conservatrice et de la poésie en Allemagne dans la première moitié du XXe siècle a.a.O., S. 883-897. 183 Johannes Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus.“ Rudolf Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie als Ernstfall schöpferischer Restauration a.a.O. 184 Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 299-318. 185 Gustav Hillard: „Bemerkungen zum Problem der Anthologie“ a.a.O., S. 397. 186 Das neunzehnseitige Manuskript des Nachworts trägt noch den Titel „Ewiger Vorrat der deutschen Poesie“, DLA.

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Borchardts Nachwort spricht es aus: „Der Blick ist nach vorwärts gerichtet, und lenkt das Vergangene, für die Lebendigen, nach vorwärts und ins Leben.“187 Zum andern, und das ist noch vermessener, erhebt Borchardts Anthologie – „im Einen vorwärtsdeutend ewig, im Andern rückwärtsdeutend ewig“ (S. 463) – Anspruch auf die Vergangenheit: Was hier versammelt ist, sei ewig und damit der Zeit enthoben an sich, weil es an das Göttliche und Ewige rühre. Auch dies gilt nicht nur für die versammelten Gedichte, sondern erst recht für das Buch selbst. Jacques Grange sagt in seiner Monographie über Borchardt, das Wort „Vorrat“188 erscheine zwischen den Worten „ewig“ und „Poesie“ als „banal“. 189 Tatsächlich ist es jedoch ein von Borchardt häufig gebrauchtes Wort, das in seinen Schriften immer wiederkehrt. Dort ist von einem „Büchervorrat“,190 von einem „Blumenvorrat“191 bzw. „Pflanzenvorrat“192 oder einem „Zeitenvorrat“,193 von einem „unveränderbaren Vorrat unserer Sprache und unserer Kunst“194 die Rede; ein Verdienst Georges sei es, „einen Vorrat rechtmäßiger Formen geschieden und ausgebildet“ zu haben,195 und Dante Gabriel Rossetti ziele darauf, „den Großen Vorrat zu restituieren“.196 Gleichzeitig erscheint der Begriff auffällig oft im Zusammenhang mit Borchardts Theorie der Poesie und dem „Centrum“ des „Ewigen“ darin. So rechtfertigt er im „Brief an den Verleger“ seine „Selbstbildung“ aus der geschichtlichen Heimatlosigkeit des 19. Jahrhunderts heraus: „Zum ersten Male, seit es deutsche Geschichte gibt, wurde der gesamte zugängliche Vorrat deutscher Möglichkeiten der selbstverständliche und disponible Besitz des Einzelnen, der an keiner einzigen und einzelnen dieser Möglichkeiten durch seine Geburt ausschließend befestigt 187 „Ewiger Vorrat der deutschen Poesie. Nachwort“ Manuskript, DLA. Die Änderung des Schlusses ist die einzige gravierende Änderung in der Druckfassung. Der Grund dürfte nicht in dem zitierten letzten Satz liegen, sondern in dem davor, der wohl auf Friedrich von der Leyens Geschichte der deutschen Dichtung: ein Überblick (München 1926) gemünzt ist: „Niemand wird Autoren von Rang zumuten, in die Sphäre sich zu rückzuwenden in der Friedrich Vonderleyen seine gotischen Sprachfehler mit Katheterurteilen über Poesie deckt, für die ihm jede Autorität und Convenience gebrichtet; diese Sphäre liegt hinter ihnen, ‚im wolkenlosen Scheine‘.“ 188 Vgl. Karl Neuwirths Hinweis auf die Wendung ƝƴƯƺƬƯƲ ƠƬƭƹƭ ƨƧƳơƵƱƼƲ, „bereiter Schatz der Lieder“ in Pindars sechster Pythie (Johannes Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus“ a.a.O., S. 2. 189 Jacques Grange: Rudolf Borchardt 1877-1945 a.a.O., S. 891. 190 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 139. 191 „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 31. 192 Der leidenschaftliche Gärtner, S. 246. 193 „Vergil“, Reden, S. 271. 194 „Stefan Georges ‚Siebenter Ring‘“, Prosa I, S. 94. 195 „Rede über Hofmannsthal“, Reden, S. 60. 196 „Dante Gabriel Rossetti“, Prosa III, S. 386.

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war.“197 An anderer Stelle heißt es im Zusammenhang mit der Frage, wie die Poesie das Göttliche für menschliche Verhältnisse zurichte, sie bediene sich dabei des „allgemeinen, objektiven Vorrats dieser Welt, den alle Weltkinder miteinander gemeinsam haben“.198 Hier hat das Wort eine sehr viel höhere Bedeutung, als wenn man es auf die in der Kammer liegenden Lebensmittel verwendet – ein Wortgebrauch, an den wohl Grange dachte. Hier bedeutet das Wort einen bestimmten Kanon von „Formen“ und „Möglichkeiten“ der Haltung und des Sprechens des Menschen angesichts des unbegreiflichen Göttlichen: „Das Menschliche […] hat, um seine Haltung gegen das Leben auszudrücken, seinen an Masse so geringen wie an Gehalt unendlichen Vorrat mächtiger und ganz einfältiger Formen.“ 199 Zwar hat das Wort bei Borchardt nicht immer diese hohe Bedeutung, da sie aber überwiegt, muß sie beim Verständnis des Titels Ewiger Vorrat deutscher Poesie mitbedacht werden. Da die ganze Anthologie wie ihr Titel in einem engen Verhältnis zur Dichtungstheorie Borchardts stehen, wird es nicht verwundern, daß der Herausgeber in seiner Sammlung gegenwärtiger ist, als dies normalerweise üblich ist. Borchardts Nachwort ist ungewöhnlich lang, auch deshalb, weil das Unorthodoxe seiner Sammlung mehr Platz zur Rechtfertigung bedarf. Darüber hinaus sind es drei Aspekte, an denen die starke Gegenwart Borchardts in seiner Anthologie ablesbar ist: die Anordnung der Gedichte, die Einrichtung der Gedichte und die Auswahl der Gedichte. Tatsächlich gibt die Sammlung dem Leser hinsichtlich der Anordnung200 der Texte keinerlei Hilfestellung, es gibt darin keine Einteilung in Kapitel – nach Epochen, Autoren, Themen oder Formen – oder eine sonstige offensichtliche Gliederung, sei es nach den Geburtsdaten der Verfasser oder den Entstehungs- bzw. Publikationsdaten der Gedichte. Die Abfolge der Texte ergibt wie auch bei Borchardts anderen Anthologien eine grobe Chronologie, die jedoch hier mehr als bei jenen verletzt wird. Zwar ist das erste Gedicht des Buches, Spervogels „Gottes Lob“ (S. 7), das älteste und das letzte, Schröders „Sonett“ (S. 440), das jüngste; aber das erste Gedicht Goethes, „Gretchen“, steht bereits zwischen zwei Texten aus dem 13. Jahrhundert (S. 25), das erste Gedicht Eichendorffs, „Greisenlied“ (S. 78), steht zwischen Texten von Grimmelshausen und Fleming, und das letzte Gedicht Goethes, „Talisman“, steht zwischen Lagarde und Rückert, also in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 425). Diese Umstellungen lassen sich nicht durch äußere Kriterien wie den 197 198 199 200

„Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 31. „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 125. „Rede über Hofmannsthal“, Reden, S. 94. Vgl. zu nachfolgender Analyse auch Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S. 309-316.

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Entstehungsdaten oder der Lebenszeit der Dichter rechtfertigen, sondern durch ihren ‚Ton‘ – nicht die Zeit ihrer Entstehung ist somit für ihre Einordnung ausschlaggebend, sondern die Zeit, nach der sie klingen. „Es sind ganze Stücke gelegentlich dem chronologischen Ablaufe entzogen und in die Bezüge höherer Geschichte als die annalistische [...] eingereiht“ (S. 462), heißt es in Borchardts Nachwort. So seien Goethes Gedichte nicht an die Lebensdauer des Menschen Goethe gebunden, denn der „Dichter Goethe lebte in Jahrhunderten“ und das Gebet Gretchens aus dem Faust sei „ein Frankfurter katholischer Litaneienwiderhall, der, als er das Ohr des Knaben Goethe traf, vierhundert Jahre alt war, und vor vierhundert Jahren schon Worte gefunden hat, wol an der gleichen oder einer ähnlichen Stelle. Der Anonymus des vierzehnten Jahrhunderts und das Kind und der Jüngling Goethe bilden hier eine über allem Persönlichen stehende heilige Volksgemeinschaft, – diese ist es die in beiden singt, aus beiden spricht, nach gleicher Weise, im gleichen Herzenstone, im Einen vorwärtsdeutend ewig, im Anderen rückhorchend ewig“ (S. 462f.). Ebenso stünden auch die „Divan Gnomen“ Goethes „jenseits von ihm“ und wiesen über seine Zeit hinaus, so daß sie „erst in seinem Volke, nicht mehr in seinem Leben“ (S. 463) wirken konnten.201 Insgesamt lasse sich „der Aufbau der Seele des deutschen Volkes“ (S. 464) an der Entwicklung des dichterischen Tons einer „heiligen Volksgemeinschaft“, deren unveränderliche Ewigkeit jederzeit vorausgesetzt wird, ablesen. Den Literaturgeschichtsschreiber hat Borchardt dabei wie den Philologen und den Historiker „in die Tasche gesteckt“ (S. 461). Ihm geht es um das Sichtbarmachen des „poetischen Vermögens der Volksgesamtheit“ in seiner „höheren Geschichte“: Auch so erklärt sich der vermeintlich anmaßende Titel von Borchardts Sammlung. Versucht man nun, Borchardts Hinweisen folgend, an der Anordnung und den Themen der Gedichte der Anthologie die Entwicklung des Tones der deutschen Poesie und damit den „Aufbau der Seele des deutschen Volkes“ abzulesen und nachzuvollziehen, so wird man feststellen, daß Ewiger Vorrat deutscher Poesie von zwei Themen dominiert wird, die schon in den beiden ersten Gedichten anklingen: die himmlische Liebe – als Liebe des Menschen zu Gott („Gottes Lob“, S. 7) – und die irdische Liebe – als Liebe zwischen Mann und Frau („Ballate“ des Kristan von Hamle,

201 Diese Gedanken übernimmt Borchardt weitgehend von Hofmannsthal, der in sein 1922 veröffentlichtes Deutsches Lesebuch drei Stücke von Goethe aufnimmt und dies in seiner Vorrede ebenfalls damit begründet, daß Goethe „als ein lang und gewaltig Lebender dreien Geschlechtern“ (viiif.) zugehöre und – dieselbe Vorstellung wie bei Borchardt – „als der Volksgeist selber“ (ix) rede. Vgl. S. 139 dieser Arbeit.

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S. 8). Diese beiden Themen sind das ganze Buch über in unterschiedlichen Gewichtungen und Variationen präsent. Die Gedichte, die die himmlische Liebe zum Thema haben, sind im ersten Teil des Buches sehr dominant und durchweg christlich, also monotheistisch. Verschiedene Sprechsituationen können unterschieden werden, die häufigste ist das Gebet, die Anrede Gottes durch ein „Ich“, z.B. in Knorr von Rosenroths „Morgenglanz der Ewigkeit“ (S. 84). Auch Maria, die Mutter Gottes, kann hierbei die Angerufene sein (so in Goethes „Gretchen“, S. 25f., oder in Novalis’ „Marienstrophe“, S. 290). Eine andere Sprechsituation stellen Texte dar, bei deren Lektüre eine Gemeinde mitgedacht werden muß, wie es bei Kirchenliedern der Fall ist. Hier ist von „wir“ und „uns“ die Rede, also: „Ein feste Burg ist unser Gott“ (S. 60) oder „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (S. 86). Die dritte Gruppe christlicher Gedichte bilden Texte, die sich nach innen wenden und sich einer christlichen Mystik annähern; Meditationen, die ein „Ich“ mit sich selbst abhält: „Ich muß die Creaturen fliehen/ Und suchen Herzens Innikeit,/ Soll ich den Geist zu Gotten ziehen,/ Als dass er bleib in Reinikeit“ (aus Taulers „Spruch“, S. 36). Nach Günthers „Abendlied“ (S. 112) werden die rein christlichen Texte jedoch deutlich weniger und werden später (ab S. 207) abgelöst von einer ganzen Reihe von Gedichten, die ihren Gedankenhintergrund in der antiken Mythologie und ihrer polytheistischen Götterwelt haben. Feiern diese Gedichte durchaus das Heidnische und seinen Rausch, so ist ihnen gemein, daß sie in der gepriesenen antiken Götterwelt ein beseeltes, ideales, aber verlorenes „Fabelland“ (Schillers „Die Götter Griechenlands“, S. 237) sehen; die „Natur“ ist „entgöttert“ (ebd., S. 242) und der Platz dieser Götter nicht mehr das Leben, sondern die Poesie, die allein Zugang zu diesem Reich bietet. So ist wie in Hölderlins „An die Parzen“ (S. 259) das „heilge“ 202 jetzt das Gedicht (und nicht etwa ein frommes Leben), das die Anbindung an das Göttliche garantiert und das wenigstens für kurze Zeit „wie Götter“ zu leben. Zwar gibt es in Hölderlins „Patmos“ (S. 306-315) einen Versuch, Antikes und Christliches zu versöhnen, und in den Gedichten Brentanos („Geistlich Gespräch“, S. 330f. und „Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe“, S. 350-353) so etwas wie eine reuige Rückkehr zum Christentum, aber die rein religiösen Gedichte (von Droste-Hülshoff oder von Mörike) sind im letzten Viertel der Sammlung selten. Allerdings ist auch Schröders „Sonett“ (S. 440), das die Sammlung beschließt, ein christlich religiöses Gedicht, denn wer 202 Borchardt schreibt das Wort gegen den Erstdruck und alle Fassungen als Adjektiv klein; mit Grund, wie Christian Wagenknecht gezeigt hat, vgl. seinen Aufsatz „Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin“ a.a.O., S. 135f.

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anders als Gott könnte der Apostrophierte sein, der in der Lage ist, „die Flammenhand“ entgegenzustrecken und „von jeder runden Himmelswarte“ das in „Kummer“ und „Bedenken“ verborgene „Ich“ zu suchen? So schließt sich ein Kreis. Die Gedichte zu dem zweiten großen Thema der Anthologie, der irdischen Liebe, sind sowohl zahlreicher als die zur himmlischen als auch – im Gegensatz zu diesen – über das ganze Buch gleichmäßig verteilt. In ihnen spricht der Mann zur (oder über die) Frau, nur sehr selten spricht die Frau (etwa in der „Frauenstrophe“ einer unbekannten Dichterin, S. 235). Zu Beginn des Buches ist die Haltung der Frau dem Mann gegenüber, entsprechend der mittelalterlichen Minne-Konzeption, ablehnend. Die unglückliche Liebe bleibt häufigster Gegenstand der Liebesgedichte, sie wird als schmerzhaft oder als bitter (Rückerts drei „Amaryllis“-Sonette, S. 339-341) empfunden. Ist die Liebe nicht an sich schon unglücklich, so sind die Liebenden oft getrennt; Gedichte mit diesem Thema nehmen einen außergewöhnlich großen Raum ein. Die Trennung kann durch den Tod erfolgen (Hallers „Trauer-Ode“, S. 116-121), meist aber erfolgt sie durch eine Reise des Mannes – so gibt es Abschiedsgedichte (die „Ballate“ eines unbekannten Dichters, S. 42f. oder Uhlands „Abreise“, S. 348), Gedichte, die die baldige Rückkehr zur Geliebten feiern (Herders und Uhlands „Die Fahrt zur Geliebten“, S. 163f. und S. 337), und solche, die als die Distanz überbrückende Grüße gedacht sind (die Gedichte der Marianne von Willemer, S. 284 und 286f., von Tiedge, S. 285 oder Lenau, S. 373, mit dem Wind bzw. Rosen als Boten). Das kann man durchaus autobiographisch deuten, da Rudolf und Marie Luise Borchardt während ihrer Ehe immer wieder für lange Zeit räumlich getrennt waren. Andauernde glückliche Liebe wird kaum Gegenstand von Gedichten, Glück gibt es in den Gedichten des Ewigen Vorrats vor allem in kurzen Augenblicken wie in Klopstocks „Das Rosenband“ (S. 122), Goethes „Willkommen und Abschied“ (S. 198f.) oder Arnims „Morgendliches Entzücken“ (S. 338). Zwischen den beiden Gruppen, die die himmlische bzw. die irdische Liebe zum Gegenstand haben, gibt es Gemeinsamkeiten im Vokabular – schließlich geht es ja bei beiden um Liebe. Es gibt aber auch einige mystische Gedichte, in denen sich die Vorstellungsbereiche der himmlischen und irdischen Liebe vermischen, gut zu sehen etwa schon im Titel der „Sant Johans Minne“ (S. 12-19), in der ein „Süsser vatter Jesu Krist“ (S. 13) angesprochen wird, in Philipp Nicolais „Geistlichem Taglied“ (S. 86f.), in dem Jesus als der „Bräutgam“ erscheint, mit dem es zur „Hochzeit“ kommen wird, und am deutlichsten in C. F. Meyers rätselhaftem Gedicht „Die tote Liebe“ (S. 430f.), in dem die tote Liebe als der tote Jesus Christus erscheint.

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Es gibt noch zwei weitere große thematische Gruppen von Gedichten, die zwar nicht unabhängig von den bereits behandelten stehen, aber doch so auffällig sind, daß sie hier eigens aufgeführt werden sollen. Die erste dieser beiden Gruppen vereint Gedichte, die Vergänglichkeit und Ewigkeit zum Gegenstand haben. Vergänglich ist im christlichen Sinn das irdische Leben, ewig das jenseitige Leben der Seele, vergänglich – weil irdisch – sind Liebe und Schönheit, ewig ist die Liebe in der geschworenen Treue. Alle diese Variationen sind auch im Ewigen Vorrat vertreten. Das Weiterleben im Jenseits ist eines der zentralen Dogmen des christlichen Glaubens – beispielhaft sei auf die freudenvolle Schilderung dieses jenseitigen Reiches in Mayfarts „Ein Lied vom himmlischen Jerusalem“ (S. 73-75) verwiesen. (Elendes) irdisches Leben und (herrliche) jenseitige Ewigkeit stehen in einem eigenartigen Verhältnis zueinander, da sie sowohl einen Gegensatz bilden als auch Teil einer gottbehüteten Entwicklung sind, an deren Ende der „Trost des Christenheit“ (Gellert, S. 110) steht. Die irdische, hier stets weibliche Schönheit ist dabei ganz auf die Erde verwiesen, da in der christlichen Ewigkeit nur an ein körperloses Weiterleben gedacht ist. Daher können Gedichte, die die vergängliche irdische Schönheit zum Thema haben, entweder klagen (Schillers „Nänie“, S. 298) oder im Sinne eines carpe diem zum Genuß der beschiedenen irdischen Güter auffordern (Opitz’ „Eile zum Leben“, S. 88f.). Die Mittel, auf Erden eine bescheidene Ewigkeit zu erlangen, sind gering, aber es gibt sie immer dann, wenn der Mensch „auf des Schöpfers Spur“ (Herders „Der Nachruhm“, S. 269f.) selbst etwas schafft, ganz allgemein in der Tat (Goethes „Logenlied“, S. 358) oder in der Dichtung (Höltys „Vermächtnis“, S. 180). Die Poesie erscheint auch hier als die einzige menschliche Äußerung, der die Ewigkeit beschieden ist. Die zweite große Gruppe von thematisch ähnlichen Gedichten umfaßt Tag- und Nachtgedichte. Heines Verse „Der Tod, das ist die kühle Nacht,/ Das Leben ist der schwüle Tag“ („Lied“, S. 417) bringen den Gegensatz, der diese Gedichte eint, zum Ausdruck, parallel zum Verhältnis von Vergänglichkeit und Ewigkeit. Die Zeit Gottes ist der Tag, die Nacht ist des Teufels, für die der Mensch um Gottes Beistand beten muß (wie in Gerhardts, Günthers und Claudius’ „Abendlied“ S. 69-71, S. 112f. und S. 156f.). Für die Liebe ist die Nacht die Zeit des Kummers, aber auch die Zeit der Lust, wie eben in Goethes „Willkommen und Abschied“ (S. 198f.) und in Arnims „Morgendliches Entzücken“ (S. 338). Eine wichtige Rolle spielt im religiösen wie im zwischenmenschlichen Kontext die Nachtigall. Sie singt sowohl von Gott (wie in Grimmelshausens „Trost der Nacht, S. 76f.) als auch von der Liebe (wie in Höltys „An eine Nachtigall“, S. 170f.), im Verlauf des Buches wird jedoch ihre Funk-

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tion immer weniger eindeutig. Dabei lockt sie in eine nächtliche traumhafte, verführerische Welt (Eichendorffs „Die Nachtigallen“, S. 344). Von dieser „Zauberwelt“ handeln zahlreiche Gedichte der Anthologie: Nacht, Wald und Nachtigall sind ihre wichtigsten Elemente. Evoziert wird so ein Ort, dem sowohl etwas Gefährlich-Lockendes (verkörpert etwa in Eichendorffs „Lorelei“, S. 346) anhaftet als auch etwas, das die Gedanken und die Seele in außergewöhnliche Zustände versetzen kann – letzteres ein Vorgang, für den oft das Bild der Reise steht, so in Friedrich Schlegels „Im Walde“ (S. 335f.) oder in Eichendorffs „Mondnacht“ (S. 395): „Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flüge aus,/ Flog durch die stillen Lande,/ Als flöge sie nach Haus.“ Programmatisch wird dieses Zauberreich – es fällt nach der Lektüre dieser Gedichte nicht schwer, es als das Reich der Poesie auszumachen – noch einmal in Tiecks „Ruf der Romantik“ proklamiert: „Mondbeglänzte Zaubernacht,/ Die den Sinn gefangen hält,/ Wundervolle Märchenwelt,/ Steig’ auf in der alten Pracht!“ (S. 363) Noch eine Gruppe von Gedichten gibt es; ihr Thema erscheint erstmals in dem Gedicht, das Borchardt „Der Deutsche“ (S. 33) nennt. In diesem werden einige Motive angeschlagen, die auch in späteren Gedichten des Bandes wiederkehren: Das Pflichtbewußtsein, das in dem Vers „Und kumm dem nach, das mir leit vor“ anklingt, findet sich in verschiedenen Ausformungen auch als Mut oder Tapferkeit, stets verbunden mit einer bescheidenen und doch selbstbewußten Hochgestimmtheit, die Zweifel an dem eigenen Tun ausschließt – zum Beispiel etwa das Lob des Todes in der Schlacht in Jakob Vogels Landsknechtlied „Römisch Deutscher Ton“ (S. 90): „Kein selgrer Tod/ Ist in der Welt, als so man fällt/ Auf grüner Heid ohn Klag und Leid!“, oder Cissides’ Aufruf zum tapferen Kämpfen in Ewald von Kleists „Preussische Fragmente aus ‚Cissides und Paches‘“ (S. 277f.): „Denkt, was ihr wart,/ Ihr Macedonier! Und seid es noch!/ Und fechtet noch auf Knieen, wenn ihr fallt!“ Ein anderer Zug dieser als vorbildlich und offenbar als typisch deutsch vorgeführten Charaktereigenschaften ist der Fatalismus, der in „Der Deutsche“ so zum Ausdruck kommt: „Was vor mir ist und werden soll,/ Ich mein, ’s beleib mir unverirrt,/ Mir kann nimmehr werden als wol“ (S. 33). Fatalismus ist zugleich ein Teil der christlichen Religion, das bescheidene Sich-Fügen in Gottes Wille, „Wie Gott es fügt,/ So sei vergnügt, mein Wille“, wie es in Flemings „Ergebung in Gottes Willen“ (S. 83) heißt. Vorbildlicher pflichtbewußter Wagemut und fatalistische Hinnahme des gottbestimmten Todes sprechen auch aus den letzten Zeilen von „Huttens Lied“ (S. 4850): „Ich habs gewagt und will des Ends erwarten!“. Die hier wie ja auch in den anderen Anthologien dieser Zeit herausgehobenen Charaktereigenschaften finden sich ebenso in den zahlreichen Preisliedern auf Fürsten

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und Herrscher, die im Ewigen Vorrat verstreut stehen: Tapferkeit und Pflichtbewußtsein etwa werden in Altenburgs „Gustav Adolfs Schlachtlied“ (S. 91) wie in den beiden mit „An Erzherzog Carl“ überschriebenen Gedichten Heinrich von Kleists203 (S. 279 und S. 333) sowie in einigen der versammelten Balladen, am deutlichsten in Uhlands „Taillefer“ (S. 260262), gepriesen; auch Walthers „Preis Deutschlands“, das „Tugend und Reine Minne“ (S. 34f.) lobt, gehört zu diesen Gedichten.204 Es ist dies die poetische Variante jenes „deutschen Geistes“, den Borchardt auch in seinen beiden anderen Anthologien, Deutsche Denkreden und Der Deutsche in der Landschaft, beschwören und verewigen will. Bestätigung findet diese Analyse der den Ewigen Vorrat dominierenden Themen in Borchardts Nachwort, wo es heißt: „Die deutsche Poesie ist von derjenigen aller europäischen Nachbar- und Brudervölker dadurch unterschieden, dass in ihr von den ersten Anfängen bis auf den heutigen und wol den ewigen Tag das Verhältnis des Sterblichen zum Unsterblichen immer wieder aufspringt und fast alle anderen ewigen Relationen des Menschlichen in sich verschlingt.“ (S. 474) Demnach sei es „nicht Zufall sondern Gesetz“ (S. 475), daß zwei derartige das Göttliche anredende Gedichte – eben Spervogels „Gottes Lob“ und Schröders „Sonett“ – die Sammlung eröffnen und beschließen. So ist von Borchardt „die kirchliche Lyrik, als Mark im Rückgrat der geistlichen, folgerecht von Gelenk zu Gelenk der Geschichte durch das ganz Buch kenntlich gemacht worden, im Werke der weltlichen Dichter der geistliche Zug der genauesten Aufmerksamkeit gewürdigt, und hierdurch der Sammlung ihre höchste Einheit gewährleistet.“ (S. 479) Tatsächlich stehen neun der Texte des Ewigen Vorrats auch im Evangelischen Kirchengesangbuch, 205 das als eine der 203 Vgl.: „Vaterländisch war jeder Vers, den Heinrich von Kleist gedichtet hat, und keineswegs nur etwa die Hermannschlacht, weil jeder Vers die Poesie Heinrich von Kleists enthält, nicht weil Heinrich von Kleist vaterländische Poesie hätte hervorbringen wollen.“ („Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 226) 204 Die Aufnahme von Walthers Gedicht steht auch im Zusammenhang mit Borchardts Übertragung der Trobadors (1924), wo mit den von ihm übertragenen Versen „In den hauch mir zeuch ich’s wehen“ Peire Vidals und „Mich muss wunder han“ Konrads Schenke von Landegg sowohl die „Begründung des Heimatlobes“ (Übertragungen, S. 258f.) als auch das „schönste Muster der mittleren Wirkung von Peires Heimatlob“ (ebd., S. 261) dokumentiert sind. Fred Wagner: Rudolf Borchardt and the Middle Ages a.a.O., S. 111f. sieht den Zusammenhang mit dem Gedicht Walthers, erwähnt aber dessen Abdruck im Ewigen Vorrat nicht. 205 Es sind: Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ (S. 60f.), Gerharts „Nun ruhen alle Wälder“ (S. 69-71), Meyfarts „Jerusalem, du hochgelobte Stadt“ (S. 73-75), Knorr von Rosenroths „Morgenglanz der Ewigkeit“ (S. 84), Nicolais „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (S. 86f.), Rists „O Ewigkeit, du Donner-Wort“ (S. 92-95), Gerharts „O Haupt voll Blut und Wunden“ (S. 96-99), Neanders „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“ (S.

2. Ewiger Vorrat deutscher Poesie

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Hauptquellen für die Sammlung gelten kann. Die Ursache für diese angebliche Neigung der Deutschen zum Allmächtigen und Ewigen erklärt Borchardt nicht; historisch könne sie, so führt er aus, nicht erklärt werden, da auch in anderen Ländern die Kulturgüter „aus geistlichen Händen“ (S. 476) empfangen würden. Allerdings gebe es, während das Geistliche in anderen Ländern lediglich als kulturelle Konvention in Dichtung gelange, in der deutschen Literatur das Geistliche als Haltung auch bei weltlichen Dichtern und Gedichten: „Es gibt kaum einen deutschen Dichter von der geringsten Bedeutung, in dessen Werke die Seele nicht irgendwo kniete und sich aus ihrem Nichts in die bange Gewissheit eines Allmächtigen erhöbe.“ (S. 477f.) Dieses Knieen verbindet auch die beiden Themen der himmlischen und irdischen Liebe, bei der einen kniet der Mensch im Gebet vor Gott, bei der anderen vor der Geliebten. Thematisiert wird dieses Knieen der Seele, um „sich aus ihrem Nichts in die bange Gewissheit eines Allmächtigen“ (S. 478) zu erheben, etwa in Heinrich von Kleists Gedicht „An die Königin Luise“, in dem sich Gottheit und Geliebte vermischen: „In diesem Augenblick, da ich auf Knieen,/ Um dich zu segnen, vor dir niedersinke.“206 (S. 316) Die Erkenntnis, daß der religiöse ernste Ton der deutschen Dichtung sowohl religiösen wie weltlichen Texten eigen ist, ist eine der Leistungen des Ewigen Vorrats, die umso bemerkenswerter ist, da auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem religiösen Anteil gerade deutscher weltlicher Dichtung kaum erst begonnen hatte.207 Borchardt geht es um das Herkommen der deutschen Dichtung und ihrer speziellen Eigenheit, einem bestimmten Verhältnis des Sterblichen zum Unsterblichen. Seine Sammlung will nicht die Genese der deutschen Poesie als Spiegel der deutschen Sprachgeschichte oder der deutschen Nationalgeschichte darstellen, schon gar keine Reihe von ‚großen Geistern’, den Dichtern der Gedichte. All das ist dem Herausgeber, wie zu zeigen sein wird, höchst gleichgültig. So ist die Religiosität der Gedichte im Ewigen Vorrat eine doppelte: Die Urreligiosität der Poesie und die Religiosität des christlichen Gottglaubens. Beide vereinigen sich mit dem deutschen Volksgeist: „Christlich ist der Geist der deutschen Poesie darum, weil das Christen101f.) und Claudius’ „Der Mond ist aufgegangen“ (S. 156f.), vgl. das Gesangbuch für die evangelische Kirche in Württemberg. Stuttgart 1912. 206 Zu den zahlreichen Kniefällen in Borchardts Werk und deren Deutung als Bedingung für Schöpfung vgl. Kissler: “Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 132-139. 207 Vgl. etwa die ab 1920 entstandenen Arbeiten Herbert Schöfflers: Protestantimus und Literatur (Leipzig 1922) und die Sammlung Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Essays zur Geistes- und Religionsgeschichte (Göttingen 1956) sowie die Einleitung bei Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft (Göttingen 1968), S. 7-36.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

tum der Geist der deutschen Geschichte ist.“ Daher könne das Christentum sich auch „in Klopstock, in Goethes Iphigenie (dem christlichsten aller deutschen Dramen), in Mörike, in Gottfried Kellers Erzählungen und wo nicht sonst“208 in deutscher Literatur zeigen. Borchardt erkennt bisher weitgehend als weltlich rezipierte und anthologisierte Dichter als religiöse Dichter und druckt so statt den bekannten in erster Linie Gedichte ab, die bisher vernachlässigt wurden, von Walther also nicht „Under der linden“, sondern das „Gebet“ „Mit sälden müesse ich heute uf stehn“ (S. 11), von Brentano also nicht „Zu Bacharach am Rheine“, sondern „Geistlich Gespräch“ (S. 330f.) und von Mörike nicht „Er ist’s“, sondern die von Borchardt so genannten „Sonett“ (S. 389) und „Neue Liebe“ (S. 412). Borchardt gibt als Vorbild und Anreger des Ewigen Vorrats und des von ihm angewandten Verfahrens Francis Turner Palgraves 1861 erstmals erschienene Anthologie englischer Lyrik The Golden Treasury 209 an. Der Dank an diese schon zu Borchardts Zeit klassisch gewordene Sammlung leitet sein Nachwort210 ein und beansprucht damit „mit dem Danke des nacharbeitenden Deutschen an einen vorangeschrittenen Briten“ für seine Sammlung eine ähnliche Klassizität. Tatsächlich haben diese und „das einzige Muster- und Meisterwerk“ seines „Verfahrens“ (S. 443) ein ähnliches Ziel, beide wollen etwas jenseits der versammelten Poesie Liegendes veranschaulichen: Borchardt geht es um „Aufbau und Seele des deutschen Volkes“, Palgrave will „the natural growth and evolution“ des „English mind“ in Gedichten nachzeichnen. Auch die Konzentration auf das Lyrische – Humoristisches, Zeitkritisches oder Lehrhaftes fehlt hier wie dort – und die die Chronologie überwindende, eigene thematisch oder formal zusammengehörende Blöcke schaffende Ordnung verbindet beide. Palgrave unterteilt seines Sammlung allerdings in vier zeitlich abgeschlossene, Shakespeare, Milton, Gray und Wordsworth zugeordnete Bücher. Die beiden Sammlungen haben genau besehen nicht viel gemeinsam. Die Eigenheit des Ewigen Vorrats ist ohne Vorbild, und der exponierte Hinweis auf Palgraves Sammlung scheint eher eine der bei Borchardt üblichen Provokationen seines deutschen Publikums zu sein, dem er die englische Überlegenheit auf literarischem und kulturellem Gebiet gern vorhält, ne208 „Dichtung und Christentum“, Prosa IV, S. 205f. 209 Francis Turner Palgrave (Hrsg.): The Golden Treasury of the Best Songs and Lyrical Poems in the English Language. (1861) Sixteenth Thousand. Cambridge 1863. Das Exemplar aus Borchardts Besitz befindet sich im Rudolf Borchardt Archiv München. Zum Zusammenhang von Palgraves Sammlung und dem Ewigen Vorrat vgl. auch Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 177-189. 210 Zwei sonst sehr verschiedene Entwurfsfragmente für das Nachwort haben als einzige Gemeinsamkeit ebenfalls den Dank an Palgraves Sammlung (DLA).

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ben dem „auch hier wie so oft vorangeschrittenen Briten“211 etwa auch bei der Gartenliteratur, 212 der öffentlichen Rolle des Dichters 213 und dem Buch- und Verlagswesen allgemein.214 Der Aufbau des Ewigen Vorrats folgt eher künstlerisch-subjektiven als wissenschaftlich-objektiven Prinzipien, getreu Borchardts Vorhaben, „die bestehenden Sammlungen deutscher Gedichte durch eine grundsätzlich neue Stellung der geistigen Aufgabe und eine im kritischen wie im künstlerischen einheitliche Ordnung zu ersetzen“ (S. 443). Die Chronologie ist aufgebrochen, und in einer fugenartigen Anordnung sind einzelne Blöcke von ähnlichen oder zusammenhängenden Gedichten entstanden, eine Ordnung, bei der darauf geachtet worden sei, „dass im aufgeschlagenen Buche links und rechts gegenständig einander etwas zu bedeuten habe“ (S. 462) und bei der die künstlerische Leistung des Anordnenden durch das Aufeinanderfolgen von Verwandtem und Zusammenhängendem wie durch das Aufeinanderprallen von Gegensätzlichem jederzeit merklich werden soll.215 Themen werden angeschlagen, von anderen abgelöst, wieder aufgenommen unter einem anderen Blickwinkel oder mit einer anderen Problemstellung, Motive werden ausgetauscht, variiert etc. Borchardt selbst gibt in seinem Nachwort (S. 463ff.) Beispiele für solche Gruppen, die allerdings durchaus irreführend sind, suggerieren sie doch Abfolgen, die sich in der Sammlung nicht wiederfinden – gut möglich, daß das Nachwort sich hier auf eine frühere Form der Sammlung bezieht und später nicht mehr geändert worden ist. So folgt in der Entwicklung des deutschen Hellenismus keineswegs Goethes „Wanderers Sturmlied“ (S. 212-216) auf Schillers „Die Götter Griechenlands“ (S. 237-243), folgen darauf nicht Hölderlins „irrer Himmel“ (womit wohl „Patmos“, S. 306315, vielleicht aber auch die „Ode“, S. 236 gemeint ist), Stolberg (S. 181) und die „Landschaft Klopstocks“ („Die Friedensburg“, S. 173-175); so stehen Höltys „erschütternde Mondlieder“ (genau genommen ist es nur eines: „Die Mainacht“, S. 155) zwar neben dem von Claudius („Abendlied, S. 156f.), Goethes „An den Mond“ steht aber nicht „dazwischen“, sondern eben danach (S. 158f.), und „das Hölderlinsche“, sollten damit wirk211 „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“, Entwurfsfragment des Nachworts, DLA. Die einzige englische Rezension von Borchardts Anthologie überschätzt das Vorbild Palgraves ebenfalls: „Herr Borchardt has clearly learnt from Palgrave“; „A German ‚Golden Treasury‘.“ In: The Times Literary Supplement, Thursday, September 16, 1926, p. 610. 212 Vgl. Borchardt an den Rowohlt-Verlag, 27. Februar 1922, Briefe 1914-1923, S. 404. 213 Vgl. „Die deutsche Dichtung im Leben der Nation“, Prosa IV, S. 368f. 214 Vgl. „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“, Reden, S. 353f. 215 Pforte hält dieses Verfahren der „Textmontage“, also die „unvermittelte Nachbarschaft heterogenster Texte“ für ein „Charakteristikum anthologischer Werke“ (Dietger Pforte: „Die deutschsprachige Anthologie“ a.a.O., S.lxxxvi-lxxxviii).

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lich die beiden ersten „Elegien“ (S. 299f.) gemeint sein, folgt nur in sehr großer Entfernung fast 150 Seiten später. Tatsächlich stehen diese am Anfang einer Gruppe von Nachtgedichten, die sich mit Claudius’ „Die Sternsingerin Lise“ (S. 160) und Klopstocks „Die Zukunft“ (S. 161f.) zu erhabenen Visionen steigern. Neben solchen Gruppen von thematisch verwandten Gedichten gibt es auch solche Abfolgen, bei denen bewußt Gegensätzliches nebeneinander gesetzt worden ist – Borchardt selbst erwähnt die Stellung der „Convention der Zeit“ mit „Salis’ zauberhaftem ‚Berenice’“ (das selbst ein Motiv aus Kristan von Hamles „Ballate“, S. 8 variiert) gegen „den Ton [...], der diese Convention bricht und hinter sich lässt“ (S. 465), Goethes „Lili’s Park“ 216 (S. 187-192) – daß dazwischen noch Matthissons „Adelaide“ (S. 186) steht, mag angehen, weil es ebenso ein Beispiel für die „Convention der Zeit“ darstellt. Anderes „fern auseinanderliegendes“ sei „gekoppelt worden“ (S. 465). So steht etwa zwischen den beiden Weihnachtsgedichten „Es ist ein Reis entsprungen“ (S. 54) und „Da droben auf dem Berge da wehet der Wind“ (S. 57) das Tanzlied „Hasel“, in dem es um die Vergänglichkeit der menschlichen Schönheit und die sich erneuernde Schönheit der Natur geht. Zwischen den beiden Gedichten der Marianne von Willemer (S. 284 und S. 286f.), in denen der Wind, einmal als Westwind dem fernen Geliebten und dann als Ostwind von diesem wieder zurück, eine Botschaft bringt, steht ein Gedicht mit verwandter Thematik, Tiedges „Die Sendung“, in dem eine Rose den Boten macht. Zwischen den beiden Balladen Uhlands, „Taillefer“ und „Bertran de Born“, steht der ebenfalls bereits zitierte „Ruf der Romantik“ von Tieck, in dem jene Welt, in der die beiden Balladen angesiedelt sind, beschworen wird; oder es steht, um ein letztes Beispiel zu nennen, zwischen zwei Gedichten, die einen intensiven Moment der Erinnerung an vergangene Zeiten thematisieren – Annette von Droste-Hülshoffs „Im Grase“ (S. 391f.) und Heines „Fragment“ (S. 394) –, Mörikes „Verborgenheit“ (S. 393), in dem zwar auch ein starkes Gefühl zum Ausdruck gebracht wird, dem aber der Aspekt der Erinnerung völlig fehlt. c) „Nichts ist sacrosanct“: Borchardts Umgang mit den Texten Dem unbefangenen Leser können die eigenmächtigen Verstöße gegen die Chronologie leicht als selbstherrlich erscheinen, in Borchardts Umgang mit den von ihm versammelten Texten seiner Anthologie wird auch der 216 Vgl. auch Borchardts Rede „Der Dichter und das Dichterische“ vom 30. März 1920 in: Über den Dichter und das Dichterische a.a.O., S. 99f.

2. Ewiger Vorrat deutscher Poesie

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befangene die Spur des Tyrannen kaum verleugnen können. Dessen Eingriffe in die Texte sind zum Teil erheblich: Gegen den offensichtlichen Willen des Autors stellt Borchardt Verse und Strophen um, verändert einzelne Wörter, fügt Silben ein, verändert Überschriften etc. Dabei verfährt er scheinbar willkürlich und uneinheitlich: Einige Gedichte und Dichter bleiben unangetastet, andere werden drastisch verändert. Der häufigste Eingriff dabei ist das Ändern oder Hinzufügen von Überschriften – er betrifft weit über die Hälfte der Gedichte. Zum einen wird dies durch die Anordnung der Gedichte auf der Seite notwendig, da hier zuerst jeweils die Überschrift, dann das Gedicht, dann sein Autor steht. Setzt man, wie es heute üblich ist, zuerst den Autor, dann die Überschrift und zuletzt das Gedicht, kann man, falls es keine gibt, die Überschrift weglassen. Offenbar wollte man aber nach einem Vorschlag Wiegands „der Gepflogenheit der Bücher und Almanache um 1800“ folgen, „d.h. den eigentlichen Titel in Versalien zunächst […] setzen und den Dichternamen klein darunter“.217 So braucht man aber immer eine Überschrift, damit die erste Zeile nicht leer bleibt. Bei mittelalterlichen Texten, die üblicherweise keine Überschrift haben, ist es durchaus nicht unüblich, ihnen eine zu geben, aber auch spätere Gedichte, die im Original keine Überschrift haben und die in der Regel über ihren ersten Vers wiedererkannt werden – etwa die aus durchnumerierten Zyklen entnommenen Gedichte Heines –, werden von Borchardt mit einer Überschrift versehen. Diese Überschriften lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen; zum einen in solche, die die Gattung der Gedichte bezeichnen, wie „Ballate“ (S. 8, S. 42), „Gebet“ (S. 9), „Spruch“ (S. 36, S. 388), „Sonett“ (S. 72, S. 127, S. 440) oder „Ode“ (S. 236); zum andern solche, die sich auf den Inhalt der Gedichte beziehen. Diese können zunächst relativ neutral sein wie „Gottes Lob“ (S. 7), „Abendlied“ (S. 69) oder „Trost der Nacht“ (S. 76); andere Überschriften geben eine Art Lesehilfe wie „Römisch deutscher Ton“ (S. 90) oder „Logenlied“ (S. 358). Bei letzterem ersetzt die Überschrift den durch die Absonderung des Gedichts verlorengegangenen Kontext – Goethes „Logenlied“ ist der „Zwischengesang“ einer dreiteiligen Gedichtfolge „Zur Logenfeier des dritten September 1825“.218 Da die originale Überschrift wenig aussagekräftig ist und alleine eher befremdend wirkt, erhält Borchardts Überschrift den zum richtigen Verständnis des Gedichtes nötigen Hinweis auf die Loge. Gravierendere Eingriffe in die Gedichte sind die Überschriften, die diese relative Neutralität aufgeben 217 Wiegand an Borchardt, 23. September 1925, DLA. 218 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Werke. 3. Band: Gedichte. Dritter Theil. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1890, S. 67-70.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

und bereits Teil einer Interpretation sind. So verhält es sich etwa mit dem schon erwähnten „Der Deutsche“ (S. 33), da in dem Gedicht selbst keine Rede davon ist, daß die thematisierte Gesinnung oder Charakterhaltung speziell deutsch sei. Dies ist allein Borchardts Zuordnung und Interpretation. Gedichte, die im Original bereits eine Überschrift haben, erhalten von Borchardt nicht selten eine neue, andere. Hier läßt sich kein System ausmachen: So wird etwa aus Flemings „Auff die Jtaliänische Weise: O fronte serena“ schlicht eine „Arie“ (S. 79f.). Daß aus „Heimkehr“ von Uhland „Die Fahrt zur Geliebten“ (S. 337) wird, läßt sich noch durch die Analogie zu dem thematisch verwandten gleichnamigen Herderschen Gedicht (S. 163f.) erklären, andere Änderungen, etwa warum aus Eichendorffs „Der Einsiedler“ ein „Greisenlied“ (S. 78), aus „Sehnsucht“ eine „ReiseSehnsucht“ (S. 329) oder aus Bürgers „Überall Molly und Liebe“ ein schlichtes „Sonett“ (S. 127) wird, sind nicht nachvollziehbar. Besonders betroffen von Borchardts Änderungen der Überschriften ist Mörike: Aus „Wo finde ich Trost?“ wird „Nachtwache“ (S. 375), aus „Frage und Antwort“ ein „Lied“ (S. 387) und aus „Nur zu!“ ein „Sonett“ (S. 389). Auch Untertitel fügt Borchardt hinzu. Diese sind ebenfalls teils als Lesehilfen zu verstehen wie „mit verteilten Sprechrollen“ (S. 31), teils geben sie philologische Erkenntnisse wieder wie „auf Grund eines älteren Wechsels“ (S. 55). Bei Walthers „An einen Fürsten“ (S. 27) entscheidet der Untertitel sogar einen Streit in der Forschung: Borchardt setzt „Dank für eine mit einer Kerze bescherte Gabe“ unter die Überschrift und entscheidet sich in der Frage, ob in Zeile 1 nun „liet“ (wie in Handschrift C) oder „lieht“ (wie in A) zu lesen ist, gegen Lachmann und Paul für letzteres und präzisiert seine Lesart noch durch die Schreibung „liecht“.219 Diese übrigens unwahrscheinliche220 Lesart macht Borchardts Überschrift „An einen Fürsten“ erst möglich und fügt Walthers Gedicht damit in eine Reihe ähnlicher an Fürsten gerichteter Gedichte im Ewigen Vorrat ein. Das eigenmächtige Ändern und Einfügen von Überschriften ist ein Akt der Aneignung, mit dem Borchardt die Texte von der Intention ihrer Verfasser entfernt und seiner eigenen Interpretation annähert. Dies ge219 Vgl. Walther von der Vogelweide: Gedichte. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1891, S. 67 und Walther von der Vogelweide: Die Gedichte. Hrsg. von Hermann Paul. 4. Aufl. Halle 1911, S. 109. Allerdings liest auch Bartschs Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts a.a.O., S. 103 „lieht“; Bartschs Ausgabe, die Borchardt wie auch Lachmanns Walther-Ausgabe besaß (vgl. Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt und der Insel-Verlag“ a.a.O., S. 112f.), stellt für einen Großteil der mittelalterlichen Gedichte des Ewigen Vorrats Borchardts Hauptquelle dar. 220 Vgl. Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus“ a.a.O., S. 6.

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schieht noch mehr durch seine Eingriffe in die Texte selbst. Solche Eingriffe sind bei mittelalterlichen Texten nichts Ungewöhnliches, sind hier doch Emendationen und Interpolationen üblich. Gerade bei diesen frühen Gedichten seiner Sammlung jedoch verfährt Borchardt in seinem Bemühen, jedes Gedicht „so schön als möglich“ (S. 460) abzudrucken, äußerst uneinheitlich: Spervogels „Gottes Lob“ ist weitgehend in Gestalt der Handschrift C, wie sie sich in Karl Bartschs Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts findet, wiedergegeben, die anderen Texte aber sind modernisiert. Borchardt behauptet einmal seinem Verleger gegenüber, er habe die Gedichte „analog dem Hartman bearbeitet“ 221 – also nach Prinzipien, die er in seiner Ausgabe des Armen Heinrich (1925) angewandt hat und die jenen verschollenen Prinzipien der „Denkschrift“ entsprechen, die auch auf die „Münster-Ausgabe“ hätten angewandt werden sollen. In Borchardts Der Arme Heinrich ist die Sprache modernisiert, stellenweise werden einzelne oder mehrere Wörter verändert, gleichzeitig ist die Fremdheit der alten Sprache beibehalten worden; oftmals sind ganze Wortgruppen verändert. Dies gilt auch, jeweils in verschiedenem Ausmaß, für Borchardts Einrichtung von Kristans „Ballate“ (S. 7), Wolframs „Minnelied“ (S. 9f.) und Walthers „Preis Deutschlands“ (S. 27) – Saltzwedel spricht hier von einer „Quasi-Übersetzung nahe dem Lautstand des Originals“.222 Auch das Gedicht „Der Deutsche“ (S. 33), das aus dem Augsburger Liederbuch von 1454 stammt, ist auf diese Weise eingerichtet.223

221 Borchardt an Wiegand, 17. Januar 1926, Briefe 1924-1930, S. 114. 222 Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus“ a.a.O., S. 5. 223 Borchardts Quelle ist J. Bolte: „Ein Augsburger Liederbuch vom Jare 1454.“ In: Alemannia. Zeitschrift für Sprache, Literatur und Volkskunde des Elsaszes Oberrheins und Schwabens. 18. Jg. 1890, S. 97-127 und 203-235. Borchardt hatte eine Abschrift davon im Zusammenhang mit der Arbeit an der Sammlung Deutsche Renaissancelyrik erhalten. Ebenso aus dem dafür vorgesehenen Material wählt er für den Ewigen Vorrat „All mein gedencken, dy ich hab“ (S. 41, vgl. Deutsche Renaissancelyrik, S. 341) aus; beide Abschriften tragen den handschriftlichen Vermerk „Vorrat“; auch „Tort und Tort“ (S. 66, vgl. Deutsche Renaissancelyrik, S. 348), und „Ich schell mein Horn“ (S. 46f., vgl. Deutsche Renaissancelyrik, S. 344) finden sich im Konvolut der Renaissancelyrik; letzteres kannte Borchardt aber sicher schon aus der Zeit der „Münster-Ausgabe“, aus der sich eine frühe Übertragung auf der Rückseite von Kristans „Ballate“ erhalten hat. Einen Hinweis auf den Zusammenhang von Ewigem Vorrat und dem Anthologieplan für die Deutsche Renaissancelyrik gibt Schröder in einer Rezension einer Neuauflage von Borchardts Anthologie, wo er „die kleine aber kennzeichnende Auswahl aus dem immer noch nicht gehobenen Schatz deutscher Lyrik, der sich um die Reformationszeit in den Stimmheften der Madrigal- und Motettenkomposition versteckt hält“, lobt (Rudolf Alexander Schröder: „Anthologien“ [Rezension von Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie und Reinhold Schneiders Die Lampe der Toten]. In: Neue Literarische Welt. 3. Jg. 1952, Nr. 4 vom 25. Februar, S. 12).

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

Für seine Textbehandlung und sein Verhältnis zu seinen Quellen, Handschriften und Drucken gilt stets: „Nichts ist sacrosanct.“224 Nur sehr wenige Druckvorlagen für den Ewigen Vorrat haben sich erhalten. Lediglich zu zwei Gedichten sind in Borchardts Nachlaß Blätter überliefert, die zumindest einer Druckvorlage recht nahekommen: Das erste ist eine bereits gesetzte Abschrift des unter dem Titel „Scheidelied“ (S. 103) aufgenommenen „So viel Stern am Himmel stehen“ nach der Liedersammlung von Erck-Böhme mit den Lesarten „nach dem Teutschen Liederbuch für Hochschulen 1823“225 am Rand. Das abgedruckte Gedicht weicht davon allerdings stark ab wie auch von der Fassung des Liedes, die sich in Des Knaben Wunderhorn als „Gruss“226 findet: Die vierte von fünf Strophen fehlt, dazu gibt es zahlreiche Änderungen wie etwa in der zweiten Strophe, wo aus „Ach das kann ich nicht verstehen/ O du bittrer Scheidensschluss!“ in der Vorlage bei Borchardt „Ach dass mir das mün geschehen,/ Scheiden, du viel bittrer Tod!“ wird. Diese Änderungen lassen sich weder dem Blatt, den Lesarten noch der Fassung in Des Knaben Wunderhorn ablesen; es ist daher anzunehmen, daß die Änderungen und damit die abgedruckte Fassung eine Schöpfung Borchardts sind. Das zweite Gedicht, Brentanos „Kind und Mutter“ (S. 318-320), ist in einer maschinenschriftlichen Abschrift erhalten, bei der ebenfalls von Hand Lesarten an den Rand geschrieben sind. Es handelt sich um das Gedicht mit dem Originaltitel „Gesang der Liebe als sie geboren war“ nach „einem Faksimiledruck in der Ausgabe der Werke von Max Preitz 1914“, so die Angabe am Ende des Blattes; die Lesarten sind „nach dem Text im Buch: Achim von Arnim und Klemens Brentano, bearbeitet von Reinhold Steig (Stuttgart 1894)“227 angegeben. Es handelt sich dabei mit großer Sicherheit um die Satz- bzw. Druckvorlage für den Ewigen Vorrat, da alle Korrekturen auf dem Blatt, die offensichtlich von Borchardt stammen, sich auch im Buch finden. Seine Eingriffe sind hier deutlich zu sehen: Er fügt eine neue Überschrift ein, ändert die Interpunktion und entscheidet sich mal für diese, mal für jene Lesart; er verändert die Strophenfolge, und die eigenartige Einklammerung der Strophen 4, 5, 7-10 und 13 findet sich hier ebenfalls verzeichnet. Auch hier entsteht ein Gedicht, das es in dieser Form noch nie zuvor gegeben hat. 224 Borchardt an Wiegand, 17. Januar 1926, a.a.O., S. 115. 225 Gemeint ist: Teutsches Liederbuch zunächst zum Gebrauche für Hochschulen. Stuttgart 1823, Nr. 269, S. 434f. 226 Achim von Arnim und Clemens Brentano (Hrsg.): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Kritische Ausgabe. Band II. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1987, S. 189f. 227 Eine weitere erhaltene Abschrift der Fassung aus Brentanos „Chronika eines fahrenden Schülers“ (1818), DLA, wurde von Borchardt offenbar nicht verwendet.

2. Ewiger Vorrat deutscher Poesie

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Nicht wenige Gedichte sind von Borchardt gekürzt worden. Das ist bei mittelalterlichen Texten, deren Einheit und Strophenabfolge aus den verschiedenen Handschriften oft nicht zwingend ersichtlich ist, noch vertretbar; so fehlt Walthers „Preis Deutschlands“ hier die nur in der Handschrift C stehende letzte Minnestrophe. Auch bei den Kirchenliedern sind solche Kürzungen durchaus üblich, nicht nur, weil diese oft sehr lang sind, sondern auch, weil es der kirchlichen Praxis entspricht, nur ausgewählte Strophen zu singen – wobei Borchardt die meisten Kirchenlieder aber vollständig abdruckt, Mayfarts „Jerusalem“ sogar mit acht Strophen (statt sieben im EKG) und Rists „O Ewigkeit“ gar mit zehn Strophen (gegen vier im EKG); von Knorr von Rosenroths „Morgenglanz der Ewigkeit“ druckt Borchardt dafür nur die ersten drei von fünf Strophen ab. Andere Kürzungen können derart nicht gerechtfertigt werden: So fehlt Grimmelshausens „Trost der Nacht“ die vierte Strophe, wird Hölderlins „Brot und Wein“ nicht nur um Titel und Widmung gebracht, sondern es sind auch nur die Nummern 1 und 2 von neun unter dem Titel „Elegien“ (S. 299f.) abgedruckt, als würden beide Teile nur durch die ihnen gemeinsame Gattung, nicht aber durch eine inhaltliche Einheit zusammengehalten. Ähnliches widerfährt Annette von Droste-Hülshoffs aus dem Zyklus „Die Elemente“ stammendem Gedicht „Wasser“, von dem ebenfalls nur die erste von zwei Strophen – als hätte sie den Rest nie geschrieben – als „Fragment“ abgedruckt ist. Borchardts Rechtfertigung solcher und anderer Kürzungen im Nachwort erscheint etwas rüde: „predigende salbadernde oder deklamierende Langatmigkeiten und Einschübe, vor allem in ältern Gedichten, sind als Selbstinterpolationen des Dichters, als Conzession an die redselige Weitschweifigkeit der Zeit erkannt, die [...] das Gedicht, mit Hölderlin zu reden, sich ‚wortereicher und leerer‘228 gefallen liess, wenn sie nur recht viele Strophen nach der beliebten Weise singen durfte.“ (S. 461) In einem Brief an seinen Verleger rechtfertigt Borchardt seinen freien Umgang mit den Gedichten seiner Anthologie: „Du hast, glaube ich, nicht scharf genug im Auge, dass meine Textbehandlung auf die deutsche Poesie dieselben Grundsätze anwendet, die in der klassischen Philologie herrschen: erstens, die Überlieferung herstellen, gleichgiltig ob sie gut ist oder schlecht; zweitens, wenn sie schlecht ist, das Gedicht des Dichters herstellen. Es liegt kein geistiger Grund vor, Handschriften und Drucke zu trennen, an den letztern zu verbieten was an den erstern zugestanden ist. Älte228 Vgl. Hölderlins Gedicht „Menschenbeifall“, V. 2-4: „warum achtetet ihr mich mehr,/ Da ich stolzer und wilder,/ Wortereicher und leerer war?“ (Gedichte. Hrsg. von Jochen Schmidt. Frankfurt/M. 1992, S. 200)

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re Drucke sind meist schlechtere Quellen als gebildete Handschriften. [...] Der Grund gegen eine evidente Lesung, sie finde sich nicht in den Texten, ist, wenn die Texte so schlecht sind, gar kein Grund.“229 Das „Aperçu“, das das „Richtige“ im Augenblick schafft, bestimmt auch die Einrichtung der Texte im Ewigen Vorrat. In den späteren „Epilegomena zu Homeros und Homer“ heißt es: „Es gibt keinen geistigen Unterschied zwischen einer zerstörten Überlieferung und einer erhaltenen. Jede Überlieferung ist zerstört. Die Motive, auf die alles ankommt, sind auch dort, wo scheinbar überliefert, immer verloren. Sie sind selbst in Briefwechsel, Tagebuch, Autobiographie Selbsttäuschung und Täuschung oder sie sind bereits alte Annahme. Zerstörte Überlieferungen sind nicht dazu da, daß die geschichtliche Kritik Grad und Herd der Zerstörung bis in den Skrupel bestimmt.“230 Unrecht hat Borchardt hier nicht – die Konsequenz jedoch, die er daraus zieht, ist, die verlorenen Motive nicht durch die wahrscheinlichen zu ersetzen, sondern durch seine eigenen. Auf diese Weise ist ihm freie Hand gegeben: Zwar gibt er vor, das Gedicht „des Dichters“ rekonstruieren zu wollen, tatsächlich wird dabei niemand bestreiten, daß bei einem solchen Verfahren zwischen „Freiheit und Dienst“231 eine Fassung entsteht, die, selbst bei größter Einfühlungsgabe des Herausgebers, mehr nach Borchardts als nach dem ursprünglichen Willen des Dichters entstanden sein wird. Solche „Restaurationen und Ipsefacten“ 232 nach dem Vorbild von Des Knaben Wunderhorn sind in Borchardts Anthologie zahlreich. Bei drei Gedichten der Sammlung ist der Anteil Borchardts besonders groß. Das erste ist der unter dem Titel „Der schöne Garten“ im Ewigen Vorrat stehende Ausschnitt aus Ewald von Kleists Gedicht „Der Frühling“ (S. 152-154). Der hier wiedergegebene Text besteht mit einigen Auslassungen und Einschüben aus den Versen 165-199 des Erstdrucks von 1749, enthält aber auch einige Wendungen aus Kleists Manuskript.233 Aber die Veränderungen am Text sind nicht das eigentliche Problem, sondern es ist die Art, wie die Verse präsentiert werden, nämlich nicht als Hexameter mit Auftakt, wie Kleist ihn von Uz’ Ode „Der Frühling“ über229 230 231 232

Borchardt an Wiegand, 17. Januar 1926, Briefe 1924-1930, S. 115. „Epilegomena zu Homeros und Homer“, Prosa II, S. 96. „An Rudolf Alexander Schröder“, Prosa I, S. 408. Clemens Brentano an Achim von Arnim, 20. Mai 1806, Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe I: 1801-1806. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt/M. 1998, S. 376. Arnim und Brentano nehmen sich in ihrer Sammlung von „Volksliedern“ noch mehr Freiheiten heraus als selbst Borchardt: In Des Knaben Wunderhorn befinden sich auch eigene Strophen und Gedichte der Herausgeber. 233 Vgl. Ewald von Kleist: Werke. Erster Theil: Gedichte – Seneca – Prosaische Schriften. Hrsg. von August Sauer. Berlin 1883, S. 173-233 und Ewald von Kleist: Sämtliche Werke. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Stuttgart 1988, S. 26-30 und S. 235-259.

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nommen hatte, einen Vers, auf den er nicht ohne Stolz in seiner „Vorrede“234 verweist. Borchardt dagegen lehnt diesen „Unvers“ (S. 460) in seinem Nachwort ab. Durch ihn erst sei der Vers „zu dem Novenar235 in rhythmisch-lyrischer Prosa gemacht worden, durch anderes Abbrechen, der dem Dichter Kleist im Ohre klang, und den der Klassizist sich als Hexameter mit Vorschlag, etwas was es nicht gibt, einredet“ (S. 460f.). Borchardt spielt hier den Dichter Kleist gegen den „Klassizisten“ Kleist aus: Was jener richtig spürte (was ihm „im Ohre klang“236), macht dieser zuschanden. Borchardt stellt dieses Vergehen wieder richtig und präsentiert den Text, wie er nie war, aber seiner Meinung nach hätte sein sollen – was als Richtigstellung oder Korrektur gerechtfertigt wird, ist tatsächlich wieder nichts anderes als eine Neuschöpfung, ist Borchardts Werk mehr als Kleists. Ein weiteres Beispiel für schwere Eingriffe Borchardts in die Texte seiner Anthologie ist sein Umgang mit Heine.237 Von diesem sind sechs Gedichte in den Ewigen Vorrat aufgenommen, vier davon sind ganz abgedruckt, wenn auch mit neuen Titeln, zwei davon, die Borchardt mit „Fragment“ überschreibt, sind an mehreren Stellen mit Auslassungsstrichen (- - - -) versehen, um fehlende Verse oder Worte anzudeuten. Tatsächlich sind beide Gedichte unvollständig wiedergegeben – und nicht, wie die Überschrift suggeriert, nicht fertiggedichtet oder schlecht überliefert. So gewinnt man bei der Lektüre des ersten „Fragments“ (S. 394) durch die von Borchardt eingefügten Auslassungszeichen den Eindruck, als fehlte am Anfang und am Ende etwas; verglichen mit dem Original, dem XXX. Gedicht von „Neuer Frühling“, stellt man jedoch fest, daß nur am Ende etwas fehlt, da nur die ersten fünf von insgesamt zwölf Versen abgedruckt sind; die Auslassungsstriche am Beginn sind also irreführend. Ein ähnlicher Befund ergibt sich für das zweite Heinesche „Fragment“ (S. 407). Abgedruckt sind hier die Strophen 1 und 5 (von insgesamt sechs) des XLIII. Gedichts aus „Lyrisches Intermezzo“; zwei Strichzeilen deuten zwischen den Strophen eine unbestimmte Menge von fehlendem Text an, drei Striche am Ende der letzten Zeile (hier fehlt gar nichts, außer daß ein Ausrufezeichen zu einem Punkt geworden ist) und eine Strichzeile im 234 Ewald von Kleist: Sämtliche Werke a.a.O., S. 9. 235 Das Wort „Novenar“ ist ein Neologismus Borchardts, die Eindeutschung des italienischen „novenario“, ein Vers, bei dem die achte, vorletzte Silbe betont wird. 236 Vgl. zu dieser Formulierung Borchardt an Herbert Steiner, 31. August 1911, nach dem die Muse „das Gewissen des Ohrs und der Seele“ ist (Briefe 1907-1913, S. 374): Auch dieses Gespür ist also eingegeben. 237 Zu Heine im Ewigen Vorrat Anthony Phelan: Reading Heinrich Heine. Cambridge 2007, S. 123-128.

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Anschluß an diese Strophe ersetzen weiteren Text von unbekannter Länge. Diese Zurichtung der Gedichte Heines rechtfertigt Borchardt in seinem Nachwort auf immerhin mehr als zwei Druckseiten. Er wirft dem Dichter Heine vor, ein „trübes und äffisches“ (S. 458) Werk hinterlassen zu haben, das dieser, offenbar aus fehlender Selbstachtung, „calculierend“ vor allem auf „Eindruck“ und Effekt hin und mit innerer Kälte („Mangel an jeder selbstbewussten und liebevollen Natur“, S. 458f.) gedichtet habe. Obwohl Heine durchaus echte Anfänge habe, sei er doch ein Dichter, der nach diesen „nur mit der Fratze seiner selber zu enden vermag, und als Komödiant, zwischen den Fusslichtern Applaus erpressend, den falschesten Ton neben dem wahren aufruft um sicher und gewiss der Held der Minute zu bleiben“ (S. 459).238 Um Heines „Anfänge“ zu erhalten, greift Borchardt zu einem ungewöhnlichen Mittel: Er druckt sie so ab, als wären sie nicht „zu Ende gefälscht“ (S. 460) worden, sondern – wie antike Texte oft – nur als „Citate“ überliefert; daher die fragmentarische Zurichtung eigentlich gar nicht fragmenthafter Texte. Es fällt auf, daß Borchardt diese Sonderbehandlung nur Heine zukommen läßt – wieder wittert man den Willkürherrscher. Immerhin kann Borchardts Verhältnis zu Heine durchaus als ambivalent gelten, so hat sich aus dem Jahr 1906 der Anfang eines „Versuch über Heine“ erhalten, in dem bei aller Kritik doch die Wertschätzung für diese „sonderbarste aller Personen“239 überwiegt, und sogar im Nachwort des Ewigen Vorrats nennt er ihn „einen dichterisch ausserordentlich begabten Geist, dessen stilkritische Erfahrungen nicht hoch genug angeschlagen werden können“ (S. 458). Dennoch ist Borchardts Freilegung von Heines vermeintlichen „Anfängen, die nicht weitergehen“ (S. 459), eine Provokation und ein Angriff auf den Dichter, dessen dichterisches Vermögen sich dem des Anthologisten beugen muß. Daß Heine so ein (vermeintlich) besserer Dichter wird, aber nicht mehr Heine ist, hat schon Eduard Korrodi in einer zeitgenössischen Rezension festgestellt. Lasse man bei obigem Gedicht, dem XLIII. des „Lyrischen Intermezzo“, nämlich die letzte Strophe – „Ach! Jenes Land der Wonne,/ Das seh ich oft im Traum;/ Doch kommt die Morgensonne/ Zerfließt’s wie eitel Schaum.“ – weg, fehle dem Gedicht die typische ironische „Heinesche Attitüde und Unterschrift“.240 Die Evokation eines märchenhaften Sehn238 Vgl. auch Karl Kraus: „Heine und die Folgen.“ In: Die Fackel 13. Jahrgang, Nr. 329/330 vom 31. August 1911, S. 1-33, besonders den letzten Absatz S. 33: „Heine hat aus dem Wunder der sprachlichen Schöpfung einen Zauber gemacht. […] Das Geheimnis der Geburt des alten Wortes war ihm fremd“ etc. 239 „Versuch über Heine“, Lord & Bettler, S. 150. 240 Eduard Korrodi: „‚Ewiger Vorrat Deutscher Poesie.‘ Zu Rudolf Borchardts Anthologie.“ In: Die literarische Welt, 27. August 1926, S. 5.

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suchtslandes darf bei Borchardt durch die ironische Brechung nicht zerstört werden.241 Ist Borchardts Einrichtung der Gedichte Ewald von Kleists und Heines in erster Linie gegen das dichterische Vermögen und Unvermögen ihrer Verfasser gerichtet, so stellt Borchardts Umgang mit Hölderlins „Hälfte des Lebens“, 242 das im Ewigen Vorrat als „Skizze zu einer Ode. Hälfte des Lebens“ (S. 354) erscheint, einen weit skandalöseren Fall dar (der auch gleich als Skandal rezipiert wurde): allerdings weniger einen Angriff auf Hölderlin, sondern auf seine Leser und die HölderlinPhilologie, nicht zuletzt auf den George-Kreis. Dabei ist das Gedicht, einer der neun „Nachtgesänge“, eines der wenigen unproblematischen Texte Hölderlins, gibt es doch eine Druckfassung, die im Taschenbuch für das Jahr 1805. Der Liebe und Freundschaft gewidmet 243 vorliegt. Die zweite Strophe des Gedichts etwa sieht bei Borchardt so aus: –––––––––––– Und trunken – von Küssen – tunkt ihr das – – – – – Haupt ins heilig Nüchterne Wasser – – – – –

Borchardt erwähnt dieses Auffüllen von Hölderlins Gedicht zu einer unfertigen alkäischen Ode in seinem Nachwort nur nebenbei, fast gar nicht (S. 483). Da dieser Eingriff aber ein „Skandalon“ 244 darstellt, das seine Zeitgenossen nicht unwidersprochen hinnehmen können, muß sich Borchardt nach einem Artikel des Hölderlin-Herausgebers Zinkernagel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3. Juni 1926245 rechtfertigen. Er tut dies in einem Brief an die Zeitung vom 20. Juni 1926.246 Zunächst läßt Borchardt darin das Argument, es liege doch eine gesicherte Druckfassung vor, nicht gelten, denn die „Versreihe“ gehöre „in die Epoche geistiger Trübung des Dichters247 und der ‚Publikationswille‘, der sie noch in dieser Gestalt hat 241 Vgl. Gretz: Die deutsche Bewegung a.a.O., S 305. 242 Zu Borchardts Fassung von „Hälfte des Lebens“ vgl. Anm. 179 auf S. 207 dieser Arbeit; zu Borchardts Verhältnis zu Hölderlin allgemein, auch zu weiteren, kleineren Eingriffen in „An die Parzen“ (S. 259) und „Patmos“ (S. 306-315) vgl. Christian Wagenknecht: „Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin“ a.a.O. 243 Vgl. Friedrich Hölderlin: Gedichte a.a.O., Text S. 320 und Kommentar S. 835f. 244 Vgl. Christian Wagenknecht: „Rudolf Borchardt und Friedrich Hölderlin“ a.a.O., S. 138. 245 Franz Zinkernagel: „Hölderlin und Borchardt.“ In: Neue Zürcher Zeitung, 3. Juni 1926 Morgenausgabe, S. 2. 246 „Hölderlin und endlich ein Ende. An den Herausgeber der Neuen Zürcher Zeitung“, 1928 wiederveröffentlicht in Handlungen und Abhandlungen, jetzt in Prosa I, S. 383-385. 247 Dies ist nicht ganz richtig: Zwar ist das Jahr 1805 das Jahr von Hölderlins Zusammenbruch, der Kalender erschien aber bereits Ende 1804. Die Gedichte wurden also von Hölderlin früher zusammengestellt – tatsächlich datiert ein erster Entwurf schon auf 1799, vgl.

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drucken lassen, hat methodisch keinen Überlieferungswert“. Das Gedicht, das „keine literarisch feste Form besitzt“, erklärt Borchardt – eine Formulierung Zinkernagels aufnehmend – als ein sowohl geronnenes als auch im „Rinnen“ begriffenes. Nicht aber im Sinne eines literarischen Entstehungsprozesses von Fassung zu Fassung, sondern als einen Ausdruck von Geisteskrankheit: Der kranke Hölderlin habe an einem „pathologischen Parallelgraphismus“ gelitten, daher sei hier auch der Versuch einer philologischen Behandlung, ja ein Abdruck überhaupt ganz und gar fehl am Platz: „Wer in der Irrlichterwelt dieser sterbenden Übungen eines unglücklichen Genies philologische Kritik treiben will, führt seine Technik selber ad absurdum.“ Was Borchardt mit seiner „Hypothese“ im Ewigen Vorrat also versucht, ist, „die letzten soliden und gesunden Bildungen zu restituieren, von denen es ein krankes zerfallenes Bröcklein bewahrt; dazu konnte nur der in Trümmern deutlich erhaltene Rhythmus der Verse Anhalte geben“; das heißt konkret: „soviel alkäischen Oden-Rhythmus, wie mein Ohr aus der schillernden Selbstzerstörung jener Verse noch herauszuhören vermag“.248 Borchardts Zurichtung von Hölderlins Gedicht richtet sich allerdings eben nicht gegen Hölderlin selbst, sondern gegen die „Hölderlinkrankheit des angehenden zwanzigsten Jahrhunderts“.249 Diese sieht Borchardt zunächst in der Hölderlin-Philologie und deren „völligen Mangel an Ernst, an geistiger Rechtschaffenheit und Energie, an künstlerischem Sinn und an Arbeitswillen“. 250 Seine Fassung von „Hälfte des Lebens“ ist damit „der öffentliche Protest gegen das allmählich ruchlos werdende Operieren mit dem und an dem kranken Hölderlin, zu dem die sehr geringe und sehr wenig vertiefte Befassung mit dem gesunden das selbstverständliche Komplement macht“.251 Was er der Hölderlin-Philologie vorwirft, ist ihre Schätzung der späten Werke Hölderlins; so kann er nur den „armen Hel-

248 249 250 251

Schmidts Kommentar a.a.O., S. 835. Hölderlins Gedicht findet sich bereits mit der Anmerkung „stammt aus der Zeit seiner geistigen Trübung“ (S. 374) abgedruckt in: Die Insel. 2. Jg. 1901, Viertes Quartal, September, S. 261 – das Heft, das von Borchardt auch die „Heroische Elegie“ (S. 315-318) und „Drei Gedichte aus dem Buche Vivian“ (S. 370-373) enthält. „Hölderlin und endlich ein Ende“, Prosa I, S. 383f. „Note“ zum Wiederabdruck von „Hölderlin und endlich ein Ende. An der Herausgeber der Neuen Zürcher Zeitung“ in Handlungen und Abhandlungen, Prosa I, S. 405. Borchardt an Max Rychner, 31. Mai 1929, Briefe 1924-1930, S. 313; hier geht Borchardt noch einmal auf seine Haltung zu Hölderlin im allgemeinen und im Ewigen Vorrat im besonderen ein. „Hölderlin und endlich ein Ende“, Prosa I, S. 384. Seine Ablehnung des angeblich durch Hölderlins Krankheit der Philologie verbotenen Spätwerks hindert ihn nicht daran, im Ewigen Vorrat Hölderlins „Patmos“ mit dem Verweis „Hölderlin, (halbumschattet, im Stile Pindars.)“ (S. 315) abzudrucken.

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lingrath“ bedauern, der „aus dem Scheiterhaufen der Hölderlin-Nachlässe jene Karikatur einer vollständigen Ausgabe“ gemacht habe, und Hölderlins Pindarübersetzungen als dilettantische Interlinearversionen „im Hirnzerfall der Dementia Praecox“ abtun – beides zielt auch auf die Art der Wertschätzung Hölderlins im Kreis um George allgemein.252 Ebenso, und auch dies muß man auf den George-Kreis beziehen, richtet sich Borchardts Angriff gegen die „Hölderlinlimonade einer schlaffen, impotenten und verweichlichten Generation von Wortemachern“253 sowie – und das zielt wohl eher auf den literarischen Expressionismus – gegen eine „kranke und zerrissene Zeit, die [...] das Dichterische fast nur noch da aufsaugt, wo es sich im Kulturtode oder im Individualtode gräßlich dekomponiert“, und welche nun „mit Härte darauf gestoßen werden“ müsse, „daß ein fragmentarischer Entwurf kein Kunstwerk ist“.254 Letztlich geht es Borchardt auch darum, dem Leser seiner Anthologie solche „unbequemen und unopportunen Wahrheiten“ zuzumuten: „Es ist nicht die einzige Seite meiner Sammlung, in der ich als Freund meines Volkes, aber als strenger Freund, ihm durch einen Wink, der in der Wahl oder in der Form liegt, eine bittere Lehre gebe“ – hier heißt sie: „Hölderlin und endlich ein Ende“.255 Borchardt hat am Ende des Ewigen Vorrats eine „Notiz“ eingefügt, in der es heißt: „Die Gedichte [es folgen die Seitenangaben für dreizehn Gedichte] sind in allen Handschriften und ältern wie neuern Drucken mehr oder minder fehlerhaft überliefert und erscheinen hier zum ersten Male in kritischen Herstellungen, für die durchweg auf das gesamte geschichtliche Material zurückgegangen ist, und für die der Herausgeber die wissenschaftliche Verantwortung trägt. Überhaupt beruhen alle Änderungen und Abweichungen der Texte von den giltigen Ausgaben (die kritischen nicht ausgeschlossen), und bis in die Interpunktion hinein, auf Erwägungen, die an dieser Stelle nicht dargelegt werden können.“ (S. 486) Diese „Notiz“ dient zum einen der Hervorhebung von Borchardts philologischen Verdiensten und der Arbeit, die in der Anthologie über die Auswahl und Anordnung der Gedichte hinaus investiert wurde. Gleichzeitig ist sie auch eine nonchalante Rechtfertigung seiner zum Teil gravie252 253 254 255

Vgl. dazu vor allem Rolf Bulang: „Der entstellte Hölderlin“ a.a.O., besonders S. 225-227. Borchardt an Max Rychner, 31. Mai 1929, Briefe 1924-1930, S. 313. „Hölderlin und endlich ein Ende“, Prosa I, 384f. Ebd., S. 385. Der Umstand, daß die Masse das Leichte eher als das Schwere schätze, ist auch anläßlich von Hofmannsthals Dramen Gegenstand von „An Max Reinhardt. Ein offener Brief“; dort heißt es vier Jahre nach dem Erscheinen des Ewigen Vorrats nicht ohne Ironie: „Hölderlins ‚Archipelagus‘ ist ein Privileg von versteckten Lesern, ‚Hälfte des Lebens‘ steht in den Anthologien.“ (Prosa I, S. 472)

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renden Eingriffe, indem er einerseits „die wissenschaftliche Verantwortung“ dafür übernimmt, zugleich aber die diesen zugrundeliegenden Kriterien – notwendig zur Überprüfung der wissenschaftlichen Leistung – verschweigt. So bleibt die Willkür, die Borchardt bei der Behandlung der Texte zeigt, unergründlich. Tatsächlich verfährt er in der Notiz ebenso willkürlich: Unter den einzeln aufgeführten Gedichten sind zahlreiche anonyme – „Kampf um die adlige Rosenblume“ (S. 20-22), „Der Deutsche“, „Herzog Uzens Ton“, „Huttens Lied“, „Willst du dein Herz mir schenken“ und das „Scheidelied“ – sowie die beiden Gedichte Schellings, „Hälfte des Lebens“ und Höltys „An eine Nachtigall“, aber nicht das Stück Ewald von Kleists, nicht Brentanos „Kind und Mutter“ und nicht Walthers „Preis Deutschlands“, in die ebenso stark eingegriffen wurde. Die mit diesen Änderungen zum Ausdruck kommende Geringschätzung des Willens der von ihm versammelten Dichter im Namen der Ewigkeit gesteht Borchardt selbst ein: „Die Absicht des Dichters ist ihm [dem Herausgeber] nie massgebend gewesen, wenn diese Absicht dem Dichterischen des Gedichts aus Verkehrtheit schadete, oder wenn der Dichter ein Edles und Höheres, ihm Halbunbewusstes, einer äusseren Absicht opferte“ (S. 460). Gegen die Quellen der Gedichte zeigt Borchardt ebenfalls Geringschätzung. So sind die versammelten Texte ihrer Form nach zwar Gedichte, aber ein Teil von ihnen ist anderen literarischen Gattungen entnommen, ohne daß Borchardt dies – außer bei den Ausschnitten aus den Verserzählungen von Wieland und Ewald von Kleist – kenntlich machte. So stammt etwa Grimmelshausens „Trost der Nacht“ (S. 76f.) aus dem Simplizissimus, Goethes „Gretchen“ (S. 25f.) aus dem Faust, Eichendorffs „In der Fremde“ (S. 349) aus Viel Lärmen um Nichts, Tiecks „Ruf der Romantik“ (S. 363) aus Kaiser Oktavianus und Hofmannsthals „Lied“ (S. 432) ist die Rede des Bänkelsängers aus Das kleine Welttheater. Borchardt löst die Gedichte nicht nur aus ihrem Kontext, er schafft auch neue. So fügt er die zunächst getrennt veröffentlichten Gedichte von Claudius, „Der Mensch“ (1780) und die zusammengehörenden späteren „Die Mutter am Grab“ und „Der Vater“ (1788), unter dem Titel „Trilogie“ (S. 167f.) zusammen; aus dem Sonett-Zyklus „Amaryllis“ von Rückert druckt er ebenso stillschweigend die Sonette mit den Nummern 21, 6 und 22 (von siebzig) hintereinander ab und numeriert sie neu mit I, II und III, so daß der Eindruck entsteht, diese drei Gedichte bildeten in dieser Abfolge eine vom Autor (und nicht vom Herausgeber) intendierte Einheit. Auch die anonymen Gedichte des Ewigen Vorrats zeugen von Borchardts Geringschätzung den Quellen gegenüber. Deutsche Liederdichter des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts von Karl Bartsch (sechs Gedichte), Her-

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ders Stimmen der Völker in Liedern (fünf Gedichte), Arnims und Brentanos Des Knaben Wunderhorn (sechs Gedichte) und Ludwig Uhlands Alte hochund niederdeutsche Volkslieder (neun Gedichte) können hier als die wichtigsten Quellen gelten. Keine dieser Quellen jedoch ist – sieht man von dem knappen Hinweis auf Des Knaben Wunderhorn im Nachwort (S. 446) ab – kenntlich gemacht. Stattdessen macht Borchardt Angaben wie „Unbekannter Dichter, bürgerlich, 15. Jahrhundert“ oder „um 1480“. Dies geht einher mit einer Neigung zum Anonymisieren der Texte: „Nach Tauler“ heißt es etwa, statt, wie im Inhaltsverzeichnis richtig, „Tauler“. Eine weitere Neigung Borchardts, die mit seiner Theorie des Volksliedes zusammenhängt,256 ist das Ältermachen der Texte gegenüber den Quellenangaben in den von ihm benutzten Sammlungen, die ja wie etwa Uhlands sehr genau sind. Die „Klage“, von Borchardt als „Osterlitanei“ auf das 13. Jahrhundert datiert (S. 23), ist aus dem 14. Jahrhundert überliefert, das Stück „Mein Sinn hochmütiglich stat“ (S. 33), von Borchardt auf „um 1400“ datiert, ist 1454 aus Augsburg überliefert und die früheste Überlieferung des Weihnachtsliedes „Es ist ein Ros entsprungen“ (S. 54), bei Borchardt „um 1400“, stammt aus dem Jahre 1609; die Liste ließe sich verlängern. Zugunsten seiner Heimatstadt Königsberg wird Borchardt gar besonders kühn: So verortet er das aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach stammende „Willst du dein Herz mir schenken“ bei einem „Königsberger aus Simon Dachs Kreise“ (S. 64) und das Gedicht „Hoffnung hintergehet zwar“ als die „Schlußstrophe eines Gedichtes Königsberger Stiles um 1640“ (S. 100) – tatsächlich stammt es aus Gottfried Kellers rund zweihundert Jahre später in Zürich entstandenem Roman Der grüne Heinrich.257 Selbst Gedichte von Goethe werden im Ewigen Vorrat ihrem Verfasser abgesprochen. Der Verfasser des hier unter dem Titel „An Friederike“ (S. 201f.) in einer sechsstrophigen Version abgedruckten Gedichtes „Erwache, Friederike“ ist nach Borchardt ein „Unbekannter Nachahmer Goethes in Sessenheim“. Zwar steht das Gedicht in der Sophienausgabe258 noch unter den „Gedichten zweifelhaften Ursprungs“,259 aber schon lange 256 Vgl. Borchardts Rezension „Zum deutschen Altertum“ a.a.O. und S. 262-264 dieser Arbeit. 257 Vgl. Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus“, S. 12f. Tatsächlicher Verfasser des Gedichts ist ein Nachfahre Friedrich Logaus, Heinrich Wilhelm von Logau und Altendorf (1693-nach 1740), von dessen Gedicht „Aufmunterung zu guter Hoffnung“ (1725) Keller die zweite Strophe abdruckt. Borchardt war dieser Zusammenhang offenbar unbekannt – nach einer unveröffentlichen Tagebuchnotiz Werner Krafts „ein entscheidender Beweis für sein phantastisches, nicht wissenschaftliches Verfahren“. 258 Johann Wolfgang Goethe: Werke. 4. Band: Gedichte. Vierter Theil. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1890, S. 355f. 259 Vgl. auch den Kommentar ebd. Band 5. Erste Abtheilung. Weimar 1893, S. 215-221.

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vor dem Erscheinen des Ewigen Vorrats war sich die Forschung dahingehend einig, das Gedicht entweder ganz Goethe (nach Schaaf oder Schröder260) oder (nach Maurer und auch heute noch) die zweite,261 vierte und fünfte Strophe Lenz (oder einem anderen „Nachahmer“) zuzuschreiben – Borchardt, der alles einem „Nachahmer“ zuschreibt, widerspricht ohne offensichtlichen Grund diesen Darlegungen. 262 Auch die „Westwind“ (S. 284) und „Ostwind“ (S. 286f.) überschriebenen Gedichte, die leicht verändert und in umgekehrter Reihenfolge im Buch „Suleika“ von Goethes West-Östlichem Divan (1819) stehen, 263 druckt Borchardt unter einem anderen Namen, dem Marianne von Willemers, ab. Hierbei beruft er sich auf einen Aufsatz von Herman Grimm, bei dem Borchardt in Bonn studiert hat, in dem dieser 1869 Marianne von Willemer als – wenn man ihm glauben will – wahre Verfasserin der beiden Gedichte ausmacht und sich dabei auf ein Gespräch mit Willemer aus dem Jahr 1857264 beruft. Grimm veröffentlicht auch die (angeblichen) Originalfassungen der Gedichte, denen Borchardt folgt. Hinter diesen Eingriffen, Neufassungen, Zuschreibungen, Anonymisierungen und Neudatierungen wird eine sehr intensive Aneignung der Gedichte durch Borchardt sichtbar, bei der deren Quellen und Dichter verblassen und bei der im Bewußtsein der Überlegenheit des eigenen poetischen wie philologischen Urteils offenbar nach Gutdünken mit den solcherart angeeigneten Gedichten verfahren werden kann. Wenn Borchardt schreibt: „Nichts ist sacrosanct“, so gilt dies indes nur, weil er gleichzeitig ein neues, eigenes Sacrosanctum konstruiert: den Ewigen Vorrat deutscher Poesie. Darin geschieht alles im Namen einer Ewigkeit, die gleichzeitig die Ewigkeit des Deutschen ist. „Dies ist deutsche Poesie, nicht eine Reihe deutsch dichtender Autoren“ (S. 450), heißt es im Nachwort, und in einem früheren Aufsatzfragment über Horaz schreibt Borchardt, es sei „das Anzeichen einer erkrankten und elenden Epoche [...] sich für Schriftsteller 260 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756-1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt/M. 1987, S. 132 und den Kommentar, S. 844f. 261 In Eibls Kommentar a.a.O. steht „erste“, was natürlich ein Fehler ist, da auch er die zweite und nicht die erste in Klammern setzt. 262 Vgl. auch Borchardts „Epilegomena zu Homeros und Homer“ (1944): „im Sesenheimer Liederbuch wird ein zweifellos nicht goethisches mitgeführt“ (Prosa II, S. 91). 263 Johann Wolfgang Goethe: Werke. 6. Band: West-östlicher Divan. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1888, S. 182f. („Was bedeutet die Bewegung“) und S. 187 („Ach, um deine feuchten Schwingen“). Die Überschriften bei Borchardt stammen von Marianne von Willemer in der Überlieferung Herman Grimms: „Ostwind. Wiedersehen d. 6. Dber 15.“ und „Westwind Rückkehr von Heidelberg Oktober 1815“ (vgl. im Apparat ebd. S. 425f.). 264 Johann Wolfgang Goethe: West-Östlicher Divan. Zwei Bände. Hrsg. von Hendrik Birus. Frankfurt/M. 1994, Kommentar, S. 1265-1267.

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zu interessieren“, denn: „Die herrlichsten Bruchstücke epischer und lyrischer Gedichte werden durch die ganze griechische Literatur hin ohne Namen zitiert mit der bloßen Einführung ‚wie ein Dichter sagt’, weil es dem antiken Urteil genügt daß einmal ein Ewiges in seligen Versen beschlossen und verklärt worden ist.“265 Die Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie beansprucht nicht nur eine poetische und künstlerische Stimmigkeit und Einheit, sondern auch eine philologische und historische „Richtigkeit“: „Gegen die Einzigkeit und Einheit eines solchen Buches wird man letzthin den Widerspruch an seinem Ort zu lassen haben. Denn es ist ein lebendiges geistiges Corpus, das als Ganzes angenommen oder verworfen werden will.“266 d) Der Kanon des Ewigen Vorrats im Vergleich Borchardts Anthologie will einen neuen Kanon etablieren, der ganz bewußt gegen den Kanon seiner Zeit gerichtet ist: Nicht ohne Grund rühmt Borchardt an seinem Vorbild Palgrave die „entschlossene Canonisierung“. Der Ewige Vorrat erlangt seine Bedeutung nach dem Willen seines Herausgebers nicht nur durch das, was er enthält, sondern auch durch das, was er nicht enthält, die Leistung des Buches solle nicht nur im „Zugreifen und Anhäufen“ liegen, sondern ebenso im „Verwerfen des Mitgeschleppten“. 267 So rechtfertigt er den „Salon der Zurückgewiesenen“ in seinem Nachwort Josef Nadler gegenüber: „Aber, da ich einmal die rücksichtslose geistige Durcharbeitung unseres vorgeblichen lyrischen National-Erbes mir zur Aufgabe gesetzt und von dieser Thätigkeit durch viele Jahre nicht gelassen habe, so waren diese Skizzen mit aller ihrer Härte und Herbigkeit unvermeidlich geworden, denn wenn ich Ihnen durchaus darin zustimme, dass der Deutsche wieder das Lesen gelehrt werden muss – das Urteilen gehört zum Lesen und das entschlossene Verwerfen zum Urteilen, und zum Verwerfen mehr als blosser Mut der Unabhängigkeit, nämlich kritische Eigenschaften, die nicht aus der Geschichte allein zu holen sind, sondern eine neue Ästhetik voraussetzen, ein Absolutes neben und im und über dem ewig Relativen.“268 Borchardt, so heißt es in dem Entwurf des Nachworts, fühlt sich zu solchen „Winken“ besonders berufen: „Denn was hier zum ersten Male beschlossen und durchgeführt ist, im 265 266 267 268

„Horaz“ (um 1906/1908), Prosa IV, S. 118f. Gustav Hillard: „Bemerkungen zum Problem der Anthologie“ a.a.O., S. 399f. „Ewiger Vorrat Deutscher Poesie“, Entwurf des Nachworts, DLA. Borchardt an Josef Nadler, 25. Oktober 1924, Briefe 1924-1930, S. 42.

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Abgeräumten noch stärker als im Aufgefahrenen, ist die Dokumentierung und das Diagramm der ersten kritischen Gesinnung, in der sich der Deutsche je seiner abgelaufenen Poesie als einem ganzen gegenübergestellt hat.“269 Diesen Anspruch auf eine völlige Neubeurteilung der deutschen Poesie formuliert ein Abschnitt eines Borchardts Werken geltenden Scherzgedichts seines Freundes Rudolf Alexander Schröder: So zum Beispiel „der ewige Vorrat deutscher Poesie“ (Im Grunde genommen eine ganz gewöhnliche Anthologie Und dazu eine unvollständige; denn es fehlt die Hälfte fast, So z.B. „Wenn du noch eine Mutter hast.“)270

Es fehlt aber nicht nur „Wenn du noch eine Mutter hast“, sondern auch so bekannte und beliebte Gedichte wie Goethes „Erlkönig“ oder das zweite „Wanderers Nachtlied“ („Über allen Gipfeln ist Ruh“), dafür enthält das Buch eine Menge unbekannter Texte anonymer Dichter. Es muß also gefragt werden, was die Borchardtsche Anthologie leistet, da sie Anordnung, Umfang, Vollständigkeit, Repräsentativität und Kanon der etablierten deutschen Literaturgeschichte ablehnt und ihr dagegen eine „heilige Volksgemeinschaft“ als oberste Institution entgegensetzt. Dazu soll der Ewige Vorrat zunächst mit einigen zeitgenössischen Anthologien verglichen werden, die diesen etablierten Kanon repräsentieren oder ebenso gegen ihn stehen: eine für die Schule – der „Echtermeyer“271 –, eine an ein bürgerliches Publikum gerichtete – Will Vespers Die Ernte272 – und eine exquisit–dichterische – Stefan Georges und Karl Wolfskehls Deutsche Dichtung.273 Auf den ersten Blick scheint es unangebracht, Borchardts Ewigen Vorrat mit dem „Echtermeyer“ zu vergleichen, ist doch beider Zielpublikum zu verschieden. Während Borchardt sich an einen idealen deutschen Leser wendet, ist Echtermeyers Anthologie, auch wenn sie für Erwachsene noch ein Hausbuch geblieben ist, in erster Linie für die Schüler höherer Schulen gedacht. Die beiden Hauptthemen des Ewigen Vorrats, geistige und weltliche Liebe, fallen für den „Echtermeyer“ daher weitgehend weg – jene wegen der junghegelianischen Tradition, in der die Sammlung seit ihrem 269 „Ewiger Vorrat Deutscher Poesie“, Entwurf des Nachworts, DLA. 270 Schröder an Borchardt (nicht abgesandt), 11. Januar 1928, Briefwechsel 1919-1945, S. 114. Gemeint ist das damals populäre Gedicht von Friedrich Wilhelm Kaulisch. 271 Theodor Echtermeyer (Hrsg.): Auswahl deutscher Gedichte für höhere Schulen. Hrsg. von Alfred Rausch. 43. Aufl. Halle 1921. 272 Will Vesper (Hrsg.): Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik. München 1906. 273 Stefan George und Karl Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band I: Jean Paul; Band II: Goethe; Band III: Das Jahrhundert Goethes a.a.O. Der erste Band zu Jean Paul kann hier unberücksichtigt bleiben, da er nur Prosa versammelt.

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ersten Herausgeber steht, diese aus Gründen der Moral und Sitte. So finden sich in dem in drei Großkapitel („Natur“, „Kultur“ und „Sage und Geschichte“) eingeteilten Buch in dem Kapitel „Kultur“ nur achtzehn Gedichte zur „Liebe“ (darunter immerhin Goethes „Willkommen und Abschied“, das auch im Ewigen Vorrat steht) und etwas weiter die Kapitel „Gotteserkenntnis“, „Gottesverehrung“, „Feiertage“ und „Kirche“ (gefolgt von „Kunst“) – weniger als fünfzig Seiten von rund achthundert.274 Andere Themen als die von Borchardt versammelten also dominieren den „Echtermeyer“, dessen erstes Ziel sein soll, den Schüler „in die geistige Welt seines Volkes“ einzuführen. So versammelt der erste Teil Naturlyrik, der zweite, „Kultur“, vor allem Gedichte, die deutsche Sitten und deutsches Geistesleben thematisieren, während im dritten Teil Gedichte zur deutschen und europäischen Geschichte versammelt sind – ein Geschichtsbuch in Versen. Vorherrschende Form hier, aber durchaus auch schon in den ersten beiden Teilen, ist die Ballade, die bei Borchardt nur eine Form unter vielen ist. Besonders im letzten Teil wird offensichtlich, daß der Inhalt mehr als die Qualität die Auswahl der Gedichte bestimmt hat. Der „Echtermeyer“ schwankt zwischen dem Vorhaben, einerseits vorbildliche Texte auszuwählen, andererseits aber die thematische Vollständigkeit beizubehalten, die er als Materialsammlung „vaterländischer Poesie“ 275 für den Unterricht an höheren Schulen braucht. Schon die Aufmachung des Buches unterscheidet sich daher deutlich vom Ewigen Vorrat, in dem die Gedichte jeweils auf einer neuen Seite beginnen, während im „Echtermeyer“ die Gedichte in kleiner Schrift eng hintereinander weg gedruckt sind. Auch sind das Papier und der Einband (ein schlichter grauer Pappband) beim „Echtermeyer“ einfacher, was mit seiner Zielgruppe zu tun hat: Der Preis muß bei diesem Umfang – er beträgt etwa das Fünffache des Umfangs des Ewigen Vorrats – niedrig gehalten werden, damit jeder Schüler sich das Buch leisten kann. Es gibt noch einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Anthologien. Im „Echtermeyer“ finden sich – in den Unterkapiteln „Mittelalter bis zur Hohenstaufenzeit“ und „Mittelalter seit der Hohenstaufenzeit“ – zwar Gedichte über das Mittelalter, aber keine Gedichte 274 Ursprünglich waren die Gedichte im „Echtermeyer“ nach zunehmendem Schwierigkeitsgrad und Klassenstufen geordnet. Die dreiteilige Gliederung wurde erst von Herausgeber Alfred Rausch eingeführt, wobei die alte Einteilung weiterhin in einem der Register fortlebt. 275 Aus Echtermeyers erstem Vorwort 1836, zitiert nach Elisabeth Katharina Paefgen: Der „Echtermeyer“ (1836-1981). Eine Gedichtanthologie für den Gebrauch an höheren Schulen. Darstellung und Auswertung seiner Geschichte im literatur- und kulturhistorischen Kontext. Frankfurt/M. 1990, S. 35.

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aus dem Mittelalter. Der „Echtermeyer“ strebt keine Dokumentation der deutschen Sprachgeschichte an, die ältesten Texte liegen diesseits der Grenze zum Neuhochdeutschen, sie stammen von Logau (geboren 1604) und Dach (geboren 1605). Den Großteil der Anthologie nehmen Gedichte von Autoren ein, die im 19. Jahrhundert geboren wurden und lebten. Der Kanon, den der „Echtermeyer“ damit bildet, indem er unzählige Schüler durch die Schulzeit und damit durch die Zeit der literarischen Geschmacksbildung begleitet, ist der, mit dem sich Borchardt in seinem Nachwort auseinandersetzt und gegen den der Ewige Vorrat gerichtet ist. Für Borchardt selbst war der „Echtermeyer“, wie er in seiner Autobiographie „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“ berichtet, für die eigene literarische Geschmacksbildung als eines seiner ersten drei Bücher von Bedeutung. Neben Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums und einer Sammlung von Balladen und Romanzen war „der alte Echtermeyer, ein dicker schiefergrauer Band aller erdenklichen deutschen Poesie, ein Urwald für mich Kind, ein Zauberwald, eine Welt“. 276 Aber die frühe Prägung durch den „Echtermeyer“ verhinderte nicht, daß der erwachsene Mann nun eine völlig anders geartete Sammlung deutscher Gedichte veranstaltet. Man sieht den großen Unterschied zwischen den beiden Anthologien auch schon an der Tatsache, daß sich zwischen den vielen hundert Gedichten des „Echtermeyer“ aus den zwanziger Jahren und den zweihundertsechzehn Gedichten des Ewigen Vorrats nur achtzehn Überschneidungen ausmachen lassen (darunter alle Balladen des Ewigen Vorrats). Viele der im „Echtermeyer“ mit mehr als fünf Gedichten versammelten Dichter sind bei Borchardt gar nicht vertreten: Arndt, Chamisso, Geibel, Gerok, Greif, Hebbel, Hoffmann von Fallersleben, Kerner, Körner, Liliencron, Lingg, Wilhelm Müller, Seidel, Storm, Wildenbruch – alles Repräsentanten jenes 19. Jahrhunderts, das Borchardt als epigonal ablehnt. Der „Echtermeyer“ von 1921 ist dabei – wie die Lehrpläne der Schulen jener Zeit – deutlich älter als sein Erscheinungsdatum vermuten läßt. Trotz einiger Veränderungen und Ergänzungen wurzelt der Grundstock der Sammlung im 19. Jahrhundert, in dem er 1836 das erste Mal erschien; sie ist geprägt von der positivistischen, anti-romantischen und liberalen Gesinnung ihres ersten Herausgebers. 277 So fehlen im „Echtermeyer“ gegenüber Borchardts Sammlung neben den älteren Autoren (Walther, Luther, Fleming oder Gerhardt) und den jüngeren (Hofmannsthal und Schröder) solche

276 „Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt“, Prosa VI, S. 67. 277 Vgl. auch Georg Scherer (Hrsg.): Deutscher Dichterwald. Lyrische Anthologie. 4. Aufl. Stuttgart 1869, der einen dem „Echtermeyer“ vergleichbaren Kanon abbildet.

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bedeutenden Dichter wie Arnim, Brentano oder Novalis – auch Hölderlin ist nur mit zwei Gedichten vertreten. Dem Ewigen Vorrat wesentlich näher als der „Echtermeyer“ steht Will Vespers Sammlung Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, 278 die 1906 erstmals erscheint und also nicht wie der „Echtermeyer“ einen Ballast von Vorgängerauflagen seit 1836 mitführen muß; ihr kann zum Vergleich der geistlichen Gedichte Vespers spätere Sammlung Der deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geistlicher Dichtung279 (1914) zur Seite gestellt werden. An wen sich die Sammlung Vespers richtet und was für ein Programm ihr zugrunde liegt, erfährt man nicht, da sich statt eines Vor- oder Nachworts am Anfang und am Schluß der Anthologie nur je ein Gedicht des Herausgebers – mit denen sich ihr Verfasser offenbar in die Reihe der von ihm versammelten Dichter einreihen möchte – sowie eine kurze Notiz befinden, die eine Liste mit Gedichtbänden anführt und diese zur weiteren Lektüre empfiehlt. Vesper ist bei Erscheinen der Ernte vierundzwanzig Jahre alt und seine Jugend mag eine der Ursachen sein, daß der Kanon seiner Anthologie uns zwar heute kaum originell erscheint, damals aber etwas durchaus Neues darstellt – auf den Bruch in der Entwicklung der Anthologie um 1900 wurde ja schon verwiesen.280 Dennoch hat das Buch nichts Revolutionäres an sich und scheint die Revolution in der deutschen Lyrik und der Neudefinition des Kanons um 1900, denen es folgt, für ein bürgerliches Publikum aufbereiten zu wollen. Es fehlen Quellenangaben und jede Spur von Philologie, aber das Buch ist hübsch aufgemacht, der Einband mit Gold bedruckt, die Seiten sind reich mit Rosenornamenten und -vignetten verziert, die die Kopfzeilen oder leeren Platz auf den Seiten ausfüllen und über das ganze Buch verteilt sind. Die Texte sind chronologisch nach ihren Dichtern geordnet, allerdings ist diese Chronologie ohne ersichtlichen Grund öfters umgestellt. So steht etwa Goethe (1749 geboren) nach Schiller (1759 geboren) und Hölderlin (1770 geboren). Die Sammlung beginnt wie der Ewige Vorrat etwa um 1150 (mit dem anonymen „Du bist min, ich bin din“), wobei Vesper die meisten der mittelhochdeutschen Texte übersetzt („Neudeutsch von Will Vesper“). Das 19. Jahrhundert ist deutlich besser vertreten als im Ewigen Vorrat, mit Autoren, die dort entweder ganz fehlen wie Hebbel, Geibel und Fontane oder nur wenig vertreten sind wie Keller oder Meyer. Auch der Übergang 278 Später ergänzt um: Will Vesper (Hrsg.): Das zweite Buch der Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik. Ebenhausen bei München 1910. 279 Will Vesper (Hrsg.): Der deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geistlicher Dichtung. Ebenhausen bei München 1914. 280 Vgl. S. 100-101 dieser Arbeit.

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zur Gegenwart, die Zeit also, die bei Borchardt fehlt, ist bei Vesper gut dokumentiert: von Liliencron über Spitteler zu Nietzsche, Dehmel, Schaukal und anderen, den Schluß bilden Hofmannsthal und Dauthendey; auch Der deutsche Psalter endet bei Nietzsche. Man erkennt, daß gegenüber dem „Echtermeyer“ eine deutliche Umwertung des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat: Sind dort die Dichter mit den meisten Gedichten noch Schiller mit siebenundsechzig Gedichten, gefolgt von Goethe mit zweiundsechzig und Geibel mit sechsundvierzig Gedichten, so ist bei Vesper Goethe nun eindeutig der beherrschende Dichter mit sechsundsechzig Gedichten (bei viel geringerem Umfang des Buches), gefolgt von Mörike mit siebenunddreißig und Eichendorff mit neunundzwanzig Gedichten. Deutlich abgewertet werden Schiller mit nur noch acht, allerdings recht langen Gedichten, und Uhland, der nur noch mit drei Gedichten vertreten ist. Stärker vertreten sind dafür Hölderlin und die Romantiker sowie Liliencron, der mit immerhin zwanzig Gedichten der am besten repräsentierte jüngere Dichter ist. Die Ernte erscheint gegenüber dem „Echtermeyer“ einer heutigen Gedichtanthologie wesentlich näher, aber auch dem Ewigen Vorrat ist sie ähnlicher, was man an der deutlich höheren Zahl von immerhin neununddreißig Übereinstimmungen sieht. Interessant ist, daß Vesper die Anthologie Borchardts für die Zeitschrift Die schöne Literatur rezensiert hat. Er lobt darin allein, daß in der Sammlung so viele unbekannte Gedichte abgedruckt seien, und bemängelt, daß Borchardt „die deutsche Lyrik von einem so durchaus eigensinnigen, beschränkten Standpunkt, mit solcher Willkür und Anmaßung sichtet, daß man der Sammlung alles zugestehen mag, nur nicht die Berechtigung des Titels“. Der „Standpunkt“ des Herausgebers sei der eines „gebildeten“ und „eingebildeten Humanisten und Artifex“, es sei nicht hinnehmbar, daß man derart gegen die Chronologie verstoße, „nur um zu zeigen, daß man etwas gemerkt hat“. Vesper verweist darauf, was für „niedliche Belanglosigkeiten“ aufgenommen worden seien, während „Wesentliches“ fehle, und hat dabei natürlich seine eigene Anthologie im Sinn. Es erstaunt, daß er am Ende der kurzen Rezension den Ewigen Vorrat dennoch dem „Kenner, der die nötigen Korrekturen an Borchardts Auswahl vornehmen kann“, empfiehlt.281 Weder den „Echtermeyer“ noch die Anthologie Vespers dürfte Borchardt bei der Entstehung des Ewigen Vorrats im Blick gehabt haben. Stefan Georges und Karl Wolfskehls dreibändige Sammlung Deutsche Dichtung 281 Will Vesper: „Ewiger Vorrat deutscher Poesie.“ In: Die schöne Literatur 28. Jg. 1922, Heft 9, S. 416.

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jedoch hat Borchardt zweifellos gekannt;282 auch der Ewige Vorrat läßt sich als Teil von Borchardts lebenslanger Auseinandersetzung mit George lesen. Borchardt übernimmt dabei von den Herausgebern der Deutschen Dichtung zunächst vor allem den Gestus des harten Neubeurteilens des überkommenen Bestands der Dichtung, des Verwerfens und des Neuaneignens.283 So heißt es in der „Gesamt-Vorrede zu Deutsche Dichtung“:284 „dass uns gleicherweise als zeichen eines starken bewegten zeitalters erfreut: der liebende anschluss mit dem gefühl für überlieferung wie auch jene wählerische grausamkeit die ohne bedenken frühere säulen zerreibt um mörtel zu gewinnen fürs neue bauwerk“. Auf diese Wiese wird zweierlei verkündet: eine neue Dichtung, natürlich die Georges und seines Kreises, und ein neuer Kanon von Dichtung, nämlich der der Deutschen Dichtung. Die in diesem Sinne erfolgte Aneignung fremder Dichtung und ihre Integration in das eigene Werk ist in Deutsche Dichtung weit gediehen: So sind die Gedichte in der charakteristischen Schrift, in der George auch seine eigenen Gedichte setzen ließ, gedruckt. 285 Auch die konsequente Kleinschreibung der Substantive und die eigenwillige Interpunktion, die Kommata und Punkte durch einen in der Mitte der Zeile platzierten Punkt ersetzt, wurde auf die in Deutsche Dichtung versammelten Texte angewandt. Diese Eingriffe und eine Anpassung der Orthographie an die eigene werden in der „Gesamt-Vorrede“ gerechtfertigt: „Wie man in allen vernünftigen läuften zu tun pflegt geht die frommheit gegen die verfasser 282 Vgl. Borchardt an Heinrich Goesch, 18. Juli 1900, Briefe 1895-1907, S. 102: „Ich habe Dir unhöflich scheinen müssen, da Du für das freundliche Geschenk des Georgeschen Jean Paul noch unbedankt bist.“ R. A. Schröder rezensierte den ersten Band von Deutsche Dichtung – Jean Paul, ein Stundenbuch für seine Verehrer in: Die Insel. 1. Jg. 1900, viertes Quartal, Juli bis September, S. 244-250. Es handelt sich um einen Verriss, dem Schröder später noch einen weiteren, weitaus aggressiveren Angriff gegen den George-Kreis folgen lassen wird, nämlich in seiner Rezension zu: Blätter für die Kunst. Eine Auslese aus den Jahren 1904-1909. In: Süddeutsche Monatshefte. 6. Jg. 1909, Heft 10, S. 439-449. Borchardts einzige spätere, unveröffentlichte Äußerung über Deutsche Dichtung ist ebenfalls ablehnend: In einer unvollständig erhaltenen (fragmentarischen?) Entgegnung auf eine Rezension des Ewigen Vorrats durch Rolf von Hoerschelmann heißt es über die Sammlung Georges und Wolfskehls, „die er [Hoerschelmann] in seinen Schülerjahren als sie publiziert wurde, augenscheinlich feurig überschätzt hat, dass er auch heute noch da sie mit Recht vergessen ist, die prätentiöse und schlechte Arbeit die sie ist zu durchschauen noch nicht gelernt hat.“ (DLA). 283 Vgl. Jacques Grange: Rudolf Borchardt a.a.O., S. 894, wo es heißt, Deutsche Dichtung und Ewiger Vorrat deutscher Poesie verbinde „le même esprit“. 284 George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band III a.a.O., S. 5. 285 Ausdrücklich wendet sich die „Gesamt-Vorrede“ gegen „die hässliche schrift“, wie sie die Fraktur sei: „Ebenso wird jedes ordnung und schönheit verlangende auge und jeder freund seiner sprache und seines volkes die abschaffung jener verderbten hässlichen schrift begrüssen die man fälschlich als urdeutsche bezeichnet.“ („Gesamt-Vorrede“, Deutsche Dichtung. Band I, S. 5). Man denke auch an die Antiqua der Bremer Presse.

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nicht so weit dass wir sie mit allen schrullen damaliger rechtschreibung abdrucken.“ Gleichzeitig und stillschweigend werden mit diesem Satz aber auch die zahlreichen Änderungen und Kürzungen der Gedichte gerechtfertigt, von denen besonders Platen, Hebbel und – wie im Ewigen Vorrat – Heine betroffen sind.286 Die Stelle ist aber noch in anderer Hinsicht aufschlußreich, klingt doch in dem Wort „frommheit“ die religiöse Verehrung an, die der Dichtung hier – wie auch bei Borchardt – entgegengebracht wird. Am eindrücklichsten wird diese Verehrung – und damit die Übertragung religiöser Symbole auf die Literatur – in den Illustrationen Lechters für die Bände anschaulich. Auf dem Titelblatt des Jean Paul gewidmeten ersten Bandes sieht man einen baumumstandenen Grabhügel, darauf – statt eines Kreuzes – eine Leier. Goethe wird als wolkenverhangener Berggipfel versinnbildlicht: ein Symbol für das Erhabene schlechthin. Die zwölf Dichter des dritten Bandes schließlich werden mit einem von drei Engeln bewachten Rundtempel, zu dem bergan eine Treppe führt, illustriert, als ein Pantheon der Dichtung, unter dem, davon abgesetzt, um den Titel der Sammlung gruppiert wie auf Grabstelen, die Namen der Dichter abgebildet sind. Man findet in der zitierten Passage, um einen letzten Aspekt zu erwähnen, in der Formulierung „schrullen damaliger rechtschreibung“ auch ein Beispiel für den schroffen, diktatorischen Gestus, der den Mitgliedern des Kreises um George oft zu eigen ist und der auch bei Borchardt oft genug auffällt, wenn wie hier die früher übliche Rechtschreibung als schrullig abgetan wird, um durch die eigene, aus heutiger Sicht zweifellos weitaus schrulligere ersetzt zu werden. Goethe ist sowohl für George und Wolfskehl als auch für Borchardt – er nennt ihn den „Meister der Form und der Formen“ 287 – der größte deutsche Dichter. In ihrer „Vorrede der ersten Ausgabe“ begründen die Herausgeber ihre Auswahl damit, daß sie nicht wie andere Sammlungen vor ihnen „das deutschtümlich derbe oder das weichlich empfindsame“288 aus Goethes Werk, sondern „was uns die tiefsten lebensgluten in der schönsten bändigung zu erhalten schien“ ausgewählt hätten. Die Dominanz der Form (der „bändigung“), die für die Herausgeber das Hauptkriterium für die Auswahl aus Goethes Werk war, ist auch ein wichtiges 286 „Alles, was nicht passte, wurde passend gemacht, es wurde weggeschnitten, abgeändert, umgedichtet“, heißt es dazu bei Thomas Karlauf: Stefan George a.a.O., S. 302. Vgl. Ute Oelmanns Nachwort zu: Deutsche Dichtung, Band III, S. 198, wo auch auf den Ewigen Vorrat verwiesen wird. Zu Heine in Deutsche Dichtung vgl. Anthony Phelan: Reading Heinrich Heine a.a.O., S. 113-123. 287 „Die Entwertung des Kulturbegriffes“, Reden, S. 314. 288 George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band II a.a.O., S. 6.

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Element von Georges wie Borchardts eigener Dichtung – so wird aus Goethe nur ausgewählt, was der neuen Dichtung entspricht. George wird damit nicht nur ein Nachfolger Goethes,289 sondern vor allem Goethe ein Vorläufer Georges. Bedeutend für eine Veränderung in der Wahrnehmung des Goetheschen Werkes ist Deutsche Dichtung durch die Tatsache, daß hier erstmals die Gedichte des West-Östlichen Divan seinem übrigen lyrischen Œuvre gleichwertig zur Seite gestellt werden; sie nehmen rund ein Drittel des Buches ein. Durch diese Aufwertung erst erfährt der seit seinem Erscheinen unverstandene und vernachlässigte Divan die Würdigung, die er verdient:290 George erfüllt die Befürchtung und Prophezeiung Goethes aus der „Einführung“ zu den Noten zum „Besseren Verständnis“ des Divan, nach der erst „ein zweytes, drittes nachwachsendes Geschlecht“291 ihn recht zu würdigen wissen werde. Das dergestalt neu begründete Bild Goethes als dem „Verfasser einer formal strengen, symbolischen Dichtung“ jenseits der „moralisierenden Erbauungs- und Erziehungsliteratur“ und der „deutschtümelnden Volkstonsammlungen“ 292 wirkt fort in Georges eigenen Gedichten – explizit auf Goethe beziehen sich „Goethe-Tag“ und „Goethes lezte Nacht in Italien“ 293 –, aber auch in anderen Veröffentlichungen des George-Kreises, in den frühen Schriften Max Kommerells etwa und vor allem in Gundolfs großer Monographie, in der Goethes Werk als Einheit von „Dämonischem“294 und schöpferischer Kraft gedeutet wird. Goethe dominiert auch den dritten Band der Deutschen Dichtung, der Gedichte von zwölf anderen Dichtern unter dem Titel „Das Jahrhundert Goethes“ versammelt – als wären diese Dichter Goethes Jünger. Hauptkriterium für die Auswahl der Dichter ist den Herausgebern dabei ihre Originalität: „Unsere wahl hat nur die verfasser getroffen · deren ton ihnen so eignet · dass er keines andern sein könnte · nicht solche denen einmal ein gutes lied oder eine gute reihe gelang.“295 Gesammelt werden also eher Dichter als Gedichte, ganz anders als bei Borchardt, wo es heißt: 289 Vgl. Gerhard R. Kaiser: „Anthologie: Kanon und Kanonskepsis. George/Wolfskehl, Hofmannsthal, Borchardt“ a.a.O., S. 110f. 290 In einer geplanten, aber nie realisierten Erweiterung der Reihe Deutsche Dichtung mit selbständigen Werken war neben Hölderlins Hyperion von Goethe keiner seiner Romane vorgesehen, sondern eben der West-Östliche Divan. Vgl. Ute Oelmanns Nachwort zu Deutsche Dichtung. Band II a.a.O., S. 107. 291 Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan a.a.O., S. 138. 292 Ute Oelmann: „Nachwort.“ In: Deutsche Dichtung. Band II a.a.O., S. 113. 293 Jenes aus Der Siebente Ring, dieses aus Das neue Reich, Stefan George: Werke. Band I. München 2000, S. 229 und S. 401. 294 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916, S. 3. 295 „Vorrede zur ersten Auflage“, Deutsche Dichtung. Band III a.a.O., S. 6.

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„er [Borchardt, der „Speicherer und Sonderer dieses Vorrats“] kennt nur Gedichte“ (S. 461). 296 In Georges und Wolfskehls Anthologie sind die Gedichte nach ihren Autoren in zwölf Blöcken angeordnet: Klopstock, Schiller, Hölderlin, Novalis, Brentano, Eichendorff, Platen, Heine, Lenau, Hebbel, Mörike und C. F. Meyer. Es konnte dabei allerdings nicht verhindert werden, daß sich, wohl irrtümlich, ein Gedicht eines dreizehnten Dichters einschlich, nämlich Claudius’ „An — als ihm die — starb“, das ohne Titel als letztes unter Klopstocks Gedichten abgedruckt ist. Unter dessen Namen war es bei der Erstveröffentlichung im Almanach der deutschen Musen 1772 irrtümlich erschienen 297 – ein Fehler, der seither aber korrigiert worden war und den beiden Herausgebern hätte bekannt sein müssen. Die „Vorrede zur zweiten Auflage“ des dritten Bandes der Deutschen Dichtung geht ausführlich auf Vorwürfe ein, aus der „Vorrede zur ersten Ausgabe“ sei „eine missachtung Schillers“ herauszulesen gewesen. Sehr nachdrücklich wird nun – es ist die längste Vorrede der drei Bände – wiederum ein neues Dichterbild postuliert, diesmal Schiller betreffend. Abgewertet wird er als Verfasser einer „dichtung aus grundsätzen und zeitideen“,298 also als der Dichter der „Glocke“, der Jungfrau von Orleans oder der Maria Stuart, die „mit der seichten historienmalerei und dem hohlen theaterprunk des 19. jahrhunderts nur einen geschichtlichen wert behalten“ haben. Aufgewertet dagegen wird Schiller als „schönheitslehrer und erzieher“, also als der Verfasser von ästhetischen Schriften (die hier freilich nicht abgedruckt werden) und von Gedichten wie „Gruppe aus dem Tartaros“, „Dithryambe“ und „Nenie“ [sic].299 Hier läßt sich das Verfahren, mit dem in Deutsche Dichtung ein neues Dichterbild installiert werden soll, gut ablesen: Der anerkannte Teil eines Werkes wird abgewertet, während ein bisher vernachlässigter Teil aufgewertet wird. Damit werden aber 296 Vgl. auch Gustav Hillard über den Ewigen Vorrat: Borchardt wollte „nicht die Person, sondern die Poesie, wollte nicht den Dichter, sondern die Gedichte“ („Bemerkungen zum Problem der Anthologie“ a.a.O., S. 397). 297 Vgl. Matthias Claudius: ASMVS omnia sua SECUM portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Boten. Erster Band. Gotha 1882, S. 26 und der Kommentar, S. 500. Borchardt druckt das Gedicht im Ewigen Vorrat unter dem Titel „Neben dem Grabe“ (S. 172) und mit der richtigen Verfasserzuordnung ab. 298 George und Wolfskehl (Hrsg.): Deutsche Dichtung. Band III a.a.O., S. 6f. 299 „Vorrede zur zweiten Ausgabe, Deutsche Dichtung. Band III a.a.O., S. 6f. Vgl. Borchardts „Rede auf Schiller“, Reden, S. 140-174: Auch hier wird der Teil seines Werkes, der „sein schwächster ist, die sogenannten klassischen Dramen von ‚Wallenstein‘ bis ‚Demetrius‘ inklusive“ abgewertet und „seine Prosa“ und die „großen Gedichte wie ‚Die Ideale‘ und ‚Das Ideal und das Leben‘“ (S. 141), später „Das Glück“ und „Nänie“ (S. 171-173), sein „Vermächtnis an die Nation“ (S. 173), aufgewertet.

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auch ausdrücklich die Bewunderer jener nun schlechten Werke – hier die „durchschnittlichen Schillerverehrer“ genannt – diskreditiert, während diejenigen, die den Herausgebern in ihrem Urteil folgen – hier die „strenggläubigsten schönheitseiferer“ –, sich zu der kleinen elitären Gruppe der „verständigen“ zählen dürfen. Von den drei untersuchten Anthologien300 ist Deutsche Dichtung diejenige, die dem Ewigen Vorrat an Absicht und Bedeutung am nächsten steht, jedoch sollte man die Bedeutung der Anthologie Georges und Wolfskehls nicht überschätzen. Man sieht den Einfluß, den die Deutsche Dichtung auf Borchardt und den Ewigen Vorrat hat, schon an der Zahl von sechsundzwanzig Überschneidungen, die zunächst nicht hoch erscheint; dieser Eindruck relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, daß diese Zahl ja nur zwölf Dichter301 der siebzig im Ewigen Vorrat versammelten (zuzüglich der unbekannten) betrifft. In Borchardt Anthologie stehen von neunzehn Gedichten Goethes mehr als die Hälfte, nämlich zehn (die unter dem Namen Mariannes von Willemers abgedruckten mitgezählt), auch in der Deutschen Dichtung. Hölderlin nimmt in Deutsche Dichtung wie im Ewigen Vorrat eine zentrale Rolle ein. Er ist der wichtigste unter den zwölf Dichtern des dritten Bandes:302 in der zweiten Auflage 1910 ist die einzige Änderung gegenüber der ersten die Hinzufügung der von Norbert von Hellingrath entdeckten Hymne „Wie wenn am Feiertage“ als Erstdruck. 303 Der dritte Band der Deutschen Dichtung ist aber auch ohne diese mit Borchardts zeitgleich entstandenem, aber erst 1905 veröffentlichten Gespräch über Formen ein wichtiges Dokument der beginnenden Rezeption von Hölderlins Spätwerk304 – „Hälfte des Lebens“ übrigens fehlt in der Anthologie Georges und Wolfskehls. Mit Ausnahme Hebbels, der gar nicht, und Meyers, der mit nur einem Gedicht vertreten ist, sind die bei George und Wolfskehl anthologisierten Autoren auch diejenigen, die im Ewigen Vorrat 300 Es sei wenigstens in einer Fußnote das eine Gedicht, das bei allen - Echtermeyer, Vesper, George und Wolfskehl und Borchardt - abgedruckt ist, genannt: Es ist Hölderlins „Schicksalslied“ aus dem Hyperion, im Ewigen Vorrat auf S. 439. 301 Goethe und die zwölf Dichter des III. Bandes, aber ohne Hebbel, von dem Borchardt kein Gedicht in den Ewigen Vorrat aufgenommen hat. 302 „Hölderlin […] hätte nach der Meinung Georges und Wolfskehls, auch wie sie ihn damals sahen, fast mit allen Gedichten aufgenommen werden müssen“ (Friedrich Wolters: Stefan George und Blätter für die Kunst a.a.O., S. 220). 303 Die „in diesen tagen aufgefundenen hymne Hölderlins“ („Vorrede zur zweiten Ausgabe“, S. 6) ist hier schlicht „Hymne“ überschrieben (Deutsche Dichtung. Band III, S. 50). Vgl. auch: Hölderlin entdecken. Lesarten 1826-1993 a.a.O., S. 63f. Vgl. auch Edgar Salin: Hölderlin im George-Kreis. Berlin 1950; Hans-Georg Gadamer: „Hölderlin und George.“ (1971) In: Poetica. Ausgewählte Essays. Frankfurt/M. 1977, S. 39-67; Thomas Karlauf: Stefan George a.a.O., S. 406-409. 304 Vgl. dazu auch Ute Oelmanns „Nachwort“, Deutsche Dichtung. Band III a.a.O., S. 193f.

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mit drei oder mehr Gedichten versammelt sind. Die Basis der beiden Sammlungen stimmt also weitgehend überein. Beiden Anthologien ist auch gemein, daß sie gegen einen etablierten Kanon deutscher Lyrik einen neuen, mit der eigenen Sammlung vorgelegten Kanon durchzusetzen versuchen. Borchardt wählt als Metapher für diese Umwertung die eines Verwalters, der ein „moros gewordenes Familienvermögen“ (S. 443) neu zu sichten hat. Bei George und Wolfskehl ist die Zerstörung des etablierten Kanons wesentlich drastischer dargestellt durch „jene wählerische grausamkeit die ohne bedenken frühere säulen zerreibt um mörtel zu gewinnen fürs neue bauwerk“. Das Ergebnis ist bei beiden das gleiche: „dass man also arm ist wo man sich reich deuchte [...] und dass man also reich ist, wo man es nicht vermutet“ (S. 443f.), und: „Es wird offenbar · dass der garten der deutschen verskunst nach dieser lichtung sich nicht ärmer · sondern in um so deutlicherer pracht erweist“. 305 Auch ist beiden Anthologien die halb wissenschaftliche, halb willkürliche Textherstellung gemein,306 außerdem sind beide Sammlungen nicht nur Teil eines dichterischen Programms, sondern auch eines ästhetisch-künstlerischen: der Ewige Vorrat im Rahmen der Bremer Presse, die Deutsche Dichtung innerhalb des George-Kreises und seiner Veröffentlichungen. Dabei hebt sich der Ewige Vorrat von Deutsche Dichtung ab, da er auch in seiner Anordnung als Kunstwerk gelesen werden will, während bei George und Wolfskehl das Künstlerische sich weitgehend auf die buchkünstlerische Gestaltung beschränkt und die eigentliche Anordnung – Goethe vor allem nach Gattungen, Das Jahrhundert Goethes nach seinen Dichtern – vergleichsweise konventionell bleibt. Ein Verdienst von Borchardts Ewigem Vorrat ist – neben seiner Betonung eines religiösen Ursprungs des Tones der deutschen Poesie – besonders im Hinblick auf die Anthologien von Echtermeyer, Vesper und George und Wolfskehl die große Anzahl von unbekannten, oft anonymen Gedichten. Borchardts Leistung, auf einige schöne wie vergessene deutsche Gedichte wieder aufmerksam gemacht zu haben, ist hier die eines Archäologen, und er selbst spricht im Zusammenhang mit dem „Unbekannten“ in seiner Sammlung vom „glückseligen Findergefühle dessen, dem es in jahrelangem Forschen hier und da, zum ersten Male, aus dem Schlafe der Vergangenheit die herrlichen seelenbezwingenden Augen aufgeschlagen hat“.307 Dies betrifft nicht nur die von Borchardt in der „No305 „Vorrede zur ersten Ausgabe“, ebd., S. 6. 306 Zu den wissenschaftlichen Bemühungen vor allem Karl Wolfskehls vgl. Ute Oelmanns Nachworte zu den drei Bänden von Deutsche Dichtung. 307 Ausschließlich diesem Glück widmet sich Werner Krafts Anthologie Wiederfinden a.a.O.

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tiz“ aufgezählten Gedichte, sondern auch andere Gedichte seiner Sammlung, die tatsächlich selbst dem „Kenner“ (S. 480) unbekannt gewesen sein dürften und es bis heute sind, denn für drei der Gedichte im Ewigen Vorrat hat sich bisher keine Quelle ausfindig machen lassen.308 Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Borchardts Kanon deutscher Poesie im Ewigen Vorrat und den Anthologien von Echtermeyer, Vesper und George und Wolfskehl hängen eng mit Borchardts Entwurf einer deutschen Literaturgeschichte zusammen. Aus dem Mittelalter wählt er vor allem weniger bekannte Stücke aus wie „Gottes Lob“ von Spervogel, die „Ballate“ Kristans von Hamle oder die zahlreichen Gedichte unbekannter Dichter. Auch von den bekannten Dichtern wählt er die weniger bekannten, so von Walther nicht die Minnegedichte, sondern die politischen. Aus den folgenden Jahrhunderten – und das ist auch bei Vesper so – sind vor allem anonyme und geistliche Gedichte und Lieder abgedruckt. Die großen Dichter des Barock fehlen mit Ausnahme von Opitz und Fleming vollständig,309 aber die Zeit von etwa 1750-1850 – das „Jahrhundert Goethes“ – ist naturgemäß am besten dokumentiert, besonders die beiden großen Namen Goethe und Schiller, beide mit sowohl bekannten als auch weniger bekannten Texten. Gottfried August Bürger und Heinrich von Kleist ragen heraus. Bürger, der als Dichter nach Schillers Verriß das 19. Jahrhundert über (und auch heute wieder) vor allem als Verfasser der Ballade „Lenore“ bekannt geblieben ist – und im „Echtermeyer“ mit diesem und fünf anderen Gedichten vertreten ist –, war um die Jahrhundertwende weitgehend vergessen und fehlt daher auch bei Vesper und George und Wolfskehl. Borchardt hat vor allem solche Gedichte Bürgers ausgewählt, denen jener schlichte, innige Ton zu eigen ist, der auch den Großteil der anderen Gedichte des Ewigen Vorrats auszeichnet.310 Was Heinrich von Kleists lyrisches Werk angeht, kann Borchardt wohl als der erste gelten, der darauf vor einem größeren Publikum aufmerksam gemacht hat.311 Der kalte Ton von Kleists Gedichten, der militä308 Es handelt sich dabei um „Ballate“ (S. 42), „Mass um Mass“ (S. 58) und „Mund und Auge“ (S. 67). 309 Vgl. Werner Krafts Bemerkung, Borchardt sammle gerade das, „was nicht Barock: Grimmelshausen (Nachtigall-Gedicht)“ (Werner Kraft 1896-1991. Marbacher Magazin 75/1996. Bearbeitet von Jörg Drews, S. 78). 310 Vgl. die spätere Erwähnung von Bürgers Molly-Sonetten als deutsche Aneignung Petrarcas im Brief an Benno Geiger vom 25. Februar 1938, Briefe 1936-1945, S. 287f.; dabei zitiert Borchardt das im Ewigen Vorrat auf S. 127 als „Sonett“ stehende „In die Nacht der Tannen und Eichen“. 311 In der von Helmut Sembdner herausgegebenen Wirkungsgeschichte Heinrich von Kleists Nachruhm (München 1977) befinden sich lediglich Quellen, die die Existenz von Kleists Gedichten, kaum aber ihre Wirkung oder Qualität dokumentieren. Daß, wie Borchardt im

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risch-patriotische Inhalt, die harten Fügungen (die an Borchardts eigene Gedichte erinnern) finden sich in den anderen Gedichten der Sammlung selten. Auch Kleists Gedichte können als Repräsentanten des „deutschen“ Charakters gelesen werden, stellen sie doch in Borchardts Augen „heroische Standhaftigkeit unter widrigsten Bedingungen“ dar, „gestalten jenseits der politischen Aktualität ihrer Entstehung Muster politschpatriotischen Verhaltens“.312 Und auch hier wird der Bezug des Subjekts zum Göttlichem – als das Heldische, Erhabene – gestaltet, etwa in dem Gedicht „An den Erzherzog Carl (nach der Schlacht bei Aspern)“ (S. 333), wo es heißt: „Aber wen ruf ich, (o Herz, was klopfst du!)“.313 Das 19. Jahrhundert wird von Borchardt im Nachwort bekanntlich größtenteils verworfen, obwohl, wie Werner Kraft anmerkt, „fast die Hälfte des Stoffes“314 aus demselben stammt. Die Dichter des 19. Jahrhunderts, die im Ewigen Vorrat mit mehreren Gedichten vertreten sind, sind mit Ausnahme Hebbels die des dritten Bandes von Deutsche Dichtung, wobei noch Uhland und Droste-Hülshoff hinzuzufügen sind. Zwischen den Jahren 1860 und 1890 klafft eine Lücke, der nur noch die fünf Gedichte Hofmannsthals und das „Sonett“ Schröders folgen. Absichtlich bricht die Sammlung vor dem „Trümmerfeld der modernen Dichtung“ (S. 456) ab. Alleine Gedichte Georges wären wohl aufgenommen worden, konnten es aber „aus äußeren Gründen“ nicht, denn George lehnte es ab, seine Texte außerhalb der von ihm kontrollierten Organe zu veröffentlichen, zudem war das Verhältnis Borchardts zu George ja bekanntermaßen problematisch. Borchardt betont, daß die Neubelebung der deutschen Literatur im Ewigen Vorrat nicht angemessen repräsentiert werden könne, und er bedauert, „dass die Wiederherstellung der Form, das heißt nicht eines metrischen Schemas, sondern dessen was ein Gedicht zu einem Gedichte macht, und die schöpferische Erneuerung der Dichtersprache durch die beiden grossen zeitgenössischen Dichter, die seiner [Borchardts] Generation alle ersten Kriterien des Urteils erst wiedergaben, aus dieser Sammlung nicht erhellen kann“ (S. 456). Werner Kraft erinnert sich, Borchardt habe gesprächsweise drei weitere zeitgenössische Gedichte Nachwort schreibt, im Ewigen Vorrat „jeder lyrische Vers Heinrich von Kleists“ (S. 483) abgedruckt sei, ist dann aber doch übertrieben: Immerhin machen die von Erich Schmidt herausgegebenen Gedichte Kleists (H. v. Kleists Werke. 4. Band: Kleinere Gedichte und Schriften. Im Verein mit Georg Minde-Poulet und Reinhold Steig hrsg. von Erich Schmidt. Leipzig und Wien o.J. [1904]) rund vierzig Druckseiten aus. 312 Ernst Osterkamp: „Wandlung einer Seele aus Extrem in Extrem. Rudolf Borchardt über Heinrich von Kleist.“ In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 10-42, hier S. 39. 313 Vgl. die Apostrophe an das eigene Herz in Platens „Lied“, S. 374. 314 Werner Kraft 1896-1991. Marbacher Magazin 75/1996 a.a.O., S. 78.

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in den Ewigen Vorrat „aufnehmen wollen“: „eines, das von einem Jäger handelte von Hermann Hesse, ein sehr schönes Gedicht des heute schmählich vergessenen Dehmel und die wunderbare ‚Sommernacht‘ des noch schmählicher vergessenen Liliencron“. 315 Zum Fehlen zeitgenössischer Dichter heißt es bei Rudolf Alexander Schröder auch: „Die Abwesenheit Rilkes kommt im Sinne des Herausgebers einer Verwerfung gleich; Trakls Lyrik wird Borchardt, der seit langem in Italien lebte, kaum gekannt haben“.316 Was Rilke angeht, dessen Fehlen auch zeitgenössische Rezensenten bemängelt haben, 317 kann Krafts Gesprächserinnerung Schröders Urteil bestätigen, auch wenn es Kraft „ungerecht“ findet. Tatsächlich befindet sich im Nachlaß ein Zettel mit einer Notiz von Borchardts Hand, die sich wohl auf die Rezensenten, die das Fehlen Georges und Rilkes bemängeln, bezieht. Sie lautet: „Anfragende werden, George betreffend am besten an diesen verwiesen und würden dann erfahren dass er, sowenig übrigens wie Borchardt selber, Abdrucke in Anthologien gestattet. R.[ilke] betreffend, hat sich Bdt. nach genauester und wiederholter Prüfung nicht dazu entschliessen können, ihn wie manchen anderen interessanten Modernen, der die Probe der Zeit noch zu bestehen hat und der schwankendsten Beurteilung unterliegt, als ‚ewig‘ auszurufen. Er gehört seines Erachtens mit andern, Däubler, Pannwitz, Vollmöller, Zurlinde, Carossa, Mell u.s.w. in eine Anthologie moderner Lyrik, die nach ganz anderen Grundsätzen zusammenzustellen wäre als der Vorrat, ein ganz eigentliches für alle bestimmtes Volksbuch.“ 318 Borchardts Urteil über seine Zeitgenossen ist hier nicht so negativ wie an anderen Stellen, aber daß er sie in einer anderen Sphäre als sich, die von ihm versammelten und George sieht, ist unübersehbar. Dabei überlässt er das Urteil über diese Dichter höflich der Zeit – die, Rilke ausgenommen, die von ihm genannten Dichter tatsächlich zum Vergessen verurteilt hat, dafür aber andere wie Benn, Stramm oder Heym im Gedächtnis behalten hat. Über Trakl heißt es bei Kraft im Widerspruch zu Schröder, Borchardt habe ihn als 315 Werner Kraft: Spiegelung der Jugend. Autobiographie. Frankfurt/M. 1996, S. 105. Mit dem Gedicht Hesses ist „Die frühe Stunde“ gemeint (Hermann Hesse: Die Gedichte 1892-1962. Frankfurt/M. 1977, S. 92), vgl. Borchardts Widmung in Geschichte des Heimkehrenden (Das Buch Joram) (Privatdruck, Basel 1905): „An Hermann Hesse/ in Erinnerung an/ „Silbern überflogen/ Ruhet das Feld[“] –/ und was folgt./ Arlesheim 23 Januar 1906“, DLA. Das Gedicht Dehmels, das Borchardt in dem genannten Gespräch aufgesagt hat, nennt Kraft in seiner Borchardt-Monographie Welt aus Poesie und Geschichte a.a.O., S. 167: „Manche Nacht“ (Richard Dehmel: Gedichte. Stuttgart 1990, S. 75). 316 Rudolf Alexander Schröder: „Anthologien“ a.a.O. 317 Vgl. Rolf von Hoerschelmann: „Ewiger Vorrat deutscher Poesie.“ In: Die Einkehr. 17. Jg. 1927, Nr. 60 vom 2. März, S. 63: „Aber warum keine Zeile von Rilke?“ 318 Rudolf Borchardt: [Notiz], DLA.

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„höchst charakteristische Figur“ gelobt, aber sein Fehlen nicht weiter begründet.319 Schröders Sonett nun, das erste des Zyklus „Die Zwillingsbrüder“, das Borchardts Sammlung beschließt, bleibt indes ebenfalls nicht von Borchardts Eingriffen verschont: Er stellt die Zeilen der letzten beiden Terzette (bei Schröder ein Quartett und ein couplet) um, so daß die Abfolge 11, 12, 13, 9, 10 ist, zudem wird aus „doch nicht jene“ „dennoch nie die“ (Z. 7), aus „Und sag, was hülf es“ wird – wohl in Anlehnung an Hofmannsthals „Ballade des äusseren Lebens“ 320 – „Was also frommt es“ (Z. 12) und aus der Anrede „Lebendiger“ in der letzten Zeile „Gewaltiger“. 321 – „[A]lle Deine Bücher liegen aufgeschlagen herum u. werden fast täglich auf einen ‚neuen ewigen Verrat‘ (!) durchgesehen“,322 heißt es, auf Borchardts Eingriffe anspielend, in einem Geburtstagsbrief von Marie Luise Borchardt an „Onkel Rudi“. Indem er die Dichtung seiner Gegenwart quasi ignoriert, entgeht Borchardt indes dem Problem, daß Herausgeber von Anthologien ihre Zeit immer am schlechtesten beurteilen. Ein Blick in heutige Anthologien deutscher Dichtung etwa zeigt, was von den letzten zwanzig in Vespers Sammlung berücksichtigten Jahren heute noch geblieben ist. In Dietrich Bodes Sammlung Deutsche Gedichte sind von den bei Vesper versammelten Autoren aus jener Zeit allein Nietzsche (mit drei Gedichten) und Hofmannsthal (mit vier Gedichten) mehrmals vertreten; Liliencron und Dehmel mit je einem; Spitteler, Hille, Falke, Schaukal, Bierbaum, Hartleben, Flaischlen und Dauthendey sind ganz weggefallen. 323 Die Kriterien, nach denen Borchardt den Kanon des Ewigen Vorrats bildet, sind, wie gezeigt wurde, keinesfalls objektiv – sie sind aus den Beschäftigungen und Interessen des Anthologisten entstanden. Schon Rolf von Hoerschelmann deutet den Ewigen Vorrat als ein „Selbstbekennt-

319 Werner Kraft: Spiegelung der Jugend a.a.O., S. 106. 320 Hugo von Hofmannsthal: „Ballade des äusseren Lebens“ (1895), wo die erste Zeile der sechsten und siebten Strophe mit „Was frommts“ beginnt (Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Dramen I: 1891-1898. Frankfurt/M. 1979, S. 23). 321 Vgl. Rudolf Alexander Schröder: Gedichte. Frankfurt/M. 1952 (Gesammelte Werke in fünf Bänden. Erster Band), S. 217. Schröder sandte den Zyklus in früher Fassung bereits am 5. August 1908 an Borchardt, vgl. Briefwechsel 1901-1918, S. 156-169. 322 Marie Luise Borchardt an Schröder, 28. Januar 1928, Briefwechsel 1919-1945, S. 121. In seiner späteren Rezension des Ewigen Vorrats berichtet Schröder, er habe „zwar nicht in unmittelbarer Mitarbeit wohl aber in Zustimmung oder Widerspruch“ am Entstehen des Buches teilgenommen (Rudolf Alexander Schröder: „Anthologien“ a.a.O.). 323 Dietrich Bode (Hrsg.): Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Stuttgart 1994.

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nis“.324 Ähnlichkeiten gibt es zwischen dem Ewigen Vorrat und Borchardts eigenem lyrischen Werk genug, sowohl hinsichtlich ihrer Form als auch ihrer Themen: Sonette, Oden, Elegien, Epigramme, Lieder, Balladen oder Verserzählungen lassen sich hier wie da finden; inhaltlich seien lediglich die auffälligsten Paare genannt, etwa Ramlers „Nänie auf den Tod einer Wachtel“ (S. 123-125) und Borchardts „Auf eine angeschossene Schwalbe, die der Dichter fand“ (Gedichte, S. 163f.) samt der „Grabschrift der Schwalbe“ (Gedichte, S. 166), Maler Müllers „Lied der Tiger vor Bacchus Wagen“ (S. 209) und Borchardts „Bacchische Epiphanie“ (Gedichte, S. 146158) oder Rückerts drei „Amaryllis“-Gedichte (S. 339-341) und Borchardts „Amaryllis“ (Gedichte, S. 326-339). Zeitgenössische Rezensenten, die in Borchardts Sammlung lediglich „die Privatschatulle eines eigensinnigen Ästheten“325 sehen, ist sicher zuzustimmen, wenn man den abwertenden Ton dabei weglässt: Spricht doch die Tatsache, daß Borchardt im Ewigen Vorrat seine Lieblinge versammelt, nicht gegen die kritische wie ästhetische Qualität des Buches. Borchardts Interesse für die Literatur des Mittelalters besteht, seit er sich in den Jahren zwischen 1904 und 1908 die „deutsche mittelalterliche und spätmittelalterliche Poesie und Prosa, soweit sie mir irgend erreichbar war“,326 erarbeitet hat und darin als Ideal den „Takt der Scham, des Stiles und der Ehrfurcht“327 fand; spätestens seit dem Entwurf der „MünsterAusgabe“ ist dieses Interesse mit dem Gedanken an eine Anthologie verbunden. Die im Ewigen Vorrat versammelte Dichtung der beiden folgen324 Rolf von Hoerschelmann: „Ewiger Vorrat deutscher Poesie“ a.a.O. In der unveröffentlichten Replik auf diese Rezension wendet sich Borchardt gegen diese Formulierung und gegen Hoerschelmanns Unterscheidung in der ja durchaus positiven Besprechung zwischen einer einerseits „objektiv gerechten“ und einer andererseits „subjektiv ungerechten“ Anthologie, zu der dieser den Ewigen Vorrat zählt, „weil ihre Irrtümer und die falschen Voraussetzungen und Folgerungen auf denen sie beruht, für eine ganze Schicht des mittleren Urteils über Poesie in Deutschland besonders charakteristisch sind“. (DLA) Auch Vespers Rezension a.a.O. sieht in Borchardts Anthologie den „Reiz des persönlichen Bekenntnisses“. 325 Friedrich M. Reifferscheidt: „Kritische Glosse zu Rudolf Borchardts Ewiger Vorrat deutscher Poesie“ a.a.O. In einem auf den 8. April 1927 datierten Brief an die Redaktion der Monatsschrift Hochland, in der Reifferscheidts Besprechung erschienen war, erbost sich Borchardt über dessen „rohen Angriff“: „Der Aufsatz, den Sie abgedruckt haben, ist an und für sich so ohne Bedeutung, wie sein Verfasser, und der Versuch, sich durch eifernden Ton und grelle Behauptungen eine Stellung mir gegenüber zu erschreiben, für die ihm jede Autorität und Konvenienz abgeht, scheitert schon nach den ersten Sätzen. Auch habe ich persönlich alles Mitleid mit den verhetzten und verbitterten Kindern eines Geschlechtes, das sich, im Gegensatze zu uns, eine persönliche Kultur kaum mehr hat erobern können und von der grossen Bildungsgeschichte abgeschnitten ist, die wir noch mitgemacht haben, ja die uns hervorgebracht hat.“ (DLA) 326 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 492. 327 „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 297.

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den Jahrhunderte steht im Zusammenhang mit einer anderen nicht realisierten Anthologie, dem auf vier Bände angelegten Projekt, in dem deutsche Renaissancelyrik, „Cavalierslyrik“ sowie deutsche Volkslieder und „gesungene Zeitung“ versammelt werden sollten und an dem Borchardt von 1923 an in München – also parallel zum Ewigen Vorrat – arbeitet. Eine weitere Spur hat Borchardts „Herder-Erlebnis“ in der Anthologie hinterlassen, seit dem ihm Herder als Zeuge für die Aneignung des Mittelalters und der Antike sowie als der Überwinder der französischen Aufklärung, damit der Rationalität, der Regelpoetik nach römischem Vorbild und des Materialismus gilt: also „im Namen Homers gegen Vergil, Pindars gegen Horaz, der Poesie gegen die Schulpoesie, des Volksliedes gegen die Akademie und den Schreibtisch, des Menschengeistes gegen den Esprit“328 – ein Diktum, dem auch der Ewige Vorrat folgt. Auch als Anthologist ist ihm Herder ein Vorbild, sind dessen „Stimmen der Völker in Liedern“ doch eine wichtige Quelle für den Ewigen Vorrat. 329 Die zweite im „EranosBrief“ geschilderte initiatorische Begegnung findet man ebenfalls in Borchardts Anthologie dokumentiert: die mit dem Frühwerk Hofmannsthals, aus dem sowohl Gedichte als auch Passagen aus den lyrischen Dramen abgedruckt sind. Einen anderen Hinweis auf Gründe, warum bestimmte Gedichte aufgenommen wurden, gibt Borchardt in seinem Nachwort selbst: Ihm sei die „deutsche Musik, deren goldene Wünschel so oft nach vergrabenem Golde gezuckt hat“, beim Sammeln der Gedichte für den Ewigen Vorrat eine „Wegweiserin“ (S. 480) gewesen – eine Aussage, die zunächst verwundert, da Borchardt sich sonst wenig über Musik äußert und seine geplante Anthologie Deutsche Renaissancelyrik geradezu gegen die Musik richtet. Dennoch: Die Volkslieder und geistlichen Lieder sowie die zahlreichen von Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms oder Wolf vertonten Gedichte der Sammlung 330 sprechen eine deutliche Sprache – und auch die Aufnahme vergleichsweise entlegener Stücke wie Matthissons „Adelaide“, Candidus’ „Alte Liebe“ oder Friedrich Schlegels „Im Walde“ läßt sich durch ihre Vertonung durch Beethoven, Brahms und Schubert erklären.

328 „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts“, Reden, S. 331f. 329 Johann Gottfried Herder: „Stimmen der Völker in Liedern.“ Volkslieder (1778/79). Hrsg. von Heinz Röllecke. Stuttgart 2001. Auch Herders Vorbild ist ein englisches: Thomas Percys Reliques of Ancient English Poetry (1765/7), eine ebenfalls sehr freie und erweiterte Bearbeitung eines um 1650 entstandenen Manuskripts. 330 Vgl. Saltzwedel: „Ganz und gar aus dem Leben heraus“ a.a.O., S. 8.

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Darüber hinaus läßt sich an fast jedem Gedicht der Sammlung zeigen, wie eng der Ewige Vorrat mit Borchardts übrigem Werk zusammenhängt. An seinen Nachweisen von italienischem Einfluß bei unbekannten Dichtern, an Angaben also wie „Student italienischer Bildung, um 1550“ (S. 42), „Ostfranke, italienisch gebildet“ (S. 51) oder an dem Hinweis auf Dantes Comedia bei Mayfart (S. 73) wird der gedankliche Zusammenhang zu seiner Übersetzung von Dantes Werken deutlich; von Uhland ist die Ballade „Bertran de Born“ (S. 364-366) ausgewählt, den Borchardt übersetzt hat; die von ihm so oft beschworene Einheit von Poesie und Wissenschaft bestimmt auch Schellings „Fragment. (Widmung des entworfenen Naturgedichtes an Caroline Michaelis.)“ (S. 301-305), das als Eingang eines dreiteiligen – Natur, Leben und Geschichte sowie Kunst umfassenden – nie geschriebenen Weltgedichtes nach dem Vorbild von Dantes Comedia gedacht war;331 die Einheit von Poesie und Politik schließlich, hier präzisiert als das Deutsche und als dessen Ideal, das Preußische, wird in den Gedichten der beiden Kleist verherrlicht. Über all dem jedoch steht immer wieder der große Zusammenhang der Poesie mit dem Ewigen. Programmatisch könnten zahlreiche Passagen aus Borchardts Schriften seiner Anthologie voranstehen wie diese aus der Rede „Der Dichter und die Geschichte“: „Die Nachtigall wäre ein Hall im Ohre ohne unsere Seele, die Rose ein Reiz auf unsern Seh- und Riechnerv ohne unser Herz, – der Mond ein unerreichbares ängstliches Blenden und Grausenmachen ohne unsere Unsterblichkeit, die Natur ein roher Wirrwarr, wenn wir nicht Natur wären und ihr Kind, [...], das Leben ein dummer Taumel ohne den Tod, der Tag ein Irrsinn ohne die Nacht, das Wachen ohne den Schlaf, die Liebe ohne das Scheiden, das Scheiden ohne die Wiederkehr. Denn weil sie wiederkehrt, nicht weil sie blüht und singt, erschüttert Rose und Nachtigall das Menschenherz. Weil er untergeht, nicht weil er aufgeht, rührt uns der Mond an die Seele.“332 Nachtigall, Rose und Mond – das sind die häufigsten Motive der Gedichte in Ewiger Vorrat deutscher Poesie, dessen Herausgeber von sich sagt: „Ich habe mein Leben damit verbracht und werde es damit zu Ende bringen, das Wort als den mir verliehenen Funken des Urschöpfungsaktes, des Ewigen, in mir zu verehren.“333

331 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Durch das Herz der Erde. Sämtliche deutschen Gedichte und poetischen Übertragungen. Hrsg. von Ute Schönwitz mit einem Vorwort von Werner Dürrson. Warmbronn 1998, Dürrsons Vorwort S. 11f., das Gedicht selbst als „Zueignung des geplanten großen Naturgedichtes“, S. 31-34. 332 „Der Dichter und die Geschichte“, Prosa IV, S. 216. Vgl. S. 56f. dieser Arbeit. 333 „Die Entwertung des Kulturbegriffs“ (1928), Reden, S. 320f.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

3. Deutsche Renaissancelyrik Unter Borchardts Anthologien nimmt Deutsche Renaissancelyrik, die 2008 aus dem Nachlaß rekonstruiert erschienen ist, 334 eine Ausnahmestellung ein. Die drei erschienenen Anthologien beziehen sich auf das „Centrum“ von Borchardts Theorie, das „Ewige“, das hier auch stets das „Deutsche“ ist; es erscheint etwa als Geist und Haltung in Deutsche Denkreden, als Blick und Methode in Der Deutsche in der Landschaft und in den Motiven wie im lyrischen Ton in Ewiger Vorrat deutscher Poesie. Der Zeitraum, aus dem die versammelten Texte stammen, ist bei allen drei Anthologien die Zeit von 1780 bis 1850 mit ihren Wirkungen bis in die Gegenwart, für den Ewigen Vorrat muß noch das Mittelalter hinzugenommen werden. Deutsche Renaissancelyrik widmet sich dagegen einer Epoche, die sonst nicht Teil von Borchardts Kanon zu sein scheint, auch wenn einige Gedichte daraus ihren Platz im Ewigen Vorrat gefunden haben.335 Deutsche Renaissancelyrik versammelt 239 Gedichte, die zumeist aus Musikdrucken aus den Jahren 1570 bis 1620 stammen. Die Sammlung ist der erste Band einer auf vier Bände angelegten Anthologie, die Borchardts Beschäftigung mit der anonymen deutschen Dichtung vom 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert hätte dokumentieren sollen. Obwohl auch dieser erste von vier Bänden Fragment geblieben ist, läßt sich die Auswahl der Gedichte und deren Anordnung anhand eines Inhaltsverzeichnisses, dem die darin aufgeführten Gedichte nachgeordnet sind, rekonstruieren. Dem zweiten Band – „Deutsche Cavalierslyrik des Spätmittelalters“336 – lassen sich nur ein paar Gedichte, den beiden anderen Bänden – „Tanzlieder und Wechsel“ und „Spielmannslied und gesungene Zeitung“ – läßt sich kein Gedicht sicher zuordnen. Diese Großanthologie wird in Zusammenarbeit mit dem Verlag der Bremer Presse während Borchardts Münchner Zeit 1923 und 1924 begonnen. Erstmals erwähnt wird sie in einem Brief Borchardts an Josef Nadler vom 26. Juni 1924, wo es heißt, er sei unter anderem mit „der Ordnung einer Ausgabe deutscher Renaissance Lyrik“ beschäftigt; 337 letztmals wird sie in einem Brief Borchardts an Karl Vossler vom 31. Januar 1930 genannt.338 Die Arbeit an der Anthologie fällt also in die Zeit, 334 Rudolf Borchardt (Hrsg.): Deutsche Renaissancelyrik. Aus dem Nachlaß rekonstruiert und herausgegeben von Stefan Knödler. München 2008. Teile dieser Anthologie – und also auch dieses Kapitels – wurden durch ein einmonatiges Marbach-Stipendium ermöglicht. 335 Vgl. S. 223 dieser Arbeit. 336 Vgl. Borchardt an Konrad Burdach, 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 336. 337 Borchardt an Josef Nadler, 26. Juni 1924, Briefe 1924-1930, S. 29. 338 Borchardt an Karl Vossler, 31. Januar 1930, ebd., S. 438.

3. Deutsche Renaissancelyrik

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in der die drei Anthologien Borchardts entstehen und erscheinen, aber auch in die Zeit, in der die Differenzen zwischen Borchardt und seinem Verleger unüberwindbar werden. Die Vorbereitung der Anthologie gestaltet sich vor allem auf Seiten des Verlags weitaus aufwendiger als bei den anderen drei Anthologien. Wiegand berichtet darüber später in einem Brief an Alfred W. Beerbaum: „Ich hatte von etwa 25 deutschen Bibliotheken sehr seltenes Material an gedruckten Liederbüchern (Kunstpoesie, nicht Volkslieder) erhalten, und dazu hatten wir das in verstreuten wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorliegende Material aus Handschriften des 15. Jh. ausgeschrieben.“ 339 Dies geschieht vor allem in der Zeit zwischen Juni und September 1924, in der Borchardt für die ersten beiden Bände die wichtigsten Quellen sichtet. Insgesamt werden aus hundertunddreißig Drucken und Handschriften des 15., 16. und frühen 17. Jahrhunderts sowie aus späteren Editionen (die Wiegand wohl mit den „wissenschaftlichen Veröffentlichungen“ meint) rund tausend Texte abgeschrieben. Im August 1924 berichtet Borchardt an Nadler über seine Arbeit an der Anthologie: „Ich habe zu Rate gezogen was ich konnte, der gesamte Cimelienschatz deutscher Bibliotheken an ältesten Musikdrucken ist neugesichtet worden, 500-600 Nummern stehen zur engern Auswahl, Dr Wiegand und sein auf meine Gedanken scharf eingearbeiteter kleiner Stab haben mich vorbildlich unterstützt“. 340 Die Aufgaben von Wiegand und seinem „Stab“ dürften über die Materialbeschaffung hinaus vor allem in der Abschrift der von Borchardt bei der Durchsicht der Drucke ausgewählten Stücke bestanden haben. Gute Organisation und schnelles Arbeiten waren hierbei erforderlich, wie aus einem Brief Borchardts an seine Frau hervorgeht: „Es sind kostbare Volksliederdrucke von auswärtigen Bibliotheken bestellt die nur auf 48 Stunden ausgeliehen werden und gleich bearbeitet werden müssen, alles ist genau geregelt. Ich habe mich, wie die Deutschen sagen, ‚verbeamten‘ müssen: Sonst ist es undenkbar all das zu übernehmen und zu leisten was ich von mir verlange.“341 Borchardt zieht im Oktober 1924 wieder nach Italien. In den folgenden Monaten werden die Abschriften von den Mitarbeitern der Bremer Presse vervollständigt und miteinander verknüpft, so daß zu jedem Text auch seine Varianten ersichtlich sind. Borchardt wird das Konvolut schon im Januar 1925 in insgesamt sechs Mappen geschickt, wobei die ersten drei Mappen „die grösseren Sammlungen einschliesslich der im 19. Jahr339 Wiegand an Alfred W. Beerbaum, 13. August 1948, DLA. 340 Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte 1924, Briefe 1924-1930, S. 35. 341 Borchardt an Marie Luise Borchardt von „Dienstag Nacht“ 1924[?], DLA.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

hundert erschienenen Sammlungen“ enthalten, zwei die Abschriften aus den „kleineren Liederbüchern“ des 16. und eine die des 17. Jahrhunderts.342 Diese Ordnung ist noch im Nachlaß Borchardts erhalten, wobei die für die „Renaissancelyrik“ ausgewählten Texte den jeweiligen Mappen entnommen sind und in einer separaten Mappe mit dem Inhaltsverzeichnis und den acht handgeschriebenen eigenen Fassungen Borchardts liegen; vier weitere Mappen aus dem Nachlaß der Bremer Presse mit „Erst abgeschriebenen, dann ausgeschiedenen Stücken“ ergänzen das Material. Lange scheint Borchardt trotz Wiegands Drängen nicht an dem Material zu arbeiten, im Januar 1927 heißt es dann plötzlich: „Die Renaissancelyrik ist fertig bis auf kleine Textfragen die noch ein par Stunden Arbeit brauchen, und geht mit der diesem Briefe nachfolgenden Post als Express an Dich ab.“343 Und einen Tag später gar: „Ich hoffe noch mit der Cavalierslyrik bis morgen früh Mittag zu sein“.344 Im März indes hat Wiegand noch immer nichts erhalten,345 und für Borchardts Angaben findet sich, vor allem was den zweiten Band angeht, kein Beleg, was allerdings nicht heißt, daß er an den Konvoluten nicht gearbeitet hat. Von seiner Arbeit zeugen nicht nur das Inhaltsverzeichnis und die ihm zugrundeliegende Anordnung, sondern auch die acht handschriftlichen Fassungen, zahlreiche Änderungen, Anmerkungen und Lesespuren auf den Blättern der Abschriften. Borchardts Fassungen dürften 1927 entstanden sein, da Borchardt Wiegand schreibt, daß „in den Lyrikbänden [...] die ersten Druckunterlagen, resp. ihr Eingang, indem alles sich langsam vorwärts schiebt“, bevorstünden und, da es Schwierigkeiten mit der „Textbestimmung“ gebe, ankündigt: „Ich werde alle Textkritisch complicierten Stücke, also solche mit reicher Überlieferung, neu schreiben“.346 Daß Borchardt nicht vorhatte, alle Stücke neu abzuschreiben, zeigen die wenigen Anweisungen auf den Vorlagen, die offenbar für den Setzer bestimmt waren. 347 Beiden, Borchardt und Wiegand, wird zu diesem Zeitpunkt erst klar, daß das Projekt so schnell und einfach, wie vor allem Wiegand hofft, sich nicht wird abschließen lassen: „Ich verstehe Dein Stöhnen über das aufgetürmte Massenaufgebot von Arbeit und Kosten bei diesen Büchern sehr wol, aber das hast Du selber so gewollt, nicht ich, dem solches Arbeiten mit 342 343 344 345 346 347

Wiegand an Borchardt, 16. Januar 1925, DLA. Borchardt an Wiegand, 27. Januar 1927, Briefe 1924-1930, S. 172. Borchardt an Wiegand, 28. Januar 1927, ebd., S. 182. Vgl. Wiegand an Marie Luise Borchardt, 5. März 1927, DLA. Borchardt an Wiegand, nach dem 23. Juli 1927, Briefe 1924-1930, S. 218. Vgl. etwa Haussmann 1602, Nr. 30: „Ein treues Herz“ – „Grosse Anfangsbuchstaben der Hauptworte / Es werden in jeder Strophe Verse 2, 3 5, 6 10, 11 in einen zusammengezogen“, Deutsche Renaissancelyrik, S. 228.

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fremden Krücken und Stelzen ausserordentlich widerlich war und ist. Hätte ich geahnt dass mein Wunsch, diese geschlossene dichterische Gruppe zu übersehen und hübsch zusammenzustellen, mich schliesslich dazu führen würde, von Italien aus kritische Ausgaben ungefähr des ganzen deutschen Volks und Gesellschaftsliedes machen zu sollen, so hätte ich das eben so schön bleiben lassen, wie wenn Du dergleichen vorausgesehen hättest, vermutlich Du. Wir haben uns beide in den Zauber der Probleme und des schreckenden Hauptproblems hineinziehen lassen, vom Einen zum Andern, vom Hundertsten ins Tausendste, vom Hauptwege auf Seitenwege, wie das bei solchen Arbeiten eben geschieht. [...] Jede Arbeit, die in höherem Sinne wert ist gethan zu werden, bringt Momente mit sich in denen sie, ohne den Druck absoluter Not oder absoluter Ehre, ungethan bliebe.“348 Die weitere Arbeit verzögert sich zudem durch Meinungsverschiedenheiten grundsätzlicher Art. Borchardt fordert von Wiegand einen „Sonderprospekt“ für seine Arbeiten im Verlag der Bremer Presse sowie eine Ausgabe mit seinen Nachworten, damit diese „als Studienband vor dem Urteile und der Diskussion der Sachverständigen stehen“349 könne – ein Umstand, der zeigt, wie sehr ihm daran liegt, als Philologe zu reüssieren. Wiegand lehnt jedoch sowohl die geforderte „Sonderpropaganda“ als auch die Sammlung der Nachworte ab. Zudem will Borchardt verhindern, daß Wiegand sein Projekt mit anderen geplanten Anthologien des Verlages zusammenspannt. Schon 1926 denkt Wiegand in einem Brief an Rudolf Alexander Schröder an einen solchen Zusammenhang: „Sehr schön wäre es, wenn der Gedanke der Auswahl des protestantischen Kirchenliedes sich verwirklichen liesse. [...] Sie steht im Zusammenhange mit den Borchardtschen Ausgaben des Volksliedes und der Renaissancelyrik, und würde zusammen mit diesen und einer geplanten Auswahl aus den Liedern der Mystik und aus den katholischen Kirchenliedern eine Sammlung der weltlichen und geistlichen deutschen Lyrik bis zum Jahre 1700 ergeben.“ 350 Besonders von der zusammen mit Hofmannsthal und anderen geplanten mehrbändigen Anthologie der Literatur des Barock351 will Borchardt sich fernhalten, denkt er doch selbst daran, seinen Kanon in einen solchen größeren Zusammenhang zu bringen und „die Brücke zwischen Trobadors und Cavalieren durch eine massgebende und schön lesbare Sammlung des Minnesangs zu schliessen“.352 348 349 350 351 352

Borchardt an Wiegand, 23. Juli 1927, Briefe 1924-1930, S. 218f. Borchardt an Wiegand, nach 28. September 1928, ebd., S. 280. Wiegand an Schröder, 12. Januar 1925, DLA. Keine der genannten Ausgaben erscheint. Vgl. S. 131 dieser Arbeit. Borchardt an Wiegand, 28. September 1928, Briefe 1924-1930, S. 278.

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Borchardt wolle, so klagt Wiegand dem an dem Barockprojekt beteiligten Schröder, es nicht billigen, „wenn seine Arbeiten mit sonstigen Verlagswerken in Konnex gebracht würden.“ Zusammenfassend schreibt er: „Ich weiss genau, was bei Borchardt dahinter steckt; er will nur allein genannt werden, von dem was wir sonst publizieren, durchaus abseits stehen, und den Bruch, den er im inneren Verhältnis herbeigeführt hat, nun erst recht nach aussen hin deutlich machen.“353 Das ohnehin schwierige Verhältnis ist zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend zerrüttet, und Borchardt findet sich bereits damit ab, daß er für sein Anthologieprojekt einen anderen Verleger finden muß, wie er Schröder schreibt: „Als Verleger kommt nur ein Institut in Betracht, das sich mit einem so grossen Plane [...] geschäftlich und propagandistisch absolut identifiziert und über die Garantien dafür verfügt, dass es sachgemäss hergestellt, technisch bearbeitet und richtig vertrieben wird. Diesen Voraussetzungen genügt Wiegand heute in keiner Weise.“354 Die Anthologie scheitert indes nicht nur an den Differenzen zwischen Borchardt und Wiegand, die so weit gehen, daß Wiegand für eine Weiterarbeit vertraglich festlegen will, daß neben den geschäftlichen auch die „persönlichen Beziehungen“ wieder aufgenommen werden sollen,355 sondern auch an der finanziellen Krise, in die die Bremer Presse um 1930 gerät. Der Titel des ersten Bandes von Borchardts Anthologie, Deutsche Renaissancelyrik, ist zunächst etwas irreführend, da hier nicht die Texte versammelt sind, die gemeinhin unter diesem Begriff zusammengefaßt werden, sondern nur solche, die unter dem Namen „Gesellschaftslied“ bekannt sind. Geprägt hat den Begriff Hoffmann von Fallersleben, der diese Texte erstmals 1843 unter dem Titel Deutsche Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts gesammelt hat. Die Bezeichnung wird mittlerweile nicht mehr verwendet,356 in der Musikwissenschaft etwa hat sich der Begriff nie durchgesetzt – hier wird meist vom „Tenorlied“ gesprochen357 –, und auch Borchardt redet nur sehr abfällig von ihm.358 In der Literaturwissenschaft gibt es nur sehr wenige Arbeiten dazu – bezeichnenderweise ist 353 354 355 356

Wiegand an Schröder, 26. November 1928, DLA. Borchardt an Schröder, September 1929, Briefwechsel 1919-1945, S. 140. Vgl. Borchardt an Karl Vossler, 31. Januar 1930, Briefe 1924-1930, S. 438f. Vgl. Christoph Petzsch: „Einschränkendes zum Geltungsbereich von ‚Gesellschaftslied‘.“ In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 61. Jg. 1967, S. 342-348. 357 Vgl. Peter Jost „Lied“ (Abschnitte 2a-c). In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Hrsg. von Ludwig Finscher. Kassel und Stuttgart ab 1994, hier S. 1270-77 und Rolf Caspari: Liedtradition im Stilwandel um 1600. Das Nachleben des deutschen Tenorliedes in den gedruckten Liedersammlungen von Le Maistre (1566) bis Schein (1626). München 1971, S. 10-12. 358 Vgl. Borchardts Brief an Burdach vom 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 336 und „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 493 u. 503.

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die Arbeit, die Borchardt nachweislich gekannt und mit der er sich auseinandergesetzt hat, Rudolf Veltens Das ältere deutsche Gesellschaftslied unter dem Einfluß der italienischen Musik aus dem Jahr 1914, noch immer ein Standardwerk. Zunächst bezeichnet „Gesellschaftslied“ hier einen im Laufe des 16. Jahrhunderts entstandenen Liedtypus, der innerhalb einer bestimmten Schicht von gebildeten Patriziern und Bürgern an höfischen Zentren zu mehreren, also gesellig – daher der Name –, eingeübt und gesungen wird. Der Begriff „Gesellschaftslied“ trennt diese Lieder vom Volkslied, da die neuen Lieder nun nicht mehr wie das Volkslied anonym und wandelbar sind, das heißt textlich und melodisch nicht festgeschrieben und für Abwandlungen offen, sondern in einer festen, weil durchkomponierten Form gedruckt werden. Dies geschieht durch Berufskünstler, durch Komponisten oder Hofkapellmeister, unter deren Namen die Texte auch meist überliefert sind – zu den bekanntesten zählen Jacob Regnart, Orlando di Lasso und Hans Leo Hassler. Italienische Einflüsse bestimmen die Entwicklung des sogenannten „Gesellschaftsliedes“: Nicht nur verdrängen italienische Formen – Villanellen, Madrigale und Canzonetten –, die in immer neuen Drucken von Italien in den deutschen Sprachraum gelangen, zeitweilig die deutsche Volksliedstrophe, auch was die Motivik angeht dominiert bald das an Petrarca ausgerichtete Repertoire von Metaphern und Bildern die Texte. Zentrale These der Arbeit Veltens ist, daß sich „der Einfluß der italienischen Lyrik [...] durch Vermittlung der Musik vollzogen“ habe,359 daß also „die Lyrik Petrarcas und Tassos zum erstenmal durch die Vermittlung der Musik in die deutsche Literatur eingeführt wurde“.360 Den erhaltenen Vorarbeiten Borchardts dagegen läßt sich nirgends entnehmen, daß es sich bei den Gedichten in seiner Ausgabe um Lieder handelt, daß diese aus Notendrucken stammen und zum Großteil von Komponisten und Tonsetzern stammen, für die der Text nur Nebensache war; Nebensache übrigens auch für die, die diese Lieder sangen, war doch der Text im Geflecht der sich überlagernden und abwechselnden Stimmen kaum noch zu verfolgen. Borchardt sieht seine vierbändige Anthologie als den „eine neue Epoche einleitenden kritischen Abbau des falschen ‚Volkslied‘-Begriffes“, 361 als Sammlung, „mit der die Namenlose deutsche Lyrik des Spätmittelalters und der Renaissance, das sogenannte ‚Volkslied‘ oder, schlimmer, ‚Gesellschaftslied‘ abgebaut wird“362 und deren „beherrschen359 Rudolf Velten: Das ältere deutsche Gesellschaftslied unter dem Einfluß der italienischen Musik. Heidelberg 1914, S. 3. 360 Ebd., S. 152. 361 Borchardt an Schröder, September 1929, Briefwechsel 1919-1945, S. 140. 362 Borchardt an Burdach, 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 336.

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der Gedanke“ es sei, „aus dem sog. Volksliede die compacte stilfeste deutsche Lyrik der Frührenaissance, höfische und stadtvornehme, die niemand kennt, herauszumeisseln.“363 Aus „Liedern“ wird „Lyrik“; die Musik fällt dem Meißel zum Opfer. Was Borchardt also an dem Komplex des sogenannten Volksliedes zunächst interessiert, ist alles das, was nicht dem landläufigen Bild des Volksliedes entspricht: Dieses nimmt er nicht auf und nimmt er kaum wahr; für die beiden ersten Bände wählt er stattdessen Texte aus, deren italienisches Herkommen und deren höfisches und bürgerliches Weiterleben in Deutschland er nachweisen zu können glaubt. Sein Ziel dabei ist: „Die Herauslösung des Stils der anonymen deutschen Kunstdichtung 1400-1500 aus dem Conglomeratgeschiebe des sogenannten deutschen ‚Volksliedes‘“. Im ersten Teil der Anthologie, Deutsche Renaissancelyrik, ist das „die um Augsburg und Nürnberg geschlossene, nach München südlich, nach Coburg, Voigtland, Kursachsen ausstrahlende Canzonenlyrik 1450-1650“. 364 Diese räumliche Konstruktion läßt sich leicht an den Druckorten der benutzten Quellen überprüfen – zweiundvierzig Drucke, mehr als zwei Drittel der Texte also, stammen aus Nürnberg; aus Augsburg die Sammlung von Berger, aus München die Sammlungen von De Vento, Di Lasso, Glanner und Regnart 1591, aus Coburg die Sammlung von Franck, dazu stecken Erfurt (Dedekind), Jena (Demantius), Leipzig (Hassler 1601), Dresden (Nauwach, Pinellus) und Gera (Neander) das von Borchardt umrissene Gebiet von „Voigtland und Kursachsen“ ab. Im zweiten Band, „Deutsche Cavalierslyrik des Spätmittelalters“, hätte nach Borchardts Angaben „die deutsche Cavalierslyrik des ausgehenden Mittelalters (Name nicht schön und nicht endgiltig) wesentlich rheinisch und rheinmainisch“ gesammelt werden sollen, „auf den stromaufziehenden Wegen der flandrischen neuen Musik, in Mainz sich stark mit Meistersangselementen versetzend, prachtvolle und einheitliche Stücke festen Stiles, der Kern des ‚hüpschen‘ – d.h. höveschen Liedes dieses Jahrhunderts“.365 Auch dies kann man an der aus Köln stammenden Sammlung Arnts von Aich bestätigt finden, aus der vier Gedichte als für die „Kavalierslyrik“ vorgesehen gekennzeichnet sind; gut möglich, daß auch die Elsässer Drucke von Hock, das Liederbuch der Ottilie Fenchlerin, das Frankfurter Ambraser Liederbuch, die Drucke von Myller und Rost und die Mainzer von Schöffer für den Band Berücksichtigung gefunden hätten. 363 Borchardt an Marie Luise Borchardt, 28. August 1924, DLA. 364 Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 35. 365 Ebd., S. 34f. Zu den eindeutig für diesen Band vorgesehenen Texten vgl. Deutsche Renaissancelyrik, S. 299-318.

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Es muß unklar bleiben, wie die beiden zunächst als einer366 geplanten letzten Bände der Anthologie, „Tanzlieder und Wechsel“ und „Spielmannslied und gesungene Zeitung“, ausgesehen hätten, zu wenig hat sich dazu erhalten. Die Mappen, die die entsprechenden Abschriften enthalten, sind von Borchardt weitgehend unangetastet geblieben. Ihr Gegenstand ist das vom italienischen Einfluß unabhängige deutsche Volkslied, über ihre Programmatik geben Borchardts verstreute Äußerungen zur Theorie des Volksliedes Auskunft. So schreibt er Karl Vossler über die Volksliedtheorie des von ihm so bewunderten Benedetto Croce,367 der das Volkslied durch einen „‚tono‘ del sentimento e dell’espressione“,368 durch den es einfache, aber tief empfundene Gefühle in einfacher Form ausdrücke,369 definiert: „Croces Volksliedertheorie betreffend, die mich so wenig überzeugt wie so manches neuerdings von ihm ausgehendes, äussere ich mich demnächst im Euphorion, [...]. Der eigentliche Kern der Frage liegt in der scharfen Scheidung zwischen den an feste Singweisen gelehnten Improvisationen (gesätzel, copula, ƳƴƟƷƯƲ), die mit der Gegenimprovisation den ‚Wechsel‘ (discordia contrasto ƳƴƩƷƯƬƵƨƟơ) ergeben, – dem Tanzliede, und der uralt aber unterhalb des literarischen tradierten Spielmanns Poesie. Populäre ‚Wechsel‘ werden zu Tanzliedern, populäre Spielmannsdichtung wird im Weitersingen zerfressen. Nur die Improvisation ist streng genommen Volkslied, das meiste sog. Volkslied ist anonymer Spielmann.“ 370 So erklärt sich die Sonderung des Volkslied-Bestandes in zwei selbständige Bände. Auch andere Äußerungen Borchardts deuten auf diese Unterscheidung hin: „Einzig ein ‚Wechsel‘ ist volkstümlich – das Schnadahüpferle – das Ritornell – ein Hinüber und Herübersingen bei der Arbeit auf dem Felde. Die besten Einfälle wurden aufbewahrt im Gedächtnis und weitergegeben“,371 heißt es in Gesprächsnotizen, die der Romanist Theophil Spoerri von einem Abend mit Borchardt am 3. März 1925 machte. Für den vierten Band bleibt das „falsche“, historische Volkslied des anonymen Spielmanns, – „da der Leser der in meinem Corpus das gesamte 366 Vgl. Borchardt an Wiegand, 28. September 1928: „An meinen Volkslied-Plänen hat die inzwischen verflossenene Zeit nur vertieft und gebessert, aber begreiflicherweise nichts geändert; ich habe den verbleibenden Stoff in zwei weitere Bände, ‚Tanzlieder und Wechsel‘ und ‚Spielmannslieder‘ disponiert“ (Briefe 1924-1930, S. 278). 367 Benedetto Croce: „Poesia popolare e poesia d’arte.“ (1929) In: Poesia popolare e poesia d’arte. Studi sulla poesia italiana dal tre al cinquecento. Bari 1952, S. 1-64. 368 Ebd., S. 12. 369 Ebd., S. 5. 370 Borchardt an Vossler, 22. November 1929, Briefe 1924-1930, S. 388f. Aus der geplanten Veröffentlichung im Euphorion ist nichts geworden. 371 Theophil Spoerri: „Gespräche mit Rud. Borchardt“ (handschriftliche Aufzeichnungen, Privatbesitz).

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Volkslied digeriert zu sehen wünschen wird, nicht wol auf die bestehenden Sammlungen des historischen Volksliedes, so gut sie auch sind, verwiesen werden kann.“372 Die vier Bände der Anthologie hält nach Borchardt indes mehr zusammen als die falsche Einheit von „echtem“ und „falschem“ Volkslied, die ihre gemeinsame anonyme Überlieferung verursacht. Hinweise darauf finden sich schon in einer frühen Sammelrezension Borchardts, „Zum deutschen Altertum“ (1908), in der unter anderem das Buch Das deutsche Volkslied von J. W. Bruinier373 besprochen wird. Borchardt verwehrt sich darin gegen Bruiniers Überbetonung des Volkes und des „Völkischen“, dessen Einheit vom „kunstmäßigen Skaldenlied in der Königshalle“ bis zum „Unteroffiziersliede auf Sedan“ konstruiert werde, gleichzeitig aber alles, was „welsch“ oder „höfisch geziert“ erscheine, aus dem Bereich des Volksliedes ausgeschlossen sei. 374 Zudem weist er die Vorstellung der Herkunft des Volksliedes aus den niederen Schichten als falsch zurück und setzt ihr eine Volksliedtheorie entgegen, in der „schon die höchste Poesie Keime exklusivster Vornehmheit hat“ und „sich nur an Könige und Weise [...] wendet“,375 so daß die höchste der „Schichten des Volkes die minder entwickelten zu sich hinaufzieht“. 376 Während Bruinier nur „den bodenständigen Bauern“ als „den unverrückbaren Grund des Volkes“377 gelten lassen will, setzt ihm Borchardt das Volkstümliche in „Faust und Nathan, Wallenstein und Don Carlos“ entgegen und den „herrlichen Hochmut, der das Populäre verschmäht, der sich und sein Tiefstes versteckt, der geahnt und nicht verstanden werden, der schauern machen und nicht erklären will“, von dem „das ewig unpopuläre höchste Volksgut“378 abstamme. Diese gleichsam aristokratische Volksliedtheorie läßt sich bei Borchardt auch noch in den zwanziger Jahren finden. So heißt es in den Gesprächsnotizen Theophil Spoerris: „Was man Volkslied nennt, geht immer zurück auf individuelle Schöpfung eines Künstlers, eines Hofdichters. Mit seiner eigenen Melodie ging es durch das Land, die Melodie hat 372 Borchardt an Wiegand, nach 28. September 1928, Briefe 1924-1930, S. 278. Mit den „bestehenden Sammlungen des historischen Volksliedes“ hat Borchardt wohl vor allem die Sammlung Liliencrons im Blick: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Gesammelt und erläutert von Rochus von Liliencron. Vier Bände. Leipzig 18651869. 373 Johannes Weygardus Bruinier: Das deutsche Volkslied. Über Wesen und Werden des deutschen Volksgesanges. Dritte, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig 1908. 374 „Zum deutschen Altertum“, Prosa VI, S. 315. 375 Ebd., S. 317. 376 Ebd., S. 315. 377 J. W. Bruinier: Das Deutsche Volkslied a.a.O., S. 31. 378 „Zum deutschen Altertum“, Prosa VI, S. 316f.

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es getragen aber die Worte wurden durcheinandergeschüttelt, verloren ergänzt, vermehrt.“379 Sucht man also den Ursprung des Volksliedes in der Schicht, in der es angetroffen wird, vergißt man, daß es anonym gewordene Kunstdichtung ist, die „im Weitersingen zerfressen“380 wurde und erst dadurch dort landete. Tatsächlich – ein weiterer Beleg für Borchardts Ablehnung der Musik – sei der Gesang den obersten Schichten fremd, diese seien nur stille Rezipienten und Bewahrer: Dem „letzten Bauer [der] das Modelied mitgröhlen“ wolle stünden „der Herr und die Frau die das Lied hören wollen und lesen“ und „Vizgrafen und Gräfinnen, die lohnen wollen und schützen, Ruhm erlangen und der Nachwelt gehören“,381 gegenüber. Wenn, nach Herder, auf den sich Borchardt als Sammler beruft, sich im Volkslied der „Volksgeist“ offenbart, so existiert der „Volksgeist“, nach Borchardt, nur in den oberen Schichten – einen vergleichbaren Gedanken gibt es bei Borchardt auf dem Gebiet der Politik, wenn er den Begriff „Volk“ durch den der „Nation“ ersetzt haben möchte, um ihn vom „Pöbel“ 382 abzusetzen und damit eine „Minderheit“, „die geheiligte Auslese über dem Pöbel“ als kulturtragende Schicht zu bestimmen.383 „Der Wissenschaft habe ich nicht vorgegriffen aber, wie meine Ahnen, Sammler und Liebhaber des 18t und frühen 19ten Jahrh[underts] gethan haben, auch meinerseits thun zu dürfen geglaubt: Frischweg aufgespürt gesammelt und gedruckt was ich liebe und um bestimmter Gründe willen ganz auf meinen eigenen Wegen liebe, suche und finde. Wir Dichter und Leser können nicht immer warten, bis die Zunftbrüder und Gildenmeister den Augenblick für gekommen erachten, in dem sie ein ‚Material‘ ‚aufarbeiten‘. Gedichte wollen wir lesen, uns daran freuen wollen wir, und jeder das Seine daran lernen.“ 384 Jene „Sammler und Liebhaber“ des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die Borchardt hier als Leitbilder für seine Ausgabe nennt, sind vor allem Bodmer, der erste Sammler mittelalterlicher Dichtung (Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts, 1748), auf den Borchardt sich zu Beginn seiner Rede „Dichten und Forschen“ (1925) beruft;385 Herder, der Übersetzer der Stimmen der Völker in Liedern, über dessen zentrale Bedeutung für Borchardt schon gesprochen 379 Theophil Spoerri: „Gespräche mit Rud. Borchardt“ a.a.O. 380 Borchardt an Vossler, 22. November 1929, Briefe 1924-1930, S. 389. Vgl. Hans Naumann: Grundzüge der deutschen Volkskunde. Leipzig 1922, S. 118. 381 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 503. 382 „Schöpferische Restauration“, Reden, S. 249f. 383 „Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur“, Reden, S. 396. 384 Borchardt an Josef Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 35f. 385 „Dichten und Forschen“, Reden, S. 184. Borchardt besaß ein Exemplar von Bodmers „Minnesängern“ als Geschenk von Josef Hofmiller, vgl. Borchardt an Nadler, 26. Juni 1924, Briefe 1924-1930, S. 27.

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wurde; und Achim von Arnim und Clemens Brentano, die Herausgeber von Des Knaben Wunderhorn. Borchardt beruft sich auch auf diese Namen, um seine Methode zu rechtfertigen, die das Eingreifen in den Text, wo es im Namen der Poesie für sinnvoll gehalten wird, ausdrücklich vorsieht. Damit stellt sich Borchardt außerhalb der mit den späteren Sammlern wie Uhland und Rochus von Liliencron begonnenen Tradition, den Texten mit Quellenangaben und ausführlichen Kommentaren eine sorgsame philologische Behandlung zukommen zu lassen, er stellt sich damit auch außerhalb der Philologie seiner Zeit, die er mit einigen Ausnahmen durchweg ablehnt;386 er wirft ihr vor, daß es für seine Arbeit „ganz und gar keine Vorarbeiten und keine Literatur [gebe], nur rohe Abdrucke mit Variantenspiegeln, die da zu arbeiten aufhören wo die echte Arbeit, nicht die geistige Trägheit die sich Textemachen nennt, erst anfängt“. 387 Wo er hinschaue, stehe „das ungebrochene Blau der fehlenden Forschung“. 388 Philologisch will und soll seine Arbeit aber sein, schon Hofmannsthal spricht von Borchardts „philologischem Interesse“389 an den Texten der Deutschen Renaissancelyrik, und auch der Plan, seine Nachworte für ein entsprechend gebildetes Publikum in einem Band zu vereinen, oder sein Vorhaben, die Rechtfertigung der Deutschen Renaissancelyrik im Euphorion erscheinen zu lassen, zeigen es deutlich. 390 Vor allem jedoch denkt Borchardt an eine „höhere“ Philologie, die eben im Geist der Romantik einen poetischen Umgang mit fremden Texten einem philologisch treuen vorzeiht. Den wenigen verstreuten Äußerungen Borchardts über sein Anthologieprojekt läßt sich entnehmen, daß er es in Zusammenhang setzt mit dem größten Projekt, das ihn während der zwanziger Jahre beschäftigt: der Übertragung von Dantes Comedia. 391 Erste Proben davon erscheinen 386 Vgl. Borchardt an Nadler, Ende Januar 1927, Briefe 1924-1930, S. 177-180 mit abfälligen Passagen über Carl von Kraus und Eduard Schwartz. 387 Borchardt an Nadler, August 1924 (nicht abgesandt), ebd., S. 36. 388 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 476f. 389 Hofmannsthal an Wiegand, 18. Januar 1924, „Briefe an Willy Wiegand und die Bremer Presse“ a.a.O., S. 109. 390 Vgl. Borchardt an Wiegand, nach dem 23. Juli 1927, Briefe 1924-1930, S. 219f.: „Was ich zu diesen Gedichten und Fragen im ganzen Zusammenhange ihrer Geschichte und meiner Gedankenwelt zu äussern habe, kommt in eine Aufsatzreihe im Euphorion, wo die Wissenschaft es zu suchen hat und zu finden weiss, und dann in ein Buch, für das ich mir, bei dem ganzen drohend grossen Ernst der Sache, schickliche Zeit lasse.“ 391 Zu Borchardts Übertragung der Divina Comedia vgl. u.a. Hans-Georg Dewitz: “Dante Deutsch.“ Studien zu Rudolf Borchardts Übertragung der „Divina Comedia“. Göppingen 1971; Karin Westerwelle: „Borchardts Dantebild.“ In: Deutsche Italomanie in Kunst, Wissenschaft und Politik a.a.O., S. 65-84; Kurt Flasch: „Borchardts Dante.“ In: Das wilde Fleisch der Zeit a.a.O., S. 146-168.

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schon 1909 in dem von Borchardt zusammen mit Hofmannsthal und Schröder herausgegebenen Jahrbuch Hesperus, ausgewählte Gesänge 1922, die ersten beiden Teile 1923, parallel zu der Arbeit an Deutsche Renaissancelyrik entstehen die Übertragung des „Paradiso“ und das Nachwort, bis der vollständige Dante deutsch 1930 erscheint. 392 Borchardt sieht in Deutsche Renaissancelyrik ein „Parergon“393 zu seinem Dante, und in einem Brief an Schröder heißt es: „Das Ganze ist ein Lieblingsplan von mir, aus der Dantearbeit entstanden und wissenschaftlich und werkmäßig mit ihm zusammenhängend“.394 Die theoretische Rechtfertigung seiner Übertragung von Dantes Comedia hat Borchardt eng an die Person und das Werk Konrad Burdachs geknüpft, neben Josef Nadler und Karl Vossler einer der wenigen Philologen seiner Zeit, die er akzeptiert und respektiert und die andererseits auch ihn als ihresgleichen betrachten. So ist die zweite Auflage von Burdachs Buch Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide (1928) eines der wenigen Belege von einer wissenschaftlichen Wirkung Borchardts zu Lebzeiten. Burdach schreibt Borchardt, er habe darin dessen „schöne Studie über den dichterischen Gehalt [...] des armen Heinrich“, sein „eigenes Urteil berichtigend oder vielmehr widerrufend, dankbar und preisend angeführt“. 395 Ihm ist Borchardts Übertragung mit dem Nachwort „Konrad Burdach zum siebzigsten Geburtstage“ – in der Werkausgabe erscheint es als „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“396 – nicht nur gewidmet, auch sind darin wichtige Gedankengänge aus Burdachs Arbeiten übernommen und weitergeführt. Borchardt beklagt zwei Katastrophen, die der 392 Vgl. Ingrid Grüninger: Rudolf Borchardt. Verzeichnis seiner Schriften a.a.O., Nr. 575, 584, 594, 595, 598 und 604. 393 Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, S. 34. 394 Borchardt an Schröder, September 1929, Briefwechsel 1919-1945, S. 140. 395 Burdach an Borchardt, 9. Juli 1928 (DLA); vgl. Borchardt an Wiegand, 28. September 1928: „Burdach schreibt mir soeben wieder [...], und teilt mir mit, dass er in der Neuauflage seines gerade bei Niemeyer wieder erscheinenden Buchs über Reimar und Walther auf Grund meiner Interpretation des Armen Heinrich seine frühere Auffassung gegen die neuvorgelegte vertauscht habe.“, Briefe 1924-1930, S. 280; vgl. Konrad Burdach: „Zu Hartmann von Aue.“ In: Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Zweite berichtigte Auflage mit ergänzenden Aufsätzen über die altdeutsche Lyrik. Halle 1928, S. 288-298, hier die Anmerkung auf S. 298, in der Borchardts Nachweis von „Hartmanns Künstlergröße“ zwar hervorgehoben wird, als derjenige, der Burdachs Meinung änderte, aber nicht Borchardt, sondern Wilhelm Wackernagel genannt wird. Vgl. zu Borchardt und Burdach Susanne Hofmann: Bildung und Sehnsucht. Untersuchungen zum Mittelalterbild Rudolf Borchardts. Paderborn 1995, S. 185-195; Christoph König: „Eine Wissenschaft für die Kunst. Wie Burdach, Borchardt und Hofmannsthal einander nützen.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen a.a.O., S. 84-112; Christoph König: Hofmannsthal a.a.O., S. 172-212; Gerhard Schuster: „Rudolf Borchardt besucht Konrad Burdach.“ In: Merkur. 57. Jg. 2003, Heft 6, S. 480-483. 396 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 472-531.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

deutschen Kultur und Sprache zugestoßen seien. Die erste sei der Untergang der provenzalischen Trobadorkultur durch den Albingenserkreuzzug der Franzosen unter Philipp II. zu Beginn des 13. Jahrhunderts gewesen. Für Dantes Comedia habe dieser Vorgang zur Folge gehabt, daß sie den zuvor – mit den Provenzalen, vor allem mit Arnaut Daniel 397 und den Stilnovisten – begonnenen gesamteuropäisch wirksamen Prozeß nicht habe vollenden und krönen können und so außerhalb Italiens ohne Wirkung blieb.398 In Deutschland sei durch die Zerstörung der Trobadorkultur auch die Kultur der Minnesänger untergegangen – „Ich sah den Tod der Provence zum Tode Deutschlands werden“,399 heißt es im Nachwort zur Comedia –, auch indem nun die Höfe mit französischen Unterhaltungsromanen à la Chrétien de Troyes400 überschwemmt wurden und das kulturelle Deutschland unter dem Einfluß der „Stiltradition“ des alten Galliens, „der letzten Bewahrerin des antiken Schulsacks, eine bürgerliche Literaturtradition von clercs und Saubermachern, Spitzfindern, Advokaten und Grammatikern der Gefühle“, 401 verarmte. Borchardts Übertragung versucht nun als die „durchgeführte Anspielung auf ein ideell denkbares und geschichtlich fehlendes Werk, das Werk, das unser nationales Schicksal uns nicht gegönnt hat“, diesen Prozeß wenigstens fiktiv dennoch zu vollenden. Die zweite Katastrophe, nun über zwei Jahrhunderte später und in erster Linie sprachlicher Art, sei die Reformation gewesen, in deren Verlauf sich durch Luthers Übersetzung der Bibel die sächsische Kanzleisprache etabliert habe. Zwar erkennt Borchardt die Bedeutung von „Luthers gewaltiger und problematischer Tat“ 402 und verfaßt 1926 ein Ankündigungsblatt für die Ausgabe der Bremer Presse von Luthers Bibel,403 aber insgesamt steht er Luthers Unternehmen und seinen sprachlichen Folgen ablehnend gegenüber. Auch hier kann er sich auf den verehrten Burdach berufen, der mehrmals, etwa in seinem Aufsatz „Die Einigung der neuhochdeutschen Schriftsprache“ (1884), dem angeblichen Vorurteil widerspricht, nach dem Luther ‚dem Volk aufs Maul‘ geschaut habe, und nach397 Vgl. zur Würdigung Arnaut Daniels Borchardts Rede „Mittelalterliche Altertumswissenschaft. Arnaut Daniel und Giovanni Pisano als Schöpfer der modernen Seelenform Europas“ (1927), Prosa III, S. 71-92 und Borchardt an Alfred Risp (Entwurf), 28. Mai 1923, Briefe 1914-1923, S. 510-513. 398 Vgl. Konrad Burdach: „Dante und das Problem der Renaissance.“ In: Deutsche Rundschau 50. Jg. 1924, S. 129-154 und S. 260-277. 399 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 500. 400 Vgl. „Die großen Trobadors“, ebd., S. 346. 401 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, ebd., S. 490. 402 Ebd., S. 472. 403 „Luthers Bibelübersetzung“, Prosa III, S. 288-290.

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zuweisen versucht, daß Luther auf der Suche nach einer „möglichst allgemeinverständlichen, dialektlosen Sprache“ sich der „im mittleren und oberen Deutschland für den offiziellen Verkehr der fürstlichen und städtischen Kanzleien“ 404 gebräuchlichen Sprache bedient habe. Indem sich diese Kanzleisprache nun im weiteren Verlauf der Reformation durchsetzte und auch, mit dem Auftreten der schlesischen Barockdichter um Opitz, als die Sprache der deutschen Literatur etablierte, sei das Oberdeutsche, die Sprache des deutschen Minnesangs, vollends unbedeutend geworden.405 In der Zeit zwischen diesen beiden Katastrophen, dem Untergang des deutschen Minnesangs und der langsamen Wirkung der Reformation auf die deutsche Sprache, siedelt Borchardt die von ihm für seine Sammlung ausgewählten Texte an; dort also, „wo die letzten fahrenden Reimer anonym werden, die letzte Überlieferung einer Kunstart sich in die städtischen Singschulen Oberdeutschlands birgt“. 406 Denn: „Das kindische Vorurteil, als hörte die deutsche Poesie des Mittelalters da auf, wo die letzten großen Namen – Wolkenstein pp – aufhören, und finge wieder an wo die ersten Namen – Zinkgref Opitz pp. – wieder anfangen, wird auch von grundgelehrten Professoren höchstens theoretisch bestritten und durchschaut, praktisch gibt es zwischen 1350 und 1550 keine approfondierte Geschichte der deutschen Poesie hohen Stils.“407 Borchardt will mit seiner Anthologie diese Lücke gegen die ignorante Philologie mit Material und eigener Forschung füllen, da ihm die von ihm gesammelten Texte bedeutender als die bekannten vorher und nachher erscheinen: „Wo blieb [in der Forschung] die um 1300 namenlos werdende Lyrik, der Liederbücher und dann der Liederhefte, die mit durchgearbeiteten Prunkstücken schärfster persönlicher Prägung ins ‚Volkslied‘ oder ‚Gesellschaftslied‘ gehörte wie Pilatus ins Credo? viel wichtiger, kunstreicher, ergreifender, schöner als die letzen signierten Spätlingsprodukte, und die signierten Neulingsprodukte, und unbeachtet, umhergestellt, kaum ediert, nirgend durchforscht und erklärt?“408 Auch für diese Lücke ist Burdachs Werk von Bedeutung, der als einziger an die „Krisenfelder der unangerührten Forschung“ 409 gerührt habe 404 Konrad Burdach: „Die Einigung der neuhochdeutschen Schriftsprache.“ (1884) In: Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. Erster Band, zweiter Teil: Reformation und Renaissance. Halle 1925, S. 1-33, S. 7f. 405 Vgl. „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 480. 406 Ebd., S. 476f. 407 Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 36. 408 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 493. 409 Ebd., S. 474.

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und vor allem den von Jacob Burckhardt aufgestellten Begriff der „Renaissance“ revidiert habe – nach Borchardt die „außerordentliche Fiktion, der einzige große Mythus, den die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat“. 410 Burdach habe gezeigt, daß die auf Burckhardts Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) zurückgehende Vorstellung, nach der das Mittelalter lediglich ein finsteres, „negatives Widerbild der Renaissance“ gewesen sei, ein Irrtum sei, er habe die Renaissance als „tiefmittelalterlich erwiesen“ und dadurch die „schulmäßige Epochensonderung“ aufgehoben.411 Burdach weist in seinen Schriften auf die Kontinuität von mittelalterlichen Vorstellungen in Begriff und Theorie der Renaissance hin412 und legt den Beginn der Renaissance in Deutschland bereits in die Jahre um 1350, angestoßen durch die Besuche Colas di Rienzo (1350-52) und Petrarcas (1356) am Prager Hof und betrieben und gefördert durch den Kanzler Karls V., Johann von Neumarkt, und dessen Kreis. Borchardt sieht als die hauptsächliche philologische Leistung seiner Anthologie Deutsche Renaissancelyrik nicht nur den Beweis, daß in der „Lücke“ zwischen 1380 und 1600 bedeutende Dichtung entstanden sei, sondern auch den Nachweis, daß die Texte, die ja den Daten der Drucke nach mehrheitlich aus den Jahren zwischen 1570 und 1620 stammen, also aus der Zeit unmittelbar vor dem Auftreten der Barockdichter, sehr viel älter seien und damit also der italienische Einfluß ebenfalls früher eingesetzt habe als die Madrigalenmode ab 1570. Damit steht er im Widerspruch zu der Arbeit Veltens, der die deutschen Texte größtenteils sehr eng an nur wenige Jahre ältere italienische Vorbilder knüpft. Borchardt dagegen sieht nach der früheren Einflußwelle der Provenzalen eine zweite um „die Villanelle und Petrarca“, die deutlich vor der Mode italienischer Lieder um 1600 gelegen habe. Tatsächlich dreht Borchardt Veltens Ausgangsthese um. Dieser sieht in der Musik die alleinige Trägerin des Einflusses, Borchardt ist dagegen der Auffassung, daß die Musik eine Weiterentwicklung verhindere; für ihn ist „die mächtiger werdende Musik nicht eine Tradition, sondern die Fein410 Ebd., S. 477. Vgl. zu Borchardts Kritik an Burckhardt auch “Mittelalterliche Altertumswissenschaft”, Prosa III, besonders S. 77-83. 411 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 477f. 412 Vgl. Konrad Burdach: Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung. Halle 1893; Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung. Zweite vermehrte Auflage. Berlin 1918; Vorspiel. Gesammelte Schriften zur Geschichte des deutschen Geistes. Erster Band, zweiter Teil: Reformation und Renaissance a.a.O.; Reformation Renaissance Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst. Zweite Auflage. Berlin 1926; Aus Petrarcas ältestem Schülerkreise. Texte und Untersuchungen. Hrsg. von Konrad Burdach. Berlin 1929.

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din der literarischen Tradition […], und das Primat der Weise, auf das vehemente Sangesbedürfnis des ganzen Volkes gegründet, die Texte zu Unterlagen erniedrigt, die Individuen nicht mehr aufnimmt, die Aufmerksamkeit für das selbstbewußte dichterische Gebilde höherer Form weder aufbringt noch kennt noch begriffen hätte, und damit der paradoxe Gegensatz einer sich noch lebhaft entwickelnden Poesie auf der einen und eines menschlichen Vacuums auf der anderen Seite entsteht, das von der Poesie, die es singt“, 413 keine Ahnung habe. Die Musik, indem sie den Text an die Melodie bindet und ihn damit festlegt, wird zum Tod der sich entwickelnden lebendigen Poesie: „Die Macht der zweiten musikalischen Welle, die von Niederrheinfranken sich ein Jahrhundert später [also ab 1450] über die Welt ergießt, vollendet die Katastrophe – der Modeprimat des mehrstimmigen Vokalsatzes, der den immer wieder nachwachsenden Trieb unserer Individualpoesie aus den Wurzeln schwemmt“. So werde die deutsche Poesie, nach dem Untergang der Trobadorkultur kaum sich selbst überlassen, „noch ein Mal analphabet“, und die Deutschen „zerwüten und zerdalben eine immer noch hochfliegende Poesie in ‚Volkslied‘ und ‚Gesellschaftslied‘“.414 In den Drucken, die Borchardt vorfindet und auf die er, da er frühere Vorkommen und Fassungen kaum nachweisen kann, seine Theorie stützen muß, sieht er das letzte Stadium einer Entwicklung; er glaubt, daß in ihnen die Überreste eines während seiner ungehinderten Entfaltung sehr viel großartigeren Bestands bereits in einem Zustand des Zerfalls dokumentiert sind. Velten hebt in seiner Arbeit hervor, daß der italienische Einfluß durch die Musik in Deutschland sich zunächst nur metrisch bemerkbar gemacht habe.415 Da Borchardt hingegen an einen Einfluß durch die Musik nicht glaubt, sieht er den italienischen Einfluß zuerst in den Motiven. Auch bei den ersten Wirkungen provenzalischer Lyrik in Deutschland sei durch die Verbindung des provenzalischen Gehalts mit deutschen Spielmannsstrophen zunächst eine „Übergangslyrik“ entstanden.416 Die Einflußwelle um „die Villanelle und Petrarca“, so heißt es in einem Brief an Burdach, bilde nun „die genaue Parallele zu den ältesten mhd. Umsetzungen der Provenzalen in die Metra des bodenständigen bair.-österreichischen Spielmannstones, denen hier wie dort die strophisch getreue Nachbildung erst folgt, weil Musik (und Tanz) conservativer sind, als der Stoffe- und Motivsinn. (Bei Velten ist das nicht verstanden)“. Den dabei entstandenen Tex413 414 415 416

„Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa II, S. 502. Ebd., S. 503. Vgl. Velten: Das ältere deutsche Gesellschaftslied a.a.O., S. 23-25. „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 496f.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

ten gilt sein Interesse: „Ich habe die deutschen Renaissance Terzette, die wol alle in Nürnberg entstanden sind, die Petrarkische Motive stilstreng umsetzen und ihn sogar namentlich citieren, ziemlich beisammen.“ 417 Petrarkistische Motive italienischen Ursprungs lassen sich in Borchardts Anthologie bei einem Großteil der Gedichte finden; als Beispiel mag das bekannte „Wer sehn wil zween lebendige brunnen“418 dienen, das mit den Augen als Brunnen, den von der Liebe geschlagenen Wunden, der Liebe als Feuer und der grausamen, abweisenden Geliebten zentrale petrarkistische Motive enthält. In der Erforschung der frühen Wirkung Petrarcas in Deutschland trifft sich Borchardts Vorhaben wieder mit den Arbeiten Burdachs. Im Briefwechsel zwischen Borchardt und Burdach spielt dieser Komplex zwar eine Rolle, allerdings ohne daß Burdach mehr als oberflächlich auf Borchardts Entdeckungen eingehen würde. Borchardt erkennt jedoch, daß sich beider Forschung ergänzt: „Ihre Petrarca Mitteilungen sind mir besonders darum so wertvoll weil ich von anderer Seite her die ersten Spuren seiner Wirkung auf Deutschland verfolge; und da meine eigenen Feststellungen in den Donaukreis führen, der künstlerisch und literarisch um 1400 so stark böhmisch beeinflusst ist, so ist der Olmützer Codex ein bestätigender Fingerzeig. Sie werden den charakteristischen Sonderfall der Übersetzung von ‚Di pensier in pensier, di monte in monte‘ in Strophen des jüng. Hildebrandtliedes, in der Auricher Hsr. kennen (bei Velten Gesellschaftslied etc.)“.419 Diese frühe Petrarca-Übersetzung, bei Velten lediglich ein „eigenartiger Fall“,420 den er als weiteren Beweis in „das Bereich musikalischen Einflusses“421 verweist, dient Borchardt dagegen als Hinweis auf die Richtigkeit seiner These, daß die italienische Literatur der Renaissance in Deutschland schon früher Wirkung zeigte, als die Daten der Musikdrucke, die er sichtet, vermuten lassen. Borchardt findet schließlich ältere Texte, an denen er nicht nur motivisch, sondern auch metrisch italienischen Einfluß festzustellen glaubt. Sein wichtigstes Beispiel ist ihm dabei die „Augsburger Singschule“, deren Strophen mit neun zehnsilbigen Versen und dem Reimschema aaabbbccc 417 Borchardt an Burdach, 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 336. 418 Regnart 1593 Nr. 15, Deutsche Renaissancelyrik, S. 16; vgl. Velten a.a.O., S. 30-32. 419 Borchardt an Burdach, 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 336. Der „Olmützer Codex“ ist jene lateinische Petrarca-Handschrift, die Burdach in Aus Petrarcas ältestem deutschen Schülerkreise im Kreis der Nachfolger Johanns von Neumarkt situiert; vgl. auch Burdachs „Eine Forschungsreise zum Ursprung der neuhochdeutschen Schriftsprache und des deutschen Humanismus.“ (1903) In: Vorspiel a.a.O., S. 141-202. 420 Velten: Das ältere deutsche Gesellschaftslied a.a.O., S. 148. 421 Ebd., S. 151.

3. Deutsche Renaissancelyrik

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tatsächlich auf einen Einfluß der italienischen Terzine hinzuweisen scheinen. Sie beginnt: O herre got! ich klag dir als mein laid und den irrsal der ganzen cristenhait, kum ir zu hilf und gib ir underschaid, dass si sich halten müg in deiner huld! ich main die arm gmain hab des kriegs kain schuld, ich bitt dich, herre, hab mit ir geduld! gedenk dass du selb an dem creuze fron auf rufetest zu deinem vater schon: „vergib den die nit wissen was si tun!“ 422

Borchardt muß sich über die „Augsburger Singschule“ bereits zu Beginn seiner Arbeit bei Konrad Burdach erkundigt haben. Dessen Antwort ist erhalten, bleibt gegenüber Borchardts Vermutung eines italienischen Einflusses aber zurückhaltend: „[D]ie Augsburger Singschule von 1449 kenne ich […] als interessantes, kirchenpolitisches und sozialgeschichtliches Zeitdokument, dessen Verfasser Ulrich Wiest ein Augsburger Meistersinger ist. [...] Die Strophenform (drei Terzette zehnsilbiger Verse) hat freilich Ähnlichkeit mit romanischer Kunst.“423 Im Zusammenhang mit diesem Gedicht sieht Borchardt auch die Villanellen der „Renaissancelyrik“. So schreibt er an seine Frau: „Du entsinnst Dich vielleicht dass die sogenannten deutschen Villanellen – die in den Beiträgen ausgelesenen Terzinen – erst in späten Drucken, des ausgehenden 16ten Jahrh., vorliegen, ich aber immer behauptet habe, sie – resp. die ganze Gattung – sei um ein Jahrhundert älter und müsse mit dem Liede Ulrich Wiests, des Augsburgers, von der Augsburgisch-Würzburger Fehde, zusammenhängen, das im gleichen, fast dantischen, Metrum gedichtet und an der Augsburger ‚Singschule‘ dem dortigen Meistergesangs-Centrum also, entstanden und vorgetragen worden ist. Denn auch für dies […] behaupte ich italienischen d. h. Frührenaissance-Einfluss“. Später entdeckt er dann einen Text, mit dem er glaubt, „das Apercu, das mich bei meinen ganzen Volkslied-Streifen geleitet hat, sich in strahlende Wahrheit“ verwandeln zu sehen – es sei nun im „‚Lochamer Liederbuche‘ von 1458, einem der ältesten die es gibt, und dem Wiestschen Liede fast gleichzeitig, die erste Villanelle aufgetaucht und hat sich erstaunlicher Weise feststellen lassen, dass sie berühmt war und von niemand geringerm als Nicolaus von Weyl citiert wird, dem ersten grossen Übersetzer der italienischen Frührenaissanceliteratur – Boccaccio, Poggio etc – ins Deutsche – Kanzler süddeutscher Herrscher, der 422 Vgl. Deutsche Renaissancelyrik, S. 331. Aus: Rochus von Liliencron (Hrsg.): Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert a.a.O., Band 1, Nr. 89. 423 Burdach an Borchardt, 23. Dezember 1923, DLA.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

seine Bildung gerade in Nürnberg empfangen hatte und ein naher Freund des glänzendsten Italieners der Zeit, des Enea Silvio Piccolomini, spätern Papstes Pius des VIIten war. [...] Damit ist ein Hauptschlag gethan und alles was bisher nur von mir diviniert war, Alter, höfischer Charakter, italienische Einflusssphäre, Beziehung auf Nürnberg, – wo alle ältesten Drucke gemacht worden sind, d. h. diese Poesie centrierte und populär war – ins Beweislicht gerückt, und ich arbeite von nun ab auf festen Bahnen.“424 Mit der ältesten Villanelle ist das 43. Stück des „Lochamer Liederbuchs“ gemeint, „Mocht gedenken bringen mich do hin“.425 Gleichzeitig ist ihm die „Augsburger Singschule“ auch eine bedeutende Orientierung für die Übertragung von Dantes Comedia: „[D]ie deutschen Terzette – Terzinen kann man sie nicht nennen – des Augsburger Sirventesen von 1449 gegen die fehdesüchtige geistliche Landeshoheit, (in Valentin Holls Handschrift) von allen Stücken unserer älteren Literatur das der dantischen Stilwelt am nächsten gekommene, weil unzweifelhaft schon unter italienischen Einflüssen entstandene – es hat mir früh als stilistischer Augenpunkt und als metrischer gedient.“ Ein „zeitgeologisches Kuriosum“, das er „nicht rückwärts sondern eher auf die petrarkistischen Textedichter der Nürnberger Villanellen vorwärts deutend“426 liest. Die Entdeckung der Villanellen der Renaissancelyrik etwa in den Sammlungen Regnarts wird so zur gar nicht mehr überraschenden Bestätigung der Richtigkeit seiner Übertragung und des eigenen intuitiven „Aperçus“: „Weisst Du, dass das ein Schlag sein wird, und die deutsche Poesie plötzlich um eine unbekannte Epoche ihres grossen Stils bereichert dastehn wird? Aus alten Sammlungen ist das Erstaunlichste herausgetreten, unerahnbares, aber doch in der genauen Richtung in der ich es nach den zerstreuten Proben der gedruckten Sammlungen ahnte, – und die schönste Rechtfertigung des Stiles meines Dante. Ich hatte ihn einfach dichterisch diviniert, die Geschichte und die Denkmäler bestätigen ihn mir in die Hand.“427 424 Borchardt an Marie Luise Borchardt, 28. August 1924, DLA. 425 Deutsche Renaissancelyrik, S. 335. Vgl. Das Lochamer-Liederbuch. Hrsg. von Walter Salmen und Christian Petzsch. Wiesbaden 1972, S. 122f., wo die Übereinstimmung mit Wyle auch als „eine geläufige Bildung“ möglich erscheint. Vgl. auch Nicole Schwindt: ‚„Philonellae.‘ Die Anfänge der deutschen Villanella zwischen Tricium und Napolitana.“ In: Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Zywietz, Volker Honemann und Christian Bettels. Münster 2005, S. 243-283, die die ersten deutschen Villanellen auf die ersten Sammlungen von Ivo de Vento um 1570 datiert. 426 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 527f. Schon in einem auf „Advent 1923“ datierten Brief an Nadler finden sich „Nürnberger Sirventesen und Villanellen um 1500“ im Zusammenhang mit dem „Ideenschooss hinter der künstlerischen Geburt“ des deutschen Dante erwähnt (Briefe 1914-1923, S. 536f.). 427 Borchardt an Marie Luise Borchardt, nach dem 2. Februar 1924, DLA.

3. Deutsche Renaissancelyrik

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Weitere Belege für seine These, daß der italienische Einfluß früher wirksam ist als etwa 1570, hat Borchardt nicht vorzuweisen. Um sie dennoch aufrechtzuerhalten, muß er das Alter der Texte an den ihm vorliegenden Drucken nachweisen. Dazu muß er sie zunächst anonymisieren: denn die Namen der Komponisten und Textdichter gelten ihm nichts, da sie ihm zufolge nur ältere Motive und Gedichte wieder aufnehmen; sie fehlen auch bei den vorhandenen Zusätzen, die Borchardt unter die Gedichte setzt. Hier gibt Borchardt allein das Druckdatum an – versehen mit der Angabe „Erster Druck“, die andeuten soll, daß der Text, bevor er gedruckt wurde, schon ungedruckt vorhanden war. Damit sein Konstrukt nicht gefährdet wird, muß er die Texte außerdem älter machen als die Daten der Drucke und datiert, ermutigt durch das Versmaß der „Augsburger Singschule“ und der angeblichen Villanelle des Lochamer Liederbuches, den Beginn der „auf den deutschen Endecasillabo gestützen, von den Villanellen nur ausgehenden Poesie“ bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts, also bis um hundertfünfzig Jahre zurück, „womit alle bisherigen Ansätze“, wie er an Burdach schreibt, „die äusserlich an den Druckdaten der Liederbücher kleben, hinfällig werden, und die musikalische Influenz, die bisher als ausschliessliche Trägerin der literarischen betrachtet worden ist, sich als verstärkende Etappe in den Gang einer weil älteren Entwickelung einordnet.“ 428 Beide Verfahren, das Ältermachen und das Anonymisieren, wendet Borchardt auch in Ewiger Vorrat deutscher Poesie an.429 Hier wie dort dient beides dazu, hervorzuheben, wie sehr die jeweils versammelten Texte für eine höhere Einheit jenseits der materiellen Überlieferung stehen. Der Geist der deutschen Poesie befindet sich dabei beide Male im „Centrum“: Im Ewigen Vorrat entsteht er diachron, in der Entwicklung seines Tons, in Deutsche Renaissancelyrik synchron, als Dokument des Zustands dieses Tons der deutschen Poesie zu einer bestimmten Zeit. Das unsichtbare „Centrum“, das Borchardts „Divinationen“ zugrunde liegt, garantiert der Sammlung eine höhere Einheit als die der Anordnung der Texte, die hier keinem nachvollziehbaren Kriterium wie Chronologie, Form, Inhalt, Quelle oder Druckdatum zu folgen scheint. Die anonymisierten Lieder erscheinen als Gedichte eines Geistes, dem der unter italienischem Einfluß stehenden Poesie des 15. Jahrhunderts. Bei der Einrichtung der Texte der Deutschen Renaissancelyrik interessiert Borchardt in erster Linie ihre Sprache, in der er den vom Oberdeutschen dominierten Zustand des Deutschen sieht, bevor dieser vom Neuhoch-

428 Borchardt an Burdach, 3. September 1929, Briefe 1924-1930, S. 337. 429 Vgl. S. 233 dieser Arbeit.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

deutschen, jener „Kolonistensprache emporgearbeiteter Stände“, 430 zerstört worden sei. Das Neuhochdeutsche ist für Borchardt „eine Sprache, in der nicht gelitten und gefühlt, geliebt und geformt, rückerlebt und ausgeblickt, zugefügt und erfahren werden sollte, sondern mitgeteilt, angezeigt, zugeschrieben und verhandelt […] so künstlich und gemacht, so sehr nicht jung, nicht alt, so lehrhaft und erlernsam, so nicht geschichtsträchtig und doch nicht aus frischer Tat gespeist“,431 dabei „einschichtig“, „krankhaft conservativ in der äußerlichen Wortgestalt“ und „ebenso krankhaft kahl und kargend in der Wortwahl“.432 Dieser neuen und allgemein akzeptierten, aber eben auch deutlich ärmeren Sprache will Borchardt die ältere, reichere entgegensetzen, denn sei das Neuhochdeutsche auch „eine arme und trockene Geschäftssprache“, so liege doch „eine abgestorbene Poesie“ 433 hinter ihr. Er will zeigen, „wie weit unsere alte spätmittelhochdeutsche Dichtersprache in Pathos und Ausdruckskraft gekommen war, als die Reformation, die anfänglich noch nichts gestört oder zerstört hatte, aus der akuten zur chronischen Erkrankung des Volksganzen wurde und mit den Eiterherden immer neu ausbrechender Kriege die feinste Oberhaut und tragende Schicht der Nation jahrzehntelang abfrass.“434 Obwohl Borchardt die Texte in erster Linie orthographisch modernisiert und vereinheitlicht, gilt sein Interesse vor allem ihrer älteren Sprachform. Diese beläßt er stets und streicht sie, wenn möglich, noch heraus. So gibt er dem Setzer an, „können“ durch das ältere „künnen“ zu ersetzen, 435 oder setzt selbst „erspreit“ statt dem neueren, vertrauten „erstreckt“.436 Außerdem merkt er dialektale Formen an und weist ihre Herkunft nach, etwa „thein“ als bayrisch-tirolische Form für „thun“437 und „thean“ wiederum als Variante davon.438 Damit rettet Borchardt nicht nur einen Reim – „klein“ auf „thein“ und „an“ auf „thean“ – sondern versucht auch, eine ältere Form des Gedichts „auf den Wegen der Etschaufwärts wandernden italienischen Villanellen- und Madrigalenmusik“ 439 zu 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439

„Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 517. Ebd., S. 479f. Ebd., S. 518. „Luthers Bibelübersetzung“, Prosa III, S. 289. Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 36f. Die religiösen Aspekte der Reformation interessieren Borchardt auch hier nicht; für ihn sind allein ihre Folgen für die deutsche Sprache und Poesie von Bedeutung. Vgl. Turini 1590 Nr. 6: „Wer mir mein lieb abewenden will“, Deutsche Renaissancelyrik, S. 110, vgl. auch Regnart 1591 Nr. 4: „Wie wirdet nun Amor“, ebd., S. 107. Zangius 1622 Nr. 2: „Ein edler Zweig“, Deutsche Renaissancelyrik, S. 186, Vers 15. Regnart 1593 Nr. 38: „Das du von meinetwegen“, ebd., S. 26. Lechner 1589 Nr. 20: „Junger Bursch“, ebd., S. 79, Vers 5. Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 35.

3. Deutsche Renaissancelyrik

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rekonstruieren. Nach seiner Theorie, daß die Motive schon vor der Musik über die Alpen nach Deutschland gewandert sind, bedingt das Ältermachen auch ein In-den-Süden-Schieben der Texte. Gleichzeitig zeigt er die formale Aneignung von italienischen Formen in den Gedichten auf: Nicht nur ist ihm die scheinbar erste deutsche Villanelle im „Lochamer Liederbuch“ ein solches Beispiel, auch in der Sammlung zeigt er „erste durchgeführte Alexandriner, vollkommene Pausen und Cäsuren“440 und bemerkt: „nach dem Italienischen, meisterhaft“.441 Borchardts Versuch zu zeigen, daß die Texte älter sind, als ihre Druckdaten erkennen lassen, geht einher mit dem Ausmerzen vermeintlich jüngerer Stellen und Passagen. So streicht er einzelne Strophen aus den Vorlagen und schreibt „Interpolation“ an den Rand,442 um zu zeigen, daß es sich hier um spätere Einschübe handelt; ähnliches dürfte für andere Streichungen gelten. Auch wenn Borchardt anmerkt: „schon interpoliert“443 oder „schon überarbeitet, Urform wol noch zierlicher“,444 verweist er auf ältere Formen, von denen anzunehmen sei, daß sie der vorliegenden Form überlegen waren, aber nicht mehr rekonstruiert werden können. Offenbar verderbte Stellen muß Borchardt belassen. In dem Gedicht, in dem es heißt: „Ade meins Herzen Krönelein,/ O schwere pein/ lieb haben und sich massen/ endlich noch gar ablassen/ bricht herz und bein der Liebsten mein/ es muss einmal geschieden sein“ 445 macht er etwa am Rand der Zeile „bricht herz und bein der Liebsten mein“ einen Asterisk und schreibt: „unheilbar verdorben.“ Neben diesem bewussten Freilegen der vermeintlich älteren Sprachform dienen Borchardts Eingriffe in besonderem Maße auch der metrischen Glättung und der Rekonstruktion verlorengegangener Reime. Die Mehrstimmigkeit der italienischen Musik, zu der die Lieder ab 1570 gesungen und gesetzt wurden, macht diese Eingriffe nötig. Erstens geht das Metrum des Gedichts durch das von der Musik vorgegebene unter, zweitens werden die Reime durch die Verschlingungen der einzelnen Gesangsstimmen und durch die Wiederholung einzelner Wörter und Phrasen nicht mehr gehört und gesehen, zumal bei Ausgaben, die den Text nicht wie die Borchardts in Versen, sondern unter die Notenschrift drucken. Bei einigen Gedichten korrigiert er nur Einzelstellen,446 andere Gedichte wie „Jung440 441 442 443 444 445 446

Lechner 1588 Nr. 17: „Fahr immer hin“, Deutsche Renaissancelyrik, S. 67. Hassler 1596 Nr. 17: „Madrigal“, ebd., S. 121. Rost 1583 Nr. 16: „Wolauff Gesang“, ebd., S. 59. Pinellus 1584 Nr. 18: „Minne“, ebd., S. 56. Lechner 1588 Nr. 4: „Meinfraue im grünen Rock“, ebd., S. 58. Franck 1602 Nr. 12: „Ade meins Herzen Krönelein“, ebd., S. 116. Vgl. Regnart 1593 Nr. 10: „Mein Mund der singt“, Deutsche Renaissancelyrtik, S. 12, Vers 6.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

frau ich wolt euch“447 oder „Gegn dir hab ich mich vernemen lassen“448 arbeitet er metrisch völlig um. Die Rekonstruktion von Reimen will ebenfalls die ursprüngliche Gestalt der Texte wieder freilegen. Oft muß dazu nur ein Wort ausgetauscht werden, so wird „bedacht“ zu „versucht“, um den Reim zu „zucht“ wiederherzustellen; 449 an anderer Stelle müssen lediglich Endungen verändert werden, so werden „Sonn“ und „lohn“ zu „Sonne“ und „lohne“, um den Reim zu „hohne“, „Morgenstern“ und „gern“ zu „Morgensterne“ und „gerne“, um den Reim zu „ferne“ wieder herzustellen.450 Gleichzeitig kann Borchardt mit solchen Eingriffen ältere Sprachformen wieder sichtbar machen: „können“ wird zu „künden“ (Reimwort „verschwinden“ bzw. „überwinden“), „gedeyen“ zu „gedeygen“ (Reimwort „neygen“),451 „erfreuen“ zu „erfreugen“ (Reimwort „eigen“)452 und „davon“ zu „davan“ (Reimwort „Ordensmann“).453 Gerade in diesen Eingriffen zeigt sich noch einmal, wie eng für Borchardt die Übertragung von Dantes Comedia und das Anthologieprojekt zusammenhängen. Während er die Ursprünge der Gedichte in Deutsche Renaissancelyrik um etwa 150 Jahre zurückdatiert, schiebt er gleichzeitig die Sprache seines Dante diesen entgegen. Diese sei ihm während der Arbeit am Dante „in Fluß geraten, das steingewordene Gefüge der Geschichte gab nach und schmolz, setzte sich in Bewegung und rückte als Durchbruch gegen die uns rings bedingende Wand des Luther-OpitzGottschedschen Geschiebes, den Klassizismus.“454 Die Sprache von Borchardts Dante ist ein Konstrukt, nicht nur etwas, „was hätte sein können“, sondern sogar etwas, „was hätte sein sollen, ja, was hätte sein müssen“.455 Borchardt bedient sich dabei einer „Fiktion“: „Ich habe mir freilich, um meine Arbeit nicht aus allem Maß geraten zu lassen, eine Fiktion allmählich aufrüsten müssen, die ihren vielspältigen Elementen eine Art von ratio verbürgte. Ich habe angenommen, ein deutsches Gedicht vom Ende des 14. Jahrhunderts sei in den Formen, die ich 447 448 449 450 451 452 453 454 455

Haussmann 1609 Nr. 8, ebd., S. 153. Haussmann 1603 Nr. 28, ebd., S. 257. Ambraser Liederbuch Nr. 39: „Kein Lieb ohn leid“, ebd., S. 194, Vers 4. Nauwach 1627 Nr. 6: „Wenn Lieber kompt“, ebd., S. 187, Verse 8-10 und 13-15. Haussmann 1594 Nr. 8: „Wo bleibt dein hertz“, ebd., S. 239, Vers 4 und 6. Haussmann 1600 Nr. 19: „Dass ich mein leben“, ebd., S. 248, Vers 27/28. Haussmann 1609 Nr. 12: „Wer Liebes orden“, ebd. S. 206, Vers 11/12. „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 525. „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 522. Zur Sprachform von Borchardts Danteübertragung vgl. Dewitz a.a.O., besonders S. 48-60, eine ausführliche sprachliche Analyse S. 142-265, Kurt Flasch, „Borchardts Dante“ a.a.O., S. 155-164 passim und Dieter Lamping: „,Was hätte sein können‘. Rudolf Borchardts ,deutscher Dante‘.“ In: Ästhetische Transgressionen. Festschrift für Ulrich Ernst zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Michael Scheffel, Silke Grothues und Ruth Sassenhausen. Trier 2006, S. 155-169, hier S. 160-162.

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auf früheren Seiten angedeutet habe, lebendig immer weiter tradiert und der Sprachwandlung angepaßt worden, wie der Parzival und geringere Romane, schließlich in Drucken der Sprachgestalt des 15., ja des frühen 16. Jahrhunderts angenähert und gegen die Sprache von Luthers ersten Bibelfassungen im großen ganzen ausgeglichen, und es habe schließlich im 20. Jahrhundert den schonenden Überarbeiter gefunden, der es behandelt habe wie ich selber in meiner Ausgabe den ‚Armen Heinrich‘.“456 Indem nun Borchardt derart seinen deutschen Dante sprachlich in die Jahre um 1500 schiebt und gleichzeitig die Texte der Anthologie in ebendiesen Zeitraum zurückdatiert, stehen beide in jener Lücke zwischen dem Untergang der Renaissance und der Etablierung der sächsischen Kanzleisprache durch die Reformation, stehen Borchardts Danteübersetzung und die Deutsche Renaissancelyrik auf derselben Sprachstufe und sind mit dem vorreformatorischen Oberdeutsch und somit mit dem älteren, „aus dem Mittelalter und dem sterbenden Minnesange her“ 457 durchschimmernden Deutsch des späten 14. Jahrhunderts durch sprachliche Kontinuität verbunden: „Alle Grundlage der lyrischen Kunstform des 15. und 16. Jahrhunderts hat das 14., das Jahrhundert Dantes, in Deutschland gelegt, ihren Stil und ihre Sprache ausgebildet, und ausgebildet aus Mitteln, die das 13. und 12. Jahrhundert neben dem offen liegenden Vorrat der rheinischen Tradition schon besaß.“458 Ziel seiner Arbeit sei es, „die grosse Lücke zwischen den letzten Individualnamen, um 1380, und den ersten Individualnamen, um 1600 – also 220 Jahre, – mit Leben und Formen ausfüllen: Es steht in dieser Lücke kein Dante und Petrarca, zugegeben. Aber ihre Reflexe stehen da, und scheinen so viel Halblicht aus, dass ich meinen Dante eben dort, in dies Dämmer, habe hinein projicieren müssen und dürfen. Denn Dantewerkstatt-Arbeiten sind und bleiben dies ja, – das wirklich Erhaltene und das von mir Gezauberte sollen sich gegenseitig aufhellen und Lebenskraft tauschen: Die Vorzeit ist nachträglich auf die Beine gestellt und in Aufbruch nach den Zielen hin gezwungen, die sie um Haaresbreite erreicht hätte, nur ihre innerste Intention ist ergänzt, aus unserem Fleisch und Blut heraus, und dadurch ist sie ihrer Vorzeit erst entkleidet, Zeit geworden, und wirkt wie eben entstanden.“459 Das Unternehmen der Deutschen Renaissancelyrik verbindet mit der Übertragung Dantes auch die Subjektivität des Ansatzes. Borchardt will „die Wunden meiner Nationalbiographie lindern oder schließen, meiner ersten großen verschollenen Nationalliteratur ihren 456 457 458 459

„Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 530. Borchardt an Marie Luise Borchardt, 28. August 1924, DLA. „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 502. Borchardt an Marie Luise Borchardt, 28. August 1924, DLA.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

Tod nicht hingehen lassen“.460 Er könne, schreibt er an Nadler, nachdem er den Reichtum der alten deutsche Sprache erkannt und die Ursachen ihres Untergangs verstanden habe, „der Versuchung nicht widerstehen, sie nachträglich – nicht zu corrigieren, sondern einfach zu ergänzen, ihr den Willen zu thun, den ich so fühle bis in meinen innersten Nerv hinein, wie an einer niedergebrochenen Staude im Garten den Drang wieder ins Lot zu steigen, der von mir nichts will als Leitung an einer Stütze.“461 Beide Projekte, der Dante und die Renaissancelyrik, sind Teil der von Borchardt postulierten „Schöpferischen Restauration“, indem das „wirklich erhaltene“ wiederhergestellt – restauriert – wird, um sich mit dem „Gezauberten“ – der eigenen Schöpfung – zu verbinden. Dabei ist von Borchardts Sprache der Dante-Übertragung in den eher schlichten Gedichten der Deutschen Renaissancelyrik wenig zu merken. Diese wäre wohl den anderen Bänden seiner „Volkslied“-Anthologie vorbehalten geblieben. Als Beispiel mag eine Strophe — „noch immer nicht die grossartigste“ — der „grossen politischen Canzone des Paul Speratus“ dienen, die Borchardt im August 1924 an Nadler schickt: Noch ist ein alter spruch, den soltu merken: „Es ist convent vil meh denn apt“; Hastu an uns’ gebruch lust, recht zu sterken, So schau wie jeder einher drabt: Bibel heisst unser recht Dar nach gerichtet wol gerichte schlecht Und urtel fallen sol Sowol dem Bapst als leien: Trett her an disen reien; Der warheit ist die schrift so reich und vol, — Nit not, das man ein ander buch her hol.462

Borchardt fügt hinzu: „liest man dies, sage ich, wer fühlt sich nicht in der Luft der alten grossen politischen Poesie Europas, Giraut von Borneils oder Petrarcas? Ganze Versgruppen klingen wie herbster schönster Dante. Die Sprache leistet alles was der Dichter wollen kann, der Vers, aus einsilbigen klangreichen Begriffsblöcken gefügt, hat eine heldenhafte Schlachtmusik in sich, für die man nur erst wieder ein Ohr bekommen kann, wenn 460 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 521. 461 Borchardt an Nadler (nicht abgesandt), Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 38. 462 Die Strophe ist die elfte von siebzehn des Liedes „Vom Reichstag“ von Paulus Speratus: „Es ist der reichstag für und nichts beschlossen!“ In: Deutsches Leben im Volkslied um 1530. Hrsg. von Rochus Freiherrn von Liliencron a.a.O., Nr. 1. Eine dreiseitige Abschrift findet sich in den Konvoluten, sie trägt aber keine Lektürespuren. Die Strophen der Fassung dort haben zehn Verse; Borchardts Fassung weicht davon an mehreren Stellen ab, so heißt es etwa „hastu an uns gebruch, lust recht zu sterken“ oder „darnach gerichtet schlecht“.

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man den schlaffen dürftig-künstlich-correcten Flexionen und Suffixen ›Reichthum‹ der Schlesier und Sachsen u.s.f. aus sich ausgestossen hat. Welch ein Unglück!“463 Zum Vergleich der Beginn des im Juli 1923 in Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträgen erschienenen XXIX. Gesangs des „Fegfeuers“: In sang ausbrechend, als ein fraue in minnen, der rede zu beschlusse an hub die reine: „Selig, die seelen trost für fehl gewinnen.“ Und, nimfen gleich zu sehn, die schweiften eine durch wälder schatten hin und wieder, weichend bald sonnen scheu, und bald dass sonne ihnn scheine: Hub sie sich dann strom auf, gelässig streichend dem raine längs, und diesseit hielt ich mit, tritt an ihr tritte klein um klein geleichend.464

Die Leistung von Borchardts Anthologie jenseits dieser anfechtbaren Vereinigung von imaginärem Dante-Deutsch und imaginärer vorreformatorischer deutscher Rezeption italienischer Dichtung liegt in dem Umstand, überhaupt auf diese Texte hinzuweisen: Zwar sind in Herders Volksliedern (1778/79) oder in Des Knaben Wunderhorn (1806/08) einzelne Stücke aufgenommen, auch entstehen im 19. Jahrhundert die großen Sammlungen von Hoffmann von Fallersleben (1844) und Goedeke und Tittmann465 (1867) sowie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige bedeutende Neudrucke, zu nennen wäre etwa der von Borchardt benutzte Neudruck der Lieder Jakob Regnarts durch Robert Eitner. 466 Dennoch werden die „Gesellschaftslieder“ eher gering geschätzt: Abgesehen von der Arbeit Veltens und der ihr nachfolgenden Arbeit M. Platels467 sowie der Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart von Günther Müller468 werden sie kaum einmal zum Gegenstand von Untersuchungen, und dann meistens nur innerhalb der müßigen Diskussion, ob diese Lieder jetzt „Renaissance“, „Hochrenaissance“, „Frühbarock“ oder

463 Borchardt an Josef Nadler, Mitte August 1924, Briefe 1924-1930, S. 37. 464 Rudolf Borchardt: „Aus dem Deutschen Dante. Fegfeuer XXIX. Gesang.“ In: Neue Deutsche Beiträge. 1. Band 1922/23, Heft 3, Juli 1923, S. 56-60, hier S. 56. Die Fassung des fertigen Dante Deutsch weicht leicht von dieser ab, vgl. Dantes Comedia Deutsch a.a.O., S. 292. 465 Karl Goedeke und Julius Tittmann (Hrsg.): Liederbuch aus dem sechzehnten Jahrhundert. Leipzig 1867. 466 Jakob Regnart: Deutsche dreistimmige Lieder nach Art der Neapolitanen. Nebst Leonhard Lechners fünfstimmigen Bearbeitungen. Hrsg. von Robert Eitner. Leipzig 1895. 467 Marguerite Platel: Vom Volkslied zum Gesellschaftslied. Zur Geschichte des Liedes im 16. und 17. Jahrhundert. Bern 1939. 468 Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. München 1925.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

„Barock“ sind.469 Auch in der Literaturgeschichtsschreibung, in den großen Literaturgeschichten, die Borchardt bewundert, kommen sie nicht vor, weder bei G. G. Gervinus470 (1853) noch bei Wilhelm Scherer471 (1883) oder Josef Nadler472 (ab 1912). Die Texte sind den Germanisten dadurch verborgen, daß sie in den Musikaliensammlungen der Bibliotheken stehen. Borchardts Sammlung ist die erste anthologische Würdigung dieser Texte und ihrer poetischen Qualitäten seit der Ausgabe Hoffmann von Fallerslebens, sie ist nach Umfang, Aufwand und Anspruch die bedeutendste Arbeit zu diesem Komplex, auch wenn sie Fragment geblieben ist. Wie für Ewiger Vorrat deutscher Poesie gilt auch für Deutsche Renaissancelyrik: „sie sammelt die deutsche Poesie genau so, wie Arnim und Brentano des Knaben Wunderhorn gesammelt haben; weil sie fast verloren war, und damit sie nicht für die Zukunft verloren gehe.“473

469 Vgl. Hans Joachim Moser: „Renaissancelyrik deutscher Musiker um 1500.“ In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 5. Jg. 1927, S. 381-412 und Walter Brauer: „Jakob Regnart, Johann Hermann Schein und die Anfänge der deutschen Barocklyrik.“ In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 13. Jg. 1939, S. 371-404. 470 Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung. Dritter Band. Vierte gänzlich umgearbeitete Ausgabe. Leipzig 1853. 471 Wilhelm Scherer: Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1883. 472 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. I. Band: Die Altstämme (800-1600). Regensburg 1912. 473 Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 446.

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4. Borchardts Übertragungen a) „Einbürgerung in den ewigen Vorrat deutscher Poesie“ Borchardts Übertragungen bewegen sich innerhalb seines bereits 1906 weitgehend feststehenden Kanons von Dichtern und Werken und damit in einem Kanon von Sprachen, der ebenfalls später nicht mehr erweitert wird: Altgriechisch, Lateinisch, Englisch, Italienisch, Französisch, Altprovenzalisch und Mittelhochdeutsch.474 Die Gesamtheit seiner Übertragungen – zweieinhalb Bände der Werkausgabe: ein Band mit „Dantes Comedia deutsch“, anderthalb Bände mit diversen Übertragungen – läßt sich durchaus als imaginäre Anthologie lesen. Als solche stellen Borchardts Übertragungen eine Auswahl aus einem Korpus des „Übersetzbaren“475 dar, als dessen zentrales Werk Dantes „Comedia“ erscheint. Kein Werk hat Borchardt länger beschäftigt, mehr als 25 Jahre seines Lebens hat er Dante übertragen, kommentiert und verteidigt. Nicht nur die Trobadors und die Gedichte der Deutschen Renaissancelyrik, auch die anderen Teile des Kanons werden um Dante geschart, von den Minnesängern als Vorläufern, Rossetti und Browning als Wiederentdeckern und Geistesgenossen bis hin zu George als Übersetzer und eigenem Konkurrenten. Diese Einheit ist Borchardt wichtig. Sein „gesamtes Übersetzungswerk“, so heißt es 1930 in einem Brief an die Bremer Presse, bilde mit dem „Dante ein geistiges Ganzes“.476 Borchardt wird von seinen Zeitgenossen stets als Übersetzer wahrgenommen, sein übersetzerisches Werk wird dabei immer als Teil seines Gesamtwerks begriffen. „Wer soll je und je Dichtung übersetzen?“, fragt etwa Martin Bodmer 1925 in Der Lesezirkel: „Nur der Dichter, für alle Zeiten nur der Sprachgewaltige verwandten Wesens [...]. Borchardt gehört zu den Wenigen, die übersetzen sollen.“477 Auch für Borchardt selbst ist 474 Sogar das Deutsche wird mit Borchardts Übersetzungen von Gedichten Hofmannsthals ins Englische, Französische und Italienische (Gedichte II/ Übertragungen II, S. 458-462) Teil dieses Kanons. Die Aneignung der fremden Texte geht bei Borchardt so weit, daß die Richtung der Aneignung auch umgekehrt werden kann. Erstmals erwähnt wird eine Übertragung von Hofmannsthals „Ballade des äusseren Lebens“ in „den Stil Petrarcas“ 1905 (an Karoline Ehrmann, 1. Juni 1904, Briefe 1895-1906, S. 215), später legt er die „altitalienische Übersetzung“ einem Brief an Hofmannsthal vom 11. Oktober 1906 bei (Briefwechsel, S. 3335). 475 Borchardt an Philipp Borchardt, 14. März 1906, Briefe 1895-1906, S. 413f. 476 Borchardt an die Bremer Presse, Anfang 1930, Briefe 1924-1930, S. 412. 477 Martin Bodmer: „Über Rudolf Borchardt.“ In: Der Lesezirkel 12. Jg. 1924/25, Heft 9, Februar 1925, S. 101-115, hier S. 113.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

die Übersetzung keineswegs nur Brotarbeit, sondern integraler Teil seines Werks; es bildet eine Einheit nicht nur in sich, sondern auch mit allen seinen dichterischen und theoretischen Äußerungen. Dies zeigt schon das 1909 erschienene, von Borchardt, Hofmannsthal und Schröder herausgegebene Jahrbuch Hesperus, das einen repräsentativen und programmatischen Querschnitt durch die Arbeit der drei Dichter geben will: Hier stehen selbstverständlich Borchardts Gedichte, Kritik („Stefan Georges Siebenter Ring“) und Übertragungen („Aus dem Deutschen Dante. Hölle I, Das Fegefeuer VI“ und „Pindars drittes pythisches Gedicht“) nebeneinander. Übertragungen hat Borchardt parallel zu eigenen Werken von Anfang an veröffentlicht, schon eine seiner ersten Veröffentlichungen, „Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch“ (1905), stellt den eigenen Text und die Übertragung programmatisch nebeneinander, beide, das eigene wie das fremde Werk, sind als Einheit zu lesen und aufeinander bezogen. 478 Darüber hinaus finden sich im ganzen Prosawerk laufend Bezüge auf übersetzte Werke und Dichter, auch eigene Übersetzungen, wie sie Ernst A. Schmidt exemplarisch im Anhang seines Buches über Rudolf Borchardts Antike aufführt.479 Auch den nationalen Anspruch erheben Borchardts Übertragungen wie seine Dichtungen und Anthologien ganz selbstverständlich. Der Anlaß für die Übertragung ist dabei nicht nur die Tatsache, daß ein Werk noch nicht in angemessener Weise auf Deutsch vorliegt, sondern auch, daß es noch nicht „in die Bildungstradition Deutschlands aufgenommen worden ist“.480 Borchardts Übertragungen wollen das übersetzte Werk zu einer nationalen Angelegenheit machen, so heißt es in der „Ankündigung“ der von Borchardt bereits vor dem späteren Jahrbuch geplanten Vierteljahresschrift 481 „Hesperus“, sie bringe Übertragungen nur, „wenn der Kampf um die Verdeutschung eines gewaltigen fremden Formenwertes als deutsche Angelegenheit in sich den Anspruch auf deutsche Teil478 Pia-Elisabeth Leuschner: „Die Form der Formen. Zur Werkeinheit von Rudolf Borchardts ‚Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch‘.“ In: Titan. Mitteilungen des Rudolf Borchardt Archivs 9, S. 2-28. Schon 1901 plant Borchardt, eigenes Werk und Übersetzung zu verbinden. So sieht er vor, im Anhang eines Auswahlbands eigener Gedichte „den Versuch einer Übersetzung des ersten Chors von Swinburnes Atalanta“ abzudrucken (Borchardt an Hofmannsthal, 28 Mai 1901, Briefwechsel, S. 9). 479 Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 203-211. 480 Kai Kauffmann: „Kulturelle Aneignung und Ausschließung. Die Funktion der Übersetzung für die nationale Identitätsfindung in Deutschland um 1800 und 1900.“ In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Hrsg. von Michael Bihler und Hans O. Horch. Tübingen 2002, S. 117-137, hier S. 135. 481 Vgl. Kai Kauffmann: „Philologische Anmerkung zu Rudolf Borchardts Text ‚Ankündigung‘“ a.a.O.

4. Borchardts Übertragungen

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nahme hat.“482 Ihr Ziel ist stets die „Einbürgerung“ des fremden Textes „in den ewigen Vorrat deutscher Poesie“. 483 Wie Georges ‚Baudelaire‘ wollen Borchardts Übertragungen „weniger eine getreue nachbildung als ein deutsches denkmal“484 sein. Die Aneignung des Textes geht damit über die eigene Person hinaus und wird zu einer nationalen Angelegenheit, ohne daß in „meiner Nationalbiographie“485 dann beides voneinander zu lösen wäre: „Zusammen mit der Herausgebertätigkeit sind Borchardts Übersetzungen praktizierte schöpferischer Restauration“, 486 wie es bei Friedmar Apel heißt. Mit beeindruckender Konstanz arbeitet Borchardt die bereits 1906 geplanten Übertragungen in den Folgejahren ab.487 Bedeutende Teile von Borchardts Kanon, Werke, die in seinen Prosaschriften eine wichtige Rolle einnehmen, bleiben indes unübersetzt. So hat Borchardt offenbar schon früh einzelne Stücke der Odyssee übersetzt,488 in den folgenden Jahren die Übertragung des Homer aber mehr und mehr seinem Freund Schröder überlassen, dessen entstehendes Werk er kommentierend und ratgebend begleitet.489 Borchardt kehrt erst in den vierziger Jahren zu Homer zurück, als er den „Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer“ 490 in mehreren Anläufen niederschreibt. Auch die griechischen Dramatiker spielen eine größere Rolle in Borchardts Werk, als es zunächst den Anschein hat. So plant er etwa 1922 nach Fertigstellung der Übertragung von Dantes Comedia, griechische Tragödien zu übersetzen,491 ein Plan, der sich zerschlägt, auch wenn Borchardt im selben Jahr immerhin ein antikes 482 „Ankündigung“, Prosa IV, S. 204. Vgl. Kai Kauffmann: „Kulturelle Aneignung und Ausschließung“ a.a.O., S. 135f. 483 „Die großen Trobadors“, Prosa II, S. 353. 484 Stefan George: „Vorrede zur ersten Auflage.“ In: Werke II. München 2000, S. 233. 485 „Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia“, Prosa III, S. 521. 486 Friedmar Apel: Theorie und Praxis des Übersetzens bei Rudolf Borchardt. Paderborn 1989 (Paderborner Universitätsreden 19), S. 13. 487 Vgl. S. 28 dieser Arbeit. 488 Vgl. Borchardt an Schröder, 23. Januar 1907, Briefwechsel 1901-1918, S. 55 und Schröder an Borchardt, 26. Juni 1907, ebd. S. 66f. 489 Vgl. Borchardts lange Adnoten zu den Gesängen 2-8, Briefwechsel 1901-1918, S. 174-220. Schröders Odyssee erscheint 1910 in Harry Graf Kesslers Cranach-Presse in einer numerierten Prachtausgabe mit den Illustrationen von Aristide Maillol, öffentlich ein Jahr darauf und in überarbeiteter Fassung noch einmal 1948; Schröders Ilias erscheint 1943, beide in Rudolf Alexander Schröder: Homer Deutsch. Frankfurt/M. 1952 (Gesammelte Werke in fünf Bänden. Vierter Band). 490 „Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer“, Prosa II, S. 7-108; vgl. auch die Fassungen und immer neuen Ansätze im zweiten Band des Briefwechsels mit Schröder, S. 464-468, 476-483, 483-486, 487-499, 505-536, 539-568, 568-578, 579-584, 585-609, 616630, 653-663. 491 Vgl. Marie Luise Borchardt an Wiegand, Februar 1922, DLA.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

Drama zu übersetzen beginnt: „Die Perser“ des Aischylos, dessen Fertigstellung finanzielle Querelen492 mit Wiegand verhindern und das erst 1930 als Fragment veröffentlicht wird. 493 Auch der große Aufsatz „Über Alkestis“494 (1920) und die Wertschätzung von Hofmannsthals Nachdichtung, die erstmals, obgleich älter, im Jahrbuch Hesperus erscheint, zeugen von Borchardts Interesse für die griechischen Dramatiker. Eine Übertragung weiterer Dialoge Platons nach dem „Lysis“ dürfte unterblieben sein, nachdem Rudolf Kassner (den mit dem „Lysis“ zum ersten Male bekanntgemacht zu haben Borchardt sich rühmt 495) ab 1903 in schneller Folge „Das Gastmahl“, „Phaidros“ und 1905 zusammen mit „Ion“ und „Charmides“ auch den „Lysis“496 auf deutsch veröffentlicht. Die Übertragung der römischen Literatur überläßt er weitgehend ebenfalls Schröder, der die Werke Vergils – Georgica (1924), Bucolica (1926) und Aeneis (1952)497 – sowie Horaz’ (1935/1952)498 ins Deutsche überträgt; von Borchardt selbst gibt es an Übertragungen römischer Dichter nur einzelne Stücke von Catull, Tibull und Horaz, die alle zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht bleiben, sowie die Übertragung von Tacitus’ Germania, die 1914 in einer zweisprachigen und 1922 in einer nur den überarbeiteten deutschen Text enthaltenden Ausgabe erscheint.499 Die einzelnen Ausgaben von Borchardts Übertragungen – Swinburne Deutsch (1919), Walter Savage Landors Imaginäre Unterhaltungen (1923), Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers (1924), Die Grossen Trobadors (1924) und Pindarische Gedichte (1929) – sind selbst wiederum Anthologien 492 Für Borchardt ist das Übersetzen eben auch „eine dauernde und dauernd honorierte Arbeit“ (an Schröder, November 1911, Briefwechsel 1901-1918, S. 345). 493 Übersetzt sind die ersten 444 Verse, Übersetzungen, S. 75-96. Vgl. auch Borchardt an Schröder im (nicht abgesandten) Brief vom 21. Mai 1922, in dem er sich beklagt, daß ihm „für die Übersetzung der Perser, ein Werk in dem ich begonnen habe zu zeigen – es ist nun natürlich liegengeblieben – was eine griechische Tragödie deutsch sein kann, nicht so viel geboten wird, dass ich mir in Deutschland einen Anzug dafür kaufen kann“ (Briefwechsel 19191945, S. 59f.). 494 Entstanden wohl schon 1910, Prosa II, S. 235-294. 495 Vgl. Borchardt an Philipp Borchardt, 27. Juni 1905, in dem er Kassner eine „miserable Gesinnung“ unterstellt, mit der er eine „elende GeschäftsÜbersetzung [...] in den Handel wirft und mir den Markt verdirbt eh ich hab herauskönnen“ (Briefe 1895-1906, S. 356). Vgl. auch Borchardt an Julius Zeitler, 27. Juli 1906: „Die elenden Verkassnerungen Platons“ (ebd., S. 421). 496 Rudolf Kassner (Übs.): Platon: Das Gastmahl. Leipzig 1903; Platon: Phaidros. Leipzig 1904; Platon: Ion, Lysis, Charmides. Leipzig 1905; Platon: Phaidon. Jena 1906. 497 Vgl. Borchardts „Vergil“ betitelte Arbeiten aus dem Jahre 1930, die Rede in Reden, S. 254271, den Aufsatz in Prosa II, S. 295-309. Die Übertragungen Schröders in Rudolf Alexander Schröder: Vergil/ Horaz Deutsch. Frankfurt/M. 1952 (Gesammelte Werke in fünf Bänden. Fünfter Band). 498 Vgl. Borchardts Rezension „Schröders Horaz“ (1937), Prosa II, S. 310-316. 499 Jetzt in: Übertragungen, S. 183-209.

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und stellen jeweils eine Auswahl aus einem größeren Korpus dar. Bei den Altionischen Götterliedern übersetzt Borchardt nur vier der fünf sogenannten „großen“ Hymnen, keine der rund dreißig erhaltenen „kleinen“; von Pindar versammelt er sechs von fünfundvierzig Siegesliedern, von den Trobadors neunzehn Stücke von zwölf Dichtern bei rund 2600 erhaltenen Texten, von Landor zwölf von rund hundertfünfzig Imaginary Conversations. Mit dieser Auswahl ist jeweils eine Wertung, eine bestimmte Interpretation verbunden. Während etwa Borchardts Auswahl aus Landors Imaginary Conversations – erschienen im Jahr der Besetzung des Ruhrgebiets 1923 – einen starken frankophoben Akzent hat, konstruiert seine Auswahl der Trobadors500 einen wiederum Frankreich ausschließenden Kulturraum, der, mit den Griechen als Vorläufern, nicht nur die Provence, sondern ganz Mitteleuropa umfaßt. Die Trobadors erscheinen so als „Ahnen“501 sowohl des deutschen Minnesangs (mit dem Lied Konrads Schenke von Landegg502) als auch Dantes (mit dem Lied Sordels503). Novalis unterscheidet drei Arten der Übersetzung, die grammatikalische als die übliche, die „sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähigkeiten“ erfordere, die mythische, die ein Ideal des Kunstwerks gebe und noch niemandem gelungen sei bzw. gelingen könne, und die verändernde, der man Borchardts Übertragungen, mit dem Willen zur mythischen Übersetzung, zuordnen muß: „Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der Tat der Künstler selbst sein und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Er muß der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.“504 Auch Borchardt versteht seine Übersetzungen nicht als getreue – „grammatikalische“ – Wiedergaben fremder Worte in deutscher Sprache. So betont sein alter ego Arnold im „Gespräch über Formen“, er habe Platons Lysis nicht für Philologen übersetzt,505 sondern betrachte sie als eine selbständige künstlerische Leistung: „Ja, die Grenzen zwischen Übersetzung und dämonisch bildender Phantasie vermischen sich unaufhörlich, und es ist gut, daß sie es tun; hier beweist die Übersetzung ihr Recht dazu500 Eine Analyse von Anordnung, Auswahl und Übertragung in Die Grossen Trobadors bei Fred Wagner: Rudolf Borchardt and the Middle Ages a.a.O., S. 88-121. 501 „Die großen Trobadors“, Prosa II, S. 348. 502 Konrad Schenke von Landegg: „Mich muss wunder han“, Übertragungen, S. 261f. 503 Sordel: „Die Klage um Blacât“, „Keim und Form von Dantes Comedia“, Übertragungen, S. 263f. 504 Novalis: Das philosophische Werk I a.a.O., S. 438f. 505 „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 10. Zur Theorie der Übersetzung im „Gespräch“ vgl. neben Pia-Elisabeth Leuschner: „Die Form der Formen“ a.a.O. auch Ernst A. Schmidt: Rudolf Borchardts Antike a.a.O., S. 122f. und Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 84-90.

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sein“;506 „nicht genaue, sondern dichterische Übertragung“507 ist das Ziel, Hofmannsthals Alkestis oder Wielands Horaz seien Kunstwerke „und erst in jedem sekundären und tertiären Sinne das, was man eine Übersetzung nennt.“508 Übersetzen ist bei Borchardt nur als eine Neuschöpfung denkbar; jede Übertragung ist ein Doppeltes: Nachvollzug des Originals und selber „Originalwerk“, wie etwa Luthers Bibel.509 Anlaß ist beim Originalwerk wie bei der Übertragung das „Erleben“510 des Dichters bzw. des Übersetzers: „Der Dichter [...] erwidert auf den Hall, der ihn getroffen hat, mit dem unmittelbaren Widerhalle, auf die Gestalt, die ihm auftaucht, mit dem Entwurfe der sie gestaltet“, 511 wie es im Nachwort der Grossen Trobadors heißt. Original und Übertragung vereinigen sich, in der nach Novalis „verändernden“ Übersetzung betrifft die „Veränderung“ sowohl das Übersetzte als auch das Original, dessen „Gestalt“ vom Übersetzer erst „gestaltet“ werde. Der Übersetzer sei, wie es Novalis nennt, „der Dichter des Dichters“, oder, wie Borchardt anläßlich von Hofmannsthals Alkestis schreibt: „Der große Dichter beschwört den großen Dichter“,512 wobei bewußt offen bleibt, wer von beiden, der übersetzende oder der übersetzte Dichter, wen beschwört. Dabei ist es bei dieser Vorstellung von literarischer Übertragung unerheblich, ob nun das Fremde zum Eigenen513 oder das Eigene als fremd erkannt wird.514 Fremdes und Eigenes verschmelzen, allerdings nicht etwa in der Person des Übersetzers, sondern jenseits von beiden. Der Vorgang der Übertragung ist Borchardt eine „geisterhafte“ 515 Imagination, 516 sie findet in einer „Sprache vor der Sprache und vor aller Sprache“517 statt, der Borchardt als 506 507 508 509 510

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„Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 50. Ebd., S. 21. Ebd., S. 50. „Luthers Bibelübersetzung“, Prosa III, S. 289. Vgl. Fred Lönker: „Die Sprache der Restauration. Zu Rudolf Borchardts Dichtungstheorie.“ In: Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne. Hrsg. von Willi Huntemann und Lutz Rühling. Berlin 1997, S. 206-219, hier S. 213. „Die großen Trobadors“, Prosa II, S. 352. „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 50. Vgl. Franck Hofmanns Verteidigung von Borchardts Übertragungen gegen den Vorwurf der „annexion littéraire“, „Literarische Annexion? Borchardts Übersetzungen zwischen Politik und Phantasma.“ In: Dichterische Politik a.a.O., S. 183-203. Vgl. das Schlagwort von der „Verfremdung des Vertrauten“ bei Willi Huntemann und Lutz Rühling: „Einleitung.“ In: Fremdheit als Problem und Programm a.a.O., S. 1-25, zu Borchardt S. 16-19, hier S. 17 und Hofmann: „Literarische Annexion?“ a.a.O., S. 193: „Im Gegenteil geht es darum, ein Fremdwerden auch der ‚eigenen‘ Sprache zu unterstreichen.“ „Die großen Trobadors“, Prosa II, S. 349. Vgl. Franck Hofmann: „Literarische Annexion?“ a.a.O., S. 191. „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 133.

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Bezugspunkt – als „Centrum“ – seiner Arbeit dient. Damit entsteht die „schwerverständlichste Übersetzung“, 518 bei der die „Distanz“ zwischen dem Fremden und dem eigenen Verstehenshorizont doppelt „ertragen“519 werden muß: einmal, weil die Fremdheit des übertragenen Gedichts in der Übertragung weiterbesteht, zum andern, weil der Raum, in dem sich das Gedicht bewegt, der des Ewigen ist, der an sich „incomprehensabel“ ist. Goethes Äußerung gegenüber Eckermann: „je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser“,520 gilt hier für alle „ewige Poesie“, auch für Übertragungen. b) Die fremde Muse „Fremd“ bedeutet bei Borchardt in erster Linie „ausländisch“, den Gegensatz zu „deutsch“521 und nicht den Gegensatz zu „eigen“. Die Muse, hier auch „ein himmlisches Wesen, ein heiliger Geist, eine Einbläserin und Wandlerin, ein Göttliches, das einen Menschen, ein Unsterbliches, das einen Sterblichen sich zum Werkzeuge zubereitet“, 522 spricht hier eine fremde Sprache, was ihre grundsätzliche Aufgabe, den Dichter zu inspirieren, nicht ändert. Die Anthologie, die unter dem Titel Die fremde Muse 1974 – in Verbindung mit Marie Luise Borchardt und Francis Golffing herausgegeben von Ulrich Ott – rekonstruiert erschienen ist,523 hat eine ähnlich lange Entstehungsgeschichte wie der Ewige Vorrat.524 Dies zeigt, daß sie in Borchardts Werk eine keinesfalls marginale Stelle einnimmt. Vorstufen zu einer Sammlung von Übertragungen ausländischer Lyrik reichen bis in das Jahr 1906 zurück. Borchardt entwirft in einem Brief an seinen Bruder Philipp 518 Friedmar Apel: Theorie und Praxis des Übersetzens bei Rudolf Borchardt a.a.O., S. 13 519 „Das Gespräch über Formen“, Prosa I, S. 24. Vgl. Botho Strauß: „Distanz ertragen.“ In: Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis deutsch a.a.O., S. 105ff 520 6. Mai 1827, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Heinz Schlaffer (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe Band 19), S. 572. 521 Vgl. Borchardts Formulierung „die Verdeutschung eines gewaltigen fremden Formenwertes als deutsche Angelegenheit“ („Ankündigung“, Prosa IV, S. 204) oder Wiegand an Borchardt: Er sei „für die Überlassung der Übersetzungen aus fremden Sprachen sehr dankbar“ (3. Juni 1923, DLA). 522 „Das Geheimnis der Poesie“, Reden, S. 124f. 523 Rudolf Borchardt (Übers.): Die fremde Muse. In Verbindung mit Marie Luise Borchardt und Francis Golffing hrsg. von Ulrich Ott. Marbach/Stuttgart 1974. 524 Vgl. zu folgendem auch das Nachwort in Die fremde Muse, S. 89-91, die Angaben zu den entsprechenden Texten im Anhang zu Gedichte II. Übertragungen II und, aus der Perspektive der englischen Dichter darin, Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O, S. 240245.

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vom 14. März dieses Jahres ein „Schema des Übersetzbaren“ aus dem Griechischen, er „werde nämlich seit längerem von den verschiedensten Seiten bestürmt, griechische Lyriker zu übersetzen“, da, wie er unbescheiden meint, „die zu solchem Werk erforderlichen disparaten Eigenschaften heut niemand in dem Maasse wie ich besitzt.“ Neben „Naturlehre“ und „sog. Philosophie, d.h. Mystik“ denkt er dabei vor allem an Lyrisches: „hauptsächlich aber Pindar (fast vollständig) Bacchylides, Sappho Alcaeus Alkman, die Elegiker, alle Epigramme des ältern Simonides, Anakreon (den echten und den unechten) viele Chorlieder aus der Tragödie und Komödie, d.h. mächtig aus Aeschylos und Aristophanes geschöpft, und last not least Anthologie viel reichlicher als sie sonst gegeben wird.“ Sein Programm für diese geplante Übersetzungsarbeit ist durchaus schon mit dem der zwanzig Jahre später erscheinenden Anthologien vergleichbar: „Das ganze der innern Arbeit nach [...], der Wahl und Form nach un- und antiphilologisch, durch und durch künstlerisch weltmässig modern, lebendig wie mir die Dinge lebendig sind, und nicht ‚historisch‘.“ 525 Ein Jahr später plant er für den Insel-Verlag eine Reihe mit „Vermischten Schriften“, für deren zweiten Band er „Übersetzungen aus Browning, Swinburne, Pascoli, Dante, Petrarca, Rossetti, Pindar, Horaz, Verlaine“526 vorsieht – außer Pascoli und Verlaine sind alle auch noch in Die fremde Muse vertreten. Fünf Jahre später heißt es in einem Brief an Alfred Walter von Heymel, ein „1ter Band meiner Gedichte nach dem Griechischen“527 werde bald in der neugegründete Bremer Presse erscheinen. Wenig später verbindet sich dieser Plan aber auch schon mit der Herausgabe anderer Übersetzungen, so kündigt er Schröder 1913 als vierten Band seiner geplanten „Vermischten Schriften“ eine Auswahl „Vermischte Übersetzungen (Engländer: Rossetti Keats Swinburne Varia Franzosen Italiener Griechen)“528 an – ein Konzept, das den Entwurf für den Insel-Verlag von 1907 wieder aufnimmt und dem der Fremden Muse schon sehr nahe kommt. Konkret werden diese Vorhaben Anfang der zwanziger Jahre, da Borchardts Zusammenarbeit mit Willy Wiegand und dem Verlag der Bremer Presse sich intensiviert. Zwar werden die Pläne zugunsten des Ewigen Vorrats und anderem zurückgestellt: „Die Griechen, Catull, die alten u. modernen Engländer, Ronsart und was er sonst geplant hatte 525 Borchardt an Philipp Borchardt, 14. März 1906, Briefe 1895-1906, S. 414. Die Veröffentlichung stellt sich Borchardt als eine Anthologie in Fortsetzungen vor: „Ausgabe denke ich mir in etwa 10 Heften à 3 Bogen, von denen jeder für sich die Jahrhunderte von Anfang zu Ende läuft.“ 526 Borchardt an Anton Kippenberg, 21. September 1907, Briefe 1907-1913, S. 130. 527 Borchardt an Alfred Walter von Heymel, 15. Januar 1912, ebd., S. 381. 528 Borchardt an Schröder, Juli 1913, Briefwechsel 1901-1918, S. 551.

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müssen leider resignieren. Höchstens käme B’s geliebte Anthologie griech. Lyriker in Betracht, für die er das eine und andere schon seit einiger Zeit klar vor Augen sieht, aber auch dafür möchte er sich doch noch nicht binden“, 529 heißt es in einem Brief von Borchardts Frau an Wiegand. Trotzdem scheint etwas mehr als ein Jahr später das Erscheinen eines der Fremden Muse vergleichbaren Buches kurz bevorzustehen. So schreibt Wiegand an Borchardt: „Was nun zunächst die Vorschläge betrifft, die Marel mit mir besprochen hat, so bin ich Dir für die Überlassung der Übersetzungen aus fremden Sprachen sehr dankbar!“ 530 1923, in einem Werküberblick in der Zeitschrift Die Dichtung, erscheinen unter der Überschrift „Übersetzung und Verwandtes“ sowohl eine Ausgabe mit „Shakespeare/Shelley/Byron/Keats/Rossetti/Altengl. Lieder und Reime“ als auch „Carducci/Parini“ und „Voltaire/Balde“ als „abgeschlossen, zum Druck bestimmt“. 531 Nichts davon erscheint. Stattdessen bedrängt Wiegand Borchardt immer wieder, nicht nur endlich den „Ewigen Vorrat griechischer Poesie“532 fertigzustellen, sondern auch, daran anschließend, einen Band mit Übersetzungen griechischer Epigramme. 533 Allem Anschein nach stellt Borchardt dann den Plan, die Übersetzungen griechischer Poesie zu veröffentlichen, nach der Trennung von der Bremer Presse jedoch ganz zugunsten der Fremden Muse zurück – zumal 1929/30 Pindarische Gedichte erschienen waren, die einen bedeutenden Teil der Übersetzungen aus dem Griechischen, wie sie schon 1906 entworfen waren, darstellen. Anfang der Dreißiger Jahre sendet Borchardt fünfzehn Übersetzungen an Martin Bodmer, der zu dieser Zeit begonnen hatte, eine Reihe mit Borchardts „Schriften“ in kleiner Auflage drucken zu lassen,534 1936 vermittelt dann Herbert Steiner dem Wiener Phaidon-Verlag ein erweitertes Manuskript von Die fremde Muse mit jetzt 37 Gedichten. Der Verlag lehnt das Manuskript ab und hat vor, die Übertragungen englischer Dichtungen daraus mit den 1919 in 600 Exemplaren erschienenen und mittlerweile längst vergriffenen Übertragungen Swinburnes zu einem Band zusam529 Marie Luise Borchardt an Wiegand, Februar 1922, DLA. 530 Wiegand an Borchardt, 3. Juni 1923, DLA. 531 Zit. nach Ulrich Ott: „Rudolf Borchardt und die klassische Altertumswissenschaft“ a.a.O., S. 296f. 532 So Wiegand an Borchardt, 13. September 1928, DLA. 533 Vgl. Wiegand an Borchardt, 10. und 17. Januar 1928, DLA. Einige griechische Epigramme hat Borchardt tatsächlich übersetzt, vgl. Gedichte II Übertragungen II, S. 331 und 340f. sowie Wiegand an Alfred W. Beerbaum, 13. August 1949, DLA: „Ich hatte Borchardt wiederholt eine Uebersetzung der griechischen Anthologie vorgeschlagen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass einzelne Gedichte von ihm übersetzt sind und sich im Nachlass befinden.“ 534 Vgl. Die fremde Muse, S. 89.

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menzustellen. Borchardt lehnt zunächst brüsk ab, um dem Band dann, sicher auch aus finanziellen Gründen, doch zuzustimmen. Englische Dichter 535 erscheint Ende 1936 mit dem Vermerk „Diese Auswahl aus Borchardts Übertragungen wurde nicht vom Dichter sondern vom Verlag besorgt“. Borchardt hat sich sofort von dem Band distanziert und ihn nie als sein Werk akzeptiert: „Ich habe kein Exemplar, habe Belegexx abgelehnt.“ 536 – „Der Phaidon Verlag hat auf eigene Faust sich aus einem SammelMs meiner Übersetzungen einen Band englischer Dichter herausgeschnitten und publiziert, den ich zwar verleugne, der aber Teilnehmenden einiges Ungedruckte vermittelt.“ 537 Und noch einmal: „Ich möchte das Buch so völlig ich kann verleugnet und vergessen sehen“.538 Aus dem ursprünglichen Manuskript erscheint das Gedicht von Voltaire mit Borchardts widerwillig gegebener Zustimmung dennoch im Phaidon-Verlag, in dem Band Die schönsten Gedichte der Weltliteratur. Auch hiervon distanziert sich Borchardt sofort.539 Zu Die fremde Muse gibt es insgesamt vier knappe Inhaltsverzeichnisse in Briefen, zwei davon aus der ersten Hälfte des Jahres 1936, in der das Buch vom Phaidon-Verlag abgelehnt wird. Im Brief an Franz Golffing vom 8. April 1936 heißt es von dem Manuskript, es bestehe aus „37 Prachtstücken“540 – eine Zahl, die auch ein Brief Marie Luise Borchardts an Schröder bestätigt, in dem von einem „wunderschönen Übersetzungsband mit 37 Gedichten“541 die Rede ist. Der Brief an Golffing gibt den Inhalt der Sammlung an, indem er die Sprachen, aus denen übersetzt wird, aufzählt und die Dichterinnen, die sie eröffnen und abschliessen, nennt: „von Sappho bis Edna Millay, griechisch, lateinisch provenzalisch, altitalienisch, französisch, englisch, amerikanisch“.542 Den durch Sappho und Edna Millay gebildeten Rahmen nennt auch das zweite Briefzeugnis, es führt dazu den Inhalt etwas ausführlicher auf, mit einem dem Briefempfänger, dem Conte Girolamo Roncioni, geschuldeten Schwerpunkt: „Escordisce con Saffo e finisce colla recentissima Saffo Americana, la prodigiosa Edna Millay, ma vi sono Latini, Provenzali, Inglesi, Francesi, e di Italiani Dante (Canzoni della terza maniera, Sestine) Petrarca (Sestini e 535 536 537 538 539

Rudolf Borchardt: Englische Dichter. Wien 1936. Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), Frühjahr 1938, Briefe 1936-1945, S. 296. Borchardt an Karl Albin Bohacek (Entwurf), 7. Dezember 1936, ebd., S. 170f. Borchardt an Franz Golffing, Mitte Januar 1937, ebd., S. 195. Ludwig Goldscheider (Hrsg.): Die schönsten Gedichte der Weltliteratur. Zweite veränderte Auflage. Wien 1936, S. 284f. Zu Borchardts Ablehnung und Kritik des Bandes vgl. seine Briefentwürfe an den Phaidon-Verlag, Briefe 1936-1945, S. 134-140 passim. 540 Borchardt an Franz Golffing, 8. April 1936, Briefe 1936-1945, S. 90f. 541 Marie Luise Borchardt an Schröder, 21. April 1936, DLA. 542 Borchardt an Franz Golffing, 8. April 1936, Briefe 1936-1945, S. 90f.

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sonetti) Parini (Il brindisi), Carducci (Canzone di Legnano, Faida di Comune, In memoria di Giovanni Cairoli, Sui Campi di Marengo)“.543 Beide Angaben decken sich mit der 1974 erschienenen Fremden Muse. Diese gründet auf den erhaltenen zwanzig numerierten Blättern von Borchardts Vorlagen, Typoskripten mit Borchardts handschriftlichen Korrekturen. Da die Sammlung offensichtlich einer groben chronologischen Ordnung folgt, lassen sich die darin nicht enthaltenen Texte aus Borchardts Briefen und dem Fundus der erhaltenen Übertragungen ergänzen. Indes ist eine vollständige Rekonstruktion des Borchardtschen Manuskripts nicht möglich. So ist schon die Gesamtzahl der Gedichte zweifelhaft. Auf 37 Gedichte kommt man nur, wenn man die beiden als „Lesbia“ zusammengefassten Gedichte Catulls 544 als zwei zählt, wie es auch Borchardts Numerierung vorsieht. Indes haben die Herausgeber an nur eine freie Stelle zwei Gedichte Shelleys gesetzt. Ein weiteres Problem entsteht am Ende der Sammlung: Die letzten erhaltenen Nummern in Borchardts Manuskript 31, 32 und 34 sind Übertragungen von Gedichten Millays: „April“ (S. 80), „Passer mortuus est...“ (S. 81) und „Schicksäliges Zusammentreffen“ (S. 84). Nach Angaben der Herausgeber wurden drei Gedichte Millays „in freier Entscheidung“545 ergänzt – um die Zahl 37 zu erreichen, hätten es jedoch vier sein müssen.546 Ein anderes Problem ergibt sich aus einem Briefentwurf Borchardts an Hugo Schäfer vom Frühjahr 1938, wo es rückblickend über die nicht erschienene Sammlung heißt: „Es war ein hübscher Codex: Sappho Tibull Catull (si qua recordanti, ein par Goethisch schöne kleine Lesbiaseufzer) Arnaut Daniel, Dante (Canzonen Sestine) Petrarca (Sestine, Sonette) Altengländer (Shakespeare Passionate Pilgrim) Voltaire, Rossetti Swinburne Edna StVincent Millay“.547 Läßt man den Plural bei „Altengländer“ beiseite (bei dem unklar ist, was gemeint ist, denn aus dem Altenglischen hat Borchardt offenbar nichts übersetzt), könnte statt dem Sonett Miltons auch das Stück aus Shakes543 Borchardt an den Conte Girolamo Roncioni, 3. März 1936, ebd., S. 71. „Sappho noch einmal, unglaublich, und wirklich“, heißt es über Millay an Herbert Steiner, Anfang Januar 1934, ebd., S. 326. Vgl. auch Borchardts Essay „Die Entdeckung Amerikas: Die Poesie von Edna St. Vincent Millay“, Prosa III, S. 429-470. 544 Die fremde Muse, S. 7. Es handelt sich um die Gedichte 70 „Nulli se dicit“ und 72 „Dicebas quondam solum“, vgl. Catull: Liebesgedichte. Lateinisch und deutsch. Deutsch von Otto Weinreich. Reinbek 1960, S. 108. Auf einer Handschrift Borchardts stehen beide Gedichte auf einem Blatt, auf dem Typoskript sind sie mit zwei Nummern versehen (DLA). 545 Die fremde Muse, S. 90. 546 Überzeugende Argumente für eine Aufnahme der unberücksichtigt gebliebenen Übertragung von Edna St. Vincent Millays „Sappho Crosses the Dark River into Hades“ als Schlußstück des Buches, das damit den Zyklus von der ersten zur letzten Sappho deutlicher herstellt, liefert Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 243. 547 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), Frühjahr 1938, Briefe 1936-1945, S. 296.

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peares Passionate Pilgrim, „Crabbed age and youth“, 548 in der Sammlung stehen. Man sieht, wie schwierig es ist, Die fremde Muse zu rekonstruieren, auch wenn nur wenige Gedichte wirklich strittig sind; dennoch muß man sich im klaren darüber sein, daß die 1974 erschienene Fassung des Buches nur eine Möglichkeit ist, das verlorene Original zu rekonstruieren. In den Jahren nach 1936 hat Borchardt offenbar weiter an eine Veröffentlichung gedacht und die Sammlung dabei erheblich erweitert, wie aus einem Briefentwurf an Hugo Schäfer vom 5. April 1942 hervorgeht: „griech. (Sappho Archilochos Elegie Epigr.) lat. (Tibull, aber metrisch, dh. prosodisch congruent, sonst ist es Kinderei, Catull, Horazproben als stille Correktur von Zeitgenossen) provenzal. (Nachträge z.d. Trobadors) engl. (mehr als der schlechte Phaidonbd) französisch (Voltaire, Kleinigkeiten, Vigny, Musset Si je vous le disais) ital. (Carducci, Manzoni, Parini, Petrarca, Dante) amerik. (Edna St. Vincent Millay).“549 Nach diesem Entwurf sind „Archilochos Elegie Epigr.”,550 „Horazproben“,551 Vigny, Musset und Manzoni552 hinzugekommen, außerdem werden mehr Übertragungen von den Trobadors, Engländern und Franzosen versprochen; gut möglich, daß viele der hier aufgeführten Übersetzungen nur geplant, aber nicht ausgeführt wurden. Was Borchardt so sehr an Englische Dichter ärgert, ist nicht nur der Umstand, daß der „††† Phaidonverlag“ sein Manuskript „erworben hatte um sich dann die Engländer herauszuschneiden und den Rest als Küchenabfall wegzuwerfen“ 553 und um ihn gegen seinen Willen in eine Reihe einzufügen: „Vossler provenzalisch, mich englisch, XYZ baskisch slovenisch botokudisch“,554 sondern vor allem die Tatsache, daß der Band lediglich eine nicht von ihm selbst gebildete Abfolge seiner Übertragungen englischer Dichter ist und ihm so jede innere Form fehlt. Gerade der Umstand, daß Borchardts Manuskript der Fremden Muse „wenig geschlossen“ sei, ist indes offenbar der Grund für den Phaidon-Verlag gewesen, sein Manuskript abzulehnen.555 Auf die Form kommt es Borchardt aber in den

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Gedichte II Übertragungen II, S. 216. Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), 5. April 1942, Briefe 1936-1945, S. 489. Vgl. Gedichte II Übertragungen II, S. 331ff. Vgl. ebd., S. 192-200 und 342-348. Der Zusatz „als stille Correktur von Zeitgenossen“ spielt wohl auf Schröders Übersetzung an, die gesammelt 1935 ebenfalls im PhaidonVerlag erschienen ist (Rudolf Alexander Schröder: Qu. Horatius Flaccus. Die Gedichte. Oden – Carmen Saeculare – Epoden. Wien 1935). Von Vigny, Musset und Manzoni haben sich keine Übertragungen Borchardts erhalten. Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), Frühjahr 1938, Briefe 1936-1945, S. 296. Borchardt an Herbert Steiner, 13. April 1936, ebd., S. 97. Borchardt an Franz Golffing, 8. April 1936, ebd., S. 91.

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wenigen Äußerungen zu seiner „piccola raccolta”556 von alter Sappho zu neuer Sappho besonders an. Die Sammlung sei „ein Durchschnitt durch die abendländische Poesie correlativ zur Entwickelung meiner Eigenen, und wert, dem Andenken Herders gewidmet zu sein“,557 heißt es in einem Brief an Franz Golffing (den späteren Mitherausgeber) vom 8. April 1936. Im Namen Herders – auch hier denkt Borchardt an Stimmen der Völker in Liedern – soll Die fremde Muse also zweierlei sein: Erstens „ein Durchschnitt durch die abendländische Poesie“. Wie das Wort „Durchschnitt“ schon andeutet, erhebt das Buch nicht den hohen Anspruch, den der Ewige Vorrat erhebt: den der kritischen Sichtung und des Aussonderns nicht und auch nicht den, eine unvergängliche wie vollständige Festschreibung des allein Gültigen zu sein. Dies wäre mit siebenunddreißig Gedichten für die abendländische Poesie gegenüber den zweihundertsechzehn Gedichten für die deutsche Poesie allzu vermessen. Die fremde Muse gibt Borchardts Kanon in nuce, wobei die einzelnen Texte einerseits Lieblingsstücke daraus darstellen, andererseits aber austauschbar und vor allem durch ihren Verweischarakter auf das Ganze von Bedeutung sind. Das Buch, das am Ende von Borchardts übersetzerischer Tätigkeit steht, bestätigt noch einmal die Einheit des über dreißig Jahre zuvor entworfenen Kanons. Nach eigenen Angaben hat Borchardt für die Sammlung nichts eigens übersetzt und doch „die gewissenhafteste Mühe daran gewandt es zu einem runden Corpus auszugestalten, Ungedrucktes von überallher gesammelt, Skizzen die hier lagen, ausgeführt“. 558 Die Auswahl ergänzt so nicht nur die bereits erschienenen Bände mit Übertragungen – „Pindar, Trobadors, Swinburne Lysis Germania Landor [...] Comedia“ 559 – sondern auch die entsprechenden Aufsätze zu Sappho, Catull, Rossetti, Swinburne, Carducci und Millay. Zweitens soll dieser „Durchschnitt durch die abendländische Poesie correlativ zur Entwickelung meiner Eigenen“ stehen, „das stilistisch unentbehrliche Complement zu meinen Versbüchern“560 bilden. Wie jedes einzelne Gedicht der Sammlung zu Borchardts eigenen Gedichten steht, 556 Borchardt an den Conte Girolamo Roncioni, 3. März 1936, ebd., S. 71. 557 Borchardt an Franz Golffing, 8. April 1936, ebd., S. 91. 558 Ebd. Dantes Canzone „Drei Frauen sind kommen“ ist die früheste veröffentlichte Übertragung des Bandes, sie erschien 1905 in dem Gesamtverzeichnis des Zeitler-Verlages; die Übertragungen italienischer Renaissance-Dichter, darunter auch wieder die genannte Canzone Dantes, erschienen in dem von Hans Feist und Leonello Vincenti besorgten Band Frühe italienische Dichtung (München 1922). Insgesamt sind nur sechzehn Texte der Fremden Muse unveröffentlicht. Zu den Nachweisen im einzelnen vergleiche Ingrid Grüninger a.a.O., S. 242-276. 559 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), 5. April 1942, Briefe 1936-1945, S. 490. 560 Borchardt an Hugo Schäfer (nicht abgesandt), Frühjahr 1938, ebd., S. 296.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

ist mehr zu ahnen als genau zu bestimmen, das Verhältnis ist insgesamt eher ein ideales. Obwohl hier wie da (und auch im Ewigen Vorrat) Liebesgedichte dominieren – der hohen Minne verpflichtet wie Arnaut und Dante oder der unglücklichen Liebe wie Catulls „Lesbia“ oder Rousseaus „Liedchen“ –, erinnern Gedichte wie Petrarcas „In Captivitate Ecclesiae“ oder Carduccis „Auf den Tod Giovanni Cairolis“ in der Heftigkeit ihrer Zeitkritik am ehesten an die Gedichte Borchardts aus der Mitte der Dreißiger Jahre, „Ecclesia Pressa“ oder die „Jamben“.561 Die Bezüge zu Borchardts Werk sind zahlreich, mit dem Monolog Brownings klingt „Die Beichte Bocchino Belfortis“ an; die italienischen Dichter, aber auch die englischen, zeugen von Borchardts Liebe zu Italien, ebenso wie die beiden verfeindeten Städte Lucca und Pisa in Carduccis „Städterfehde“. Keines der übertragenen Gedichte in dem Buch steht innerhalb von Borchardts Werk ohne Zusammenhang da und jedes Gedicht bzw. dessen Autor findet seinen Widerhall mehr noch als im lyrischen Werk in den Reden, Aufsätzen, Essays und Briefen. Selbst die beiden Gedichte französischer Dichter, die Borchardt sonst abschätzig beurteilt, stellen wichtige Marksteine in Borchardts Literaturgeschichte dar: Rousseau als Wiederhersteller eines verlorenen Urzustandes, als Vorläufer der deutschen Romantik (und eigentlich als Schweizer),562 Voltaire als derjenige, mit dem „die englische Ideenwelt“ (nicht die französische) eine den Kontinent durchdringende „Form der Weltmacht“ erreiche.563 Man kann die Sammlung als kurze Borchardtsche Geschichte der abendländischen Poesie wie als die Geschichte von Borchardts „Selbstbildung“ lesen, die den Bogen von den ältesten Texten der abendländischen Dichtung bzw. Borchardts Schultagen am humanistischen Gymnasium bis zur Moderne bzw. seiner jüngsten lyrischen Entdeckung spannt. Dazwischen stehen die „Originalpoesie“ der Trobadors und die Entstehung der abendländischen Liebeslyrik bzw. Borchardts altromanistische Studien in Arlesheim und Italien von 1902 an sowie die Vollendung der deutschen Romantik durch die Engländer bzw. die seit den frühen Studientagen anhaltende Bewunderung für die viktorianischen Dichter, vor allem Brownings, Swinburnes und Rossettis. Einige Gedichte lassen sich präzise in Borchardts Biographie einordnen. So wird „der feine Parini“ schon in einem der frühesten erhaltenen Briefe erwähnt, 564 die Gedichte Catulls 561 Vgl. zu Carduccis „Giambi“ und Borchardts „Jamben“ Ernst A. Schmidt: Notwehrdichtung. Moderne Jambik von Chénier bis Borchardt (mit einer Skizze zur antiken Jambik). München 1990, S. 283-340 und besonders S. 351-353. 562 Vgl. „Revolution und Tradition in der Literatur“, Reden, S. 216ff. 563 Vgl. „Benedetto Croce“, Prosa I, S. 348. 564 Borchardt an Helene Borchardt, 29. Oktober 1896, Briefe 1895-1906, S. 9.

4. Borchardts Übertragungen

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mögen eine Reminiszenz an das Catull-Kolleg bei dem verehrten Friedrich Leo sein – „wirkliche philologische kunst mit freude an der form“,565 die Elegie Tibulls ein Tribut an den Freund Schröder, den Borchardt zur Beschäftigung mit Tibull anregte. 566 Voltaires „An Frau von Châtelet“ schließlich liegt einem (Liebes-)Brief an Christa Winsloe aus dem Jahr 1913567 in leicht abweichender Form als „Les Adieux“ bei und mag nicht nur als Würdigung Voltaires in der Sammlung stehen, sondern auch als Erinnerung an die einst geliebte Frau. Mit Borchardts anderen Anthologien, besonders mit dem Ewigen Vorrat, verbindet Die fremde Muse auch das Verfahren des Herausgebers, nach Belieben den Text gegenüber der Vorlage zu verändern. Auch hier scheint zu gelten: „Nichts ist sacrosanct.“ Aufgrund der vergleichsweise geringen Menge von Texten in Die fremde Muse erscheinen Borchardts Eingriffe im Vergleich zum Ewigen Vorrat noch weniger systematisch und noch willkürlicher.568 Dort ist es etwa Borchardts Umgang mit Rousseaus „Liedchen“, der die Fragmentisierung von Gedichten Heines im Ewigen Vorrat ins Gedächtnis ruft. Es handelt sich dabei um die erste von drei Strophen des neunten Gedichts von „Les consolations des misères de ma vie“569 – der gefällige Titel ist von Borchardt. Einen ähnlichen Fall stellt Landors „Malvolio“ dar: hier hat Borchardt die Verse 9 und 10 nicht übersetzt: „Or if delusive trap shook off thy muse,/ Pregnant with wonders for another age?“570 Man mag Verse zwischen den beiden Naturbildern der spielenden Kinder und der fressenden Drossel als störend empfinden, zumal er den 565 Borchardt an Alfred Körte, 16. Januar 1899, ebd., S. 52. 566 „Ich habe mich Ihrem Winke folgend mit Tibull befasst & reichste Freude daran gefunden. Die erste Elegie des 2. Buches ist göttlich schön & vieles andre noch mehr.“ (Schröder an Borchardt, 24. Mai 1907, Briefwechsel 1901-1918, S. 51) Vgl. auch Borchardt an Martin Buber, 10. November 1930, Briefe 1924-1930, S. 523. 567 Borchardt an Christa Winsloe, Mai/Juni 1913, Briefe 1907-1913, S. 494f. Ihr ist der Gedichtzyklus „Der Mann und die Liebe“ gewidmet. Die Datierung in Gedichte II Übertragungen II auf 1918, die auch von Franz Bleis Erzählung eines Lebens (1930; hrsg. von Pia Jauch, Wien 2004), S. 363f. gestützt wird, ist damit hinfällig. Vgl. auch Rudolf Borchardt: Über den Dichter und das Dichterische a.a.O., S. 246f. Erwähnt wird das Gedicht auch in Borchardts „Rede über Schiller“, in dem er gleiche Motive bei Voltaire und in Schillers Gedicht „Die Ideale“ feststellt, Reden, S. 158. Vgl. auch Schröders Übersetzung des Gedichts: „An Herrn von Cideville“ (1925). In: Gesammelte Werke I: Gedichte, Frankfurt/M. 1952, S. 543f. 568 Vgl. auch Borchardts Übertragung von Swinburnes „The Forsaken Garden“, dessen letzte Strophe unübersetzt bleibt, Gedichte II Übertragungen II, S. 280-282. Vgl. Apel: Theorie und Praxis des Übersetzens bei Rudolf Borchardt a.a.O., S. 13-22 und Kissler „Wo bin ich denn behaust?“ a.a.O., S. 53. Zu Borchardt und Swinburne vgl. auch Markus Neumann: „Der deutsche Swinburne.“ In: Text + Kritik Sonderband Rudolf Borchardt a.a.O., S. 61-72. 569 Jean-Jacques Rousseau: Oeuvres Complètes II: La Nouvelle Héloise. Théatre. Essais littéraires. Paris 1964, S. 1171f. 570 Walter Savage Landor: The Works. Volume II. London 1846, S. 652.

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III. Manifestationen des Kanons: Borchardts Anthologien

Zusammenhang auseinanderreißt. Die Verse wegzulassen könnte also als Versuch entschuldigt werden, das Gedicht zu verbessern. Dennoch stellt die Übersetzung von „daffodils“ mit „Liljenkelch“ und „ash“ mit „Eibenbaum“571 im selben Gedicht Freiheiten gegenüber der englischen Vorlage dar, die sich so nicht rechtfertigen lassen, da die Symbolik des Originals verändert wird (zumal Eiben nicht dort wachsen, wo Eschen wachsen). Obwohl die geringe Anzahl und die Heterogenität der versammelten Stücke nicht viel mehr als Andeutungen zulassen, erscheint Die fremde Muse doch als Einheit. Diese Einheit gewährleistet Borchardt selbst, in dessen Kanon und Denkwelt sich das Buch widerspruchslos einfügt; diese Einheit gewährleistet aber vor allem auch der dichterische Ton, der sie bestimmt. Wie der Ewige Vorrat zusammengehalten wird vom Ton der deutschen Poesie nach Borchardts Bestimmung, so wird die Fremde Muse zusammengehalten vom Ton des Dichters Borchardt, 572 der doch stets unverkennbar bleibt, auch wenn die „Ausdrucksskala“ hier, wie es in Francis Golffings Nachwort heißt, „vom diskreten Kammermusik-Effekt zur vollen Orchestrierung, vom zarten Scherz zur erschütternden Klage“573 reicht.

571 Vgl. zu Borchardts Übertragung von „ash“ den Anhang in Gedichte II Übertragungen II, S. 443f. 572 Dieser hohe Grad an Subjektivität mag neben der verspäteten Publikation der Grund sein, warum Borchardts Sammlung bis jetzt nicht als Anthologie gewürdigt wurde. In das „Zentralcorpus“, das den Aufsätzen des von Birgit Bödeker und Helga Eßmann herausgegebenen Sammelbands Weltliteratur in deutschen Versanthologien des 20. Jahrhunderts (Berlin 1997) zugrundeliegt, ist sie nicht aufgenommen. 573 Francis Golffing: „Nachwort“, Die fremde Muse, S. 92.

IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner Für Borchardts Gartenbuch Der leidenschaftliche Gärtner, 1937 und 1938 geschrieben und erst 1951 posthum erschienen,1 läßt sich das Wort „Anthologie“ ganz wörtlich nehmen: als das griechische Wort wie als das lateinische „florilegium“ oder das deutsche „Blütenlese“.2 Eine solche Blütenlese stellt das „Kernstück“ des Buches dar, der „Katalog der Verkannten, Neuen, Verlorenen, Seltenen, Eigenen“ – der Titel träfe auch für jede von Borchardts Anthologien zu –, in dem auf beinahe siebzig Druckseiten eine Vielzahl von „seltenen und verkannten Pflanzen“3 mit praktischen Angaben aufgeführt sind. Aber auch der 1932 veröffentlichte Essay „Deutsche Namen ausländischer Gartenpflanzen“ (1932), 4 eine lange von Borchardt eingeleitete Liste, hat eine anthologische Funktion und dokumentiert in einer Auswahl, darin der Fremden Muse vergleichbar, Borchardts Aneignung ausländischer Blumen auf sprachlichem Gebiet. Als „Blütenlese“ erscheint schließlich das ganze Buch Der leidenschaftliche Gärtner, das mehr mit Borchardts Anthologien gemein hat, als es zunächst scheint. Die Blume ist seit 1906, da Borchardts Arbeitsfelder abgesteckt sind, selbstverständlicher Teil seines Kanons und Gegenstand seiner Beschäftigung. Dies zeigt schon das im selben Jahr entstandene Fragment „Kamelien“, in dem einige Gedanken, die später in Der leidenschaftliche Gärtner ausgearbeitet werden, anklingen. Seit Borchardt im August 1906 die Villa Sardi bei Lucca bezogen hat, erhalten Blumen und Garten über ihren oberflächlichen, farbig-impressionistischen, rein ästhetischen Reiz hinaus, den sie etwa in den Gartenbüchern von Elizabeth von Arnim und Alfred Lichtwark5 haben, bereits eine tiefere Bedeutung. Den Beginn seiner eigentlichen gärtnerischen Tätigkeit und der Begeisterung dafür datiert er selbst jedoch erst auf das Jahr 1911. So heißt es in einem Brief an Schrö1 2 3 4 5

Rudolf Borchardt: Der leidenschaftliche Gärtner. Hrsg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn und Ulrich Ott. Stuttgart 1968, S. 79-358. Haruki Yasukawa deutet den Zusammenhang von Anthologie und Gartenbuch im Titel seines Aufsatzes „Die ‚leidenschaftlichen Gärtner‘. Anthologik bei Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt“ an, geht aber im Text nicht auf ihn ein. Borchardt an Schröder, Mitte August 1937, Briefwechsel 1919-1945, S. 445. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 69-78. Beide erwähnt in: „Kamelien.“ In: Der leidenschaftliche Gärtner , S. 11. Vgl. zu Elizabeth von Arnim auch Vivian a.a.O., S. 38 und 192.

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IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner

der aus dem Jahr 1937: „Bis 1911 also in Villa Sardi, Orologio, Burlamacchi, hatte ich von der hiesigen wilden Blume so viel Glück gehabt, dass der Gedanke an einen Garten mir gar nicht gekommen war. In Geggiano der einsamsten aller meiner alten Einsamkeiten, fing ich an Gemüse zu ziehen und kaufte mir in einem Seneser Lädchen nebenbei auch sieben Samentüten, dabei, wie ich noch weiss, Scabiosen, Löwenmaul, Sommerrittersporn, Reseda. Es blühte alles recht brav. Damit war der Teufel in mich gefahren und Monsagrati wurde mein erster Garten.“6 Auch in der Villa Mansi, die er von 1912 bis 1914, dann wieder von 1921 bis 1923 bewohnt, hält sein Interesse für das Gärtnern an, wie aus einem Brief an Hofmannsthal hervorgeht: „Jetzt erfrischt mich der Garten, den ich mit Eintritt der guten Jahreszeit [...] ernstlich in Angriff genommen habe. Gegen achtzig Blumensämereien werden in Kästen und Näpfen gewartet, heut ist der Küchengarten für die Bestellung in Beete geteilt worden und ich habe Stundenlang gesät.“ Was Borchardt zu dieser Zeit über die Blume und seine Arbeit im Garten schreibt, ist von der Originalität, die er in Der leidenschaftliche Gärtner erreichen wird, noch weit entfernt: „Nichts Märchenhafteres als dies Spiel mit den Kräften der Natur, bei dem man sich für einen schlafenden Samenkeim in die Vier Elemente nach einander und durch einander verwandeln muss und gewissermassen die ganze Schöpfung in sich ziehen, um einen einzigen, nachlässig unbewussten ihrer Akte, die Hervorziehung eines Kelches aus einem Korn, bewusst ergreifend hervorzurufen.“7 Intensiver und gleichzeitig theoretischer wird Borchardts Beschäftigung mit Blume und Garten zu Beginn der zwanziger Jahre, als er Kontakt mit dem damals schon berühmten Staudengärtner Karl Förster aufnimmt, um ihn von Passau aus nach Importeuren von Blumen und bestimmten Samen für seine Rückkehr nach Italien zu fragen.8 Ein Jahr später kündigt er dem Rowohlt-Verlag ein „kleines Buch“ an, das „ein ausgezeichnetes Geschäft“ verspreche: „Es heisst ‚Mussestunden des Gärtners‘ und fasst meine gärtnerischen Erfahrungen und Beobachtungen in der mir literarisch eigentümlichen Weise, mit Betrachtungen und Excursen zusammen. Die Capitelüberschriften sind 1) Die Blume als Abenteuer, oder ‚wie ich anfing‘ 2) der deutsche Philistergarten oder ‚wie macht man die Blume uninteressant‘ 3) Blume und Sprache 4) Blume und Buch 5) Blume und Bild 6) Der liebende Gärtner oder die Blume als Symbol der 6 7 8

Borchardt an Schröder, Mitte August 1937, Briefwechsel 1919-1945, S. 446f. Vgl. auch Borchardt an Karl Förster (nicht abgesandt), Oktober 1937, Briefe 1936-1945, S. 263. Borchardt an Hofmannsthal, 1. März 1913, Briefwechsel, S. 143. Borchardt an Karl Förster (Entwurf), 25. März 1921, Briefe 1914-1923, S. 322-324.

IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner

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Seele.“9 Vergleicht man die Kapitel dieses Entwurfs mit Der leidenschaftliche Gärtner, so wird man bereits Übereinstimmungen finden wie die Kritik am „deutschen Philistergarten“ und die hier für das sechste Kapitel angekündigte Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Aspekt des Gartens, die das spätere Gartenbuch weitgehend dominieren werden. Dagegen scheint der Schwerpunkt hier mit den Kapiteln über Blume und Sprache, Buch und Bild deutlich auf den sprach-, literatur- und kunsthistorischen Aspekten des Gartens zu liegen, die in Der leidenschaftliche Gärtner nur noch stellenweise hervortreten. Wie sehr Borchardt die Arbeit im Garten ausgeweitet und sein Wissen über Garten und Blumen in der Zwischenzeit vermehrt hat, zeigt ein Brief an seinen Bruder Philipp, in dem er ohne Rücksichtnahme auf dessen vermutliche Unkenntnis all der lateinischen Blumennamen unter anderem von „wunderbaren Schizanthus und Salpiglossis“ schwärmt und von „einzig schönen Astern, das erste Mal dass diese Blume mich fasziniert hat, nur chamois, gelbe fleischfarbe Töne in allerdings höchst edlen Sorten“; seine Dahlien seien „20% erstklassige, z.T. Ausstellungsblumen, dahinter Wände von neuen Sonnenblumenarten, vor allem globosus fistulosus sulphureus und macrophyllus giganteus“. 10 Auch andere belegen Borchardts praktische und theoretische Arbeit am Garten, etwa Hugo Schäfer, der Borchardts „Blumenzüchtungen und Kreuzungsforschungen“ 11 erwähnt. Max Rychner erinnert sich, wohl irrtümlich, daß es „unter seinen ungedruckten Schriften [...] einen Band über die Flora Griechenlands“ gebe.12 Wiegand schreibt Schröder nach einem Besuch in der Villa Mansi: „Die Tage in Pistoia waren sehr schön. Borchardt arbeitet mit einem solchen Fanatismus im Garten, dass er kaum auch nur auf eine Viertelstunde zum Essen ins Haus zu bringen war; es ist ein ungelöstes Problem, wie man es ihm verständlich machen soll, dass seine unglücklichen Verleger auf Korrekturen warten.“ 13 Auch literarisch findet Borchardts Gartenarbeit nun ihren Niederschlag. Ende 1925 erscheint in einer Auflage von 300 Exemplaren die „Gartenphantasie“, die einige zentrale Ideen von Der leidenschaftliche Gärtner bereits enthält. Wie sich an Borchardts Briefen belegen läßt, schreibt er den Text auch, damit Rechnun-

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Borchardt an den Rowohlt-Verlag (Entwurf), 27. Februar 1922, Briefe 1914-1923, S. 404. Borchardt an Philipp Borchardt, 9. November 1926, Briefe 1924-1930, S. 139f. Auch dem Leser von Der leidenschaftliche Gärtner bleibt die Flut lateinischer Blumennamen nicht erspart. Hugo Schäfer: „Stunden mit Borchardt.“ In: Die literarische Welt, 9. April 1926, S. 2. Max Rychner: „Erinnerung an Rudolf Borchardt“ a.a.O., S. 68. Wiegand an Schröder, 16. Mai 1925, DLA.

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gen bei der Blumengroßhandlung Haage und Schmidt bezahlt werden können.14 In den dreißiger Jahren entsteht dann Der leidenschaftliche Gärtner, 1934 bereits für die von Martin Bodmer herausgegebenen Corona-Drucke vorgeschlagen, 15 aber wohl noch nicht geschrieben, was erst ab 1937 geschieht. Finanziert und offenbar angeregt wird das Buch von Josef Hambuechen, dem Stiefsohn und Erben des amerikanischen Bankiers und Gründers der Loeb Classical Library, James Loeb, und von dessen Frau Dorothee, der späteren Baronin Franchetti, der das Buch auch gewidmet werden sollte. 16 „Meine Florentiner gesellschaftliche Stellung und die Freundschaft der Franchettis“, schreibt Borchardt an Schröder, „habe ich als der berühmte Gärtner nicht als der grosse Dichter, mir von selber zufallen sehen, – alle diese Leute lesen ja, mit wenig Ausnahmen, kein Buch, und meine geliebte alte Marion hat den ihr gewidmeten Roman [Vereinigung durch den Feind hindurch] sicherlich nach fünfzig Seiten Schwerarbeit stöhnend beiseitegelegt. Die Gärtnerei ist das worin wir uns alle getroffen haben, durch sie sind Hambuechens mir wirklich nahe gekommen, und so habe ich mich glänzend gerechtfertigt gesehen.“17 „Ich habe zu unsern d.h. den Goetheschen Begriffen – Weltliteratur, Weltgeschichte, Weltgeist, Weltseele auch den Weltgarten und Völkergarten stellen müssen“,18 heißt es in einem Brief an Karl Förster. Das göttliche „Centrum“ des menschlichen Daseins auf dem Goetheschen „ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist“,19 steht auch in Der leidenschaftliche Gärtner sichtbar und unsichtbar im Mittelpunkt der Darstellung; daher kann Borchardt von seinem Buch sagen, es sei zwar „eine Abschweifung von den Zielen [...], denen die Tätigkeiten seines Lebens gehören“, aber kein Beiwerk.20 Denn als Ordnung verweise 14

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Vgl. Borchardt an Wiegand, 28. Juli 1925: „Haage & Schmidt verfolgen mich mit Mahnungen, um so peinlichern als ich ihnen nach Deiner Mitteilung hier, mündlich an mich, vor Monaten geschrieben habe, der Betrag sei von meinem deutschen Vertreter bezahlt und mir belastet“ (Briefe 1924-1930, S. 95); und am 22. Januar 1926: „Das Blumenbuch [die ‚Gartenphantasie‘] hast Du spontan von mir erbeten, spontan den Honorarvorschlag gemacht und erklärt dass Du es separat honorierst indem Rechnungen daraus sollten beglichen werden, der Rest mir zur Verfügung stehen. Du kannst leicht nachrechnen wie lange es gedauert hat bis Haage u. Schmidt – ich allein habe fünf Mahnungen erhalten – bezahlt wurden.“ (ebd., S. 119) Vgl. Borchardt an Martin Bodmer, 23. Dezember 1934, Briefe 1931-1935, S. 407f. Vgl. auch Borchardt an Karl Förster (nicht abgesandt), Oktober 1937, Briefe 1936-1945, S. 262. Borchardt an Schröder, Mitte August 1937, Briefwechsel 1919-1945, S. 446. Borchardt an Karl Förster (Entwurf), 1939, Briefe 1936-1945, S. 398. Vgl. S. 197f. dieser Arbeit. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 267.

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der menschliche Garten auf das Paradies, dem „Heimatgarten der Menschheit“,21 welcher nach der mittelalterlichen Typologie kreuzförmig, also symmetrisch gewesen sei, eine Anordnung, die später „die einzige echte und große Gartentradition der Deutschen“, 22 der Barockgarten, wieder aufgenommen habe. Da er an das Paradies erinnere, sei der Garten ein dem Menschen „ursprünglich einwohnendes Bedürfnis“ wie „Beten, Trinken und Lieben“.23 „Traum und Erinnerung, Wunsch und Hoffnung, Gleichnis und Sinnbild des Menschen sehen aus wie Gärten. Er schafft Gärten, um zu verwirklichen, dauernd oder vergänglich, was ihm als eine unstillbare Sehnsucht vorschwebt, eine versagte Welt. [...] Ein Garten ist das was ‚jenseits‘ unserer harrt.“ 24 Nicht um eine verlorene Natur à la Rousseau geht es also bei dieser Sehnsucht nach einem Paradies, sondern um „etwas dahinter“. 25 Die Blume eines solchen Gartens sei nicht nur Schmuck und ästhetischer Reiz, sondern „das ernsthafteste, was es geben kann“, 26 da sie „Andeutungen des nicht wirklich Aussprechbaren“ 27 ermögliche. Die Blume, wie auch die Muse, sei eine „göttliche Mittlerin“, die den Menschen „über das Zyklische seines Schicksals ahnungsvoll aufklärt“. Denn nicht daß „die Blume ist und lebt“, mache sie für den Menschen bedeutsam, „sondern daß sie noch da ist, und bald nicht mehr, und dann aber von neuem. Sie symbolisiert das zyklische Schicksal der menschlichen Art in Waltung der menschlichen Seele, ‚was wir haben, was wir hatten‘, und das macht sie nach allen Seiten vollkommen unerschöpflich; das macht sie zum natürlichen Gegenstande und Zentrum der Poesie, die es fast nur mit dem Zyklischen zu tun hat und nicht mit der äußeren Erscheinung. Es macht ihre Vergänglichkeit zum Gleichnis der Liebe, die, wie gern, ewig wäre!“ 28 Nur wenn sie dem Menschen solche Ahnungen geben kann, wenn sie also „unsere Unvollkommenheit vervollständigt, unsere Vereinzelung aufhebt und sie an verwandte Geistermächte nach allen Seiten anschließt, unserer Zeitlichkeit Ahnungen des Ewigen gibt und unser Dasein durchweg auf höhere Stufen hebt als wir sie ohne das einnehmen würden“,29 gehöre die Blume zur menschlichen Kultur. Weil sie dem ewig Zyklischen unterworfen ist, mahnt die Blume den Menschen an seinen eigenen unsterblichen Anteil: „Nur die Unsterblich21 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 83. Ebd., S. 126. Ebd., S. 82. Ebd., S. 84. Ebd., S. 127. „Kamelien“, ebd., S. 7. Ebd., S. 13. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 91. „Gartenphantasie“, ebd., S. 27f.

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IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner

keit darf das Maß des Sterblichen von sich selber abzuscheiden wagen. Die Blume zielt auf den Menschen. Darum blüht nur dem Menschen die Blume. Und darum ist nur das Kompendium des Menschen, der Dichter, der vollkommene Gärtner.“30 Die Parallele von Dichter und Gärtner findet sich schon in Hofmannsthals Aufsatz „Gärten“ (1906), wo es heißt: „Der Gärtner tut mit seinem Sträuchern und Stauden, was der Dichter mit den Worten tut.“31 Jedoch geht Borchardt weit über Hofmannsthals Vorstellung, nach der dem Dichten „im Grunde nichts [...] so nahesteht, als ein Stück lebendiger Natur nach seiner Phantasie umzugestalten“,32 hinaus. Für Borchardt ist der Gärtner wie der Dichter ein „Zurichter“ dieser Welt des Unsterblichen für die „Welt der Sterblichen“, derjenige, der dem menschlichen Verhältnis zur Natur eine Form gibt, die Ordnung „des Meisters, Bemeisterers, Umgestalters Mensch.“33 Weil die Arbeit des Gärtners der des Dichters in ihrem Verhältnis zum Unsterblichen vergleichbar ist, gilt für beide der Begriff der Leidenschaft, den Borchardts Gartenbuch schon in seinem Titel trägt. „Nur darauf, daß es Leidenschaft sei, bestehe Du“, heißt es in Borchardts bereits zitierter Übertragung von Walter Paters „Conclusion“, 34 die 1939 kurz nach der Fertigstellung von Der leidenschaftliche Gärtner entstanden ist. Die „Leidenschaft“ des Gärtners besteht jedoch nicht nur, wie bei Pater, in der Intensität, mit der jeder Moment der Tätigkeit dem Tode abgerungen wird; sie wird in Der leidenschaftliche Gärtner etwa durch die ausführlichen Angaben zu Düngung, Bodenbeschaffenheit, Pflege und Ansaat dokumentiert. Es handelt sich bei dieser Leidenschaft vor allem um eine Intensität, die im Verhältnis des Gärtners zur Blume liegt und die sich in der Vorstellung ausdrückt, daß in der Blume, mit der er umgeht, immer auch das Jenseitige, das „Dahinter“ erahnbar wird und daß der Gärtner durch seinen Umgang mit der Blume daran, soweit es ihm möglich ist, Anteil hat. Das Ideal eines in diesem Sinne leidenschaftlichen Menschen ist, wie Borchardt den Dichter und Gärtner vereinend, Goethe, der sich „als Leidenschaftlicher, als Mensch, als Gärtner [...] zu Ahnung, Erkenntnis, Forschung, Andacht vollkommen in die Schule der Pflanze“ geschickt habe.35

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Der leidenschaftliche Gärtner, S. 103. Hugo von Hofmannsthal: „Gärten.“ (1906) In: Reden und Aufsätze 1: 1891-1913, S. 577-584, hier S. 579. Ebd., S. 581. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 106. „Walter Pater“, Prosa III, S. 411. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 101.

IV. Paradies und Entsagung: Der leidenschaftliche Gärtner

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Borchardt setzt große Hoffnungen auf Der leidenschaftliche Gärtner. Nach 1933 ist ihm eine Wirkung in Deutschland verwehrt, er wendet sich von der Politik ab, hält keine öffentlichen Reden mehr, selbst in der neutralen Schweiz nicht, auch veröffentlicht er keine Gedichte mehr. Seinen Lebensstandard hofft er mit Der leidenschaftliche Gärtner zu halten, sogar sich „Rücklagen zu verschaffen“:36 „Es macht mir ein bitteres Vergnügen zu denken, dass ich dieser Nebenseite meiner geistigen Person, die ich gegen die grössten Beschimpfungen, Kränkungen, und Verleidungsversuche, manchmal wirklich mit dem letzten Faden von Nervenmöglichkeit weiter entwickelt habe, unsere ganze wirtschaftliche Rettung verdanke“,37 heißt es in einem Brief an Schröder vom August 1937 im Hinblick auf die „freigiebige“38 Bezahlung durch die Hambuechens. Für den Verkauf des Buches setzt er seine Hoffnungen jedoch weniger auf den deutschsprachigen Markt als auf den englischen, 39 wo er einmal mehr das Vorbild für die eigene Arbeit findet, nämlich das der „so reichen literarischen und liebhabermässigen Gartenliteratur“, welche „dort nicht von Banausen sondern von distinguierten Naturen geschrieben, von allgemeinen Verlegern – Macmillan, Shatto, Windus pp – verlegt und von allen Interessenten gelesen wird.“40 Alles scheint zu dieser Hoffnung Anlaß zu geben: Der Auftraggeber, Josef Hambuechen, „legt den Hauptwert auf die englische Ausgabe, nicht die deutsche, hat für jene den Verleger parat, und kann garantieren, ihr dort einen grossen Propagandaapparat zur Verfügung zu stellen, dort und in U.S. In der Herstellung dieses englischen Ms. das aus offensichtlichen Gründen eine Adaption, keine Übersetzung meines Buches ist, arbeiten wir jetzt aufs angespannteste.“41 Aber „das Gartenbuch, dem meine Freunde für England best-seller-Rang vindicieren“,42 erscheint nicht, und erst im Jahr 2006 kommt eine englische Übersetzung des Buches auf den Markt.43 Neben der Hoffnung auf finanzielle Sicherheit und Erfolg in der englischsprachigen Welt stellt die Arbeit am Garten und an dem Buch Der leidenschaftliche Gärtner für Borchardt eine Möglichkeit dar, das von ihm ersehnte „Paradies“ 44 zu verwirklichen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hat Borchardt die Hoffnung weitgehend aufgeben 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Borchardt an Martin Bodmer, 23. Dezember 1934, Briefe 1931-1935, S. 407f. Borchardt an Schröder, Mitte August 1937, Briefwechsel 1919-1945, S. 445f. Borchardt an Karl Förster (nicht abgesandt), Oktober 1937, Briefe 1936-1945, S. 260. Vgl. Markus Neumann: Die „englische Komponente“ a.a.O., S. 258-262. Borchardt an den Rowohlt-Verlag (Entwurf), 27. Februar 1922, Briefe 1914-1923, S. 404. Borchardt an Karl Förster (nicht abgesandt), Oktober 1937, Briefe 1935-1945, S. 261. Borchardt an den Jakob Hegner Verlag, 23. September 1937, Briefe 1936-1945, S. 256. Rudolf Borchardt: The Passionate Gardener. Transl. Henry Martin. Kingston N.Y. 2006. „Dichten und Forschen“, Reden, S. 190.

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müssen, in Deutschland wirken zu können, und offenbar Abschied genommen von der Vorstellung, sich dort ein ideales Publikum schaffen zu können, wie er es ja noch rund zehn Jahre zuvor mit den Anthologien versucht hatte: „Nun [1933] war die Utopie einer Wiederherstellung der Gesellschaft aus dem Geist der Dichtung und der Geschichte für lange Zeit, vielleicht für immer gescheitert.“45 Gleichzeitig sucht er sich einen neuen Gegenstand, mit dem eine solche Wirkung vielleicht doch noch zu erreichen wäre. Der Garten wird dabei zu dem, was ihm bisher allein die Dichtung war. Der Garten ist, wie die Poesie, dem ewigen Zyklus der Natur unterworfen und macht ebenso, aber auf eine andere Weise eine Ahnung des Unaussprechlichen möglich: „Wenn das Buch das Geistermittel ist, kraft dessen es menschlicher Freiheit vergönnt ist zu leben in welcher Zeit sie will und wählt, die Blume entfesselt die Freiheit der menschlichen Phantasie von den gleichen Gefängnissen des Raumes.“46 Jedoch sind Garten und Blume eben nicht, wie die Poesie, an das Medium Buch gebunden, das sich sein Publikum erst suchen muß: Ihre Wirkung ist unmittelbar; sie sind auch nicht, wie die Poesie, an die Sprache gebunden, da ihre Sprache weltweit verständlich ist; sie sind unpolitisch, da in ihnen die Politik überwunden ist.47 Das Paradies des neuen Gartens, dem Borchardts Buch gilt, ist wie das Paradies der Poesie eine Utopie. Tatsächlich erhält man über dessen genauere Beschaffenheit kaum hilfreiche Angaben. „Zwischen einem äussersten geschichtlichen und einem äussersten dichterischen“ 48 Punkt sei sein Begriff des Gartens gespannt, schreibt Borchardt an Karl Förster, als Produkt einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung einerseits und als eine Form von Poesie andererseits versteht er den Garten. Geschichtlich leitet er ihn her aus der Entwicklung seit der „ersten Weltepoche“ des Gartens, dem „Anschluß an das Mittelmeerbecken“ im frühen Mittelalter, dem eine zweite und „viel gewaltigere Acclimatisierung“ folgte: „das Zusammenfliessen der abendländischen Kulturflora mit der gesamten wild45 46

47

48

Norbert Miller: „Geschichte als Phantasmagorie. Rudolf Borchardts Aufsatz ‚Die Tonscherbe‘“ a.a.O., S. 267. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 39. Vgl. Markus Bernauer: „‚Das Zentrum der Poesie.‘ Rudolf Borchardts Gartenidee.“ In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen a.a.O., S. 245-264, hier S. 262: „So gesehen ersetzt in den dreißiger Jahren die Gartentheorie die Poetik, der Garten die Dichtung, die Blume das Wort: Borchardts Garten ist Dichtung ohne Worte, also Dichtung mit Blumen.“ Borchardt versteht den Garten als eine „gewaltige Demokratie“ (Der leidenschaftliche Gärtner, S. 271) – ein Wort, das bei Borchardt in diesem positiven Sinne sonst undenkbar ist. Nicht nur deshalb ist das Buch ein (allerdings nicht gezielt) „antinazistisches Buch“, vgl. Markus Bernauer: „‚Das Zentrum der Poesie.‘ Rudolf Borchardts Gartenidee“ a.a.O., S. 253. Borchardt an Karl Förster, 25. Dezember 1938, Briefe 1936-1945, S. 317f.

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blühenden Erde.“49 Die Vorstufe dieser zweiten Weltepoche des Gartens stelle der englische Blumengarten dar, der erstmals die durch die Entdeckungen des 18. und 19. Jahrhunderts aus allen Teilen der Welt nach England gelangten Blumen vereine, sie „teils angepaßt teils aufgenötigt und an ihm erzogen, in sich durchgearbeitet, variiert, auf einen neuen Habitus umgerechnet, in gewissem Sinne umgeschaffen oder ganz erschaffen“50 habe. Daß hier nicht nur Blumen aus aller Welt an einem Ort vereint, sondern auch durch Auswahl und Züchtung angeeignet werden, ist Borchardt zufolge die große Leistung des englischen Blumengartens. Während dort der Garten zu einer Sache des ganzes Volkes werde,51 verschließe sich der europäische Kontinent, vor allem Deutschland, „dem Ansturme der neuen Blume“ und bleibe bei dieser Entwicklung zurück.52 Eine wichtige Anregung für Borchardts auf den englischen aufbauenden Garten der Zukunft ist der bereits genannte Staudengärtner und Gartenschriftsteller Karl Förster (1874-1970), „durch dessen jahrelange Arbeit einige unserer schönsten Gartenpflanzen den in sie gelegten Naturwillen erst zu erfüllen begonnen haben“.53 Förster wird von Borchardt selbst in den Rang nicht nur eines Mystikers erhoben, 54 sondern durch seine Methode – „von der einzelnen Schöpfung und durch sie hindurch zur Enzyklopädie“ 55 – einem Dichter gleichgesetzt. Mit Försters erstem Buch Vom Blütengarten der Zukunft,56 1917 erschienen und von Borchardt schon in der „Gartenphantasie“ gelobt, hat Der leidenschaftliche Gärtner in der Tat einiges gemeinsam. Zunächst verbindet beide die Kritik an dem deutschen „Philistergarten“, wobei jedoch die Borchardts wesentlich drastischer ausfällt. Er beklagt, daß es in Deutschland mit Ausnahme des Barockgartens keine Gartentradition gebe, wofür er sogar Goethe zum Zeugen aufruft. 57 Darüberhinaus werde die weltweite Erschließung und Erforschung der Flora in Deutschland kaum rezipiert; es werde kaum selbst gezüchtet.58 Auch Förster bedauert, „wie wenig das Große, schon Erreichte“ auf dem Gebiete „der gärtnerischen und pflanzenzüchterischen 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

„Mittwinterliche Gartenhoffnung“, Lord und Bettler, S. 185. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 17. Vgl. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 153f. Zur Idealisierung des englischen Garten vgl. auch ebd., S. 228f. Ebd., S. 152. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 22. Vgl. Borchardt an Förster, 25. Dezember 1938, Briefe 1936-1945, S. 317f. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 21. Karl Förster: Vom Blütengarten der Zukunft. Das neue Zeitalter des Gartens und das Geheimnis der veredelten winterfesten Dauerpflanzen. Berlin 1917. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 19. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 143.

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Entwicklung“ in Deutschland in „das moderne Kulturbewußtsein übergegangen“59 sei. Förster wie Borchardt setzen auf die aus allen Teilen der Welt kommende „neue Blume“, die durch Züchtung dem deutschen Garten angeeignet werden soll, auf die Sorte also und nicht auf die Art.60 Jedoch gibt es Unterschiede: Förster etwa geht kaum auf die Leistungen Englands ein und lehnt den Import von englischen Stauden wegen des schlechten Klimas dort ab, zudem ist er ein großer und stolzer Freund von photographischen Abbildungen und Illustrationen in seinen Büchern,61 auf die Borchardt, wie er am Ende des „Postscripts“ ausführt, bewußt verzichtet, und dabei gerade die Photographie für völlig ungeeignet hält. 62 Der Hauptunterschied zwischen den beiden ist aber ihr Verhältnis zu pflegeleichten Pflanzen. Schon der Untertitel von Försters Blütengarten der Zukunft – „das Geheimnis der veredelten winterharten Dauerpflanzen“ – deutet an, daß er gegen „schutzlos winterharte Rosen“63 oder das „ausdauernde winterharte Garten-Chrysanthemum“ 64 nichts einzuwenden hat, ja sogenannte „Automaten“, die nur wenig Pflege verlangen, geradezu als das Ideal ansieht (das er als Züchter ja auch verkauft). Ganz anders Borchardt, der im pflegeleichten Garten geradezu „den Todfeind und die Negation der Liebhaberei“ 65 sieht. Der deutsche Gartenbetrieb halte sich an Blumen, die leicht zu akklimatisieren seien, und an das Massenhafte.66 Ein solcher allein auf Einfachheit und Winterhärte ausgerichteter Garten töte „das Gärtnerische im Gärtner“ 67 und sei überhaupt mehr ein „übertünchtes Grab“68 als ein Garten. Es sei zudem eine fatale „nationalistische“ Tendenz, sich allein an das zu halten, „was sich wirklich in unserem Klima wohlfühlt“69 – Borchardts damit einhergehende Kritik an der Vorliebe der Deutschen für einfache einheimische Blumen („Heidekraut, Strandhafer, Ackermohn und wilde Rosen“), die er in der „Gartenphantasie“ mit der Vorliebe für Dichtung im „Volksliedtone“ vergleicht,70 hat ihr Gegenstück 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Karl Förster: Vom Blütengarten der Zukunft a.a.O., S. 10. Vgl. Karl Förster: Garten als Zauberschlüssel. Ein Buch von neuer Abenteuerlichkeit des Lebens und Gärtnerns unter dem Zeichen erleichterten Gartenwesens. Berlin 1934, S. 233. Vgl. Försters Stolz auf die teilweise farbigen „Autochrom-Aufnahmen“ in Der Blütengarten der Zukunft S. 9f. Vgl. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 287-290. Karl Förster: Der Blütengarten der Zukunft a.a.O., S. 122. Ebd., S. 139. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 32. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 143. Ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Ebd., S. 276. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 25.

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in seiner aristokratischen Volksliedtheorie, die ja gerade das Kunstvolle, Besondere, Schwierige als das eigentlich Volkstümliche definiert.71 Auch im Garten liebt es Borchardt, mit Spezialwissen und schwierigen Wörtern zu glänzen, verwendet die entlegensten lateinischen Pflanzennamen und nennt selbstverständlich auch die kleineren Namen aus der Geschichte der Gartenkunst – ein Verfahren, daß etwa in den unbekannten Texten und Autoren in seinen Anthologien seine Entsprechung hat. In diesem Licht verwundert es, daß Borchardt in Förster das große Vorbild seiner gärtnerischen Tätigkeit herausstellt.72 Borchardt besteht darauf, daß die „unmässige leidenschaftliche Arbeit“73 der Selbstbildung und des Dienstes an der Poesie auch dem Garten gebühre: „die natürlichsten Dinge sind seit die Gemeinschaft der Menschen sie entdeckte und sich zu eigen machte, ihm endlich so ganz abhanden gekommen, daß wer sie heut individuell für sich entdeckt, die ganze seelische Arbeit, die ganze seelische Erfahrung, ja man möchte sagen, die Geschichte dieser seelischen Erfahrung in einem Moment zusammengeballt durchstaunt, durchjauchzt, durchleidet.“74 Es ist dieselbe Vorstellung, wenn Borchardt im „Eranos-Brief“ über Herder sagt: „Nicht das Paradies allein mußte wieder erlebt werden, sondern die Wiederentdeckung des Paradieses“. 75 Der Garten muß angeeignet, eine innerliche Verbindung hergestellt werden zwischen dem Gärtner und den Bestandteilen seines Gartens, er muß neu selbst geschaffen werden, denn er repräsentiert den Geist seines Gärtners: „Läßt man von anderen seine Bibliothek zusammenkaufen?“76 fragt Borchardt in der „Gartenphantasie“. Der enge Zusammenhang mit der Poesie muß bei seinen gärtnerischen Bemühungen stets mitgedacht werden, auch der bereits erwähnte Brief an Erika Mitterer zeugt in seiner Verbindung von poetischer Theorie und Gärtnermetaphorik davon: „Sie, wir können die Poesie selber so wenig beeinflussen und an ihr künsteln wie der Gärtner an seiner Pflanze, aber den Boden aus dem sie kommt, unser geistiges Ganzes, unser Ausdrucksvermögen, unsere allgemeinen sinnlichen und plastischen und kritischen und wissensmässigen und taktmässigen und denkmässigen Mittel können wir gar nicht

71 72 73 74 75 76

Vgl. S. 261-263 dieser Arbeit. Vgl. Franck Hofmann: Sprachen der Freundschaft. Rudolf Borchardt und die Arbeit am ästhetischen Menschen. München 2004, S. 216f. Borchardt an Margarete Ruer, 26. Juni 1901, Briefe 1895-1906, S. 148. „Kamelien“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 10. „Eranos-Brief“, Prosa I, S. 315. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 36.

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ständig und unermüdlich genug durcharbeiten, wie der Gärtner seine Erde nicht einen Augenblick in Ruh lassen darf.“77 Förster setzt seine Hoffnungen ganz auf Deutschland, er wird allerdings, anders als Borchardt, von den Nationalsozialisten nicht an seiner Arbeit gehindert. So heißt es in seiner 1937 erschienen Textsammlung Glücklich durchbrochenes Schweigen, in der er den zukünftigen deutschen Garten entwirft: „Bodenständige Jahreszeitengärten mit ihrem Wechselflor durch alle Monate an Strauch und Staude und Rankgewächs, mit ihren vieltönigen Bodenteppichen und immer reichere Wintergrün, ihren ausgewogenen Pendeln innerhalb desselben Gartens zwischen stiller Wildnisgartenkunst und architektonisch regelmäßiger Farbengartenkunst passen ganz und gar zum deutschen Wesen.“78 Auch Borchardt vertraut, was den neuen Garten angeht, trotz der politischen Situation auf Deutschland, bleibt dabei aber weitgehend vage. „Aber für mich, das werden Sie glauben, ist mein Buch das deutsche, in ihm allein steckt meine Liebe; ja meine Leidenschaft, meine Form“, 79 heißt es über Der leidenschaftliche Gärtner. Darin findet sich der folgende kryptische Satz: „Kritische Jahrhunderte gehen den schöpferischen der Weltgeschichte mit heiliger Gesetzmäßigkeit voraus.“ Mit dem „kritischen Jahrhundert“ ist ganz offenbar das der „blumenkritischen Arbeit Englands“ („das größte geschichtliche Ereignis, das je auf den Garten des Abendlandes gestaltend eingewirkt hat“) gemeint, was es mit dem ihm folgenden „schöpferischen Jahrhundert“ auf sich hat, bleibt offen. Allerdings ist im nächsten Satz davon die Rede, daß Deutschland „ein kritisches eingreifendes Verhalten zu Blume und Garten nie erschwungen“80 habe, was den Schluß nahelegt, daß nun Deutschland dieses „schöpferische Jahrhundert“ zufalle. Dafür spricht auch, daß Borchardt den „Barockgarten deutscher Prägung“ nicht als ein Konzept der Vergangenheit sieht, sondern als „die Jugend der neueren, der eigentlichen, europäischen Gartenform“. 81 Offenbar hat er seine Hoffnungen, in Deutschland sei das Gartenparadies – das dem Paradies der Poesie entspräche – noch nicht begraben. Borchardt glaubt, daß seit der Schöpfung der Welt ihre Flora aus verschiedenen Gründen – etwa „meteorische Katastrophen“ – immer ärmer und ärmer geworden sei. Durch die Aneignung des Weltgartens und der Züchtung neuer Sorten sei die Restitution dieser paradiesischen „Urzeitfülle“ jedoch möglich: „Das goldene Alter ist kein Wahn, der Mensch ist 77 78 79 80 81

Borchardt an Erika Mitterer, 18. April 1936, Briefe 1936-1945, S. 113. Karl Förster: Glücklich durchbrochenes Schweigen. Berlin 1939, S. 101. Borchardt an Karl Förster (nicht abgesandt), Oktober 1937, Briefe 1936-1945, S. 261. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 221f. Ebd., S. 128.

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ihm auf der Spur.“ Alles also, was sich durch Züchtung und Auswahl erreichen läßt, war einmal bereits vorhanden: „Wir bringen in die Blume nichts hinein, was sie nicht so daß wir es aus ihr herausholen könnten, in sich trägt.“82 Eine „Schöpferische Restauration“ ist auch diese utopische deutsche Nach- und Neuschöpfung des Gartens, bei der jeder Gärtner „nochmals Adam“ 83 werden soll. Inwieweit sich dieser neue Garten jedoch noch unterscheiden soll vom englischen Landschaftsstaudengarten, der Borchardts Forderungen, wie er selbst schreibt – Aneignung der neuen Blume durch Züchtung, Nachbildung des fremden Habitus, intensive gärtnerische Arbeit, Verwurzlung im Volk –, bereits erfüllt, bleibt offen. Der Garten sei durch die Aufnahme der neuen Blumen „ein Bereich völkerverbindender Götter und ihr Weihbezirk“ geworden. „Er ist eine Einheit, die gleiche durch alle Zonen und Breiten, ein Symbol der Einheit des menschlichen Geistes.“ 84 Er werde „eine in der Idee symmetrische Anlage wie Eden, sein Mittelpunkt das unerschöpfliche, unersättliche, unüberwindliche menschliche Herz“85: das „Centrum“. Der neue Garten ist ein Symbol der Humanitas, und der Verfasser von Der leidenschaftliche Gärtner nennt sich selbst nicht „Gärtner, Botaniker oder Liebhaber“, sondern einen „Humanisten“.86 Für ihn gibt es eine Blume kaum noch um ihrer selbst willen, so schön sie auch immer sei, sondern nur als Produkt des menschlichen Geistes, denn: „Der Garten ist antinaturalistisch“. 87 Hier zeigt sich noch einmal Borchardts Angst vor Chaos und „Dekomposition“. Freie wilde, unberührte Natur im romantischen Sinn nimmt er nicht wahr, sie bleibt in jedem Sinne „draußen“, außerhalb der Gartenmauer. Hier fühlt er ganz als Italer und Kind der Römer, die vor der wilden Natur Angst hatten, nur die kultivierte Natur heiligten und das Wilde in der Idylle zähmten: „Es ist und bleibt südliche Religion, sich die bezwungene und nützende Natur zu heiligen, wie es nordische ist, sich an die selbstherrlich wilde, spurenlose, selbstgenüge aufzugeben“,88 heißt es schon in Borchardts Essay „Villa“ von 1906. So versteht Borchardt den Garten nicht nur als „eine uralte heilige menschliche Kulturform“,89 son-

82 83 84 85 86 87 88 89

Der leidenschaftliche Gärtner, S. 156. Ebd., S. 218. Ebd., S. 279f. Ebd., S. 265. Ebd., S. 266. Ebd., S. 167. „Villa“, Prosa III, S. 55. „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 28.

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dern, wie die Poesie, auch als „eine Ordnung der menschlichen Seele“.90 Die Blume, die im Zentrum seines Buches steht, ist dabei nicht die Art, sondern eben die Sorte, nicht das Geschöpf der Natur, sondern das des Menschen.91 Sie ist ihm das Werkzeug zur Überwindung der Vergänglichkeit zu „Freiheit und Unsterblichkeit des Menschen, Humanitas“ auf der ganzen Erde, wie es am Ende der „Gartenphantasie“ heißt.92 Wie sehr Poesie und Garten in Borchardts Denken zusammenhängen, zeigt auch eine Passage aus Borchardts Essay über Walter Savage Landor, in dem das Programm von Der leidenschaftliche Gärtner, bezogen auf seine Übertragung der Imaginary Conversations, schon fast vollständig vorhanden zu sein scheint. Borchardt schreibt, er habe sich entschlossen, seine Übersetzungen so spät zu veröffentlichen, um „den Bereitern eines lichteren Tages, den Jüngeren, diese edle Blume zur möglichen Verpflanzung in das schmale Kolonistenbeet der deutschen Auferstehung zuzureichen. Mögen sie es zu andern Samenkörnern und Impfreisern des Verlorenen Paradieses, der alten, großmütigen, tiefgründigen und tiefsinnigen Humanität, der alten, Völker und Zeiten souverän besitzenden, stolzen deutschen Erziehung, Gesittung, Gesinnung und Dichtung ordnen, durch deren selbstverständlichen Besitz, wenn auch nur in den Formen der Ehrfurcht, ihre Großväter und Urgroßväter den Menschen, dem in guter Gesellschaft den Mund aufzuthun erlaubt war, vom Schenkenpöbel und der Leutestube unterschieden.“93 Es liegt weder an der für Borchardt widrigen politischen Situation noch an seiner eigenen finanziellen, nicht an Raum- oder Zeitmangel oder an der Gegnerschaft der vermeintlich faulen deutschen Gärtner, daß Art und Ort der Verwirklichung des zukünftigen Gartens in seinem Buch vage bleiben. Denn dieser Garten existiert bereits: in der Imaginationen von Der Leidenschaftliche Gärtner – als Poesie. Zunächst ist dieser imaginierte Garten ein Weltgarten: „die ganze Welt, in einen Zaun gefangen“.94 Wie in Der Deutsche in der Landschaft ist auch hier die Aneignung der Welt mit dem Verweis auf ein Höheres verbunden. So enthalte jede Blume „ihre Landschaft, unwidersprechlich“ – „Und eben darum enthält der Garten nicht 90 91

92 93 94

Vgl. auch den ursprünglich geplanten Untertitel des Buches: „Der menschliche Blumenbesitz/ als eine Ordnung des Menschengeistes/ dargestellt von RB.“ (Borchardt an Karl Förster (Entwurf), 1939, Briefe 1936-1945, S. 397) Der leidenschaftliche Gärtner, S. 23. Vgl. Markus Bernauer: „‚Das Zentrum der Poesie.‘ Rudolf Borchardts Gartenidee“ a.a.O., S. 249: „Auch außerhalb des Gartens will Borchardt freilich Natur nicht anders wahrnehmen denn als Ausdruck des menschlichen Geistes, als Teil von Geschichte.“ „Gartenphantasie“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 40. „Walter Savage Landor“, Prosa III, S. 353f. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 125.

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diejenige Blume, die vor seinen Gittern frei vorkommt, sondern die einer Landschaft des Andersseins, eines Traums, einer Sehnsucht.“ 95 Es ist diese Sehnsucht, der die Leidenschaft des Gärtners gilt: „Die Geschichte der Blumen, ihre Haltung, ihre Geste, ihr Teint haben für uns eine leidenschaftliche Bedeutung bekommen, das Leiden in dieser Leidenschaft stillt sich nur durch Überführung auf höhere Stufen verklärter Einsicht.“ Das Mittel dieser Überführung ist die „Sehnsucht“, durch die im „Aperçu“ die „weite Welt“96 als Poesie imaginiert wird. Max Rychner erzählt in seiner „Erinnerung an Rudolf Borchardt“ eine sprechende Anekdote: Einst besuchte ihn eine Dame aus seiner Heimat, deren größte Leidenschaft ihre Gärten waren, an deren Pflege sie als begüterte Schloßherrin alles wandte. Borchardt empfing sie mit betonten Formen und schlug einen Gang durch seinen Garten vor. Den Augenschein begleitete er mit seiner ganzen Beredsamkeit, entwarf kühne Bilder von seinen bestehenden und künftigen Anlagen, von ungewöhnlichen Rosensorten und -beeten, so daß der Gast sich nach Schiras versetzt fühlen konnte und überwältigt war. Noch in der Nacht, vor dem Einschlafen fühlte die Dame sich recht gering als Gartenkünstlerin; da gibt man sich die erdenklichste Mühe, sagte sie sich, um etwas zustandezubringen, und wenn man dann diesen Zaubergarten Borchardts sieht, so ist der eigene im Vergleich dazu doch ungemein bescheiden. Am Morgen war sie früh wach und ging hinunter, die Herrlichkeit erneut zu genießen; diesmal allein. Seltsam, es war gar nicht mehr so herrlich; es war in manchem, wo gestern noch Fülle und Ueberschwang an Blumen und Wundergesträuch herrschte, sogar eher kümmerlich bestellt. Gewiß, ein paar Rosen waren ja wohl vorhanden – mit ihren Anlagen zuhause war das alles freilich nicht zu vergleichen; es fiel ab, auch wenn es immerhin noch hübsch sein mochte. Wo war denn Schiras hingeraten, wo die hängenden Gärten, das Weltwunder vom Tag vorher? O Entzauberung und Ernüchterung, da nun die Phantasie des Hausherrn nicht mehr mitriß in eine Welt, die sie aus dem Stegreif schuf und in welche sie den Gast enthob! Die innere Vision des Dichters war stärker gewesen als die ergänzungsbedürftige Wirklichkeit, das bezwingende Wort hatte diese überwältigt, ausgetilgt, und das Vollkommene an ihrer Stelle heraufgerufen...97

Man findet Borchardts von Rychner geschilderte Imagination von Gärten als die Umsetzung einer Utopie in die „innere Vision“ auch in Der leidenschaftliche Gärtner: am deutlichsten und großartigsten im fünften Kapitel „Die Blume als Teil der Landschaft“ mit den Beschwörungen der Welt95 96 97

Der leidenschaftliche Gärtner, S. 174. Ebd., S. 242f. Max Rychner: „Erinnerung an Rudolf Borchardt“ a.a.O., S. 68f. Gemeint ist wohl Marion Franchetti, die den für seine Orchideen berühmten Garten Bellosguardo besaß; Schauplatz der Anekdote dürfte Borchardts Garten in Pistoia sein. Vgl. auch Borchardts Marion Franchetti gewidmetes Gedicht „An Marion“ (1937), Gedichte, S. 364f.

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flora, der Flora Nordamerikas, Südamerikas, Südafrikas, der Kanaren, des östlichen Mittelmeerraumes, Kleinasiens und des Himalaya, Chinas und der „neuseeländischen Eilandsgruppe“, 98 oder in der Schilderung eines englischen Gartens. 99 Borchardt hat keinen der geschilderten Erdteile gesehen, hat einen englischen Garten, wie er ihn beschreibt, vielleicht nie, zumindest seit fünfunddreißig Jahren nicht gesehen. Die Imagination jedoch ist stärker als die Unbilden der Realität: Indem der Garten durch die Kraft der Imagination beschworen wird, ist er da. Durch ein „Aperçu“ entstehen Borchardts Garten, sein Schreiben über den Garten, entstehen auch seine Anthologien. Beide, Garten und Anthologie, sind Menschenwerk und stellen eine menschliche Ordnung dar, die jedoch auf eine höhere verweist: das Paradies. Beide sind als Kunstwerke die Zurüstung einer göttlichen Ordnung für irdische Verhältnisse, der Garten soll an das himmlische Paradies gemahnen, die Anthologie an die Göttersprache der Poesie. Der Blume im Garten entspricht bei diesem Vergleich zweier ‚Blütenlesen‘ der einzelne Text in der Anthologie; beide verlieren angesichts des großen Zusammenhangs, in den Borchardt sie stellt, ihre Selbständigkeit. Die Blume ist in Borchardts Garten ausschließlich Menschenwerk; nicht die Wildblume, nur die Züchtung findet Platz darin. Menschenwerk ist auch etwa das Gedicht im Ewigen Vorrat, und dies in doppelter Hinsicht: zuerst vom Dichter als menschliche Fassung göttlicher Sprache, dann vom Herausgeber, der hier dem Gärtner entspricht, noch einmal bearbeitet und an die richtige Stelle gesetzt. Obwohl die Blume durch den Menschen ihrem Ursprungsort entrissen wurde, ihrem Klima entfremdet und einem neuen angepaßt, durch den Willen des Menschen zu besonderer Schönheit und Farbe verändert und durch ihren neuen Ort im Garten in völlig neuen Nachbarschaften zu anderen Blumen gesetzt wurde, bleibt sie in ihrem Kern doch unversehrt. Dieser Kern ist ihre Ewigkeit, ihre Göttlichkeit, das, worauf auch die wahre Poesie zielt. Die Blume inspiriert den Menschen – wie die Nachtigall oder der Mond – zu „Andeutungen des nicht wirklich Aussprechbaren“100 in Poesie. „Mit der Blume ist er [der Mensch] durch unvernünftige Sehnsucht verbunden, mit dem Garten durch den Willen; mit jener durch grenzenlose Möglichkeit, mit diesem durch die Bescheidung vor dem Endlichen, die schon fast entsagt.“ 101 Der Mensch kann die Sehnsucht, deren Ausdruck der Garten und die Poesie sind, nicht stillen. Das Entsagen, den „männlichen Verzicht“, hat Werner Vordtriede als ein Grund98 99 100 101

Der leidenschaftliche Gärtner, S. 206. Ebd., S. 230-239. „Kamelien“, Der leidenschaftliche Gärtner, S. 13. Der leidenschaftliche Gärtner, S. 106f.

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thema von Borchardts Oeuvre, als „die Lebensstimmung, in der er sich menschlich, elegisch und heroisch bewegt“, benannt: „Die Abrechnung also, das Schlußmachen, das Weggeben von Besitz um der Männlichkeit willen ist ein Lebensthema Borchardts.“102 Entsagen und Verzichten sind zentrale Bestandteile der Idee der Hohen Minne, die in Borchardts Werk eine so bedeutende Rolle einnimmt. Sein Interesse für die Texte der Zeit, aus der dieses Ideal stammt, ist eine Konstante seines Lebens: Die Trobadors, die deutschen Minnesänger, die Vertreter des dolce stil nuovo, Petrarca und Dante werden von ihm gelesen, übertragen, kommentiert, anthologisiert und verteidigt. Sie preisen den Dienst an der unerreichbaren Frau und den Verzicht auf die erotische Liebe, ein Motiv, das auch Borchardts Verserzählung „Der Durant“ (1904/05) bestimmt, mit dem er stilistisch an das mittelalterliche Versepos eines Wolfram von Eschenbach anknüpft. Entsagen und Abschiednehmen wird auch in Borchardts eigenen Gedichten zum Thema, am deutlichsten in den „Der Mann und die Liebe“ und „Nachklang“ überschriebenen Gedichten; auch die Liebesgedichte in der Anthologie Ewiger Vorrat deutscher Poesie thematisieren eher Abschied und Verzicht als die glückliche Liebe, von Wolframs „Minnelied“ (S. 9) über die „Ballate“ (S. 42) oder „Schwarze Kirschen“ (S. 53) bis hin zu Daumers „Stiller Schrei“ (S. 429). „Es ist bestimmt in Gottes Rat,/ Dass man, was man am liebsten hat,/ Muss meiden“, wie es in Feuchterslebens „Nach altdeutscher Weise“ (S. 376) programmatisch heißt. In Borchardts Auseinandersetzung mit Dante, mit der Vita Nova und der Comedia, in seinen Versuchen, Zusammenhänge zwischen seinem Werk und dem Dantes herzustellen, sowie in seinem Bemühen, diese Zusammenhänge auch zwischen Dantes Leben und seinem eigenen aufzuzeigen,103 dominiert ebenfalls das Prinzip der Entsagung, dem er sich als Liebender wie als Exilant im Werk und im Leben verpflichtet fühlt. Dieser „Entsagungsmut“104 gegenüber der geliebten Frau, dem Vaterland oder – wie in der Novelle „Die Geschichte des Erben“ (1922) – dem Reichtum bleibt nicht ohne Lohn; in jedem Fall wird der Entsagende durch ein „Höheres“ entschädigt. Über die Ehe schreibt Borchardt: „denn jedes Sakrament heiligt eine Entsagung durch den Glauben an die Vergütung in schwer erkaufter Seligkeit.“105 Und allgemein: „Das ‚Ganze‘, Natur hier, oder Menschengeist dort, ist ein Rätsel, unenthüllbar, unteilbar, und es hat überhaupt keine ‚Hälften‘. Auch die äußerste Anstrengung der Lie102 103 104 105

Werner Vordtriede: „Rudolf Borchardt und die europäische Tradition“ a.a.O., S. 736. Vgl. S. 83f. dieser Arbeit. „Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr“, Prosa V, S. 257. „Zur deutschen Judenfrage“, Prosa IV, S. 391.

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be siegt immer nur halb; wo sie es erkennt und sich bescheidet, hat sie in einem höheren Sinne das Ganze, denn das ihr Versagte hat sie in diesem einzigen Gefühle wenigstens geahnt.“ 106 Der Sich-Bescheidende, der gleichzeitig „erkennt“, besitzt durch das „Aperçu“ der Erkenntnis und Vision, wenngleich in einem imaginären Raum, etwas Höheres, da „das Ganze“ zu erkennen allein den Göttern vorbehalten ist. Dante, der im Paradies das zurückgeschlagene Licht Gottes erblickt, 107 hat das Menschenmögliche erreicht. Auf den Garten übertragen heißt das: Wer sich damit begnügt, dem himmlischen Paradies eine irdische Form zu geben, hat es in „höherem Sinne“ schon. Zu Borchardts oft vehementem Willen zur Wirkung ist diese Vorstellung das Gegenbild und Korrektiv. Will jener das Paradies durch den Sieg, macht hier die Bescheidung das Paradies erst möglich. Vielleicht ließe sich sagen, daß dieser Gedanke die Sublimierung der Erfolglosigkeit, die Apotheose des Scheiterns ermöglicht. Gleichzeitig erlaubt er wenigstens die Rettung der eigenen Person in einer als rettungslos verloren erkannten Welt. Gewinn durch Entsagung ist auch das Thema von Borchardts Interpretation von Goethes Divan-Gedicht „Selige Sehnsucht“ 108 (1922). Schon dessen Titel vereinigt die Erfüllung als Seligkeit und den Zustand der andauernden Nichterfüllung als Sehnsucht. Der ungedruckt gebliebene Text richtet sich gegen Florens Christian Rangs in Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträgen109 erschienene Interpretation. Borchardt stellt hier der irdischen Begattung der „Liebesnächte“ in der zweiten Strophe von Goethes Gedicht („Der dich zeugte, wo du zeugtest“) die „höhere Begattung“ der dritten Strophe als „Erkenntnis, Einswerden mit dem Göttlichen im Gesetz“ entgegen. Dieses „Gesetz“ sind für ihn die „Urworte“ der letzten Strophe: „Stirb und Werde“. Die titelgebende „Sehn106 Der leidenschaftliche Gärtner, S. 290. 107 Vgl. S. 53 dieser Arbeit. 108 In Georges und Wolfskehls Deutsche Dichtung steht das Gedicht im zweiten Band, S. 72; erstaunlicherweise fehlt es im Ewigen Vorrat. Hofmannsthal zitiert es ganz in „Das Gespräch über Gedichte“ (1903) als Beleg für einen Satz im Absatz davor: „Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich.“ (Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt/M. 1979, S. 495-509, hier S. 507f.) Hofmannsthal ist hier Walter Paters Vorstellung eines leidenschaftlichen Erlebens des Augenblicks wesentlich näher als Borchardts Entsagungstheorie. 109 Florens Christian Rang: „Goethe’s Selige Sehnsucht.“ In: Neue Deutsche Beiträge. Erste Folge 1922. Erstes Heft, Juli, S. 83-125. Kurioserweise steht Rangs umfangreiche Interpretation zwischen Borchardts Gedicht „Furchtbarer Frühling“ und Norbert von Hellingraths Aufsatz „Hölderlins Wahnsinn“. Den Versuch einer lesbareren Fassung von Rangs Aufsatz hat sein Sohn vorgelegt: Florens Christian Rang und Bernhard Rang: Goethes „Selige Sehnsucht.“ Ein Gespräch um die Möglichkeit einer christlichen Deutung. Freiburg 1949.

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sucht“ nach dem „Flammentod“ („Das Lebend’ge will ich preisen/ Das nach Flammentod sich sehnet.“) besitze indes der in dem Gedicht genannte Schmetterling nicht und überhaupt kein Tier. Sie sei nur ausgewählten Menschen eigen, den „leidenschaftlich Erkennenden“, die den „höheren“ Zusammenhang erkannt haben: „Begreifen daß was die individuellste Leidenschaftsäußerung im Überwinden der Fernen, Erzwingen des Absurden ist, – zugleich dienende und entsagende Funktion Alles Lebendigen ist, ist ‚Selbstopfer‘ wie das Gedicht zu erst hieß. Es lieben, ist Seligkeit, – wer sie nicht hat, ist nicht Herr der Erde, sondern was der Schmetterling ist, blindes Eintagswesen, knechtisches Objekt der Natur.“110 Im letzten Absatz wendet sich Borchardt explizit gegen Rangs christlich begründete Interpretation. Diese weist in Goethes Sprachgebrauch biblische Bezüge nach und stellt ausführlich Goethes Kritik des falschen „maledeiten Karfreitag-Kreuz-Christentums“ 111 dar, sowie die Stellen in seinem Werk, in dem er sich „christlicher als das Vulgär-Christentum“112 zeige. Rang erkennt nicht nur Goethes Gedicht, sondern den ganzen Divan als ein vom „reinen Gott-Dienst“ 113 erfülltes, im ursprünglichsten Sinne christliches Werk, „als Nach-Bibel-Buch […] da er Er-lösung vom Glauben-Zwang will […], dass freie Bahn werde für möglichen Glauben, für werdendes Gott-Reich.“114 Eine Deutung, die Borchardt zuwider sein muß: „Es ist nichts Christliches in dem Gedichte, sondern nur Selig Anschauendes des Seienden“, 115 wie es in seiner Entgegnung heißt. Seine Interpretation von Goethes Gedicht liest sich damit als die Verteidigung seiner Religion der Poesie und deren Ansprüche an Goethe. Wer das Gesetz erkannt hat und es wie Goethe ausspricht, schafft Poesie. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Seligkeit der Entsagung und der Schöpfung von Poesie. Dies ist nicht nur in Borchardts Sprechen über den Garten spürbar, es ist ein Grundtenor seines Werks, der auch seine Anthologien prägt. Borchardts Bild von der Poesie gemäß wird das Entsagen stets als spezifisch deutsch verstanden. In Ewiger Vorrat deutscher Poesie erscheint es als die Sehnsucht nach dem „ewigen Morgenrot“116 des Reichs der Poesie, als das demutvolle „Knieen“ nicht nur in den entsagenden Liebesgedichten; in Deutsche Denkreden in der Tatsache, 110 111 112 113 114 115 116

„Zu Goethes ‚Selige Sehnsucht‘“, Prosa I, S. 251f. Florens Christian Rang: „Goethe’s Selige Sehnsucht“ a.a.O., S. 111. Ebd., S. 99. Ebd., S. 92. Ebd., S. 125. „Zu Goethes ‚Selige Sehnsucht‘“, Prosa I, S. 252. Eichendorff: „Greisenlied“, Ewiger Vorrat deutscher Poesie, S. 78.

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daß die Texte des Bandes nicht von den großen öffentlichen Rednertribünen stammen, sondern aus den „stillen Schreibstuben und kleinen Versammlungskammern“ (S. 456); und in Der Deutsche in der Landschaft in der speziellen Aneignung der Welt durch den Deutschen, der die Erde nicht zur Vermehrung des eigenen Reichtums benutzt, „weil er die Erfahrung, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist, vermocht hatte, aus Versagung in Schöpfung zu verwandeln.“117 „Freiheitsgewinnung durch Freiheitsopferung“. 118 Auf dieser Formel beruht Borchardts Werk. Er bewegt sich in einem Raum, dem der Poesie, der „Schöpferischen Restauration“, den er durch Gedicht, Prosa und Drama, durch Übertragung und Anthologie zu einer großen Imagination ausbaut. Dieses nur erträumte Paradies ist seine Entschädigung für das verlorene irdische Paradies, für versagte Wirkung, verwehrten Ruhm, verlorene Heimat: „Für das Reich dieser Welt entschädigt sich die enterbte oder die verzichtende Seele dadurch daß sie ihr Tiefstes auf ein Reich bezieht, das nicht von dieser Welt ist, die geschichteschaffende Negation durch die kühnste Idealität selbst in der Praxis ausgleicht.“119 Was indes zuerst war, die Idee vom Paradies der Entsagung oder das versagte Paradies der Wirkung, ob es sich also um Religion oder Kompensation handelt, ist angesichts von Borchardts dichterischem Werk, ist angesichts auch seiner Anthologien, unerheblich. Auch der unbefangene Leser wird in diesen im „Aperçu“ seiner Imagination einen Hauch des von Borchardt divinierten Paradieses verspüren können.

117 „Deutsche Reisende – Deutsches Schicksal“, Prosa III, S. 22. 118 Borchardt an unbekannt, 21. Januar 1921, Briefe 1914-1923, S. 269. 119 „Der Brief an den Verleger“, Prosa VI, S. 31.

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VI. Register 1. Werke Rudolf Borchardts Altionische Götterlieder unter dem Namen Homer 284f. An Hofmannsthal 87 An Marion 311 An Max Reinhardt 50, 231 An Rudolf Alexander Schröder 226 Ankündigung 46, 282f. Annus Mirabilis (Plan) 25, 83, 125, 202 Ansprüche der Betriebstechnik auf Revision der Geschichte der deutschen Philosophie 49, 76, 88, 164 Asolando (Fragment) 193 Aufzeichnung Stefan George betreffend 19 Aus der Bonner Schule 75, 169f. Ausgewählte Werke 1900-1918 119 Baccalaureus über Faust 47 Bacchische Epiphanie 61 Benedetto Croce 294 Dante Alighieri: Divina Comedia (Übers.) 2, 12, 48, 53, 82, 119, 169, 173, 175, 180, 193f., 253, 264-266, 272, 276-279, 281-283, 293, 313 Dante Alighieri: La Vita Nuova (Übers.) 12, 48, 83, 87, 112, 313 Dante und deutscher Dante 49 Dante Gabriel Rossetti 85, 209 Das Buch Joram 55, 78, 90, 95, 206, 249 Das Geheimnis der Poesie 53-55, 57, 60f., 69, 74, 77, 95, 210, 286f. Das Gespräch über Formen 6, 12, 38, 49, 50, 53, 76, 282, 285-287 Das Reich als Sakrament 70 De paraclausithyro et hymenaeo quaestiones selectae (Plan) 24 Denkschrift über die Notwendigkeit und Grundsätze der Herausgabe älterer deutscher Literatur 202 Der andere Dante 84 Der Arme Heinrich Hartman’s von Aue 9, 86 Der Brief an den Verleger 13, 27, 34-39, 41, 46, 198, 210, 316 Der Deutsche in der Landschaft (Hrsg.) 1, 102f., 106, 112, 114f., 131, 133, 136, 173, 175, 180198, 216, 254, 316 Der Dichter über sich selbst 14, 33f., 39, 75, 90 Der Dichter und das Dichterische 17, 90 Der Dichter und die Geschichte 17, 47, 56, 61, 67-70, 92, 111, 253 Der Durant 12, 28, 313 Der Krieg und die deutsche Selbsteinkehr 71f., 313 Der Krieg und die deutsche Verantwortung 72 Der leidenschaftliche Gärtner 28, 63, 71, 209, 297-316 Der Mann und die Liebe 313

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VI. Register

Der ruhende Herakles 56 Der verlorene Posten 46, 69 Deutsche Denkreden (Hrsg.) 1, 75, 102, 106, 114, 131, 133, 136, 144-170, 172, 175, 178f., 183, 190, 195, 216, 254, 315 Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht 53, 90 Deutsche Namen ausländischer Gartenpflanzen 297 Deutsche Reisende – Deutsches Schicksal 195-198, 316 Deutsche Renaissancelyrik (Hrsg.) 1, 102, 173, 175, 204, 223, 252, 254-281 Deutsche Sonette (Hrsg., Plan) 1, 102, 204 Dichten und Forschen 6, 52f., 55, 72, 74-77, 90f., 93f., 155, 167f., 186, 263, 303 Dichtung und Christentum 66, 218 Die Antike und der deutsche Völkergeist 10, 52 Die Apuanischen Alpen (Fragment) 193 Die Aufgaben der Zeit gegenüber der Literatur 70, 90, 92, 219, 263 Die barke sagt 20 Die Begegnung mit dem Toten 52 Die Beichte Bocchino Belfortis 12, 25, 28, 294 Die deutsche Dichtung im Leben der Nation 68, 74, 219 Die Entdeckung Amerikas. Die Poesie von Edna St. Vincent Millay 11 Die Entwertung des Kulturbegriffs 59, 66, 242, 253 Die fremde Muse (Übers., Hrsg.) 1, 11, 287-297 Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehten Jahrhunderts 34, 59, 75, 82, 160, 252 Die Geschichte des Erben 120, 313 Die Gestalt Stefan Georges 46 Die großen Trobadors 72, 216, 266, 283-286 Die halb gerettete Seele 95 Die Neue Poesie und die Alte Menschheit 16, 46, 55, 59, 67, 69f. Die Tonscherbe 18 Die Wissenschaft des Nicht-Wissenswerten 47 Ecclesia Pressa 294 Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Gedichte 84-86, 88 Englische Dichter (Übers.) 289f. Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova 83-86 Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia 82, 193f., 251, 258, 263-269, 272f., 276-278 Epilog zur Insel 46 Eranos (Hrsg.) 2, 157, 163 Eranos-Brief 13, 15-19, 34, 44, 52, 62, 75, 82, 85-87, 134, 137, 163, 192, 251f., 307 Erbrechte der Dichtung 55f., 78f., 95 Erinnerungen an Hofmannsthal 82 Erklärung 48 Euphorion-Ausgabe (Plan) 125, 127 Europa 72 Ewiger Vorrat deutscher Poesie (Hrsg.) 1, 3f., 29, 41, 58, 99, 102f., 105f., 123, 136, 173, 175, 179f., 197, 199-254, 273, 280, 287f., 293-296, 312-315 Friedrich Leo 75, 158, 161, 169f. Furchtbarer Frühling 314 Garfagna (Fragment) 193 Gartenphantasie 209, 299-301, 304-307, 309f. Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs 72 Goethe zum 22. März 1932 88 Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer 77, 79, 226, 234, 283 Grundvesten deutscher Wissenschaft (Hrsg., Plan) 1, 102, 170-180, 190 Handlungen und Abhandlungen 67, 119

1. Werke Rudolf Borchardts Hartman von Aue: Der arme Heinrich 119, 124, 175, 204, 223, 265, 277 Heroische Elegie 19f. Hesperus (Hrsg.) 1, 19, 87, 133, 143, 265, 282, 284 Hofmannsthal 86 Hölderlin und endlich ein Ende 200, 229-231 Horaz 235 Hugo von Hofmannsthal 40 Hugo von Hofmannsthals Prosaische Schriften 52 In Deutsche Denkreden 144, 164f. In Memoriam 39 Intermezzo 47-50 Italien und die deutsche Dichtung 39 Jamben 47, 294 Josef Nadler, zur Verleihung des Martin Bodmer-Preises der Gottfried Keller-Stiftung 78 Jugendgedichte 28, 90 Kamelien 28, 297, 301, 307, 312 Kürzester Tag 56 Landor, Walter Savage: Imaginary Conversations (Übers.) 28, 119, 284f., 293, 310 L’Italia derubata e i musei stranieri 79 Luthers Bibelübersetzung 266, 274, 286 Mainau (Fragment) 193 Meine Muse 60 Mensch und Jahr 56f. Mittelalterliche Altertumswissenschaft 72, 75, 266, 268 Mittwinterliche Gartenhoffnung 305 Moltkes Denkmal in Bremen 148 Münster-Ausgabe (Hrsg., Plan) 1, 124f., 127, 201-204, 223 Nachklang 313 Nachrichten aus Shelleys und Byrons Lande (Fragment) 193 Nachwort zu Joram 79, 94, 206 Notiz. Zu einem geplanten Redenband 94 Offener Brief an den Ring 65 Öffentlicher Geist 162 Päpstin Jutta (Plan) 28 Pause 60 Pathetische Elegie 20 Pindarische Gedichte (Übers.) 28, 119, 124, 282, 284f., 289 Pisa. Ein Versuch 28, 71, 193 Pisa und seine Landschaft 193 Pseudognostische Geschichtsschreibung 112 Rede am Grabe Eberhard von Bodenhausens 51 Rede über Hofmannsthal 21f., 40, 48, 50, 57, 159, 169, 193, 202, 209f. Rede über Schiller 87, 244, 295 Rede über Unterricht, Erziehung und Bildung 44, 89 Renegatenstreiche 43 Revolution und Tradition in der Literatur 47, 294 Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt 13, 31, 34, 36, 44f., 66, 125, 209, 238 Rund ums Jahr 56 Saturnische Elegie 20 Schöpferische Restauration 12f., 17, 47, 54, 67, 69f., 72, 74, 92, 142f., 263 Schröders Horaz 284 Sonett auf sich selbst 61 Sprüche für das Moltkedenkmal in Bremen 148

339

340

VI. Register

Stefan Georges „Siebenter Ring“ 19, 209, 282 Swinburne 9 Tacitus: Germania (Hrsg., Übers.) 124, 284, 293 Über Alkestis 16 Über das Recht des Dichters, verkannt zu bleiben 46 Über den Dichter und das Dichterische 53-55, 60f., 67, 89 Über den Dichter und das Dichterische (1920) 73f., 220 Über Hofmannsthals Erzählung 85 Veltheim 82f. Vereinigung durch den Feind hindurch 47, 300 Vergil 53, 209, 284 Vermischte Gedichte 61, 125 Versuch über Heine 228 Villa 90, 193, 309 Vita 24 Volterra 28, 193 Walter Pater. Zu seinem hundertsten Geburtstage 63f., 302 Wannsee 95 Wiener Dichter in Bonn 19 Worms. Ein Tagebuchblatt 12, 193 Zehn Gedichte 14f., 19, 60 Zu Goethes „Selige Sehnsucht“ 315 Zum Attentätertum in der Literarkritik 47 Zum deutschen Altertum 196, 233, 262 Zur deutschen Judenfrage 313 Zwei Preise 47

2. Personen Abbt, Thomas 148 Abich, Wilhelm Hermann 186, 191 Achenbach, Andreas 189 Ackerknecht, Erwin 116 Adorno, Theodor W. 36, 77, 90 Adrian, Werner 90 Aeschylos 284, 288 Alcaeus 288 Alkman 288 Allkemper, Alo 65 Altenburg, Michael 216 Althaus, Hans Peter 48 Ammon, Frieder von 53 Anakreon 288 Andersch, Alfred 102 Andreae, Friedrich 110 Andrian, Leopold von 135 Apel, Friedmar 65, 139, 193, 283, 287, 295 Archilochos 292 Aristophanes 288 Arnaut Daniel 266, 291, 294 Arndt, Ernst Moritz 186, 238

Arnim, Achim von 93, 175, 213f., 224, 226, 233, 239, 264, 279f. Arnim, Bettina von 136, 139, 185-187, 190192 Arnim, Elizabeth von 297 Arnold, Heinz Ludwig 8 Arnt von Aich 260 Assmann, Aleida 13 Bacchylides 288 Bach, Anna Magdalena 233 Bach, Johann Sebastian 107, 233 Bachofen, Johann Jakob 135 Bacon, Francis 136 Baer, Karl Ernst von 171 Balde, Jacob 289 Bann, Stephen 63 Bark, Joachim 97 Barlach, Ernst 47 Bartsch, Karl 202, 222f., 232 Baudelaire, Charles 283 Becher, Erich 180

VI. Register Becher, Johannes R. 121 Beerbaum, Alfred W. 170f., 193, 254, 289 Beethoven, Ludwig van 107, 252 Behler, Ernst 42, 54, 71 Benjamin, Walter 2, 131, 141, 159-161, 179, 188, 191, 194 Benn, Gottfried 249 Benzmann, Hans 98 Bernauer, Markus 304, 310 Bernhart, Josef 106 Bertram, Ernst 114, 202 Bessel, Friedrich Wilhelm 147-151, 153-156, 158, 163, 167 Beyer, Andreas 41 Bianca, Stefan 113 Bierbaum, Otto Julius 122, 250 Biermann, Leopold O.H. 122 Bihler, Michael 282 Birus, Hendrik 234 Bismarck, Otto von 113f. Blei, Franz 35, 295 Boccaccio, Giovanni 94, 271 Bode, Dietrich 250 Bödeker, Birgit 296 Bodenhausen, Eberhard Freiherr von 51f., 122 Bodenhausen-Degener, Dora Freifrau von 51 Bodmer, Johann Jacob 10, 114, 204, 263 Bodmer, Martin 78, 122, 179, 281, 289, 300, 303 Boeckh, Philipp August 10, 144, 149-151, 153-156, 158, 168, 171 Boehringer, Robert 202 Bohacek, Karl Albin 290 Böhme, Franz Magnus 224 Bohrer, Karl Heinz 59, 77f. Böll, Heinrich 102 Bollenbeck, Georg 13 Bolte, J. 223 Bonstetten, Karl Viktor von 136 Bopp, Franz 171 Borchardt, Cornelius 200 Borchardt, Ernst 49, 83, 92, 121 Borchardt, Helene 14, 90, 124, 294 Borchardt, Karoline 26f., 36, 281 Borchardt, Marie Luise geb. Voigt 60, 144, 164f., 173, 180, 186, 199f., 204-207, 213, 250, 255f., 260, 271f., 277, 283, 287, 289f., 297 Borchardt, Philipp 14f., 23, 25f., 38, 126, 200f., 281, 284, 287f., 299 Borchardt, Rose 199 Borchardt, Robert Martin 22, 26, 31

341

Borchardt, Vera 15, 30f. Börne, Ludwig 111 Böschenstein, Bernhard 3 Brahms, Johannes 33, 252 Brauer, Walter 280 Braun, Michael 99, 103 Braungart, Wolfgang 3, 20, 139 Brecht, Bertolt 47 Brecht, Walther 131 Brentano, Bettina S. Arnim, Bettina von Brentano, Clemens 105, 212, 218, 224, 226, 232f., 239, 244, 264, 279f. Breuer, Stefan 20, 25, 42 Brod, Max 64, 66, 68, 147 Brontë, Geschwister 77 Browning, Robert 10-12, 62, 74, 85, 93f., 281, 288, 294 Bruchner, Gisela 90 Brügel, Fritz 47 Bruinier, Johannes Weygardus 262 Bruns, Carl Georg 163 Buber, Martin 295 Buch, Leopold von 149, 156, 171, 186, 191f. Bücheler, Franz 75, 170, 175 Buchheit, Vinzenz 60 Büchner, Georg 29 Bulang, Rolf 207, 231 Burckhardt, Carl J. 141 Burckhardt, Jacob 79, 111, 135, 175, 268 Burdach, Konrad 157, 254, 258f., 265-271, 273 Burdorf, Dieter 16, 20, 41, 55, 79, 194, 207 Bürger, Gottfried August 29, 50, 136, 141, 222, 247 Buriot-Darsiles, Henri 3, 111 Burke, Christopher 121, 130, 206 Burke, Edmund 161 Bursian, Conrad 175f. Buttmann, Philipp Carl 151 Byron, George Gordon Noel Lord 10, 94, 289 Calane (Maler) 189 Candidus, Karl 252 Carducci, Giosuè 10, 94, 289, 291-294 Carossa, Hans 249 Carstens, Asmus Jakob 146 Carus, Carl Gustav 191 Carus, Victor 176 Caspari, Rolf 258 Catull 284, 288, 291-295 Cervantes, Miguel de 10, 83 Chamberlain, Houston Stewart 73 Chambers, William 136

342

2. Personen

Chamisso, Adelbert von 238 Chapman, George 6 Chaucer, Geoffrey 94 Chrétien de Troyes 266 Cicero 124 Clausewitz, Karl von 175 Claudius, Matthias 214, 217, 219f., 232, 244 Cola di Rienzo 268 Colli, Georgio 42 Cossmann, Paul Nikolaus 107 Creuzer, Friedrich 116 Croce, Benedetto 25, 79f., 205, 261 Curtius, Ernst 175, 185f., 191f. Curtius, Ludwig 119 Cutinelli-Rèndina, Emanuele 79 Dach, Simon, 233, 238 Dahlmann, Friedrich Christoph 176 Dante Alighieri 2, 10, 24, 29, 35, 48f., 53, 67, 74, 82-88, 93f., 112, 119, 169, 173, 193f., 253, 264-266, 272, 276-279, 281-283, 285, 288, 290-294, 313 Däubler, Theodor 249 Daumer, Georg Friedrich 313 Dauthendey, Max 107, 240, 250 Dedekind, Henning 260 Dehmel, Richard 240, 249f. Delabar, Walter 207 Delle Cave, Ferruccio 39 Demantius, Christoph 260 Demosthenes 15 Deneke, Hedwig 18 Deneke, Otto 18, 22-24, 27, 31, 40, 57 Dewitz, Hans-Georg 264, 276 Diederichs, Eugen 122 Diez, Friedrich 86 Dilthey, Wilhelm 73 Dostojewski, Fjodor 47 Dove, Heinrich 171 Drews, Jörg 26, 247 Droste-Hülshoff, Annette 108, 186, 191f., 212, 220, 225, 248 Du Bois-Reymond, Emil 147 Dunker, Alex 26 Dürer, Albrecht 195 Dürrson, Werner 253 Echtermeyer, Theodor 98, 100, 236-240, 245247 Eckermann, Johann Peter 139, 286 Ehlert, Louis 107 Ehrmann, Karoline s. Borchardt, Karoline Eibl, Karl 234

Eichendorff, Joseph von 58, 99, 107, 186, 210, 215, 222, 232, 240, 244, 315 Eicher, Hans 42, 54, 71 Eilert, Heide 63 Eitner, Robert 279 Eke, Norbert Otto 65 Eliot, T. S. 13 Eloesser, Arthur 47, 71 Eltzschig, Georg 199 Elze, Walter 106, 109-111 Enzensberger, Hans Magnus 103 Erk, Ludwig 224 Erwin von Steinbach 111 Eßmann, Helga 296 Fahrner, Rudolf 113 Falke, Gustav 250 Fallmerayer, Jakob Philipp 136, 189, 192 Federn, Karl 80 Feist, Hans, 76, 80, 128, 172, 205, 293 Fenchler, Ottilie 260 Feuchtersleben, Ernst Freiherr von 139, 313 Fichte, Hubert 101 Fichte, Johann Gottlieb 71f., 107, 113, 138, 165, 180 Finscher, Ludwig 258 Fischer, Bernhard 61 Fischer, Samuel 122, 135 Flaischlen, Caesar 106-109, 250 Flasch, Kurt 264, 276 Flaubert, Gustave 61 Fleming, Paul 210, 222, 238, 247 Fontane, Theodor 8, 100, 103, 186, 239 Forster, Georg 111, 114, 186, 192 Förster, Karl 190, 298, 300, 303-308, 310 Franchetti, Marion 300, 311 Franck, Melchior 260, 275 Freiligrath, Ferdinand 29 Freymuth, Günther 10, 20 Friedrich Wilhelm III. 107 Fulda, Ludwig 106 Gadamer, Hans-Georg 30, 33, 245 Gass, Karl Eugen 35, 41, 194 Geibel, Emanuel 105, 186, 238-240 Geiger, Benno 247 Geist, Peter 98 Gellert, Christian Fürchtegott 214 Gentz, Friedrich von 175 George, Stefan 3, 10, 14, 17-21, 25, 34, 40, 45f., 48-50, 73, 89, 104-106, 109-112, 114-118, 122, 129, 139, 141, 159, 186, 202f., 209, 229, 231, 236, 240-249, 283, 314

VI. Register Gerhardt, Paul 214, 216, 238 Gerok, Karl 238 Gervinus, Georg Gottfried 145f., 148, 160f., 169, 175, 189, 280 Gessner, Salomon 113f., 186, 189-191 Gibbon, Edward 79 Giraut de Borneil 278 Glanner, Caspar 260 Glaser, Horst Albert 9 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 136 Goedeke, Karl 279 Goesch, Heinrich 15, 20f., 24, 31-34, 40, 45, 241 Goethe, Johann Wolfgang 8, 10, 34, 38, 49, 52, 62, 74f., 77, 84-88, 93f., 99, 104f., 107f., 110, 113-115, 131-133, 135f., 138f., 143, 153, 155, 158f., 167, 175, 179, 185-192, 197f., 201, 210-214, 218-221, 232-237, 239f., 242f., 245, 247, 262, 286, 291, 300, 302, 305, 314f. Goldscheider, Ludwig 290 Goldschmidt, Alfons 121 Golffing, Francis 287, 290, 292f., 296 Golther, Wolfgang 202 Goltz, Bogumil 186 Gönna, Gerd von der 15 Göpfert, Herbert 90 Gottfried von Straßburg 189, 201 Gottsched, Johann Christoph 276 Grabbe, Christian Dietrich 29 Grange, Jacques 3, 208-210, 241 Gray, Thomas 218 Gregorovius, Ferdinand 191f. Greif, Martin 238 Gretz, Daniela 4, 13, 55, 73, 89, 93, 104-106, 113f., 133, 208, 210, 229 Grillparzer, Franz 134 Grimm, Herman 50, 76, 145, 234 Grimm, Jacob 10, 14, 86, 145, 149-151, 154f., 158, 179, 191 Grimm, Wilhelm 10, 86, 145, 150f., 155, 176 Grimmelshausen, Johann Jakob Christoffel 210, 214, 225, 232 Groppe, Carola 37, 41, 90, 109, 115, 117 Grossmann, Stefan 121 Grothues, Silke 276 Gruber, Max Ritter von 49, 164, 169 Grünewald, Matthias 111 Grüninger, Ingrid 20, 62, 196, 207, 265, 293 Gühring, Adolf 119 Gundolf, Friedrich 48f., 114, 243 Günther, Johann Christian 212, 214 Guttenberg, Karl Ludwig Freiherr von 2

343

Haas, Willy 64f. Hagestedt, Lutz 99 Halbherr, Herr 31 Haller, Albrecht von 113, 213 Hamann, Johann Georg 17, 55, 179 Hambuechen, Dorothee 300, 303 Hambuechen, Josef 300, 303 Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von 192 Haneberg, Doris 208 Häntzschel, Günther 98-101 Happ, Alfred 182 Harbricht, Ernst T. 26 Hardt, Ernst 1, 19 Harms, Friedrich 163 Harnack, Adolf 149f., 155-158, 160 Hart, Julius 106 Hartleben, Otto Erich 250 Hartmann von Aue 9, 34, 86, 119, 124, 156, 223, 265, 277 Hartung, Harald 103 Hassler, Hans Leo 259f., 275 Haupt, Moriz 201 Hauptmann, Gerhart 90, 143 Hauser, Otto 49 Haussmann, Valentin 257, 276 Hayward, John 13 Hebbel, Friedrich 29, 238f., 242, 244f., 248 Hecker, Max 123 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 163f., 179 Hegner, Jakob 199, 303 Hehn, Victor 115, 136, 188, 191 Heine, Heinrich 8, 29, 186f., 214, 220f., 227229, 242, 244, 295 Heinrich von Morungen 200, 203 Heinse, Wilhelm 114, 116, 136, 187, 190-192 Heinze, Franz 90 Hellingrath, Norbert von 230f., 245, 314 Henscheid, Eckhard 102 Herbart, Johann Friedrich 149, 151-154, 156, 158, 160, 167 Herder, Johann Gottfried 10, 15-18, 22, 55, 57-59, 66, 75, 80, 85f., 88f., 93, 107, 114, 130, 135f., 146, 148f., 153f., 156, 161, 167-169, 175, 179f., 186, 192, 213f., 222, 232f., 252, 263f., 279, 293, 307 Herodot 124 Herrick, Robert 35 Herschel, Friedrich 156 Herschel, Johann 156 Herzinger, Richard 72 Hesiod 124 Hesse, Hermann 99, 133, 249 Heuschele, Otto 188

344

2. Personen

Heusler, Andreas 107 Heydebrand, Renate von 8f. Heym, Georg 249 Heymel, Alfred Walter von 68, 122, 124-126, 201, 204, 288 Heyne, Christian Gottlob 136 Hildebrandt, Günther 127 Hildebrandt, Kurt 114 Hillard-Steinböhmer, Gustav 35, 69, 72, 103, 155, 206-208, 235, 244 Hille, Peter 250 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 191 Hoerschelmann, Rolf von 241, 249-251 Hoffmann, Daniel 16, 26 Hoffmann, E.T.A. 186 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 238, 258, 279f. Hofmann, Franck 286, 307 Hofmann, Susanne 17, 72, 265 Hofmannsthal, Christine von 132 Hofmannsthal, Hugo von 1, 3f., 9f., 15, 17-23, 25, 27, 34, 40, 43, 45, 48, 50, 52, 56, 63, 72-75, 82, 85-87, 94, 100, 102f., 104, 106, 120-122, 126f., 129-131, 133-143, 144, 157, 160, 167, 174, 182-184, 198, 202, 205f., 211, 231f., 238, 240, 248, 250, 252, 257, 264f., 279, 281f., 284, 286, 298, 302, 314 Hofmiller, Josef 16, 43, 106f., 109, 113, 123125, 138, 187, 263 Holbein, Hans 33 Hölderlin, Friedrich 3, 8, 10, 15, 50, 58, 60, 105, 110, 114, 131, 135, 138, 179, 200f., 207, 212, 219, 225, 229-231, 239f., 243245 Holl, Valentin 272 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 214, 219, 232 Homer 2, 6, 49f., 74-76, 86, 94, 196, 252, 283 Horaz 2, 85, 189, 234, 252, 284, 286, 288, 292 Horch, Hans O. 282 Horvath, Ödön von 92 Hübinger, Paul Egon 35 Huch, Ricarda 57, 79 Hügel, Carl Alexander Anselm von 191 Hugo, Victor 22 Humboldt, Alexander von 10, 86, 114, 130, 135, 149-156, 158, 160, 175, 177, 179f., 186, 188-190, 192 Humboldt, Wilhelm von 10, 44, 86, 112, 135, 149, 154f., 171, 174-176, 179, 186, 191f., 196f. Hummel, Hildegard 16f., 56

Huntemann, Willi 286 Hutten, Ulrich von 215, 232 Immermann, Karl 185f., 191 Ippen, Dirk 98 Jäger, Lorenz 103, 146 Janota, Johannes 8 Jauch, Pia 295 Jean Paul 10, 93, 104, 107, 114f., 136, 186, 195, 236, 242 Johann von Neumarkt 268, 270 Johann von Sachsen 175 Jost, Peter 258 Jünger, Georg Friedrich 136 Justi, Carl 175 Kafka, Franz 8 Kahlefeldt, Nils 207 Kaibel, Agnes 22f. Kaibel, Georg 22, 32 Kaiser, Gerhard K. 3, 8, 104, 137, 192, 194, 208, 243 Kant, Immanuel 149, 151, 153, 155f., 163, 179f. Kantorowicz, Ernst 71 Karl V. 268 Karlauf, Thomas 105, 110, 242, 245 Karsten, Dietrich Ludwig Gustav 149, 156 Kaschnitz, Marie Luise 133 Kassner, Rudolf 40, 284 Kauffmann, Kai 17, 19f., 24-26, 34, 37, 42, 46, 65f., 67, 69f., 73, 78f., 89, 139, 157, 168f., 282f. Kaulisch, Friedrich Wilhelm 236 Keats, John 6, 10, 94, 288f. Keller, Gottfried 78, 218, 233, 239 Keller, Harald 121, 130 Kemp, Friedhelm 23 Kemper, Dirk 79 Kerner, Justinus 238 Kessler, Harry Graf 122, 190, 202, 283 Kindermann, Heinz 73 Kinkel, Johann Gottfried 29 Kippenberg, Anton 25, 120f., 124-128, 142, 165-168, 201f., 288 Kippenberg, Katharina 206f. Kissler, Alexander 16, 35, 57f., 65, 67, 77, 81, 83f., 88f., 217 Klages, Ludwig 48, 135 Klein, Carl August 19 Kleist, Ewald von 208, 215, 226f., 229, 232 Kleist, Heinrich von 8, 29, 93, 124, 187, 191f., 208, 216f., 247f.

VI. Register Klopstock, Friedrich Gottlieb 93f., 104, 106, 213, 218-220, 244 Kluckhohn, Paul 73 Knaupp, Michael 207 Knorr von Rosenroth, Christian 212, 216, 225 Koch, Manfred 104 Kolk, Rainer 20 Kommerell, Max 243 König, Christoph 20, 75, 131, 265 Konrad Schenke von Landegg 216, 285 Korff, Hermann August 73 Körner, Theodor 238 Korrodi, Eduard 119, 228 Körte, Alfred 23, 31, 75, 169, 295 Korte, Hermann 8 Kraft, Werner 20, 62, 65f., 85, 90, 111, 159, 207, 233, 246-250 Kraus, Carl von 123, 264 Kraus, Karl 47, 228 Krell, Max 92 Kristan von Hamle 201, 204, 211, 220, 223, 247 Krummacher, Hans-Henrik 207 Kurtze, Ludwig 82f. Kyora, Sabine 26 Lachmann, Karl 150f., 155f., 158, 160, 169, 178, 201, 222 Lagarde, Paul de 41, 43, 175, 210 Lamer, Hans 116 Lamping, Dieter 276 Landmann, Edith 46, 82, 198, 204 Landmann, Julius 46, 82, 198, 204 Landmann, Michael 41, 82f. Landor, Walter Savage 28f., 119, 284f., 293, 295f., 310 Langbehn, August Julius 41f. Lange, Wolfgang 59 Lasso, Orlando di 259f. Lauster, Martina 63, 78 Lauth, Reinhard 71 Lechner, Leonard 274f., 279 Lechter, Melchior 104, 114 Lehnacker, Josef 121 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113, 155, 163, 179 Lenau, Nikolaus 213, 244 Lenz, J.M.R. 7, 234 Leo, Emilie 39, 147 Leo, Friedrich 22f., 75, 149-151, 155f., 158, 160f., 168-170, 175, 295 Leonhard, Rudolf 121 Loeb, James 300

345

Lessing, Gotthold Ephraim 33, 113, 135, 140, 146, 148, 155f., 160, 167, 179, 262 Lessing, Theodor 25 Leuschner, Pia-Elisabeth 67, 83, 282, 285 Leyen, Friedrich von der 25, 165-168, 202f., 209 Lichtenstein, Martin Heinrich Karl 191f. Lichtwark, Alfred 166, 297 Liliencron, Detlev von 238, 240, 249f. Liliencron, Rochus von 262, 264, 271, 278 Lingg, Hermann 238 Linkenbach, Hans Ludwig 179 Lisco, Eduard 32-34 Litzmann, Berthold 200 Livius 38, 189 Lobeck, Christian August 147, 149, 151f., 154, 158, 167, 178 Logau, Friedrich 233, 238 Logau, Heinrich Wilhelm 233 Lohner, Hans 80 Lönker, Fred 286 Luise von Preußen 148, 150, 161 Luther, Martin 94, 123, 166, 216, 238, 266f., 276f., 286 Maassen, Carl Georg von 123, 180 Macher, Heinrich 194 Mächler, Robert 199 Maillol, Aristide 283 Mann, Thomas 8, 47, 90, 119, 202 Manthey, Jürgen 66 Manzoni, Alessandro 292 Marées, Hans von 107 Maria Theresia 135 Martin, Henry 303 Martini, Fritz 207 Martius, Carl Friedrich Philipp 191f. Mathilde von Quedlinburg 113 Mattenklott, Gert 191 Matthisson, Friedrich von 98, 220, 252 Matz, Wolfgang 20 May, Karl 77 Mayer, Paul 120 Mayer, Tobias 174 Mayfart, Johann Matthäus 214, 216, 225, 253 Meinecke, Friedrich 73 Meißner, Alfred 188 Melanchthon, Philipp 150, 156-158, 160 Meleagros 98 Mell, Max 123, 249 Menninghaus, Winfried 207 Meredith, George 10, 85

346

2. Personen

Meyer, Conrad Ferdinand 104, 213, 239, 244f. Meyer, Richard Maria 18 Meyer-Dohm, Peter 90 Michels, Volker 133 Middell, Eike 133 Miegel, Agnes 47 Millay, Edna St. Vincent 11, 290-293 Miller, Norbert 77f., 304 Milton, John 62, 218, 291 Minde-Poulet, Georg 248 Mitterer, Erika 28, 62, 307f. Moeller van den Bruck, Arthur 73 Molière 38 Moltke, Helmuth Karl Bernhard Graf von 136, 148, 150f., 161, 175, 185, 191f. Mommsen, Theodor 79, 117, 148-151, 161, 175, 178, 195 Montinari, Mazzino 42 Mörike, Eduard 10, 77, 99, 107, 201, 212, 218, 220, 222, 240, 244 Moritz, Karl Philipp 116, 191 Morris, William 121 Moscherosch, Johann Michael 110 Moser, Hans Joachim 280 Mosse, George L. 65 Mühlberger, Josef 196 Müller, Adam 162 Müller, Günther 279 Müller, Johannes von 107, 136, 141 Müller, Karl Otfried 191f. Müller, Maler 186, 251 Müller, Otfried 79, 175 Müller, Wilhelm 238 Müller-Seidel, Walter 207 Musset, Alfred de 292 Myller, Adreas 260 Nadler, Josef 17, 78, 130, 139, 160, 195, 200, 235, 254f., 260, 263-265, 267, 272, 274, 278, 280 Naumann, Hans 263 Nauwach, Johann 260, 276 Neander, August 150, 155, 178 Neander, Joachim 216 Neander, Peter 260 Neidhard von Reuental 201 Neukirch, Benjamin 98 Neumann, Gerhard 25, 60, 71, 94f., 162, 207 Neumann, Markus 26, 40, 121, 124, 148, 218, 285, 287, 291, 295, 303 Neumann, Michael 79 Neuwirth, Karl 209 Nicolai, Philipp 213, 216

Nicloaus von Weyl 271f. Niebuhr, Barthold Georg 146, 148, 177 Niethammer, Friedrich Immanuel 108 Nietzsche, Friedrich 41-44, 46, 54, 73, 100f., 113f., 135, 152, 159, 175, 240, 250 Nissen, Heinrich 189, 191 Nohl, Herman 4, 73 Novalis 10, 17, 54f., 66, 69, 72, 74f., 86, 105, 108, 135, 138, 175, 190-192, 212, 239, 244, 285f. Oelmann, Ute 3, 20, 104-106, 243, 245f. Oels, David 131 Olbers, Heinrich Wilhelm 148f., 151, 153, 163, 167 Olschner, Leonard 207 Opitz, Martin 214, 247, 267, 276 Ossian 196 Osterkamp, Ernst 19f., 61, 87, 104f., 248 Oswald von Wolkenstein 267 Ott, Ulrich 24, 204, 287, 289, 297 Overbeck, Franz 159 Paefgen, Elisabeth K. 98, 237 Palgrave, Francis Turner 218f., 235 Pallas, Peter Simon 191, 197 Pannwitz, Rudolf 72f., 139, 249 Parini, Giuseppe 289, 291f., 294 Pascoli, Giovanni 10, 288 Passarge, Ludwig 186, 192 Pater, Walter 10, 40, 63f., 78, 86, 302, 314 Paul, Hermann 222 Percy, Thomas, 252 Perl, Walter H. 135 Petersen, Julius 57 Petrarca, Francesco 247, 259, 268-270, 277f., 281, 288, 290-292, 294, 313 Petzsch, Christoph 258, 272 Pfitzner, Hans 107 Pforte, Dietger 97f., 101, 114, 219 Phelan, Anthony 227, 242 Philaletes s. Johann von Sachsen Philipp II. 266 Philipp, Michael 115 Piccolomini, Enea Silvio 272 Pieger, Bruno 207 Pindar 10, 28, 38, 75, 84-86, 88, 119, 124, 209, 252, 282, 284f., 288f., 293 Pinellus, Johann Baptist 260, 275 Pinthus, Kurt 98, 103, 121 Piontek, Heinz 103f. Platel, Marguerite 279 Platen, August von 108, 201, 242, 244, 248

VI. Register Platon 86, 93, 282, 284f., 293 Poe, Edgar Allan 136 Poeppig, Eduard Friedrich 186, 191f. Poggio Bracciolini, Gian Francesco 271 Pohl, Gerhart 147, 149, 151, 163 Preen, Friedrich von 111 Preitz, Max 224 Prohl, Jürgen 20 Prokesch Osten, Graf von 185, 189 Przygode, Wolf 170 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 186 Raitz, Walter 97 Ramler, Karl Wilhelm 251 Rang, Bernhard 314 Rang, Florens Christian 314f. Rausch, Alfred 98, 236 Regnart, Jacob 259f., 270, 272, 274f., 279 Rehfues, Joseph von 186 Reifferscheidt, Friedrich M. 102, 251 Reinhardt, Karl 114 Reinhardt, Max 35, 50, 231 Renner, Ursula 133 Richter, Ludwig 186, 191 Riedel, Wolfgang 58 Rilke, Rainer Maria 8, 62f., 99, 202, 249 Ringer, Fritz K. 41 Rinser, Luise 102 Risp, Alfred 266 Rist, Johann 216, 225 Ritter, Carl 10, 136, 149f., 156, 171, 186, 189192 Ritter, Karl 191f. Rizzi, Silvio 9 Rohde, Erwin 135 Rölleke, Heinz 224, 252 Roncioni, Conte Girolamo 290, 293 Ronsard, Pierre de 288 Roon, Albrecht Theodor Emil 191f. Rosenberg, Rainer 7 Rosenkranz, Karl 149-151, 154f., 158 Ross, Ludwig 186 Rossetti, Dante Gabriel 9f., 40, 85f., 88, 94, 209, 281, 288f., 291, 293f. Rost, Nicolaus 260, 275 Rousseau, Jean-Jacques 190, 294f., 301 Rowohlt, Ernst 90, 119-121, 170, 204, 298, 303 Rückert, Friedrich 10, 86, 108, 200, 210, 213, 232, 251 Ruer, Margarethe 14, 23f., 62, 82f., 307 Ruer, Walter 24 Rühling, Lutz 286

347

Runge, Philipp Otto 136, 141, 186 Rychner, Max 24, 35, 229, 231, 299, 311 Salin, Edgar 245 Salis-Seewis, Johann Gaudenz von 220 Salmen, Walter 272 Saltzwedel, Johannes 3f., 34, 47, 68f., 208f., 222f., 233, 252 Samuel, Richard 54 Sangmeister, Dirk 26 Santoli, Vittorio 145, 200 Sappho 11, 77, 288, 290-293 Sassenhausen, Ruth 276 Sauer, August 226 Savigny, Friedrich Karl von 163 Schaaf, O. 234 Schaeder, Hans Heinrich 119, 141 Schäfer, Hugo 11, 119f., 127f., 290-293, 299 Schaukal, Richard von 240, 250 Scheffel, Michael 276 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 149, 154f., 163, 179, 197, 232, 253 Scherer, Wilhelm 158, 238, 280 Schiller, Friedrich 8, 57f., 87, 93, 107f., 131, 135f., 150, 154f., 158, 165, 179, 198, 212, 214, 219, 239f., 244f., 247, 262, 295 Schinkel, Kral Friedrich 136, 191 Schirmer, Andreas 42 Schlaffer, Heinz 46, 73, 287 Schlegel, August Wilhelm 10, 75, 80, 94, 108 Schlegel, Caroline 139 Schlegel, Friedrich 10, 41f., 54, 58, 70f., 75, 77, 108, 171, 177, 215, 252 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 66f., 79, 151, 155 Schlosser, Friedrich Christoph 145f., 148, 160f., 169, 178 Schlosser, Julius von 80 Schmalenbach, Hermann 179 Schmidt, Erich 248 Schmidt, Ernst A. 6, 10, 16-18, 25, 56, 67, 93, 282, 294 Schmidt, G. Bärbel 133 Schmidt, Jochen 225, 229f. Schmidt, Rüdiger 42 Schmitt, Saladin 202 Schneider, Reinhold 223 Schnitzler, Arthur 47 Schnitzler, Norbert 59 Schöffer, Peter 260 Schöffler, Herbert 217 Schöne, Albrecht 217 Schönert, Jörg 98

348

2. Personen

Schönwitz, Ute 253 Schopenhauer, Arthur 152 Schröder, Edward 234 Schröder, Rudolf Alexander 1-3, 6, 9-11, 16, 25, 40, 43, 45, 50, 66, 70, 90, 94f., 119122, 124, 129, 131f., 143, 149, 201f., 206, 210, 212f., 216, 223, 236, 238, 241, 248250, 257-259, 265, 282-284, 288, 290, 292, 295, 297-300, 303 Schubert, Franz 252 Schuler, Alfred 135 Schuller, Wolfgang 29, 69, 71 Schulte, Christoph 16 Schultz, Hartwig 226 Schulz, Herr 31 Schumann, Robert 252 Schuster, Gerhard 9, 11, 22, 25, 27, 39, 44, 89, 124, 200f., 222, 265 Schuster, Jörg 202 Schütz, Erhard 97 Schwab, Gustav 238 Schwartz, Eduard 264 Schwindt, Nicole 272 Sealsfield, Charles 133, 186 Seebass, Friedrich 123, 179 Seetzen, Ulrich Jasper 192 Seibt, Gustav 71 Seidel, Heinrich 238 Sembder, Helmut, 247 Shakespeare, William 2, 49, 62, 74, 83, 94, 218, 289, 291 Shelley, Percy Bysshe 6, 10, 102, 289, 291 Siebold, Philipp Franz 191 Sieburg, Friedrich 105 Simonides 288 Simons, Anna 123, 130 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 139 Sommer, Inge 79 Sontheimer, Kurt 73 Sophokles 50 Sordello 285 Spedicato, Eugenio 79 Spengler, Oswald 73 Speratus, Paulus 278 Spervogel 201, 210, 216, 223, 247 Spitteler, Carl 240, 250 Spoerri, Theophil 261-263 Spranger, Eduard 179 Stark, Roland 21, 26, 57 Steffens, Heinrich 144, 149f., 154, 168, 186 Steig, Reinhold 224, 248 Steiger, Meike 13, 39, 143 Stein, Karl Freiherr von 175

Steinböhmer, Gustav s. Hillard Steiner, Herbert 6, 21, 53, 59, 61, 227, 289, 291f. Stenzel, Jürgen 226 Sterne, Laurence 187 Steub, Ludwig 187, 189, 191 Stifter, Adalbert 107, 114, 191f. Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 50, 192, 219 Storm, Theodor 100, 105, 238 Stramm, August 249 Strauß, Botho 72, 287 Strauß, Emil 10 Strauß, Ludwig 207 Streim, Gregor 72 Strich, Fritz 165-168 Sulzer, Johann Georg 189, 191 Suphan, Bernhard 17, 55, 58, 180 Swinburne, Algernon Charles 9, 40, 94, 282, 284, 288f., 291, 293-295 Tacitus 9, 124, 168, 284, 293 Tasso, Torquato 259 Tauler, Johannes 233 Tgahrt, Reinhard 14, 35 Theoderich 113 Theokrit 189 Theophrast 189 Thierry, Augustin 79 Thoma, Hans 107 Thümmel, Moritz August von 187 Tibull 284, 291f., 295 Tieck, Ludwig 58, 75, 114, 186, 191f., 215, 220, 232 Tiedge, Christoph August 213, 220 Tittmann, Julius 279 Trakl, Georg 249 Treitschke, Heinrich von 41f., 107, 148, 161 Treviranus, Ludolph Christian 175 Tscharner, Johann Friedrich von 186 Turini, Gregor 274 Uhland, Ludwig 86, 99, 105, 213, 216, 220, 222, 233, 240, 248, 253, 264 Uhlig, Christian 90 Ulrich von Würtemberg 201 Usener, Hermann 75, 170, 175 Uz, Johann Peter 226 Vallentin, Berthold 112, 114 Velten, Rudolf 259, 268-270, 279 Veltheim s. Kurtze, Ludwig Vento, Ivo de 260

VI. Register Vergil 2, 146, 189, 252, 284 Verlaine, Paul 288 Vesper, Will 100, 236, 239f., 245-247, 250f. Vidal, Peire 216 Vietta, Silvio 79 Vigny, Alfred de 292 Vincenti, Leonello 293 Vogel, Jakob 215 Vogt, Friedrich 201 Voigt, Robert 199 Volke, Werner 14, 121, 131, 133f., 207 Vollmöller, Karl Gustav 249 Voltaire 35, 289-292, 294f. Vordtriede, Werner 87, 313 Voß, Johann Heinrich 86 Vossler, Karl 119, 123, 136, 139, 254, 258, 261, 263, 265, 292 Wackernagel, Wilhelm 265 Wagenknecht, Christian 207, 212, 229 Wagner, Fred 3, 216, 285 Wagner, Richard 107 Wais, Roderich 100f., 104 Wallraff, Günter 102 Walser, Robert 7 Walther von der Vogelweide 135, 156, 200f., 216, 218, 222f., 225, 232, 238, 247 Warburg, Aby 79 Warsberg, Alexander Freiherr von 186, 189, 191 Wassermann, Jakob 119 Weber, Carl Maria von 107 Weber, Max 139 Wedekind, Frank 47 Wegele, Franz X. 176 Weinberger, Karl 153 Weinreich, Otto 291 Welcker, Friedrich Gottlieb 185f., 188f., 191f. Werfel, Franz 90 Werner, Abraham Gottlob 171 Wernher der Gartenaere 201, 203 Westerwelle, Karin 264 Whitman, Walt 47 Wiegand, Willy 1, 3, 119-124, 127f., 130-133, 135f., 141, 144-149, 158f., 163, 170-188,

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193, 204-206, 221, 223f., 226, 255-258, 261f., 264, 287-289, 299 Wieland, Christoph Martin 1, 50, 62, 93, 114, 136, 153, 167, 232, 286 Wierzejewski, Joachim 61, 74 Wiest, Ulrich 271 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 22, 47, 49f., 78, 158 Wildenbruch, Ernst von 238 Willemer, Marianne von 213, 220, 234, 245 Wilpert, Gero von 119 Winckelmann, Johann Joachim 79, 114, 135, 148f., 153f., 156, 161, 186, 188 Winsloe, Christa 295 Witte, Friedrich 14, 31 Wittmann, Reinhard 122 Wolde, Ludwig 121f., 124, 127f., 130 Wolf, Friedrich August 171 Wolf, Hugo 252 Wolfram von Eschenbach 33, 156, 201, 223, 313 Wolfskehl, Karl 3, 18, 20, 49, 99, 104-106, 131, 186, 200-203, 236, 240-247, 314 Wolters, Erika 118 Wolters, Friedrich 40, 48, 104, 106, 109-118, 138, 160, 187, 203f., 245 Woltmann, Karl Ludwig von 136 Wordsworth, William 218 Würmann, Carsten 207 Yasukawa, Haruki 4, 152, 297 Zangius, Nicolaus 274 Zehm, Edith 25 Zeitler, Dora 57 Zeitler, Julius 21, 24-26, 35-37, 40, 284, 293 Zeller, Bernhard 121 Zelter, Carl Friedrich 139 Zeuss, Johann Caspar 176 Zinkernagel, Franz 229f. Zinkgref, Julius Wilhelm 267 Zinn, Ernst 297 Zur Linde, Otto 249 Zweig, Arnold 105 Zwick, Jochen 147, 166