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German Pages 930 Year 2019
Jens Lüdtke Romanistische Linguistik
Jens Lüdtke
Romanistische Linguistik Sprechen im Allgemeinen – Einzelsprache – Diskurs Ein Handbuch
ISBN 978-3-11-047484-8 e-ISBN [PDF] 978-3-11-047665-1 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-047489-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Ludtke, Jens, author. Title: Romanistische Linguistik : Sprechen im Allgemeinen, Einzelsprache, Diskurs : ein Handbuch / Jens Ludtke. Description: Boston : De Gruyter, 2018. | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018026145 (print) | LCCN 2018029552 (ebook) | ISBN 9783110476651 (electronic Portable Document Format (pdf) | ISBN 9783110474848 (hardback) | ISBN 9783110476651 (e-book pdf) | ISBN 9783110474893 (e-book epub) Subjects: LCSH: Romance languages. | Linguistics. | BISAC: LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Linguistics / General. | LANGUAGE ARTS & DISCIPLINES / Linguistics / Historical & Comparative. Classification: LCC PC43 (ebook) | LCC PC43 .L83 2018 (print) | DDC 440--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018026145 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: © Jens Lüdtke Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Satz: Dörlemann Satz, Lemförde www.degruyter.com
Vorwort Jedes neue Werk über ein nunmehr schon altes Fach wie die romanische Sprachwissenschaft bedarf einer Begründung. Erstens sollen die Studierenden bis zu ihrem Abschluss begleitet werden. Zweitens wird durch eine umfassende Darstellung der romanischen Sprachen ein breiter Zugang zur romanistischen Linguistik gegeben. Und drittens drückt sich im Untertitel ein integrales Verständnis von der Sprache und vom Fach aus. Dabei haben mich die drei im Untertitel angegebenen Gesichtspunkte geleitet. Beginnen wir als Erstes mit der Idee einer Orientierungshilfe für alle diejenigen, die sich während des Studiums von einer oder zwei romanischen Sprachen hin zu einer breiten Einarbeitung ins Fach entwickeln wollen. Elementares Wissen will ich zwar selbstverständlich auch geben, aber außerdem deutlich darüber hinaus gehen. Wer sich auf die Konzeption dieses Handbuchs einlässt, wird sowohl in eine romanische Einzelsprachwissenschaft als auch in die romanische Sprachwissenschaft insgesamt eingeführt und bis zum Studienabschluss begleitet. Das gilt insbesondere, wenn jemand mehrere romanische Sprachen studiert. Was als Einführung in das Studium dient, soll zugleich seinen Platz im Ganzen finden. Ich empfehle daher, als Orientierungsmodul in einem Bachelor-Studiengang zur Einführung in das Studium einer romanischen Einzelsprache die folgenden Kapitel zu verwenden: „Die Ebenen der Sprache“ (1.1), „Die Laute“ (1.3.1), von „Die Einzelsprache“ (2.) die Kapitel bis 2.2.2 sowie vom zweiten Teil das Kapitel zum Lateinischen als historischer Sprache (4.1), fakultativ in Verbindung mit dem Übergang des Lateinischen zu den romanischen Sprachen in Italien, Iberien, Gallien oder Dakien (4.3). Als Aufbaumodul Sprachgeschichte dient das Kapitel 4.5 über das Vulgärlatein, das als lateinische Gemeinsprache zu betrachten ist, und ergänzend dazu die Geschichte der jeweiligen romanischen Sprache in einem Unterkapitel von 5. Alle anderen Kapitel eignen sich zur Verwendung in einem Vertiefungsmodul Sprachwissenschaft. Ich habe versucht, in meiner Darstellung diesem Unterschied dadurch Rechnung zu tragen, dass ich mich mit meiner Ausdrucksweise in den einführenden Teilen an Erstsemester wende. Diese Teile sind weitaus stärker in der Lehre erprobt worden als die anderen. Im Master-Studiengang sollen die Themen der synchronischen und diachronischen Linguistik insgesamt der Komplexität der Materie in ihrer Gesamtheit und durch Querverweise Rechnung tragen. Von den behandelten Themen her werden ebenfalls Kenntnisse in den sprachwissenschaftlichen Disziplinen vermittelt. Der II. Teil gibt einen Überblick über die historische Entwicklung zu den romanischen Sprachen als Standardsprachen. Der Umfang dieses Teils ist durch seine hohe Relevanz für die Gegenwartssprache motiviert. Nicht zur Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft oder einer romanischen Einzelsprache, sondern zur Orientierung in der romanistischen Linguistik für einen MasterStudiengang und darüber hinaus gehören die bibliographischen Kommentare und die sonstigen durch eine geringere Schriftgröße abgesetzten Bemerkungen. Darin wird ein https://doi.org/10.1515/9783110476651-201
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besonderer Wert auf diejenige Fachliteratur gelegt, in der sich einerseits die Probleme grundlegend stellen und andererseits aus aktueller Sicht behandelt werden. Selbstverständlich kann dieses Handbuch nach der Lektüre einer der einzelsprachlichen Einführungen verwendet werden, die ich im bibliographischen Kommentar zu 2.1.2 anführe. In diesem Fall schlage ich eine studienbegleitende Lektüre vor, die zum Ziel hätte, sich eine Gesamtvorstellung von der romanistischen Linguistik zu erarbeiten. In diesem Sinne habe ich vor, ein Handbuch vorzulegen, das einen systematischen Grundriss der Teildisziplinen vorschlägt. Es sollen aber auch fachliche Entwicklungen aufgezeigt werden, selbst wenn sie hier keinen für mich kohärent begründbaren Ort finden, weil sie entweder nicht mit dieser Konzeption kompatibel sind oder, was ich eher glaube, ein rationaler Dialog ausgeblieben ist, der zu einer kritischen Würdigung der widerstreitenden Positionen hätte führen können. Ein solcher Dialog müsste aber stattfinden, wenn man, darauf aufbauend, ein kohärent konzipiertes Handbuch schreiben wollte, denn die linguistische Einzelforschung kennt keine eigentliche Kohärenz und niemand überblickt alle Forschungsergebnisse. Und ich halte es für eine Legende, dass es ein umfassendes, von einem einzigen Autor verfasstes Handbuch jemals gegeben hat. Weiter unten nenne ich eine Reihe von vorzüglichen Grundlagenwerken, darunter auch nicht romanistische. Keines davon enthält alles, was zu einem linguistischen Fach gehört. Das ist aber nicht der Sinn und Zweck eines solchen Werks. Meine Bemerkungen stellen daher keine negative Kritik an irgendeinem Standardwerk dar, sie sollen eher die Erwartungen auf das Machbare reduzieren. Jeder sollte zunächst an seinen selbstgestellten Aufgaben gemessen werden. Und so möchte auch ich nicht mit Erwartungen gelesen werden, die ich nicht einlösen will, nämlich als würde ich über alles als Spezialist schreiben. Das will ich nicht, das ist nicht möglich und das ist nicht die Aufgabe dieses Werks. Daher schreibe ich auch nicht als Spezialist über die Themen, mit denen ich mich näher beschäftigt habe. Dieses Handbuch wendet sich ferner an diejenigen, die von anderen Fächern kommen und sich allgemein über die romanischen Sprachen informieren wollen. In der Darstellung des Sprechens im Allgemeinen und des Diskurses wird es die meisten Gemeinsamkeiten mit anderen sprachlichen Fächern geben wie etwa mit der germanistischen und anglistischen Linguistik. Es gibt inzwischen sogar Richtungen in der Lehre und Forschung der Einzelsprachwissenschaften, die vom Sprechen im Allgemeinen ausgehen (auch wenn das nicht mit diesem Terminus ausgedrückt wird) und nicht von einer Einzelsprache mit den ihr eigenen Unterscheidungen, die sich aber dennoch als Einzelsprachwissenschaft verstehen. Doch auch bei einer allgemein-sprachlichen Betrachtung werden infolge der unterschiedlichen Traditionen der Fächer nicht dieselben Schwerpunkte gesetzt. Die größten Unterschiede bestehen jedoch naturgemäß in der Darstellung der Einzelsprachen. Zweitens, sagte ich, solle ein breiter Zugang zu den romanischen Sprachen gegeben werden. Dies drückt sich im umfangreichen 2. Kapitel über die Einzelsprache als sprachliche Ebene aus, in dem das Französische, das Italienische, das Kata-
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lanische, das Portugiesische, das Rumänische und das Spanische aus deskriptiver Gegenwartsperspektive behandelt werden. Die Beschränkung auf die genannten Sprachen ergibt sich daraus, dass sie weiter verbreitet sind als andere und häufiger studiert werden. Im 4. und 5. Kapitel wechselt die Perspektive zur Geschichte. Diese Teile nehmen etwa die Hälfte des Werks ein. Das mag vielleicht überraschen, ist aber durch die Relevanz der Geschichte für die Sprachen in der Gegenwart motiviert. Vom Lateinischen ausgehend werden in sprachgeschichtlichen Skizzen Wege der Entwicklung hin zu den heutigen romanischen Sprachen aufgezeigt. Dort werden die Kriterien begründet, nach denen man eine Sprache als romanische Sprache betrachten kann. Diese führen dazu, dass ich weit mehr Sprachen in ihrer Geschichte darstelle als die sechs, deren Beschreibung behandelt wird. Am wichtigsten ist mir jedoch der dritte Gesichtspunkt, der bis in die Gesamtstruktur hinein zum Ausdruck kommt. Will man trotz der kurzen Studienzeiten über das Elementare hinaus in seine Disziplin einführen, muss man sich etwas einfallen lassen. Als einführendes und studienbegleitendes Handbuch unterscheidet sich dieses Werk von anderen dadurch, dass ein umfassender Begriff von Sprache zugrunde gelegt wird, wie er sich im Untertitel Sprechen im Allgemeinen – Einzelsprache – Diskurs zeigt. Ein solch weiter Begriff von Sprache wird in der Regel mit ähnlichen Termini anerkannt, es gibt aber nach meiner Kenntnis kein Werk, das bis in die Einzelheiten vorführt, wie ein weiter Begriff von Sprache und die linguistische Praxis zusammenhängen. Im Ansatz sehe ich mich aber mit Trabant (2009) einig. Mir scheint ferner, dass die Verbindung der drei genannten sprachlichen Ebenen, die von Wilhelm von Humboldt, Georg von der Gabelentz, Ferdinand de Saussure, Eugenio Coseriu und anderen unterschieden wurden, mit den Universalien ‒ das sind diejenigen Charakterisierungen von Sprache, die zum Begriff der Sprache wesentlich dazugehören, ‒ einen elementaren Zugang zur Sprachwissenschaft ermöglicht und zugleich kohärente Erweiterungen zulässt. Wenn ich mich nicht völlig täusche, gibt es ein solches Werk nicht einmal in einer annähernd ähnlichen Gestalt auf dem Markt. Die größten Gemeinsamkeiten hat das vorliegende Handbuch gleichwohl mit dem inzwischen altehrwürdigen Werk Die Sprachwissenschaft (11891, 21901, Nachdruck 1969) von Georg von der Gabelentz. Jedoch zeigt bereits ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis, dass die Konzeption völlig verschieden ist. Auf „Allgemeiner Teil“ folgen dort die Kapitel „Die einzelsprachliche Forschung“ und „Die genealogisch-historische Sprachforschung“, die bei mir der Einzelsprache mit der Unterteilung in Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte entsprechen. „Die Allgemeine Sprachwissenschaft“ behandelt den Bereich, der hier aus völlig anderer Perspektive unter „Sprechen im Allgemeinen“ betrachtet wird. In der Tat habe ich meine Konzeption zwar in Kenntnis des Werks von Georg von der Gabelentz, aber dennoch unabhängig davon in Auseinandersetzung mit der allgemeinen, der romanischen, der englischen und der deutschen Sprachwissenschaft entwickelt. Im Sinne eines umfassenden Begriffs von Sprache könnte das Handbuch die folgende einfache Grundstruktur haben: 1. das Sprechen im Allgemeinen, 2. die Ein-
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zelsprache, die in ihrer Beschreibung und in ihrer Geschichte zu betrachten ist, und 3. der Diskurs. Da aber die Einzelsprachen in ihrer Geschichte mit völlig anderen Quellen, die philologisch getreu ediert und interpretiert werden müssen, sowie mit anderen Methoden untersucht werden, kann die geschichtliche Betrachtung nicht im Anschluss an die Sprachbeschreibung behandelt werden. Die drei sprachlichen Ebenen und ihre Beschreibung müssen erst einmal eingeführt werden. Dies geschieht im I. Teil. Der II. Teil ist der Geschichte gewidmet. Mein Plädoyer für diese Zweiteilung ist in 2.1.3 nachzulesen. Es lässt sich bei dieser Art der Darstellung nicht vermeiden, dass dieselben Themen an verschiedenen Stellen behandelt werden. Wer dem thematischen Zusammenhang nachgehen will, braucht nur den Querverweisen zu folgen. Aus diesen Gesichtspunkten heraus wird nun der Versuch einer systematischen Orientierung unternommen. Ein solcher Versuch ist angesichts einer sich rasant weiter ausdifferenzierenden Sprachwissenschaft, die sich an den Universitäten in thematisch immer engeren und dadurch zu Desorientierung führenden Studiengängen widerspiegelt, eine Notwendigkeit. Denn die Lehre führt geradewegs zur Spezialisierung, zu einer geringeren im Grundstudium, zu einer sehr engen Spezialisierung in den Abschlussarbeiten. In den Prüfungen ist hingegen wieder mehr Überblick gefragt. Darauf sind die Kandidatinnen und Kandidaten jedoch oft nicht vorbereitet. Nach meiner Erfahrung kommen sie in die Besprechung ihrer Prüfungsthemen oft mit heterogenen Literaturlisten, aus denen kein sinnvolles Prüfungsgespräch aufzubauen ist. Bei einem Studienabschluss muss aber gerade gezeigt werden, dass man mit seinem Fachwissen konstruktiv umzugehen weiß. Daher lautet die Frage, die mich bei der Aufnahme der einzelnen Themen geleitet hat: Ist das Thema hinreichend grundlegend, um in eine sprachwissenschaftliche Orientierung aufgenommen zu werden? Zugleich gilt aber auch für die Gesamtkonzeption: Ist die Darstellung – trotz meiner Präferenzen für bestimmte Themen – für eine Orientierung hinreichend vollständig? Was hinreichend und vollständig beinhaltet, hängt jedoch letztlich ganz praktisch genommen von der für das Studium zur Verfügung stehenden Zeit ab. Im Übrigen schreitet die Fragmentierung und Vereinzelung der romanistischen Fächer in den Ausschreibungen der Professuren und den Sektionen von Kongressen sowie Fachtagungen fort. Daher soll dieses Handbuch denen einen Weg aufzeigen, die sich der Gefahr für das Gesamtfach bewusst sind und sich nicht damit abfinden wollen. Es gibt sehr verschiedene Einschätzungen dazu, wie man den Weg zur Sprachwissenschaft am besten ebnet. Man kann so weit gehen, dass man alle schwerer darzustellenden Bereiche ausklammert. Diesen Weg will ich zwar nicht gehen. Jedoch versuche ich, meinen Text in der Weise zu gestalten, dass ich grundlegende Bereiche von den komplexen unterscheide. Ein jedem Thema angemessenes Verständnis kann zwar nur zustande kommen, wenn man aus dem Text hinausgeht und den Literaturhinweisen folgt. Ich bin aber zuversichtlich, dass ein gewisser Grad an Komplexität auch ohne extensives Lesen erfassbar ist, da es so etwas wie die gegenseitige Erhellung eines systematischen Zusammenhangs gibt, wie ich es mir vom Lesen dieses
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Werks erhoffe. Ich habe bei mir selbst und bei anderen erlebt, dass eine anfängliche Verständnisblockade nach dem Aufbau von größeren Zusammenhängen aufgehoben wurde. Die Knappheit der Darstellung vieler Themen ist also beabsichtigt, weil sie unumgänglich ist, denn das Erwerben von Grundlagen sollte in einer begrenzten Zeit möglich sein. Jedes Thema erlaubt weitere Entfaltungen und Entwicklungen. Eine systematische Orientierung erschließt sich gerade nicht, wenn jedes Thema erschöpfend behandelt wird. Ich bemühe mich also, die einfache Grundstruktur dieses Werks nicht zu „überfrachten“. Denn die zunehmende Ausdifferenzierung der Fächer sowie im Gegensatz dazu die vielgerichtete Interdisziplinarität machen Studium und Forschung unübersichtlich. Es ist daher notwendig, das Ganze der Sprache in den Blick zu nehmen und sich wieder und wieder zu fragen, in welcher Beziehung der jeweils in Studium und Forschung behandelte Inhalt zur Gesamtheit des Fachs steht. Das vorliegende Werk will dazu einen Weg vorschlagen aus einer Haltung heraus, die der totalen Spezialisierung entgegengesetzt ist. Andernfalls würden wir diese anfängliche Übersichtlichkeit, die wir für eine Orientierung in der Sprachwissenschaft brauchen, unwiederbringlich verlieren. Für den Fall einer thematischen Erweiterung gilt eine integrative Konzeption: Wenn man sein Verständnis vom Fach ausbauen will, kann man jedes beliebige Thema und jede sprachwissenschaftliche Konzeption über das integrale Verständnis des Fachs kritisch integrieren. Ich bin mir bewusst, dass Sprachwissenschaft eher selten aus einer globalen Perspektive heraus betrieben wird. Ich möchte aber darauf bestehen, einen möglichen Zugang zum Ganzen zu geben. Insofern ist mein Unternehmen antizyklisch. Gleichzeitig halte ich es für unmöglich, alle Zugänge zu einem Gegenstand miteinander zu „versöhnen“. Im Gegenteil, je mehr Themen man behandelt, desto schwieriger wird es, sie in einen systematischen Zusammenhang einzugliedern. Die sprachwissenschaftliche Entwicklung ist so ungleichmäßig in den Teildisziplinen verlaufen, dass die theoretischen Konzepte kaum ineinandergreifen. Schon wenn man sich um eine sprecher eigene Perspektive bemüht – die einzige, die aus meiner Sicht einen umfassenden und kohärenten Zusammenhang zu eröffnen erlaubt –, schließt man die zahlreichen wissenschaftlichen Ansätze aus, die anders vorgehen, z. B. diejenigen, die eine Hypothesenbildung nach naturwissenschaftlichen Vorbild zugrunde legen. In der Politik ist viel von Nachhaltigkeit die Rede. Wer aber eine Nachricht hat, will sie sogleich verbreiten und kommentieren, bevor sie richtig geprüft, verstanden und eingeordnet ist. Analoges finden wir in unserer Wissenschaft wieder, wenn alles „auf dem letzten Stand“ sein soll, bevor die innovativen Ideen, die diesem letzten Stand vorausgehen, durchdacht und in ihren Zusammenhängen angewendet wurden. An dieser Arbeit müssen viele Fachleute mitwirken und sie braucht ihre Zeit, welche die Zeit ist, die das konstruktive Durchdenken braucht. Das Gebiet der Sprache wie der Sprachwissenschaft ist so weit, dass jedenfalls ich noch nie verstanden habe, wie man einer neuen Idee zu einem Problem der Sprache oder der Sprachwissenschaft anhängen kann, wenn man sie nicht gründlich und in ihren Folgen für weitere
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Bereiche der Sprache oder der Sprachwissenschaft erkannt hat. So betrachtet, wird sich in diesem Werk eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zeigen, eine Idee von Ernst Bloch (1935), die über ihre zeitgeschichtliche Bedeutung hinaus das Denken überhaupt betrifft: Altes und Neues stehen auch in den Wissenschaften nebeneinander. Das erinnert an den Witz, in dem ein preußischer König seinen Barbier leutselig gefragt habe: „Was gibt es Neues?“ und er zur Antwort bekommen habe: „Kennen Majestät denn schon das Alte?“ (Es macht nichts, dass diese Anekdote über viele andere Persönlichkeiten in ähnlicher Weise erzählt wird.) Meine weiteren Vorüberlegungen dienen hauptsächlich der Klärung der erwähnten sprechereigenen Perspektive. Dazu gehören das Vorwissen und die Fachausdrücke. Ich versuche, einen Weg zu gehen, für den es Vorbilder in der gesamten Geschichte des Sprachdenkens seit Platon gibt (1.0). Mein Weg besteht darin, von den allgemeinsten Fragestellungen auszugehen, wie sie über dieses Vorwissen der Sprecher zugänglich sind, um schrittweise zu den spezifischeren überzugehen. Die allgemeinsten Fragestellungen werden durch die Überschriften der Kapitel und Abschnitte markiert. Wer einzelne Wege weitergehen will, bekommt einige Hinweise in Gestalt von Kurzbeschreibungen mit gelegentlichen Literaturangaben. Letztere enthalten eine oft recht persönliche Auswahl, wie dies bei der unübersehbar umfangreichen Literatur nicht anders sein kann. Sie sollen dazu anregen, sich auf den Weg zu machen. Die Frage, die mich bei der Auswahl der Literatur geleitet hat, war, ob die empfohlene Schrift für das Verständnis des Themas weiterhilft. Ich erhebe dagegen nicht den Anspruch, in meiner Auswahl repräsentativ für den Gang der romanischen Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten zu sein. Das ist allein schon deshalb nicht möglich, weil die romanistische Forschung nicht immer die Sprecherperspektive zugrunde legt. Die Bibliographie enthält nicht nur Schriften, die ich ausgewertet habe, sondern auch solche, die andere thematische Aspekte beleuchten, im Gegensatz zu den in dieser Einführung vertretenen Auffassungen stehen oder über sie hinausgehen. Besonders wichtig ist es mir, diejenigen Werke aufzuführen, die die Entwicklung der romanischen Sprachwissenschaft entscheidend geprägt haben. Es fördert das Verständnis für die innere Entwicklung des Fachs, wenn Schriften in zeitlicher Reihenfolge und mit Rücksicht auf die Zeit ihrer Abfassung und Erstveröffentlichung verwendet werden. Werke, die der Entwicklung des Fachs die Richtung gewiesen haben, werden in der Fachwelt in den Jahren nach der Veröffentlichung diskutiert; es gibt Nachfolgeveröffentlichungen desselben Autors oder anderer Autoren, die Forschungsansätze aufgreifen und weiterentwickeln. Wenn solche Schriften zu späterer Zeit unverändert nachgedruckt oder in überarbeiteter Form neu veröffentlicht werden, müssen sie aus ihrer Entstehungszeit heraus verstanden werden. Das ist auch eine Form der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Deshalb gebe ich zusätzlich zum Jahr der Veröffentlichung des verwendeten Werks das Jahr der Erstveröffentlichung an, wenn diese Information aussagekräftig ist. Ein Beispiel dafür sind die Éléments de linguistique générale von André Martinet, die ich immer noch für eine sehr lesenswerte Einführung in das Französische aus dem Blickwinkel der allgemeinen Sprachwissenschaft halte. Zwar
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ist die letzte überarbeitete Ausgabe 2001 erschienen, das Werk wurde aber zuerst 1960 veröffentlicht und ist seitdem durch einzelne Abschnitte erweitert, in der Substanz aber kaum verändert worden. Überhaupt sollte man zwischen einem unveränderten Nachdruck und einer verbesserten und erweiterten Ausgabe unterscheiden. Ich sehe allerdings davon ab, Nachdrucke genau zu recherchieren, wenn sie für die Rezeption eines Werks nicht sehr aufschlussreich sind. Auf jeden Fall schadet eine Orientierung am Veröffentlichungsjahr und die Berücksichtigung nur der letzten fünf oder gar drei Jahre, wie sie in den Naturwissenschaften üblich ist, einem romanistischen Fachverständnis in fundamentaler Weise. Ein solides Verständnis des Fachs und der Forschung ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Ich werde mich deshalb auf richtungweisende Schriften unabhängig davon beziehen, ob sie in den letzten Jahren oder in früheren Jahrhunderten veröffentlicht worden sind: Es ist ein guter Grundsatz, die Fragestellungen von ihren Anfängen her anzugehen, und das wird hier in den Grenzen der Möglichkeiten einer grundlegenden Behandlung versucht. In den sprachgeschichtlichen Skizzen des II. Teils (5.) verweise ich im Text auf Quellen, die nicht in der Bibliographie erscheinen. Es handelt sich dabei um Werke, die entweder leicht zugänglich sind, weshalb mir ein Nachweis entbehrlich erscheint, oder aber um rare Schriften, die schwer zugänglich sind. Durch ihre Nennung sollen einfach nur die Aussagen im Text gestützt werden. Die Sprecherperspektive drückt sich ebenfalls in meinem Umgang mit den Fachtermini aus. Ich gehe bei den einzelnen Fragestellungen immer von der Sprache selbst aus, von der die Sprecher ein Vorwissen haben, nicht von einer bestimmten sprachwissenschaftlichen Fragestellung. In diesem Sinne habe ich mich an den Grundsatz gehalten, dass die Fachausdrücke alle ausgehend vom deutschen Sprachgebrauch erklärt werden, damit der Text terminologisch aus sich heraus verständlich ist. Die Erlernung der Fachsprache der Sprachwissenschaft wird anfangs als Aufgabe regelmäßig unterschätzt. Unsere Sprache ist uns viel zu vertraut, als dass uns die Notwendigkeit einer eigenen Fachsprache unmittelbar einsichtig ist. Mehr noch aber wird ein Zugang zur Sprachwissenschaft dadurch erschwert, dass die Sprache einerseits dazu dient, über die „Welt“ und alle Bereiche des Wissens, andererseits über die Sprache selbst zu sprechen. In keiner anderen Wissenschaft außer denen, die sich mit Sprache beschäftigen, ist etwas Gegenstand einer Wissenschaft und zugleich Grundlage für die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft. In Wissenschaften wie den Naturwissenschaften, der Jurisprudenz, der Theologie, den Wirtschaftswissenschaften, der Geschichtswissenschaft und den anderen Wissenschaften ist dagegen die Sprache Bedingung der Möglichkeit, solche Wissenschaften zu betreiben, denn sie setzen die Sprache immer schon voraus. Weil sowohl die Sprecher als auch die Sprachwissenschaftler ein Vorwissen von der Sprache besitzen, halte ich den gewählten Weg allein schon dadurch für legitimiert. Während aber in vielen Wissenschaften und Techniken eine terminologische Vereinheitlichung angestrebt und weitgehend erreicht worden ist, muss man sich von Anfang an in der heutigen Linguistik an eine Theorien-, Methoden- und Perspekti-
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venvielfalt gewöhnen, die sich in sehr verschiedenen Terminologien ausdrückt. Es ist wohl nicht unnötig, darauf hinzuweisen, dass Terminologien Mengen von Termini sind und dass Termini streng von Begriffen zu unterscheiden sind. Mit Terminus meine ich einen Fachausdruck und dabei vorrangig seine geschriebene oder gesprochene Form, während der dazu gehörige Begriff auf die inhaltliche Seite eines Terminus verweist. Termini können je nach Terminologie schillernd sein. Der Terminus Bedeutung kann zum Beispiel so Verschiedenes meinen wie den Bezug auf eine Sache oder aber die innersprachliche Abgrenzung eines sprachlichen Unterschieds wie dt. Tag gegenüber Nacht. Zwischen den Terminologien lassen sich oft teilweise Entsprechungen herstellen, und Fachleute sollten in der Lage sein, eine Terminologie einer bestimmten Forschungsrichtung gegebenenfalls in ihre eigene zu übersetzen. Oft aber sind die Terminologien nicht miteinander kompatibel. Deshalb sollte, ohne dass ich dies immer an Ort und Stelle vermerke, ständig ein terminologisches Wörterbuch der Sprachwissenschaft zur Hand sein oder in diesem Handbuch der Sachindex konsultiert werden. Zu empfehlen ist zum Beispiel das Lexikon der Sprachwissenschaft (42008), das Bußmann mit einer Reihe von Fachkolleginnen und Fachkollegen verfasst hat, das von Glück herausgegebene Metzler-Lexikon Sprache (42010), das noch zahlreichere Einträge, darunter auch französische Lemmata, als das Werk von Bußmann enthält, und ganz einfach eine Enzyklopädie wie der Brockhaus, der die Fachsprache der Linguistik ausgiebig berücksichtigt. Damit sei nicht behauptet, dass sich das Lexikon von Bußmann, das von Glück oder ein anderes bruchlos an die hier vertretenen sprachwissenschaftlichen Auffassungen anschließen. Man kann sich natürlich auch im Internet informieren, man muss aber wissen, dass linguistische Interessen dort unterrepräsentiert, und bedenken, dass die Artikel anonym sind. Zum Teil wird durch die Erläuterungen in den Lexika wegen der Verschiedenheit der Perspektiven eine neue Verwirrung entstehen, denn solche Nachschlagewerke wollen nicht Kohärenz stiften, sondern informieren. Die Divergenzen zwischen sprachwissenschaftlichen Auffassungen sollten aber bereits von Anfang an erklärt werden. Der Umgang mit diesen Divergenzen gehört grundsätzlich zur sprachwissenschaftlichen Sozialisierung, man sollte sie daher niemandem ersparen. Ich werde immer wieder auf divergierende Betrachtungsweisen zurückkommen. Als Beispiel kann ich die Sprachen nennen, die in nicht wenigen romanistischen Handbüchern als romanische Sprachen gelten. Man sehe sich nur die Sprachenkataloge an, in denen das Dalmatische, das „Frankoprovenzalische“ und das in Graubünden, in den Dolomiten und im Friaul gesprochene „Rätoromanisch“ als romanische Sprachen aufgeführt werden (5.4, 5.6, 5.8). Einer Sprecherperspektive entsprechen diese Sprachen nicht bzw. nicht mehr, denn das Dalmatische wird seit über hundert Jahren nicht mehr gesprochen, von einer den Raum um Lyon bis zum Aostatal in Italien umfassenden Einheit „Frankoprovenzalisch“ wissen die nicht sprachwissenschaftlich ausgebildeten oder informierten Sprecher nichts und noch weniger kennen sie ein gesamtheitliches, von Disentis in der Schweiz bis Udine in Italien gesprochenes
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„Rätoromanisch“. Bis zu einem gewissen Grade kann man sich über das Unvereinbare hinwegtrösten und es ignorieren. Beansprucht man aber, einen durch die Sprache(n) zu begründenden Zusammenhang herzustellen, muss man zwangsläufig von einigen gängigen Vorstellungen Abschied nehmen. Ich werde versuchen, dabei umsichtig vorzugehen und meine Optionen zu begründen. Sprachwissenschaft, vor allem, wenn man so vorgeht wie ich hier, ist auf begriffliche Unterscheidungen angewiesen. Ich bemühe mich, sie jeweils mit ihrer Herkunft aus der Geschichte der Sprachwissenschaft und ihrer Begründung durch die Sache einzuführen. Dabei ist immer eine Wahl zu treffen, und nie kann man sicher sein, die richtige für alle Leser gefunden zu haben. Mein Wunsch ist natürlich, dass sie in Anbetracht des Textumfangs wenigstens akzeptabel ist. Nun zu einigen technischen Dingen. Da viele Studierende zu Studienbeginn nur eine einzige romanische Sprache beherrschen oder erlernen und dieses Handbuch auch für Nichtromanisten verwendbar sein soll, werden Beispiele und Zitate übersetzt, wenn sie aus einer romanischen Sprache herrühren. Soweit es mir sinnvoll erscheint, gebe ich Beispiele aus dem Französischen, Italienischen und Spanischen. Bei wichtigen Themen versuche ich Beispiele aus den sechs Sprachen mit der größten Sprecherzahl zu geben. An erster Stelle steht dann das Französische, das sich in den Grundstrukturen besonders weit vom Lateinischen entfernt hat. Es folgen die westromanischen Sprachen Spanisch, Katalanisch und Portugiesisch, darauf die ostromanischen Sprachen Italienisch und Rumänisch, wobei das Rumänische eine ähnliche Sonderstellung einnimmt wie das Französische. Ich gebe bisweilen längere Zitate aus der Fachliteratur, die in der Absicht eingefügt werden, mehr oder andere Perspektiven als meine eigene in meinen Text hineinzunehmen. Eine Übersetzung unterbleibt, wenn mehrere romanische Sprachen angeführt werden oder wenn eine Formulierung aufgrund der Kenntnis deutscher oder englischer Fremdwörter verständlich ist. Englische Zitate werden nicht übersetzt. Dies ist auch in einem romanistischen Werk deshalb vertretbar, weil das Englische in einem höheren Maße die übereinzelsprachliche Funktion des Lateinischen übernommen hat, als das Lateinische sie je besaß. Die Übersetzungen ohne Quellenangabe stammen von mir. Wenn es aber unklar bleiben könnte, ob ich eine publizierte Übersetzung zitiere oder eine eigene gebe, verdeutliche ich ihre Herkunft. Noch ein Wort in eigener Sache. Einen persönlichen Zugang zum Ganzen der Sprache herzustellen und dies einschließlich der eigenen wissenschaftlichen Sozialisierung offenzulegen, halte ich für „objektiver“ als die Ausschaltung des Wissenschaftlers als Subjekt seiner Darstellung. Wir durchlaufen alle eine Entwicklung in Schule und Universität, durch die wir in eine wissenschaftliche Gemeinschaft hineinwachsen, bis wir in der Lage sind, selbstgestellte Aufgaben zu lösen. In meinem Fall folgte auf den Besuch des Humanistischen Gymnasiums das Studium an Universitäten, an denen auf romanistische Vielfalt Wert gelegt wurde, obwohl mein erstes Hauptfach das Französische war. Darüber gebe ich in einem biographischen Bericht Auskunft (Lüdtke 2011a). Die Anerkennung eines umfassenden Zugangs zur Sprache
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schließt ganz besonders die Suche nach Gegenstandsadäquatheit ein. Nur auf diese Weise kann man es überhaupt wagen, eine thematisch breite Einführung in die Sprachwissenschaft zu versuchen. Meine Vorstellung von romanischer Philologie und Sprachwissenschaft habe ich mir durch romanistische Lehrveranstaltungen, an denen ich teilgenommen oder die ich gehalten habe, und die Lektüre von Gesamtdarstellungen der allgemeinen, der romanischen, der englischen und der deutschen Sprachwissenschaft erworben, denn ein Versuch wie der vorliegende lässt sich nicht improvisieren. Die Arbeiten daran gehen bis auf mein Werk von 1984a zurück und wurden kontinuierlich fortgesetzt. Die früh gelesenen Werke waren unter anderem, hier in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, Bal (1966), Bloomfield (1933/1935), Bourciez (51967), Cook (1969), Gabelentz (21901), Gleason (1961), Hockett (1958), Lausberg (21963), Lyons (1968), Monteverdi (1952), Paul (61960), Porzig (41967), Renzi (1976), Sapir (1949), Saussure (1916), Tagliavini (61972), Vàrvaro (1968), Vendryes (1968), Vidos (1959), Wartburg (31970). Meine Liste zeigt, was „Gesamtdarstellung“ konkret beinhaltet: Es geht dabei um den immer neuen Versuch, das Sprechen im Allgemeinen oder eine Vielzahl romanischer und anderer Sprachen aus immer neuen zeitbedingten Perspektiven zu betrachten, ohne den Zusammenhang mit den traditionell erworbenen Erkenntnissen zu verlieren. Die Konzeption dieses Handbuchs geht auf die Notwendigkeit zurück, das Studium der romanischen Sprachwissenschaft an einem großen Romanischen Seminar, dem Institut für Romanische Philologie an der Freien Universität Berlin, im Rahmen der Einhaltung von Regelstudienzeiten zu organisieren. Nach einigen Erprobungen in Berlin setzte ich die Einführung mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in Heidelberg fort. An keiner Universität hatte ich dieselben Aufgaben in der Lehre. Nur infolge dieser verschiedenen, aus freien Stücken übernommenen Lehraufgaben und meiner Veröffentlichungen zu den hier behandelten Themen konnte ich ein Buch wie dieses überhaupt schreiben. So verfolgen die Hinweise auf eigene Schriften den Zweck, meine ständige Beschäftigung mit der romanischen Linguistik insgesamt zu belegen und die dort verwendete Literatur nicht ein weiteres Mal zitieren zu müssen. Beim Schreiben habe ich mir immer vorgenommen, einen aus sich heraus verständlichen Text zu verfassen. Da das nicht immer gelingt, waren mir am meisten die Fragen der Studierenden hilfreich, die von mir eine Verdeutlichung meiner Ausdrucksweise oder der behandelten Themen erforderten. Nie habe ich eine Frage als verfehlt angesehen, sondern sie als Aufgabe verstanden, die ich bewältigen muss. Aber andererseits habe ich es nie aufgegeben, die Inhalte zu vermitteln, die ich um der Sache willen glaubte vermitteln zu müssen. In diesem Sinne haben Frau Dr. Christine Czerwenka und Frau Anne Kathrin Holzheimer große Teile des Textes aufmerksam und kritisch gelesen. Ich bin all den Studierenden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar, die diesen Weg mit mir mitgegangen sind. Ihnen allen sei dieses Handbuch gewidmet. Zahlreiche Hilfskräfte und Frau Christa Heim haben an der Gestaltung der Abbildungen mitgewirkt. Für die Abbildungen, die ich übernehme, durfte ich auf die Publikationen des De Gruyter Verlags und die Hilfe von Herrn Nils Kotlenga in meinem
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Heidelberger Copy-Quick zurückgreifen. Einen besonderen Dank spreche ich den Erben von Francisco Morales Padrón für die Verwendung seiner Karten im Abschnitt zur Geschichte des Spanischen (5.10) aus. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass mein Heidelberger Kollege Edgar Radtke, mit dem ich freundschaftlich verbunden bin, mich durch die zustimmende Lektüre meiner Skripte ermuntert hat. Frau Dr. Christine Henschel gilt mein herzlicher Dank für die vorzügliche und kompetente Zusammenarbeit und ganz besonders Frau Anett Rehner für die gewissenhafte und sorfältige Betreuung des Manuskripts in der Endphase. Den letzten Anstoß zur Endredaktion hat Frau Dr. Ulrike Krauß vom De Gruyter Verlag gegeben, die mit ihrer Begeisterung und Kritik nicht nur ihr Haus überzeugt hat, sondern mir auch die, wie ich hoffe, klaren Konturen des Buchs abverlangt hat, mit dem ich nun an die Öffentlichkeit trete. Dafür sage ich ihr meinen aufrichtigen Dank.
Inhaltsverzeichnis Vorwort V Abkürzungen XXVII Zeichenerklärungen XXIX
Teil I: Sprachbeschreibung 1 Das Sprechen im Allgemeinen 3 1.0 Das Vorwissen der Sprecher 3 1.1 Die sprachlichen Ebenen und die Sprachkompetenz 7 1.1.1 Die sprachlichen Ebenen 8 1.1.2 Die Sprachkompetenz 16 1.2 Die sprachlichen Universalien 20 Die Kreativität 21 1.2.1 1.2.1.0 Allgemeines 22 Sprechen im Allgemeinen 23 1.2.1.1 1.2.1.2 Einzelsprache 24 1.2.1.3 Diskurs 25 1.2.1.4 Sprachwandel 25 1.2.1.5 Sprachvariation 30 Die Alterität 30 1.2.2 1.2.2.0 Allgemeines 31 Sprechen im Allgemeinen 32 1.2.2.1 1.2.2.2 Einzelsprache 33 1.2.2.3 Diskurs 35 1.2.2.4 „Idiolekt“ 36 Die Semantizität 37 1.2.3 1.2.3.0 Allgemeines 37 Sprechen im Allgemeinen 38 1.2.3.1 1.2.3.2 Einzelsprache 39 1.2.3.3 Diskurs 43 Sprache und „Sachen“ 44 1.2.3.4 Terminologien und Nomenklaturen 46 1.2.3.5 1.2.3.6 „Semantik“ 47 Die Materialität 49 1.2.4 1.2.4.0 Allgemeines 49 Sprechen im Allgemeinen 50 1.2.4.1 1.2.4.2 Einzelsprache 50 1.2.4.3 Diskurs 52
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1.2.4.4 Philologie 52 1.2.5 Die Historizität 53 1.2.5.1 Das Sprechen im Allgemeinen und seine Traditionen 53 1.2.5.2 Die Einzelsprache und ihre Traditionen 54 1.2.5.3 Der Diskurs und seine Traditionen 56 1.2.6 Die Reflexivität 57 1.2.6.1 Sprechen im Allgemeinen 57 1.2.6.2 Einzelsprache 57 1.2.6.3 Diskurs 58 1.2.6.4 Metasprache und Metakommunikation 59 1.2.6.5 Sprecher und Sprachwissenschaftler 59 1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute 60 1.3.1 Sprechwerkzeuge oder Artikulationsorgane 63 1.3.2 Artikulation und Artikulationsstellen 66 1.3.3 Artikulationsarten oder -modi 70 1.3.4 Prosodie 72 1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt 73 1.4.1 Das Bezeichnete und das Sachwissen 73 1.4.2 Wortschatz 76 1.4.2.1 Metapher 82 1.4.2.2 Metonymie 84 1.4.3 Sachverhaltsdarstellung 85 1.4.4 Wortbildung 96 1.4.5 Universalität der sprachlichen Kategorien 99 1.4.5.1 Wortkategorien 102 1.4.5.2 Äußerungskategorien 106 2 Die Einzelsprache 111 2.1 Vorüberlegungen 111 2.1.1 Homogenität 112 2.1.2 Einzelsprache und historische Sprache 115 2.1.3 Synchronie und Diachronie 120 2.1.4 Das sprachliche Zeichen 129 2.1.5 Ausdruck und Inhalt 132 2.1.6 Invarianten und Varianten 133 2.1.7 Syntagmatisch und paradigmatisch 136 2.1.8 Kommutationsprobe 139 2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck 140 2.2.1 Phoneme und Phonemsysteme 140 2.2.1.1 Französische Phoneme 146 2.2.1.2 Spanische Phoneme 152 2.2.1.3 Katalanische Phoneme 160
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XIX
2.2.1.4 Portugiesische Phoneme 165 2.2.1.5 Italienische Phoneme 170 2.2.1.6 Rumänische Phoneme 175 2.2.2 Grapheme und Schriftsysteme 179 2.3 Inhalt 184 2.3.0.1 Grammatischer und lexikalischer Inhalt 184 2.3.0.2 Typen von sprachlichen Zeichen 187 2.3.0.3 Kombinationen von sprachlichen Zeichen 199 2.3.1 Grammatische Inhalte 200 2.3.1.1 Grammatik des Verbs 202 2.3.1.2 Das romanische Tempussystem 211 2.3.1.3 Grammatik des Substantivs, des Adjektivs und des Adverbs 232 2.3.1.4 Lexikalisierte Grammatik: Die Idiomatik oder Phraseologie 236 2.3.2 Wortbildungsinhalte 239 2.3.2.1 Transposition 243 2.3.2.2 Wortzusammensetzung 247 2.3.2.3 Modifizierung 248 2.3.3 Wortinhalt 251 2.4 Sprachvariation und Varietäten 268 2.4.1 Permanentes Entstehen von Variation im Sprechen und ihre Grenzen 268 2.4.1.1 Homogenität 269 2.4.1.2 Wege der Vereinheitlichung. Drei Beispiele 273 2.4.2 Dimensionen der Variation 284 2.4.2.1 Leiv Flydal über die Beziehungen zwischen Stil und Sprachzustand 285 2.4.2.2 Uriel Weinreich zum Diasystem 290 2.4.2.3 Typen von sprachlichen Unterschieden und von Varietäten 291 2.4.2.4 Zweisprachigkeit und Kontaktvarietäten 297 2.4.2.5 Variation und Varietäten in der Romania 307 2.4.2.6 Spracharchitekturen in der Romania 312 2.4.2.7 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Spanischen 317 2.4.2.8 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Portugiesischen 325 2.4.2.9 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Französischen 328 2.4.2.10 Disziplinen der Variationslinguistik 333 3 Der Diskurs 336 3.0 Allgemeines 336 3.1 Diskurs und Text 341
XX
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3.2 Gesprochene und geschriebene Sprache 344 3.3 Diskurstraditionen 350 3.4 Umfelder: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum 353 3.5 Deixis 359 3.5.1 Personaldeixis 360 3.5.2 Lokaldeixis 362 3.5.3 Demonstrativpronomina 364 3.5.4 Temporaldeixis 365 3.5.5 Modaldeixis 366 3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität 367 3.6.1 Polyphonie 368 3.6.2 Redewiedergabe 371 3.6.3 Intertextualität 376 3.7 Thema 380 3.8 Textkonstitution 382 3.8.1 Proposition 383 3.8.2 Thema und Rhema 385 3.8.3 Verknüpfung von Propositionen: Kohärenz und Kohäsion 390 3.8.4 Diskursmarker 393 3.8.5 Textverweis 395 3.8.6 Isotopie 396 3.9 Sprechakte 397 3.10 Textsorten, Texttypen, Textgattungen, Diskursgattungen 400 3.10.1 Dialog- oder Gesprächssequenz 403 3.10.2 Erzählsequenz 407 3.10.3 Beschreibungssequenz 413 3.10.4 Argumentationssequenz 418 3.10.5 Erklärungssequenz 420 3.11 Sinn 423
Teil II: Die Einzelsprachen in ihrer Geschichte 4 4.0.1 4.0.2 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3
Die lateinische Sprache 431 Grundlagen der philologischen Forschung 431 Klassisches Latein und Vulgärlatein 439 Das Lateinische als historische Sprache 441 Perioden der lateinischen Sprachgeschichte 445 Lateinisches Varietätengefüge der klassischen Zeit: urbanitas, rusticitas, peregrinitas 450 Christliches Latein 453
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4.1.4
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Die Entstehung des Abstands zwischen klassischem Latein und Gemeinsprache 457 4.2 Die Ausbreitung des Lateinischen und Kontakte mit vorrömischen Sprachen 459 4.2.1 Das Phönizische oder Punische 466 4.2.2 Das Griechische 467 4.2.3 Die keltischen Sprachen 470 4.3 Sprachkontakträume 473 4.3.1 Italien 473 4.3.2 Sizilien 476 4.3.3 Korsika und Sardinien 476 4.3.4 Hispanien 476 4.3.5 Afrika 485 4.3.6 Griechenland und die hellenisierten Länder 486 4.3.7 Gallien, Nieder- und Obergermanien, die Alpen- und Donauprovinzen 486 4.3.8 Eine Fallgeschichte zum beginnenden Sprachkontakt: Die Eroberung Galliens durch Caesar 487 4.3.9 Zur Romanisierung und Latinisierung Galliens, Nieder- und Obergermaniens sowie der Alpen- und Donauprovinzen 491 4.3.10 Britannien 495 4.3.11 Illyrien 496 4.3.12 Dakien 496 4.4 Romania submersa 498 4.4.1 Die Germanen 498 4.4.2 Das oströmische Reich und Byzanz 500 4.4.3 Die Araber 502 4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache 504 4.5.0 Interne Rekonstruktion 505 4.5.1 Die Phonemsysteme 506 4.5.1.1 Akzent 507 4.5.1.2 Der Vokalismus 507 4.5.1.3 Konsonantismus 515 4.5.1.4 Wandel der Orthographie 520 4.5.2 Der Wandel des lateinischen Sprachtyps 521 4.5.2.1 Deklination 524 4.5.2.2 Adjektiv 530 4.5.2.3 Adverbien 531 4.5.2.4 Ortsadverbien 531 4.5.2.5 Aktualisatoren: Auf dem Weg zur Funktion des Artikels 532 4.5.2.6 Aktualisatoren: Die Entstehung eines Personalpronomens der dritten Person 535
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4.5.2.7 Konjugation: Entwicklung des Verbalsystems 536 4.5.2.8 Der Satz im Lateinischen und in den romanischen Sprachen 546 4.5.2.9 Wortschatz 550 4.6 Der Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen 556 4.6.1 Die Ethnogenese der Rumänen und das Rumänische 557 4.6.2 Der Übergang zu romanischer Schriftlichkeit 560 4.6.3 Die karolingische Renaissance 565 4.6.4 Auf dem Weg zu den Straßburger Eiden 566 5 Die romanischen Sprachen 574 5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen 574 5.0.1.1 Wie viele romanische Sprachen gibt es? 575 5.0.2 Eine Fallstudie: Das Galicische als Standardsprache 584 5.0.3 Zur Konzeption von Sprachgeschichten 590 5.1 Das Italienische 597 5.1.0.1 Periodisierung 598 5.1.0.2 Die questione della lingua 599 5.1.1 Polyzentrismus: Die Zeit der Selektion der regionalen Schriftsprachen 601 5.1.2 Die Zeit der Selektion des Toskanischen als Schriftsprache 603 5.1.2.1 Die Kodifizierung der Grammatik 604 5.1.2.2 Die Kodifizierung des Wortschatzes 604 5.1.2.3 Zur Rolle der Prosa in der italienischen Sprachgeschichte 605 5.1.2.4 Ausbau 605 5.1.2.5 Die Erlernung des Italienischen durch Autoren 606 5.1.2.6 Das Französische 607 5.1.3 Die Zeit der Übernahme des Toskanischen als gesprochener Sprache 608 5.1.3.1 Drei Zeitzeugen: Vittorio Alfieri, Giuseppe Baretti, Ugo Foscolo 610 5.1.3.2 Die neuen Sprecher des Italienischen nach Regionen 611 5.1.3.3 Mailand und die Lombardei 612 5.1.3.4 Neapel 614 5.1.4 Die Übernahme des Italienischen als geschriebener und gesprochener Standardsprache 615 5.1.5 Italienische Dialekte und Regionalitalienisch heute 617 5.1.6 Koloniale Expansion 618 5.2 Das Korsische 620 5.3 Das Sardische 624 5.4 Das Friaulische 631 5.4.1 Das Alpenromanische, seine Namen und das Gebiet des Friaulischen 631 5.4.2 Eine wechselhafte Geschichte 633
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5.4.3 Sprachlicher Abstand und Schriftsprachen 633 5.4.4 Selektion und Ausbau 634 5.4.5 Kodifizierung und Standardisierung 634 5.4.6 Übernahme in der Gesellschaft 635 5.5 Das Ladinische 636 5.6 Das Bündnerromanische 638 5.6.1 Das Sprachgebiet 638 5.6.2 Romanisierung und Kontakt mit dem Deutschen 638 5.6.3 Die Verschriftungen des Bündnerromanischen 640 5.6.4 Das rumantsch grischun 642 5.6.5 Die gegenwärtige Situation 644 5.7 Das Rumänische 645 5.7.1 Die Frage der Herkunft des Rumänischen aus dem Lateinischen 645 5.7.2 Die Entlehnungen und ihre geschichtlichen Bedingungen 647 5.7.3 Die rumänischen Länder bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts 649 5.7.4 Die rumänische Schriftsprache zwischen Dialekten und Altkirchenslavisch 649 5.7.5 Das neue Wissen um die lateinische Herkunft 652 5.7.6 Die Siebenbürger Schule 653 5.7.7 Ausbau und Vereinheitlichung des Rumänischen 655 5.8 Das Französische 657 5.8.0.1 La langue correcte 657 5.8.0.2 Periodisierung 658 5.8.1 Das Altfranzösische 659 5.8.1.1 Der Raum des ursprünglichen Französisch 659 5.8.1.2 Das neue Sprachbewusstsein in der karolingischen Renaissance 660 5.8.1.3 Mittelalterliche Schreibsprachen 661 5.8.1.4 Französisch und Dialekte 662 5.8.1.5 Sprachennamen 662 5.8.1.6 Die Selektion des Französischen 663 5.8.1.7 Ausbreitung des Französischen 664 5.8.1.8 Neue Varietäten 664 5.8.1.9 Ausbau im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit 665 5.8.2 Mittelfranzösisch: Das frühe Neufranzösisch oder der Beginn des modernen Französisch 666 5.8.2.1 Südostfranzösische Dialekte: Das so genannte „Frankoprovenzalisch“ 667 5.8.2.2 Das Französische als Gerichts- und Amtssprache 670 5.8.2.3 Die französische Schriftsprache im 16. Jahrhundert 670 5.8.3 Der zweite Abstand zum Lateinischen: Der Typ des modernen Französisch 672
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5.8.3.1 Vereinheitlichung der Lexeme und Morpheme 673 5.8.3.2 Kasus 676 5.8.3.3 Numerus 676 5.8.3.4 Genus 677 5.8.3.5 Determinanten und Pronomina 678 5.8.3.6 Das Verb 682 5.8.3.7 Die Reihenfolge der Satzglieder 685 5.8.3.8 Wortbildung 688 5.8.4 Das Neufranzösische 690 5.8.4.1 Die Académie française und Vaugelas 690 5.8.4.2 Die Ausbreitung des Französischen im 17. und 18. Jahrhundert: Die Sprachpolitik des Ancien Régime 699 5.8.4.3 Die Kolonien des Ancien Régime 699 5.8.4.4 Jakobinische Sprachpolitik 700 5.8.4.5 Das Französische nach dem Wiener Kongress (1815) 702 5.8.4.6 Entkolonialisierung 703 5.8.4.7 Frankophonie 704 5.9 Das Okzitanische 706 5.9.1 Das okzitanische Sprachgebiet 706 5.9.2 Sprachennamen 707 5.9.3 Die Einverleibung Okzitaniens in das französische Staatsgebiet 707 5.9.4 Die Verbreitung des Französischen in Okzitanien 708 5.9.5 Okzitanische Reflexliteratur 710 5.9.6 Okzitanisch und Französisch zur Zeit der Französischen Revolution 710 5.9.7 Die jakobinische Sprachpolitik und ihre Folgen 711 5.9.8 Die okzitanische Renaissance 711 5.9.9 Die Kodifizierung des Okzitanischen im 20. Jahrhundert 713 5.9.10 Der heutige Status des Okzitanischen 713 5.9.11 Die französisch-okzitanische Spracharchitektur 714 5.9.12 Grade der Sprachbeherrschung 714 5.10 Das Spanische 715 5.10.0.1 Der Name der Sprache 716 5.10.0.2 Kastilische Kolonialdialekte 717 5.10.0.3 Periodisierung 719 5.10.1 Die Geschichte des Spanischen bis 1492 721 5.10.1.1 Von der arabischen Eroberung zu den frühesten Sprachzeugnissen 721 5.10.1.2 Reconquista und Herausbildung einer Literatursprache 722 5.10.1.3 Die Übernahme der dominierenden Sprache: Die Ausbreitung des Kastilischen 723 5.10.1.4 Sprachlicher Wandel 724
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5.10.2
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Von den Katholischen Königen bis zum Spanischen Erbfolgekrieg 725 5.10.2.1 Die Kodifizierung der Literatursprache durch Nebrija 726 5.10.2.2 Die Übernahme des Spanischen als Sprache der Oberschicht und als Literatursprache: Die Expansion des Spanischen vom Ende des 15. Jahrhunderts an 726 5.10.2.3 Das Judenspanische 727 5.10.2.4 Die Kolonisierung Amerikas 727 5.10.2.5 Sprachpolitik in Amerika 731 5.10.3 Von der Gründung der spanischen Sprachakademie bis zur Unabhängigkeit Hispanoamerikas 732 5.10.3.1 Die Kodifizierung des Spanischen 734 5.10.3.2 Das Diccionario de Autoridades 735 5.10.3.3 Orthographie 737 5.10.3.4 Bourbonische Sprachpolitik 737 5.10.3.5 Die erste Akademiegrammatik: Gramática de la lengua castellana (1771) 738 5.10.4 Von den Cortes de Cádiz und der Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Staaten bis heute 740 5.10.5 Die spanische Verfassung von 1978 741 5.11 Das Katalanische 745 5.11.1 Altakatalanisch 745 5.11.1.1 Die Entstehung des katalanischen Sprachgebiets 745 5.11.1.2 Das Katalanische im Kontakt mit anderen Sprachen 747 5.11.2 Neukatalanisch 748 5.11.2.1 Katalanisch und Spanisch im 18. Jahrhundert 748 5.11.2.2 Literatursprache 749 5.11.2.3 Renaixença 749 5.11.2.4 Die moderne Standardsprache: Kodifizierung 750 5.11.2.5 Die Übernahme des Katalanischen: Normalisierung 753 5.12 Das Aragonesische 755 5.12.1 Navarra und Aragonien 756 5.12.2 Das Aragonesische zwischen Katalanisch und Spanisch 756 5.12.3 Kodifizierung 757 5.12.4 Ausbau 758 5.12.5 Normalisierung 758 5.13 Das Asturianische 759 5.13.1 Das Asturianische und seine Kolonialdialekte 759 5.13.2 Das Asturianische vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert 761 5.13.3 Normalisierung 762 5.13.4 Normierung 763 5.14 Das Galicische 764
XXVI
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5.14.1 Vom Lateinischen zum Galicisch des Mittelalters 765 5.14.2 Das Galicische und das Portugiesische trennen sich 766 5.14.3 Hispanisierung 767 5.14.4 Kontaktvarietäten 769 5.14.5 Rexurdimento 770 5.14.6 Vom Franco-Regime zum Autonomiestatut 773 5.14.7 Normalisierung 774 5.14.8 Normierung 774 5.14.9 Das galicische Dilemma 777 5.15 Das Portugiesische 778 5.15.0 Periodisierung 779 5.15.1 Das Altportugiesische 780 5.15.1.1 Portugiesische Reconquista und Kolonialdialekte 780 5.15.1.2 Die Schriftsprache des Mittelalters 781 5.15.2 Portugiesisch und Spanisch im Kontakt 782 5.15.2.1 Die portugiesische Expansion und der spanisch-portugiesische Sprachkontakt 782 5.15.2.2 Das Spanische in Portugal 784 5.15.3 Das Neuportugiesische 785 5.16 Kreolsprachen 789 5.17 Die romanischen Sprachen unter den Sprachen der Erde 792 6
Rückblick und Ausblick 794
7 Bibliographie 795 Quellentexte 795 Siglen 799 Fachliteratur 803 8 Sachindex 859 Vorwort 859 Akademien zur Kodifizierung, Pflege und Verbreitung der Standardsprache 862 Grammatiken und Beschreibungen einzelner Sprachen 862 Sprachatlanten 863 Wörterbücher cf. Einzelsprachen, Dialekt 864 Alphabetischer Index 865
Abkürzungen Abb. Abbildung AcI accusativus cum infinitivo afrz. altfranzösisch ahd. althochdeutsch akast. altkastilisch am. amerikanisch aokz. altokzitanisch apt. altportugiesisch asp. altspanisch brasil. brasilianisch d. h. das heißt Diss. Dissertation dt. deutsch ead. eadem, dieselbe ed. editor, Herausgeber(in) éd. éditeur, éditrice eds. editores, Herausgeber éds. éditeurs emil. emilianisch eng. engadinisch engl. englisch europ. europäisch f. feminin fränk. fränkisch frl. friaulisch frz. französisch gest. gestorben griech. griechisch Hrsg. Herausgeber, Herausgeberin id. idem, derselbe iidem, dieselben iid. intr. intransitiv it. italienisch kat. katalanisch klat. klassisch-lateinisch, klassisches Latein kroat. kroatisch lad. (dolomiten- oder sella)ladinisch lat. lateinisch m. maskulin neutrum, Neutrum n., N. https://doi.org/10.1515/9783110476651-202
XXVIII
Abkürzungen
n. Chr. nach Christus obereng. oberengadinisch org. organizador Pl. Plural pt. portugiesisch romagn. romagnolisch rum. rumänisch s. a. sine anno, ohne Jahr sard. sardisch scil. scilicet, das heißt s. l. sine loco, ohne Ort sp. spanisch surm. surmeirisch (surmiran), oberhalbsteinisch surs. surselvisch (sursilvan), oberwaldisch suts. sutselvisch (sutsilvan), unterwaldisch s. v. sub voce, „unter dem Eintrag zu“ tosk. toskanisch v. Chr. vor Christus vlt. vulgärlateinisch vol. volumen, volumina, Band, Bände z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil
Zeichenerklärungen / / [ ]
Schrägstriche kennzeichnen eine phonologische Transkription. Eckige Klammern kennzeichnen eine phonetische Transkription oder eine Auslassung im Text. + Das Plus-Zeichen kennzeichnet die Anwesenheit eines Merkmals, z. B. der Stimme bzw. Stimmhaftigkeit. – Das Minuszeichen kennzeichnet die Abwesenheit eines Merkmals, z. B. der Stimme bzw. Stimmhaftigkeit. ± kennzeichnet die An- oder Abwesenheit eines Merkmals Die spitzen Klammern kennzeichnen eine Schreibung als Graphem. > wird zu, entwickelt sich zu, in der diachronischen Sprachwissenschaft. < kommt aus, leitet sich her aus, in der diachronischen Sprachwissenschaft. → Der Pfeil kennzeichnet morphologische Prozesse, z. B. in der Wortbildung. * Der Asterisk oder das Sternchen kennzeichnet ein rekonstruiertes Element in der diachronischen Sprachwissenschaft oder ein nicht belegtes Element in der synchronischen Sprachwissenschaft. „…“ kennzeichnet ein deutsches oder lateinisches Zitat oder einen Begriff. “…” kennzeichnet ein fremdsprachiges Zitat. ‚…‘ kennzeichnet eine Bedeutungsangabe oder eine eigene Übersetzung. kursiv kennzeichnet die Einführung eines Fachausdrucks oder seine hervorgehobene Verwendung, eine selbstständige Veröffentlichung, eine Distanzierung von einem Ausdruck und gelegentlich eine Hervorhebung im Allgemeinen. kapitälchen kennzeichnen Etymologien.
Phonetisches Alphabet Die Laute werden in orale Vokale, Nasalvokale, Halbkonsonanten und Konsonanten eingeteilt. Die Reihung beginnt bei den Lippen und endet bei der Stimmritze. In den Beispielen werden die orthographischen Entsprechungen der Laute recte gedruckt.
https://doi.org/10.1515/9783110476651-203
XXX
Zeichenerklärungen
Orale Vokale [i] vorderer geschlossener Vokal, frz. nid ‚Nest‘, it. sp. nido, gal. okz. pt. vida ‚Leben‘, kat. niu, rum. inimă ‚Herz‘, sard. nidu [e] vorderer halb geschlossener Vokal, frz. nez ‚Nase‘, it. sp. velo ‚Schleier‘, gal. kat. okz. pt. sp. seda ‚Seide‘, rum. case ‚Häuser‘, sard. bentu ‚Wind‘ [ɛ] vorderer halb offener Vokal, frz. père ‚Vater‘, it. pesca ‚Pfirsich‘, gal. pt. pé ‚Fuß‘, kat. què ‚was‘, sp. reja ‚Gitter‘, sard. pane ‚Brot‘ [y] vorderer gerundeter geschlossener Vokal, frz. rue ‚Straße‘, okz. madur ‚reif‘ [ø] vorderer gerundeter geschlossener Vokal, frz. nœud ‚Knoten‘ [œ] vorderer gerundeter offener Vokal, frz. peur ‚Furcht‘ [a] mittlerer offener Vokal, frz. patte ‚Pfote‘, gal. it. pt. rum. sp. carne ‚Fleisch‘, kat. carn, okz. amar ‚lieben‘, sard. pane ‚Brot‘ [ɨ] mittlerer geschlossener Vokal, rum. câmp ‚Feld‘ [ə] mittlerer halb offener/geschlossener Vokal, frz. le ‚der, ihn‘, kat. demà ‚morgen‘, rum. inimă ‚Herz‘ [ɐ] mittlerer halb offener Vokal, pt. amamos ‚wir lieben‘ [u] hinterer geschlossener Vokal, frz. roue ‚Rad‘, it. gal. pt. sp. duro ‚hart‘, rum. dur, sard. duos ‚zwei m.‘ [o] hinterer halb geschlossener Vokal, frz. eau ‚Wasser‘, gal. sp. todo ‚ganz‘, it. orzo ‚Gerste‘, kat. cançó ‚Lied‘, okz. mot ‚Wort‘, pt. novo ‚neu m.‘, rum. epocă ‚Epoche‘, sard. nobu [ɔ] hinterer halb offener Vokal, frz. école ‚Schule‘, gal. kat. bo ‚gut‘, it. poco ‚wenig‘, okz. pt. nova ‚neu f.‘, sard. noua f., sp. hoy ‚heute‘ [ɑ] hinterer offener Vokal, frz. mâle ‚männlich‘
Nasalvokale [ĩ] vorderer geschlossener Nasalvokal, pt. fim ‚Ende‘ [ẽ] vorderer halb geschlossener Nasalvokal, pt. senda ‚Pfad‘ [ɛ˜] vorderer halb offener Nasalvokal, frz. fin ‚fein‘ [œ˜] mittlerer gerundeter Nasalvokal, frz. brun ‚braun‘ [ɐ˜] mittlerer halb offener Nasalvokal, pt. lã ‚Wolle‘ [ɑ˜] hinterer offener Nasalvokal, frz. vent ‚Wind‘ [ɔ˜] hinterer halb offener Nasalvokal, frz. on ‚man‘ [õ] hinterer halb geschlossener Nasalvokal, pt. longo ‚lang‘ [ũ] hinterer geschlossener Nasalvokal, pt. um ‚ein‘
Zeichenerklärungen
XXXI
Halbkonsonanten [w] stimmhafter bilabialer Halbkonsonant, frz. Louis, gal. auga ‚Wasser‘, it. nuovo ‚neu‘, kat. okz. rum. nou ‚neu‘, pt. água ‚Wasser‘, sp. nuevo ‚neu‘ [ɥ] stimmhafter gerundeter bilabialer Halbkonsonant, frz. lui ‚er, ihm, ihr‘ [j] stimmhafter palataler Halbkonsonant, frz. bien ‚gut‘, gal. pt. pai ‚Vater‘, it. unghia ‚Fingernagel‘, okz. viatje ‚Reise‘, rum. piatră ‚Stein‘, sard. janna ‚Tür‘, sp. viuda ‚Witwe‘
Konsonanten [p] stimmloser bilabialer Okklusiv, frz. pain ‚Brot‘, gal. okz. sp. pan, it. sard. pane, kat. pa, pt. pão, rum. pâine [b] stimmhafter bilabialer Okklusiv, frz. okz. bon ‚gut‘, gal. kat. bo, it. buono, pt. bom, rum. bun, sard. bonu, sp. bueno [β] stimmhafter bilabialer Frikativ, gal. kat. pt. sp. saber ‚wissen‘, sard. sa barba ‚der Bart‘ [m] stimmhafter bilabialer Nasal, frz. main ‚Hand‘, gal. man, kat. okz. ma, it. sp. mano, pt. mão, rum. mână, sard. manu [ɸ] stimmloser bilabialer Frikativ, asp. fijo, tosk. capo ‚Kopf‘ [ɱ] stimmhafter labiodentaler Nasal, gal. it. pt. inverno ‚Winter‘, sp. infierno ‚Hölle‘ [f] stimmloser labiodentaler Frikativ, frz. feu ‚Feuer‘, gal. pt. fogo, it. fuoco, kat. rum. foc, okz. fuec/foc, sard. fogu, sp. fuego [v] stimmhafter bilabialer Frikativ, frz. okz. venir ‚kommen‘, it. venire, pt. vir, rum. a veni, sard. cravu ‚Nagel‘, su frade ‚der Bruder‘ [t] stimmloser dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. temps ‚Zeit‘, gal. it. pt. tempo, rum. timp, sard. tempus, sp. tiempo [d] stimmhafter dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. rum. dur ‚hart‘, gal. it. pt. sp. duro, sard. duos ‚zwei m.‘ [ɖ] retroflexer oder kakuminaler dentaler Okklusiv, sard. bedhu ‚schön‘ [ð] stimmhafter interdentaler Frikativ, gal. kat. pt. sp. vida ‚Leben‘, sard. su dente ‚der Zahn‘ [θ] stimmloser interdentaler Frikativ bzw. Sibilant, europ. sp. cielo ‚Himmel‘ [n] stimmhafter alveolarer Nasal, frz. nez ‚Nase‘, gal. it. pt. sp. naso, kat. okz. rum. nas, sard. nasu [ts] stimmlose dentale Affrikate, frz. pt. tzar ‚Zar‘, gal. tsar, it. zio, kat. prats ‚Wiesen‘, okz. avètz ‚ihr habt‘, rum. ţară ‚Land‘, sard. tziu ‚Onkel‘ [dz] stimmhafte dentale Affrikate, kat. okz. dotze ‚zwölf‘, it. zona ‚Zone‘, sard. fizu ‚Sohn‘ [tʃ] stimmlose palatale Affrikate, frz. tchèque ‚tschechisch‘, gal. sp. checo, it. ceco, kat. txec, okz. freg ‚frisch‘, rum. cec
XXXII
Zeichenerklärungen
[dʒ] stimmhafte palatale Affrikate, frz. djinn ‚Djinn, Dschinn‘, it. gente ‚Leute‘, rum. ginere ‚Schwiegersohn‘, kat. okz. jutge ‚Richter‘ [ɉ] stimmhafte präpalatale Affrikate, sp. yo ‚ich‘ [s] stimmloser prädorsal-dentaler Frikativ bzw. Sibilant, frz. sel ,Salz‘, pt. okz. sal, it. sard. sale, rum. sare [ś] stimmloser alveolarer Frikativ bzw. Sibilant, gal. kat. europ. sp. sal ‚Salz‘ [z] stimmhafter prädorsal-dentaler Frikativ bzw. Sibilant, frz. rose ‚Rose‘, it. kat. okz. pt. sard. rosa, rum. roză [ź] stimmhafter alveolarer Frikativ bzw. Sibilant, kat. casa ‚Haus‘ [l] stimmhafter alveolarer Lateral, frz. langue ‚Zunge, Sprache‘, gal. it. lingua, kat. lent ‚langsam‘, okz. lenga, pt. língua, rum. limbă, sard. limba, sp. lengua [ɾ] einfacher stimmhafter alveolarer Vibrant, gal. it. pt. sp. caro ‚lieb, teuer‘, kat. okz. car, rum. mare ‚groß‘, sard. caru [r] mehrfacher stimmhafter alveolarer Vibrant, gal. it. kat. sp. carro ‚Wagen‘, okz. barra ‚versperren‘, sard. carru [ʃ] stimmloser palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. chaud ‚heiß‘, gal. pt. peixe, it. pesce, kat. peix, rum. peşte [ʒ] stimmhafter palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. jaune ‚gelb‘, it. garage, kat. okz. gent ‚Leute‘, pt. gente, rum. jertfă ‚Opfer‘ [ɲ] stimmhafter palataler Nasal, frz. montagne ‚Gebirge‘, gal. sp. montaña, it. sard. montagna, kat. montanya, okz. pt. montanha [ŋ] stimmhafter velarer Nasal, frz. pressing ‚chemische Reinigung‘, gal. áncora ‚Anker‘, unha ‚eine‘, it. ancora, kat. àncora, okz. ancra, pt. âncora, rum. ancoră, sard. àncara, sp. ancla [ʎ] stimmhafter palataler Lateral, gal. kat. filla ‚Tochter‘, it. figlia, okz. pt. filha, sp. cuello ‚Hals‘ [k] stimmloser velarer Okklusiv, frz. car ‚denn‘, gal. it. pt. sp. caro ‚lieb, teuer‘, kat. okz. car, rum. car ‚Wagen‘, sard. caru [kˈ] stimmloser velarer palatalisierter Okklusiv, rum. chior ‚einäugig‘ [g] stimmhafter velarer Okklusiv, frz. goutte ‚Tropfen‘, gal. kat. pt. sp. gota, okz. gòt ‚Glas‘, it. gotta, rum. gută ‚Gicht‘, sard. gutta [ɣ] stimmhafter velarer Frikativ, gal. pt. sp. seguro ‚sicher‘, kat. segur, sard. su gattu ‚der Kater‘ [ɫ] stimmhafter velarer Lateral, kat. pt. mal ‚schlecht‘ [R] stimmhafter uvularer Vibrant, frz. porte ‚Tür‘, europ. pt. carro ‚Wagen‘ [ʁ] stimmhafter uvularer Frikativ, frz. porte ‚Tür‘ [χ] stimmloser velarer Frikativ, sp. hijo ‚Sohn‘ [h] stimmloser Hauchlaut, am. sp. hijo, brasil. pt. os rios ‚die Flüsse‘, rum. hoţ ‚Räuber‘
Zeichenerklärungen
XXXIII
Sonstiges [:] Länge [.] halb lang oder Silbengrenze [ˈ] Druckakzent vor einer Silbe, Palatalisierung nach einem Konsonanten [ˌ] Nebenakzent bzw. Nebenton /./ [.] in einer phonologischen oder phonetischen Transkription Zeichen einer Silbengrenze
Teil I: Sprachbeschreibung
1 Das Sprechen im Allgemeinen „Die romanische Sprachwissenschaft ist, ihrer Begrenzung nach, ein Universitätsfach, keine Einzelwissenschaft. Als solche kann nur die Sprachwissenschaft schlechthin gelten; wir haben keine Sprachwissenschaften, sonst hätten wir deren tausend und abertausend, vielfach ineinandergeschachtelte“ (Schuchardt-Brevier 315). „Von allen Sprachgruppen ist, dank den besonderen Umständen ihrer geschichtlichen Überlieferung, keine lehrreicher als die romanische“ (Schuchardt-Brevier 316).
1.0 Das Vorwissen der Sprecher Die Motti von Hugo Schuchardt (1842–1927) gelten idealiter, ihre Formulierung ist allerdings zeitbedingt. In diesem Sinne betreibt jemand, der sich mit romanischen Sprachen beschäftigt, zunächst einmal Sprachwissenschaft schlechthin. Insofern betrifft das Folgende grundsätzlich alle Sprachen, nicht nur die romanischen. Die Beispiele sind aber den romanischen Sprachen entnommen. Dies bedeutet dennoch nicht, dass sich die allgemein-sprachlichen Probleme für alle Sprachen in gleicher Weise stellen. Da bestimmte Sprachen und Sprachgruppen besondere Beschreibungsprobleme mit sich bringen, werden von Fall zu Fall besondere sprachliche Bereiche betont. Insbesondere stellen sich die Probleme anders, je nachdem ob wir die eigene Sprache oder eine Fremdsprache untersuchen. In Einführungen in die Sprachwissenschaft wird dagegen üblicherweise ein anderer Weg eingeschlagen. Es wird zwar eine Einzelsprache zugrundegelegt, zugleich aber werden in diesem Zusammenhang allgemein-sprachliche Gesichtspunkte behandelt. Zwar hängt alles mit allem zusammen, wir wollen jedoch versuchen, die sprachlichen Phänomene nach denjenigen Ebenen zu trennen, die zwar fast allgemein anerkannt, aber dennoch nicht allgemein angewandt werden. Wir müssen einzelsprachliche Fragestellungen als solche genauso ernst nehmen wie die allgemein-sprachlichen und trennen daher beides voneinander. Über Sprache glaubt jeder leicht mitreden zu können. Im Grunde ist dies auch richtig, denn alles, worum es hier geht, ist den Sprechern einer Sprache bekannt oder es kann ihnen bekannt sein, wenn sie ein wenig innehalten. Wenn wir die Sprecherperspektive einnehmen, bedeutet dies, dass wir das Verständnis der Sprecher von ihrer Sprache zur Grundlage unserer wissenschaftlichen Begriffsbildung machen. Die Sache bringt aber eine Schwierigkeit mit sich. Denn man mag einwenden: Wozu muss ich Sprachwissenschaft betreiben, wenn ich als Sprecher ohnehin schon alles weiß? Bloßes Wissen ist aber noch keine Wissenschaft. Ein muttersprachlicher Sprecher glaubt in der Regel, dass er erkannt hat, was ihm bloß bekannt ist. Wissenschaft besteht jedoch darin, das Bekannte zum Erkannten zu machen. Das Bekannte wird dadurch zum Erkannten gemacht, dass man es explizit macht, d. h. mit möglichst ausdrücklichen Worten feststellt. Jedes Mal wenn ich „explizit“ oder https://doi.org/10.1515/9783110476651-001
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
„explizitieren“ verwende, soll also das bloß Bekannte zum Erkannten gemacht werden. Meine Sprache ist mir als Sprecher selbstverständlich und trivial. Sie ist mir aber nur bekannt, ich habe sie nicht erkannt. Da dies so ist, herrschen bei den Sprechern im Alltagsverständnis oft falsche Meinungen von einer Sprache, sogar ihrer eigenen, wenn sie über sie sprechen; dies kann gelegentlich auch für Sprachwissenschaftler als Sprecher gelten. Die Sprecher irren sich dagegen im Allgemeinen nicht, wenn sie ihre Sprache verwenden. Mit „Sprecher“ meine ich das Ich, das jeweils spricht, und das mit einem Du zusammen die Sprache zuwege bringt. Die Universalität des Sprechens liegt vor der Unterscheidung der Menschen nach Geschlechtern. Deshalb ziehe ich, wenn der Geschlechtsunterschied auf keinen Fall gemeint ist, eine neutrale Ausdrucksweise vor, für die wir in der Regel im Deutschen das Maskulinum zur Verfügung haben. Erst dann, wenn der Geschlechtsunterschied relevant ist, wird er ausdrücklich benannt. In der Sprachwissenschaft müssen wir eine reflexive Distanz zu unserem wissenschaftlichen Gegenstand einnehmen. Diese reflexive Distanz ist erkenntnisfördernd, besonders bei einer fremden Sprache, denn das „erste Fremde“ ist die fremde Sprache. Fremd kann eine Mundart sein, ein Fachwortschatz, ein Jargon. Aber all dies ist weniger fremd als die fremde Sprache, die an das eigene Sprachgebiet angrenzt und doch völlig unverständlich ist, ganz zu schweigen von den nicht durch direkte Kontakte bekannten Sprachen. Nicht selten werden diejenigen, die aus Dialektgebieten stammen oder im Kontakt mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, aus einer natürlichen reflexiven Distanz heraus zu Sprachwissenschaftlern. Bei meinen Fragestellungen gehe ich wie die Sprecher immer von der Sprache selbst aus, nicht von der Sprachwissenschaft. Ich spreche über die Welt als jemand, der schon Sprache hat. Als Sprecher bin ich mir mehr der Welt als der Sprache bewusst. Als Sprachwissenschaftler weiß ich aber, dass ich ohne Sprache nicht auskommen kann. Ich habe sie bereits und ich habe vergessen, wie ich zu ihr gekommen bin. Wir haben eben unser sprachliches Wissen so früh in der Kindheit – irgendwann vor und nach dem ersten Lebensjahr mit langen Phasen des bloßen Hörens und Zeigens – erworben, dass wir später nicht mehr an uns selbst erfahren können, auf welche Weise wir es erworben haben. Aber kleine Kinder wissen noch, von wem sie einzelne Wörter oder Redewendungen gelernt haben. Allerdings vergessen sie das sehr schnell wieder. Da wir ein früh erworbenes Vorwissen von der Sprache haben, ist die allem zugrundeliegende implizite Frage immer: „Was ist Sprache?“ Nicht: „Was ist Sprachwissenschaft?“ Jede Antwort auf die Frage, was Sprache ist, ist bereits Sprachtheorie. Daran ändert nichts, dass die Antworten oft falsch oder naiv sind. In einer Wissenschaft, die so differenziert betrieben wird wie die Sprachwissenschaft, ist es vor allem anderen wichtig, dass man sich über ihren Gegenstand im Klaren ist. Sprachtheorie gibt es – oder soll es – in diesem Verständnis nur im Singular geben, auch wenn die sprach-
1.0 Das Vorwissen der Sprecher
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theoretischen Auffassungen der Sprachwissenschaftler verschieden sind, denn sie betreiben einfach Sprachtheorie. Dieser Gebrauch ist altgriechisch. In dieser Sprache bedeutet theoría „Betrachtung“, „Anschauung“. Ich verwende also „Theorie“ in dem Sinne, dass jeder Tätigkeit, in unserem Fall dem Sprechen, eine Theorie zugrundeliegt. Auch jemand, der behauptet, keine Theorie zu haben, hat eine und ebenso jemand, der vorgibt, theoriefeindlich zu sein. Wenn man eine Tätigkeit ausübt, verfährt man immer in einer bestimmten Art und Weise. Daraus ergibt sich der Schluss, dass jemand, der einmal so und einmal anders verfährt, eben theoretisch inkonsequent ist. Diese Inkonsequenz möchte ich vermeiden. Es gibt auch einen anderen Begriff von „Theorie“, der heute weiter verbreitet ist. Er besteht darin, das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit Theorie zu nennen. Dieser Begriff hat ebenfalls eine interne Kohärenz. Ich werde ihn hier nicht verwenden, denn er erlaubt keine Gesamtsicht der Sprache. Die Arten und Weisen, Sprachwissenschaft zu betreiben, sind unübersehbar geworden. Eines aber ist sicher: Die sprachwissenschaftlichen Theorien in diesem zweiten Sinne von „Theorie“ sind sehr oft nicht miteinander kompatibel. In der Sprachwissenschaft hat die Theorie eine besondere Stellung, die es in dieser Weise in anderen Wissenschaften nicht gibt. Theorie ist für die Sprachwissenschaft fundamental, weil die Sprachwissenschaft eine Grundlagenwissenschaft ist, darin vergleichbar mit solchen Wissenschaften wie Theologie oder Rechtswissenschaft. Aber auch diesen Wissenschaften geht die Sprache voraus, denn um sich über den Glauben und das Recht zu verständigen, braucht man eben schon Sprache. Die Sprachlichkeit unserer Erfahrung ist nicht hintergehbar. Das Sprechen ist eine Tätigkeit, die andere Tätigkeiten erst möglich macht. Ohne sie gäbe es keine Arbeitsteilung, keine Gesellschaft in unseren differenzierten Formen, keine kulturellen Tätigkeiten, keine Literatur, keine Wissenschaften. Da Sprache zusammen mit anderen menschlichen Tätigkeiten vorkommt, die auf ihr gründen, ist es umso wichtiger, in einem ersten Schritt die Sprache von dem zu trennen, was man mit ihr alles machen kann. Diese Trennung ist notwendigerweise eine Sache der Theorie. Natürlich wird die Theorie, nach der man verfährt, meist nicht ausdrücklich dargelegt; darin liegt ein großes praktisches Problem. Eine Klärung nimmt man allenfalls vor, wenn eine Schwierigkeit auftaucht. Bei der Erlernung einer Tätigkeit wird mit Erklärungen nachgeholfen, wenn die Nachahmung allein nicht zum Erfolg führt. Völlig explizit ist man dabei nie. Explizitheit würde im Alltagsleben nur stören. In der Sprachwissenschaft – um bei unserem spezifischen Thema zu bleiben – bemüht man sich dagegen, die Wissenschaft, die man betreibt, explizit zu betreiben. Dies steht im schärfsten Gegensatz zum alltäglichen Umgang mit Sprache, in dem übermäßige Explizitheit als störend empfunden wird. An dieser Stelle sollte jemand, der sich für Sprache interessiert, prüfen, ob dieses Interesse zu einer reflexiven Beschäftigung mit Sprache und Sprachen, d. h. zur Sprachwissenschaft führen soll. Wenn man mit Sprache nicht reflexiv umgehen will, ist davon abzuraten, Sprachwissenschaft zu betreiben.
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Programmatische Äußerungen sollte man übrigens nicht unbesehen für Theorie halten. Diese enthalten oft nicht die ganze Theorie und oft wird zum Teil etwas anderes getan, als was proklamiert wird. Zurück zur Frage: „Was ist Sprache?“ Wir sind bei der Explizitierung immer nur auf dem Wege der Annäherung an unseren Gegenstand. Unsere Frage ist dennoch immer und sollte immer sein: „Was ist Sprache, was ist Bedeutung, was ist ein Dialekt?“ Dies mag den Eindruck einer naiven Ontologie erwecken, der jedoch nicht begründet ist. Mit „Ontologie“, eigentlich die philosophische „Lehre vom Sein“, ist hier nur die Annahme gemeint, dass etwas tatsächlich für uns existiert. Ganz allgemein gesprochen geht es darum, dass wir, bevor wir uns mit einem „Gegenstand“ wissenschaftlich beschäftigen, eine gewisse vorgängige Auffassung von ihm haben. Dieser Gegenstand ist nicht einfach „gegeben“, sondern gewinnt klarere Konturen oder verändert seine Gestalt während der wissenschaftlichen Arbeit. Er wird am Ende der wissenschaftlichen Arbeit anders „gegeben“ sein als an ihrem Anfang. Diese ist ein hermeneutischer Prozess: Je mehr wir uns einer Sache widmen, desto besser verstehen wir sie. Die Hermeneutik ist die Kunst der Auslegung, sie bedarf der Sprache und macht das Verstehen erst zugänglich. Der Sprachwissenschaftler als Subjekt steht dabei einem anderen Sprecher und seiner Sprache gegenüber, er hat an einem anderen Subjekt und seiner Sprache teil. Freilich ist das Vorwissen zunächst dunkel. An dieser Stelle setzt die hermeneutische Methode an. Sie geht jeder wie auch immer gearteten methodisch fundierten Untersuchung voraus. Man kann vermeiden, seine hermeneutische Arbeit zu reflektieren, ich halte das aber für einen Mangel. Damit will ich keineswegs behaupten, dass sich die linguistischen Arbeitsmethoden auf die Hermeneutik reduzieren lassen, ihr kommt aber der Primat zu. In einem Sprachwissenschaftler haben wir einen Menschen gesehen, der selbst schon Sprache hat und deshalb weiß, was er tut, wenn er spricht, und seine Sprachwissenschaft auf dieses Wissen gründen kann. Diese Grundlage der Sprachwissensschaft haben wir Vorwissen genannt. Weil er dieses Vorwissen besitzt, hat er auch ein sprachliches Vorverständnis. Dennoch ist dies nicht die allgemein anerkannte Grundlage der Sprachwissenschaft. Vielmehr nimmt man als weitverbreitete Methode sprachwissenschaftlicher Untersuchungen die Hypothesenbildung. Eine Hypothese soll zur Klärung sprachlicher Phänomene führen und intersubjektiv überprüfbar sein. Ohne Frage kommt man auf diese Weise zu sinnvollen Ergebnissen. Man kommt zu ihnen aber auf einem Umweg, denn man tut so, als wüsste man nichts von der Sprache und als würde man sie wie einen Naturgegenstand behandeln, zu dem wir keinen intuitiven Zugang hätten und als verstünde man nichts von der Sache. Denn die Hypothesenbildung ist eine naturwissenschaftliche Methode. Wir wenden sie auf Naturgegenstände an, weil wir von ihnen kein Vorwissen in dem Sinne haben, in dem uns die Gegenstände gegeben sind, die von Menschen gemacht worden sind, denn wir haben sie gerade nicht geschaffen. Die Erkenntnis der Kultur und die Erkenntnis der Natur sind grundsätzlich verschieden. Das sollte sich in den Wissenschaften widerspiegeln.
1.1 Die sprachlichen Ebenen und die Sprachkompetenz
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Sprachwissenschaft ist viel umfassender als Sprachtheorie und beinhaltet insbesondere auch eine Vielfalt von Methoden der Datenerhebung, der Theorien der Beschreibung und anderes. Die sprachwissenschaftlichen Fragen, die man untersucht, ergeben sich immer aus den sprachtheoretischen, d. h. aus den Annahmen über den Gegenstand Sprache, zu dem wir über unser Wissen Zugang haben, – oder sollten sich daraus ergeben. Eine Behandlung der allgemeinen und romanischen Sprachwissenschaft aus der Sicht der Sprachwissenschaft, nicht der Sprachen, würde bereits eine Festlegung auf bestimmte Methoden der Erforschung von Sprachen und ihrer Beschreibung bedeuten. Dies mag zwar legitim sein, ist aber schon eine starke Einschränkung. Ich lege also die Sprache zugrunde und schließe mögliche sprachwissenschaftliche Fragen daran an. Dies hat einen großen Vorteil, denn nur auf diesem Wege lässt sich der Zusammenhang zwischen den Teildisziplinen der Sprachwissenschaft und ihren verschiedenen Richtungen verstehen. In diesem Sinne beschäftigen wir uns im 1. Kapitel mit allgemeiner Sprachwissenschaft. Der zentrale Unterschied zwischen Sprachtheorie und Sprachwissenschaft wird durch die Ausdrücke „theoretische Sprachwissenschaft“ (z. B. Lyons 1968) und, mehr noch, durch „linguistische Theorie“ verwischt (cf. 1.1.2). Sie kommen aus dem englischsprachigen Raum, in dem man nicht mit derselben Deutlichkeit wie im Deutschen den Unterschied zwischen dem Gegenstand einer Wissenschaft und der Wissenschaft selbst herausarbeitet. Ein solcher Theoriebegriff stützt sich auf eine bereits methodenabhängige Konzeption eines Gegenstandes. Es wird dabei nicht die Erfassung des Gegenstands selbst von den Methoden seiner Erforschung und Beschreibung getrennt. Beides wird mit „theoretischer Sprachwissenschaft“ oder „Linguistik“ nicht auseinandergehalten.
1.1 Die sprachlichen Ebenen und die Sprachkompetenz „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. Denn in dem zerstreuten Chaos von Wörtern und Regeln, welches wir wohl eine Sprache zu nennen pflegen, ist nur das durch jenes Sprechen hervorgebrachte Einzelne vorhanden und dies niemals vollständig, auch erst einer neuen Arbeit bedürftig, um daraus die Art des lebendigen Sprechens zu erkennen und ein wahres Bild der lebendigen Sprache zu geben“ (Humboldt 1963d: 418; meine Hervorhebungen).
So unauffällig beginnt die Diskussion um die Ebenen der Sprache, die bei Wilhelm von Humboldt (1767–1835) als das jedesmalige Sprechen, die Totalität dieses Sprechens und eine Sprache eingeführt werden. Dafür finden wir bei ihm ferner Rede, Sprache im
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Allgemeinen und eben Sprache. Damit sei der Beginn der Entwicklung dieser grundlegenden Termini markiert. Bei Humboldt sind sie noch keine eigentlichen Termini, sondern Wörter der deutschen Sprache, die zur begrifflichen Klärung eingesetzt werden, so etwa, wenn er die Philologie dem „allgemeinen Sprachstudium“ entgegensetzt, das „die Sprache im Allgemeinen zu ergründen strebt“ (1963a: 10), oder in einer Kapitelüberschrift, die „Von der Natur der Sprache und ihrer Beziehung auf den Menschen im Allgemeinen“ (1963b: 191) lautet. Ich werde sie nicht bei Humboldt diskutieren, weil ich nicht in die Auslegung seiner Sprachphilosohie eintreten will, sondern bei der Umsetzung in der Sprachwissenschaft ansetzen möchte. Dies geschieht in den Werken von Georg von der Gabelentz und Ferdinand de Saussure. Auf Humboldt beruft sich gleichfalls Noam Chomsky, der als Aufgabe der Sprachtheorie die Beschreibung des Sprachwissens sieht, das er Sprachkompetenz nennt. Aus der kritischen Aufarbeitung dieses Denkansatzes haben sich weit divergierende Forschungsrichtungen entwickelt, die man nicht in einem Atemzug zu nennen gewohnt ist. Es handelt sich zum einen um die generative Transformationsgrammatik mit ihren Weiterentwicklungen, zum anderen um die kritische Entfaltung des Begriffs der Sprachkompetenz als Ausgestaltung des sprachlichen Wissens durch Coseriu, die in jüngster Zeit das Verständnis der Sprache als Arten von Wissen gefördert hat, das in Traditionen weitergegeben wird. Die Diskussion setzt so grundlegend an, dass die Alternative an dieser Stelle aufgezeigt werden muss.
1.1.1 Die sprachlichen Ebenen Es werden zunächst zwei Auffassungen diskutiert, diejenigen von Georg von der Gabelentz (1840–1893) und von Ferdinand de Saussure (1857–1913). Darauf folgt die Sprachauffassung, die dann im Folgenden vertreten werden soll. Die sprachlichen Ebenen sind in der Sprache selbst gegeben, sie sind nicht erst in der sprachwissenschaftlichen Betrachtung anzunehmen. Obwohl sie seit sehr langer Zeit in der Geschichte des Sprachdenkens bekannt und vor ihm besonders, wenn auch knapp von Wilhelm von Humboldt formuliert worden sind, hat erst Georg von der Gabelentz diese Unterscheidung in einem unverkennbaren Bezug zu Humboldt aufgegriffen. Das Dilemma dieses Bezugs drückt er sehr anschaulich aus: „Wer es liebt, in den Grundanschauungen unserer Wissenschaft den Prioritätsanprüchen nachzuforschen, der versäume nicht, auch bei diesem gedankenreichsten unter den Sprachforschern anzufragen. Es ist wohl nicht allemal leicht zu sagen, dass er gerade den gesuchten Gedanken gedacht habe; es ist noch viel schwerer zu sagen, dass er einen richtigen Gedanken nicht gehabt habe“ (1969: 28–29).
Ihm kommt das Verdienst zu, diese Unterscheidung systematisch und explizit in seinem Werk Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse (21901, Nachdruck 1969) eingeführt zu haben. Seine Ausdrücke dafür sind Rede,
1.1 Die sprachlichen Ebenen und die Sprachkompetenz
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Einzelsprache und Sprachvermögen. Er führt sie nicht nur ein, sondern legt sie seinem Werk zugrunde, aber nicht nur als Sprache, wie sie für die Sprecher existiert, sondern in Verbindung mit der Forschung. Weil er in exemplarischer Weise Konsequenzen aus seiner Unterscheidung gezogen hat, soll sie in extenso zitiert werden (die Hervorhebungen durch Sperrung gehen hier und im Folgenden auf Gabelentz zurück): „Jeder gegliederte Gedankenausdruck ist selbstverständlich ein gewollter und in der Regel eindeutiger. Daher bedürfen wir dieser zwei Merkmale nun nicht länger und fassen unsere Definition dahin zusammen: M e n s c h l i c h e S p r a c h e i s t d e r g e g l i e d e r t e A u s d r u c k d e s Gedankens durch Laute. Es sei schon hier bemerkt, dass diese Definition ein Mehreres in sich fasst. Zunächst gilt die Sprache als Erscheinung, als jeweiliges Ausdrucksmittel für den jeweiligen Gedanken, d. h. als R e d e . Zweitens gilt die Sprache als eine einheitliche Gesammtheit solcher Ausdrucksmittel für jeden beliebigen Gedanken. In diesem Sinne reden wir von der Sprache eines Volkes, einer Berufsklasse, eines Schriftstellers u.s.w. Sprache in diesem Sinne ist nicht sowohl die Gesammtheit aller Reden des Volkes, der Classe oder des Einzelnen, – als vielmehr die Gesammtheit derjenigen Fähigkeiten und Neigungen, welche die Form, derjenigen sachlichen Vorstellungen, welche den Stoff der Rede bestimmen. Endlich, drittens, nennt man Sprache, ebenso wie das Recht und die Religion, ein Gemeingut der Menschen. Gemeint ist damit das S p r a c h v e r m ö g e n , d. h. die allen Völkern innewohnende Gabe des Gedankenausdruckes durch Sprache“ (Gabelentz 1969: 3).
Für die Sprache als „einheitliche Gesammtheit solcher Ausdrucksmittel für jeden beliebigen Gedanken“ und „die Gesammtheit derjenigen Fähigkeiten und Neigungen, welche die Form, derjenigen sachlichen Vorstellungen, welche den Stoff der Rede bestimmen“ verwendet Gabelentz sonst Einzelsprache, aber eher in den Kapitelüberschriften als im Text, da auch er diesen Ausdruck nicht als konstanten Terminus verwendet. Die Einzelsprache liegt der Rede zugrunde, die Untersuchung der Einzelsprache erklärt die Rede: „Der Gegenstand der einzelsprachlichen Forschung, die Erscheinung, die sie erklären will, ist, – dies sei nochmals hervorgehoben, – die Sprache als Äusserung, das heisst die R e d e . Wie kommt in der zu bearbeitenden Einzelsprache die Rede zustande, und warum gestaltet sie sich gerade so? Eine Äusserung erklären heisst, die ihr zu Grunde liegenden Kräfte nachweisen. Die Rede ist eine Äusserung des einzelnen Menschen, die sie erzeugende Kraft gehört also zunächst dem Einzelnen an. Aber die Rede will verstanden sein, und sie kann nur verstanden werden, wenn die Kraft, der sie entströmt, auch in dem Hörer wirkt. Diese Kraft, – ein Apparat von Stoffen und Formen, – ist eben die Einzelsprache“ (Gabelentz 1969: 59). „Die einzelspr achliche Forschung als solche hat die Spr ache nur so, a b e r a u c h g a n z s o z u e r k l ä r e n , w i e s i e s i c h j e w e i l i g i m Vo l k s g e i s t e d a r s t e l l t “ (Gabelentz 1969: 60).
Damit wird die Disziplin eingeführt, deren Gegenstand die Einzelsprache ist, die „einzelsprachliche Forschung“. Dementsprechend trägt das zweite Buch von Die Sprachwissenschaft den Titel „Die einzelsprachliche Forschung“. Merkwürdig ist dann, dass
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Gabelentz feststellt, die „allgemeine Sprachwissenschaft“ habe „das menschliche Sprachvermögen selbst zum Gegenstande“ (1969: 302), jedoch in dem der „allgemeinen Sprachwissenschaft“ gewidmeten vierten Buch in der Hauptsache die Rede behandelt. Den Gegenstand der allgemeinen Sprachwissenschaft werden wir noch präzisieren müssen. Obwohl Gabelentz die grundlegenden Unterscheidungen getroffen hat, beruft man sich in der modernen Sprachwissenschaft nicht auf ihn, sondern auf den Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der im Cours de linguistique générale (Paris 1916) diese Unterscheidungen aufgegriffen hat (Coseriu 1969). Saussure zitiert Gabelentz nicht, da er den Cours nicht selbst herausgegeben hat, sondern dieses Werk aus den Mitschriften mehrerer Vorlesungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft entstanden ist. Wie in einer Vorlesung üblich, hat Saussure dabei nicht alle Quellen genannt, vor allem nicht das Werk Gabelentzens, das seinen kompetenten Hörern mit Sicherheit bekannt gewesen ist. Wie dem auch sei – das Problem des Einflusses von Gabelentz auf Saussure bleibt zum Teil kontrovers –, Saussure unterscheidet parole, langue und langage bzw. faculté du langage. Diese Dreiteilung entspricht nicht ganz genau der Gabelentzschen. Vor allem ist Saussures langue nicht das Gleiche wie Gabelentzens Einzelsprache. Meiner Übersetzung von Auszügen aus dem Cours muss ich einige Worte vorausschicken. Niemand konnte am Anfang des 20. Jahrhunderts wissen, dass die französischen Wörter langage, langue und parole als Fachausdrücke im Sinne Saussures gebraucht werden würden. Aber in einer Übersetzung kann man dieser Tatsache besser Ausdruck verleihen als in der Ausgangssprache und dadurch verdeutlichen, dass Saussure diese Wörter der französischen Sprache zu Termini gemacht hat. Im Deutschen hat man dagegen immer das Problem, Sprache durch weitere Bestimmungen („im Allgemeinen“, „Einzel-“) differenzieren zu müssen. Ferdinand de Saussure nimmt sich nun vor, in radikaler Wendung gegen die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts den Gegenstand der Sprachwissenschaft zu bestimmen. Dieser Gegenstand ist für ihn die langue: ,Was aber ist die langue? Für uns fällt sie nicht mit dem langage zusammen, sie ist nur ein bestimmter, freilich wesentlicher Teil davon. Sie ist ein Erzeugnis des Sprachvermögens in der Gesellschaft und zugleich ein Ensemble von notwendigen Konventionen, die die Gesellschaft sich zu eigen gemacht hat, um die Ausübung dieses Vermögens bei den Einzelnen zu erlauben. Als Ganzes genommen ist der langage vielgestaltig und von Unregelmäßigkeit geprägt. Er greift auf mehrere Bereiche über – auf den der Physik, der Physiologie, der Psychologie gleichzeitig – und gehört außerdem noch zum Bereich des Einzelnen und zum Bereich der Gesellschaft: Er lässt sich in keine Kategorie des Menschlichen einordnen, weil man nicht weiß, wie man seine Einheit herausarbeiten soll. Die langue dagegen ist ein in sich geschlossenes Ganzes und ein Klassifikationsprinzip. Sowie wir ihr den obersten Platz unter den Erscheinungen des langage einräumen, führen wir eine natürliche Rangordnung in ein Ganzes ein, das keine andere Klassifikation zulässt‘ (Saussure 1916: 25; meine Übersetzung; cf. Wunderli 2013: 73).
1.1 Die sprachlichen Ebenen und die Sprachkompetenz
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Wir wollen versuchen, Saussure aus sich heraus zu verstehen. Die Überschrift („§ 1 Die langue; ihre Definition“) und der Text versprechen zwar eine Definition, sie wird aber im eigentlichen Sinne nicht gegeben. Vielmehr nähert Saussure sich ihr über negative Bestimmungen. In einem ersten Schritt wird die langue gegenüber dem langage abgegrenzt. Was zum langage gehört, ist Gegenstand mehrerer Wissenschaften: Die Physik wird wegen der Akustik genannt, die die Schallwellen untersucht; die Physiologie betrachtet die Artikulation der Laute; die Psychologie, damals eine Leitwissenschaft, ist deshalb so zentral, weil nicht das konkrete Sprechen von Saussure in den Vordergrund gestellt wird, sondern die akustischen Vorstellungen und die Vorstellungen von den sprachlichen Bedeutungen. ‚Wenn wir die Summe der bei allen Einzelmenschen gespeicherten Wortvorstellungen auf einmal umgreifen könnten, würden wir das gesellschaftliche Band fassen, das die langue bildet. Sie ist ein Schatz, der durch die Praxis der parole in den zu ein und derselben Gemeinschaft gehörenden Sprechern abgelagert wird, ein als Möglichkeit in jedem Gehirn oder genauer in den Gehirnen einer Gesamtheit von Einzelmenschen existierendes Grammatiksystem, denn die langue ist in keinem vollständig da, sie existiert vollkommen nur in der Masse. Trennt man die langue von der parole, so trennt man gleichzeitig: 1. das voneinander, was der Gesellschaft angehört, und das, was dem Einzelnen angehört; 2. das, was wesentlich ist, von dem, was nebensächlich oder mehr oder weniger zufällig ist. […] Die parole ist […] ein individueller Willens- und Verstandesakt, bei dem es sich empfiehlt, Folgendes zu unterscheiden: 1. die Kombinationen, in welchen der Sprecher den Code der langue für den Ausdruck seines eigenen Denkens verwendet; 2. den psychisch-physischen Mechanismus, der es ihm erlaubt, diese Kombinationen zu äußern. […] Fassen wir die Hauptmerkmale der langue zusammen: 1. Sie ist ein in der uneinheitlichen Gesamtheit der Phänomene des langage gut abgegrenzter Gegenstand. Man kann sie in genau demjenigen Abschnitt des Kreislaufes [der parole] lokalisieren, in dem eine Hörvorstellung mit einem Begriff assoziiert wird. Sie ist der gesellschaftliche Teil des außerhalb des Einzelmenschen stehenden langage, der sie allein weder schaffen noch verändern kann. Sie existiert nur kraft einer Art Vertrag, der unter den Mitgliedern der Gemeinschaft geschlossen worden ist. Andererseits braucht der Einzelne Zeit, um sie zu erlernen und ihr Zusammenspiel kennen zu lernen. Das Kind eignet sie sich erst nach und nach an. Sie ist so sehr etwas deutlich Unterschiedenes, dass ein nicht über den Gebrauch der parole verfügender Mensch die langue behält, wenn er nur die Lautzeichen versteht, die er hört. 2. Die langue, als etwas von der parole Verschiedenes, ist ein Gegenstand, den man getrennt untersuchen kann. Wir sprechen keine toten Sprachen mehr, wir können uns aber sehr wohl ihren Sprachorganismus aneignen. Nicht nur kann die Wissenschaft von der langue die anderen Elemente des langage entbehren, sondern sie ist nur möglich, wenn diese anderen Elemente nicht mit ihr vermengt werden. 3. Während der langage heterogen ist, ist die so abgegrenzte langue von homogener Natur: Sie ist ein Zeichensystem, in dem es nichts Wesentliches außer der Verbindung der Bedeutung mit der Hörvorstellung gibt und in dem die beiden Teile des Zeichens gleichfalls psychisch gegeben sind. 4. Die langue ist nicht weniger als die parole ein Gegenstand von konkreter Natur, was ein großer Vorteil für die Untersuchung ist. Mögen die sprachlichen Zeichen wesenhaft in der Psyche existieren, so sind sie doch keine Abstraktionen. Die durch das kollektive Einverständnis verbindlich
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
gewordenen Assoziationen, deren Gesamtheit die langue bildet, sind Realitäten, die ihren Sitz im Gehirn haben‘ (Saussure 1916: 30–32; meine Übersetzung; cf. Wunderli 2013: 81, 83).
Das Verhältnis von langage, langue und parole zueinander kann man nach diesem Textauszug mit dem folgenden Schema resümieren:
Abb. 1.1: langage
Der langage umfasst aber weit mehr als langue und parole allein. Während das Sprachvermögen dem Menschen angeboren ist, muss die langue erst erworben werden. In dieser Hinsicht ist die langue das, wodurch der langage in der Gesellschaft zu einer Gesamtheit von Konventionen wird und es dem Einzelnen ermöglicht, seinem Sprachvermögen Gestalt zu verleihen. Immer wieder kommt Saussure auf den Gedanken zurück, dass die langue ein Ganzes ist. Wenn er die langue „die Summe […] der Wortvorstellungen“ und auch „ein[en] Schatz“ nennt, trifft er sich mit Gabelentzens „Apparat von Stoffen und Formen“. Ein Problem ist aber, dass die langue nur in der „Masse“ vollständig existiere, während die parole ein individuelles Phänomen sei. Man ist heute nicht unbedingt bereit, Saussure in diesem Punkt zu folgen: Ein Sprecher kann zwar diejenige parole realisieren, die seiner langue entspricht. Die langue der Masse kann dagegen unmöglich in der parole des Einzelnen erscheinen. Diese Dichotomie ist aber auch in der Weise zu verstehen, dass die langue im Gehirn des Einzelnen existiert und dass dies bei jedem Einzelnen in einer Gesellschaft der Fall ist. Die Verbindung zwischen der langue des einen Menschen mit der langue des anderen wird dann durch den „Kreislauf der parole“ hergestellt, dem Kommunikationsmodell von Saussure. Die langue ist dort zu lokalisieren, wo Hörvorstellung und Begriff im Gehirn miteinander assoziiert werden. Die Einzelsprache, wie wir sie verstehen wollen, enthält auch Dialekte, soziale Unterschiede, Sprachstile, d. h. Sprachvariation und Varietäten, während die langue von Saussure als homogen gedacht wird, als System, das die Voraussetzung für die Realisierung des Sprechens des Einzelnen in der parole ist. Saussure ging es um die Bestimmung des eigentlichen Gegenstandes der Sprachwissenschaft im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften, die sich ebenfalls mit Sprache befassen. Diesen eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft sieht er in der langue gegeben. Für uns ist heute nach einem Jahrhundert intensiver Theoriediskussion diese Selbstbegrenzung, die zeitgebunden und damals richtig gewesen sein mag, keine Notwendigkeit mehr. Im Gegenteil, gegenüber einer zunehmenden Spezialisierung muss heute ein Sprachbegriff begründet und vertreten werden, der alles enthält, was zur Sprache gehört. In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass in der Dreiteilung der sprachlichen Ebenen alles zur Sprache Gehörende enthalten ist.
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In europäischen Einführungen in die Sprachwissenschaft wird Saussures Unterscheidung von langage, langue und parole regelmäßig behandelt. Dies wird mit der Annahme verbunden, dass die Unterscheidung grundlegend für die Sprache und somit für die Sprachwissenschaft sei. Dennoch wird diese für grundlegend angesehene Unterscheidung meines Wissens nicht als Gliederungsprinzip für die verschiedenen sprachlichen Bereiche genommen, die in einer Einführung in die Sprachwissenschaft behandelt werden. Die spezifische Systematisierung dieser Wörter der französischen Sprache als Termini ist Saussure eigen, auch wenn man sie, wie wir gesehen haben, wohl auf Gabelentz zurückführen kann. Wir wollen aber sehr vorsichtig mit der Behauptung sein, dieser oder jener Autor hätte diesen oder jenen Begriff oder Terminus als Erster verwendet. Derlei Behauptungen sind mit Fug und Recht erst nach einer begriffsgeschichtlichen Untersuchung aufzustellen. Begriffe haben eine lange Geschichte. Manche Texte werden durch ihre Rezeption prägend, im Rückbezug auf sie beruft man sich auf die sich daraus herleitende Tradition. Saussures Cours de linguistique générale ist ein solcher Referenztext, dazu noch ein ganz besonders zentraler. Man kann sich natürlich auch gegen die Tradition stellen und einen Bruch mit ihr herbeiführen. Oft genug sind solche Traditionsbrüche weniger tiefgreifend, als es scheint.
Wir erinnern uns, dass zentrale Phänomene der Rede von Georg von der Gabelentz der allgemeinen Sprachwissenschaft zugeordnet worden sind. Die Rede steht dabei für die Sprache als Äußerung. Dieser Sprache als Äußerung liegt die Einzelsprache zugrunde. In der Rede spricht der Mensch aber auch über die Welt schlechthin. Dieses Sprechen über die Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit hat Wilhelm von Humboldt „Sprache im Allgemeinen“ genannt. Die Sprache im Allgemeinen ist in jeder Einzelsprache enthalten, da jede Einzelsprache die Inhalte und Ausdrücke bereitstellt, mit denen wir über die Welt sprechen. Das Sprachvermögen umgreift alle sprachlichen Ebenen. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit Humboldt, Gabelentz, Saussure und anderen fasst Eugenio Coseriu (1921–2002) die Ergebnisse in einer allgemeinen Theorie des Sprechens als „kulturelle Form des Sprechens“ zusammen (21992: 1–33, 57–185). Die kritischen Schriften, die zu dieser Definition geführt haben, setze ich in diesem Zusammenhang voraus und komme zu dieser Definition selbst: „Die kulturelle Form des Sprechens, d. h. seine eigentliche und bestimmende Form, ist so zu charakterisieren: Das Sprechen ist eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die jeweils von individuellen Sprechern als Vertretern von Sprachgemeinschaften mit gemeinschaftlichen Traditionen des Sprechenkönnens individuell in bestimmten Situationen realisiert wird. Unsere Definition hebt hervor, daß sich in der kulturellen Schicht des Sprechens wiederum drei Ebenen unterscheiden lassen: 1. Das Sprechen weist allgemein-menschliche, universelle Aspekte auf; es ist ‚Sprechen im allgemeinen‘. Alle erwachsenen und normalen Menschen sprechen. […]
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
2. 3.
Jedes Sprechen ist Sprechen in einer bestimmten Einzelsprache. Man spricht nämlich immer in einer bestimmten historischen Tradition. […] Das Sprechen ist immer individuell, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einem wird es immer von einem Individuum vollzogen; es ist keine chorale Tätigkeit. Jeder spricht für sich, und auch im Dialog wird wechselweise die Rolle des Sprechers und Hörers eingenommen. Zum anderen ist es in der Weise individuell, daß es jeweils in einer bestimmten einmaligen Situation stattfindet. Zur Bezeichnung dieser individuellen Tätigkeit in einer bestimmten Situation schlage ich – nach dem franz. discours – den Terminus ‚Diskurs‘ vor. Im Deutschen sagt man für diese Ebene auch ‚Text‘; dabei muß man aber daran denken, daß es hier zuerst um die Tätigkeit selbst geht und nicht um ihr Produkt“ (Coseriu 21992: 70–71).
Dies greifen wir auf, da die sprachlichen Ebenen jeweils eindeutig ausgedrückt werden. Die ersten beiden Termini sind zugleich intuitiv verständlich; Diskurs ist zwar dagegen ein immer noch relativ neuer Ausdruck, er schließt aber die Mündlichkeit ebenso wie die Schriftlichkeit ein, was bei Rede nicht der Fall ist, und er schafft nicht nur eine Verbindung zum Französischen, sondern auch zu den übrigen romanischen Sprachen und dem Englischen. Wir unterscheiden also – die Sprache als Sprechen im Allgemeinen, – die Sprache als Einzelsprache – und die Sprache als Rede oder Schreiben des Einzelnen, als Diskurs. Auf der ersten Ebene stellen wir überhaupt fest, dass gesprochen wird. Auf der zweiten Ebene nehmen wir eine Einzelsprache wahr. Und auf der dritten Ebene betrachtet man das Sprechen oder Schreiben eines Einzelnen. Es besteht ein Inklusionsverhältnis zwischen den Ebenen. Das Sprechen im Allgemeinen wird nur in der Gestalt von Einzelsprachen realisiert und sowohl das Sprechen im Allgemeinen als auch die Einzelsprache sind konkret nur im Diskurs des Einzelnen gegeben. Deshalb darf man behaupten, dass Sprache nur im Diskurs vollständig existiert, und daher sind alle der Sprache überhaupt eigenen Phänomene im Wesentlichen vom Diskurs her nachzuweisen. In dem Maße, in dem die Sprecher mehr als eine Einzelsprache beherrschen, ist er auch nicht auf eine einzige Einzelsprache beschränkt. Wenn die Unterscheidung der sprachlichen Ebenen gerechtfertigt ist, muss sie der Sprachwissenschaft in allen ihren Einzeldisziplinen zugrundegelegt werden. Daher artikuliert sich die Beschäftigung mit der Sprache zunächst in die Sprachtheorie, die die Klärung dessen betrifft, was Sprache ist. Dies sollte keine naive Ontologie beinhalten, wie weiter oben gesagt wurde, sondern der Verweis auf die Sprachtheorie bringt nur zum Ausdruck, dass wir stets – ob naiv oder aufgeklärt – von Annahmen über die Sprache ausgehen. Mit Bezug aber auf die nachgeordnete Ebenenunterscheidung entspricht die allgemeine Sprachwissenschaft als Disziplin dem Sprechen im Allgemeinen. Die Einzelsprache wird in der einzelsprachlichen Sprachwissenschaft untersucht, die im allgemeinen Usus genauso wie die Einzelsprache mit einem Eigennamen belegt wird und somit z. B. französische, italienische, portugiesische, rumänische oder spanische Sprachwissenschaft bzw., mehrere
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Sprachen davon umfassend, romanische Sprachwissenschaft heißt. Man kann in der Berücksichtigung der einzelsprachlichen Gemeinsamkeiten noch weiter in der Geschichte zurückgehen als bis zu einer lateinischen Gemeinsamkeit, also zu einer indogermanischen Gemeinsamkeit. Während es aber für das Sprechen im Allgemeinen und für die Einzelsprache noch bis zu einem gewissen Grade Auffassungen von Disziplinen der Sprachwissenschaft gibt, die von vielen Sprachwissenschaftlern angenommen werden, ist die Ebene des Diskurses, des Textes oder der Rede ein vielfältig partialisierter Gegenstand der Sprachwissenschaft, der deshalb nicht in einer einzigen Disziplin zusammengefasst wird. Die Partialisierungen nennen sich Textlinguistik (die Textlinguistik tritt mit dem Anspruch auf, die Wissenschaft von Text und Diskurs überhaupt zu sein), Textgrammatik, Diskursanalyse, Konversationsanalyse, Pragmatik und anderes mehr, die ich an dieser Stelle nicht näher erläutern möchte. Die Pragmatik und die Soziolinguistik betrachten die Sprache unter Berücksichtigung außersprachlicher Gegebenheiten von ihrer konkreten Realisierung her, ohne sich jedoch auf den Diskurs zu beschränken. Umso notwendiger wird es für uns sein, uns dem Diskurs sprachtheoretisch zu nähern. Er ist der komplexeste Gegenstand der Sprachwissenschaft, und er hat noch keinen Gabelentz oder Saussure für die Bestimmung seines sprachtheoretischen Orts gefunden. Coserius Textlinguistik (42007, 2007a) hat bis jetzt zu keinem Konsens geführt. Was darin noch nicht geleistet wird, ist die integrative Verarbeitung anderer Ansätze. Wir werden uns der Sprache hauptsächlich aus der Perspektive der Einzelsprache nähern. Verbunden mit der Sprecherperspektive wird diese Ausrichtung funktionelle Sprachwissenschaft oder Funktionalismus genannt. Unter Funktion ist hier ganz allgemein die Aufgabe zu verstehen, die etwas erfüllt. Dies geht einher mit der Annahme, dass die funktionelle Perspektive in der Sprache etwas Wesentlicheres aufdeckt als andere Perspektiven (man siehe das Zitat am Anfang von 1.2.2). Je nach sprachlicher Ebene ist etwas anderes funktionell. Beim Sprechen im Allgemeinen ist die Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit funktionell mit allem, was damit zusammenhängt. In der Einzelsprache ist dagegen die sprachliche Verschiedenheit funktionell, wie sie sich im distinktiven Charakter der Sprachlaute (Phoneme) und in der Einzelsprachlichkeit der Bedeutung (signifiés) zeigt. Und im Diskurs ist der Sinn funktionell, aber zum Beispiel auch die Stimme, die Aufschlüsse über das Geschlecht, das Alter und den Gemütszustand des Sprechenden gibt. An dieser Stelle fasse ich den terminologischen Gebrauch in diesem Handbuch zusammen. Eine nochmalige Klärung ist notwendig, weil viele Linguisten – einem englischen und romanischen Usus folgend – das Adjektiv linguistisch verwenden, wo ich im Sinne der Unterscheidung der sprachlichen Ebenen auf einer terminologischen Differenzierung insistiere. Man vergleiche die auch von anderen Linguisten, wenn auch mit etwas anderen Termini, beachtete Konvention im Deutschen
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Sprechen im Allgemeinen Einzelsprache Diskurs
allgemein-sprachlich einzelsprachlich diskursiv
mit den französischen Termini langage langue discours
linguistique, langagier linguistique discursif
den spanischen Ausdrücken lenguaje lengua, idioma discurso
lingüístico lingüístico, idiomático discursivo
und den italienischen Ausdrücken linguaggio lingua discorso
linguistico linguistico discorsivo
Wenn man die sprachlichen Ebenen nicht differenzieren will, empfiehlt sich sprachlich. Der oft gebrauchte Ausdruck linguistisch ist dagegen im Deutschen deshalb unglücklich gewählt, weil man dann nicht weiß, ob er im konkreten Fall sprachlich oder sprachwissenschaftlich bedeutet. Im zweiten Fall wäre linguistisch das Adjektiv zu Linguistik. Es gibt durchaus Kontexte, in denen man im Zweifel sein kann, ob mit linguistisch das eine oder das andere gemeint ist. Im Übrigen mache ich weder einen Unterschied zwischen Sprachwissenschaft und Linguistik noch zwischen sprachwissenschaftlich und linguistisch.
1.1.2 Die Sprachkompetenz Wir sagten oben, dass unser sprachliches Wissen abgestuft ist. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass die Sprache als Ganzes vom Sprechen im Allgemeinen, von der Einzelsprache und dem Diskurs her in den Blick genommen wird. Das werden wir bei den Universalien sehen, die aus diesen Perspektiven betrachtet werden können (1.2). Die Aufgabe, die sich uns dabei stellt, besteht darin festzustellen, welche Perspektive die dem Sprecherwissen jeweils angemessenste ist. Ich hatte darauf hingewiesen, dass Einführungen in die Sprachwissenschaft, die eine oder mehrere Sprachen zum Gegenstand haben, die allgemein-sprachlichen und die diskursiven Phänomene kon-
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sequenterweise von den Einzelsprachen her erörtern, die Stellung der Phänomene im Ganzen der Sprache jedoch nicht immer hinreichend explizit angeben. Auf dem Wege zu einer systematisch und integrativ orientierten Sprachwissenschaft wollen wir die Phänomene auf den ihr jeweils eigenen Ebenen zu erfassen suchen. Gleichzeitig müssen wir aber das Ineinandergreifen der Ebenen verdeutlichen. Auf dem Wege dahin steht der Begriff der Sprachkompetenz, der von Noam Chomsky (*1928) unter Rückgriff auf seine vorangehenden Schriften in eine sehr folgenreiche Diskussion eingeführt wurde: “Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speaker-listener, in a completely homogeneous speech-community, who knows its language perfectly and is unaffected by such grammatically irrelevant conditions as memory limitations, distractions, shifts of attention and interest, and errors (random or characteristic) in applying his knowledge of the language in actual performance. This seems to me to have been the position of the founders of modern general linguistics, and no cogent reason for modifying it has been offered. […] We thus make a fundamental distinction between competence (the speaker-hearer’s knowledge of his language) and performance (the actual use of language in concrete situations)” (Chomsky 1965: 3–4; Chomskys Hervorhebungen).
An dieser Stelle muss ich einige allgemeine Bemerkungen vorausschicken. Diesen Text zitiere ich in englischer Sprache, weil er mir Anlass gibt, die Wege der Rezeption zwischen den Sprachgemeinschaften zu reflektieren. “Linguistic theoryˮ kann im Deutschen einer Sprachtheorie oder einer linguistischen Theorie entsprechen. Auf das Problem habe ich am Ende von 1.0 und 1.1.1 hingewiesen. Unter „Sprachtheorie“ versteht man im Allgemeinen eine umfassende Beschäftigung mit Sprache. Ein solcher terminologischer Gebrauch ist in diesem Fall nicht gemeint, denn Chomsky versteht unter “linguistic theoryˮ die Grammatik einer Sprache, genauer die theoriegeleitete Beschreibung der Grammatik einer Sprache, die er nach einem allgemeinen Verweis auf Humboldt, den ich nicht wiedergebe (cf. hier 1.2.1.1), generative Grammatik nennt: “A grammar of a language purports to be a description of the ideal speaker-hearer’s intrinsic competence. If the grammar is, furthermore, perfectly explicit – in other words, if it does not rely on the intelligence of the understanding reader but rather provides an explicit analysis of his contribution – we may (somewhat redundantly) call it a generative grammar” (Chomsky 1965: 4; Chomskys Hervorhebung).
So erscheint die Wiedergabe von “linguistic theoryˮ mit „linguistische Theorie“ gerechtfertigt; es bleibt aber immer die Ungewissheit, inwieweit der Unterschied zwischen der Sprache als Objektebene und der sprachwissenschaftlichen Beschreibung verwischt wird. Diese „linguistische Theorie“ verfolgt das Ziel, aus den Gegebenheiten der Sprachverwendung oder Performanz eines idealisierten Sprecher-Hörers seine Kompetenz zu beschreiben. Der Ort für eine Diskussion wäre die parole oder der Diskurs. Wir verweilen bei der Kompetenz, die mir Gelegenheit gibt zu verdeutlichen, in welcher Weise eine integral
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
gedachte Linguistik integrativ vorgeht. Die Kompetenz versteht Chomsky ausdrücklich als sprachliches Wissen. Er siedelt es aber lediglich in der Kompetenz an, nicht in der Performanz. Nun ist zwar die Sprachfähigkeit in der Evolutionslehre als allgemeine biologische Grundlage anerkannt und akzeptiert, sie muss aber ontogenetisch von jedem Menschen in Gestalt einer Einzelsprache entwickelt und erworben werden. Die durch das Sprechen im Allgemeinen gegebene Sprachfähigkeit und die Einzelsprache sind erst im konkreten Sprechen erfahrbar. Wie die sprachlichen Ebenen ist also auch die Sprachkompetenz als sprachliches Wissen dreigeteilt zu denken. Eine klare Formulierung dieser Erkenntnis verdanken wir Coseriu, der sprachliches Wissen und sprachliche Ebenen in Beziehung zueinander setzt: „Den drei Ebenen der Sprechtätigkeit stehen nun drei Ebenen des sprachlichen Wissens gegenüber: 1. Das Wissen, das dem Sprechen im allgemeinen, d. h. dem Sprechen in jeder Sprache entspricht, bezeichnen wir als ‚elokutionelles Wissen‘ oder als ‚allgemeinsprachliche Kompetenz‘. 2. Das Wissen, das dem Sprechen in einer bestimmten Sprache entspricht und das in dieser Hinsicht ein historisches Wissen ist, bezeichnen wir als ‚idiomatisches Wissen‘ oder als ‚einzelsprachliche Kompetenz‘. 3. Das Wissen, das dem individuellen Sprechen entspricht und das sich darauf bezieht, wie man Texte in bestimmten Situationen konstruiert, bezeichnen wir als ‚expressives Wissen‘ oder als ‚Textkompetenz‘“ (Coseriu 21992: 74).
Der Terminus „elokutionelles Wissen“ sei hier nur konventionell beibehalten, da er sich nicht deutlich genug von „expressives Wissen“ unterscheidet. Geben wir an einen kurzen Überblick über das Folgende. Um die Sprache so allgemein wie möglich situieren zu können, setze ich bei den sprachlichen Universalien an und erläutere an ihrem Beispiel noch einmal die drei sprachlichen Ebenen im Einzelnen (1.2). Darauf folgen der allgemein-sprachliche Ausdruck (1.3) und Inhalt (1.4) sowie die Einzelsprache mit ihren Disziplinen Phonologie, Grammatik, Wortbildungslehre und Wortsemantik oder lexikalische Semantik (2.). Dabei setzt man stillschweigend, d. h. ohne sich dessen immer bewusst zu sein, eine gewisse Einheitlichkeit der untersuchten Sprache voraus, denn man bezieht sich in der Regel auf kodifizierte Sprachen, wie sie in der Literatur und dem sonstigen Schrifttum vorliegen. Eine Einzelsprache wie das Französische, Italienische oder Spanische besteht aber nicht nur aus der Literatur- und Standardsprache, sondern sie enthält Unterschiede, die im Raum, nach gesellschaftlichen Schichten oder Gruppen und „stilistisch“, d. h. je nach Rede- und Schreibanlass erheblich variieren. Dieser Teil wird Sprachvariation (2.3) genannt werden. Zum Abschluss dieses Teils ist der Text oder Diskurs zu behandeln, diejenige Manifestation von Sprache, die alles enthält, was bisher genannt wurde (3.). In diesem letzten Kapitel kommen noch der Kontext des Diskurses und die Situation, in der er geäußert wird, zur Sprache.
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Damit sind die beiden großen Disziplinen der einzelsprachlichen Sprachwissenschaft mit ihren zahlreichen Ausrichtungen umschrieben: Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte. Sie machen daher die Hauptgegenstände der Sprachwissenschaft aus. Die Sprachbeschreibung bzw. deskriptive Sprachwissenschaft oder deskriptive Linguistik schließt die Dialektologie, die Soziolinguistik und die Stilistik ein, d. h. die Disziplinen, die die Sprachvariation und die nicht-standardsprachlichen Varietäten zu ihrem Gegenstand haben. Für diese Disziplinen gibt es leider keinen allgemein anerkannten Terminus. Man könnte sie zusammenfassend Variationslinguistik nennen, obwohl dieser Terminus zum Teil schon vorbelegt ist (z. B. Weinreich 1968), oder Variations- und Varietätenlinguistik. Auch diese Teildisziplinen entsprechen nicht genau den Bereichen, die wir abgegrenzt haben. Die historische Sprachwissenschaft sollte es eigentlich mit der Sprachgeschichte schlechthin zu tun haben, sie wird aber meist enger als Entwicklung eines Sprachsystems aufgefasst und in diesem Fall traditionell „historische Grammatik“ genannt. Dem Problem der Sprachgeschichte werden wir uns im zweiten Teil widmen; die Sprachgeschichte schließt die Geschichte einer Einzelsprache mit der Entstehung ihrer Variation und ihrer Varietäten ein.
Bibliographischer Kommentar
Die Werke, die sich von den drei Ebenen oder vom Sprechen im Allgemeinen her mit Sprache beschäftigen, sind eher selten. Zu nennen ist als Erstes Arnauld/Lancelot 1966 (11660), die Grammatik von Port-Royal oder allgemeine Grammatik, die für das 18. Jahrhundert maßgeblich wurde. Für die Sprachbetrachtung im Zusammenhang mit der Sprachphilosophie steht Humboldt 1963d (geschrieben zwischen 1830 und 1835). Gabelentz 1969 (11891, 21901) gibt eine frühe Verbindung von Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte mit den drei sprachlichen Ebenen. Die heute übliche Terminologie geht auf den Cours de linguistique générale von Saussure zurück, der zuerst 1916 als Vorlesungsnachschrift erschienen ist. Kritische Ausgaben dieses Werks haben Engler 1968 sowie 1974 und de Mauro 1972 (21985) herausgebracht. Mit Saussure 2002 schließlich edierten Bouquet und Engler die Schriften Saussures, die den Vorlesungen zugrundegelegen haben. Wir verwenden hier den Cours von 1916, weil dieser geschichtlich wirksam geworden ist. Wer sich für die handschriftlichen Quellen des Cours interessiert, kann zu Godel 1957 greifen. Unter den Einführungen in die Sprachwissenschaft Saussures verweise ich auf Bouquet 1997 und auf Harris 1987; letzterer kommentiert den Cours Kapitel für Kapitel. Wunderli 2013 schließlich gibt eine (im Gegensatz zu den Zitaten im vorliegenden Werk) völlig eingedeutschte Übersetzung des Cours. Die vom Universellen her gedachte Sprachtheorie Bühlers (31999) ist heute noch anregend. Um eine integrale Sprachwissenschaft bemüht sich Coseriu 21992. Es sei gleich zu Beginn auf einen fundamentalen Unterschied im Zugang zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache hingewiesen. Die Sprachwissenschaft hat es mit Sprache zu tun, soweit sie dem erlebenden Bewusstsein zugänglich ist. Sprache wird aber, unserem Bewusstsein entzogen, durch neurobiologische Prozesse gestaltet, die in unserem Gehirn stattfinden und deshalb unserem unmittelbaren Erleben nicht zugänglich sind. Eine synthetisierende Darstellung der sich damit befassenden kognitiven Neurobiologie gibt Roth 2005. Was aus dieser interessanten Darstellung nicht in letzter Klarheit hervorgeht, ist die Tatsache, dass sämtliche neurobiologischen Ergebnisse experimentell gewonnen werden. Auch die auf neurobiologischer Grundlage arbeitende Neurolinguistik ist eine experimentelle Wissenschaft. Wir werden also weiterhin die Sprache von außerhalb des Gehirns zu
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
betrachten haben, wie wir es hier tun, oder von innerhalb wie die Neurobiologen und Neurolinguisten. Zwischen einer neurobiologischen Erkenntnis und ihrer Übertragbarkeit auf die Sprachwissenschaft steht als Hürde immer das Experiment. Es ist unmöglich, gleichzeitig eine neurolinguistische und eine sprechereigene Perspektive zu vertreten. Aus einer globalen Perspektive ergibt sich, dass sehr vieles von dem, was zur Domäne der Sprachwissenschaft gehört, noch nicht realisiert worden ist. Dieser Unterschied zwischen dem schon Geleisteten und dem noch zu Leistenden zeigt sich am besten, wenn man eine systematische Darstellung (womit ich im eigentlichen Sinn keinesfalls die vorliegende meine) mit einer geschichtlichen vergleicht. Über einzelne Sprachwissenschaftler der Vergangenheit informiert das Lexicon grammaticorum (Stammerjohann (ed.) 22009), das allerdings im Bereich der iberoromanischen und der rumänischen Sprachwissenschaft sehr lückenhaft ist. Zu den rumänischen Sprachwissenschaftlern und Philologen aller Zeiten kann man Balacciu/Chiriacescu 1978 konsultieren. Auf Robins (42004) verweise ich für die Geschichte des Sprachdenkens und der Sprachwissenschaft seit der Antike. Albrecht (32007) behandelt die verschiedenen Ausrichtungen des Strukturalismus in Europa.
1.2 Die sprachlichen Universalien Das Problem der Universalien stellt sich zunächst auf der Ebene des Sprechens im Allgemeinen, was nichts anderes als „Sprache in universeller Hinsicht“ bedeutet. Da das Universelle aber nicht nur in Sprechen im Allgemeinen in Erscheinung tritt, sondern ebenfalls in der Einzelsprache und im Diskurs, werden die Universalien im Zusammenhang mit den drei sprachlichen Ebenen dargestellt. Jede Einzelsprache hat sehr allgemeine Eigenschaften, die sie mit allen Sprachen teilt. Diese Eigenschaften werden universell genannt bzw. Universalien (Singular: das Universale). Diese von einigen Sprachwissenschaftlern auch essentiell genannten Universalien beinhalten eine Definition von Sprache, die in folgende Sätze gefasst werden kann: 1. Sprache ist schöpferisch. 2. Mit Sprache wendet sich ein Ich an ein Du. Da ein Du, wenn es spricht, ein anderes Ich ist, kann man sagen, dass ein Subjekt sich an ein anderes Subjekt oder ein Sprecher an einen anderen Sprecher wendet. 3. Sprache bedeutet etwas. Unter Bezug auf die sprachlichen Ebenen können wir weiter differenzieren: Sprache bezeichnet, bedeutet und meint etwas. 4. Sprache hat Ausdrucksmittel für die Bedeutungen. 5. Sprache ist geschichtlich geworden. 6. Sprache enthält das Sprechen über Sprache. Für die einzelnen Elemente der Definition stehen uns Fachausdrücke zur Verfügung: 1. schöpferischer Charakter oder Kreativität, 2. subjektive Dimension von Sprache oder Alterität, 3. objektive Dimension von Sprache oder Semantizität oder Bedeutungshaftigkeit, 4. Materialität oder Stofflichkeit oder Exteriorität,
1.2 Die sprachlichen Universalien
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5. Geschichtlichkeit oder Historizität und 6. Reflexivität. Die genannten Universalien sind nicht alle gleich zu gewichten. Am grundlegendsten ist die Kreativität, da man von ihr alle anderen Universalien ableiten kann. Es folgen die Alterität und die Semantizität, die beide von gleicher Relevanz sind und in dieser Hinsicht auf der gleichen Ebene stehen. Die Materialität hingegen ergibt sich aus der Tatsache, dass man einen „Stoff“ zur Übermittlung von Bedeutungen braucht. Aus der Geschichtlichkeit der Menschen und ihrer Tätigkeit ergibt sich das Universale der sprachlichen Historizität. Die Reflexivität schließlich steht im Verhältnis zu allen anderen Universalien, ausgehend von der Alterität. Es kann sein, dass sich weitere Universalien herausdifferenzieren lassen, wenn sie sich als wesentlich für die Sprache erweisen.
Bibliographischer Kommentar
Die sprachlichen Universalien waren eines der Themen, die auf dem Kongress für allgemeine Sprachwissenschaft in Bologna 1972 diskutiert wurden. Die so genannten essentiellen Universalien wurden dort von Coseriu (1974) im Zusammenhang eingeführt und auf Deutsch 1975 abgedruckt. Ausführungen dazu finden sich in Lüdtke 1984: 17–18, und in anderer Weise in Oesterreicher 1988. Zur Alterität finden sich weiterführende Bemerkungen in Coseriu 1987 und, von demselben, in Kabatek/Murguía 1997: 245–252. Die Universalien sind nach der Meinung vieler Linguisten „trivial“. Dies ist aber nicht der Punkt, denn das sprachliche Wissen ist überhaupt „trivial“ in dem Sinne, in dem die Universalien „trivial“ sind. Wenn die von mir genannten Universalien meines Wissens noch in keinem romanistischen Handbuch verwendet worden sind, so bezieht doch Wesch die Universalien im Sinne von Oesterreicher 1988 in seine hispanistische Einführung ein (2001: 21–23). An die Besprechung der Universalien schließe ich hier einzelne Kommentare an, die in einem loseren Zusammenhang mit dem betrachteten Universale stehen. Es ist zu hoffen, dass sich die Betrachtung der sprachlichen Ebenen und der Universalien gegenseitig erhellen. Es empfiehlt sich, diese nicht übliche Definition von Sprache unter dem Gesichtspunkt der Universalien mit anderen Definitionen zu vergleichen.
1.2.1 Die Kreativität „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes. […] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen“ (Humboldt 1963d: 418).
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1.2.1.0 Allgemeines Als Gott die Welt schuf, so heißt es in der Genesis, hatte er schon Sprache: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht“ (1. Mose 1.). Danach aber schuf Adam die Sprache weiter: „Denn als Gott der Herr gemacht hatte von der Erde allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch allerlei lebendige Tiere nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen“ (1. Mose 2.). Wenn aber am Anfang das Wort war und das Wort bei Gott war und Gott das Wort war, wie schuf da Gott das Wort? Die Frage nach dem Ursprung von Sprache ist die Frage nach der Schöpfung von Sprache. Die Kreativität ist das grundlegende Universale. Die biblische Schöpfungsgeschichte enthält eine Deutung, wie Sprache geschaffen wurde. Diejenigen, die die Mythen der Bibel wörtlich nahmen, sahen in der Sprache Adams das Hebräische, das durch die babylonische Sprachverwirrung in siebzig Sprachen aufgespalten wurde. Was aber machen wir mit den Chinesen und mehr noch mit den Bewohnern Amerikas, die wie viele andere beim Turmbau zu Babel nicht dabei waren? Ich erinnere an drei Wege, auf denen man sich den vorgeschichtlichen Sprachen nähert, wenn man die Schöpfungsgeschichte beiseitelässt: Die spekulative Suche nach einer Ursprache, die von den heutigen Sprachen ausgehende Rekonstruktion und die Erkenntnisse, die sich aus der Evolution ergeben. In unserem Kulturkreis hat die Bibel bis zum 16. Jahrhundert die Auffassungen von der Schöpfung der Sprache ausschließlich geprägt und zum Teil darüber hinaus. Da die Sprache Gottes im Alten Testament das Hebräische war, wurden damit das Problem der Kreativität und das Problem der Historizität gleichzeitig gestellt. Erst die allmähliche Trennung dieser beiden Universalien im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts machte den Weg frei für eine nicht-mythische Deutung der Sprachschöpfung, die universell war und sich die philosophische Frage nach der gemeinsamen Ausbildung der Sprache und der Kenntnisse stellte. Der zweite Weg setzt die Anerkennung der sprachlichen Verschiedenheit voraus und sucht die Gemeinsamkeiten der Sprache in der Geschichte. Die Sprachforscher des 19. Jahrhunderts dokumentieren die Sprachen in ihren ältesten Zeugnissen und rekonstruieren noch ältere Phasen durch den Vergleich in der Folge von Franz Bopp (1791–1867) und anderen. Bopps Testfall ist die Rekonstruktion der – angenommenen – indogermanischen Ursprache mit Hilfe des Sanskrits, des Iranischen (Avesta), des Griechischen, des Lateinischen, des Lithauischen, des Gothischen und des Deutschen im Bereich der Grammatik. Die Geschichte des rekonstruierten Indogermanisch bleibt hypothetisch, darüber hinaus wird auch sie spekulativ. Den Weg zu einer evolutionären Betrachtung der Entstehung des Menschen und der Sprache bereitete Charles Darwin mit seinem epochalen Werk On the origin
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of species by means of natural selection; or the preservation of favoured races in the struggle for life (1859). Noch vor der Anwendung seiner Evolutionstheorie auf den Menschen entwickelt August Schleicher (1821–1868), der die Sprachen als Naturorganismen betrachtet, den Gedanken der Abstammungslehre und des „Kampfes ums Dasein“ in den Sprachen weiter. Diese hätten ein Leben wie die Arten und Gattungen. Die Gattung entspräche einem Sprachstamm, die Arten den Sprachen eines Stammes, die Unterarten oder Varietäten den Dialekten. Ihren Ursprung hätten die Sprachen nicht in einer Ursprache, sondern in unzählbaren. Ihren Kampf ums Dasein sieht er im Untergang von Sprachen und Sprachstämmen wie den amerikanischen auf Kosten anderer Sprachen, die sich ausbreiten, wie der indogermanischen (Schleicher 1977/11863). Die Paläoanthropologie baut lange nach Darwin auf Funden auf, die die Wanderung des Menschen von Afrika aus in die ganze Welt belegen. Wie aber die Sprache geschaffen wurde, verliert sich im Dunkel der Geschichte. Plausiblen Annahmen zufolge hatte bereits der afrikanische Homo erectus eine Art Sprache und der am Lagerfeuer sitzende Mensch der Altsteinzeit. Als Beweis dafür nimmt man spätestens die Existenz des Zungenbeins, das bei einem Neandertaler in einer israelischen Höhle gefunden wurde. Für den Homo sapiens gilt eine differenzierte Sprachfähigkeit schon als sicher. 1.2.1.1 Sprechen im Allgemeinen Sprache muss erst einmal geschaffen worden sein, wenn wir ihr weitere Eigenschaften zusprechen wollen. Mit Kreativität ist zunächst und allererst etwas sehr Elementares gemeint. Dieses Schaffen von Sprache ist eine ständige Tätigkeit, die wir alle in unserem Sprechen fortführen. Jeder Sprecher bringt in der Äußerung von Sprachlauten und Sprachinhalten immer wieder Sprache in jedem Äußerungsakt von neuem hervor. In jedem Bezeichnungsvorgang realisiert jeder Sprecher Sprache auf seine besondere und immer unwiederholbare Weise. Hervorbringung von Sprache ist nicht nur reine Wiederholung des Traditionellen, sondern ständige sprachliche Gestaltung und Umgestaltung. Die Erkenntnis von der sprachlichen Kreativität verdanken wir Wilhelm von Humboldt, der in seinem postum erschienenen Werk „Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und seinen Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ über die Sprache in ihrer allgemeinsten Betrachtung schreibt, aus dem ich das obige Motto zitiert habe: „Man muss die Sprache nicht sowohl wie ein todtes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen“ (Humboldt 1963d: 416). Er fährt etwas weiter unten mit den berühmten Sätzen fort: „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes. […] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.
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Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen“ (Humboldt 1963d: 418).
Und einige Seiten weiter stellt er dazu fest: „Denn die Sprache kann ja nicht als ein da liegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mittheilbarer Stoff, sondern muss als sich ewig erzeugender angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestimmt sind, aber der Umfang und gewissermassen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben“ (Humboldt 1963d: 431).
Mit „Thätigkeit“ bezieht er sich auf die enérgeia von Aristoteles, die jedoch in ihrer Stellung zwischen dýnamis ‚Wissen, Kompetenz‘ und érgon ‚Werk, Produkt‘ von diesem Philosophen nicht zusammenhängend behandelt wird, sondern das Ergebnis der Interpretation von Stellen aus der Metaphysik, der Physik und von Über die Seele ist (Di Cesare 1988, Vilarnovo Caamaño 1993: 142–153). Humboldt führt die allgemeinen aristotelischen Begriffe in die Sprachbetrachtung ein und präzisiert sie. Seine Definition von Sprache ist „genetisch“, weil Sprache darin besteht, „die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes dem articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“. 1.2.1.2 Einzelsprache Sprache wird geschaffen innerhalb der Möglichkeiten einer Einzelsprache, die für jeden Menschen immer schon vorgängig da ist. In dieser Hinsicht wird Sprache – als Einzelsprache – in den Worten Humboldts nicht nur „erzeugt“, sondern auch „umgestaltet“: „Da jede schon einen Stoff von früheren Geschlechtern aus uns unbekannter Vorzeit empfangen hat, so ist die, nach der obigen Erklärung, den Gedankenausdruck hervorbringende geistige Thätigkeit immer zugleich auf etwas schon Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend“ (Humboldt 1963d: 419).
In einer moderneren Betrachtung ist – unter ausdrücklichem Bezug auf Humboldts Auffassung von Sprache als „Erzeugung“ – eine Einzelsprache „eine historisch gegebene „Technik“ zur Durchführung dieser an sich schöpferischen Tätigkeit. Deshalb kann sie auch nicht ein in sich geschlossenes, ein für allemal geschaffenes System sein, ein Instrument, das ohne Veränderung in der Rede nur verwendet wird. Sie muß eine offene, potentiell dynamische Technik sein, die das sprachliche Schaffen zuläßt und bedingt, eine Technik also, in der auch die Möglichkeit ihrer eigenen Überwindung (Veränderung) und die wesentlichen Richtlinien ihres weiteren Ausbaus vorgegeben sind“ (Coseriu 1980a: 134).
Die Grammatik wird traditionell überhaupt als Technik verstanden, denn der erste Name einer Beschreibung dieser Technik ist gerade grch. téchne grammatiké, ein
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Ausdruck, der als ars grammatica ins Lateinische übersetzt wurde und „Kunst des Lesens und Schreibens“ bedeutet. So wird denn in der Tradition auch die Grammatik definiert. Hier das Beispiel der Gramática de la lengua castellana der Real Academia Española von 1771: “La gramática es arte de hablar bien” („Die Grammatik ist die Kunst, richtig zu sprechen“, 1984: 119). Eine Sprache ist ein dynamisches System. Das heißt nichts anderes, als dass eine Sprache sich in einer ständigen Systematisierung befindet. Neues wird gestaltet, ohne dass man weiß, wohin es führen wird, während anderes zunehmend weniger verwendet wird und veraltet. 1.2.1.3 Diskurs Die Kreativität der Sprache äußert sich „im jedesmaligen Sprechen“. Im Alltagsverständnis aber geht es bei der Kreativität um das Herausragende wie zum Beispiel das sprachlich Schöpferische in der Literatur oder in einem besonders gelungenen neuen Ausdruck. Dies ist in der Kreativität natürlich auch enthalten. Zunächst und zuallererst ist damit jedoch etwas sehr Elementares gemeint: Jeder Mensch bringt in seiner Äußerung immer wieder von neuem Sprache auf seine besondere Weise hervor. Das Schöpferische in der Sprache ist grundsätzlich individuell. Die beiden anschließenden Abschnitte zu Sprachwandel und Sprachvariation sind Folgerungen aus der diskursiven Grundlage der Kreativität. 1.2.1.4 Sprachwandel Das Schöpferische in unserem Sprechen nehmen wir im Allgemeinen nicht als etwas Schöpferisches wahr, sondern erst dann, wenn es traditionell geworden ist, d. h. wenn es von uns in unsere Sprache oder von anderen in ihre Sprache übernommen worden ist und sich eventuell in der ganzen Sprachgemeinschaft ausgebreitet hat. Das Entscheidende an der Begründung von Traditionen des Sprechens ist demnach die Übernahme des Schöpferischen, d. h. der Neuerung (Innovation) durch andere Sprecher. Die Neuerung ist weniger relevant – denn sie ist prinzipiell im Sprechen gegeben – als die Übernahme dieser Neuerung. In einer solchen Übernahme einer Neuerung besteht das wichtigste Moment des Sprachwandels. Sprachwandel ist die Art und Weise, in der der schöpferische Charakter des Sprechens überhaupt in einer Einzelsprache durch Übernahme von Neuerungen Gestalt annimmt. Sie geht immer von der individuellen Schöpfung aus. Damit ist auch im Prinzip geklärt, wie eine Neuerung aus dem Diskurs in die Einzelsprache gelangt. Wir alle kennen zum Beispiel die metonymischen Beziehungen, die zwischen einer Person und den Dingen, mit denen sie in Beziehung treten kann, hergestellt werden. Metonymische Beziehungen sind solche der Kontiguität. Mit Kontiguität ist gemeint, dass die Übertragung eines sprachlichen Ausdrucks auf einen anderen auf Berührungsbeziehungen zwischen Gegenständen oder Sachverhalten beruht. Ich gebe dazu Beispiele für Innovationen, die von einigen Sprachgemeinschaften in
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unterschiedlichem Ausmaß übernommen worden, aber durchaus noch nicht alle allgemein sind. Bekannt ist die Identifikation eines Autors mit seinem Werk: „Ich lese gerade Günter Grass.“ Diese Metonymie, die darin besteht, dass man den sprachlichen Ausdruck „Günter Grass“ auf eines seiner Werke überträgt, ist in den Gemeinschaften, die Schriftsprachen haben, völlig allgemein. Anders verhält es sich wohl mit der metonymischen Beziehung zwischen dem Auto und seinem Fahrer. Angenommen, jemand wohnt in einem Stadtteil mit wenigen freien Parkplätzen; einen Gast könnte er beim Abschied etwa fragen: „Wo stehst du?“, und die Antwort bekommen: „Um die Ecke.“ Niemand lacht, doch ist diese Ausdrucksweise nicht völlig allgemein, nicht alle haben sie etwa im Deutschen übernommen. Noch weniger allgemein verbreitet ist die Identifikation eines Gastes über ein Gericht in einem Restaurant durch eine Bedienung wie in diesem französischen Sprachwitz: “C’est vous, la tête de veau?” – “Non, la tête de veau, c’est ma femme. Moi, je suis le pied de porc” („Sind Sie der Kalbskopf?“ – „Nein, der Kalbskopf ist meine Frau. Ich bin die Schweinshaxe“; Koch/Krefeld/Oesterreicher 1997: 37). Dialoge dieser Art kann man in romanischen Ländern oft hören, aber nicht jeder würde sie im Deutschen in gleicher Weise akzeptieren. Und nun zu einer Innovation, die noch nicht einmal vom Sprecher in seine eigene Sprache übernommen wird, geschweige denn in die Sprache eines anderen. Ein Ehemann kommt spät mit einem regendurchnässten Mantel nach Hause. Seine Frau meint ungeduldig: „Häng dich auf!“ Lachen, eine Sanktion, die die Übernahme der Identifikation mit der Kleidung im Keim erstickt. Es bleibt bei der Innovation, bei einem Phänomen des Diskurses. Die Frau hat sie in ihren Sprachbesitz übernommen. Die Gründe für eine Nichtübernahme der Neuerung durch den Angesprochenen können hingegen vielfältig sein. Da wird die Logik bemüht, die sprachliche Korrektheit, das Tabu („jemanden/sich aufhängen“), die Übertreibung. Aber bloßes Lachen genügt auch schon als Sanktion. Die Gesprächsteilnehmer wissen dabei nichts von einer Innovation, sondern der Mann empfindet den Ausdruck der Frau als deplatziert. Der Sinn von „Häng dich auf!“ und „Häng deinen Mantel auf!“ ist für die Frau aber identisch. Er besteht in der Aufforderung zu einer Handlung. Dass hier eine nicht usuelle metonymische Beziehung hergestellt wird, die in anderen Fällen im Deutschen ohne weiteres akzeptiert wird, fällt den Beteiligten als sprachliche Neuerung überhaupt nicht auf. Der Hörer nimmt die Aufforderung, sich selbst aufzuhängen, nur wahr, wie er sie unangemessen findet. Ein schon üblicher sprachlicher Ausdruck, sich aufhängen, kollidiert mit der Innovation und wird deshalb nicht wieder aufgegriffen. Ganz allgemein geht es darum, dass man sich stets an die Sprache des Anderen hält, selbst wenn die Innovation verständlich und funktionell sehr sinnvoll ist. Wir werden darauf bei der Besprechung des Universale der Alterität zurückkommen. Über Innovationen berichtet Sigmund Freud in seinem Werk Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Bei ihm sind es Fälle von Vergessen, Versprechen und Verschreiben, auch Fälle des uns hier nicht interessierenden Vergreifens, die er psychoanalytisch deutet. Für uns sind in gleicher Weise Freuds Beispiele wie seine Interpretationen relevant, denn sie offenbaren, welche Funktion die Innovationen haben. Die Innova-
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tion und ihre Funktion sind aber für die Betroffenen so unangenehm enthüllend, dass sie die Innovation auf keinen Fall zu übernehmen bereit sind. Die sprachlichen Fehlleistungen – in dieser Gestalt treten zahlreiche Innovationen ja auf – sind meist recht harmloser Art, weshalb sie im Allgemeinen unbeachtet bleiben. Nur die etwas ungewöhnlicheren Fälle bleiben im Gedächtnis. Unter den fremdsprachigen Beispielen führt Freud an: „Meine Frau nimmt eine Französin für die Nachmittage auf und will, nachdem man sich über die Bedingungen geeinigt hatte, ihre Zeugnisse zurückbehalten. Die Französin bittet, sie behalten zu dürfen, mit der Motivierung: Je cherche encore pour les après-midis, pardon, pour les avantmidis. Offenbar hatte sie die Absicht, sich noch anderweitig umzusehen und vielleicht bessere Bedingungen zu erhalten – eine Absicht, die sie auch ausgeführt hat“ (Freud 1954: 65; Freud übernimmt dieses Beispiel wörtlich von W. Stekel).
Die hier zitierte Französin bildet das Wort avant-midi, statt matin oder matinée, im Kontrast zu après-midi neu, um einen Hintergedanken zu kaschieren. Bei einem weiteren französischen Beispiel wird eine ausführliche Interpretation sogleich mitgegeben, so dass sich ein weiterer Kommentar erübrigt: „Ich gestatte mir, einen Fall von ‚Versprechen‘ mitzuteilen, der Herrn Professor M. N. in O. bei einem seiner im eben verflossenen Sommersemester gehaltenen Vorträge über die Psychologie der Empfindungen unterlief. Ich muß voraussenden, daß diese Vorlesungen in der Aula der Universität unter großem Zudrang der französischen internierten Kriegsgefangenen und im übrigen der meist aus entschieden ententefreundlich gesinnten Französisch-Schweizern bestehenden Studentenschaft gehalten wurden. In O. wird, wie in Frankreich selbst, das Wort boche jetzt allgemein und ausschließlich zur Bezeichnung der Deutschen gebraucht. Bei öffentlichen Kundgebungen aber, sowie bei Vorlesungen u. dgl. bestreben sich höhere Beamte, Professoren und sonst verantwortliche Personen, aus Neutralitätsgründen das ominöse Wort zu vermeiden. Professor N. nun war gerade im Zuge, die praktische Bedeutung der Affekte zu besprechen, und beabsichtigte, ein Beispiel zu zitieren für die zielbewußte Ausbeutung eines Affekts, um eine an sich uninteressante Muskelarbeit mit Lustgefühlen zu laden und so intensiver zu gestalten. Er erzählte also, natürlich in französischer Sprache, die gerade damals von hiesigen Blättern aus einem alldeutschen Blatte abgedruckte Geschichte von einem deutschen Schulmeister, der seine Schüler im Garten arbeiten ließ und, um sie zu intensiverer Arbeit anzufeueren, sie aufforderte, sich vorzustellen, daß sie statt jeder Erdscholle einen französischen Schädel einschlügen. Beim Vortrag seiner Geschichte sagte N. natürlich jedesmal, wo von Deutschen die Rede war, ganz korrekt Allemand und nicht boche. Doch als es zur Pointe der Geschichte kam, trug er die Worte des Schulmeisters folgenderweise vor: Imaginez-vous qu’en chaque moche vous écrasez le crâne d’un Français. Also statt motte – moche! Sieht man da nicht förmlich, wie der korrekte Gelehrte vom Anfang der Erzählung sich zusammennimmt, um ja nicht der Gewohnheit und vielleicht auch der Versuchung nachzugeben und das sogar durch einen Bundeserlaß ausdrücklich verpönte Wort von dem Katheder der Universitätsaula fallen zu lassen! Und gerade im Augenblick, wo er glücklich das letztemal ganz korrekt ‚instituteur allemand‘ gesagt hat und innerlich aufatmend zum unverfänglichen Schlusse eilt, klammert sich die mühsam zurückgedrängte Vokabel an den Gleichklang des Wortes motte und – das Unheil ist geschehen. Die Angst vor der politischen Taktlosigkeit, vielleicht eine zurückgedrängte Lust, das gewohnte und von allen erwartete Wort doch zu gebrauchen, sowie
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der Unwillen des geborenen Republikaners und Demokraten gegen jeden Zwang in der freien Meinungsäußerung interferieren mit der auf die korrekte Wiedergabe des Beispiels gerichteten Hauptabsicht. Die interferierende Tendenz ist dem Redner bekannt und er hat, wie nicht anders anzunehmen ist, unmittelbar vor dem Versprechen an sie gedacht. Sein Versprechen hat Professor N. nicht bemerkt, wenigtens hat er es nicht verbessert, was man doch meist geradezu automatisch tut. Dagegen wurde der Lapsus von der meist französischen Zuhörerschaft mit wahrer Genugtuung aufgenommen und wirkte vollkommen wie ein beabsichtigter Wortwitz. Ich aber folgte diesem anscheinend harmlosen Vorgang mit wahrer innerer Erregung. Denn wenn ich mir auch aus naheliegenden Gründen versagen mußte, dem Professor die sich nach psychoanalytischer Methode aufdrängenden Fragen zu stellen, so war doch dieses Versprechen für mich ein schlagender Beweis für die Richtigkeit Ihrer Lehre von der Determinierung der Fehlhandlungen und den tiefen Analogien und Zusammenhängen zwischen dem Versprechen und dem Witz“ (Freud 1954: 67–69; Freud gibt eine Mitteilung von L. Czeszer wörtlich wieder).
Es ist also sehr verständlich, wenn vieles Schöpferische vom Sprecher selbst oder vom Hörer nicht erkannt, anerkannt und übernommen wird. Eine Innovation führt nur selten zum Sprachwandel. Der Wandel, wie er sich in der Übernahme einer Innovation durch einen Sprecher zeigt, ist nichts anderes als der Beginn einer einzelsprachlichen Tradition. Wandel ist überhaupt das Zustandekommen von Traditionen. Die Innovation kann dabei zwar absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt werden. Wenn dagegen ein Sprecher diese Innovation in sein einzelsprachliches Wissen übernimmt, tut er dies für gewöhnlich absichtlich. Eine Innovation kann nun von einigen weiteren Sprechern bis zu allen Sprechern einer Gruppe übernommen werden. Diesen Vorgang kann man „Verallgemeinerung“ nennen; das Ergebnis der Verallgemeinerung bei allen Sprechern ist dann eine „extensive Allgemeinheit“ oder einfach „Allgemeinheit“. In diesem Sinne ist sicher der metonymische Ausdruck „einen Autor lesen“ für „das Werk eines Autors lesen“ im Deutschen allgemein. Die Verallgemeinerung der Anwendung eines sprachlichen Verfahrens kann man „intensive Allgemeinheit“, „Regelmäßigkeit“ oder, im Falle der Verallgemeinerung eines Lautes oder Phonems in allen entsprechenden Wörtern, „Gesetzmäßigkeit“ nennen (man vergleiche dazu Coseriu 1974: 77, dem es im Zusammenhang seiner Argumentation allerdings nur um das Problem der „Lautgesetze“ geht). Wir haben gesehen, dass das Verfahren, einen Ausdruck von Personen auf Sachen zu übertragen, im Deutschen sicher keine „intensive Allgemeinheit“ erlangt hat. Es ist nun leicht einzusehen, dass sowohl der Vorgang der Verallgemeinerung einer sprachlichen Innovation bei den Sprechern, die bis zur Allgemeinheit unter ihnen gehen kann, als auch der Vorgang der Verallgemeinerung, der zur sprachlichen Regelmäßigkeit führt, so viele Zwischenstufen zulässt, wie es bis zum Erreichen der „extensiven Allgemeinheit“ Sprecher gibt oder sprachliche Phänomene von einer Regularisierung betroffen sein können. Kehren wir zu unserem metonymischen Beispiel zurück. Die metonymische Beziehung zwischen Autor und Werk ist sicherlich extensiv allgemein im Deutschen, Französischen, Italienischen, Spanischen beim Verb lesen, lire, leggere, leer. In allen diesen Sprachgemeinschaften, so ist ohne weiteres anzunehmen, kann
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ein Ausdruck wie „Grass lesen“, “lire Homère”, “leggere Manzoni”, “leer a Cervantes” von allen Sprechern verwendet werden. Man wird also für das Lesen jeder Schrift jedes Autors den Autor an die Stelle der Schrift setzen können und ebenso einen Komponisten oder einen bildenden Künstler für das Anhören oder Ansehen seines Werks. Nicht so aber bei der Gleichsetzung einer Person mit einem Fahrzeug. Schon nicht alle Sprecher des Deutschen werden sich in der oben erwähnten Weise mit ihrem Auto identifizieren, weder mit jedem ihrer Fahrzeuge noch mit allen Verwendungen, in denen ein Fahrzeug in Beziehung zu einer Person steht. Die Gruppe derjenigen deutschen Sprecher, die auf die Frage: „Wen is dat Moped?“ mit „Ich!“ statt mit „Mir!“ antworten würden, wie dieser Witz es dem Ruhrgebiet nachsagt (Koch/Krefeld/Oesterreicher 1997: 64), sind wohl zu zählen. Die Identifikation eines Gastes über sein bestelltes Essen, unter Kellnern extensiv und intensiv möglicherweise allgemein, wird schwerlich von allen Gästen in allen Situationen von Restaurantbesuchen übernommen. Eine ähnliche berufsgruppenspezifische Allgemeinheit ließe sich bei Ärzten und Pflegepersonal in einem Krankenhaus feststellen, wenn sie von einer „Dialyse“ oder einem „Herzklappenfehler“ sprechen und damit einen Patienten meinen. Der typische Fall, an dem das Phänomen des Sprachwandels erläutert wird, ist aber nicht wie hier die Metonymie, die Metapher oder der Neologismus, sondern der Lautwandel, besonders in Gestalt der so genannten „Lautgesetze“ (cf. Schneider 1973). Wir kommen darauf bei der Besprechung von Sprachvariation aus einzelsprachlicher Sicht zurück. Alle solche einzelnen Phänomene des Wandels in einer Einzelsprache machen zusammengenommen die Geschichte dieser Einzelsprache aus. Der Wandel ist jedoch mit der Neuerung und seiner Übernahme durch Sprecher nicht abgeschlossen, denn von der ersten Übernahme an hat ein Sprecher die Wahl zwischen einer Sprache mit dem neuen Phänomen oder einer Sprache ohne dieses Phänomen. Von der Übernahme einer Neuerung in den Sprachbesitz an besteht demnach die Möglichkeit einer Selektion. Der Wandel ist erst dann völlig vollzogen, wenn diese Selektionsmöglichkeit nicht mehr besteht. Der Vorgang des Sprachwandels kann nur im konkreten Sprechen beobachtet werden. In einer Sprachgeschichte und in einer „historischen Grammatik“ sind die Resultate des jeweiligen Wandels verzeichnet (Humboldts „Werk“). Was nicht in schriftlichen Zeugnissen belegt ist, wird notfalls ergänzt, indem man hypothetische Zwischenstufen (re)konstruiert. Der Sprachwandel leitet sich also aus dem schöpferischen Charakter der Sprache ab. Sprachwandel vollzieht sich daher so notwendig, wie die Sprache notwendigerweise schöpferisch ist. Mit Sprachwandel in den Einzelsprachen beschäftigt sich die historische Sprachwissenschaft. Da aber der Vorgang des Wandels selbst ein Geheimnis bleibt – denn er entzieht sich der unmittelbaren Beobachtung (man weiß ja beim Sprechen oder Zuhören nicht, ob eine Innovation des Diskurses in die Einzelsprache übernommen werden wird) –, muss die historische Sprachwissenschaft sich um eine angemessene Theorie des Sprachwandels bemühen und sie muss mit sorgfältigen Datenerhebungsmethoden arbeiten.
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Ich erwähne nur als wissenschaftsgeschichtliches Faktum, dass die romanische Sprachwissenschaft, wie sie sich bis heute an den Hochschulen entwickelt hat, als historische Sprachwissenschaft entstanden ist. Ihr erster Vertreter an einer Universität und somit Begründer des Hochschulfachs war Friedrich Diez (1794–1876) an der Unversität Bonn. Man kann jedoch nicht behaupten, dass die frühe historische Sprachwissenschaft eine angemessene Theorie des Sprachwandels hatte; zur Begründung der romanischen Philologie reichte es aus, dass man ihr eine solide Methode gab, die (historisch-)vergleichende Methode, mit der frühe Entwicklungsstufen von Sprachen rekonstruiert werden können. Die Beiträge zu einer expliziten Theorie des Sprachwandels setzen erst mit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein. In meiner Argumentation über den Sprachwandel habe ich mich auf Coseriu 1957 gestützt. Begrifflich gehören die Ausführungen dieses Abschnitts wie auch die folgenden zur Sprachvariation zu 1.2.5. Ich habe den Sprachwandel getrennt betrachtet, weil dies der üblichen Sicht entspricht. Er ist aber eigentlich Ausdruck des Schöpferischen in der Einzelsprache.
1.2.1.5 Sprachvariation Ein schöpferischer Umgang mit Sprache führt nicht nur dazu, dass Sprache sich wandelt, sondern hat ebenfalls zur Folge, dass Sprache variiert. Was in der Zeit als Wandel wahrgenommen wird, stellt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Sprachraum besonders dann als Variation dar, wenn eine Selektionsmöglichkeit zwischen dem Alten und dem Neuen existiert. Die Gradualität der extensiven wie der intensiven Verallgemeinerung bringt es mit sich, dass Sprache in diesen beiden Hinsichten Variation aufweist. Die Sprachvariation leitet sich also unmittelbar aus der graduellen Übernahme einer Neuerung durch die Sprecher und aus der graduell verlaufenden Regularisierung der einzelsprachlichen Phänomene ab. Sie ergibt sich genauso notwendig wie der Sprachwandel. Eine metonymische Beziehung zwischen einer Person und einer Sache, wie wir sie beim Sprachwandel besprochen haben, wird nicht von allen Sprechern einer Sprachgemeinschaft hergestellt und sie wird auch nicht in allen möglichen Fällen von einzelnen solcher Beziehungen in ähnlicher Weise von den Sprechern realisiert oder den Hörern akzeptiert und selbst diejenigen, die diese Metonymien verwenden, tun dies nicht immer und nicht in allen Situationen. Um jedoch darstellen zu können, warum die Sprachvariation de facto genauso wenig grenzenlos ist wie der Sprachwandel, müssen wir zuvor auf das Universale der Alterität eingehen.
1.2.2 Die Alterität „Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geis-
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tigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschengeschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung“ (Humboldt 1963b: 137–138).
1.2.2.0 Allgemeines Sprache wird häufig als Kommunikation definiert. Nun gehören aber bei der Kommunikation das Miteinandersprechen und das Sprechen über etwas untrennbar zusammen. Kommunikation als Miteinandersprechen und Kommunikation als Sprechen über etwas sind nicht identisch. Deshalb möchte ich erläutern, warum ich im Kontext der Universalien darauf verzichte, von Kommunikation zu sprechen. „Kommunikation“ betont den Gesichtspunkt des Miteinandersprechens auf Kosten der Tatsache, dass man miteinander über etwas spricht. Diese beiden Gesichtspunkte – miteinander und über etwas – werden dabei aber nicht deutlich herausdifferenziert. Durch den Terminus Kommunikation wird nicht genügend klargestellt, dass er zwei sprachliche Dimensionen beinhaltet, nicht nur eine, denn in der Kommunikation spricht man immer miteinander über etwas. Jedoch wird in der allgemeinen Verwendung von „Kommunikation“ das Miteinandersprechen betont. Wenn dann noch hinzukommt, dass die Funktion von Sprache als Kommunikation definiert wird, dann wird der Begriff von Sprache verkürzt. Betrachtet man jedoch den üblichen Sprachgebrauch, so wird mit „Kommunikation“ ein Teil dessen benannt, was hier in umfassender Weise in „Alterität“ enthalten ist. Wenn „Kommunikation“ einen eigenen Sinn haben soll, dann in der konkreten Verwendung von Sprache im Diskurs. Der Begriff der Alterität wird durchaus verschieden, ja sogar gegensätzlich verstanden: Der Andere kann die Rolle einnehmen, die auch ich haben kann, und die Rolle dessen, der ein Fremder ist, wie wir soeben bei Humboldt gelesen haben. Alterität in einer multikulturellen Gesellschaft meint den Anderen, der mir fremd ist, der nicht zu einem anderen Ich wird. Er ist der Andere der anderen Gruppe, Nation, Religion oder Kultur überhaupt. Beim Sprechen von der Alterität von Texten meint man dazu noch das Andere, das fremd ist, die Andersheit. Der Andere in der sprachlichen Alterität ist ein Anderer, der wie ich ist, der ein anderes Ich ist, mit dem ich Gemeinsames habe und Gemeinsamkeit schaffen kann, mit dem zusammen ich meine oder er seine oder sie ihre sprachliche Identität oder Identität überhaupt konstituiert. Identität und Alterität sind an die Erfahrung gebunden, die Rolle des jeweils anderen einnehmen zu können. Identität und Alterität fundieren sich gegenseitig. Die Frage: „Wer bist du?“ impliziert die Frage: „Wer bin ich?“ Identität und Alterität sind zwei Perspektiven eines einzigen Verhältnisses. Bei diesem Ich-Du-Verhältnis ist es möglich, auf ein Du hin ausgerichtet zu sein oder auf sein Ich. Dieses Spannungsverhältnis impliziert Reflexivität (cf. 1.2.6.) sowie die Wahrnehmung der eigenen Geschichtlichkeit und derjenigen des Anderen.
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1.2.2.1 Sprechen im Allgemeinen Wie die anderen Universalien hat Humboldt auch die Alterität der Sprache begrifflich unterschieden, ohne sie mit einem Terminus zu belegen: „In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat“ (1963c: 196). „Die geistige Mittheilung setzt, von dem Einen zum Andren übergehend, in diesem etwas ihm mit jenem Gemeinsames voraus. Man versteht das gehörte Wort nur, weil man es selbst hätte sagen können. Es kann in der Seele nichts, als durch eigne Thätigkeit vorhanden seyn, und das Verstehen ist ebensowohl, als das Sprechen, selbst eine Anregung der Sprachkraft, nur in ihrer innern Empfänglichkeit, wie dieses in seiner äusseren Thätigkeit“ (1963c: 217).
Noch klarer sagt Humboldt dies mit den folgenden Worten: „Im Menschen aber ist das Denken wesentlich an gesellschaftliches Daseyn gebunden, und der Mensch bedarf, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungsbeziehungen, zum blossen Denken eines dem Ich entsprechenden Du. […] Der Begriff erreicht seine Bestimmtheit und Klarheit erst durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft. Er wird, wie wir im Vorigen sahen, erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und dem Subjekt gegenüber zum Object bildet. Es genügt jedoch nicht, dass diese Spaltung in dem Subjecte allein vorgeht, die Objectivität ist erst vollendet, wenn der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber ist die einzige Vermittlerin die Sprache, und so entsteht auch hier ihre Nothwendigkeit zur Vollendung des Gedanken. Es liegt aber auch in der Sprache selbst ein unabänderlicher Dualismus, und alles Sprechen ist auf Anrede und Erwiederung gestellt“ (1963c: 201).
In jedem Sprechen richtet sich ein Ich an ein Du. Als Sprecher bezieht man die Identität des Anderen mit ein. Sie umfasst die soziale Identität mit der sozialen Rolle und dem sozialen Wert des Gesprächspartners, die man durch Formen der Höflichkeit, die bis zur Hochachtung und Verehrung gehen können, anerkennt oder in Formen der Unhöflichkeit bis zur Verachtung und Verächtlichmachung nicht anerkennt. Unter die Alterität und ihren sprachlichen Ausdruck ist aber jede Form von Identitätskonstitution zu fassen, die zugleich immer auch in Beziehung zum Angesprochenen gesehen werden muss. Dabei gibt es die Anderen, die man als einem selbst zugehörig anerkennt, und die Anderen, die man ausschließt. Beides führt zur Bildung von gesellschaftlichen Gruppen, die sich in ihren geschichtlichen Formen nach innen oder nach außen auch durch Sprache abgrenzen. Die größte Gruppe ist diejenige, die sich durch eine historische Sprache (cf. 2.1.2) als Sprachgemeinschaft konstituiert. Innerhalb einer historischen Sprache bilden sich viele kleinere Gemeinschaften durch Dialekte, regionale Akzente, Soziolekte und dergleichen heraus. Alterität und Identität, du und ich, ihr und wir, gehören zusammen. Beide müssen individualisiert werden. Am besten gelingt dies mit Namen. Die Eigennamen, die die Identität der eigenen Sprachgemeinschaft individualisieren, stehen der Alterität der
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fremdsprachigen Gruppe gegenüber. Wir sind einfach immer nur Menschen, die sprechen, wie es sich gehört. Es sind die Anderen, die sich von uns unterscheiden. Selten geht man aber in der mangelnden Anerkennung der Anderen so weit wie die alten Griechen und auch die Römer, für die alle Anderssprachigen schlicht Barbaren waren. Jedoch erhalten die kulturell Anderen ebenso wie die sprachlich Anderen oft negativ besetzte Namen.
1.2.2.2 Einzelsprache Wir wollen verstanden werden. Die in der Sprache stets gegebene Alterität drückt sich einzelsprachlich darin aus, dass man Laute und Bedeutungen für sich und Andere objektiviert und dass man sie distinkt hält. Das wird bereits durch die Erwachsenen von den Kindern eingefordert, wenn diese vom üblichen Sprachgebrauch abweichen. An der Alterität findet die Kreativität auch geschichtlich ihre Grenzen: Im Sprechen mit den Anderen versuchen wir wie die Anderen oder wie ein Teil der Anderen zu sprechen. Wir schränken unsere sprachliche Freiheit ein, indem wir unsere Sprache der Sprache der Anderen ähnlich machen. Dies geschieht namentlich beim Erlernen der ersten Sprache durch Kinder, die fast immer ihre Schöpfungen zugunsten der üblichen Sprache aufgeben. Weil die Kinder und Jugendlichen ihre Sprache von heute teils aufgeben und teils beibehalten, ist sie nicht unbedingt die Sprache der Erwachsenen von morgen. Die Anderen sind zuerst die Eltern und Angehörigen, später sind es im Kindesalter auch die Gleichaltrigen, mit denen man dann sprachliche Gemeinsamkeiten aufbaut. Wenn man sich bemüht, wie die Anderen zu sprechen oder zu schreiben, erhält und bewahrt man die Sprache. Ebenso aber wirken wir am Wandel einer Sprache mit, wenn wir von Anderen eine Innovation übernehmen. Beim Lernen einer anderen Art zu sprechen, vor allem beim Erlernen einer Fremdsprache, gehen wir nicht anders vor: Wir bestehen nicht auf unseren Schöpfungen in der anderen Sprache, sondern wir geben sie vielmehr als „Fehler“ auf, um wie diejenigen zu sprechen, die die Tradition gut kennen. Das „Sprechen wie die Anderen“ hat jedoch seine Grenzen, denn die Anderen sprechen nicht einheitlich. Wir können uns mit verschiedenen Gruppen von Anderen identifizieren, so z. B. mit einer Gruppe, die einen Dialekt und eine bestimmte standardsprachliche Varietät spricht, aber eben nicht mit allen. Und doch macht die Alterität durch das Bemühen um Verstehen über große sprachliche Unterschiede hinweg die Verständigung möglich. So fallen die Alterität des Sprechens und die Alterität des Verstehens nicht zusammen. Andererseits werden im „Sprechen wie die Anderen“ Grenzen überschritten. Es ist ein sehr natürlicher Wunsch, wenn jemand mit seiner Sprache möglichst viele Mitsprechende erreichen will. Eine Standardsprache ist daher nicht (nur) etwas Auferlegtes. Es ist ein ungeheurer Gewinn, der viele kulturelle Ausdrucksformen erst ermöglicht. Und aus dem Willen, verstanden zu werden, kann man ableiten, dass man eine reine Sprache pflegen möchte oder soll. Daraus folgt für Puristen, dass man
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nicht verständliche Neologismen vermeidet sowie veraltete Wörter oder Dialektwörter. Dem Willen zur Alterität entspringt aber genauso der Wunsch, sich sprachlich in einem kleinen Raum zu verwurzeln, mit allen Sprechern seiner Sprachgemeinschaft sprechen zu können und, über die Weltsprachen, letztlich und grundsätzlich mit allen Menschen. Eine Standardsprache entsteht durch unterschiedliche Formen von Sprachplanung. Diese tritt in Gestalt von Korpus- und Statusplanung auf und wird durch Sprachpolitik durchgesetzt. Dies alles ist vielleicht die wichtigste direkte Einwirkung auf die Alterität der Sprache. In der Tat mag man der romantischen Idee anhängen, dass sich eine Sprache einfach natürlich von Generation zu Generation entwickelt. Dass das nicht so einfach ist, erkennen wir an den politischen Bedingungen, unter denen sich eine Gemeinsprache in einer staatlichen Gemeinschaft ausbreitet. Während des Ancien Régime ging der Adel zur Gemeinsprache über, wenn er damit seine Privilegien sichern konnte. Die Nationalstaaten, die sich nach der Französischen Revolution konstituierten, wurden dominant vom Bürgertum getragen. Dieses setzte seine Idee von Nationalsprache spätestens durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch. Somit ergeben sich Stufen einer vom Adel zum Bürgertum und zur Gesamtnation erweiterten Alterität. Für die Durchsetzung einer bestimmten Sprache wird also Sprachpolitik eingesetzt. Sie ist das Mittel, mit dem die Zugehörigkeit der Staatsbürger zur Sprache einer staatlichen Gemeinschaft hergestellt wird. Auch Minderheitensprachen bedienen sich zur Durchsetzung ihrer Sprache gegenüber einer dominierenden Sprache sprachpolitischer Mittel (cf. 4.3). Die einzelsprachliche Untersuchung der Alterität hat noch keine klaren Konturen angenommen. Typische Themen sind die hier erwähnten Bereiche der Anrede und der Höflichkeit, die dieses Universale aber thematisch nicht im Geringsten erschöpfen können. Sinnfällig wird sie in den grammatischen Formen der Anrede, der „zweiten Person“, die rein grammatisch eine „dritte Person“ sein kann, im Imperativ, im Interrogativ und im Vokativ, um nur einige auffälligere Erscheinungen zu nennen. Wir finden sie lexikalisch ausgedrückt in den Substantiven, die bei der Anrede manifestieren, in welchem Verhältnis ich mich zum Angesprochenen befinde. Die historischen Ausprägungen der Höflichkeit in der Romania haben Folgen für die einzelsprachlichen Formen der Anrede gehabt: Die zweite Person Plural kann an die Stelle der zweiten Person Singular für die Anrede treten und so zu einer Differenzierung in der Anrede führen wie frz. tu, vous, oder im älteren Spanisch vos, das bis zum 16. Jahrhundert fast völlig tú ersetzt hat und heute in einigen hispanoamerikanischen Ländern an die Stelle von tú getreten ist, sowie regionalit. tu, voi. In einem weiteren Schritt wird die dritte Person Singular für die Anrede einer einzelnen Person verwendet, die zuvor in der zweiten Person Plural angeredet worden war: Sp. vuestra merced, das in einer Schnellsprechform zu usted geworden ist und letztlich auch dem it. Lei zugrundeliegt. Und schließlich wird im Deutschen die dritte Person Plural anstelle der dritten Person Singular verwendet und lässt keinen Numerusunterschied mehr zu. Es sei betont, dass dies lediglich einige (doch im Ver-
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hältnis zum Ganzen recht marginale) Beispiele dafür sind, wie dieses Universale in Erscheinung tritt.
1.2.2.3 Diskurs Die Hinwendung an den Anderen zeigt sich nirgends klarer als in Fragen und Antworten. In der Frage drückt der Sprecher sein Verhältnis zum Angesprochenen aus, seine Nähe oder seine Distanz, seinen sozialen Status, seine Gleich-, Über- oder Unterordnung gegenüber dem Angesprochenen. Ebenso kann der Angesprochene auf die Frage eingehen, sich einer Antwort verweigern oder alle möglichen Verhaltensweisen einnehmen, die zwischen einer vollen Garantie für die Antwort und Graden von Formen des Ausweichens liegen. Wissenschaftlich weniger wahrgenommen, als er es verdient, wird der Klatsch, die wahrscheinlich häufigste Art des Miteinandersprechens von Menschen, die miteinander vertraut sind und damit viel Zeit verbringen. Diese Art des Sprechens hat Malinowski schon 1923 phatic communion genannt: “a type of speech in which ties of union are created by the mere exchange of words” (1994: 463). Eine solche Situation wird, im Gegensatz zum context of situation, nur durch den Austausch von Worten als Ausdruck von Geselligkeit geschaffen. So hat das Sprechen über Themen wie das Wetter in Großbritannien, obwohl darstellend, nur den Zweck, sich sprachlich an einen Anderen zu wenden. Diese Art von Diskurs sollte man empirisch häufiger untersuchen, aber er entzieht sich gerade deshalb der Beobachtung, weil das „leere Gerede“ und die Beobachtung sich nicht miteinander vertragen. Die Alterität zeigt sich diskursiv auch darin, dass das Gesagte informativ, nicht tautologisch, widerspruchsfrei und überhaupt klar und verständlich sein soll, wie dies in Konversationsmaximen formuliert wird (Grice 1975). Auf der Seite des Hörers entspricht dem die Tatsache, dass er immer unterstellt, dass das Gesagte einen Sinn hat. Wenn etwas nicht verständlich ist, wird dem Gehörten auch kein Sinn mehr unterstellt. Der intentionale Einsatz von Alterität liegt in allen Persuasionstechniken vor, unter denen die Rhetorik eine herausragende Tradition hat. Die Alterität tritt im Diskurs unter anderem durch stark konventionalisierte Formen wie etwa den Begrüßungen in Erscheinung. In einem weiteren Zusammenhang als dem Diskurs allein, also im Sprechen von Angesicht zu Angesicht mit allen seinen Begleiterscheinungen wirkt sich die Alterität als Anpassung der Gesprächspartner untereinander aus. Als Sprecher passen wir uns unserem Gesprächspartner mit unserem ganzen Verhalten an, von dem die Sprache nur ein Teil ist. Wir tun dies auch dann, wenn es keine Verständigungsprobleme gibt. Mit welchen sprachlichen Merkmalen wir uns anpassen, hängt zu einem bedeutenden Teil von dem Bewusstsein ab, das wir von der eigenen Sprache und der Sprache der Anderen haben. Das Bewusstsein kann reflexiv sein oder sich einfach im Verhalten selbst ausdrücken. Im Allgemeinen darf es als erwiesen gelten, dass das Bemühen, die sprachlichen Einheiten (Sprachlaute, grammatische Einheiten, Wörter) distinkt zu
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halten, bei diesen Anpassungsprozessen eine maßgebliche Rolle spielt. Das Bewusstsein davon, ob ein Merkmal auffällig ist oder nicht, kann im Falle von lautlichen Unterschieden mit dem Verhältnis zwischen einem Buchstaben zu einem Laut, mit der Aufgabe eines bedeutungsunterscheidenden Merkmals bei einem Laut oder damit zu tun haben, dass die lautlichen Unterschiede zwischen den Sprechern groß sind. Die Sprecher des Spanischen in Amerika wissen zum Beispiel, dass der Laut /s/ mit den Buchstaben , und geschrieben werden kann, und unter ihnen ist das Wissen weit verbreitet, dass man in Spanien die Buchstaben und , wenn dem ein oder folgt, als /θ/ liest. Die Anpassung beginnt zwar sicherlich nicht im Bereich der Laute, sondern im Wortschatz, denn Unterschiede im Wortschatz sind auffälliger als andere Unterschiede. Es ist auch anzunehmen, dass der Anpassungsprozess vom Abstand zwischen den Varietäten der Gesprächspartner abhängt. Im Hinblick auf die Auswirkung der Anpassung ist zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen Anpassung zu unterscheiden. Die kurzfristige Anpassung kann nach einem Gespräch enden, während die langfristige zu einer Übernahme von sprachlichen Merkmalen eines Anderen in die eigene Sprache führt, wie wir sie bei der Erörterung des Sprachwandels in Betracht gezogen haben (cf. 1.2.1.4; zur Anpassung, accomodation, am Beispiel von Sprechern englischer Dialekte Trudgill 1986: 1–38). Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung, dass die Sprache von Fernsehen und Rundfunk übernommen wird, ist aus der Sicht der Alterität die große Bedeutung des Sprechens von Angesicht zu Angesicht zu betonen: “In any case, we can assume that face-to-face interaction is necessary before diffusion takes place, precisely because it is only during face-to-face interaction that accomodation occurs. In other words, the electronic media are not very instrumental in the diffusion of linguistic innovations, in spite of widespread popular notions to the contrary. The point about the TV set is that people, however much they watch and listen to it, do not talk to it (and even if they do, it cannot hear them!), with the result that no accomodation takes place. If there should be any doubt about the vital role of face-to-face contact in this process, one has only to observe the geographical patterns associated with linguistic diffusion. Were nationwide radio and television the major source of this diffusion, then the whole of Britain would be influenced by a particular innovation simultaneously. This of course is not what happens: London-based innovations reach Norwich before they reach Sheffield, and Sheffield before they reach Newcastle” (Trudgill 1986: 40).
Natürlich können Rundfunk und Fernsehen auch sprachliche Modelle sein, die nachgeahmt werden. Nachahmung aber sollte von Anpassungsprozessen unterschieden werden. 1.2.2.4 „Idiolekt“ Aus dem Universale der Alterität können wir einige Folgerungen ableiten. Wir wollen zwar für den oder die Anderen und wir wollen wie der Andere oder die Anderen sprechen, unsere Sprache ist jedoch von Individuum zu Individuum verschieden. Weil die Sprache, mehr noch aber die Rede je nach Individuum verschieden ist, wurde in der
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nordamerikanischen Sprachwissenschaft der Begriff des „Idiolekts“ geprägt (Bloch 1948: 7). Darunter versteht man eine einem Individuum eigene Sprache. Eine aber nur jemeinige, nicht mit Anderen geteilte Sprache, kann es, wie wir gesehen haben, nicht geben. Man stellt daher immer wieder fest, dass das, was einem Idiolekt zugeschrieben worden ist, auch in der Sprache Anderer existiert. Von der Annahme eines „Idiolekts“ völlig verschieden ist der individuelle Sprachbesitz. Denn gewiss besitzt jeder Einzelne eine Einzelsprache in einem unterschiedlichen Ausmaß. Er besitzt aber nicht nur eine Einzelsprache oder Varietät, sondern in der Regel mehrere, zwischen denen er variieren kann. Der Sprachbesitz umfasst mehrere Einzelsprachen bei denjenigen, die mehrsprachig aufgewachsen sind oder mehrere Sprachen gelernt haben.
1.2.3 Die Semantizität 1.2.3.0 Allgemeines Eine bei aller Gedrängtheit sehr gute einführende Darstellung des Problems der Semantizität gibt unter einem anderen Terminus Martinet (41996: 13–15), der zwischen einer ersten oder inhaltlichen Gliederung und einer zweiten oder lautlichen Gliederung (“articulation”) der Sprache unterscheidet. Diese “double articulation” lässt sich nur missverständlich im Deutschen mit „doppelter“ oder „zweifacher Artikulation“ wiedergeben. Das Prinzip der “première articulation” ist eine Formulierung des Universale der Semantizität. Diese Formulierung ist nicht so neu. Sie erscheint gegen Ende des 19. Jahrhunderts häufiger und wir erinnern uns daran, dass schon Georg von der Gabelentz gesagt hatte: „Menschliche Sprache ist der gegliederte Ausdruck des Gedankens durch Laute.“ Auch bei ihm stehen die Inhalte (der „Gedanke“) vor den Lauten. Saussure verweist darauf mit einem deutschen Ausdruck (1916: 26; cf. 1.1). ,Die erste Gliederung der Sprache [La première articulation du langage] ist diejenige, die darin besteht, dass jeder zu vermittelnde Sachverhalt der Erfahrungswelt, jedes Bedürfnis, das man anderen zu erkennen geben möchte, in eine Folge von Einheiten analysiert wird, die jede eine lautliche Form und eine Bedeutung [sens] hat. Wenn ich unter Kopfschmerzen leide, kann ich dies durch Lautäußerungen zum Ausdruck geben. Diese können unfreiwillig sein; ihre Untersuchung gehört in diesem Fall in die Physiologie. Sie können auch mehr oder weniger gewollt und dazu bestimmt sein, meiner Umgebung meine Schmerzen mitzuteilen. Aber das genügt nicht, um daraus eine sprachliche Kommunikation zu machen. Jeder Ausruf ist unanalysierbar und entspricht einer ganzheitlichen, unanalysierten Schmerzempfindung. Ganz anders ist die Lage, wenn ich den Satz j’ai mal à la tête [„ich habe Kopfschmerzen“] ausspreche. Keine der sechs aufeinander folgenden Einheiten j’, ai, mal, à, la, tête entspricht hier etwas Spezifischem an meinen Schmerzen. Jede von ihnen kann in ganz anderen Kontexten vorkommen, um andere Sachverhalte der Erfahrungswelt mitzuteilen: mal zum Beispiel in il fait le mal und tête in il s’est mis à leur tête. Man sieht, was die erste Gliederung an Ökonomie bietet: Man könnte sich ein Kommunikationssystem vorstellen, in dem eine besondere Lautäußerung einer bestimmten Situation oder einem Erfahrungssachverhalt entspräche. Aber es genügt, an die unendliche Vielfalt dieser
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Situationen und dieser Erfahrungssachverhalte zu denken, um zu begreifen, dass ein solches System, wenn es dieselben Dienste wie unsere Sprachen leisten müsste, eine so beträchtliche Zahl von verschiedenen Zeichen enthalten müsste, dass das menschliche Gedächtnis sie nicht speichern könnte. Einige tausend in hohem Maße kombinierbare Einheiten wie tête, mal, ai, la erlauben es uns, mehr Dinge mitzuteilen, als es Millionen von verschiedenen unartikulierten Lautäußerungen tun könnten. Die erste Gliederung ist die Art und Weise, nach der sich die allen Mitgliedern einer bestimmten Sprachgemeinschaft gemeinsame Erfahrung gestaltet. Nur im Rahmen dieser notwendigerweise auf das bei einer großen Zahl von Einzelnen Gemeinsame beschränkten Erfahrung kommuniziert man sprachlich. Die Originalität des Gedankens kann nur in der unerwarteten Anordnung der Einheiten zum Ausdruck kommen. Die persönliche, in ihrer Einmaligkeit nicht mitteilbare Erfahrung wird in eine Abfolge von in geringem Maße spezifischen und allen Mitgliedern der Gemeinschaft bekannten Einheiten zergliedert. Nur durch die Hinzufügung neuer Einheiten wird man spezifischer, indem man zum Beispiel Adjektive mit einem Substantiv, Adverbien mit einem Adjektiv und ganz allgemein Determinanten mit einem Determinatum verbindet. In diesem Rahmen kann der Sprecher schöpferisch tätig sein‘ (Martinet 41996: 13–14; meine Übersetzung).
Martinet schreibt das Prinzip in diesem Zitat dem langage zu, im Grunde aber betrifft es ebenso die langue (die Einzelsprache) und den Diskurs. Die Perspektive dieses Linguisten mutet etwas ungewöhnlich an, denn Sprachinhalte werden in der Alltagssprache nicht als „artikuliert“ aufgefasst. Die Semantizität hatten wir stillschweigend bei der Alterität eingeführt. Kommunikation, so sagten wir, sei „miteinander sprechen“ und „über etwas sprechen“. Die Semantizität meint den zweiten Teil der Aussage, die Tatsache, dass wir über etwas, über die Welt, sprechen. Mit den im Deutschen zum Teil ähnlich verwendeten Wörtern bezeichnen, bedeuten und meinen, mit denen ich die Semantizität der Sprache umrissen habe, verweise ich auf die drei sprachlichen Ebenen (cf. 1.): In allgemein-sprachlicher Hinsicht bezeichnet, in einzelsprachlicher Hinsicht bedeutet und im jeweiligen Diskurs meint man mit Sprache etwas (Coseriu 21992: 79). Die Verwendungen von bezeichnen, bedeuten und meinen sind nur konventionelle Festlegungen. Substantivisch ausgedrückt hat Sprache Bezeichnung, Bedeutung und Sinn. Man findet in den verschiedenen sprachwissenschaftlichen Richtungen mehr oder weniger gleichwertige Termini, soweit man sich mit diesem Problem näher auseinandersetzt und eine semantische Dreiteilung trifft. Es sei festgestellt, dass man in weiten Bereichen der modernen Sprachwissenschaft glaubt, ohne einen hinreichend reflektierten Begriff von einzelsprachlicher Bedeutung auskommen zu können. Der wohl am häufigsten vertretene Begriff von „Bedeutung“ steht dann demjenigen nahe, den wir im Zusammenhang mit dem Sprechen im Allgemeinen „Bezeichnung“ nennen.
1.2.3.1 Sprechen im Allgemeinen Im Sprechen im Allgemeinen wird in semantischer Hinsicht auf die Welt, auf die „außersprachliche Wirklichkeit“ Bezug genommen. Mit außersprachlicher Wirklichkeit ist gemeint, dass wir in unserem alltäglichen Sprechen die Welt, über die wir
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sprechen, als wirklich gegeben voraussetzen. Auch als Hörer versuchen wir stets, dem Gehörten einen Bezug zu der Wirklichkeit zu geben, die wir kennen, denn wir stellen die uns umgebende Welt normalerweise nicht in Frage. Wenn wir als Hörer diesen Bezug einmal nicht herstellen können, dann sagen wir, dass wir etwas nicht verstehen. Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit sei je nach sprachwissenschaftlicher Tradition Bezeichnung, Referenz oder Denotation genannt. Mit diesen Termini werden manchmal noch weitere Unterscheidungen verbunden, so dass es sich immer empfiehlt, auf die genaue terminologische Verwendung zu achten. Die Termini, die ich verwende, bringen Verständnis- und Verwechslungsprobleme mit sich. In der deutschen Alltagssprache verwendet man bezeichnen für den Bezug auf sprachliche Ausdrücke. Diese Verwendung liegt vor, wenn wir jemanden „als Lügner bezeichnen“. Als sprachwissenschaftlicher Terminus ist mit bezeichnen nicht das Verweisen auf die Wörter oder Wortformen gemeint, sondern das Verweisen auf die Wirklichkeit oder auf das Bewusstsein von der Wirklichkeit mit Hilfe der Sprache. Das wird natürlich wieder durch Wörter ausgedrückt. Außer der als real gedachten Wirklichkeit können wird auch bloß vorgestellte, erfundene und erlogene Wirklichkeiten bezeichnen, die insofern real sein können, als sie in unserem Bewusstsein existieren. Im Einzelnen gehören zum Bezeichnen der Bezug auf Gegenstände und auf Sachverhalte (cf. 1.3.2), d. h. das Aussagen, Auffordern, Fragen, Ausrufen (um nur einiges aus den semantischen Möglichkeiten dieser Art zu erwähnen; cf. 1.3.3.1) und auf sprachliche Äußerungen. Durch die Orientierung am Ich, Hier und Jetzt erhält jedes Sprechen seine Perspektive (Bühler 21965). Mit Sprache bezeichnet man etwas, das sich außer ihr befindet, deshalb muss man für das Sprechen zugleich Kenntnisse von der „Welt“ bzw. von den „Sachen“ haben. Diese Tatsache wird uns im Erwachsenenalter erst wieder bewusst, wenn wir es mit neuen Sach- und Wissensgebieten zu tun bekommen. Im Kindesalter dagegen werden die Erfahrung mit der Welt und das Sprechenkönnen gleichzeitig ausgebildet. Der Sprecher kennt nur das, was die Wörter bezeichnen. Warum hier dennoch zwischen Bezeichnung und Bedeutung unterschieden wird, bespreche ich am Ende des folgenden Abschnitts. 1.2.3.2 Einzelsprache ‚er [ein von mir geschätzter Linguist, dessen Name hier nicht genannt zu werden braucht, J.L.] möchte weder auf die Introspektion rekurrieren noch ein ‚Mentalist‘ sein. Das aber ist gerade die Herausforderung, der sich die Linguistik wegen ihres Gegenstandes stellen muss. Die Innerlichkeit der Bedeutung ist ein Faktum, dem jede Linguistik Rechnung tragen muss und das man nicht ignorieren darf. Sonst findet man sich damit ab, von etwas anderem und nicht von ihrem eigentlichen Gegenstand zu sprechen, und, indem man ‚wissenschaftlicher‘ sein will, es nicht zu sein, da man nicht im eigentlichen Sinn dieses Ausdrucks ‚objektiv‘ ist. Die wissenschaftliche Objektivität besteht darin, dass jede Wissenschaft ihrem Gegenstand angemessen ist; deshalb kann und darf die Objektivität der Linguistik nicht diejenige der Naturwissenschaften sein‘ (Coseriu 2001a: 362; meine Übersetzung).
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Diese etwas verborgene Stelle ist die richtige, um auf die Zentralität der Bedeutung in der Sprache und der Linguistik hinzuweisen, die mich von Anfang an leitet. Wie das Zitat zeigt, ist gerade in der Rezeption der Auffassungen von „Bedeutung“ immer mit Missverständnissen zu rechnen. Der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit wird mit Hilfe von Bedeutungen (bei Saussure signifiés, cf. 2.0.2) hergestellt. Diese Bedeutungen – damit greifen wir auf das Universale der sprachlichen Historizität vor – haben sich im Laufe der Geschichte einer Einzelsprache herausgebildet und können je nach Einzelsprache verschieden sein (cf. 2.3); mit diesen verschiedenen einzelsprachlichen Bedeutungen wird aber grundsätzlich dieselbe Welt gegliedert. Die menschliche Erfahrung wird in den jeweils in unterschiedlicher Weise geschichtlich zustande gekommenen einzelsprachlichen Bedeutungen aufbewahrt und tradiert. Der Unterschied zwischen Bedeutung und Bezeichnung lässt sich am besten mit einem lexikalischen Beispiel zeigen, bei dem derselbe Bezeichnungsbereich in seiner Gestaltung in verschiedenen Einzelsprachen miteinander verglichen wird. Das Bezeichnete sei das ,Fortpflanzungsorgan einer Pflanze‘. Dabei lasse ich einmal dahingestellt sein, ob diese Beschreibung des Bezeichneten, die im 18. Jahrhundert durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné verbreitet wurde, dem Wissen der Sprecher genau entspricht. Sie trifft aber sicher den Sachverhalt bei der Mehrheit der Sprecher europäischer Sprachen. In den romanischen Sprachen wird dem Bezeichneten durch die Bedeutungen von frz. fleur, it. fiore, kat. pt. sp. flor, rum. floare (die untereinander sehr ähnlich sind, einschließlich der metaphorischen Verwendungen) einzelsprachliche Gestalt gegeben. Im Deutschen müssen wir dagegen zwischen Blume und Blüte unterscheiden, wobei Blüte für einen bestimmten Teil einer Pflanze, Blume für eine Pflanze mit einer Blüte steht. Blume ist in der Verwendung umfassender als Blüte, denn wenn der Unterschied zwischen Blume und Blüte nicht in Betracht gezogen werden soll, sagt man Blume wie etwa in Blumenstrauß. So ist ein Rosenstrauß ein Blumenstrauß, auch wenn die einzelnen Rosen Blüten sind. Mit diesem Beispiel soll gezeigt werden, dass die Bedeutungen in der einer jeden Einzelsprache eigenen Weise gestaltet sind. Natürlich können sie mit der außersprachlichen Wirklichkeit mehr oder weniger übereinstimmen, insbesondere bei Artefakten, also von Menschen hergestellten Erzeugnissen. Und bestimmte Bedeutungen der einen Sprache können mit bestimmten Bedeutungen der anderen relativ genau übereinstimmen. So entsprechen sich fleur, fiore und flor recht genau. Dies muss aber nicht so sein. Für die Einzelsprachen und namentlich für die Bedeutungen der Einzelsprachen gilt der Grundsatz des russischen Sprachwissenschaftlers Roman Jakobson: “Languages differ essentially in what they must convey and not in what they may convey” (1959: 236). (,Sprachen unterscheiden sich im Wesentlichen durch das, was sie ausdrücken müssen, und nicht durch das, was sie ausdrücken können.‘) Im Deutschen muss ein Sprecher in der Regel zwischen Blume und Blüte unterscheiden. Tut er es nicht, spricht er nicht korrekt oder er kann falsch verstanden werden.
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Die Einzelsprachlichkeit der Bedeutung lässt sich aber auch in der Grammatik zeigen. Nehmen wir den bestimmten Artikel. In it. Odio il pesce ,Ich mag keinen Fisch‘, frz. J’aime les romans ,Ich lese gerne Romane‘, sp. Me gusta el pescado ,Ich esse gerne Fisch‘ wird in den romanischen Sprachen übereinstimmend der bestimmte Artikel verwendet. Der lexikalische Unterschied wird sicher stärker auffallen als der grammatische, aber darauf kommt es jetzt nicht an. Der Vergleich mit dem Deutschen zeigt, dass die Verwendung einzelsprachlich ist und sich nicht selbstverständlich aus der Existenz des Artikels in einer Sprache ergibt. In den romanischen Beispielen liegt eine generische Verwendung des Artikels vor, d. h. er aktualisiert die Gesamtheit der Elemente einer Klasse oder Unterklasse, in unseren Beispielen die Klasse Fisch als Nahrungsmittel und die Klasse der Romane. Wenn Substantive im Deutschen mit generischer Bedeutung verwendet werden, erhalten sie keine Bestimmung durch einen bestimmten Artikel, in den romanischen Sprachen wird diese Bestimmung dagegen mit dem bestimmten Artikel ausgedrückt: frz. L’union fait la force – dt. Einigkeit macht stark. Deutliche einzelsprachliche Unterschiede zwischen Deutsch und Romanisch lassen sich auch im Bereich der Tempora zeigen, besonders bei den Vergangenheitstempora. Die deutschen und die romanischen Beispiele zeigen, dass es zwischen den einzelsprachlichen Bedeutungen und ihrem Ausdruck keinen unmittelbaren Zusammenhang gibt. Seit der Antike diskutiert man die Frage, ob die sprachlichen Zeichen konventionell oder willkürlich („arbiträr“) sind. In dieser Frage wie in vielen anderen bezieht sich die europäische Sprachwissenschaft auf die Diskussion der Willkürlichkeit des Zeichens bei Saussure (“l’arbitraire du signe”, 1916: 100–102; 2.1.4). So sind die sprachlichen Zeichen grundsätzlich erst einmal in ihrem heutigen Gebrauch und in universeller Hinsicht nicht motiviert bzw. arbiträr. Zwischen Blume, fleur, flor, fiore, floare und der damit bezeichneten Sache gibt es keinen direkten Zusammenhang. Dies gilt, wie soeben festgestellt, für eine universelle Sicht des sprachlichen Zeichens. In einer Einzelsprache aber muss man die Wörter mit ihren einzelsprachlichen Bedeutungen in traditioneller Weise verwenden, wenn man verstanden werden will. Setzt man diese grundsätzliche Arbitrarität voraus, kann man auch wieder eine relative Motiviertheit feststellen. Die Wortbildung zum Beispiel ist ein solcher großer Bereich der relativen Motiviertheit: Im Französischen ist fleurir ‚blühen‘ durch den Zusammenhang mit fleur motiviert und so auch das portugiesische florear und florejar sowie das spanische florecer durch das Verhältnis zu flor und das italienische fiorire durch das Verhältnis zu fiore. Es ist sicherlich nicht leicht einzusehen, dass die einzelsprachliche Bedeutung der Bezeichnung vorausgeht. Ich möchte diese Beziehung mit einem Beispiel verdeutlichen, wie Kinder das Wort Papa verwenden lernen. Mit Mama verhält es sich nicht sehr viel anders, aber ich möchte mich auf meine eigene Erfahrung stützen. Es kommt schon einmal vor, dass ein kleiner mir unbekannter Junge in Begleitung seiner Mutter freudig auf mich zuläuft und „Papa!“ ruft. Eine Mutter meinte einmal peinlich berührt: „Aber das ist doch nicht der Papa!“ Das wusste das Kind
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auch. Inzwischen wurde im Jahr 2000 ein Neffe von mir geboren, der mich bis zum Alter von viereinhalb Jahren häufig Papa nannte, danach noch jahrelang gelegentlich. Er kann seinen Vater sehr genau von seinem Onkel unterscheiden und er weiß auch genau, was ein Papa ist. Weil er bei uns in ähnlicher Weise zu Hause ist wie bei sich, variierte er Papa mit anderen Arten der Anrede, wenn er mich ansprach. Erzählte er von seinem Papa, sagte er mein Papa, mit Betonung auf mein. Das Wort Papa hat mein Neffe durch die eindeutige Bezeichnung seines Vaters mit diesem Wort gelernt. Er hat ihm aber anfangs eine allgemeinere Bedeutung gegeben, als es in der deutschen Sprachgemeinschaft üblich ist. Erst im Laufe von mehreren Jahren hat er die Bedeutung von Papa auf die diejenige Bezeichnung eingeschränkt, die in der deutschen Sprachgemeinschaft üblich ist. Den soeben beschriebenen Vorgang können die Eltern übrigens nicht kennen, weil dieser Sprachgebrauch in ihrer Anwesenheit natürlich niemals vorkommt. Natürlich halten sich Mama und Papa noch länger für die Bezeichnung von Eltern anderer Kinder und auch von Tierjungen. Wir sehen an diesem Beispiel, dass die Bedeutung der Bezeichnung vorausgeht. Der Vorgang der Spracherlernung wird dann im Erwachsenenalter vergessen. Wie verträgt sich die Behauptung, die ich soeben gemacht habe, mit der Feststellung, dass die Sprecher nur das kennen, was die Wörter bezeichnen? Damit komme ich auf meinen Ausgangspunkt zurück, das Vorwissen der Sprecher (1.0). Für sie besteht die Bedeutung eines Worts in dem, was es bezeichnet, wobei es an dieser Stelle nicht erheblich ist, ob man sich das Bezeichnete als Teil der Wirklichkeit oder als Begriff vorstellt (siehe das Motto zu 1.2.4). Das bestätigen auch, soweit ich sehe, alle empirischen Untersuchungen, in denen nach den Bedeutungen der Wörter gefragt wird. Explizit macht dies Luis Fernando Lara (2016: 26) in seiner Worttheorie, die den Primat der Bedeutung (“significación”) für die Sprecher zugrunde legt. Diese geht aus von der ,Inhaltssubstanz, in der die einzigartige Fähigkeit des Wortes liegt, Dinge, Handlungen, Vorstellungen, Gefühle zu benennen, die der Lebenserfahrung eigen sind‘ (2016: 25). Die Inhaltssubstanz, die ich hier vereinfachend Bezeichnung nenne, steht dem Ausdruck (2.1.4) gegenüber. Die Vorgängigkeit der Benennungsfunktion des Wortes geht der Anerkennung seiner Existenz in einer Einzelsprache voraus (2016: 29). Die einzelsprachliche Bedeutung ist also keineswegs einfach gegeben, sie muss mit Hilfe einer Methode entdeckt und mit einer weiteren Methode beschrieben werden. Beide Methoden sind reflexive Verfahren (1.2.6), sie sind aber verschieden, je nachdem ob sie innersprachlich oder vergleichend angewandt werden. Lara identifiziert die Benennungseinheiten innersprachlich durch zwei Arten von Redeakten, dem der Identifizierung von Gegenständen in einem Gespräch, in dem die Gegenstände den Gesprächspartnern gezeigt werden, oder dem der Frage nach der Bedeutung (2016: 29). Beim zwischensprachlichen Vergleich nimmt man als Vergleichsgrundlage das Bezeichnete (Coseriu 2016: 52). Im Anschluss an den Vergleich von Blume und fleur könnte man ebenfalls Fragen stellen, aber andere: „Was ist bei beiden Wörtern gleich?“ Und: „Was ist verschieden?“ Angenommen, die Autoren der beiden
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benutzten Wörterbücher haben die Frage nach dem Gegenstand oder der Bedeutung gestellt und die Bedeutungen zusammengefasst in: „Pflanze, die Blüten treiben kann“ (Wahrig, s. v.) und “Partie d’une plante servant à la reproduction” (DFC, s. v.); ähnlich formuliert Lara die Bedeutung von flor: “Parte de las plantas fanerógamas, en donde están sus órganos reproductores” (DEM, s. v.). Der Unterschied ist beträchtlich: Das deutsche Wort benennt die ganze Pflanze, das romanische nur einen Teil von ihr, den wir auf Deutsch mit Blüte benennen. Diese Bedeutung wird ebenfalls im DFC angegeben: “plante dont les fleurs sont appréciées”. Damit sei festgestellt, dass das Vorwissen der Sprecher uns auf direktem Wege zunächst nur zum Bezeichneten führt. Zur Entdeckung der Einzelsprachlichkeit der Bedeutung gelangen wir nur auf einem Umweg, eben über die sprachliche Reflexivität und die Methoden, die sie anwendet. Von der Entdeckungsmethode ist die Beschreibungsmethode zu trennen. Sie wird in der deutschen Bedeutungsangabe umgangssprachlich formuliert, in den beiden romanischen Sprachen biologisch definiert, wobei sich die mexikanische Definition noch stärker an der Fachsprache orientiert. Die Diskussion wird in 2.3 fortgesetzt.
1.2.3.3 Diskurs In der Rede, im Text, vielleicht ist es noch deutlicher, wenn ich sage: im Diskurs verknüpft der Sprecher das Sprachvermögen mit der Kenntnis der einzelsprachlichen Bedeutungen und mit der Kenntnis der „Sachen“ zum konkreten Sprechen. Mit dem Universale der Semantizität wird zum Ausdruck gebracht, dass ein Einzelner mit Sprache eine Information über etwas vermittelt. Was über das Bedeuten und Bezeichnen gesagt wurde, muss letzten Endes im konkreten Sprechen, im Gemeinten, d. h. im Sinn seinen Ausdruck finden. Bezeichnet wird etwas in der Welt mit Hilfe einer Bedeutung immer im jedesmaligen Diskurs. Nur im Diskurs kann ich mich fragen, ob etwas existiert oder nicht. Nur im Diskurs darf gefragt werden, ob etwas wahr oder falsch ist. Wenn wir eine Äußerung unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit oder Falschheit bewerten, ist zudem zu berücksichtigen, ob die Äußerung im Rahmen der von uns als gegeben angenommen Welt gemeint ist oder in einer fiktiven Welt. Nur der Diskurs ist klar oder unklar: Diejenigen, die mit Antoine de Rivarol in De l’universalité de la langue française behaupten: “Ce qui n’est pas clair, n’est pas français” (‚Was nicht klar ist, ist kein Französisch‘, Rivarol 1930: 255; zuerst 1784), schreiben die traditionelle Klarheit der französischen Diskurse der französischen Sprache zu. Das Gleiche ließe sich von der deutschen „Tiefe“ sagen. Nur Äußerungen im Diskurs sind zweckgerichtet bzw. haben einen Sinn. Sinngebungen sind bitten, erzählen, wünschen, auffordern, lügen, small talk usw. Jeder Äußerung kann ein Sinn dieser Art zugesprochen werden. Für das Ausdrücken des Sinns stehen uns die vielfältigen Mittel des Bedeutens und Bezeichnens zur Verfügung. Wir können jemanden im Französischen mit Salut!, im Italienischen mit Ciao!, im Spanischen mit ¡Hola! oder ¿Qué tal? begrüßen oder auch mit vielen anderen Ausdrücken.
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Dennoch bleibt allen diesen Ausdrücken eines gleich, eben die Tatsache, dass wir jemanden grüßen wollen. Das ist der Sinn dieser Ausdrücke. Eine Einzelsprache stellt dafür zwar eine Reihe von Ausdrücken zur Verfügung – besonders wenn der Sinn wie beim Gruß ritualisiert ist –, doch wird der Sinn immer erst im Diskurs konkretisiert (3.11; cf. Lüdtke 1984: 24–27, 49–58, 226–231). Zum Sinn trägt aber nicht nur die Sprache bei. Im Diskurs ist eben alles mitgegeben, was zum Sprechen gehört: Die Gesprächspartner, die Situation in einem engeren und weiteren Sinne, das Thema, der sprachliche Kontext bzw. „Kotext“ (das schon Gesagte und das noch zu Sagende, was hier Diskurskontext genannt werden wird), die Mimik, die Gestik, die Körperhaltung. Wie etwas gemeint ist, dazu trägt nicht nur die Sprache bei, sondern alles, was das Sprechen begleitet (cf. 3.).
1.2.3.4 Sprache und „Sachen“ Nach den Erläuterungen zum Sinn ist es angebracht, noch einmal auf den Unterschied zwischen Bedeutung und Bezeichnung zurückzukommen. Wir sprechen nicht nur über die außersprachliche Wirklichkeit, sondern wir beziehen, wie gerade gezeigt worden ist, die Kenntnis der außersprachlichen Wirklichkeit beim Sprechen mit ein, wir setzen sie voraus, wir stellen sie in Frage usw. Dieser Umstand macht es schwer, im Einzelfall festzustellen, was zur außersprachlichen Wirklichkeit und was zu den Begleitumständen des Sprechens gehört. Trotz dieser Schwierigkeit (oder gerade deshalb) muss zwischen der Sprachkenntnis und der Kenntnis der Sachen (der Welt, der außersprachlichen Wirklichkeit) unterschieden werden. Das naive Sprachverständnis differenziert hier gerade nicht, denn die universelle Bezeichnungsfunktion der Sprache ist im naiven Sprachbewusstsein so dominant, dass ihr alles Sprachliche untergeordnet wird. Dies ist – von den Sprechern her gesehen – richtig, denn ihre sprachlichen Vorstellungen beruhen eher auf dem Diskurs und dem Sprechen im Allgemeinen als auf der Einzelsprache. Was wir hier, vor jeglicher Analyse, außersprachliche Wirklichkeit nennen, ist einmal die wirkliche Welt und dann die durch menschliche Wahrnehmung und Konzeptualisierung konstruierte Welt. Bezeichnet wird die konstruierte Welt. Als Sprecher aber machen wir beim konkreten Sprechen diesen Unterschied nicht. Wir glauben, dass wir über die wirkliche Welt sprechen. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Sachen ist eigenartigerweise nicht so sehr von der Grammatik oder anderen frühen Erscheinungsformen der Sprachwissenschaft thematisiert worden als vielmehr von der Pädagogik. Bei einer erzieherischen Zielsetzung geht es natürlich nicht um die Feststellung dieses Zusammenhangs überhaupt, sondern um ein Unterrichten, bei dem die Kenntnis der Sprache, der eigenen wie einer fremden, mit der Sachkenntnis fortschreitet. Diesen auch von anderen vertretenen Grundsatz hat der tschechische Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670) zu einem der Fundamente seiner Didaktik gemacht. So schreibt er in seiner Großen Didaktik:
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„3. Das Studium der Sprachen muß parallel zu dem der Sachen fortschreiten, besonders in der Jugend, damit wir sachlich ebensoviel verstehen wie sprachlich ausdrücken lernen. […] 4. Daraus folgt erstens, daß die Wörter nicht unabhängig von den Sachen gelernt werden sollen, da die Sachen abgesondert weder existieren noch verstanden werden können, sondern nur in ihrer Verbindung [mit den Wörtern] hier und dort vorkommen, dies und jenes bewirken. Auf diese Erwägungen hin habe ich, anscheinend mit gutem Erfolg, die ‚Janua Linguarum‘ (das Tor zu den Sprachen) geschaffen, worin die Wörter, zu Sätzen verbunden, gleich die Wesenszüge (structura) der betreffenden Sache ausdrücken“ (71992: 150).
In diesem Sinne bemüht er sich zu zeigen, wie vom ersten Lebensjahr an und ausgehend von der unmittelbaren Umgebung des Kindes das Sachwissen aufgebaut wird bis hin zum enzyklopädischen Wissen. Wir stehen mit Comenius am Anfang einer ausdrücklichen Verbindung von Sprachwissen mit enzyklopädischem Wissen, wie sie heute allgemein vertreten wird. Wir werden auf das von den Sachkenntnissen abhängige Sprachwissen gleich im nächsten Abschnitt über „Terminologien und Nomenklaturen“ zu sprechen kommen. Was bei dieser Verbindung allerdings vernachlässigt wird, auch heute noch, ist die Einzelsprachlichkeit der Bedeutung in einer Sprache. Die Disziplin, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Sachen, Sprache und Kultur in einem sehr weiten Sinne befasst, ist die Ethnolinguistik. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur sollte nicht nur in exotischen Sprachen untersucht werden, wie es im Allgemeinen im Rahmen der Ethnolinguistik geschieht, sondern auch in den uns bekannten europäischen. In sinnfälliger Weise ist die Gleichsetzung von Wort und Sache bei den Tabuwörtern und tabuisierten Ausdrücken gegeben. Eigentlich sind gewisse Sachen tabuisiert. Die Sachen selbst lösen aber nicht die heftigen Reaktionen aus, die wir hervorrufen, wenn wir „die Dinge beim Namen nennen“. Wenn jemand zum Beispiel dumm ist und sich so verhält und wenn jemand anders diese Tatsache stillschweigend beim Sprechen in sein Verhalten einbezieht, gibt es keine besonderen Reaktionen. Würde man aber in einer Situation sagen: „Gott, bist du dumm!“, dann durchbricht man ein Tabu, das im deutschen Sprachgebiet äußerst heftige Reaktionen auslösen kann (in romanischen Ländern reagiert man wahrscheinlich etwas weniger heftig), aber nicht aufgrund der Bedeutung von dumm, sondern weil die damit bezeichneten Menschen in unserer Sprach- und Kulturgemeinschaft besonders tabuisiert oder stigmatisiert sind. Dies drückt sich darin aus, dass das Äußern von Tabuwörtern als gravierender empfunden wird als die Sache oder Tatsache selbst. Daher können wir gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden, wenn wir jemanden beschimpfen. Ob wir dabei etwas Wahres über den Beschimpften sagen, steht nicht zur Debatte. In diesem Sinn hat Herta Müller in einer Diskussion nach einer Lesung in Heidelberg (2013) bestimmte Menschen „dumm“ genannt und damit schockiert. Für mich war das nicht überraschend, sie hat einfach nur die sehr häufige Verwendung von rum. prost auf das Deutsche übertragen. Das ist ihr wohl nicht aufgefallen. Wir glauben in einer relativ freizügigen Gesellschaft zu leben. Es könnte aber sein, dass manchmal an die Stelle von früheren Tabus andere getreten sind. Die „politische
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Korrektheit“ hat uns eine Reihe neuer Tabus beschert. Denn die politisch korrekte Rede hat die Diskriminierung nicht aus der Welt geschafft. Sie geht damit zunächst nur sprachlich anders um. Und wer kann denn schon sicher sein, dass jemand das meint, was er politisch korrekt von sich gibt? Wenn ein Politiker einmal die Spielregeln verletzt, gibt es endlose Proteste von allen Seiten, namentlich aber von den Betroffenen. In den Vorstädten von Paris und anderen französischen Großstädten haben im November 2005 Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration aus Schwarz- und Nordafrika wochenlang so gewalttätig randaliert, dass die Regierung sich veranlasst sah, den Notstand auszurufen. Der amtierende französische Innenminister Nicolas Sarkozy nannte die jungen Leute bei dieser Gelegenheit racaille, ,Pack‘, und trug auf seine Weise zur Eskalation der Gewalt bei. In den Rap-Songs, die die Jugendlichen hören, nennen sich die Rapper selbst racaille. Aber das ist Gruppensprache. Wenn das der Innenminister höchstpersönlich sagt, ist es eine verbale Entgleisung, die schärfste Reaktionen auslöst. Man hätte délinquant, „Delinquent“, oder ein anderes neutraleres Wort angemessen gefunden. Offensichtlich haben diese Jugendlichen dieselben Normen politisch korrekter Rede verinnerlicht, wie sie sie in der französischen Gesellschaft, die nicht-formelle Rede in formellen Situationen strikt ahndet, selbst erlebt haben. 1.2.3.5 Terminologien und Nomenklaturen Die Unterscheidung von Sprachkenntnis und Sachkenntnis soll zum Anlass genommen werden, einen Bereich der Sprache zwar nicht völlig auszuklammern, aber doch in den Hintergrund zu drängen, was unsere allgemeinen Überlegungen angeht. Es geht dabei um den Fall, in dem die Gestaltung der Sprache mit den Sachen oder mit der Wirklichkeit mehr oder weniger genau übereinstimmt. Dieser Fall ist in den Terminologien bzw. im Fachwortschatz gegeben. Termini beziehen sich prinzipiell in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis auf die mit ihnen bezeichneten Sachen oder Begriffe. Und wenn es nicht so ist, dann sollte es konzeptionell so sein. Das, was ein Terminus „bezeichnet“, sollte sich also nicht von dem unterscheiden, was ein Terminus „bedeutet“. Den Unterschied zwischen signifiés und Termini erläutert mit ganz besonderem Nachdruck und mit sprachtheoretischer Stringenz Coseriu: ‚Eine primäre sprachliche Abgrenzung ist eine Abgrenzung in der Intuition vom Wirklichen, das heißt, auf der Ebene der signifiés, vom Sein der Dinge als Möglichkeit, nicht von den Dingen selbst als ‚Seiende‘ (auch weil die Sprache als solche der Unterscheidung zwischen Existenz und Nichtexistenz selbst vorausgeht). Deshalb geht das signifié in diesem Fall rational der Bezeichnung voraus (die ‚Dinge‘ werden als ‚diese oder jene Dinge‘ ausgehend von den signifiés abgegrenzt, nicht umgekehrt), obwohl in einem signifié als einer möglichen Menge von Merkmalen alle oder jedes einzelne von ihnen der Erfahrung des Wirklichen entsprechen können. Jede Anwendung eines Worts auf ein Ding ist deshalb in der üblichen Sprache eine ‚Klassifikation‘ des bezeichneten Dings, ein Subsumieren des Dings unter ein signifié, das heißt, unter eine ‚Seinsweise‘. Eine objektive Abgrenzung dagegen ist eine Abgrenzung, die in den Dingen selbst
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nach Kriterien vorgenommen wird, die die Dinge selbst als Seiende betreffen und in diesem Sinne sind sie ‚objektive‘ Kriterien, auch wenn es sich um konventionelle, der Wirklichkeit auferlegte Abgrenzungen handelt, die nicht den von der sinnlichen Wahrnehmung festgestellten Grenzen oder Merkmalen entsprechen. In diesem Fall geht das Bezeichnete dem signifié voraus und das signifié passt sich an das Bezeichnete an. Daher rührt die ‚objektive‘ Genauigkeit der Fachausdrücke und der wissenschaftlichen Termini (die Genauigkeit besteht eigentlich nur im Zusammenfallen von signifié und Bezeichnung, in der der Abgrenzung des Gegenstands). Hier hat auch die Idee von der Schaffung der Terminologie durch Definitionen und von ihrer Konventionalität ihren Ursprung, obgleich das, was man in diesem Fall definiert, die Klassen der Dinge selbst sind, auf die bestimmte signifiants angewandt werden, nicht bereits als signifiés in einer Sprache gegebene Begriffe. Man arbeitet dabei mit einer – zumindest impliziten – Art Konvention vom Typ: ‚Das so abgegrenzte Ding benennen wir hinfort mit dem Terminus x’‘ (Coseriu 1987b: 182–183; meine Übersetzung).
Da diese Übereinstimmung zwischen Terminologien und Wirklichkeitsbereichen bzw. Begriffssystemen ja nur idealiter gilt, hängt der Grad der Übereinstimmung zwischen Terminologie und Wirklichkeitsbereich oder Begriffssystem vom Wissen darüber ab. Dieses Wissen ist nun offensichtlich dem Wandel unterworfen und somit sind es auch die Terminologien. Da außerdem die Wissensbestände je nach Sprach- und Kulturgemeinschaft oft in unterschiedlicher Weise verbreitet sind, werden in den verschiedenen Sprachen nicht immer dieselben terminologischen Abgrenzungen vorgenommen. Denn die neueren Termini beruhen zwar auf ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen von Terminologieorganisationen, Fachleuten und Sprachplanern mit dem Ziel, eine eineindeutige Beziehung zwischen Form und Inhalt herzustellen. Da aber auch diese Vereinbarungen de facto in der Zeit und im Raum stattfinden, sind die konkreten Terminologien immer geschichtlich gegeben und daher in den Einzelsprachen in gewissen Grenzen verschieden. So gibt es eine letztlich nicht hintergehbare Geschichtlichkeit auch des Universellen, nicht nur der Einzelsprachen. Unter anderem hängt diese Geschichtlichkeit von Terminologien von der Geschichtlichkeit der signifiants ab (Albrecht 1992: 67–72), z. B. von den Verfahren der Wortbildung und den Verfahren der syntaktischen Kombination, die die Einzelsprachlichkeit in die intendierte Universalität der Terminologien hineinbringen. Terminologien sind in Fachsprache eingebettet. Fachsprachen weisen eine quantitativ andere Verwendung der Grammatik (Lüdtke 1984) und des Wortschatzes auf. Aus dieser Sicht ist es nicht richtig, Fachsprachen auf Terminologien zu reduzieren.
1.2.3.6 „Semantik“ Welche Disziplin beschäftigt sich mit Bezeichnung, Bedeutung und Sinn? Soweit ich sehe, gibt es keine, die sich mit diesem großen Bereich, dem fundamentalsten in der Sprache, insgesamt befasst. Diese Behauptung ist auch richtig, wenn man weiß, dass die hier angesprochenen Probleme in der Semantik behandelt werden. Da es aber mehr oder weniger differenzierte und mehr oder weniger weite Begriffe von „Bedeutung“ gibt, existieren auch verschiedene Begriffe von „Semantik“. Wünschenswert
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wäre ein differenzierter Begriff von Bedeutung und ein weiter Begriff von Semantik, wie ihn der französische Junggrammatiker und Bedeutungsforscher Bréal (1897) vertreten hat, der den Terminus Semantik prägte. Da dies jedoch nicht allgemein gilt, sondern aufgrund spezialisierter Forschungsinteressen meist engere Begriffe von Semantik stillschweigend angenommen werden, muss man sich immer vergewissern, um welche Art von semantischem Problem es geht: Geht es um die spezifische inhaltliche Gliederung einer Einzelsprache? Geht es um das, was mit der Bedeutung einer Sprache überhaupt bezeichnet werden kann? Geht es um das, was mit einer konkreten Äußerung gemeint ist, also um den Sinn? Diese drei Arten von Problemen werden semantisch genannt. Sie hängen auch alle miteinander zusammen. Dennoch ist in diesen drei Fällen nicht dasselbe gemeint. Ich lege grundsätzlich einen weiten Begriff von Bedeutung zugrunde. Somit untergliedert sich die Semantik in eine Semantik des Sprechens im Allgemeinen oder Universalsemantik, die manche Linguisten Referenzsemantik nennen (dabei wird aber nicht regelmäßig zwischen dem Referieren auf die Welt im Sprechen im Allgemeinen und im Diskurs unterschieden), in eine einzelsprachliche Semantik (bzw. Grammatik, Wortbildungslehre und lexikalische Semantik oder Wortsemantik) und in eine Semantik des Diskurses, d. h. eine Untersuchung des Sinns, zu dem das Bezeichnete und die Bedeutungen beitragen. Dies erlaubt es uns, einen Zusammenhang zwischen den vielfältigen unter der Benennung Semantik in der Forschung behandelten Problemen herzustellen. Diese Einteilung entspricht keinem etablierten Usus. Sie erleichtert uns dennoch die Orientierung in der unübersichtlichen Fachliteratur. Wir geben einen Überblick über die Arten von Bedeutung mit einigen Disziplinen, die sich mit ihnen befassen: Bedeutung als Bezeichnetes: Universalsemantik, Universalgrammatik, Referenzsemantik, onomasiologische Forschung (z. B. in der Sprachgeographie), kognitive Semantik, Terminologie(lehre); Bedeutung als einzelsprachliche Bedeutung in der Grammatik: einzelsprachliche Grammatik(ographie), Morphologie, Syntax oder Morphosyntax; Bedeutung als einzelsprachliche Bedeutung in der Wortbildung: funktionelle Wortbildungslehre; Bedeutung als einzelsprachliche Bedeutung im Wortschatz: strukturelle Semantik bzw. Lexematik oder Wortsemantik; Bedeutung als Sinn im Diskurs bzw. Text: Textlinguistik (in einem zu präzisierenden Sinn).
Bibliographischer Kommentar
Fachliteratur zur Universalsemantik findet sich am Ende von 2.2, zur einzelsprachlichen Semantik am Ende von 3.2.3 und zum Sinn 3.11.
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1.2.4 Die Materialität „Die Zeichenfunktion ist in sich selbst eine Solidarität; Ausdruck und Inhalt sind solidarisch – sie setzen sich notwendigerweise gegenseitig voraus. Ein Ausdruck ist nur Ausdruck kraft dessen, daß er Ausdruck für einen Inhalt ist, und ein Inhalt ist nur Inhalt kraft dessen, daß er Inhalt für einen Ausdruck ist. Es kann deshalb – außer durch eine künstliche Isolierung – keinen Inhalt ohne einen Ausdruck oder einen ausdruckslosen Inhalt geben, noch einen Ausdruck ohne Inhalt oder einen inhaltslosen Ausdruck“ (Hjelmslev 1974: 53).
1.2.4.0 Allgemeines Die Materialität nennen wir unter den Universalien an vierter Stelle, denn jede Sprache braucht Mittel, um Bedeutungen auszudrücken. Oder wie Humboldt sagt: „Die schneidende Schärfe des Sprachlauts ist dem Verstande bei der Auffassung der Gegenstände unentbehrlich“ (1963d: 427). Ohne diese Mittel, ohne den Stoff bzw. die Materie – daher die Benennung dieses Universale – sind Bedeutungen anderen Sprechern nicht zu übermitteln. Daher werden wir diesen Bereich der Sprache später auch mit Hjelmslev wie im Motto „Ausdruck“ nennen (1.3), denn die Aufgabe des Ausdrucks ist es gerade, einem Inhalt eine materielle Gestalt zu geben, damit ein Sprecher einen anderen oder ein Schreiber einen anderen erreichen kann. Wir nehmen die Idee der Gliederung der Erfahrungswelt durch die Sprache bei Martinet wieder auf und wenden uns der ersten Gliederung zu: ‚Jede dieser Einheiten der ersten Gliederung hat, wie wir gesehen haben, eine Bedeutung und eine Lautform. Sie könnte nicht in kleinere aufeinanderfolgende bedeutungstragende Einheiten analysiert werden: tête bedeutet als Ganzes ‚Kopf‘ und man kann tê- und -te keine verschiedenen Bedeutungen zuschreiben, deren Summe gleichbedeutend mit ‚Kopf‘ wäre. Die Lautform ist aber ihrerseits in eine Folge von Einheiten analysierbar, von denen jede dazu beiträgt, tête zum Beispiel von anderen Einheiten wie bête [‚Tier‘], tante [‚Tante‘] oder terre [‚Erde‘] zu unterscheiden. Dies wollen wir die zweite Gliederung der Sprache [la deuxième articulation du langage] nennen. Im Fall von tête sind diese Einheiten drei an der Zahl; wir können sie durch die Buchstaben t e t bzw., konventionell zwischen Schrägstriche gesetzt, also durch /tet/ darstellen. Wir sehen, was diese zweite Gliederung an Ökonomie für die Sprache bedeutet: Wenn wir jeder minimalen Bedeutungseinheit eine spezifische und unanalysierbare Lauthervorbringung entsprechen lassen müssten, müssten wir davon Tausende unterscheiden, was nicht mit der Artikulationsbreite und dem Hörempfinden des Menschen vereinbar wäre. Dank der zweiten Gliederung können die Sprachen [langues] sich mit einigen Dutzend von verschiedenen Lauthervorbringungen begnügen, die man miteinander kombiniert, um die Lautform der Einheiten der ersten Artikulation zu erhalten: tête zum Beispiel verwendet zweimal die Lauteinheit, die wir mit /t/ darstellen, zwischen die wir eine andere mit /e/ notierte Einheit einfügen‘ (Martinet 41996: 14–15; meine Übersetzung).
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
1.2.4.1 Sprechen im Allgemeinen Bei Humboldt ist der „Stoff“ weiter gefasst, als wir es gelten lassen wollen: „Absolut betrachtet, kann es innerhalb der Sprache keinen ungeformten Stoff geben, da alles in ihr auf einen bestimmten Zweck, den Gedankenausdruck gerichtet ist, und diese Arbeit schon bei ihrem ersten Element, dem articulirten Laute, beginnt, der ja eben durch Formung zum articulirten wird. Der wirkliche Stoff der Sprache ist auf der einen Seite der Laut überhaupt, auf der andren die Gesammtheit der sinnlichen Eindrücke und selbstthätigen Geistesbewegungen, welche der Bildung des Begriffs mit Hülfe der Sprache vorausgehen“ (1963d: 422).
Die „sinnlichen Eindrücke“ und die „selbstthätigen Geistesbewegungen“ im Gehirn wollen wir vorsichtshalber nicht unter die Materialität fassen, die „sinnlichen Eindrücke“ nicht, weil sie am ehesten in den Bereich der Semantizität gehören, die „selbst thätigen Geistesbewegungen“ nicht, weil sie unserer unmittelbaren Beobachtung doch entzogen sind. Diese werden in der Neurolinguistik untersucht, die sich allerdings eher mit pathologischen Fällen beschäftigt. Der Stoff oder die Materie, aus der Laute gemacht sind, sind die Schallwellen, aber nicht alle. Sprachlich relevant sind nur diejenigen Schallwellen, die, vermittelt über die Bedeutung, zur Bezeichnung von etwas dienen. Dabei geht es um die Hervorbringung der Schallwellen, die lautphysiologisch und akustisch in der allgemeinen Phonetik untersucht werden, und um ihre auditive Wahrnehmung. In unserer durch die Schrift geprägten Kultur kommt das Schreiben hinzu, in dem sich die Sprache parallel zum Sprechen realisiert, und das Lesen, das in seiner stummen, leisen oder lauten Realisierung dem Hören entspricht. Das Sprechen und das Hören, das Schreiben und das Lesen sind zunächst einmal in Hinblick auf die Übermittlung von materiellen Zeichen zu betrachten. Gehörlose realisieren Sprache materiell anstelle des Sprechens durch die Gebärdensprache, die dann in der Wahrnehmung nicht auf das Ohr, sondern auf das Auge angewiesen ist.
1.2.4.2 Einzelsprache Bei der Materialität der Sprache hat man es also mit Lautkörpern zu tun, soweit sie Bedeutungen zum Zwecke der Bezeichnung übermitteln, und mit Schriftzeichen. Diese Aufgabe haben nicht die Geräusche und auch nicht alle Laute, sondern nur die Sprachlaute. Das Röcheln, Seufzen, Schnarchen und Schnalzen gehört also nicht zu den Sprachlauten, es sei denn, ein Laut wird wie das Schnalzen in manchen Sprachen sprachlich genutzt. Wie die Bedeutungen je nach Einzelsprache spezifisch gestaltet sind, so auch die Sprachlaute (cf. 2.2.1). Daher sind die Unterschiede zwischen den Sprachlauten als Lauten einer Einzelsprache letztlich nicht graduell. Wenn man den Bereich der zulässigen Variation beim Sprechen verlässt, wird ein anderer Sprachlaut realisiert und vor allem wird ein anderer Sprachlaut vom Hörer wahrgenommen beziehungsweise, wenn der Hörer den gehörten Laut keinem der Laute der ihm bekannten Einzelsprache zuordnen kann, überhaupt nicht als Sprache wahrgenommen und somit auch nicht verstanden.
1.2 Die sprachlichen Universalien
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Die Beziehung zwischen den Sprachlauten und den Bedeutungen ist arbiträr (Saussure 1916: 100–102), wie wir es bereits bei der Semantizität beobachtet haben, wenigstens abgesehen von einigen Randerscheinungen wie der Lautmalerei. Die Abfolge der Sprachlaute ist notwendigerweise linear und weiter gegliedert durch Silben, Akzente und Intonation. Die Disziplin, die sich mit diesen einzelsprachlich differenzierten Lauten befasst, ist die Phonologie. Die Phonologie beschäftigt sich mit den minimalen Lauteinheiten einer Sprache, den Phonemen, und ihren verschiedenen lautlichen Realisierungen (2.2.1). Die Phonetik dagegen untersucht die Laute in ihrer Materialität und ihren verschiedenen konkreten Realisierungen (1.3.1). Bei einer rein phonetischen Betrachtung weiß man noch nicht, ob ein untersuchter Laut zu einer Sprache gehört oder nicht. Deshalb geht man von den Sprachlauten, den Phonemen, zu ihren phonetischen Realisierungen und nicht den umgekehrten Weg. Von der Intuition der Phoneme sind die Buchstaben abzuleiten. Da wir durch Schultradition und Lebenswelt ständig mit der Schriftkultur umgehen, kann man durchaus Sprechen und Schreiben als parallele Realisierungen von Sprache ansehen. Demnach sind Laute und Buchstaben der Stoff, der den Ausdruck von Bedeutungen ermöglicht. Die erste Materialisierung von Sprache geschah in mehreren Gebieten der Erde, so in China, Mesopotamien, Ägypten und Mittelamerika, durch piktographische Darstellung (Piktogramme). Damit werden die durch Wörter bezeichneten „Sachen“ direkt symbolisiert. Geschichtlich ging der weitere Weg in den verschiedenen Kulturen von der Bilderschrift über die Silbenschrift zur Buchstabenschrift. Die Materialisierung der Laute bedeutet demgegenüber einen ungeheuer innovativen Abstraktionsprozess, der unter den Semiten vom 14. und 13. Jahrhundert vor Christus an von Syrien bis zum Berg Sinai zustande kam. Der Struktur der semitischen Sprachen entsprechend wurden die Konsonanten der Wurzeln geschrieben. Damit wurde nun nicht mehr die Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst in ihrer Materialität dargestellt. Irgendwann zu Beginn des ersten Jahrtausends vor Christus haben die Griechen im Kontakt mit den Phöniziern und in Kenntnis ihrer Schrift sowie weiterer Silbenschriften eine vollständig phonographische Schrift geschaffen. Der wesentliche neue Schritt war die Isolierung der Vokale, ohne die der griechischen Morphologie kein angemessener Ausdruck in der Schrift gegeben werden kann. Die Etrusker übernahmen die Alphabetschrift von den Griechen. Von den Etruskern lernten sie die Lateiner. Die weltweite Verbreitung der Alphabetschrift steht letztlich in einer lateinischen Tradition. Dass die Buchstabenschrift der Intuition der Phoneme folgt, ersieht man aus der begrenzten Zahl von Buchstaben und Buchstabenkombinationen, bei denen von den Lautvarianten immer abgesehen wird. So steht die Schrift in einem engen Zusammenhang mit der Phonologie, nicht mit der Phonetik. Die für die Stimme geschaffenen elektromagnetischen Tonträger und die elektronische Speicherung der Schriftzeichen in der Textverarbeitung haben zwar die Verfügbarkeit des Materiellen in der Sprache revolutioniert, es handelt sich jedoch
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
immer noch um von den Schallwellen oder den Schriftzeichen abgeleitete Materialisierungen. 1.2.4.3 Diskurs Sprache, in ihrer Materialität betrachtet, ist mündliche oder schriftliche Äußerung im jedesmaligen Sprechen. Sprachlich relevant sind an der Äußerung die Klangfarbe der Stimme, die Tonhöhe, das Sprechtempo und die Handschrift. Als Äußerung enthält sie mehr als nur Sprachliches, so das Geschlecht, das Alter, die Befindlichkeit und Stimmung des Sprechenden oder Schreibenden, die durch die Stimme oder durch die Handschrift ausgedrückt werden. Die Materialität der Handschrift ist die Grundlage der Graphologie, der Kunst der Handschriftdeutung, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur des Schreibers zu ziehen versucht. Aber mit der Deutung der Schriftmerkmale entfernen wir uns von der Sprachwissenschaft und gehen über zur Psychologie. 1.2.4.4 Philologie Aus der Untersuchung eines Aspekts der Materialität von Sprache sind geschichtlich – wenn auch nicht ausschließlich auf diesem Wege – Sprach- und Literaturwissenschaft entstanden, nämlich aus der Untersuchung von nicht mehr völlig und spontan verständlichen alten Texten, d. h. aus der Philologie im engeren Sinne. Bei den alexandrinischen Gelehrten der hellenistischen Zeit waren es die homerischen Epen Ilias und Odyssee, deren Sprache nicht mehr völlig verstanden wurde. In neuerer Zeit ist die romanische Philologie aus der Beschäftigung mit den romanischen Literaturen des Mittelalters und darunter besonders der altokzitanischen entstanden. Das Erste, was dabei philologisch erschlossen werden musste, war der Text, der überhaupt erst im Druck nach einem zufällig bekannt gewordenen Manuskript veröffentlicht und später dann in seiner für ursprünglich gehaltenen oder in seiner besten materiellen Gestalt ediert wurde. Erst daran konnte sich die Interpretation der Texte anschließen, die zur Philologie im weiteren Sinne gehört. Weil zum Textverständnis auch das Verstehen der Einzelsprache unentbehrlich ist, war die Philologie einer der Wege, der zur Sprachwissenschaft führte. Die Philologie war jedoch stets Hilfswissenschaft anderer Wissenschaften. Da viele wichtige Texte immer noch nicht oder nicht kritisch ediert worden sind und jede schriftliche Wiedergabe eines mündlichen Diskurses eine philologische Aufgabe ist, bleibt die (Text-)Philologie von permanenter Aktualität. Die philologische Arbeit muss immer vorausgehen, wenn man sich auf Texte stützt. Die digitalen Korpora sind davon nicht ausgenommen. Dies gilt auch für die heutige empirische Sprachforschung, da man in der Regel die auf Tonträger aufgezeichnete gesprochene Sprache für die Zwecke einer Untersuchung schriftlich fixiert und sie erst dann analysiert. Die Fortsetzung dieses Themas und der bibliographische Kommentar finden sich in 4.0.1.
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1.2.5 Die Historizität 1.2.5.1 Das Sprechen im Allgemeinen und seine Traditionen Das Universale der Historizität oder Geschichtlichkeit beinhaltet, dass Sprache nur als Einzelsprache vorkommt. Jeder Mensch realisiert also sein allgemeines Sprachvermögen mit Hilfe des Deutschen, Französischen, Italienischen, Spanischen usw. Diese Tatsache führt uns wieder zur allgemeinen Bezeichnungsfunktion von Sprache zurück. Wie wir sagten, ist die Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit nur mit einzelsprachlichen Bedeutungen möglich. Man muss mit der einzelsprachlichen Gestaltung sprechen, die eine jede Einzelsprache einem Sprecher zur Verfügung stellt bzw. die ein jeder Sprecher bei der Erlernung von Sprache überhaupt zugleich als einzelsprachliche Bedeutungen gelernt hat. So muss man sich, wenn man sich auf Deutsch richtig ausdrücken will, zwischen Blume und Blüte entscheiden, ein Bedeutungsunterschied, der in den romanischen Sprachen wiederum nicht existiert. Und man muss sich im Deutschen beim Sprechen zwischen drei Genera entscheiden, während z. B. im Französischen oder Italienischen nur zwischen maskulinen und femininen Substantiven zu differenzieren ist. Daneben hat jedoch auch das Sprechen im Allgemeinen eine ihm eigene Geschichtlichkeit. Der Mensch hat seine Sprachfähigkeit im Laufe seiner Evolution geschaffen. Dabei ist auf die Gemeinsamkeiten zwischen dem Kommunikations- und Sozialverhalten sowie der Erkenntnis bei Tier und Mensch hinzuweisen, wenn auch der allgemeinen und grundlegenden Frage nach den Grenzen zwischen biologischer und kultureller Evolution in einem romanistischen Werk nicht nachgegangen werden kann. Mir genügt es, hier die Andersartigkeit der biologischen Geschichtlichkeit der Sprachfähigkeit mit ihrer evolutionären Einbettung gegenüber der Geschichtlichkeit der Einzelsprachen hervorgehoben zu haben. In der kulturellen Evolution kommt sehr viel später die Schrift in ihren verschiedenen Manifestationen hinzu. Seitdem Sprache als geschriebene Sprache existiert, kann sie auf die gesprochene Sprache zurückwirken. So bot sich, nachdem die Schrift erfunden war, die Alternative, einen Text laut oder leise zu lesen. Das laute Lesen war anfangs anscheinend eine Selbstverständlichkeit (3.11). In der frühchristlichen Kirche war einem lector, einem Vorleser, die Verlesung der Heiligen Schrift für Analphabeten vorbehalten. Bis in die Neuzeit hinein trägt die Schrift Merkmale, die auf lautes Lesen und Vorlesen hindeuten: Die scriptio continua, das Schreiben ohne Wortgrenzen oder mit wenigen Wortgrenzen, ist ein solches Merkmal. Ein in dieser Weise geschriebener Text bedurfte der Interpretation durch lautes Lesen und dies umso mehr, als Interpunktionszeichen fehlten. Kennt nun das Sprechen (und Schreiben) im Allgemeinen Traditionen? Im Grunde wurde diese Frage soeben bejaht. Seitdem zum Sprechen im Allgemeinen das Schreiben hinzukam, gibt es in dieser Hinsicht eine zweifache Geschichtlichkeit, die sich durch die neuen Medien weiter ausdifferenziert hat und tradiert wird, wie es früher mit dem lauten oder leisen Lesen und der scriptio continua oder der Einführung der Wortgrenzen in geschriebenen Texten geschehen ist.
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Kennt das Sprechen im Allgemeinen auch in seinem Bezug auf die Bezeichnung der außerspachlichen Wirklichkeit Traditionen (1.2.3.1, 1.2.3.4)? Eigentlich würde wohl niemand bestreiten, dass die Welt sich laufend verändert – dennoch kommt sie linguistisch gesehen zu wenig in den Blick. Dabei ist es offensichtlich, dass bestimmte Sachverhalte üblicherweise „zur Sprache kommen“, andere nicht. Die Wahrnehmung der Bezeichnungsebene nimmt etwas schärfere Konturen an, wenn wir einen Text aus einer fremd gewordenen Vergangenheit oder einer anderen Kultur in der Gegenwart lesen. Dann werden wir gewahr, dass es zu unserer Sozialisierung gehört, bestimmte Sachverhalte z. B. der alltäglichen Erfahrung zu versprachlichen, andere jedoch nicht oder sie in unterschiedlichen Graden zu tabuisieren wie die Sexualität. „Man“ spricht oder schreibt über bestimmte Sachverhalte, oder eben nicht. Noch auffälliger sind die Bezeichnungstraditionen im Falle von Urkunden. Was in einem Verhör, in einem Testament usw. zur Sprache kommen soll, ist durch einen normativen Usus geregelt. Die Darstellung solcher Sachverhalte folgt demnach Traditionen, diese aber bleiben der wissenschaftlichen Wahrnehmung zumeist verborgen. Nicht nur liegt dieses Problem unterhalb der üblichen Wahrnehmungsschwelle, es birgt auch ein wissenschaftliches Dilemma in sich. Das Dilemma besteht darin, dass wir für das Sprechen über die Dinge der Welt die Materialität des sprachlichen Ausdrucks (1.2.4) brauchen. Es wird ein wissenschaftliches Dilemma, das zu einem fundamentalen Missverständnis führt, wenn eine Kultur, als Sachverhaltsebene betrachtet, als Text gesehen wird. Dies geschieht programmatisch in der „Kultur als Text“, wie sie in der ethnographischen Beschreibung von Clifford Geertz vertreten wird, der 1973 eine einflussreiche Skizze der balinesischen Kultur vorgelegt hat. Sprachwissenschaftlich gesehen wird die Sache auf den Kopf gestellt, denn Geertz präsentiert den von ihm verfassten Text als Kultur: Die balinesische Sachverhaltsebene und ein westlicher, auf Englisch geschriebener Text werden nicht getrennt (dazu Lüdtke 2014). Geertz ist kein Einzelfall. In der Kultursemiotik wird ein Textbegriff in Gestalt von drei Verallgemeinerungen vertreten, demzufolge „man seit den 1960er Jahren auch nichtsprachliche Zeichenketten (z. B. Formeln der Mathematik und Logik) als ‚Texte‘ zu bezeichnen begann. In einer dritten Verallgemeinerung wurde dann schließlich auch von der Bedingung der Linearität abstrahiert, so dass heute jedes mehr oder weniger komplexe codierte Zeichentoken ‚Text‘ genannt werden kann, gleich ob es ein einzelnes Verkehrszeichen, eine Sequenz von Verkehrszeichen, ein Gemälde, eine Plastik, ein Gebäude, ein Musikstück, ein Tanz oder eine sprachliche Äußerung ist“ (Posner 2008: 52).
1.2.5.2 Die Einzelsprache und ihre Traditionen Dieses Universale kann man deshalb Historizität nennen, weil man immer schon mit geschichtlich so und so gewordenen Sprachen spricht, mit Sprachen, die immer schon geschichtlich zustande gekommenen Traditionen folgen, die ein Sprecher vorfindet und sich in der Spracherlernung im Kindesalter aneignet. Eine Einzelsprache ist ein Gefüge von im Laufe der Geschichte gestalteten und umgestalteten Traditionen.
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Deshalb ist eine Einzelsprache auch nicht etwas völlig Einheitliches und Systematisches, sondern etwas, das sich im ständigen Prozess der Systematisierung befindet, die nie an ihr Ende gelangt, die immer noch nicht Systematisiertes aus älteren Phasen der Sprachgeschichte tradiert (cf. 1.2.1.4, 2.1.3). Unsere Kreativität begrenzen wir, wie wir oben (1.2.2.2) gesehen haben, durch die Alterität. Im Sprechen mit den Anderen verzichten wir auf unsere sprachlichen Neuschöpfungen, die wir eventuell als Fehler auffassen, oder aber wir bleiben bei unserer Schöpfung und verwenden sie immer wieder und Andere können ebenfalls unsere Neuschöpfungen in ihre Sprache übernehmen. Durch die Übernahme in die eigene Sprache oder in die Sprache anderer Menschen wird eine neue Tradition begründet, die Sprachwandel genannt wird. Es versteht sich, dass die daraus entstehende Sprache nicht eine bleibt, sondern sich nach Sprechergruppen differenziert, die unterschiedliche Traditionen schaffen und diese umgestalten. Im Zusammenhang mit diesem Universale müssen wir auf das Universale der Materialität zurückkommen, das besagt, dass jede Sprache Mittel hat, die einzelsprachlichen Inhalte auszudrücken. Wir sagten auch, dass die Sprachlaute, d. h. die Phoneme ebenso wie die Bedeutungen je nach Einzelsprache in spezifischer Weise gestaltet sind und dass die Disziplin, deren Gegenstand die einzelsprachlichen Laute sind, die Phonologie ist. Für die Phoneme wie für die Bedeutungen gilt, dass sie geschichtlich zustande gekommen sind und als solche von den Sprechern gelernt werden. Ein Sprecher kann eben nicht willkürlich Bedeutungen oder Phoneme verwenden, wenn er verstanden werden will. Der Wandel in der Materialität der Laute ist der Lautwandel. Auch auf die Semantik müssen wir an diesem Punkt zurückkommen, die Disziplin, die sich mit der Bedeutung und der Bezeichnung beschäftigt. Ihr eigentlicher oder zentraler Gegenstand ist die jeweils einzelsprachliche Gestaltung der Sprachinhalte. Diese Inhalte sind die Instrumente, mit denen wir über die Welt sprechen. Als Sprecher jedoch sind wir gleichsam blind für diese Inhalte. Nicht diese nehmen wir unmittelbar wahr, sondern das, was wir mit diesen Inhalten bezeichnen. Dieselbe Schwierigkeit, die wir als Sprecher haben, die Bedeutungen zu erkennen, haben wir auch als Sprachwissenschaftler. Der begriffliche Unterschied zwischen Bedeutung (signifié, 2.1.4) und Bezeichnung oder Bezeichnetem ist ein klarer Unterschied. Die sprachliche Wirklichkeit dagegen ist dermaßen vielfältig und komplex, dass auf dem Wege der Analyse nicht immer leicht festzustellen ist, was der Bedeutung und was der Bezeichnung zuzuschreiben ist. Mehr noch, jede Aussage über Bedeutungen bleibt bis zu einem gewissen Grade hypothetisch. In der wissenschaftlichen Betrachtung wird die Bedeutung dann am leichtesten sinnfällig, wenn sie sich wandelt. Darüber hinaus können wir zur Klärung des Unterschieds zwischen Bedeutung und Bezeichnung zwei heuristische Fragen stellen: Was weiß ich, weil ich meine Sprache kann? Was weiß ich, weil ich die Sache kenne? Der Sprachwandel, von dem wir unter der Kreativität gesprochen haben, vollzieht sich als Laut- und als Bedeutungswandel und damit wiederum im Rahmen von
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Einzelsprachen. Zum Sprachwandel gehört aber auch die Herausbildung von Standardsprachen und die nachträgliche Zuordnung zu oder Unterordnung von Dialekten unter Standardsprachen. In diesem Sinne nennen wir die durch einen Eigennamen abgegrenzten Sprachen historische Sprachen (cf. 2.1.2). Die Historizität der Sprachen wird im zweiten Teil dieses Handbuchs im Vordergrund stehen. 1.2.5.3 Der Diskurs und seine Traditionen Der Diskurs ist recht eigentlich der Ort des geschichtlichen Zustandekommens von Sprache. Gerade deshalb ist er nicht einheitlich, sondern enthält die Traditionen des Sprechens im Allgemeinen und die Realisierung und das Zustandekommen von gegebenenfalls mehreren Einzelsprachen nebeneinander. Die drei Arten von Traditionen sind also im Diskurs gegeben und deshalb schwer zu trennen. So lässt es sich erklären, dass die Diskussion sich auf die Diskurstraditionen selbst konzentrierte und die kulturellen Traditionen des Sprechens bzw. die Bezeichnungstraditionen vernachlässigt wurden (1.2.5.1). Der Diskurs ist notwendigerweise komplexer als das Sprechen im Allgemeinen und die Einzelsprache, weil er diese beiden letztgenannten Ebenen einschließt. Wenn man im Rahmen von Diskurstraditionen spricht oder schreibt, so beinhalten sie einerseits das Sprechen oder Schreiben, andererseits über etwas. Das heißt nichts anderes, als dass der Diskurs die bezeichnete Sachverhaltsebene begrifflich einschließt (3.). Die Geschichtlichkeit von Sprache zeigt sich im Diskurs in der Variation. Die Zeit selbst dagegen nehmen wir beim Sprechen nicht wahr, weil unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gesprächspartner und unser Sprechen (oder Schreiben) gerichtet ist. Im Diskurs erscheint Älteres und Neueres nebeneinander. Franzosen wissen, dass die Aussprache /bʁɛ˜/ für brun letztlich „neuer“ ist und die Aussprache /bʁœ˜/ „älter“. Beides wird aber im Diskurs nebeneinander verwendet und manchmal auch, je nach Sprachsituation, von denselben Sprechern. Im Bereich des Wortschatzes variieren die Franzosen zwischen fax und télécopie, wobei télécopie die spätere puristische Ersetzung von fax ist.
Bibliographischer Kommentar
Die drei verschiedenen Arten von Traditionen wurden von Coseriu aus der Sicht der Sprachkompentenz und des sprachlichen Wissens eingeführt, die ich in 1.1.2 in der späten Fassung von 21992 zitiert habe. Der Gedanke wurde weiterentwickelt von Schlieben-Lange 1983: 13–29, Koch 1997, Oesterreicher 1997, Aschenberg 2003 und anderen. Dabei wurden jedoch die Diskurstraditionen privilegiert und die Traditionen des Sprechens im Allgemeinen, die kulturelle Traditionen sind und sich auf die Bezeichnungsebene beziehen, vernachlässigt. Ich habe in Lüdtke 2014a versucht, diese kulturelle Dimension zurückzugewinnen, und kann nunmehr auf die Einleitung und die Diskussionen in Lebsanft/Schrott (Hrsg.) 2015 verweisen, die unter anderem eine stärkere Hinwendung zu den kulturellen Traditionen zum Thema haben und geeignet sind, eine kohärent motivierte Einbeziehung der Kulturwissenschaften zu befördern.
1.2 Die sprachlichen Universalien
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Das gilt in gleicher Weise von der Diskursformation in der Folge von Michel Foucault (1971) mit einer terminologischen Festlegung, die sich auf den Zusammenhang von Sprechen und Denken bezieht. Die Sache selbst aber verlangt keine Einengung auf einen philosophischen Gebrauch des Terminus „Diskurs“. So darf man mit gutem Grund jede Entstehung einer neuen Diskurstradition „Diskursformation“ nennen und auch den Wandel einer Diskurstradition. Der Begriff darf offen bleiben für begrenztere terminologische Festlegungen, wenn seine Abgrenzung geklärt ist.
1.2.6 Die Reflexivität 1.2.6.1 Sprechen im Allgemeinen Sprache ist reflexiv. Das Sprechen enthält nicht nur den Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit, sondern immer auch den Bezug auf das Sprechen selbst. Das Sprechen enthält die Möglichkeit des Sprechens über das Sprechen. Daher kann man reflexiv über das Bezeichnen, Bedeuten und Meinen sprechen, über Sprachlaute und ihre Varianten, über die Alterität und die Historizität von Sprache. Man müsste eigentlich nacheinander die eingeführten Universalien noch einmal betrachten. Dies werden wir nur annähernd tun. Beim Sprechen dominiert zwar die Absicht, die außersprachliche Wirklichkeit zu bezeichnen, man kann aber auch eine Distanz zu diesem Sprechen einnehmen. Diese Distanz ist graduell. Deutlich wird sie zum Beispiel dann, wenn man etwas nicht versteht. Das Nichtverstehen kann dadurch bedingt sein, dass man das Bezeichnete nicht oder nicht richtig identifiziert; so ist im Deutschen wohl Eibe als Baumname allgemein bekannt, nicht jeder wird jedoch den damit gemeinten Baum einwandfrei identifizieren können. In der reflexiven Alterität spreche ich so, dass der Andere mich versteht. Ich stelle mich auf ihn ein. Ich nehme beim Sprechen seine Erwartungen vorweg oder identifiziere mich mit ihm und ahme seine Sprache nach. Beim Erlernen einer Fremdsprache ist dies ein ganz normaler, ja notwendiger Vorgang. Es ist ebenfalls Ausdruck einer reflexiven Alterität, wenn ich die Erwartungen eines Anderen frustriere. Die Distanzierung des Sprechers vom Sprechen ist möglich, weil das Sprechen Ausdruck des Bewusstseins ist und im Bewusstsein auch das reflexive Bewusstsein enthalten ist. Deshalb kann sich die sprachliche Reflexivität auf alle Komponenten beziehen, die wir als Universalien herausgearbeitet haben: Auf das Schöpferische in der Sprache, auf ihren lautlichen und schriftlichen Charakter, auf ihre Semantizität in der Gestalt des Bezeichnens, Bedeutens und des Sinns, in ihrer Hinwendung zum Anderen und sehr vieles andere mehr. 1.2.6.2 Einzelsprache Es kann auch der Fall sein, dass eine Bedeutung nicht verstanden wird, der häufigste Fall bei der Erlernung einer Fremdsprache, der so evident ist, dass wir ihn nicht zu exemplifizieren brauchen. Reflexiv verhalten wir uns ebenfalls zu den einzelsprach-
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
lichen lautlichen Unterschieden, zu Dialekten, deren Aussprache auf Deutsch abwertend „breit“, auf Italienisch “stretto“ oder spanisch “cerrado” genannt werden kann. Bei Ausländern nehmen wir auf diese Weise den „Akzent“ wahr, mit dem sie eine Fremdsprache sprechen. Im Bereich der Alltagssprache werden auch Meinungen über die Sprache und Dialekte tradiert, die eine bestimmte Einstellung zu Einzelsprachen, Dialekten, Redeweisen, Wörtern und dergleichen tradieren. Und nicht zuletzt ist die einzelsprachliche Linguistik (die französische, italienische, spanische usw. Sprachwissenschaft) ein typischer Ausdruck der Reflexivität, die sich auf die Einzelsprache bezieht. Insbesondere drückt sich die einzelsprachliche Reflexivität in einem allgemeinsprachlichen Wortschatz aus, der zu unserem terminologischen Wortschatz in einem Verhältnis steht, das eine reiche Quelle von Missverständnissen ist. Wörter wie frz. langage, langue, parole, mot, it. linguaggio, lingua, parola, sp. lenguaje, lengua, idioma, habla, palabra, haben einzelsprachliche und terminologische Verwendungen, die in sprachwissenschaftlichen Texten nebeneinander vorkommen können und deshalb den Umgang mit Sprachwissenschaft erschweren mögen. Deshalb gibt es viele Sprachwissenschaftler, die, um Missverständnissen vorzubeugen, ganz bewusst einen von der Alltagssprache abgehobenen Terminus bevorzugen, damit auffällt, dass es um ein fachsprachliches Sprechen oder Schreiben über Sprache geht. Diesen Wortschatz kann man den metasprachlichen Wortschatz einer Sprache (langue) nennen.
1.2.6.3 Diskurs Eine typische Erscheinung der Reflexivität im Diskurs ist die „autonyme“ Verwendung von Wörtern oder sonstigen sprachlichen Ausdrücken (cf. Rey-Debove 1978). Diese Verwendung besteht darin, dass man sich auf die Klanggestalt oder die Bedeutung eines Worts bezieht und es somit nicht in der üblichen referentiellen Weise benutzt: „Baum hat vier Buchstaben“, „Baum ist ein Substantiv“, „Wie heißt Schopftintling auf Französisch?“ Es kann vorkommen, dass man alle Einzelheiten versteht, nicht aber den Sinn einer konkreten Äußerung. Nehmen wir den Fall einer deutschen Touristin an der Costa del Sol, die in einem Restaurant ihre Rechnung begleichen möchte und in ihrem Sprachführer für „Ich möchte zahlen“, einen der deutschen Standardausdrücke in einer solchen Situation, die spanische Entsprechung “Quisiera pagar” findet. Die einzelnen Elemente sind korrekt, der spanische Kellner hat dennoch, verbunden mit einer verfremdenden Aussprache, nicht verstanden, weil man sich auf Spanisch konventionell nicht auf diese Weise in einer solchen Situation ausdrückt. Ich verhalte mich ebenfalls reflexiv zum Sprechen, wenn ich mich an einen Hörer mit einem „Warum antwortest du nicht?“ oder einem „Ich kann dich nicht gut verstehen“ wendet. Oder wir verhalten uns reflexiv zu uns selbst, wenn wir sagen: „Da fehlen mir die Worte!“
1.2 Die sprachlichen Universalien
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In der Alltagskommunikation kann ein Übermaß an Reflexivität sehr störend sein. Die Rückwendung der Sprecher zu ihrer Sprache bringt das Sprechen nicht voran. Ständige Selbstreflexivität gar bringt ein Gespräch völlig zum Erliegen. 1.2.6.4 Metasprache und Metakommunikation Die Terminologie, mit der die sprachliche Reflexivität erfasst werden kann, ist nicht einheitlich und nicht frei von Anlässen zu Missverständnissen. Am weitesten verbreitet ist der Terminus Metasprache, der einfach „Sprechen über Sprache“ bedeutet und aus der logischen Semantik stammt. Das Missverständnis beim logischen Gebrauch von Metasprache besteht darin, dass man sie der „Objektsprache“ gegenüberstellt, d. h. der „natürlichen Sprache“ bzw. Sprache schlechthin und einen Ebenenunterschied zwischen der „Objektsprache“ sowie der „Metasprache“ annimmt und sich dann fragt, wie man von der einen Ebene zur anderen gelangen könne. Sprachlich betrachtet liegt hier kein Unterschied zwischen Ebenen vor, sondern nur ein Unterschied, der bereits im Sprechen selbst gegeben ist. Im Sprechen bezeichnet man zwar die „außersprachliche Wirklichkeit“, aber zu dieser Wirklichkeit gehört eben auch die Sprache. Zudem kann das Sprechen die außersprachliche Wirklichkeit wie die sprachliche Wirklichkeit selbst zu ihrem Gegenstand machen. Die akzeptabelste Auffassung ist diejenige, die darunter global das Sprechen über das Sprechen fallen lässt (frz. métalangage, nicht métalangue). Neben „Metasprache“ wird die sprachliche Reflexivität am häufigsten „Metakommunikation“ genannt. Wir hatten aber bereits bei der Kommunikation gesehen, dass das Miteinandersprechen gegenüber dem Sprechen über die Welt überbetont wird (1.2.2.0). Der umfassende Charakter der Kommunikation und die teilweise Unschärfe des Begriffs bleiben auch bei der Metakommunikation, d. h. dem Sprechen über Kommunikation erhalten. Im engeren Sinne fällt Metakommunikation mit dem Sprechen über einen Teilbereich der Alterität zusammen, im weiteren Sinne mit der Reflexivität von Sprache überhaupt. 1.2.6.5 Sprecher und Sprachwissenschaftler Das lebenslange Sprechenlernen geht reflexiv vor sich, so beim Sprechenlernen in der frühen Kindheit, später bei der Erlernung einer Fremdsprache oder auch eines anderen Dialekts und eines weiteren Sprachstils der eigenen Sprache. Und natürlich ist die Tätigkeit eines Sprachwissenschaftlers, die ja prinzipiell auf dem Vorwissen der Sprecher aufbaut, rein reflexiv. Es fällt auf, dass die Sprecher sich mit den gleichen Fragen beschäftigen wie die Sprachwissenschaftler. In der Tat setzen Sprachwissenschaftler – allerdings nicht immer und nicht ausschließlich – bei den gleichen Fragen wie die Sprecher an. Deshalb ist es nur natürlich, wenn Sprecher in problematischen Sprachsituationen sich verstärkt mit Sprache beschäftigen und eher professionelle Sprachwissenschaftler werden als anderswo. Ein Beispiel aus der Gegenwart ist die Begeis-
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
terung der Katalanen für ihre eigene Sprache. Für die Sprecher von Randregionen ist die Kenntnis der Standardsprache ein ständiges Problem, da sie dort die Standardsprache in geringerem Maße beherrschen. So ist es gerade der Andalusier Elio Antonio de Nebrija (1444–1522), der die erste spanische Grammatik (1492) veröffentlicht, der Lyoner Louis Meigret (um 1500–1558 oder danach), der die beste französische Grammatik seiner Zeit schreibt, Claude Favre de Vaugelas (1585–1650) aus der Bresse, einer Landschaft nördlich von Lyon, der in seinen Remarques sur la langue françoise (1647) am intensivsten und als Purist über die standardsprachliche Norm des Französischen im 17. Jahrhundert nachdenkt, der Belgier Maurice Grevisse (1895–1980), der am ausführlichsten die Norm des heutigen Französisch in Le bon usage beschreibt, der Venezolaner Andrés Bello (1781–1865), der eine der wichtigsten Grammatiken der spanischen Sprache geschrieben hat (Gramática de la lengua castellana, 1847). Mit einem derart weiten Begriff von Sprache, wie wir ihn im Vorgehenden erörtert haben, werden wir im konkreten Fall nicht arbeiten können. Wir müssen für bestimmte Zwecke unterschiedliche Reduktionen vornehmen. Es ist in einer phonologischen Beschreibung gewiss notwendig, von einer eigenen Behandlung der Bedeutung abzusehen, wie man auch umgekehrt bei einer semantischen Untersuchung eine phonologische Beschreibung als gegeben annimmt. Wir müssen uns aber dessen bewusst sein, dass wir Reduktionen vornehmen und welche dies sind. Das Maß, von dem wir dabei ausgehen müssen, sind die Universalien.
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute Laute werden vom Sprecher mit den „Sprechwerkzeugen“ erzeugt, als Schallwellen übermittelt und als Schallwellen vom Hörer aufgenommen. Diese drei Vorgänge sind für uns unmittelbar wahrnehmbar. Jedoch erlaubt die Selbstbeobachtung nur eine sehr grobe Wahrnehmung der artikulatorischen Vorgänge. Darüber hinaus werden, für uns nicht oder nur begrenzt wahrnehmbar, die Lauterzeugung und die Lautperzeption von Nerventätigkeit und von Muskelbewegungen begleitet. Will man sie genauer erfassen, muss man auf Hilfsmittel zurückgreifen. Wir beschränken unsere Betrachtung auf die rein materiellen, mit der Lauterzeugung und -perzeption im Zusammenhang stehenden Vorgänge (cf. Materialität, 1.2.4); die Darstellung von Gegenständen und Sachverhalten durch den Sprecher und ihre Rezeption durch den Hörer (cf. Semantizität, 1.2.3) lassen wir dabei unbeachtet. Für ein besseres Verständnis der lautlichen Vorgänge empfehle ich die anschließende Lektüre von 2.2.1. Danach sollte man dieses Kapitel 1.3.1 noch einmal lesen. Zwei der drei genannten Vorgänge sind als materielle Erscheinungen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen: Die Lauterzeugung mit den Methoden der Lautphysiologie und die Übermittlung der Laute als Schallwellen mit den
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute
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Methoden der Physik, genauer der Akustik (Laute können Gegenstand von weiteren Naturwissenschaften sein, was wir hier vernachlässigen). Diesen Erscheinungen entsprechen als Disziplinen die artikulatorische Phonetik, die akustische Phonetik und die auditive Phonetik. Die Interpretation des Gehörten bei der Lautperzeption als Phoneme (cf. 2.2.1), d. h. als einer Einzelsprache je eigene Laute, die im Vergleich zu einem anderen Laut an derselben Stelle einen Bedeutungsunterschied ausdrücken, durch den Hörer ist dagegen durch keine naturwissenschaftliche Methode zu leisten. Keine noch so genaue lautphysiologische Beschreibung der Artikulation kann der Tatsache Rechnung tragen, dass ein Laut ein Laut einer bestimmten Einzelsprache oder überhaupt ein Sprachlaut ist, und lautphysiologisch kann kein Lautsegment exakt von einem anderen Lautsegment abgegrenzt werden. Noch schwieriger ist die Phonemerkennung mit den Mitteln der Akustik. Erst wenn wir die akustische Lautanalyse durch eine Lautsynthese ergänzt haben und die Ergebnisse der Lautsynthese durch Sprecher haben überprüfen lassen, können wir die Gewissheit bekommen, dass wir es mit Phonemen zu tun haben und mit welchen. Der Nachweis, der schon nicht bei den Lautsegmenten exakt geführt werden kann, wird geradezu unmöglich, wenn es um solche Lautsegmente übergreifende Erscheinungen wie Silbe, Akzent oder Intonation geht. Die Materialität des Sprechens nehmen wir immer in der Weise wahr, dass wir das Gehörte als Realisierung des Lautsystems einer Einzelsprache interpretieren und verstehen. Dieser Vorgang ist so sehr zu einer festen Gewohnheit geworden, dass wir ihn nicht reflexiv wahrnehmen und auch nicht darüber Auskunft geben könnten. Denn wir ergänzen diejenigen Laute, die wir nicht genau gehört haben, wie es beim undeutlichen oder hastigen Sprechen geschieht. Gelingt diese stillschweigende Interpretation nicht, dann versteht man das Gesagte eben nicht, weil die Grenze des für die Wahrnehmung Zumutbaren unterschritten wird oder man nicht genügend aufmerksam ist. Damit immer klar ist, ob wir hier über Phoneme sprechen oder über die Laute des Sprechens im Allgemeinen, werden die Phoneme zwischen Schrägstriche gesetzt und die sonstigen Laute in eckige Klammern. Als Sprechern stellt sich uns hingegen das Problem der Realisierungen eines Sprachlautes überhaupt nicht. Wir glauben zu wissen, dass wir zum Beispiel „dasselbe“ /a/ dreimal aussprechen, wenn wir sp. alarmante ‚beunruhigend‘ sagen, wo es dreimal vorkommt. Wir wissen nicht – oder beachten nicht –, dass jedes einzelne [a] eine unterschiedliche Dauer, eine unterschiedliche Lautstärke und eine unterschiedliche Tonhöhe hat. Alle diese Eigenschaften treten mehr oder weniger deutlich hervor. Denn wenn wir die Sprachlaute hören, beziehen wir diese Wahrnehmung auf unser sprachliches Wissen, in welchem sie Einheiten sind, eben Lauteinheiten. Dagegen verlangt es von uns eine ganz besondere Aufmerksamkeit, die Unterschiede der eigenen lautlichen Realisierungen zu erkennen. Man mache doch einmal einen kleinen Versuch und lasse sich, wenn man Aussprachunterschiede bei einem Nichtlinguisten hört, diese erklären. Man wird in der Regel dafür keine Erklärungen bekommen.
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
In meinen Erläuterungen werde ich mich auf Realisierungen im Diskurs, d. h. im konkreten Sprechen beziehen. Lautliche Erscheinungen müssen immer exemplifiziert werden. Dies geschieht im Diskurs. Die Diskursbeispiele belegen aber nur die allgemeinen Realisierungsmöglichkeiten der Laute. Daher sollte dies nicht als Widerspruch zu meiner Zuordnung der Laute zum Sprechen im Allgemeinen gesehen werden. Als materielle Erscheinungen sind Lauterzeugung, Lautübermittlung und Lautperzeption erstens Erscheinungen des jeweiligen Diskurses und können phonetisch (lautlich) untersucht werden; sie können zweitens über den jeweiligen Diskurs hinaus habituelle Erscheinungen der Sprachnorm sein. Was wir, drittens, jedoch als Sprecher bei der Lauterzeugung realisieren, sind Phoneme und wir hören auch Laute als Phoneme. Wir realisieren diejenigen Phoneme einer Einzelsprache, die Invarianten sind, immer als Varianten im Diskurs bzw. in der parole und hören die Varianten immer als Invarianten, d. h. als Phoneme einer Einzelsprache, also einer langue. Daraus ergibt sich für uns eine doppelte linguistische Aufgabe: Wir müssen die Laute in ihrer Materialität beschreiben und wir müssen die Laute als Phoneme einer Einzelsprache erfassen. Das eine gehört zu den Aufgaben der Phonetik, das andere zu denen der Phonologie. Aus der Dialektik von Diskurs und Einzelsprache ergibt sich aber auch, dass die Varianten in ihrem Verhältnis zu den Invarianten, d. h. als (Typen von) Varianten von Phonemen beschrieben werden müssen, da wir nur auf diese Weise sicher sein können, dass wir uns innerhalb der materiellen Realisierungen des Phonems einer Einzelsprache bewegen. Man betrachte wieder das Beispiel sp. alarmante: Ein Sprecher des Spanischen wird nur das dreimalige Vorkommen des Phonems /a/ wahrnehmen, nicht aber die Varianten der Realisierung. Die Phonetik kann die artikulatorisch beschreibbare Lauterzeugung zugrunde legen oder die akustisch messbaren Schallwellen in der Lautübermittlung. Die dritte Möglichkeit, die Behandlung der Lautwahrnehmung in der auditiven Phonetik, berücksichtigen wir nur gelegentlich, da sie wenig zuverlässig ist. Um die übermittelten Schallwellen akustisch zu messen, braucht man eigens dafür geschaffene Geräte. Diese stehen im Allgemeinen nur einem Institut für Phonetik zur Verfügung. Wenn wir uns daher mit artikulatorischer Phonetik auseinandersetzen, hat dies zunächst seinen praktischen Grund darin, dass uns keine akustischen Messgeräte zur Verfügung stehen. Dies hat seinen Grund aber auch darin, dass wir unsere „Sprechwerkzeuge“ immer dabeihaben und die Artikulationen am eigenen Leibe erfahrbar sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir in der artikulatorischen Phonetik völlig ohne Geräte auskommen; wir werden aber auf diese Art Phonetik nur insofern eingehen, als die Artikulationen für uns unmittelbar erfahrbar sind. Wenn im Folgenden Laute transkribiert werden, lege ich das Transkriptionssystem bzw. die Lautschrift der Association Phonétique Internationale (API) zugrunde. Da dies eine französische Gesellschaft ist, führe ich sie in dieser Sprache an. Durch den Sonderzeichensatz der elektronischen Rechner und überhaupt die Dominanz des
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Englischen ist das Alphabet Phonétique International eher als International Phonetic Alphabet (abgekürzt IPA) bekannt. Wir kommen nun zu den Sprechwerkzeugen oder Artikulationsorganen, der Artikulation und den Artikulationsstellen sowie den Artikulationsarten oder -modi. Zum Schluss folgen einige knappe Bemerkungen zur Prosodie. Damit wird nicht der Anspuch erhoben, die vielen interessanten Arbeitsmethoden der modernen Phonetik darzustellen.
1.3.1 Sprechwerkzeuge oder Artikulationsorgane Wir betrachten als Erstes die Sprechwerkzeuge, von denen keines nur zum Sprechen da ist. Voraussetzung für die Lauterzeugung oder Phonation ist die Erzeugung eines Lautstroms von bestimmter Geschwindigkeit mit Beteiligung der Glottis oder Stimmritze, die die Luftröhre verschließen und öffnen kann, und der anschließenden eigentlichen Artikulation. Die Phonation findet an der geöffneten Glottis durch Ausströmen des Luftstroms aus der Luftröhre statt. Sie besteht aus Schwingungen, deren Resonanzraum von der Stimmritze und der Rachenhöhle bis zur Mund- und Nasenhöhle reicht. Die Laute, die mit Beteiligung der gespannten, fast geschlossenen Stimmlippen bzw. Stimmbänder artikuliert werden, nennt man stimmhaft, desgleichen alle Vokale – die wegen ihrer Stimmhaftigkeit so genannt werden, denn der Terminus leitet sich von lat. vox ‚Stimme‘ ab. Vokale werden produziert, ohne dass die Artikulationsorgane ein Hindernis bilden; Konsonanten kommen dadurch zustande, dass die Artikulationsorgane dem Phonationsstrom ein Hindernis bereiten. Ist die Glottis weit geöffnet und können die Stimmlippen daher nicht vibrieren, entstehen stimmlose Laute. Bei einer bestimmten Enge der Stimmritze entsteht ein stimmloses [h], das im Deutschen die stimmlosen Verschlusslaute [p, t, k] begleitet, transkribiert als [ph, th, kh]. Diese Artikulation muss in den romanischen Sprachen fast immer vermieden werden. Doch existiert [h] im Rumänischen z. B. in han ‚Herberge‘. Und in zahlreichen Varietäten des Spanischen, zum Beispiel in vielen Regionen Andalusiens und Hispanoamerikas wird casas ‚Häuser‘ [ˈkasah] gesprochen und im brasilianischen Portugiesisch als Variante von /rr/ wie in os rios [us ˈhiws] ‚die Flüsse‘. Die eigentliche Artikulation wird durch Modulierung des Vokaltrakts erzeugt, zu dem Rachen, Mundhöhle und Nasenhöhle gehören. Die Mundhöhle wird nach außen durch die Lippen abgeschlossen. Sie können als sehr bewegliche Organe bei geöffnetem Mund gerundet oder gespreizt werden – eine Artikulation, die vor allem für Vokale relevant ist, – oder sie können beide aneinandergedrückt werden, und die Unterlippe kann die oberen Schneidezähne berühren. Bilabiale, d. h. mit beiden Lippen artikulierte Konsonanten sind das stimmlose [p], das stimmhafte [b] und der Nasal [m]. Die folgende Kurzbeschreibung enthält Angaben zur Stimmhaftigkeit oder Stimmlosigkeit, den Artikulationsort und, im Vorgriff auf den nächsten Abschnitt,
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Abb. 1.2: Sprechwerkzeuge (Quelle: von Essen 1979: 69)
die Artikulationsart. Die beiden ersten Angaben werden adjektivisch ausgedrückt, die dritte substantivisch. [p] stimmloser bilabialer Okklusiv, frz. pain ‚Brot‘, gal. okz. sp. pan, it. sard. pane, kat. pa, pt. pão, rum. pâine [b] stimmhafter bilabialer Okklusiv, frz. okz. bon ‚gut‘, gal. kat. bo, it. buono, pt. bom, rum. bun, sard. bonu, sp. bueno [m] stimmhafter bilabialer Nasal, frz. main ‚Hand‘, gal. man, kat. okz. ma, it. sp. mano, pt. mão, rum. mână, sard. manu
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute
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Abb. 1.3: Konsonanten (Quelle: The International Phonetic Alphabet (revised to 2015))
Mit der Unterlippe und den oberen Schneidezähnen artikulierte bzw. labiodentale Konsonanten sind das stimmhafte [ɱ], das stimmlose [f] und das stimmhafte [v]. [ɱ] stimmhafter labiodentaler Nasal, gal. it. pt. inverno ‚Winter‘, sp. infierno ‚Hölle‘ [f] stimmloser labiodentaler Frikativ, frz. feu ‚Feuer‘, gal. pt. fogo, it. fuoco, kat. rum. foc, okz. fuec/foc, sard. fogu, sp. fuego [v] stimmhafter bilabialer Frikativ, frz. okz. venir ‚kommen‘, it. venire, gal. pt. vir, rum. a veni, sard. cravu ‚Nagel‘, su frade ‚der Bruder‘
Die Zähne gehören ebenso zu den unbeweglichen Artikulationsstellen wie die sich nach hinten daran anschließenden Alveolen bzw. der Zahndamm, der harte Gaumen oder das Palatum und der weiche Gaumen, der auch Gaumensegel oder Velum genannt wird. An den Zähnen werden die dentalen Laute [t] und [d] artikuliert, an den Alveolen alveolare wie z. B. [n], [d], am harten Gaumen das stimmlose palatale [ʃ] und das stimmhafte palatale [ʒ] sowie am weichen Gaumen die velaren Laute [k], [g], [χ]. [χ] wird im Deutschen auch Ach-Laut genannt. [t] stimmloser dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. temps ‚Zeit‘, gal. it. pt. tempo, rum. timp, sard. tempus, sp. tiempo [d] stimmhafter dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. rum. dur ‚hart‘, gal. it. pt. sp. duro, sard. duos ‚zwei m.‘ [n] stimmhafter alveolarer Nasal, frz. nez ‚Nase‘, gal. it. pt. sp. naso, kat. okz. rum. nas, sard. nasu [ʃ] stimmloser palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. chaud ‚heiß‘, gal. pt. peixe, it. pesce, kat. peix, rum. peşte [ʒ] stimmhafter palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. jaune ‚gelb‘, it. garage, kat. okz. gent ‚Leute‘, pt. gente, rum. jertfă ‚Opfer‘ [k] stimmloser velarer Okklusiv, frz. car ‚denn‘, gal. it. pt. sp. caro ‚lieb, teuer‘, kat. okz. car, rum. car ‚Wagen‘, sard. caru [g] stimmhafter velarer Okklusiv, frz. goutte ‚Tropfen‘, gal. kat. pt. sp. gota, okz. gòt ‚Glas‘, it. gotta, rum. gută ‚Gicht‘, sard. gutta [χ] stimmloser velarer Frikativ, sp. hijo ‚Sohn‘
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Das Velum ist beweglich, denn es kann gehoben und gesenkt werden. Bei Senkung des Velums strömt die Luft durch die Nase und erzeugt nasale Vokale, zum Beispiel [ɑ˜, ɔ˜, ɛ˜, œ˜] wie in frz. champ [ʃɑ˜] ‚Feld‘, bon [bɔ˜] ‚gut‘, vin [vɛ˜] ‚Wein‘, un [œ˜] oder [ɛ˜] ‚ein‘, und nasale Konsonanten wie [m, n, ɲ, ŋ], z. B. in sp. mano [ˈmano] ‚Hand‘, año [ˈaɲo] ‚Jahr‘, anca [ˈaŋka] ‚Hüfte (eines Tieres)‘. Die Anhebung des Velums verschließt die Nasenhöhle, die dann die Lauterzeugung nicht beeinflusst. Im Überblick: Nasalvokale [ɛ˜] [œ˜] [ɑ˜] [ɔ˜ ] [õ]
vorderer halb offener Nasalvokal, frz. fin ‚fein‘ mittlerer gerundeter Nasalvokal, frz. brun ‚braun‘ hinterer offener Nasalvokal, frz. vent ‚Wind‘ hinterer halb offener Nasalvokal, frz. on ‚man‘ hinterer halb geschlossener Nasalvokal, pt. longo ‚lang‘
Nasalkonsonanten [m] stimmhafter bilabialer Nasal, frz. main ‚Hand‘, gal. man, kat. okz. ma, it. sp. mano, pt. mão, rum. mână, sard. manu [ɱ] stimmhafter labiodentaler Nasal, gal. it. pt. inverno ‚Winter‘, sp. infierno ‚Hölle‘ [n] stimmhafter alveolarer Nasal, frz. nez ‚Nase‘, gal. it. pt. sp. naso, kat. okz. rum. nas, sard. nasu [ɲ] stimmhafter palataler Nasal, frz. montagne ‚Gebirge‘, gal. sp. montaña, it. sard. montagna, kat. montanya, okz. pt. montanha [ŋ] stimmhafter velarer Nasal, frz. pressing ‚chemische Reinigung‘, gal. áncora ‚Anker‘, unha ‚eine‘, it. ancora, kat. àncora, okz. ancra, pt. âncora, rum. ancoră, sard. àncara, sp. ancla
Sehr beweglich ist das Zäpfchen oder die Uvula, das oder die das Ende des Zungenrückens vibrierend berühren kann. Diese Aussprache nennt man uvular; transkribiert wird sie mit [R] bzw. [ʁ]. Die Zunge ist das wichtigste Artikulationsorgan; sie ist so wichtig, dass man in vielen Sprachen, so im griech. glôtta, glôssa oder im lat. lingua und folglich in den romanischen Sprachen, die Sprache selbst nach ihr benannt hat. Wegen ihrer Wichtigkeit für die Lauterzeugung wird sie weiter unterteilt in die Zungenspitze oder Apex, den vorderen Zungenrücken oder Prädorsum, den mittleren Zungenrücken oder Mediodorsum und den hinteren Zungenrücken oder Postdorsum. Die Adjektive dazu heißen apikal, prädorsal, mediodorsal und postdorsal.
1.3.2 Artikulation und Artikulationsstellen Die Vokale werden wie erwähnt in der Mundhöhle mit oder ohne Beteiligung der Nasenhöhle gebildet. Ist die Nasenhöhle an der Artikulation beteiligt, heißen die Laute nasale Vokale; wenn dies nicht der Fall ist, orale Vokale. Die oralen Vokale werden durch die Zungenstellung und den Öffnungsgrad des Mundes in Verbindung mit der
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute
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Rundung oder Spreizung der Lippen gebildet. Nach der Zungenstellung werden die Vokale in vordere oder Vorderzungenvokale ([i, e, ɛ, a, y, ø]), in zentrale oder Mittelzungenvokale (hier vertreten durch [a]) und in hintere oder Hinterzungenvokale ([u, o, ɔ, ɑ] usw.) eingeteilt. Zwar ist der Mund bei den Vokalen immer offen, aber man unterscheidet nach dem relativen Öffnungsgrad geschlossene ([i, u]), mittlere ([e, ɛ, ø, œ, o, ɔ]) und offene Vokale ([ɐ, a, ɑ]). Wenn man bei den mittleren Vokalen von Offenheit und Geschlossenheit spricht, meint man die relative Geschlossenheit von [e, ø, o] und die relative Offenheit von [ɛ, œ, ɔ]. Hinzu kommt im Französischen die Labialisierung oder Rundung der Lippen bei allen velaren Vokalen. Alle diese Eigenschaften der Vokale nennt man ihre Vokalqualität im Unterschied zur Vokalquantität, also ihrer Dauer. [i] [e] [ɛ] [y] [ø] [œ] [a] [ɨ] [ə] [ɐ] [u] [o] [ɔ] [ɑ]
vorderer geschlossener Vokal, frz. nid ‚Nest‘, it. sp. nido, gal. okz. pt. vida ‚Leben‘, kat. niu, rum. inimă ‚Herz‘, sard. nidu vorderer halb geschlossener Vokal, frz. nez ‚Nase‘, it. sp. velo ‚Schleier‘, gal. kat. okz. pt. sp. seda ‚Seide‘, rum. case ‚Häuser‘, sard. bentu ‚Wind‘ vorderer halb offener Vokal, frz. père ‚Vater‘, it. pesca ‚Pfirsich‘, gal. pt. pé ‚Fuß‘, kat. què ‚was‘, sp. reja ‚Gitter‘, sard. pane ‚Brot‘ vorderer gerundeter geschlossener Vokal, frz. rue ‚Straße‘, okz. madur ‚reif‘ vorderer gerundeter geschlossener Vokal, frz. nœud ‚Knoten‘ vorderer gerundeter offener Vokal, frz. peur „Furcht“ mittlerer offener Vokal, frz. patte ‚Pfote‘, gal. it. pt. rum. sp. carne ‚Fleisch‘, kat. carn, okz. amar ‚lieben‘, sard. pane ‚Brot‘ mittlerer geschlossener Vokal, rum. câmp ‚Feld‘ mittlerer halb offener/geschlossener Vokal, frz. le ‚der, ihn‘, kat. demà ‚morgen‘, rum. inimă ‚Herz‘ mittlerer halb offener Vokal, pt. amamos ‚wir lieben‘ hinterer geschlossener Vokal, frz. roue ‚Rad‘, it. gal. pt. sp. duro ‚hart‘, rum. dur, sard. duos ‚zwei m.‘ hinterer halb geschlossener Vokal, frz. eau, gal. sp. todo ‚ganzʻ, it. orzo ‚Gersteʻ, kat. cançó ‚Liedʻ, okz. mot ‚Wortʻ, pt. novo ‚neu m.ʻ, rum. epocă ‚Epocheʻ, sard. nobu hinterer halb offener Vokal, frz. école ‚Schule‘, gal. kat. bo ‚gut‘, it. poco ‚wenig‘, okz. pt. nova ‚neu f.‘, sard. noua f., sp. hoy ‚heute‘ hinterer offener Vokal, frz. mâle ‚männlich‘
Die Vokale einer Sprache werden schematisch entweder als Dreieck oder als Trapez dargestellt. Diese Formen kommen dadurch zustande, dass man die Zentren der Resonanzräume der Vokale mit Linien verbindet. Ein Vokaldreieck entsteht, wenn das Vokalsystem nur einen offenen Vokal hat ([a]), ein Vokaltrapez durch mindestens zwei offene Vokale wie im Französischen ([a], ([ɑ]). Zwei Vokale, die zu ein und derselben Silbe gehören, bilden einen Diphthong. Die beiden Vokale gehen artikulatorisch ineinander über. Die Klangfülle des einen Vokals ist stärker als diejenige des anderen. Wenn der zweite Vokal eine größere Klangfülle aufweist, nennt man diesen Diphthong „steigend“. Hat der erste Vokal die größere Klangfülle, handelt es sich um einen „fallenden“ Diphthong. Steigende Diphthonge
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Abb. 1.4: Vokaltrapez
sind zum Beispiel [jɛ], [ja], [wɔ], fallende sind [ɛj], [aj], [ɛw]. Die Realisierungen derjenigen Elemente, die die geringere Klangfülle aufweisen, sind sehr variabel. Sie kann als [i] oder [u] hörbar sein, als die Halbvokale [i̯] bzw. [ṷ] und sogar als Halbkonsonanten, wie wir die Aussprache hier notiert haben, also als [j] bzw. [w]. [ɥ] wird im Französischen als Variante von [y] realisiert, wenn es das erste Element eines Diphthongs ist. Wenn dem Silbengipfel ein Vokal mit geringerer Klangfülle vorausgeht und folgt, spricht man von einem Triphthong, zum Beispiel bei [wɛj] wie in sp. buey ‚Ochse‘. Mehr zu den Diphthongen und Triphthongen kann man bei den Phonemen der Einzelsprachen nachlesen. Für die Erzeugung der Konsonanten nennen wir die Artikulationsorgane, die beweglich sind (Lippen, Zunge, Zäpfchen, z. T. Velum) und die Artikulationsstellen (Zähne, Alveolen, Palatum, Velum). Die übliche Darstellung, der wir hier folgen, ist nicht willkürlich, denn sie bildet von vorne nach hinten im Mund die Position der Artikulatoren ab. Dabei blickt der im Querschnitt gezeigte Kopf nach links. Dementsprechend beginnen die schematischen Darstellungen bei den Bilabialen und enden bei den velaren oder uvularen Konsonanten. Auch die meisten üblichen Schemata bilden diese Position ab (cf. die Schemata von 2.2.1.1 an). Die Lippen können sich berühren bei [p] stimmloser bilabialer Okklusiv, frz. pain ‚Brot‘, gal. okz. sp. pan, it. sard. pane, kat. pa, pt. pão, rum. pâine [b] stimmhafter bilabialer Okklusiv, frz. okz. bon ‚gut‘, gal. kat. bo, it. buono, pt. bom, rum. bun, sard. bonu, sp. bueno [β] stimmhafter bilabialer Frikativ, gal. kat. pt. sp. saber ‚wissen‘, sard. sa barba ‚der Bart‘ [ɸ] stimmloser bilabialer Frikativ, asp. fijo, tosk. capo ‚Kopf‘ [ɱ] stimmhafter labiodentaler Nasal, gal. it. pt. inverno ‚Winter‘, sp. infierno ‚Hölle‘,
die Unterlippe die oberen Schneidezähne bei
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute
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[ɱ] stimmhafter labiodentaler Nasal, gal. it. pt. inverno ‚Winter‘, sp. infierno ‚Hölle‘ [f] stimmloser labiodentaler Frikativ, frz. feu ‚Feuer‘, gal. pt. fogo, it. fuoco, kat. rum. foc, okz. fuec/foc, sard. fogu, sp. fuego [v] stimmhafter bilabialer Frikativ, frz. okz. venir ‚kommen‘, it. venire, pt. vir, rum. a veni, sard. cravu ‚Nagel‘, su frade ‚der Bruder‘
Die Zungenspitze kann zwischen die Zähne gesteckt werden (interdental, [θ, ð]), [ð] stimmhafter interdentaler Frikativ, gal. kat. pt. sp. vida ‚Leben‘, sard. su dente ‚der Zahn‘ [θ] stimmloser interdentaler Frikativ bzw. Sibilant, europ. sp. cielo ‚Himmel‘,
die oberen Schneidezähne berühren (apikodental, [t, d, n, ś, ź]), [t] stimmloser dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. temps ‚Zeit‘, gal. it. pt. tempo, rum. timp, sard. tempus, sp. tiempo [d] stimmhafter dentaler Okklusiv, frz. kat. okz. rum. dur ‚hart‘, gal. it. pt. sp. duro, sard. duos ‚zwei m.‘ [n] stimmhafter alveolarer Nasal, frz. nez ‚Nase‘, gal. it. pt. sp. naso, kat. okz. rum. nas, sard. nasu [ś] stimmloser alveolarer Frikativ bzw. Sibilant, gal. kat. europ. sp. sal ‚Salz‘ [ź] stimmhafter alveolarer Frikativ bzw. Sibilant, kat. casa ‚Haus‘
der vordere Zungenrücken die oberen oder unteren Schneidezähne (prädorsal-dental, [s, z]), [s] stimmloser prädorsal-dentaler Frikativ bzw. Sibilant, frz. sel ‚Salz‘, okz. pt. sal, it. sard. sale, rum. sare [z] stimmhafter prädorsal-dentaler Frikativ bzw. Sibilant, frz. rose ‚Rose‘, it. kat. okz. pt. sard. rosa, rum. roză
der mittlere Zungenrücken die Alveolen, um ein dorsal-alveolares oder präpalatales [ʃ, ʒ] zu produzieren, [ʃ]
stimmloser dorsal-alveolarer oder palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. chaud ‚heiß‘, gal. pt. peixe, it. pesce, kat. peix, rum. peşte [ʒ] stimmhafter palataler Frikativ bzw. Sibilant, frz. jaune ‚gelb‘, it. garage, kat. okz. gent ‚Leute‘, pt. gente, rum. jertfă ‚Opfer‘
der mittlere Zungenrücken den harten Gaumen und zum Teil die Alveolen, was meist nicht dorsal-palatal oder alveolar-palatal, sondern einfach palatal genannt wird, und zur Bildung von [j, ɲ] führt, [j] stimmhafter palataler Halbkonsonant, frz. bien ‚gut‘, gal. pt. pai ‚Vater‘, it. unghia ‚Fingernagel‘, okz. viatje ‚Reise‘, rum. piatră ‚Stein‘, sard. janna ‚Tür‘, sp. viuda [ɲ] stimmhafter palataler Nasal, frz. montagne ‚Gebirge‘, gal. sp. montaña, it. sard. montagna, kat. montanya, okz. pt. montanha,
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
und der hintere Zungenrücken den weichen Gaumen; diese Stelle wird statt postdorsal-velar einfach velar genannt: [k, g, χ, R, ʁ]: [k] stimmloser velarer Okklusiv, frz. car ‚denn‘, gal. it. pt. sp. caro ‚lieb, teuer‘, kat. okz. car, rum. car ‚Wagen‘, sard. caru [g] stimmhafter velarer Okklusiv, frz. goutte ‚Tropfen‘, gal. kat. pt. sp. gota, okz. gòt ‚Glas‘, it. gotta, rum. gută ‚Gicht‘, sard. gutta [χ] stimmloser velarer Frikativ, sp. hijo ‚Sohn‘ [R] stimmhafter uvularer Vibrant, frz. porte ‚Tür‘, europ. pt. carro ‚Wagen‘ [ʁ] stimmhafter uvularer Frikativ, frz. porte ,Tür‘
Manchmal werden die Zungenspitze mit dem vordersten Teil des Prädorsums bzw. der Vorderzunge zusammen Corona und die damit produzierten Laute koronal genannt. Der Rachen wird für die Artikulation der romanischen Sprachen nur im Bereich der Vokale als Resonanzraum ausgenutzt.
1.3.3 Artikulationsarten oder -modi Noch nicht unterschieden haben wir die verschiedenen Artikulationsarten oder Artikulationsmodi. Das sind die Arten und Weisen, wie die dem Luftstrom durch Artikulationsorgane und Artikulationsstellen bereiteten Hindernisse, die dem Luftstrom Gegendruck erzeugen, überwunden werden. Wird die Phonation kaum behindert, entstehen Halbvokale ([i̯], [ṷ]) bzw. Halbkonsonanten, so [j] im Bereich des harten Gaumens, [w] an den Lippen. Bei größerer Behinderung des Phonationsstroms entstehen Konsonanten. Die Artikulationsarten werden nach dem Kriterium der Hindernisüberwindung eingeteilt. Das Hindernis kann in einem Verschluss bzw. einer Okklusion im Artikulationsraum bestehen, der mit unterschiedlichem Druck geöffnet wird. Die dabei entstehenden Laute [p, b, t, d, k, g] werden nach dem Verschluss entweder Verschlusslaute (Okklusive) oder nach der schnellen Öffnung des Verschlusses Sprenglaute (Plosive) genannt. Die Okklusive können artikulatorisch in implosive eingeteilt werden, die nur bis zur Phase des Verschlusses vor der Sprengung gelangen, wie wir sie bei den aufgezählten Okklusiven vor Konsonanten finden wie zum Beispiel [p] in sp. apto, und in explosive, die diese Phase der Sprengung noch einschließen wie bei [t] in sp. apto. Sie sind zugleich oral, da sie nur in der Mundhöhle ohne Beteiligung der Nasenhöhle artikuliert werden. Die nasalen Okklusive, gewöhnlich einfach Nasale genannt, sind dagegen Verschlusslaute, bei denen der Verschluss beibehalten wird und der Luftstrom die Nasenhöhle passiert. Der Verschluss kann in diesem Fall bilabial ([m]), labiodental ([ɱ]), dental oder alveolar ([n]), palatal ([ɲ]) oder velar ([ŋ]) sein. Die Artikulatoren können eine Enge bilden, weshalb sie Engelaute genannt werden. Die Enge wird durch eine Reibung des Luftstroms überwunden. Daher nennt man sie auch Reibelaute oder Frikative. Dazu gehören [w, ɸ, β, f, v, θ, ð, s, z, ś, ź, ʃ, ʒ, ɣ, χ]. Hiervon haben wir [ɣ] noch nicht mit Beispielen belegt:
1.3 Allgemein-sprachlicher Ausdruck: Die Laute
[ɣ]
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stimmhafter velarer Frikativ, gal. pt. sp. seguro ‚sicher‘, kat. segur, sard. su gattu ‚der Kater‘
Einige unter den Reibelauten werden gesondert als Zischlaute oder Sibilanten unterschieden ([s, z, ʃ, ʒ]). Wenn die Artikulation von Verschlusslauten mit der Artikulation von Reibelauten kombiniert wird, entstehen die Affrikaten [ts, dz, tʃ, dʒ] wie in [ts] stimmlose dentale Affrikate, frz. pt. tzar ‚Zar‘, gal. tsar, it. zio, kat. prats ‚Wiesen‘, okz. avètz ‚ihr habt‘, rum. ţară ‚Land‘, sard. tziu ‚Onkel‘ [dz] stimmhafte dentale Affrikate, kat. okz. dotze ‚zwölf‘, it. zona ‚Zone‘, sard. fizu ‚Sohn‘ [tʃ] stimmlose palatale Affrikate, frz. tchèque ‚tschechisch‘, gal. sp. checo, it. ceco, kat. txec, okz. freg ‚frisch‘, rum. cec [dʒ] stimmhafte palatale Affrikate, frz. djinn ‚Djinn, Dschinn‘, it. gente ‚Leute‘, kat. okz. jutge ‚Richter‘
Diese erscheinen in der Geschichte aller romanischen Sprachen und bleiben in einigen bis heute erhalten. Berührt das Dorsum das Palatum und entweicht der Luftstrom seitlich, so entstehen Laterale. Sie können alveolar ([l]), palatal ([ʎ]) oder velar ([ɫ]) sein. [l] stimmhafter alveolarer Lateral, frz. langue ‚Zunge, Sprache‘, gal. it. lingua, kat. lent ‚langsam‘, okz. lenga, pt. língua, rum. limbă, sard. limba, sp. lengua [ʎ] stimmhafter palataler Lateral, gal. kat. filla ‚Tochter‘, it. figlia, okz. pt. filha, sp. cuello ‚Hals‘ [ɫ] stimmhafter velarer Lateral, kat. pt. mal ‚schlecht‘
Die einmal an die Alveolen anschlagende Zungenspitze erzeugt einen einfachen ([ɾ]) oder einen mehrfachen Vibranten ([r]), das „Zungenspitzen-r“. Im Falle des „einfachen Vibranten“ von einem Vibranten zu sprechen, ist keine ganz angemessene Formulierung, sie entspricht aber einer traditionellen Ausdrucksweise. Der an den weichen Gaumen anschlagende Zungenrücken erzeugt den mehrfachen uvularen Vibranten [R] und das am Zungenrücken anschlagende Zäpfchen erzeugt den mehrfachen uvularen Frikativ [ᴚ]. Dieser hier als [ᴚ] transkribierte uvulare Laut kommt in frz. roue [ᴚu] ‚Rad‘ vor. [R] ist die am weitesten verbreitete Artikulation von /r/ im Deutschen. [ɾ] einfacher stimmhafter alveolarer Vibrant, gal. it. pt. sp. caro ‚lieb, teuer‘, kat. okz. car, rum. mare ‚groß‘, sard. caru [r] mehrfacher stimmhafter alveolarer Vibrant, gal. it. kat. sp. carro ‚Wagen‘, okz. barra ‚versperren‘, sard. carru [R] stimmhafter uvularer Vibrant, frz. porte ‚Tür‘, europ. pt. carro ‚Wagen‘ [ᴚ] stimmhafter uvularer Frikativ, frz. porte ‚Tür‘
Die Beschreibungsmerkmale, die wir angeführt haben, geben nur einen Teil der Artikulationsbewegungen wieder. Die Auswahl ist stets bedingt durch die Phonem unterschiede, deren phonetische Grundlage man erfassen will. Daher werden im Allgemeinen diejenigen Beschreibungsmerkmale vernachlässigt, die in den jeweils dargestellten Sprachen keine Phonemunterschiede beinhalten. So kann [k] neben
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
der velaren Aussprache vor vorderen Vokalen palatal realisiert werden. Da aber bei diesem Laut der Unterschied zwischen einer palatalen und einer velaren Artikulation keinen Phonemunterschied impliziert, sieht man in der Regel von der Kennzeichnung dieses Unterschieds ab. Im Arabischen wäre er dagegen zu berücksichtigen. Eine Ausnahme unter den romanischen Sprachen ist das Rumänische, weil es ein palatales [kˈ] und ein velares [k] unterscheidet. Bis hierher haben wir die Laute als Lautsegmente beschrieben und von unserer phonologischen Wahrnehmung der Laute her scheint uns dieses Vorgehen selbstverständlich. Aber noch nicht einmal die Artikulation vollzieht sich segmental im Diskurs, denn allein schon die Artikulation der einzelnen Vokale und der Konsonanten findet in hohem Maße parallel statt. Vergleichen wir etwa die Artikulation der französischen Artikel le und la: Während ich bereits bei der Artikulation von [l] die Lippen in [lə] runde, öffne ich bei der Artikulation des [l] in [la] die Lippen ungerundet. Wie an diesem Beispiel gezeigt, greifen Artikulationen überhaupt ineinander – eine Erscheinung, die man als „Koartikulation“ bezeichnet – und bilden ein lautliches Kontinuum. Dieses ist, wie wir hervorgehoben haben, nur phonologisch segmentierbar, d. h. wir „verstehen“ Lautsegmente nur, wenn wir das entsprechende Phonemsystem kennen. Daher verstehen wir uns unbekannte Sprachen auch phonetisch nicht oder nur insoweit, als sie den uns vertrauten Sprachen ähnlich sind.
1.3.4 Prosodie Wir haben im Vorangehenden die Laute als Segmente betrachtet. Laute erscheinen in Kombination miteinander. In Kombinationen werden die Laute mit unterschiedlicher Dauer oder Länge bzw. Quantität, mit unterschiedlicher Tonhöhe, mit unterschiedlichem Stimmdruck oder unterschiedlicher Intensität in Silben und mit einer variablen Intonation ausgesprochen. Dauer, Tonhöhe, Druck und Intonation sind suprasegmentale Merkmale. Zusammen stellen sie die Prosodie einer Sprache dar. Silben können mit geringerem oder größerem Stimmdruck ausgesprochen werden oder mit unterschiedlicher Tonhöhe oder mit beidem und dienen dann dem Ausdruck des Akzents. Der variierende Druck des Atems auf die Stimme erzeugt einen – deshalb so genannten – Druck-, Intensitäts- oder dynamischen Akzent, die variierende Tonhöhe einen musikalischen oder Tonakzent. Der Druckakzent wird von der Tonhöhe und der Dauer begleitet, der musikalische Akzent von Intensität und Dauer. Eine betonte Silbe muss aber nicht unbedingt länger sein als eine unbetonte. Den Akzent markieren wir mit einem graphischen Akzent ([ˈ]) vor der betonten Silbe, die Dauer mit einem Doppelpunkt ([:]) nach einem Vokal.
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt
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Bibliographischer Kommentar
Im Band I, 1 des LRL geben Mangold 2001 eine Einführung in die artikulatorische Phonetik und Grasegger 2001 und 2001a eine Einführung in die akustische sowie die auditive Phonetik. Ausführlichere Einführungen in deutscher Sprache sind Neppert 41999 (akustische Phonetik), Reetz 32003, PompinoMarschall 32009 und Hall 32011. Zwar werden in den Einführungen in die Phonologie der Einzelsprachen (2.2.1) auch die Aussprachelehren und Phonetiktraktate berücksichtigt, doch seien wegen der Terminologie und für eine vertiefte Beschäftigung Werke zur allgemeinen Phonetik in einigen romanischen Sprachen aufgeführt, so z. B. Canepari 1990, Giannini/Pettorino 1992, Albano Leoni/Maturi 1995 (Italienisch). Eine gute Orientierung in der akustischen Phonetik erfordert die Kenntnis von technischen Neuerungen wie etwa der Einführung des Spektrographen und der neuen Technologien zur Sprachsynthese und Spracherkennung. Ein wichtiges Anwendungsgebiet der Phonetik ist die Sprecherziehung bzw. Logopädie. Die am Ende von 2.2.1 angeführten Schriften können ebenfalls zur phonetischen Orientierung verwendet werden und so auch die bibliographischen Angaben zu den Phonemen in den einzelnen romanischen Sprachen.
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt 1.4.1 Das Bezeichnete und das Sachwissen Als Einführung in dieses Thema greife ich auf das Kapitel zum Universale der Semantizität zurück (1.2.3). Dort wird festgestellt, dass unsere Erfahrung durch die Sprache gestaltet und dass die Wirklichkeit im Sprechen im Allgemeinen bezeichnet wird (1.2.3.1). Dieses Sprechen ist jedoch eng und untrennbar mit der Sachkenntnis verbunden (1.2.3.4). Ganz besonders eng ist die gegenseitige Abhängigkeit von Sach- und Sprachkenntnis im Fachwortschatz und in den wissenschaftlichen Terminologien (1.2.3.5). Das Bezeichnete oder die Bezeichnung wird in verschiedenen Sprachauffassungen ausdrücklich berücksichtigt. Dazu einige Beispiele: Bei Karl Bühler (21965/11934) ist es vor allem die „Darstellungsfunktion“; die weiteste Verbreitung hat sicher „Referenz“; bei John Lyons ist es die „deskriptive Bedeutung“, die der „deskriptiven Funktion“ der Sprache im Gegensatz zu ihrer „interpersonalen“ Funktion entspricht (1977: 591). Die beiden letztgenannten Funktionen haben wir im Rahmen der sprachlichen Universalien Semantizität (1.2.3) und Alterität (1.2.2) genannt. Im Unterschied zu anderen Auffassungen haben wir die Bezeichnungsfunktion der Sprache gegenüber anderen Ausgestaltungen der Semantizität ausdrücklich situiert. In der Linguistik kann man die Semantik des Sprechens im Allgemeinen grundsätzlich von zwei Perspektiven her betrachten: Man legt entweder die Perspektive der Einzelsprache zugrunde oder aber die außersprachliche Wirklichkeit, über die gesprochen wird. Im ersten Fall setzt das Bezeichnete, wie es das Wort im Deutschen beinhaltet, bereits ein Zeichen voraus; dieses Zeichen ist grundsätzlich einzelsprachlich gegeben. Damit verhält es sich in denjenigen Sprachen nicht anders, in denen der analoge Terminus ebenfalls eine Entlehnung oder Lehnübersetzung von lat. designare
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
ist. Es ist klar, dass man beide Perspektiven nicht zugleich einnehmen kann und dass man einen Perspektivenwechsel immer verdeutlichen muss. Geht man also statt von der Einzelsprache vom Diskurs aus, wird man eher der Gegenstände und Sachverhalte gewahr, über die man spricht oder schreibt. Aber auch diese zweite Perspektive setzt schon die Kenntnis einer Einzelsprache voraus. Aus Gründen der Methode ist es jedoch möglich, von ihr abzusehen. Wenn man die Sprecherperspektive einnimmt, wie wir es stets zu tun versuchen, haben wir davon auszugehen, dass ein Sprecher über einen Ausschnitt der außersprachlichen Wirklichkeit spricht. Diese kann als tatsächlich existierend vorausgesetzt werden oder aber eine mögliche Welt sein, die mit den Mitteln der Einzelsprache in der Fantasie geschaffen wird. Unabhängig davon, ob ein Sprecher sich das, was er versprachlicht, als existierend oder als möglich, fiktiv oder erlogen denkt, braucht er dazu eine Einzelsprache. Eine völlig sprachunabhängige außersprachliche Wirklichkeit ist gewiss außerhalb menschlicher Vorstellung. Das Bezeichnete ist also (ebenso wie die in 1.4.5 zu besprechenden universellen Kategorien) vom Vorwissen her zu sehen, das ein Sprecher ebenso von der Welt wie von der Sprache hat. Ein Linguist, der auf diese Weise vorgeht, fasst lediglich dasjenige sprachliche Wissen unter Begriffe, das er als Sprecher hat. Je mehr man von der Sache versteht, desto mehr kann man explizit machen: Aus dem Verständnis des Ganzen der Sprache wird das Verständnis des Einzelnen hergeleitet und, was wir vom Einzelnen verstehen, fügt sich wieder in das Ganze ein. Dies wird hermeneutischer Zirkel genannt und steht in der Tradition der Antike (Gadamer 72010: 270–281), wobei „hermeneutisch“ sich auf die Auslegung eines Sinns bezieht. Der hermeneutische Zirkel ist auch die Bedingung der Möglichkeit sprachwissenschaftlicher Erkenntnis. Wenn man in der Sprachwissenschaft auf diese Weise vorgeht, betreibt man sie als Grundlagenwissenschaft. Das unmittelbar Gegebene ist das Sprach- und Weltwissen der Sprecher. Dieses Wissen kann daher nicht einfach definiert, wohl aber explizit gemacht werden. Es ist ein Wissen, das für den Sprecher vorgängig da ist, das er aber nicht ohne Reflexivität (cf. 1.2.6) wahrzunehmen vermag. Von dieser Tatsache ausgehend ist es möglich, mehrere Perspektiven einzunehmen, darunter eine solche, die von der bezeichneten außersprachlichen Wirklichkeit zur Sprache übergeht. Dabei wird stets vorausgesetzt, dass der Betrachter, als Sprecher oder als Sprachwissenschaftler, bereits Sprache hat, sonst könnte er sich diese Frage überhaupt nicht stellen. Das Bezeichnete ist das allgemein-sprachliche Korrelat der einzelsprachlichen Bedeutung. Die bezeichnete Wirklichkeit ist in der Tätigkeit des jeweiligen Sprechens enthalten und dem Sprecher bewusst, die Einzelsprache dagegen wird beim Sprechen im Normalfall nicht als solche wahrgenommen. Eine Wahrnehmung setzt erst ein, wenn die Verständigung gestört ist. Wenn man daher die Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit von der Einzelsprache her in den Blick nimmt und außerdem noch behauptet, man stütze sich auf die Sprecherperspektive, hat man erst einmal die Sprecherintuition gegen sich. Dabei vergessen wir als Sprecher, dass
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der eigene Spracherwerb so weit in die ersten Lebensjahre zurückreicht, dass wir als Erwachsene keinen Zugang mehr zum Erwerb unserer Sprachkenntnisse haben. Das einzelsprachliche Wissen ist aber beim Sprechen immer mitgegeben und ist die Voraussetzung des Sprechens. Die beiden linguistischen Perspektiven erleben wir praktisch, wenn wir bei einer Störung der Verständigung nach der Bedeutung eines Worts fragen oder umgekehrt nach dem Wort für etwas suchen, das wir bezeichnen wollen. Für beide Perspektiven können wir Christoph Kolumbus auf seiner ersten Amerikafahrt als Zeugen anführen. Lange bemühte er sich auf der Insel Hispaniola, die der heutigen Dominikanischen Republik und Haiti entspricht, herauszufinden, wofür der Ausdruck cacique in der damaligen indianischen Wirklichkeit stand. Schließlich erkannte er, dass die dort lebenden Arawaken damit dasselbe meinten wie das, was die Spanier rey ‚König, Häuptling‘ nannten. Kolumbus wählte auch die umgekehrte Perspektive. Er suchte auf derselben Fahrt hartnäckig nach dem Wort für ‚Gold‘ in der Sprache der Arawaken. Er hielt ihnen Goldproben vor und erfuhr in der Tat Wörter für Gold: tuob, noçay, aber auch ein sehr zweifelhaftes chuq chuq, das man vielleicht mit dem Klingeln eines goldenen Glöckchens erklären kann. Die beiden Grundperspektiven, die die Sprecher im soeben erläuterten Fall immer schon eingenommen haben, belegen die Linguisten mit Termini. Die Methode, die nach dem signifié eines signifiant fragt oder auch nach der von einem signifiant bezeichneten Sache, wird „semasiologisch“ genannt. So „bedeutet“ das signifiant cacique das signifié oder die Person ‚Häuptling‘. Der umgekehrte Weg, der Weg von der bezeichneten Sache oder vom signifié zum signifiant, wird „onomasiologisch“ genannt. In diesem Sinne wird die Sache Gold in unserem Beispiel mit dem signifiant tuob „bezeichnet“. „Bedeuten“ und „bezeichnen“ werden in dieser Weise in der onomasiologischen und semasiologischen Forschung verwendet. Dies entspricht auch dem allgemeinen umgangssprachlichen Gebrauch. Semasiologie und Onomasiologie sind zwei Methoden der Erforschung der Sprache. Sie stellen also keine Sprachtheorien dar, denn dann würde man annehmen, dass die Sprache in dieser Weise existiert, sondern sie benennen die Tätigkeit eines Linguisten. Wenn ich keine weitere Unterscheidung vornehme, meine ich mit „Zeichen“ immer die Sprachzeichen (cf. 2.1.4). Es gibt aber auch andere Arten von Zeichen, die Indizes (Singular Index) und die Ikone, die der nordamerikanische Zeichentheoretiker bzw. Semiotiker Charles S. Peirce (er lebte von 1839 bis 1914) eingeführt hat (Lyons 1977: 99–109). Die Ausdrücke Index und Ikon sind übrigens Übersetzungen krudester Art für die entsprechenden englischen Termini bei Peirce, für die man im Deutschen sehr gut Anzeichen und Abbild sagen könnte, diese Übersetzungen haben sich aber nicht eingebürgert. Die dritte Art von Zeichen, die Peirce in Beziehung zu den anderen setzt und die wir soeben Sprachzeichen genannt haben, sind bei diesem Semiotiker Symbole. Diese drei Arten von Zeichen sind miteinander verbunden durch ihre Beziehung „zu dem, wofür sie stehen“, d. h. dem Bezeichneten. Ein Index steht in der
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unmittelbarsten Beziehung zum Bezeichneten: Rauch ist ein Index für Feuer, Lallen oder Torkeln kann ein Index für Betrunkenheit sein. Die Beziehung zwischen einem Index und dem damit Bezeichneten ist dadurch gegeben, dass sie in der bezeichneten Wirklichkeit selbst besteht, d. h. in der Rauchentwicklung beim Feuermachen und der reduzierten Sprech- oder Gehfähigkeit bei übermäßigem Alkoholkonsum. Wegen des Nebeneinanders (Feuer-Rauch) oder des Nacheinanders (AlkoholLallen oder Torkeln) zwischen Zeichen und Bezeichnetem nennt man diese Assoziation mit Jakobson (1956: 71–75) Kontiguität. Kontiguität ist zunächst das räumliche oder zeitliche Zusammentreffen von zwei Elementen auf der Ebene des Bezeichneten, die assoziiert werden; es gibt aber auch die Kontiguität von Begriffen. Demgegenüber weist ein Ikon eine Ähnlichkeit oder Jakobson zufolge (1956: 63–70), mit dem lateinischen Wort, eine Similarität bei der Assoziation mit dem Bezeichneten auf. Von einer Abbildungsbeziehung einmal ganz abgesehen, sind mit Ikonen solche Zeichen gemeint, die einige Eigenschaften des Bezeichneten in ganz allgemeiner Weise wiedergeben. Bilderschriften können dies leisten, Piktogramme wie manche Verkehrsschilder, zum Beispiel dasjenige, das „Steinschlag“ oder „Wildwechsel“ bezeichnet. Die Beziehung zwischen einem Symbol oder Sprachzeichen zum Bezeichneten ist hingegen durch Konvention oder durch Arbitrarität (Willkürlichkeit) geprägt (2.1.4). Die hier gemeinten Symbole sind immer Sprachzeichen.
1.4.2 Wortschatz In den Anfängen der Untersuchung des Wortschatzes haben die Tradition der antiken Rhetorik und die Assoziationspsychologie Pate gestanden. So werden die Bedeutungen der Wörter einer als Naturorganismus verstandenen Sprache bei Arsène Darmesteter in La vie des mots (1887) als ,Vorstellungen‘ (“idéesˮ) betrachtet, die, wie auch die Analogien, logisch und psychologisch verankert sind. Sie werden mithilfe der Redefiguren als Metapher, Metonymie und Synekdoche, d. h. als Spezialisierung und Generalisierung zwar in geschichtlicher Perpektive, aber am Beispiel der Sprache seiner Zeit untersucht. Die ,Ausstrahlung‘ (“rayonnementˮ) zeigt sich in der racine, der ‚Wurzel‘ einer Pflanze, die auf die racine eines Worts, eines Übels und in der Algebra auf die einer Potenz zugrundeliegende Zahl übertragen wird. Ähnliches sehen wir bei dent ‚Zahn‘, croissant ‚Halbmond‘, tête ‚Kopf‘, arbre ‚Baum‘ oder queue ‚Schwanz‘ (1887: 73–76). Verglichen mit späteren Beschreibungen ist eine hohe Übereinstimmung des Begriffsinstrumentariums festzustellen, eine Auswirkung der psychologischen Perspektive überhaupt, wobei es in vielen Einzelfragen zweitrangig und zeitgebunden ist, welche Psychologie zugrunde liegt. Das zeigt, dass die Erkenntnisse der jeweiligen Psychologie sich nicht auf die Sprache insgesamt anwenden lassen, sondern nur auf diejenigen Bereiche, die auf diese Weise erschlossen werden können. Bei Bréal (1897), der den Terminus Semantik geprägt hat, bleibt diese Kontinuität des Bezugs zur Psychologie und zu den Redefiguren erhalten; nur wird die Sprache nunmehr zu einem
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geschichtlichen Gegenstand und die Linguistik wird aus den Naturwissenschaften herausgelöst, insbesondere aus der Physiologie, die der Beschreibung der Laute und ihres Wandels diente, und aus der Biologie, die das Modell für ein Verständnis der Sprachen in Analogie zu den lebendigen Organismen geliefert hatte. Will man den gesamten Wortschatz einer Sprache gegliedert darstellen, dann kann man ein „Begriffssystem“ als Bezugsrahmen für die onomasiologische Beschreibung des Wortschatzes einer Sprache oder aber auch für den Sprachvergleich konstruieren, wie dies Rudolf Hallig und Walther von Wartburg (21963) in Anwendung auf das Französische und Deutsche geleistet haben. Dieses Werk ist heute wieder deshalb mit Gewinn zu lesen, weil es eine Datenbasis hat, die des Französischen Etymologischen Wörterbuchs (FEW), die in anderen Sprachen und Forschungsrichtungen nicht ihresgleichen hat und daher immer noch zur Auswertung herangezogen werden sollte. Diese Bemerkung bezieht sich auf einen Bruch in der Forschung, der in Europa durch die Rezeption der kognitiven Linguistik herbeigeführt worden ist. Die Wörter werden seit den 1970er und den 1980er Jahren in ihrer Bezeichnungsfunktion im Rahmen der kognitiven Linguistik und, spezifischer, im Rahmen der kognitiven Semantik untersucht, und der Bruch wird durch die deutschsprachige Rezeption mit einem Wandel in der Terminologie verschärft. Durch die Ersetzung von Begriff durch Konzept könnte man den Eindruck gewinnen, dass ein Wandel im Objekt stattgefunden hat. Das ist nicht der Fall. Der Zusammenhang mit der deutschen Fachsprache der Philosophie, die etwas „auf den Begriff bringen“ will, darf ohne Not nicht verloren gehen. In der Verwendung der Termini aus der Rhetorik wie etwa Metapher und Metonymie besteht sogar Kontinuität; sie wird nur nicht wahrgenommen, weil nunmehr in der kognitiven Semantik gewöhnlich nur kognitivistische Schriften zitiert werden. Der Inhalt von kognitiv und Kognition ist nicht leicht abzugrenzen. Das hat damit etwas zu tun, dass die Kognition sich auf die Wahrnehmung, die Erfahrung sowie die Wirklichkeitserfassung stützt und bis hin zu den Formen der Verarbeitung der Informationen im Erkennen und Denken reicht (Oeser/Seitelberger 21995: 69–106). An dieser Stelle kann ich deshalb nur wiederholen, was ich in 1.1.2 zur kognitiven Neurobiologie angemerkt habe, dass nämlich die Erkenntnisse der modernen Biologie und ihre interdiziplinären Forschungsbezüge keineswegs in Abrede gestellt werden, aber außerhalb der Reichweite dieses Werks stehen. Wenn in der Linguistik von kognitiven Modellen die Rede ist, beziehen sie sich auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Gedächtnis, Emotion, Kategorisierung, Abstraktion als kognitiven Fähigkeiten (Delbecque (éd.) 2002: 9), die im Rahmen der kognitiven Psychologie untersucht werden. Alle diese Bereiche sind für das Sprechen im Allgemeinen in der Weise relevant, dass sie zwar der außerhalb der Sprache stehenden Wirklichkeit angehören, sich aber unmittelbar auf das Sprechen auswirken. Auch die kognitive Semantik baut auf Eigenschaften auf, die „Universalien“ genannt werden, jedoch in einem anderen Sinne, als wir die Universalien eingeführt haben. Die hier gemeinten Universalien sind die „Gattungen“ oder „Arten“ von Dingen, die als in der Wirklichkeit existierend angenommen werden, oder auch
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„Klassen“. Diese Arten werden begrifflich („konzeptuell“) „kategorisiert“. Diese Kategorisierung würde eine Art nicht aufgrund einer bestimmten Anzahl von spezifischen und konstant gegebenen Eigenschaften abgrenzen, die allen Elementen einer Klasse gemeinsam wären, sondern sie würden sich aufgrund von optimalen Beispielen herausbilden, die „Prototypen“ genannt werden. Von diesen Prototypen aus könnte man dann in verschiedene Richtungen weiterassoziieren. Daraus ergäben sich größere oder geringere Ähnlichkeiten zwischen den Elementen einer Klasse und die Kategorien hätten deshalb vage Grenzen. In der kognitiven Semantik, die eine Semantik ist, die auf dem Bezeichneten gründet, unterscheidet man die Wörter folglich nach begrifflichen „Kategorien“. Die begrifflichen „Kategorien“ können „grammatische“ oder „lexikalische Kategorien“ sein. Unter den „lexikalischen Kategorien“ gibt es solche, die „bessere“ Vertreter einer „Kategorie“ sind und „Prototypen“ genannt werden. Demgegenüber gibt es „marginale“ oder „periphere Mitglieder“ einer „lexikalischen Klasse“, die einem Sprecher weniger spontan in den Sinn kommen. Wir werden versuchen, diese Richtung zu integrieren. Sie ist anwendbar auf die Untersuchung des Bezeichneten bzw. des Zusammenhangs zwischen Sachwissen und Sprachwissen, insbesondere aus der Perspektive des Hörers, da sie experimentell arbeitet und Experimente naturgemäß hörerorientiert sind (z. B. Rosch 1977). Wenn Zusammenhänge zwischen einzelnen Wörtern untersucht werden, geschieht dies im Rahmen der „Prototypentheorie“, die sich die Frage stellt, welches die zentralen, typischen Vertreter einer „Kategorie“ sind, etwa der Kategorie Vogel. Ihr typischer Anwendungsbereich sind somit volkstümliche Nomenklaturen und Terminologien (Kleiber 1990; Blank 2001: 35–54). In der europäischen strukturellen Semantik wurden die Nomenklaturen und Terminologien schon von Vornherein nicht strukturell untersucht, weil sie eben nicht einzelsprachlich, sondern universell aufgrund des Sachwissens strukturiert sind (Coseriu 1978c: 201–206). Allerdings wurde die strukturelle Semantik europäischer Prägung (Albrecht 32007: 147–156) in Nordamerika kaum zur Kenntnis genommen. Die kognitive Semantik richtet sich gegen die Semantik von Katz und Fodor (1964), sie wird in Europa aber in der Weise rezipiert, als richte sie sich gegen die europäische strukturelle Semantik, so dass diese Kritik von der Sache her nicht angemessen ist. Es ist aber auch problematisch, dass Europäer in Unkenntnis ihrer eigenen wissenschaftlichen Traditionen oder diese ignorierend die kognitive Semantik einfach übernehmen und dabei so weit gehen, die Rezeption der kognitiven Linguistik und Semantik als „kognitive Wende“ zu feiern. Wenn dann eingewendet wird, dass man das Bezeichnete schon seit Langem berücksichtige, wird konzediert, dass man eben schon früher „kognitiv“ gearbeitet habe. Man darf sich bei einer kognitiven Betrachtung fragen, ob sie den Gebrauch der Wörter beim Sprechen erklärt. Es dürfte evident sein, dass ein Sprecher genau weiß, was das von ihm in einer Sprechsituation und im Diskurskontext (3.4) verwendete Wort bezeichnet, und auch ein Hörer wird das von einem Wort Bezeichnete genau zu
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identifizieren versuchen. Dagegen taucht das Problem von prototypischen oder marginalen Mitgliedern einer lexikalischen Klasse dann auf, wenn ein Sprecher allgemein oder in einer Versuchsanordnung nach seinem durch ein Wort repräsentiertes Wissen gefragt wird oder nach dem, was er sich unter einem bestimmten Wort vorstellt. So aber verwendet er die Wörter nicht, denn die Bedeutung, die Sachkenntnis und der Begriff gehen dem konkret und situativ Bezeichneten für den Sprecher bei der Verwendung eines Worts voraus. Strenggenommen ist die kognitive Semantik nicht mit dem Verfahren kompatibel, das im Explizitieren unseres Vorwissens besteht (1.0), denn sie baut letzten Endes, d. h. was ihre Konstituierung und ihre wissenschaftliche Begründung angeht, auf einer experimentellen Basis auf. In diesen Experimenten wird grundsätzlich nicht die eigene Sprache untersucht – das wäre die Sprache der Forscher –, sondern diejenige von Probanden, und da es sich um Experimente handelt, ist der Sprachgebrauch nicht spontan, sondern er wird von außen gesteuert. Wenn also ein Proband gefragt wird: „Was ist für dich ein typischer Vogel?“, wird nach seinem Wissen über Vögel gefragt, auch über solche, die ihn nicht unbedingt interessieren müssen und über die er im Einzelfall viel oder wenig weiß. Kommen wir zu einem Vergleich von kognitiver und einzelsprachlicher Semantik. Wie wir oben gesehen haben, sind die semantischen Probleme der kognitiven Linguistik universell. Man könnte universell hier als etwas verstehen, das ein in allen Sprachen vorkommendes Phänomen oder Verfahren betrifft, was aber nicht der Fall ist. Ob die mit den Mitteln einer Einzelsprache bezeichneten Gegenstände oder Sachverhalte in allen Sprachen vorkommen, ist ein nachgeordnetes Problem. Es ist wesentlich zu wissen, dass in der kognitiven Linguistik, bedingt durch ihre Herkunft, die Fragestellungen grundsätzlich nicht auf eine Einzelsprache bezogen werden und dass die Einzelsprachlichkeit aus der Untersuchung ausgeschlossen ist. Daher wird nicht konsequent zwischen sprachlichem Wissen und Sachwissen unterschieden. Weil die Ansätze grundverschieden sind, kann man die Leistung der einzelsprachlichen Semantik (1.2.3.2, 2.3) verfehlen, wenn man sich nur mit der Bezeichnungsebene beschäftigt, und man kann die Leistung der kognitiven Semantik verkennen, wenn man sie ausschließlich von der einzelsprachlichen Semantik her betrachtet (2.3). Es ergeben sich aber Konfliktfälle, wenn die Ergebnisse der einen und der anderen Forschungsrichtung über Gebühr verallgemeinert werden. An einem Konfliktfall, der erwähnten Benennung des Vogels im Englischen, lässt sich zeigen, dass man bei der Untersuchung des Wortschatzes zunächst im Rahmen der Einzelsprachen bleiben sollte, auch wenn man das untersucht, was ein Wort bezeichnet. Unter engl. bird mag man sich je nach Umwelt und Sachkenntnis einen sparrow, eine owl oder einen penguin vorstellen, wobei, was die Repräsentativität angeht, diejenige von sparrow am größten, von owl mittelgroß und von penguin niedrig ist (Rosch 1977: 24). Hier liegt ein Fall von besseren und marginalen Vertretern eines Prototpys vor. Überträgt man die Untersuchung des Englischen auf das Spanische, so ergeben sich, wie angesprochen, einige Konfliktfälle. Das beginnt bereits
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mit der spanischen Entsprechung zu bird, wofür in einer Anwendung der englischen Forschungsergebnisse zur kognitiven Semantik auf das Spanische als Entsprechung ave f. angegeben wird (Valenzuela/Ibarretxe-Antuñano/Hilferty 2012: 56). Prototypische Exemplare sind für Sprecher des Spanischen canario ‚Kanarienvogel‘ und gorrión ‚Spatz‘. Da die Zuordnung dieser kleinen Vögel zu ‘ave’ für einen Lerner, der Spanisch nicht als Muttersprache hat, befremdlich ist und mehr noch für mich, der diese einfache Subsumierung von canario und gorrión unter ‘ave’ durch spanischsprachige Linguisten nicht erwartet hätte, wählen wir einen neutralen Blick auf das Problem und schauen in einsprachige Wörterbücher des Spanischen. Im Diccionario del español de México (DEM) finden wir für canario “pájaro cantor” und für gorrión “ave del orden de las paseriformes”. Zwei Vögel ähnlicher Größe werden im mexikanischen Spanisch demnach unterschiedlich zugeordnet, canario zu ‘pájaro’ und gorrión zu ‘ave’. Das in Spanien veröffentlichte Diccionario del español actual (DEA) definiert canario ebenfalls als “pájaro cantor”, aber auch gorrión als “pájaro pequeño y cosmopolita”. Da das Problem in der Benennung von bird bzw. Vogel im Spanischen bei pájaro besteht, sehen wir im DEM unter diesem Eintrag nach: ‘Ave pequeña y voladora de cualquier tipo’; und im DEA: ‘ave, esp. de pequeño tamaño’. Trotz dieses Befundes würde ich jemandem, der das Spanische nicht als Muttersprache hat, unbedingt davon abraten, einen kleinen Vogel ave zu nennen. Ave kann einen kleinen pájaro einschließen, bei bird wird dieser Unterschied nicht gemacht. Port. ave f. und pássaro sind in der Strukturierung dem Spanischen vergleichbar, das Katalanische kennt mit literarischem und dichterischem au f., allgemeinem ocell und kleinem moixó eine andere Komplexität als die beiden genannten Sprachen, während die übrigen hier betrachteten romanischen Sprachen nur ein Wort haben: frz. oiseau, it. uccello, rum. pasǎre f. Während in den romanischen Einzelsprachen Einigkeit besteht, von den beiden anderen englischen Wörtern owl und pinguin den Pinguin als einen marginalen Vertreter der Vögel anzusehen, tritt bei owl oder Eule ein anderes Problem in Erscheinung, d. h. die verschiedenen Arten von Eulen und ihre Benennung, wie man in einer Wörterbuchrecherche oder einer Umfrage unter romanischen Muttersprachlichern feststellen kann. Die verschiedenen Ausprägungen der Semantik bevorzugen Wortschatzbereiche, mit denen sie ihre Grundsätze am besten zeigen können. Im Bereich der kognitiven Semantik ist es die Untersuchung von Terminologien und, wie wir sie am Beispiel der Vögel kurz angesprochen haben, namentlich der volkstümlichen Terminologien wie der Tiere und Pflanzen, die sich seit den siebziger und achziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt hat (dazu einführend Blank 2001: 35–67). Diese Einordnung wird allerdings in der kognitiven Semantik selbst so nicht vorgenommen, denn die Unterscheidung von allgemeiner Struktierung des Wortschatzes und Terminologien bzw. Nomenklaturen ergibt sich erst aus der Perspektive der einzelsprachlichen Semantik. Die kognitive Semantik erweckt vielmehr den Eindruck, dass sie eine allgemeine Theorie der Bedeutung beinhaltet. Gleichwohl ergibt sich diese Zuordnung, wenn wir die in ihrem Rahmen behandelten Phänomene betrachten (cf. 2.2). Die kognitive
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Semantik beschäftigt sich vorzugsweise mit volkstümlichen Nomenklaturen, während sie die einzelsprachlich spezifischen Wortschatzstrukturen nicht untersucht, sich aber gleichwohl als allgemein leistungsfähige Semantik versteht. Eigentlich treffen die kognitive Semantik nordamerikanischer Provenienz und die europäische strukturelle Semantik nur marginal in ihrer Forschungspraxis zusammen. Die polemische Wendung eines Linguisten gegen diese oder jene Richtung der Linguistik besagt im Grunde nur, dass er sich in der Geschichte der Sprachwissenschaft neu positionieren will. In der strukturellen Semantik ist man in der Anerkennung dessen, was man untersucht, wenn man einzelsprachliche Strukturen zu untersuchen sich vornimmt, sehr viel weiter gekommen. Der Gegenstand der strukturellen Semantik ist explizit und in sehr viel mehr Richtungen abgegrenzt worden als nur gegenüber dem Gegenstand der kognitiven Semantik ante litteram (Coseriu 1978c). Leiten wir aus diesem Befund eine Folgerung ab. Die kognitive Semantik verspricht dann gute Ergebnisse, wenn sie von der Sprecherperspektive innerhalb einer Einzelsprache ausgeht. Genau dies tut Delbecque (éd.) 2002 in einer Einführung in die französische Sprachwissenschaft, obwohl der Sprachenname nicht im Titel erscheint. Der Sprecher als solcher stellt beim Sprechen keine Vergleiche an, wie sie zum Erkennen von einzelsprachlichen Unterschieden unabdingbar sind (1.2.3.2). Wenn man die Linguistik auf das beschränkt, was der Beobachtung eines einzelsprachlichen Sprechers unmittelbar zugänglich ist, dann braucht man die Dichotomien, von denen weiter unten die Rede sein wird (2.1), nicht, denn der Unterschied zwischen Bedeutung und Bezeichnung wird nur durch den Vergleich deutlich wie auch derjenige zwischen altem und neuem Sprachgebrauch, d. h. derjenige zwischen Diachronie und Synchronie, durch den Vergleich verschiedener Sprachstufen. Desgleichen werden sprachliche Merkmale wie ‘groß’ und ‘klein’ bei den Vögeln im Spanischen und Portugiesischen erst deutlich, wenn man diese Sprachen mit anderen vergleicht. Vorsicht sollte man ebenso innerhalb der „Kategorie“ Vogel walten lassen, denn welche Vögel prototypisch sind und welche marginal, ist von der Umwelt und der Kultur abhängig, die auch innerhalb einer Sprachgemeinschaft sehr verschieden sein kann. So wird der Kanarienvogel nördlich der Alpen sicher kein so guter Vertreter sein wie der Spatz, obwohl auch der selten geworden ist und sicher häufiger im Wissen als in der Wirklichkeit vorkommt. Da jeder aber etwas Richtiges an der Sache entdeckt, die er untersucht, lassen sich die Ergebnisse vergleichen. Diese konvergieren nun einerseits mit den Erkenntnissen, die wir über die Sprecherperspektive gewinnen können, andererseits spielt dann der kognitionswissenschaftliche Hintergrund als solcher faktisch keine große Rolle mehr. So sind letztlich die begrifflichen Kategorien, um die es geht, auch wieder sehr einfach, hier die Kategorie der Bezeichnung, für die man auch analoge Termini verwendet findet. (Der bibliographische Kommentar findet sich am Ende von 1.4.4.) Zur Bezeichnungsebene gehört das Wissen, das die Sprecher von der Welt haben. Um dieses Thema nicht zweimal darzustellen, wird es in 3.4 bei den Umfeldern neben der Situation und dem Diskurskontext behandelt.
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1.4.2.1 Metapher Wichtige, über Bezeichnungsrelationen zusammengehörende Bereiche sind die Metapher und die Metonymie, schöpferische Verfahren des Sprechens im Allgemeinen, die, wenn sie Traditionen werden, in das einzelsprachliche Wissen eingehen. Auf diesen Traditionen baut dann das metaphorische und metonymische Weiterschaffen auf. Daher ist auch hier das auf diese Weise zustandegekommene einzelsprachliche Wissen von den Redefiguren zu unterscheiden, die ihrerseits konventionell sein können, und von der weiteren Kreativität, zu deren Voraussetzungen das bereits einzelsprachlich Geschaffene gehört. In diesem Sinne soll Jakobsons Similarität und Kontiguität (1956) als Grundmuster herangezogen werden, an das sich die Redefiguren der Stilistik anschließen, und darüber hinaus die diskursiven Verwendungen (man vergleiche die etwas andere am Beispiel der Metonymie gegebene Gewichtung in Bonhomme 2006). Diese Bemerkungen mögen der Orientierung für das Folgende dienen, wobei nicht streng nach der soeben gegebenen Dreiteilung vorgegangen wird. Die bei den Indizes und den Ikonen festgestellten Beziehungen bestehen ebenfalls in der Sprache. Eine Beziehung, die Kontiguität im Falle der Metonymie, hatten wir besprochen, als wir das Universale der Kreativität mit einem Beispiel zur Verallgemeinerung einer Neuerung erläuterten (1.2.1.4). Sie ist die Grundlage einer Assoziation, bei der die Phänomene nach der Gleichartigkeit der Gestalt gruppiert werden. Auch die Ähnlichkeit oder Similarität führt zu einem bestimmten Typ von Neuerungen beim sprachlichen Zeichen, zur Metapher. Das griechische Wort metaphorá bedeutet ‚Übertragung‘. Die Grundlage der Übertragung ist die Ähnlichkeit von Gegenständen und Sachverhalten, die an ihnen implizit oder explizit wahrgenommen, verglichen und dann geordnet werden. Die Metapher oder Übertragung setzt eine Richtung der Übertragung voraus. Seit Aristoteles die Metapher in seiner Poetik (2008: 66–77) und Rhetorik (1999: 154–159) eingeführt hat, ist sie in der literarischen Rhetorik gegenwärtig geblieben. Die Ausgestaltung, die die Redefiguren und insbesondere die Metapherntheorie bei César Chesnau Dumarsais (1988) im zuerst 1730 erschienenen Werk Des tropes genommen haben, wird 1887 von Arsène Darmesteter in La vie des mots für die historische Bedeutungslehre ausgewertet und in die Sprachwissenschaft eingeführt (1.4.2). Metapher und Metonymie sind Leistungen des Sprechens und daher ist ihr eigentlicher Ort nicht die Einzelsprache; diese aber bewahrt die Schöpfungen der Sprecher auf, wenn sie in das traditionelle Wissen eingegangen sind. Sie können dann nicht zugleich spontane Schöpfungen sein, auch wenn sie transparent sind. Metaphern stellen Analogien zwischen den Dingen her und sind damit eine Erkenntnis sui generis, die aus Bildern gewonnen wird. Die Metaphernschöpfung ist zwar universell, wie die Beispiele zeigen werden, sie ist aber auch kulturabhängig; man kann also nicht von Vornherein wissen, in welchen Schöpfungen die Sprachgemeinschaften ihre kollektiven Erfahrungen niederlegen. Dass die Metapher in der kognitiven Linguistik behandelt wird (z. B. in den einflussreichen Werken Lakoff/Johnson 1980 und Lakoff 1987), ist konsequent, denn sie
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ist als eine Auffassung, wie man sich die Vorstellungen des Bezeichneten denkt, universalsemantisch; sie wirkt sich aber gleichfalls textsemantisch aus. Nur im Diskurs sind entstehende Metaphern zu dokumentieren. Nehmen wir wieder die Blüte, die traditionell unter anderem auf den Höhepunkt einer Entwicklung übertragen werden kann wie in die Blüte der Jahre, frz. la fleur de l’âge, it. il fior della vita, sp. la flor de la vida/de la edad, auf die Entwicklung eines Lebensweges. Ob dann die Metaphern referentiell oder begrifflich motiviert sind, ist keine theoretische, sondern eine empirische Frage, da beide Motivationen festzustellen sind. Wie in diesen Bildbereichen findet sich ein Quell-, Ausgangsbereich oder Bildspender, der Lebensweg, der auf einen Zielbereich oder Bildträger, die Blüte projiziert wird, wie er analog durch den Ablauf der vier Jahreszeiten ausgedrückt wird in frz. au printemps de la vie ‚im Frühling des Lebens‘ für ‚in der Jugend‘ und à l’automne de la vie für ‚im Herbst des Lebens‘ für ‚gegen Ende des Lebens‘. Der lateinische Ehrenname pater patriae ‚Vater des Vaterlands‘ findet in endlosen Variationen der Übertragung der Verwandtschaftsverhältnisse auf andere Zielbereiche seine moderne Fortsetzung, wenn Mihail Sadoveanu einen Herrscher des 16. Jahrhunderts, Ştefan-Vodǎ, “pǎrintele Moldovei” (1977: 5), ‚Vater der Moldau‘ nennt. Die Zähne eines Werkzeugs wie der Säge werden im pt. serra (und in anderen romanischen Sprachen) auf eine Gebirgskette projiziert. Es können ferner mehrere Elemente eines Ausgangsbereichs auf einen Zielbereich projiziert werden wie in kat. per Nadal cada ovella a son corral ‚an Weihnachten jedes Schaf in seinen Pferch‘, ein Sprichwort, das die Angehörigen einer Familie zur Weihnachtszeit in ihrem Zuhause mit den Schafen abends in einem Pferch vergleicht. Oder ein Gefäß kann mit einem menschlichen Körper verglichen werden, wie es übereinzelsprachlich geschieht, wenn von seinem Hals, seiner Schulter, seinem Bauch usw. die Rede ist wie in pt. ventre de um vaso und ebenso ein Gebirge, das einen Fuß, pt. pé haben kann oder einen Rücken wie in pt. lombo und lomba. Und schließlich kann ein ganzer Text durch die Isotopie(n) (3.8.6) seiner Metaphern geprägt sein, wofür im Teil über den Diskurs der Vergleich des Wachsens der Städte mit dem Wachsen eines Schneeballs stehen wird (3.10, 3.10.5). Dabei kann man nicht immer davon ausgehen, dass die Metapher einen „eigentlichen“ Ausdruck ersetzt, sondern sie ist selbst die eigentliche Gestaltung wie in sp. ya salí de la enfermedad ‚ich habe die Krankheit schon überwunden‘ oder en los ojos salío a su tía ‚mit seinen/ihren Augen schlug er/sie seiner/ihrer Tante nach‘, Ausdrücke, in denen das Bewegungsverb salir ‚hinausgehen, weggehen‘ auf eine Krankheit oder eine Erbanlage übertragen wird. So auch wenn für einen Katalanen Barcelona ‚unten‘ ist und die anderen Orte Kataloniens ‚oben‘ sind, so dass er sagen kann: pujo cada setmana a Vic ‚ich fahre jede Woche nach Vic hoch/rauf‘, während für die umgekehrte Richtung baixar verwendet wird. Etwas Ähnliches geschieht, wenn man it. Come siamo caduti in basso! ‚Wie tief sind wir gesunken!‘ sagt, eine der zahlreichen metaphorischen Verwendungen von cadere, wobei in diesem Fall ‚oben‘ die Moral und ‚unten‘ das Laster ist. Sprachliches Wissen und Weltwissen gehen der Metaphernschöpfung und -verwendung ungetrennt voraus. Sie werden durch ein vergleichendes Denken und Spre-
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chen begrifflich miteinander verbunden und können nur analytisch voneinander getrennt werden. 1.4.2.2 Metonymie Die Metonymie beruht assoziationspsychologisch sowohl auf sprachlicher Kontiguität (auf syntagmatischer Ebene, 2.1.7) als auch auf außersprachlicher Kontiguität, die räumlich, zeitlich oder begrifflich gegeben sein kann. Einige Beispiele wurden in 1.2.1.4 angeführt, um den Sprachwandel zu klären. So kann eine Person mit einem Fahrzeug, einem Gericht oder ihrer Kleidung gleichgesetzt werden. Der Metonymie wird im Rahmen der kognitiven Semantik im Gegensatz zur Metapher mit gutem Grund eine größere Bedeutung beigemessen. So kann ein Wissenschaftler durch seine Wissenschaft oder ein Angehöriger eines Berufs durch sein Fach vertreten werden, wenn mir jemand schreibt: “J’ai attrapé une bronchite, une trachéite et une sinusite en même temps et cela ne veut pas passer bien que la médecine, française et allemande, se soit penchée sur mon chevet!” – ,Ich habe mir gleichzeitig eine Bronchitis, eine Luftröhrenentzündung und eine Nebenhöhlenentzündung zugezogen, und das will nicht aufhören, obwohl sich die deutsche wie die französische Ärztekunst über mein Kopfkissen gebeugt hat!‘ Die deutsche Übersetzung mag so stehenbleiben, um mit den einzelsprachlichen Unterschieden zu zeigen, dass nicht jede Metonymie in jeder Sprache gleich akzeptabel ist, selbst wenn in analogen Fällen die Politik für die Politiker oder der Islam für die Muslime stehen kann. Im zitierten Beispiel findet sich mit “la médecine” eine komplexe Metonymie, die mindestens einen französischen und einen deutschen Vertreter der Ärzteschaft impliziert, die man nicht mit Medizin wiedergeben kann, und eine zweite Metonymie enthält, “mon chevet” für die Person, über die sich die beiden Ärzte gebeugt haben, wofür im Deutschen Kopfende sicher nicht akzeptabel wäre. Es kann wie bei der Metapher auch hier eine ganze Szene in analoger Weise ausgestaltet werden. Bei der Klassifikation der Typen von Metonymien geht man in der Rhetorik nach eher allgemeinen Typen vor wie Teil – Ganzes, Art – Gattung, Singular – Plural, Ursache – Wirkung, Fertigfabrikat – Rohstoff, Gefäß – Inhalt, Eigenschaft – Eigenschaftsträger usw., wobei eine Bezeichnungsübertragung zwischen im Zusammenhang gesehenen Gegenständen, Eigenschaften und Sachverhalten stattfindet. In der kognitiven Semantik zieht man es vor, Bezeichnungsbeziehungen zu untersuchen, die einen konkreten Zusammenhang betreffen und erst auf einer höheren Abstraktionsebene zusammengefasst werden wie die Regierung eines Landes und der Ort, an dem sie sich befindet: (Palais de) l’Élysée (Amtssitz des Staatspräsidenten)/Matignon (Amtssitz des Premierministers) – Paris, (Palazzo del) Quirinale (Sitz des Präsidenten der Republik)/Palazzo Chigi (Sitz des Ministerpräsidenten) – Roma, Palacio de la Zarzuela (Residenz des Königs und der Königin)/Moncloa (Amtssitz des Premierministers) – Madrid. Die Übertragung des Rohstoffs liegt vor in der einzelsprachlichen Verwendung von ‚Glas‘ für den Behälter in frz. verre und rum. sticlǎ ‚Flasche, Karaffe‘.
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Was in frz. beauté ‚Schönheit‘ als Eigenschaft ihrer Trägerin zugeschrieben wird, und so in den anderen hier betrachteten Sprachen, kommt auch in anderen Fällen als bei Personenbenennungen vor wie etwa in vulgarité ‚vulgärer Ausdruck‘, was, meist im Plural, ebenfalls Entsprechungen in den anderen Sprachen hat, oder frz. adminis tration ‚Verwaltung‘, wenn man darunter die verwaltend Tätigen versteht; in diesem Fall handelt es um die an einer Handlung Beteiligten. Den Krieg, rum. rǎzboi, kann man als einen komplexen Sachverhalt begreifen, wie es Sadoveanu in “moldovenii […] puneau şi ei mîna pe sabie şi se amestecau în rǎzboaiele timpului” (1977: 5) – „die Moldauer […] griffen zum Säbel und mischten sich in die jeweiligen Kriege ein“ (1971: 5), wobei die Kriege des 16. Jahrhunderts gemeint sind. Ein „Gegenstand“ oder „Stoff“, der Wein, wird nach seiner Herkunftsregion benannt in frz. bourgogne, it. chianti, kat. penedès, pt. porto, sp. rioja und rum. murfatlar. Karl Marx hat dafür gesorgt, dass das Kapital allenthalben auf die Kapitalisten übertragen wurde. Wenn man von jemandem sagt, dass er oder sie jemandes Tod, Rettung oder Untergang sei, so haben wir es mit einem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung zu tun, das ebenfalls in den romanischen Sprachen mit den Entsprechungen zu den deutschen Wörtern benannt wird. Nicht zuletzt erscheinen Metonymien diskursiv, etwa in der Anrede wie schon in nicht wenigen Inschriften auf antiken Trierer Trinkbechern, z. B. lat. amo te vita (Künzl 1997: 97) ‚ich liebe dich, du mein Leben‘, ein auch romanischer Kosename, der nicht immer lexikographisch kodifiziert wird, oder im negativen Bereich der Beleidigungen mit frz. “Sale carcasse!” – ‚Gemeines Stück!‘ oder “Vieille peau!” – ‚Altes Rabastel!‘, worauf Bonhomme (2006: 171) hinweist. Diese Ausdrücke sind wie auch die Übersetzungen in gewissen Grenzen austauschbar, da es nur auf die Beleidigung ankommt. In diesem Abschnitt habe ich die Themen aufgegriffen, die die kognitiven Linguisten beschäftigt haben wie Kategorisierung, Metapher oder Metonymie. Eine Ausweitung auf die Bezeichnungsebene insgesamt, wie ich sie angesprochen habe, ist aber unterblieben, denn sie konnte offenbar nicht in den Blick kommen, weil sie nicht mit der einzelsprachlichen Bedeutung kontrastiert wurde und, was vielleicht mindestens ebenso wichtig ist, mit der Diskursbedeutung. Dadurch kommt es zu einer gewissen thematischen Vereinzelung. Über diese wird jedoch hinausgegangen mit den Begriffen frame, script, Szenario oder Schema, ein Bereich, den ich im Folgenden als Sachverhaltsdarstellung behandle. Von den Sachverhalten her gesehen kann man einen frame als unmittelbar zusammengehörige Sachverhalte betrachten.
1.4.3 Sachverhaltsdarstellung Was Bühler die Darstellungsfunktion der Sprache nannte, wird beim Übergehen vom Wort und von der Wortgruppe zum Satz und beim Ausgreifen über den Satzrahmen hinaus bis zum Diskurs bzw. Text zunehmend komplexer. Nimmt man bei der Sachverhaltsdarstellung Bezug auf die Universalien, so geht es hierbei um die Semantizität des Sprechens im Allgemeinen und des Diskurses. Sachverhalte werden stets aus der
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Perspektive eines Sprechers oder Schreibers präsentiert, der die dargebotenen Sachverhaltsinformationen gewichtet. Bei einer Reihe von zusammenhängend gedachten Sachverhalten wird immer an einer bestimmten Stelle mit der Darstellung der Sachverhalte angefangen. Der dann in der Abfolge der Rede jeweils geäußerte Sachverhalt ist immer ein bereits bekannter Sachverhalt bei der Äußerung des nächsten Sachverhalts und so fort. In der logischen Tradition der Beschreibung der Darstellungsfunktion wird das sprachlich Darzustellende in Gegenstände und Sachverhalte eingeteilt. Die Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit werden sprachlich repräsentiert und in universeller Hinsicht „Sachverhaltsdarstellungen“ genannt. Unter den Sachverhalten sind die „wahren Sachverhalte“ besonders komplex, sie werden „Tatsachen“ genannt. Unter den Auffassungen zur Sachverhaltsdarstellung wähle ich diejenige von John Lyons aus, weil er sich um eine überzeugende Synthese bemüht. Ich werde zuerst seine Auffassung einschließlich meiner Erweiterungen dazu darstellen und ausgehend von einem Schema der Sachverhaltsdarstellungen deren Grundtypen exemplifizieren. Lyons (1977: 483) verwendet für Sachverhalt engl. situation, nicht state of affairs. Ansonsten entspricht seine Terminologie ziemlich genau dem deutschen Sprachgebrauch. In einer weiteren Differenzierung unterscheidet er zwischen statischen Situationen auf der einen und dynamischen Situationen auf der anderen Seite. Eine statische Situation wird eher als existierend und homogen, fortbestehend und sich nicht verändernd denn als geschehend aufgefasst. Eine dynamische Situation ist etwas, das geschieht. Wenn sie andauert, ist sie ein Prozess oder Vorgang; ist sie momentan, handelt es sich um ein Ereignis. Weitere Unterteilungen hängen davon ab, ob ein Agens beteiligt ist oder nicht. So ist ein Vorgang, an dem ein Agens beteiligt ist, eine Tätigkeit. Wenn er an einem Ereignis beteiligt ist, handelt es sich um einen Akt. Wenn zwei Handelnde an einem Sachverhalt beteiligt sind, ist er eine Interaktion. Diese Terminologie entspricht ziemlich genau dem deutschen Sprachgebrauch. Die englischen und die deutschen Termini stimmen deshalb so gut überein, weil sie auf dieselbe lateinische Tradition zurückgehen. Es empfiehlt sich jedoch, einige Umordnungen vorzunehmen. Situation ist im Deutschen ungeeignet, weil damit auch die Situation gemeint ist, in der man sich befindet, wenn man spricht. Es ist terminologisch zweideutig, wenn derselbe Terminus einmal für die Situation steht, in der ein Sprecher sich über etwas äußert, was sich außerhalb der Redesituation befindet, und ein andermal für die „Situation“, die in einem Satz dargestellt wird. Wenn wir in beiden Fällen denselben Terminus verwenden wollen, können wir die hier gemeinte Situation mit „dargestellte Situation“ präzisieren und sie von der „Situation als Umfeld“ des Diskurses unterscheiden (3.4). Im Deutschen ist es üblich, für den in einem Satz dargestellten außersprachlichen Inhalt Sachverhalt zu verwenden. Er soll uns daher als Oberbegriff für die anderen genannten Begriffe dienen. Diese können wir nach dem Grad der Agensbeteiligung und dem Merkmal ±momentan weiter untergliedern.
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Abb. 1.5: Sachverhalt
Es ist wichtig, gleich an dieser Stelle festzustellen, dass nicht die Verben oder die anderen Ausdrücke gemeint sind, wenn es um die Darstellung eines Sachverhalts geht, sondern die ganze Äußerung. Die damit verbundenen einzelsprachlichen Unterschiede ignorieren wir in diesem Zusammenhang, da sie hier nicht Gegenstand der Betrachtung sind. Die Zustände sind per definitionem nicht momentan, denn die Beteiligung eines Agens wird nicht in Betracht gezogen. Für Sachverhalte, die geschehen oder stattfinden, kann man je nach ±momentan die Termini Vorgang und Ereignis verwenden, für –momentan also Vorgang, für +momentan Ereignis. Vorgang und Ereignis zusammen werden wir um der terminologischen Eindeutigkeit willen Geschehnis nennen. Ein Geschehnis ist ein Sachverhalt, der nicht in Abhängigkeit von einem Agens steht. Die Orthographie der Quelle wird im Folgenden beibehalten. Zustand
Frz. “Trajan se trouvait à la tête des troupes en Germanie Inférieure” (Yourcenar 1977: 60). Sp. “Todavía estaba sin terminar el interior de la iglesia y las fachadas sin revestir” (Martínez Estrada 1975: 11). Kat. “Els carrers eren plens de flors amb els colors de Baviera” (Janer i Manila 1987: 97). Pt. “Quase tão grande como Deus é a basílica de S. Pedro de Roma que el-rei está a levantar” (Saramago 1984: 12). It. “Lui solo, a quella tavolata, apparteneva a una generazione ancora giovane” (Morante 1974: 560). Rum. “La marginea satului te întîmpină din stînga o cruce strîmbă pe care e răstignit un Hristos cu faţa spălăcită de ploi şi cu o cununiţă de flori veştede agăţată de picioare” (Rebreanu 1977: 9).
Als Beispiele habe ich unter anderem Sätze mit Personen als Subjekt gewählt (“Trajan”, “Lui solo”), um zu zeigen, dass auch sie Bestandteile eines Zustands sein können.
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Vorgang
Frz. “Le règne de Domitien s’achevait” (Yourcenar 1977: 47). Sp. “El envío de gente y de cosas ocupó casi totalmente las líneas férreas en todo ese lapso, y aún seguían llegando vagones y vagones con materiales” (Martínez Estrada 1975: 13). Kat. “El mar persistia, immutables les ones sobre la ribera” (Janer i Manila 1987: 155). Pt. “Comendo pouco purificam-se os humores, sofrendo alguma coisa escovam-se as costuras da alma” (Saramago 1984: 28). It. “Dal prossimo cimitero, veniva un odore molle, zuccheroso e stantio” (Morante 1974: 170). Rum. “Un fuior de fum albăstrui se opinteşte să se înalţe dintre crengile pomilor, se bălăbăneşte ca o matahală ameţită şi se prăvăle peste grădinile prăfuite, învăluindu-le într-o ceaţă cenuşie” (Rebreanu 1977: 9).
Ereignis
Frz. “Six interminables journées se passèrent dans la cuve bouillante du tribunal, protégée contre la chaleur du dehors par de longs rideaux de lattes qui claquaient au vent” (Yourcenar 1977: 110). Sp. “A los tres días de lluvia diluviana [el río Largo] salió del cauce y se volcó en la hondonada, donde alzábase la población” (Martínez Estrada 1975: 12). Kat. “El vent s’ha acalmat” (Janer i Manila 1987: 145). Pt. “Parou a procissão o tempo bastante para se concluir o acto” (Saramago 1984: 30). It. “Il bel clima primaverile, assai precoce quell’anno, per tre giorni fu guastato dal scirocco, che portò ammassi di nubi e acquate polverose, in un’aria sporca e calda che sapeva di deserto” (Morante 1974: 496). Rum. “Ion simţi deodată ca şi cînd-i-ar cădea o pînză de pe ochi” (Rebreanu 1977: 33).
Anders dagegen die Handlung, die die intentionale Beteiligung eines Agens beinhaltet. Handlung soll uns wiederum (damit wird die Darstellung von Lyons nur präzisiert) als Oberbegriff für Tätigkeit und Akt dienen, die wiederum nach dem Merkmal ±momentan voneinander zu unterscheiden sind. Tätigkeit
Frz. “Nous marchions le soir au bord de la mer” (Yourcenar 1977: 46). Sp. “(Afuera quedaron los perros …) Iban de acá para allá, prorrumpían casi al mismo tiempo en lúgubres quejidos, arañaban con sus patas las paredes y las puertas o se peleaban sin necesidad” (Martínez Estrada 1975: 16). Kat. “Escrivia poemes i imaginava que era una heroïna, incompresa i bella” (Janer i Manila 1987: 96). Pt. “Já o irmão responsável se estava conformando com o castigo que deixaria de ser-lhe aplicado por uma falta que não saberia explicar” (Saramago 1984: 22). It. “La maggior parte dei presenti si guardavano in faccia inebititi senza dire nulla” (Morante 1974:173). Rum. “A făcut oastea doisprezece ani, i-a fost dragă foc şi, cînd e beat, ş-acuma numai în comenzi nemţeşti se ceartă cu nevastă-sa” (Rebreanu 1977: 14).
Akt
Frz.
“Ce soir-là, de retour dans ma maison de Tibur, c’est d’un cœur las, mais tranquille, que je pris des mains de Diotime le vin et l’encens du sacrifice journalier à mon Génie” (Yourcenar 1977: 271).
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt
89
Sp.
“Las familias principales se instalaron en la sacristía, junto al altar mayor o en el coro; las más humildes en las naves laterales” (Martínez Estrada 1975: 13). Kat. “Aquell dia arribàrem a una platja perduda” (Janer i Manila 1987: 152). Pt. “Mas vem agora entrando D. Nuno da Cunha, que é o bisbo inquisidor, e traz consigo un franciscano velho” (Saramago 1984: 13). It. “D’un tratto Bella in uno scatto levò in alto il capo” (Morante 1974: 537). Rum. “Smuncind la lătunoi, Ilie îşi astîmpără mînia şi apoi împreuna cu alţi flăcăi luară pe braţe pe George şi-l duseră acasă, suduind care de care mai năpraznic” (Rebreanu 1977: 37).
Die Sachverhalte, die wir bis hierher unterschieden haben, sind in der außersprach lichen Wirklichkeit festzustellen. Es gibt darüber hinaus Sachverhalte, die rein sprachlich existieren. Dies sind Sprechhandlungen, sie sind als Äußerungen eines sprechenden Agens zu verstehen. Schon Koch (1981: 140–152, 207–259) berücksichtigt sie, bei ihm sind sie von der Einzelsprache her gedacht. Aber auch seine Klassifikation ist letztlich universell bzw. übereinzelsprachlich und deckt sich daher nicht mit den einzelsprachlichen Unterschieden. Es geht eben um eine Klassifikation der Sachverhaltsdarstellungen, nicht um die der Verben, auch wenn sie mit ihnen konvergieren, wie wir in 2.3.1.1 sehen werden. Und selbst wenn ich Diskursbeispiele gebe, geht es hier nur um eine Dimension, nur um die Sachverhaltsdarstellung, denn nur im Diskurs, beim Sprechen in einer unmittelbaren Situation, fallen die Sprechhandlungen mit den entsprechenden Handlungen zusammen. Nach der Art der Beteiligung der Zeit lassen sich wie bei der Handlung die Sprechtätigkeit und der Sprechakt unterscheiden. Mit Sprechakt ist ein Gebrauch im Diskurs gemeint, in dem das Sprechen mit dem Handeln zusammenfällt und auf den in den Beispielen meist nur verwiesen wird. Sprechtätigkeit
Frz. “Le mal principal traîne avec soi tout un cortège d’afflictions secondaires: mon ouïe a perdu son acuité d’autrefois; hier encore, j’ai été forcé de prier Phlégon de répéter toute une phrase: j’en ai eu plus de honte que d’un crime” (Yourcenar 1977: 299). Sp. “La gente hablaba en voz baja; palabras y sollozos se ahogaban con pañuelos y manos” (Martínez Estrada 1975: 26). Kat. “Vós ens explicàveu –a vegades us agradava retreure aquells records– que les havíeu conegut ben prest, les revoltes, com un signe que havia marcat els primers anys de la vostra vida” (Janer i Manila 1987: 85). Pt. “As vendedeiras gritavam desbocadamente aos compradores, provocavam-nos” (Saramago 1984: 41). “E lei [Ida] seguitava a mormorare EFRATI, EFRATI, affidandosi a questo filo incerto per It. non perdersi del tutto” (Morante 1974: 338). Rum. “Se zicea că în viaţa lui n-a tras o brazdă cumsecade, adîncă şi cît trebuie de lată, că nici nu ştia ţine bine coarnele plugului” (Rebreanu 1977: 44).
Sprechakt
Frz. “Je vous accepte dans mon train” (Äußerung einer TGV-Schaffnerin zu einem Bahnkunden, der keinen Sitzplatz in ihrem Zug reserviert hatte). Sp. “Tía Julia me prometió un regalo –interrumpió Nelly y puso una carita de sílfide” (Martínez Estrada 1975: 33).
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Kat. “[Na Caterina] Féu que la nau tornàs a atracar i em pregà que us cercàs, amb el missatge de preguntar-vos si encara l’estimàveu” (Janer i Manila 1987: 81). Pt. “A si próprio prometeu um festim de viandas quando lhe desse o dinheiro para isso” (Saramago 1984: 42). It. “Senza sapere quel che diceva, né perché, Ida si trovò a mormorare da sola, col mento che le tremava come ai bambinelli sul punto di piangere: «Sono tutti morti»” (Morante 1974: 340). Rum. “Mi-ai pus de mîncare, mamă? întrebă iar flăcăul, cîntarînd traista” (Rebreanu 1977: 43).
Die soeben genannten Typen von Sachverhalten zieht Lyons nicht in Betracht, sondern nur solche, die, abgesehen von diesen zeitlich bestimmten Sachverhalten, unabhängig von einer bestimmten Zeit bestehen. Dies sind Propositionen. Propositionen sind Aussagen, die unabhängig von einem zeitlichen Bezug wahr sind oder als wahr gedacht werden. Die dabei verwendeten Tempora sind solche, die eine zeitlose Gültigkeit ausdrücken wie das überzeitliche Präsens. Es gibt Propositionen, die in einer Sprachgemeinschaft bekannt sind, und solche, die ad hoc neu geschaffen werden können. Diese Typen werden im Folgenden exemplifiziert. Für ihre Verwendung bedarf es bestimmter Situationen und Kontexte, die in den Beispielen zum Teil angedeutet werden. Usuelle Proposition
Frz. “Noblesse oblige”. Sp. “el poeta no tiene más remedio que servirse de las palabras” (Paz 2000: 9). Kat. “La carn és dèbil i pertorba la ment, quan escolta les veus de la bèstia que s’alçen dins el cor com un crit de brutalitat i salvatgia” (Janer i Manila 1987: 78). Pt. “Enfim, tudo acabará por saber-se com o tempo” (Saramago 1984: 36) It. “Però la tenebra, stavolta, le era propizia: rientrando a casa, come il malfattore che torna sul luogo del suo crimine, essa riuscí a non farsi notare da nessuno” (Morante 1974: 97). Rum. “[Zenobia] S-a măritat cu dînsul [Glanetaşu] fără voia părinţilor, care-i ziceau că din frumuseţe nu se face porumb şi din isteţime mămăligă” (Rebreanu 1977: 44).
Die französische, spanische und portugiesische Proposition ist in den Beispielsätzen gut identifizierbar. Im katalanischen Beispiel ist die Proposition “la carn és dèbil”, im italienischen “il malfattore torna sul luogo del suo crimine” und im rumänischen “din frumuseţe nu se face porumb şi din isteţime mămăligă”. Ad-hoc-Proposition
Frz. “La fiction officielle veut qu’un empereur romain naisse à Rome” (Yourcenar 1977: 43). Sp. “El verdadero peligro de esterilidad de la pintura abstracta reside en su pretensión de ser un lenguaje sustentado en sí mismo” (Paz 2000: 9). Kat. “A vegades la naturalesa coincideix amb els plantejaments de la burgesia” (Janer i Manila 1987: 80). Pt. “Não há pior vida que a do soldado” (Saramago 1984: 39). “«E se non si fuma a sedici anni, quando si fuma? a novanta?!» ribatté lui, con impazienza It. proterva” (Morante 1975: 101). Rum. “Zenobia l-a lăsat cît l-a lăsat, pe urmă, văzînd că nu-i nici o nădejde, s-a făcut ea bărbat şi a dus casa” (Rebreanu 1977: 44).
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt
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Einen Kommentar erfordern die Beispiele aus dem Französischen, Spanischen, Italienischen und Rumänischen. Die Ad-hoc-Propositionen lauten in diesen Fällen “Un empereur romain naît à Rome”, “La esterilidad de la pintura abstracta reside en su pretensión de ser un lenguaje sustentado en sí mismo” und “Si fuma a sedici anni”. Das rumänische Beispiel zeigt, dass kontextuell auch ein anderes als ein überzeitliches Tempus erscheinen kann, denn Zenobia hat im Haus die Männerrolle übernommen. Propositionen stehen für Lyons (1977: 443) außerhalb von Raum und Zeit. Man kann das für das abstrakte Wissen von ihnen gelten lassen. Im Diskurs, auf den man mit Textbeispielen zwangsläufig zurückgreift, werden sie jedoch in Sinnzusammenhänge eingefügt, die je nach Autor auch zeitlich bestimmt sein können wie im letzten Zitat aus Rebreanu. Weitere literarische Beispiele sind die Sprichwörter Sancho Panzas in Don Quijote de la Mancha von Miguel de Cervantes (1962) sowie “Le Dictionnaire des Idées reçues” und “Le «Sottisier» des livres” im Romanfragment Bouvard et Pécuchet von Gustave Flaubert (1972). Es ist dabei nicht wirklich erheblich, ob eine Proposition wahr oder falsch ist. Bei allen diesen Sachverhaltsdarstellungen sind Verben beteiligt. Es ist aber wichtig, noch einmal zu betonen, dass es keine Korrelation zwischen bestimmten Verben und bestimmten Sachverhaltstypen im konkreten Fall geben muss. Gewiss stellen wir einen mehr oder weniger üblichen Zusammenhang zwischen Verben und Sachverhalten fest, aber eben keinen zwingenden. Die zur Differenzierung von Sachverhaltstypen verwendeten Termini sind übereinzelsprachlich und terminologisch gemeint. Dieselben Wörter sind daneben Lexeme des Deutschen oder, in ihren zwischensprachlichen Entsprechungen, Lexeme der anderen Einzelsprachen. Zur Vermeidung von Missverständnissen müssen wir unbedingt den sprachwissenschaftlich-terminologischen Gebrauch vom alltagssprachlichen Gebrauch trennen.
Semantische Rollen Am dargestellten Sachverhalt sind Elemente beteiligt, die je nach theoretischem Zusammenhang verschieden benannt werden. Innerhalb der Dependenzgrammatik, die die Beziehungen der Wörter im Satz als Abhängigkeit eines gegebenen Worts von einem anderen Wort zum Gegenstand hat, macht Lucien Tesnière (1893–1954) Elemente des Sachverhalts explizit. Die Beziehungen innerhalb eines Sachverhalts drückt er in einem Vergleich aus: ,Der Verbalknoten, den man im Zentrum der meisten unserer europäischen Sprachen findet […], drückt ein richtiges kleines Drama aus. Denn wie ein Drama enthält er obligatorisch einen Vorgang und meistens Akteure und Umstände‘ (1959: 102; meine Übersetzung). Für diese Verhältnisse haben wir verschiedene Terminologien. Die Akteure und Umstände sind bei ihm Aktanten und Zirkumstanten, die vom Verb abhängen, das den Vorgang ausdrückt; sie werden von anderen Linguisten später z. B. Ergänzungen und Angaben, semantische Rollen und in einem logischen Kontext Argumente genannt.
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Wie man an diesem Zitat aus Tesnière feststellen kann, wird mit dem „kleinen Drama“ nur ein typischer Fall von Sachverhaltsdarstellung angeführt. Im Sinne der Klassifikation der Sachverhalte, die im vorangehenden Abschnitt gegeben wurde, sind je nach Sachverhaltstyp verschiedene am Sachverhalt beteiligte semantische Rollen festzustellen. Am einfachsten wird meist der Zustand präsentiert. In unseren Beispielsätzen ging es um einen Zustandsträger: Trajan, das Innere der Kirche und die Fassaden, die Straßen, die Basilika, ein Mann in einer Tafelrunde, ein Wegkreuz. Ähnliches ließe sich über die Ereignisträger sagen. Typische Vertreter von Zuständen, Vorgängen und Ereignissen sind kopulative, intransitive oder reflexive Verben wie in unseren obigen Beispielen se trouvait, estaba, eren, é, apparteneva, te întîmpină; s’achevait, ocupó, persistia, purificam-se/escovam-se, veniva, se opinteşte/ se bălăbăneşte/se prăvăle; se passèrent, salió/se volcó, s’ha acalmat, parou, fu guastato, simţi. Der Unterschied kann, er muss aber nicht durch den Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt markiert werden. Bei Tätigkeit und Akt kann neben dem Agens, der typischerweise ein Verursacher ist, noch ein Patiens oder Adressat sowie ein Benefaktiv oder ein Empfindungsträger (engl. experiencer) beteiligt sein: marchions, iban/prorrumpían/arañaban/se peleaban, escrivia, se estava conformando, si guardava, a fãcut/i-a fost/se ceartã; pris, se instalaron, arribàrem, vem entrando/traz, levò, astîmpără/luară/duseră. Während die Propositionen solchen Strukturen wie allen bisher genannten entsprechen können, sind die semantischen Rollen bei Sprechhandlungen und Sprechakten im Allgemeinen vielfältiger, als in den Beispielen angegeben. Sie setzen einen Sprechagens voraus. Eine besondere Komplexität der semantischen Rollen ergibt sich daraus, dass sie selbst Sachverhaltsdarstellungen sein können wie oben kat. que era una heroïna. Auch Sachverhaltsdarstellungen müssen nicht in Gestalt von Sätzen gegeben werden. Es kann ebenfalls vorkommen, dass ein Sachverhalt als subordinierter Satz, als reduzierter Satz oder als lexikalisierte Nominalisierung (Lüdtke 2011: 248–266) gegeben wird.
Sachverhalte als Entitäten Die Sachverhaltsdarstellungen enthalten also nicht nur semantische Rollen, die Gegenstände sind, sie können selbst wieder Sachverhaltsdarstellungen sein, die den in dem Schema dargestellten Sachverhalten entsprechen. Da die semantischen Rollen sehr komplex sein können und in Texten häufig erscheinen, behandeln wir sie eingehender. Sie werden in den Einzelsprachen durch Substantive oder nominale Wortgruppen bzw. Nominalsyntagmen ausgedrückt, deren Zentrum Substantive sind. Unter denjenigen, die sich die Frage nach den Bezeichnungskorrelaten von Substantiven und nominalen Wortgruppen gestellt haben, ist Lyons (1977) mit gutem Grund besonders einflussreich gewesen, obwohl seine Auffassung noch weit davon entfernt ist, Allgemeingut geworden zu sein. Da die semantischen Rollen zugleich Elemente von Sachverhalten sind, werden sie von Lyons als
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Entitäten betrachtet. Sachverhalte enthalten Entitäten, sie selbst sind keine Entitäten. Engl. entity ist aus der Fachsprache der Logik in den allgemeinen Gebrauch übergegangen für etwas, das man im Deutschen fachsprachlich ein Seiendes nennen kann. Die Bezeichnungsentsprechungen von Substantiven sind nun Entitäten verschiedener Ordnung. Die Entitäten erster Ordnung sind die bekannten Gegenstände. Diese kann man weiter untergliedern; dabei stehen die Personen wegen ihrer Komplexität an der Spitze der Hierarchie, gefolgt von Tieren und Sachen (Lyons 1977: 442–443). Als semantische Rollen erscheinen nun vom Zustandsträger bis zum Sprechagens nicht nur Entitäten erster Ordnung, sondern auch die Sachverhalte aller Typen, die wir oben genannt haben. Dadurch entstehen in Verbindung mit den verbal ausgedrückten Sachverhalten komplexe Sachverhalte, an denen Entitäten zweiter und dritter Ordnung beteiligt sind. Unter Entitäten zweiter Ordnung sind Ereignisse, Vorgänge, Sachlagen und dergleichen zu verstehen, die in der Zeit bestehen oder stattfinden, und unter Entitäten dritter Ordnung Propositionen, die außerhalb von Raum und Zeit stehen (Lyons 1977: 443). Im Gegensatz zu den Entitäten erster Ordnung, die im Allgemeinen lexikalisiert sind, werden diejenigen zweiter Ordnung entweder mit den Mitteln der grammatischen Nominalisierung konstruiert oder in der Wortbildung geschaffen und dann lexikalisiert. Die Entitäten zweiter Ordnung werden durch Nominalisierungen ausgedrückt. Dabei sollte man sogleich hinzufügen, dass diese in zwei Grundtypen auftreten, den Nominalisierungen der Grammatik bzw. Syntax und denjenigen der Wortbildung. Einige grammatische Beispiele dazu haben wir bereits im Überblick über die Sachverhalte gegeben. Die Nominalisierungen der Wortbildung sind in den romanischen Sprachen gut vertreten. Man vergleiche frz. le soleil se couche → le coucher du soleil mit it. la guerra ha distrutto la mia casa → la distruzione della mia casa und sp. la pintura abstracta es estéril → la esterilidad de la pintura abstracta. Die Entitäten dritter Ordnung beschränkt Lyons auf Propositionen. Sie erscheinen sprachlich ebenfalls in Gestalt von Nominalisierungen. Die Entitäten der zweiten und der dritten Ordnung unterscheiden sich voneinander erheblich in dem, was sie bezeichnen. Letztere sind, im Gegensatz zu den Entitäten zweiter Ordnung, nicht eigentlich der Beobachtung zugänglich, sie sind eher „wahr“ als „wirklich“, sie können behauptet und verneint werden, sie sind Gründe, keine Ursachen usw. (Lyons 1977: 444–445). Für mich liegt jedoch der entscheidende Unterschied der Entitäten der dritten Ordnung gegenüber denjenigen der zweiten Ordnung darin, dass bei ihnen die gemeinte außersprachliche Wirklichkeit selbst wieder sprachlich gestaltet ist; unter anderem deswegen habe ich den Ausdruck außersprachliche Wirklichkeit in Anführungszeichen gesetzt. Dies sehe ich als den eigentlichen Unterschied an zwischen den von Lyons angeführten Beispielsätzen “I witnessed John’s arrival”, einer Äußerung, die sich ausschließlich auf einen Ausschnitt aus der außersprachlichen Wirklichkeit bezieht, und “John’s arrival has been confirmed” (Lyons 1977: 445; Lüdtke 1984a: 32); in diesem zweiten Fall muss “John’s arrivalˮ über eine sprachliche Äußerung vermittelt worden sein.
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Für die beschriebenen Sachverhaltsdarstellungen habe ich romanische Beispiele gegeben, die zwangsläufig einzelsprachlich sind. Ich muss aber an dieser Stelle darauf hinweisen, dass nur die Bezeichnungskorrelate dieser sprachlichen Ausdrücke gemeint sind, nicht ihre einzelsprachlichen Bedeutungen. Lyons unterscheidet bei den Substantiven zweiter und dritter Ordnung zwischen komplexen (arrival, amazement) oder zusammengesetzten (house-keeping) und einfachen Substantiven (event, state, reason, theorem) (Lyons 1977: 446). Dieser Unterschied ist rein morphologisch und bezieht sich darauf, ob ein Substantiv nach den Verfahren der Wortbildung geschaffen worden ist oder nicht. Der Unterschied liegt aber noch tiefer. Bei den Substantiven zweiter Ordnung ist das Verhältnis zur außersprachlichen Wirklichkeit von frz. état, procès, événement, action, activité, acte, sp. estado, proceso, acontecimiento/suceso, acción, actividad, acto, kat. estat, procés, esdeveniment, acció, activitat, acte, pt. estado, processo, acontecimento, acção, actividade, acto, it. stato, processo, avvenimento, azione, attività, atto, rum. stat, proces, eveniment, acţiune, activitate, act
auf der einen Seite und das von frz. marche, naissance, recherche(s), it. acquata, scatto, impazienza, sp. envío, llegada, movimiento, quejido etc. auf der anderen völlig anders. Während nämlich die zitierten Nominalisierungen die außersprachliche Wirklichkeit direkt bezeichnen, bezeichnen frz. état, procès, événement, action, activité, acte, it. stato, processo, azione, sp. estado, proceso, acción und dergleichen die mit frz. marche, naissance, recherche(s), it. acquata, scatto, impazienza, sp. llegada, movimiento etc. bezeichneten Bereiche der außersprachlichen Wirklichkeit und sind deren Oberbegriffe. Die Sachverhalte interpretierenden Substantive dritter Ordnung bezeichnen damit im Gegensatz zu den Substantiven zweiter Ordnung etwas Sprachliches. Auch Propositionen einerseits und andererseits Substantive wie frz. proposition, théorème, raison, motif, droit, it. proposizione, assioma, paradosso, ragione, sp. proposición, teorema, razón, motivo etc. sind nicht genau vergleichbar. Sie mögen als Entitäten auf demselben Niveau stehen, aber nur aus der Sicht der Linguisten. Im Wissen der Sprecher existieren Propositionen und die genannten Substantive wiederum in sehr verschiedener Weise. Substantive wie die soeben genannten setzen zu ihrem Verständnis die mit ihnen korrelierenden Propositionen selbst voraus. Um einen Grund zu verstehen, muss man wissen, worin er in einem bestimmten Fall besteht. So kann El alma es inmortal ,Die Seele ist unsterblich‘ im Spanischen eine proposición oder ein dogma genannt werden. Der morphologische Unterschied zwischen der direkten und der interpretierenden Gestaltung bei den Substantiven zweiter Ordnung wiederholt sich bei den Substantiven dritter Ordnung. Die Substantive, mit denen Propositionen benannt werden, sind in der Regel morphologisch einfach; die Substantive dagegen, die zur Benennung
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von Sprechhandlungen dienen wie frz. affirmation, insinuation, promesse, rejet, refus, it. affermazione, comando, insinuazione, promessa, rifiuto, sp. afirmación, insinuación, mandato, promesa, rechazo etc., sind deverbale Prädikatnominalisierungen.
Generisch und spezifisch Die Entitäten der drei Ordnungen können unter dem Gesichtspunkt der Gattung oder eines Vertreters der Gattung verwendet werden. Der Unterschied tritt zwar auch unabhängig von weiteren Determinationen auf, er kann aber am besten mit dem bestimmten Artikel erklärt werden. Bei den Gegenständen ist dies offensichtlich: Frz. “Chacun de nous croyait échapper aux étroites limites de sa condition d’homme, se sentait à la fois lui-même et l’adversaire” (Yourcenar 1977: 64). It. “Seppure confusamente, lei [Ida] s’aspettava tuttora d’incontrare, là dentro, la solita pipinara di famigliucce dai capelli ricci e dagli occhi neri nelle strade, sui portoncini e alle finestre” (Morante 1974 : 338). Sp. “cualesquiera que sean sus creencias y convicciones, el poeta nombra a las palabras más que a los objetos de éstas designan” (Paz 2000: 5).
Es ist nicht dieser oder jener Dichter, von dessen Auffassungen und Überzeugungen hier die Rede ist, sondern der Dichter, seine Auffassungen, seine Überzeugungen, die Wörter und die Dinge im Allgemeinen. Die Äußerung betrifft den Dichter als „Gattung“, der natürlich auch in den Einzelvertretern der Gattung feststellbar ist. Im Lateinischen bedeutet „Gattung“ genus, von genus leitet sich das (neu)lateinische Adjektiv genericus „generisch“ ab. Im allgemeinen begrifflichen und so auch sprachwissenschaftlichen Gebrauch unterscheidet man nicht mehr nur genus und species in der Biologie, sondern man hat diese Unterscheidung seit Langem auf jede Art von Entität verallgemeinert. So kann man eben frz. adversaire, it. famigliuccia, sp. poeta generisch oder spezifisch verwenden. Auch Sachverhalte können generisch präsentiert werden. Nehmen wir einmal die Anforderungen an eine spanische Sportprüfung: “El examen de aptitud física consistirá en las siguientes pruebas individuales con un mínimo de marcas: Salto vertical .. Lanzamiento de peso (cinco kilogramos), sin pirueta“ (DEA, s. v. pirueta; ‚Die Sportprüfung soll aus den folgenden Einzelnachweisen mit einem Rekordminimum bestehen: Hochsprung … Kugelstoßen (fünf Kilo) ohne Drehung‘; meine Übersetzung). Salto vertical, lanzamiento de peso, pirueta sind Gattungen von Bewegungen oder Bewegungsabläufen, die durch Prädikatnominalisierungen (salto, lanzamiento) ausgedrückt werden. Die Gattungen von Bewegungen oder Bewegungsabläufen können ebenfalls definiert werden. Normalerweise werden Grundgegebenheiten einer Sprache wie salto nicht definiert, weitere Bestimmungen davon aber schon, so triple salto: “El triple salto consiste en realizar tres saltos sucesivos: el primero, con la misma pierna con que se bate; el segundo, con la otra, y el tercero, con las dos a la vez” (DEA: s. v. salto; ,Der Dreisprung besteht darin, dass man drei Sprünge nacheinander ausführt: Den ersten mit
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
dem Bein, mit dem man aufkommt, den zweiten mit dem anderen und den dritten mit beiden gleichzeitig‘; meine Übersetzung). Von einem solchen salto ist derjenige zu unterscheiden, den eine bestimmte Person zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort macht.
1.4.4 Wortbildung Das Bezeichnete bzw. das zu Bezeichnende muss unabdingbar gegeben sein, damit ein Wort geschaffen werden kann. Bei einer universellen Betrachtung der Sprache geht es um diese allgemeine Bezeichnungsfunktion, die jedes Wort zu leisten hat. Der Bezeichnungsvorgang erscheint erstmalig im Diskurs des Einzelnen in der Beziehung eines Worts zur außersprachlichen Wirklichkeit. Diese Beziehung wird auch bei bereits existierenden Wörtern im Diskurs in der jeweils konkreten Bezeichnung aktualisiert. In der inhaltlichen Betrachtung der Wortbildung ist die Perspektive der Bezeichnung die am weitesten verbreitete. Wenn in der Wortbildungslehre von Semantik und semantisch (oder von Bedeutung) die Rede ist, meint man damit meist eine am Bezeichneten und an der Bezeichnungsrelation orientierte Semantik, die man referentielle Semantik nennen kann. In der Forschung wird diese Perspektive bei der onomasiologischen Methode eingenommen. Sie legt das in der außersprachlichen Wirklichkeit Bezeichnete zugrunde und gelangt zum sprachlichen Ausdruck (signifiant, cf. 2.1.4), entweder im Diskurs oder in der Einzelsprache. Die einzelsprachliche Bedeutung (signifié) wird dabei immer schon vorausgesetzt. Zugrunde liegt also nicht das Bezeichnete der außersprachlichen Wirklichkeit als solches, sondern ein Bezeichnetes, das zuvor durch eine einzelsprachliche Bedeutung abgegrenzt worden ist. Denn wir verfügen, nachdem wir sie als Kinder gelernt haben, über eine Einzelsprache, die damit auch beim Bezeichnen der außersprachlichen Wirklichkeit zu den Grundbedingungen des Sprechens gehört. Wenn man um die Grenzen der onomasiologischen Methode weiß, ist ihre Anwendung für bestimmte Aufgaben legitim. Sie eignet sich für eine einzelsprachliche Untersuchung aus universeller Perspektive ebenso wie für eine sprachvergleichende und eine diskursive. In der Wortbildungslehre ist der onomasiologische Standpunkt explizit von Miloš Dokulil (1968) vertreten worden. Wenn ich hier Dokulil zugrunde lege, interpretiere ich ihn für den gegenwärtigen Kontext etwas um. Wie es bei anderen analogen Ansätzen auch der Fall ist, stellt Dokulil keine Beziehung zu einem Bezeichneten her, sondern dieses wird durch „Denkinhalte“ vermittelt, es hat also eine psychische Realität. Was wir weiterhin Bezeichnung nennen wollen, ist für Dokulil die „Benennung“. Der entsprechende Vorgang in der Rede ist ein „Benennungsakt“. Die Denkinhalte liegen im Bereich der Vorstellungen, die selbst auf sehr verschiedene Weise aufgefasst werden können. Im Vergleich zu den Denkinhalten sind die einzelsprachlichen Bedeutungen abstrakter zu denken.
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt
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Eine Wortbildung erhält ihre Motivation dadurch, dass das neu zu Bezeichnende unter vorgängig analysierte Bereiche der Wirklichkeit subsumiert wird. Eine von einer solchen Voraussetzung ausgehende Analyse ist grundsätzlich universell. Als Terminus für den Gegenstand, auf den die Analyse sich bezieht, hat Dokulil „Benennungsoder onomasiologische Kategorien“ eingeführt, die „die fundamentalen Umrißstrukturen der Denkinhalte“ (1968: 207) bilden. Diese werden wir losgelöst vom formalen Ausdruck und den inhaltlichen Ausprägungen in einer Einzelsprache betrachten. Die Wortbildung ist dabei nur eines von mehreren sprachlichen Verfahren, wenn auch ein herausragendes. In der Analyse der Wirklichkeit durch onomasiologische Kategorien bestimmt ein Glied das andere. Das eine ist bestimmend (determinierend), das andere ist bestimmt (determiniert). Diese Zweigliedrigkeit wird einzelsprachlich durch die DeterminansDeterminatum-Struktur eines Syntagmas ausgedrückt. Ein einen Ausschnitt aus der außersprachlichen Wirklichkeit Bezeichnendes wird in eine bestimmte Klasse eingeordnet, das in einer Sprache bereits einen eigenen Ausdruck erhalten hat. Dieser Ausdruck ist die „onomasiologische Basis“. Die Differenz des innerhalb dieser Klasse bzw. onomasiologischen Basis zu Bezeichnenden wird durch ein „spezifisches Merkmal“, das „onomasiologische Merkmal“, angegeben. In frz. mot-clé, it. parola chiave, sp. palabra clave ist die onomasiologische Basis mot, parola bzw. palabra; clé, chiave oder clave ist das onomasiologische Merkmal. Das onomasiologische Merkmal clé differenziert z. B. mot gegenüber mot-clé, jedoch innerhalb der Bezeichnungsklasse der mots. Da jedoch die Wortzusammensetzung mit Lexemen in den romanischen Sprachen relativ wenig produktiv ist, sind entweder die onomasiologische Basis oder das onomasiologische Merkmal in diesen Sprachen recht abstrakt. Es wird daher ein anderes Verfahren als die Wortzusammensetzung mit großer Häufigkeit angewandt. Dieses besteht in der Bestimmung einer sehr allgemeinen Klasse, die die onomasiologische Basis bildet, durch eine spezifische Klasse. In frz. étudiant, it. studente, sp. estudiante verbindet sich eine onomasiologische Basis „Mensch“ oder „Person“ oder in anderen Fällen etwas noch Allgemeines wie „Gegenstand“ mit einem spezifischen onomasiologischen Merkmal, in diesem Fall der Tätigkeit des Studierens. „Person“ und étudier, studiare, estudiar sind zwei Bezeichnungsklassen, die in ein Determinationsverhältnis gebracht werden. Es ist noch einmal zu betonen, dass es, wie die Beispiele zeigen, zwei grundlegende Typen von onomasiologischen Kategorien (Basis und Merkmal) gibt. Bei dem einen Typ werden die onomasiologischen Kategorien explizit, d. h. durch Lexeme ausgedrückt, bei dem anderen Typ wird die onomasiologische Basis implizit durch den Wechsel der Wortkategorie, hier vom Verb zum Substantiv, und durch ein allgemeines Bezeichnungselement, „Person“ im vorliegenden Fall, ausgedrückt. Der Einzige, der mehr oder weniger konsequent eine onomasiologische Darstellung der Wortbildung einer romanischen Sprache gegeben hat, ist Wilhelm MeyerLübke in seiner französischen Wortbildungslehre (1921, 21966). Da er theoretischen Erörterungen ablehnend gegenüberstand, hat er keine Begründung für seine Methode geliefert. Seine onomasiologischen Kategorien sind Personal-, Tier-, Pflanzen-, Orts-
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
und Werkzeugbezeichnungen sowie Abstrakta bei Substantiven, Zugehörigkeit, Ähnlichkeit und Begabtsein mit etwas bei den Adjektiven, während die Verbbildung, die Präfixbildung und die Zusammensetzung nicht in dieser Weise behandelt werden. In zahlreichen romanischen Wortbildungslehren wird ein grundsätzlich ähnliches Darstellungsverfahren angewandt. Sie stellen ein formal gegliedertes Inventar von Formen zusammen, denen referentielle Bedeutungen zugeordnet werden, und verwenden die Terminologie der elektronischen Datenverarbeitung. Dadurch erhält sie eine einseitige Ausrichtung, die vom lebendigen Sprachgebrauch eines Sprechers wegführt. Wer wollte einfach behaupten, dass ein Sprecher wie ein elektronischer Rechner funktioniert? Man muss, wenn man die Sprache formalisieren will, die sprachlichen Sachverhalte zweimal darstellen, einmal als Annäherung an das, was beim Sprecher selbst geschieht, und einmal als Formalismus. Keine der beiden Behandlungsweisen darf auf die andere zurückgeführt und reduziert werden. Auf die Wortbildung werden wir aus einzelsprachlicher Sicht zurückkommen (cf. 2.3.2).
Bibliographischer Kommentar
Man kann in die Sprachwissenschaft insgesamt vom Bezeichneten her einführen. Betrachtet man die Entwicklung der Linguistik in den Ländern, in denen europäische Sprachen gesprochen werden, in ihren Beiträgen zum Sprechen im Allgemeinen, zur Einzelsprache und zum Diskurs, so dominiert die Beschäftigung mit Sprache aus der Perspektive des Sprechens im Allgemeinen in der in den USA und Großbritannien betriebenen Forschung und der Forschung in den Ländern, auf die diese ausgestrahlt hat. Entscheidend für die Einordnung in eine Richtung ist die Auffassung, die ein Linguist von der Bedeutung vertritt. So stehen dem Sprechen im Allgemeinen Bedeutungstheorien nahe, die sie anthropologisch betrachten wie Boas (1911), begrifflich und kulturell wie Sapir (1949), behavioristisch wie Bloomfield (1933), als “thing-meantˮ wie bei Gardiner (21951) oder im Rahmen eines “context of situationˮ wie bei Firth (1968). Die hier vereinten Linguisten würden mir wahrscheinlich heftig widersprechen, wenn sie es könnten, weil sie äußerst verschiedene Ansichten vertreten. Aber darum geht es nicht: Sie alle tragen auf die eine oder andere Weise zur Kenntnis des Bezeichneten bei. In der Folgezeit ist es für die nordamerikanische Linguistik folgenreich geworden, dass die Bedeutung im Distributionalismus von Harris (1951) praktisch aus der Untersuchung ausgeklammert wurde. Wir werden dem Distributionalismus wieder in den verschiedenen Ausprägungen der generativen Phonologie begegnen (2.2.1). Die Reaktion auf den Distributionalismus und die ihm vorausgehende sprachwissenschaftliche Tradition ist in den USA der Mentalismus der generativen Transformationsgrammatik Chomkys (vor allem 1957 und 1965). Aus seinem besonders einflussreichen Werk Aspects of the theory of syntax (1965) habe ich in 1.1.2 seine Auffassung von der Sprachkompetenz zitiert. Was aber bei dieser kritischen Wende Chomskys erhalten bleibt, ist die referentielle Sicht auf die Bedeutung, wie sie sich besonders bei Katz und Fodor (1964) zeigt (das vielzitierte Beispiel bachelor findet sich S. 494– 503). Gegen die Semantik nach der Art von Katz und Fodor mit ihren Weiterentwicklungen wendet sich in den USA die kognitive Linguistik. Ihre Entstehung und Entwicklung muss in der ihr eigenen Geschichtlichkeit wahrgenommen werden. Dazu gehört die Untersuchung von Indianersprachen wie bei Langacker und die „Kategorisierung“ im Rahmen der Neuropsychologie, wie sie von Rosch (1977) vertreten wird. Langacker (1987, 1991) stellt die kognitive Linguistik auf eine breite Grundlage
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wie auch das unter Beteiligung maßgeblicher Linguisten von Geeraerts 2006 herausgegebene Werk und der Reader von Evans/Bergen/Zinken (eds.) 2007. Diese Sprachwissenschaft ist ebenfalls inte grativ, sie findet aber hier ihren Ort im Sprechen im Allgemeinen, weil dies der gewählten Perspektive entspricht. Ihre Rezeption in Europa trifft auf einen anderen Diskussionszusammenhang als in den USA, wo sie in der bis dahin vernachlässigten Semantik zu einer Neuorientierung führt. Die in Europa betriebene strukturelle Semantik bzw. Wortsemantik hat dagegen umgekehrt die dortige Entwicklung nicht nennenswert beeinflusst. Auf der anderen Seite wurden der kognitiven Linguistik nahestehende Richtungen in Frankreich (Valette 2006) nicht breit rezipiert und nicht gegenseitig integriert, da sie unter anderen Namen aufgetreten sind. Einen ersten Einblick in die historiographischen Zusammenhänge gibt Fortis (2010). Eine französische Einführung aus der Perspektive der kognitiven Linguistik gibt Delbecque (éd.) 2002; dieses Werk beruht auf Dirven/Verspoor (eds.) 1998. Auch hier trifft zu, dass traditionelle Erkenntnisse integriert werden. Es ist hilfreich, je nach sprachlicher Ausrichtung des Studiums auf italienische Einführungen wie Gaeta 2003 oder Bazzanella 2014 und auf spanische wie Cuenca/ Hilferty 1999 oder Ibarretxe-Antuñano/Valenzuela (Dirs.) 2012 und eine portugiesische wie Silva 2003 zurückzugreifen. Es gibt Grammatiken, die völlig auf dem Bezeichneten aufbauen. Die berühmte Grammatik von Brunot, La pensée et la langue (31953, 11922), trägt dies als wissenschaftliches Programm bereits in seinem Titel und ordnet die Einzelsprache dem Sprechen im Allgemeinen und dem Diskurs unter. Kontrastive Grammatiken müssen prinzipiell das Bezeichnete zugrunde legen, da es kein geeigneteres tertium comparationis für den Sprachvergleich gibt. Aber auch traditionelle und generativistische Grammatiken arbeiten häufig mit einem Bedeutungsbegriff, der den Formen das mit ihnen Bezeichnete zuordnet. Unter den großen neuen Grammatiken arbeitet die unter der Leitung von Bosque/ Demonte (dirigida por) 1999 veröffentlichte spanische Grammatik auf diese Weise.
1.4.5 Universalität der sprachlichen Kategorien Bis in der Sprache das Universelle vom Einzelsprachlichen unterschieden werden konnte, musste die Sprachtheorie einen langen Weg gehen. In der Folge der Grammatik von Port-Royal ([Arnauld/Lancelot] 1966) stellte man zunächst eine grammaire générale (allgemeine Grammatik) einer grammaire particulière gegenüber. Eine grammaire particulière stellt die über eine grammaire générale hinausgehenden particularités (die Besonderheiten oder, wie man im 18. Jahrhundert sagte, die Eigentümlichkeiten) der Einzelsprachen dar. Man erkannte in diesen frühen Zeiten noch nicht, dass das Universelle, das Einzelsprachliche und das Diskursive in der Sprache gleichzeitig gegeben sind, dass diese Ebenen also nur analytisch unterschieden werden. Universell sind nicht nur die Eigenschaften von Sprache überhaupt, sondern auch die Kategorien, die man in den Einzelsprachen feststellt. Kategorien in diesem Sinne sind „erste Begriffe“ von etwas überhaupt und dienen in erster Linie einer sehr allgemeinen Klassifikation. Solche Kategorien, die nicht mehr hintergehbar sind, gibt es ebenfalls in der Sprache. Substantiv und Verb gehören dazu. Die Universalität der sprachlichen Kategorien ist nun aber eine andere als die der Grundeigenschaften von Sprache. Die sprachlichen Kategorien sind als Möglichkeit universell, sie können in den Einzelsprachen vorkommen oder auch nicht. Diese Universalität als Möglichkeit
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wird in Beschreibungen von Einzelsprachen immer stillschweigend vorausgesetzt (cf. Coseriu 21992: 261–262). So nimmt man für die romanischen Sprachen an, dass sie Verben haben und dass an diesen Verben z. B. Tempora ausgedrückt werden. Es hat aber keinen Sinn, das Verb im Französischen, Spanischen, Italienischen zu „definieren“ oder die Tempora in diesen Sprachen, auch wenn man dies oft tut. Wenn man annimmt, dass es das Verb in verschiedenen Sprachen gibt, dann nimmt man stillschweigend an, dass es das Verb über die verschiedenen Einzelsprachen hinweg gibt, denn sonst könnte man es nicht zwischensprachlich vergleichen. Besonders gerne werden frz. subjonctif, sp. subjuntivo, dt. Konjunktiv usw. in den Einzelsprachen getrennt definiert. Es wird angenommen, dass es in allen Sprachen Wörter und Sätze gibt. Gleichwohl existiert eine allgemein anerkannte Definition von Wort und Satz nicht; in unserem Zusammenhang ist es daher unmöglich, auch nur kurz auf die verschiedenen Definitionen einzugehen. Sinnvoller ist es dagegen, die Gegenüberstellung Wort hier, Satz dort um einige Ebenen zu erweitern, denn in der sprachlichen Gestaltung stellt man eben mehr als diese beiden Möglichkeiten fest. Eine eigentliche Definition strebe ich hier nicht an. Das sprachliche Zeichen wird in signifiant und signifié analysiert (dazu Näheres in 2.1.4). Solche sprachlichen Einheiten, die aus e i n e m signifiant und e i n e m signifié bestehen, können wir minimale Einheiten nennen. Andere verwenden dafür Morphem (Bloomfield 1935: 161–168, und die Sprachwissenschaft, die sich letztendlich auf ihn beruft) oder Monem (Martinet 1960: 20; 41996: 15–16). Minimale Einheiten sind im Französischen z. B. arbre, das Diminutivsuffix -et bzw. phonetisch [-ɛ] in jardinet ‚Gärtchen‘ oder oui ‚ja‘. Unter diesen drei minimalen Einheiten sind arbre und oui zugleich Wörter, jardinet ist ebenfalls ein Wort, das jedoch aus zwei minimalen Einheiten besteht. Zu „höheren“ Einheiten fortschreitend können wir Kombinationen von mehreren Wörtern feststellen, die wir Wortgruppen nennen, z. B. un roman excellent ‚ein ausgezeichneter Roman‘. Ein Satz wie On parle trop de vous ,Man spricht zuviel von Ihnen/euch‘ enthält als Kern ein Prädikat, an dem Bestimmungen wie Modus, hier Indikativ, Tempus, hier Präsens, Person, hier dritte Person, ausgedrückt werden und das seinerseits im Rahmen des Satzes bestimmt sein kann wie in diesem Fall durch on, trop und de vous. Der Ausdruck Quel roman excellent! ‚was für ein ausgezeichneter Roman!‘ soll für die Ebene des Textes als Strukturierungsebene stehen, denn dieser Exklamativ setzt voraus, dass ein Roman in einem vorausgehenden Satz eingeführt wurde und er folglich semantisch nicht für sich allein bestehen kann. Oui ist ebenfalls ein unvollständiger Ausdruck, wenn ihm etwa keine Frage vorausgeht. Ebenen der Strukturierung
Beispiele
minimale Einheit Wort
arbre, -et, oui arbre, jardinet, oui
Wortgruppe Satz Text
1.4 Allgemein-sprachlicher Inhalt
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un roman excellent On parle trop de vous. Quel roman excellent! Oui.
Ich setze die soeben skizzierten Unterschiede ein, um näher zu erläutern, was ich unter Satz im Gegensatz zu Äußerung verstehen will. Eine Äußerung ist eine minimale (nicht abgebrochene) Ausdruckseinheit in einer Redesituation, die von einem Sprecher und einem Hörer als solche identifizierbar ist. Dazu gehören unter unseren Beispielen Oui. Quel roman excellent! On parle trop de vous. Satz beschränke ich auf den letzten Fall, in dem die grammatischen Bestimmungen in Abhängigkeit von einem Prädikat organisiert sind. Es ist eine rationale Notwendigkeit, dass Sprache in diesen beiden sehr allgemeinen Arten von Bedeutung gestaltet ist, die ich kategoriale Bedeutung von Wörtern und kategoriale Bedeutung von Äußerungen nenne. In jeder Sprache muss es etwas geben, mit dem man etwas nennt, und etwas, mit dem man etwas sagt. Mit arbre, vert, dormir nennt man etwas. Diese Wörter (typischerweise Wörter, aber nicht nur Wörter) werden durch die Kategorien des Nennens als Substantive usw. gestaltet. Auch mehrere Wörter zusammen können ein bloßes Nennen beinhalten, so arbre vert oder dormir bien. Die Äußerungskategorien dagegen sind Kategorien des Sagens: Erst in einer Äußerung sagt man etwas, typischerweise in einem Satz. Schon un arbre vert oder il dort bien stellen durch den unbestimmten Artikel oder das Personalpronomen, durch Tempus und Modus einen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit her. Der Unterschied zwischen Nennen und Sagen ist schon sehr alt. Er geht auf den Unterschied zwischen onomázein und légein, die ‚nennen‘ und ‚sagen‘ bedeuten, im Dialog Sophistes von Platon zurück. Zwar ist es möglich, mit Wörtern sowohl etwas zu nennen als auch etwas zu sagen. Diejenige Wortkategorie jedoch, die im Allgemeinen das Nennen zum Sagen macht, ist das Verb, denn es enthält die Kategorien der Aktualisierung wie Tempus, Vox (Aktiv, Passiv) und Modus. Mit Pierre oder travailler nennt man im Allgemeinen nur etwas; mit Pierre travaille dagegen sagt man bereits etwas. Eine andere Wortkategorie, die dieselbe Aufgabe erfüllen kann, ist das Adjektiv, z. B. Marie est belle. Die Form est in diesem kurzen Satz stellt nur die „Verbindung“ zwischen Marie und belle her und wird deshalb traditionell Kopula genannt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass es ein Sagen gibt, in dem nur Nennformen vorkommen, nämlich im gebrochenen Sprechen, im Sprechen mit Ausländern, im Französischen früher einmal „politisch unkorrekt“ petit nègre genannt (vgl. it. italiano stentato oder engl. foreigner talk, sp. chapurrear). Aus der Leistung des Verbs, das Nennen zum Sagen zu machen, ergibt sich seine Sonderstellung im Satz, denn die Inhalte, die am Verb ausgedrückt werden wie Tempus, Vox und Modus gehören eigentlich zum Satz. Aus den beiden Grundformen des Sprechens kann man zwei Bereiche einer Sprache ausgrenzen: Auf der einen Seite den Wortschatz, der dem Nennen entspricht,
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
und auf der anderen Seite die Grammatik, die dem Sagen entspricht. Mit Grammatik und Wortschatz ist hier natürlich wieder das Wissen der Sprecher gemeint und nicht die Ergebnisse der Tätigkeit eines Sprachwissenschaftlers, die zur Darstellung dieser Wissensbereiche in einer Grammatik und einem Wörterbuch (bzw. einer systematischen Beschreibung des Wortschatzes einer Sprache) führen. Die sprachlichen Kategorien sind sehr allgemeine Bedeutungen. So allgemein ist ihr Bedeutungscharakter in manchen Fällen, dass die Bedeutungen nicht als solche wahrgenommen werden, sondern allenfalls die Formen, mit denen diese allgemeinen Bedeutungen oder Kategorien zum Ausdruck kommen und deshalb in der Morphologie behandelt werden. 1.4.5.1 Wortkategorien Die Wortkategorien haben eine längere und kontinuierlichere wissenschaftliche Tradition als die Äußerungskategorien. Eine erste Klassifikation der Wörter gab der griechische Grammatiker Dionysios Thrax (ca. 170–90 v. Chr.), der die erste griechische Elementargrammatik schrieb. Seine Klassifikation wurde unter der Benennung partes orationis in die lateinische Grammatik übernommen und mit dem Terminus Redeteile ins Deutsche und mit parties du discours ins Französische übersetzt. Mit oratio, Rede und discours ist nicht der moderne Begriff der Rede oder des Diskurses gemeint, sondern der Satz, der in seine Teile zerlegt wird, wie dies noch heute in sp. oración und partes de la oración zum Ausdruck kommt. Diese Redeteile sind im deutschen Sprachgebrauch besser als Wortarten bekannt. Dementsprechend werden die Äußerungskategorien – aber mit einer anderen Intention – im deutschen Sprachgebrauch im Allgemeinen Satzarten genannt. Nicht alle Wortarten sind aber Wortkategorien. Die Kriterien zur Abgrenzung können morphologischer, syntaktischer und semantischer Art sein. Dem semantischen Kriterium als dem umfassendsten soll das größte Gewicht gegeben werden. Danach fallen nur diejenigen Wortarten unter die Wortkategorien, die einen direkten Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit haben und die einen Ausschnitt daraus benennen. Die Wortkategorien sind also nur Substantiv, Adjektiv, Verb und Adverb. Die anderen Wortarten, zu denen man den Artikel, die Präposition, die Konjunktion und die Interjektion rechnet, werden wir hier nicht besprechen. Die Pronomina, die manchmal auch als Wortart aufgeführt werden, sind Substantive, Adjektive und z. T. Adverbien, z. B. frz. ce, cette, celui-ci (-là), tel, ainsi; it. questo, questa, quello, quella, codesto, codesta, tale, così; sp. este, esta, ese, esa, aquel, aquella, tal, así. Wortarten und insbesondere Wortkategorien sind universelle Möglichkeiten der einzelsprachlichen Gestaltung, sie müssen aber nicht in jeder Sprache vorkommen. So gibt es etwa in den slavischen Sprachen und im Lateinischen keinen Artikel. Andererseits müsste man bei der Definition der Wortarten (wie auch der Wortkategorien) berücksichtigen, was einzelsprachlich und was universell ist. So ist bei der Präposition, wenn es sie denn in einer bestimmten Sprache gibt, sicherlich der Typ von Inhalt universell, den
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man mit „Situierung“ eines A gegenüber einem B umschreiben könnte (Pottier 1962, Lang 1991), nicht aber die Stellung vor dem Ausdruck – Wort, Wortgruppe oder Satz –, auf den die Präposition sich bezieht; so kann eine Präposition durchaus eine Postposition sein wie etwa im Ungarischen und gelegentlich im Deutschen (mir gegenüber). Deshalb darf in einer Definition von „Präposition“ nicht vorkommen, dass sie vor oder nach einem Element stehen muss. Diejenigen Wortarten, die keine Wortkategorien sind, funktionieren als grammatische Instrumente: Der Artikel determiniert, delimitiert und aktualisiert, die Präposition situiert, die Konjunktion verbindet solche Sprachelemente, die Wortkategorien sind. Schematisch können wir das Verhältnis zwischen Wortarten und Wortkategorien in folgender Weise darstellen:
Abb. 1.6: Wortarten und Wortkategorien
Die Wortkategorien sind Substantiv, Adjektiv, Verb und Adverb; besser wäre es allerdings, von Substantivität, Adjektivität, Verbalität und Adverbialität zu sprechen, denn auf diese Weise käme der abstrakte Charakter dieser Bedeutungen besser zum Ausdruck. Die häufigste Wortkategorie ist das Substantiv, denn man kann fast alles zum Substantiv machen. Wie nun wird ein Inhalt als Substantiv erfasst? Die beste Formulierung, die ich kenne, ist diejenige von Edmund Husserl (41972: 247–250): Ein Substantiv erfasst etwas als „Für-sich-Seiendes“, was eindeutiger ist als der üblicherweise verwendete Terminus Gegenstand, der auf die Mehrheit der Substantive, die sinnfällig Gegebenes bezeichnen, zutrifft: frz. maison, arbre, it. casa, albero, sp. casa, árbol usw.; Problemfälle stelle ich eine kurze Weile zurück. Die Adjektivität ist das „An-etwas-Sein“; das ist wiederum genauer als die Bezeichnung der „Eigenschaft“ eines Gegenstands“ bei Adjektiven wie frz. vert, it. sp. verde: vert, verde ist etwas an einem „Für-sich-Seienden“, an arbre, albero, árbol. Wenn man wie gewöhnlich sagt, ein Adjektiv bezeichne eine Eigenschaft, wird man damit nicht allen Adjektiven gerecht, vor allem nicht einer Reihe von abgeleiteten Adjektiven, die in den romanischen Sprachen besonders häufig sind und die es so im Deutschen nicht gibt, z. B. frz. présidentiel ‚Präsidenten-ʻ, it. sp. planetario ‚Planeten-ʻ in voyage présidentiel ‚Reise des/eines Präsidenten‘, sistema planetario ‚Planetensys-
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tem‘. Hier wird etwas „Für-sich-Seiendes“ – président, planeta – zu etwas „An-etwasSeiendem“ in présidentiel und planetario gemacht. Présidentiel und planetario sind aber nicht in einem strengen Sinne eine Eigenschaft von voyage und sistema; man kann z. B. nicht sagen *il sistema è planetario, *le voyage est présidentiel, *el sistema es planetario. Kommen wir auf die Substantivität zurück und erwähnen wir einen möglichen Problemfall. Das außersprachlich Gegebene, das mit dem Adjektiv frz. vert, it. bianco, sp. blanco gestaltet wird, kann ebenfalls substantivisch erfasst werden durch frz. verdeur, it. bianchezza, sp. blancura. Mit dem Substantiv verdeur, bianchezza, blancura sieht man davon ab, dass die Farbe „an etwas dran“ ist; mit dem Substantiv verdeur, bianchezza, blancura erfasst man diese Farbe „für sich“ betrachtet. Formelhaft ausgedrückt können wir sagen: Verdeur, bianchezza, blancura erfasst etwas „Anetwas-Seiendes“ als „Für-Sich-Seiendes“. Weit mehr Schwierigkeiten bereitet es zu bestimmen, wie ein Verb die außersprachliche Wirklichkeit erfasst. Die beste universalistische Lösung, die man vorschlagen kann, ist die, in der Kategorie Verb eine Sachverhaltsdarstellung zu sehen. Wir können also grundsätzlich auf die Klassifikation zurückkommen, die wir oben (1.4.3) gegeben haben. Vergleichen wir die Adjektive frz. vert, it. bianco, sp. blanco mit den davon abgeleiteten Verben verdoyer (auch verdir), biancheggiare, blanquear wie deutsch grün – grünen. Verdoyer/verdir, biancheggiare, blanquear sind Sachverhalte, die man in der Wirklichkeit feststellt. Zwar stellt man diese Sachverhalte auch an etwas fest, aber eben nicht nur als „An-etwas-Seiendes“, sondern als Sachverhalte. Solche Sachverhalte können Zustände sein (it. giacere, sp. yacer ‚liegen‘), Vorgänge (verdoyer, biancheggiare, blanquear intr.), ein Tun (frz. sp. dormir, it. dormire), eine Handlung (frz. battre, sp. dar), eine Sprechhandlung (frz. parler, it. criticare, sp. preguntar). Die Arten von Sachverhalten kann man weiter analysieren. Natürlich ist es möglich, von einer verbalen Sachverhaltsdarstellung abzusehen und denselben Inhalt auch substantivisch zu erfassen, z. B. verdoyer als verdoiement, biancheggiare als biancheggiamento, blanquear als blanqueo. Ich habe bewusst davon abstrahiert, dass bei diesen Fällen von Wechsel der Wortkategorie Wortbildungsverfahren vorliegen (cf. 2.3.2). Die Inhalte der Wortbildungsverfahren, zu denen hier auch der Kategorienwechsel gehört, ändern jedoch nichts am grundsätzlichen Unterschied zwischen lexikalischer und kategorialer Bedeutung. Ein Adverb erfasst einen Ausschnitt aus der außersprachlichen Wirklichkeit als Modifizierung bzw. als Eigenschaft eines Sachverhalts, wie man vereinfachend sagen kann. Es versteht sich von selbst, dass diese Möglichkeit der Modifizierung am ehesten bei Adjektiven gegeben ist, z. B. bei lent − lentement, felice – felicemente, afectuoso – afectuosamente. (Wir können aber auch etwas, das sonst als Sachverhaltsdarstellung erfasst wird, als Modifizierung finden, z. B. reculer – à reculons. A reculons oder lentement sind natürlich nicht als Modifizierungen von reculer oder lent zu verstehen, sondern sie können Modifizierungen anderer Sachverhalte sein, z. B.
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Modifizierungen von marcher in marcher à reculons/lentement. Ebenso kann sonst substantivisch Erfasstes als Modifizierung erfasst werden, z. B. bocconi in it. dormire bocconi, ginocchioni in it. stare ginocchioni oder in ginocchioni, so auch sp. de rodillas ‚kniend‘.) Ein Umstand erschwert die Untersuchung der kategorialen Bedeutung von Wörtern und Wortgruppen. Es ist die Tatsache, dass die Wörter einer Sprache meist schon als Substantive, Adjektive, Verben und Adverbien im Wissen der Sprecher gespeichert sind und somit immer schon gleichzeitig mit der lexikalischen Bedeutung vorkommen. So ist arbre im Sprecherwissen ein lexikalischer Inhalt, der einen Ausschnitt der außersprachlichen Wirklichkeit bereits im Wortschatz als Substantiv erfasst, so dass es schwer ist, bei der Analyse den lexikalischen Inhalt von der Sub stantivität zu trennen. Es lässt sich dennoch zeigen, dass beides zu trennen ist, und zwar am besten am Beispiel des Substantivs. Prinzipiell kann nämlich jedes Wort und sogar jeder Ausdruck in der Rede (nur in der Rede; darin zeigt sich die Universalität der Wortkategorien) substantiviert, d. h. zu etwas „Für-sich-Seiendem“ gemacht werden. Diese generelle Substantivierung ist immer metasprachlich. Gerade in sprachwissenschaftlicher Redeweise muss vieles substantiviert werden, z. B. auch Laute wie frz. le d, it. il d, sp. el d, dt. das d wobei d dann ein Substantiv ist. Ebenso können dieselben Ausdrücke je nach Einzelsprache verschiedenen Wortkategorien angehören, z. B. sind sp. este – este, it. questo – questo, dt. dieser – dieser Adjektive und Substantive. Man kann den einen dieser beiden Ausdrücke als Substantivierung auffassen, z. B. este → este, was aber nicht der Annahme widerspricht, dass es sich hier um eine zweifache kategoriale Gestaltung handelt. Weitere Beispiele: frz. vieux – le vieux, it. vecchio – il vecchio, sp. viejo – el viejo, dt. alt – der Alte. Diese Übergänge zwischen den Wortkategorien, die „Konversionen“ genannt werden, sind in den Einzelsprachen verschieden, denn es sind je nach Einzelsprache mehr oder weniger Übergänge zulässig. Im Französischen sind es z. B. weniger als in den anderen romanischen Sprachen oder im Deutschen. Um welche Wortkategorie es im Diskurs geht, wird oft erst im Kontext durch weitere Bestimmungen klar.
Unterkategorien der Wortkategorien Genus und Geschlecht stehen in keinem einfachen Verhältnis zueinander. Männliches und weibliches Geschlecht haben nur Lebewesen. Bei vielen Tieren ist es aber nicht offensichtlich oder unbekannt. Und dass die Pflanzen sich geschlechtlich vermehren und in bestimmten Fällen als männliche oder weibliche Pflanzen auftreten, weiß man in der Biologie seit Carl von Linnés Systema naturae (1737), die Sprache „weiß“ davon jedoch nichts. Es ist demnach zu erwarten, dass die männlichen und weiblichen Lebewesen ihren Ausdruck im maskulinen und femininen Genus finden. Alle übrigen substantivisch ausgedrückten Entitäten werden entweder als Maskulina oder als Feminina klassifiziert, wenn eine Sprache diese beiden Genera aufweist, oder
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ferner als Neutra, wenn ein Genus für Entitäten ohne Geschlecht existiert wie im Lateinischen oder im Deutschen. Oder wir stellen fest, dass eine Sprache kein Genus hat wie das Englische, das Türkische oder das Quechua. Im Gegensatz zum Genus scheint der Numerus eine klar umrissene Kategorie zu sein. Beim Sprechen, so meinen wir, bezeichnen wir entweder einen einzelnen Gegenstand in der außersprachlichen Wirklichkeit oder aber eine Mehrzahl solcher außersprachlich gegebenen Gegenstände. Der Numerus scheint daher in universeller Hinsicht gut fundiert zu sein. Stellt man also in einer Sprache Singular und Plural fest, liegt es nahe, darin referentiell den Ausdruck der Einzahl und der Mehrzahl zu sehen (Meisterfeld 1998). Es gibt daneben noch den Dual und noch seltener den Trial, den Ausdruck von zwei und von drei Entitäten. Reste dieser Numeruskategorie findet man in lat. duo, duae, duo ‚zwei‘ und tres, tria ‚drei‘, die beide eine eigene Deklination haben. Der Kasus gibt das Verhältnis eines Substantivs oder einer anderen nominalen Form zu einem anderen Element im Satz an. Das Element im Satz ist insbesondere ein Verb, es kann aber auch ein Substantiv oder ein Adjektiv sein. Kasus wird es genannt, wenn es einen formalen Ausdruck durch Flexionsmorpheme erhält wie im Lateinischen und Deutschen. Tiefenkasus kann man dieses Verhältnis nennen, wenn man von „semantischen Rollen“ als universellen Bezeichnungskorrelaten von Substantiven ausgeht, wobei man dann von einem formalen Ausdruck in einer Einzelsprache absieht. Die Tiefenkasus gehören in den Bereich des Bezeichneten (1.4.1).
Bibliographischer Kommentar
Die aufgezeigten Zusammenhänge erfahren eine höchst unterschiedliche Behandlung in der traditionellen Grammatik und den Richtungen der neueren Sprachwissenschaft, wenn denn solche funktionellen Fragen überhaupt gestellt werden. Mit der Einteilung der Wörter in Redeteile (partes orationis) beginnt die Grammatiktradition, welche Sprache und Sprachwissenschaft nicht in eine angemessene Übereinstimmung gebracht hat. Es ist daher nicht zu empfehlen und es ist eigentlich auch nicht möglich, irgendeinem mainstream zu folgen, wenn es um den internen Zusammenhang der Sprache selbst geht. Für die Schwierigkeiten bei der Definition des Worts oder des Satzes haben schon Halliday 1961 oder im Rahmen der Tagmemik Cook 1969 und Coseriu 1978b durchaus vergleichbare Lösungen vorgeschlagen. Die Ebenen der sprachlichen Strukturierung haben Coseriu 2001a und Martín Cid 1998 in der ihnen eigenen Kohärenz aufzuarbeiten gesucht. Es ist wichtig, darauf zu insistieren, dass die Kategorisierungen und ihre Eigenschaften universelle Charakteristika von Sprache sind. Sie wurden deshalb an dieser Stelle behandelt. Die einzelsprachlichen Ausprägungen werden uns im 2. Kapitel beschäftigen.
1.4.5.2 Äußerungskategorien Eine Äußerung in dem Sinne, der hier gemeint ist, ist nicht die konkrete Äußerung, die im jeweiligen Sprechen von jedem Sprecher für sich realisiert wird. Damit sind noch keine Sprechhandlung und kein Sprechakt gemeint. Vielmehr ist dies jeder geäußerte Ausdruck, der als Resultat des Sprechens betrachtet werden kann oder vielleicht
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besser als mögliche Sprecheinheit. In den romanischen Sprachen kann man hier terminologisch genauer unterscheiden: frz. énonciation – énoncé; it. enunciazione – enunciato; sp. enunciación – enunciado (diese Wörter als Wörter der respektiven Sprachen können noch weitere Bedeutungen haben, die hier nicht in Betracht gezogen werden). In diesen Äußerungen stellt man unabhängig vom Sachverhalt, der dargestellt wird, und weitgehend auch unabhängig von der Form des Sprechakts in der individuellen Rede, der eine Bitte, eine Aufforderung, ein Gruß usw. sein kann, sehr allgemeine Inhalte fest, die kategorial sind. Auf die anderen Aspekte von Äußerungen und Sätzen werden wir später eingehen. Wir befassen uns jetzt nur mit einem Aspekt der Äußerung, die immer komplex ist, und sehen von den anderen Aspekten vorläufig ab. Im deutschen Kontext ist es vielleicht für die Einordnung des Problems hilfreich zu wissen, dass man in der Germanistik diese Äußerungskategorien Satzarten, Satztypen, Satzmodalitäten oder Satzmodi nennt. Ich kann mich hier nicht kritisch mit den unterschiedlichen Auffassungen auseinandersetzen. Meine wichtigsten Einwände (die aber nicht alle Auffassungen betreffen) sind drei: 1) Die Satzarten usw. werden im Allgemeinen nicht universell, sondern einzelsprachlich abgegrenzt bzw. „definiert“. 2) Die Satzarten werden unter dem Gesichtspunkt der Form betrachtet. 3) Es geht nicht um Sätze, sondern um Typen von Äußerungen (cf. ausführlicher zu den Äußerungskategorien Lüdtke 1986 und 1988). Nehmen wir – in Abwandlung des Satzes “Mis à part les parents, nous choisissons entre nos cousins, même entre nos frères et sœurs, ceux que nous voulons garder” („Von den Eltern abgesehen, wählen wir unter unseren Vettern, sogar unter unseren Geschwistern, diejenigen aus, die wir behalten wollen“) aus den Mémoires von Raymond Aron (1983: 15) – eine Reihe von Äußerungen, bei denen anzunehmen ist, dass der Unterschied zwischen ihnen in einem im Einzelnen noch zu klärenden Sinne kategorial ist: (1) (2) (3) (4) (5)
“Nous choisissons entre nos cousins ceux que nous voulons garder.” “Nous choisissons entre nos cousins ceux que nous voulons garder!” “Choisissons-nous entre nos cousins ceux que nous voulons garder?” “Choisissons entre nos cousins ceux que nous voulons garder!” “Si nous choisissions entre nos cousins ceux que nous voulons garder!”
Zu (1): Die in der ersten Äußerung enthaltene Kategorie werden wir Assertiv nennen, der Terminus sei konventionell. Im Rahmen der Analyse des Satzes wird ein solcher Satz verschiedentlich auch Deklarativsatz oder affirmativer Satz und im Deutschen meist Aussagesatz genannt. Ein solcher Satz gilt als der Normalfall eines Satzes bzw. einer Äußerung. Wenn die Satzsyntax einer Sprache dargestellt wird, behandelt man fast ausschließlich Assertivsätze. In einem Assertivsatz wird ein Sachverhalt dargestellt. Der Sprecher stellt einen Sachverhalt in einer Äußerung dar mit der Perspektive, als würde er sagen: „So ist es.“ Es ist dabei gleichgültig, ob eine Äußerung in einem logischen Sinne wahr oder falsch ist. Zunächst einmal stellt jede assertive Äußerung
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dar, sei es etwas aus der Welt, in der wir leben, sei es etwas aus einer möglichen Welt wie in der Fiktion des Märchens, des Traums oder der Dichtung. Immer stellt ein Sprecher einen Sachverhalt so dar, als sei er sich seiner Existenz gewiss, als „sei etwas der Fall“ (wie andere Linguisten mit einem Ausdruck von Ludwig Wittgenstein (1960) sagen würden). In einer assertiven Äußerung wird im Grunde die objektive Dimension der Sprache dargestellt; auch der Bezug auf den Hörer und auf den Sprecher kann in dieser Weise „objektiv“ dargestellt werden, z. B. in Ich frage dich lieber nicht, was du heute gemacht hast. Diese Berücksichtigung der objektiven (cf. 1.2.3) und der subjektiven (cf. 1.2.2) Dimension der Sprache ist insofern von Belang, als alle Äußerungskriterien außer dem Assertiv der subjektiven Dimension angehören. Der Bezug auf den Sprecher, auf den Hörer oder auf Sprecher und Hörer zusammen wird aber im Wesentlichen nur kategorial ausgedrückt. Wegen der Allgemeinheit der kategorialen Bedeutung sind die durch sie ausgedrückten sprachlichen Unterschiede schwer fassbar. Zu (2): Dies lässt sich bereits am zweiten Äußerungstyp zeigen. Darin ist dieselbe Sachverhaltsdarstellung enthalten wie im ersten, aber es geht nun nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich um diese Sachverhaltsdarstellung, sondern um mehr, und dieses „mehr“ kommt durch die Intonation zum Ausdruck. Mit einem solchen Satz wird nicht mehr nur gesagt: „So ist es“, sondern der Sprecher nimmt, ausgedrückt durch die Intonation, Stellung dazu, dass es so ist. Äußerungen dieses Typs enthalten immer etwas, das vorausgesetzt (präsupponiert) wird. In diesem Fall ist es der im Satz dargestellte Sachverhalt, und eine Stellungnahme des Sprechers dazu („Aber sicher ist es so!“). Das Präsupponierte (oder auch: die Präsupposition) und die Stellungnahme des Sprechers dazu lassen viele Möglichkeiten zu. So muss das Präsupponierte keine Sachverhaltsdarstellung sein, sondern es kann in der Situation enthalten sein wie in frz. Aïe! „Au(a)!“ Und die Stellungnahme des Sprechers kann außer in der Emphase wie in unserem Beispiel in einer Verwunderung, Bewunderung, Entrüstung, Verwünschung, in einem Lob und vielem anderen mehr bestehen. Dies sind aber alles Bedeutungen, die man im Diskurs feststellt. Kategorial ist hieran nur die Stellungnahme eines Sprechers zu etwas Präsupponiertem. Solche Äußerungen nenne ich Exklamative; nicht Ausrufesätze, obwohl dies etymologisch dasselbe bedeutet wie Exklamativsätze. Durch das Fremdwort soll zum Ausdruck kommen, dass es um einen Fachausdruck geht und dass nicht eine Art und Weise des Redens wie Ausrufen, Flüstern, Brüllen gemeint ist, sondern eine kategoriale Bedeutung, die durch viele Arten und Weisen des Redens zum Ausdruck gebracht werden kann, nicht nur durch Ausrufe. Wenn diese kategoriale Bedeutung an eine bestimmte Art und Weise des Redens gebunden wäre, könnte man keinen Unterschied zu unserem fünften Fall feststellen (cf. Lüdtke 1988), dem Optativ. Zu (3): Der dritte Äußerungstyp ist ein Interrogativ. Man sollte es vermeiden, hier im Deutschen von Fragesatz zu sprechen, da diese kategoriale Bedeutung mehr Realisierungen zulässt als nur Fragen; z. B. auch höfliche Bitten, Drohungen und anderes. Dennoch ist natürlich der typische Interrogativ ein Fragesatz. Die kategoriale Bedeutung hat zwei Komponenten, eine „subjektive“ (bzw. intersubjektive), die
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darin besteht, dass ein Sprecher sich an einen Hörer richtet, und eine „objektive“ Komponente, die darin besteht, dass der Sprecher im Zweifel über die Existenz von etwas ist oder dass er nicht weiß, ob der Sachverhalt besteht (es sind hier mehrere konvergierende Formulierungen möglich). Zu (4): Der vierte Äußerungstyp ist ein Imperativ. Im Imperativ verlangt ein Sprecher vom Hörer, dass ein Sachverhalt durch ihn eintrete. Wichtig ist hierbei, dass niemand anders als der Angesprochene einem Sachverhalt Existenz verleiht. In unserem Beispielsatz fällt der Sprecher mit dem Hörer zusammen, was prinzipiell immer möglich ist, wenn Sprecher und Hörer gleichzeitig impliziert sind. Zu (5): Der fünfte Äußerungstyp ist ein Optativ. Seine kategoriale Bedeutung ist besonders komplex. Manche Linguisten lassen ihn auch mit dem Exklamativ zusammenfallen, mit dem er durchaus Gemeinsamkeiten hat. So enthält ein Optativ (wie ein Exklamativ) eine Stellungnahme eines Sprechers zu etwas, das präsupponiert wird. Während aber im Exklamativ die Existenz eines Sachverhalts präsupponiert wird, präsupponiert ein Sprecher mit dem Optativ gerade die (Noch-)Nicht-Existenz eines Sachverhalts. Die Nicht-Existenz des Sachverhalts ist das Merkmal, das den Optativ vom Exklamativ unterscheidet. Dass sich die Stellungnahme des Sprechers zu einem noch nicht existierenden Sachverhalt als Wunsch äußert, ergibt sich einfach aus seiner Nicht-Existenz und daraus, dass man seine Realisierung eben (in der Stellungnahme) nur wünschen kann: Ach ja! Oder negativ: Bloß nicht! Mit diesen fünf Äußerungskategorien scheint die Liste der Kategorien vollständig zu sein. In den romanischen Sprachen jedenfalls werden sich nicht mehr feststellen lassen. Es ist jedoch durchaus möglich, dass es Sprachen gibt, die mehr Kategorien zur Gestaltung einer Äußerung haben als diese fünf. Zwei Kommentare muss ich hier noch anschließen. Der eine betrifft den Vokativ, der andere den Modus. Für die Äußerungskategorien der subjektiven Dimension hatte das Lateinische, wenn die Äußerung aus einem Substantiv bestand, einen besonderen Kasus, den Vokativ: amice, domine. Typischerweise wurde der Vokativ im Imperativ verwendet, wie es bei der Anrede der Fall ist. Die Anrede ist eine Aufforderung an den Angesprochenen, dem Sprecher seine Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Vokativ ist im Rumänischen erhalten geblieben und er ist bisweilen formal eindeutig gekennzeichnet: z. B. Ioane! ‚Hans!‘ (als Vokativ von Ion). Der Kommentar zum Modus betrifft die Verwechslungsmöglichkeit zwischen Äußerungskategorie und Modus. Eine Verwechslung ist besonders leicht zwischen Imperativ als Äußerungskategorie und Imperativ als Modus. Im Altgriechischen ist der Optativ ferner auch ein Modus und müsste ebenfalls vom Optativ als Äußerungskategorie unterschieden werden. Beides hängt natürlich miteinander zusammen, muss aber dennoch voneinander getrennt werden. Die hier gemeinten Kategorien betreffen den ganzen Satz bzw. die ganze Äußerung. Wenn aber eine Äußerung ein Verb enthält, werden die Kategorien, die den ganzen Satz betreffen, typischerweise am Verb ausgedrückt, so Tempus, Person und Modus. Modus und Äußerungskategorie fallen aber nicht zusammen, was man an einer Äußerung wie Ioane! sieht, die ein
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1 Das Sprechen im Allgemeinen
Imperativ sein kann, ohne den Modus Imperativ zu enthalten. Die Äußerungskategorien sind deshalb besonders interessant, weil sie zum einen grundlegend sind und zum anderen nicht immer in angemessener Weise berücksichtigt wurden. Das Problem besteht darin, dass Äußerungen auf eine sehr allgemeine Art und Weise kategorial gestaltet sind, dass man jedoch dieses Wie der Gestaltung nicht ohne weiteres feststellen kann. Was bei einer Untersuchung als Erstes auffällt, sind bestimmte Formen. Wenn man aber konsequent von den Formen ausgehen will, stellt man fest, dass man zu keinen eindeutigen Lösungen bei der Zuordnung von Formen zu Inhalten kommt. Die Formen des Interrogativs, um ein Beispiel zu geben, sind nicht nur ihm eigen. Die Pronomina dienen sowohl interrogativen wie exklamativen Funktionen. Das Problem wird noch schwerer zu bewältigen, wenn man sieht, dass ein Interrogativ als Aufforderung verwendet werden kann: Frz. “Veux-tu te taire?ˮ − ‚Wirst du wohl den Mund halten?‘ Die Interpretation als Aufforderung ergibt sich aus einer fallenden Intonationskurve, die man graphisch auch mit einem Ausrufungszeichen markieren kann. Die kategoriale Bedeutung einer Äußerung im Allgemeinen und eines Satzes im Besonderen besteht in der allgemeinsten Art und Weise der Gestaltung von sprachlichem Inhalt. Diese Gestaltung fällt nicht unbedingt mit einer bestimmten formalen Gestaltung in einer Sprache zusammen. Deshalb kann man ihrer Beschreibung auch nicht die Formen zugrunde legen, sondern man sollte die formalen Realisierungen erst nach der Erfassung der Kategorie beschreiben, selbst wenn diese Erfassung vorläufig ist. Von der Realität solcher Kategorien kann man sich aber dadurch überzeugen, dass man dieselben Kategorien in verschiedenen Sprachen feststellt. Dies darf als der beste Beweis ihres übereinzelsprachlichen und in diesem Falle insbesondere universellen Charakters angesehen werden. Wir kommen zu den am Anfang dieses Abschnitts besprochenen Sprechakten und auf die Notwendigkeit ihrer Trennung von den Äußerungskategorien zurück. Die Unterscheidung selbst hatten wir damit begründet, dass eine Äußerungskategorie durch verschiedene Sprechakte ausgedrückt werden kann. Die Sprechakte werden wir besprechen, wenn wir uns dem Diskurs zuwenden und dem Sinn, der sich im Diskurs entfaltet (3.9, 3.11). Aus universeller Sicht sind Äußerungskategorien mit ganzen Familien von Sprechakten assoziiert. Ein je individueller Sprechakt unter den bei einer solchen Kategorie möglichen Sprechakten wird beim jedesmaligen Sprechen vollzogen. Eine Äußerung wie frz. “Entrez!” – ‚Herein!‘ oder “Retournez chez vous!” – ‚Gehen Sie doch wieder nach Hause!‘ ist je nach Sprechsituation als Aufforderung, Erlaubnis, Weisung usw. gemeint. Generisch gesehen ist eine Äußerungskategorie mit einem Sprechaktpotential verbunden, das sich in spezifischen Sprechakten realisiert. Die Sprechakte haben universelle, einzelsprachliche sowie individuelle und diskursive Aspekte, die in der Regel nicht von einander getrennt werden. Das gilt besonders für den Unterschied zwischen dem Universellen und dem Individuellen des Diskurses.
2 Die Einzelsprache ‚Die Sprache eines Volks ist ein künstliches Zeichensystem, das sich in vielerlei Hinsicht von den anderen Systemen derselben Art unterscheidet. Daraus folgt, dass jede Sprache ihre eigene Theorie, ihre Grammatik hat. Wir dürfen daher nicht die Prinzipien, die Termini, die Regelmäßigkeiten, mit denen recht oder schlecht der Gebrauch einer Einzelsprache erfasst wird, ohne Unterschied auf den Gebrauch einer anderen anwenden. Ebendieses Wort Einzelsprache [idioma] meint, dass jede Sprache ihren Geist, ihre Physiognomie, ihre Wendungen hat. Und schlecht würde derjenige Grammatiker seine Aufgabe erfüllen, der sich bei der Erklärung seiner Sprache auf das beschränkte, was sie mit einer anderen gemeinsam hätte, oder der, was noch schlimmer wäre, dort Ähnlichkeiten annähme, wo es bloße Unterschiede und zwar wichtige, radikale Unterschiede gäbe‘ (Bello 1981: 123–124; 11847; meine Übersetzung). “Languages differ essentially in what they must convey and not in what they may convey” (Jakobson 1959: 236).
2.1 Vorüberlegungen Bevor wir einen Überblick über die wichtigsten Bereiche einer Einzelsprache geben, müssen wir einige Vorüberlegungen zu den Perspektiven anstellen, aus denen man eine Einzelsprache betrachten kann. Dabei ist an die drei sprachlichen Ebenen zu erinnern, unter denen wir uns im Weiteren mit der Einzelsprache und der Verwendung einer Einzelsprache im Diskurs befassen. Einzelsprache und Diskurs sind von Saussure mit den Termini langue und parole eingeführt worden, wenn auch in anderer Weise, als diese Termini hier verwendet werden (cf. 1.). Bei der Einzelsprache unterscheiden wir die historische Sprache und die funktionelle Sprache bzw. Varietät, wobei „Sprache“ als „Einzelsprache“ zu verstehen ist. Historische Sprache und funktionelle Sprache sind als Gegenstände der einzelsprachlichen Linguistik einander diametral entgegengesetzt. Die historische Sprache umfasst alle Arten von sprachlichen Verschiedenheiten, die durch das Schaffen von Sprache im Sprechen auf natürliche Weise entstehen. Eine funktionelle Sprache wird so genannt, weil sie im jeweiligen Moment des Sprechens funktioniert. Das schließt ein, dass sie von Moment zu Moment verschieden sein kann. Die folgenden Vorüberlegungen betreffen in der Hauptsache die Methoden der sprachwissenschaftlichen Untersuchung. Mitten in diesen Vorüberlegungen finden sich Ausführungen zur Theorie des sprachlichen Zeichens, weil ohne ein Minimum an Klärung von Methodenfragen die theoretischen Probleme des sprachlichen Zeichens nicht plausibel gemacht werden können.
https://doi.org/10.1515/9783110476651-002
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2 Die Einzelsprache
2.1.1 Homogenität „Einzelsprache“ kann als eine homogene Sprache verstanden werden wie in Saussures Äußerungen zum Systemcharakter der langue, z. B. in “la langue est un système qui ne connaît que son ordre propre” (‚die langue ist ein System, das nur seine eigene Ordnung kennt‘, 1916: 43). Aber auch ohne diesen besonderen Begriff von Einzelsprache, der bei Saussure den eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft begründen sollte, kommt man einer als homogen begriffenen Sprache in den von den Schulen gelehrten präskriptiven Normen der Einzelsprachen sehr nahe. Kategorische Zurückweisungen von Äußerungen durch Begründungen wie „Das ist kein Deutsch!“ verweisen auf normative Vorstellungen von einer Einzelsprache, darunter auf Annahmen über sprachliche Korrektheit. Zu einer präskriptiven Norm gelangt man in einer Sprachgemeinschaft durch bewusste Eliminierung von sprachlicher Variation (wodurch aber die sprachliche Variation als solche in einer Sprachgemeinschaft nicht beseitigt wird). Die Annahme, dass eine Sprache homogen ist, braucht eine Begründung. Diese Annahme erscheint als hypostasierte, d. h. als tatsächlich vorhanden unterstellte homogene Sprache und zwar in dreierlei Gestalt: als unterstellte Homogenität im Sprecherwissen, als Schaffung von Homogenität in der Standardsprache und als intentionale Schaffung von Homogenität in der Sprachbeschreibung. Die Frage ist dabei zunächst, welches der Ort der jeweiligen homogenen Sprache ist. Kommen wir zur ersten Art von Homogenität, zur Annahme der Sprecher, dass ihre Sprache einheitlich sei. Dieses angebliche Wissen von einer Sprache, das ein Sprecher schlichtweg voraussetzt, müssen wir durchaus wieder zurückgewinnen, weil dadurch unsere Auffassung von der dritten Art von Homogenität (der einheitlich konzipierten Sprachbeschreibung, wie sie in der Sprache als System erscheint) verschüttet wird. Denn die Erkenntnis, dass wir „mit dem, was die deskriptive Grammatik eine Sprache nennt, mit der Zusammenfassung des Usuellen, überhaupt gar nicht rechnen dürfen als einer Abstraktion, die keine reale Existenz hat“, wie Paul in seinen Prinzipien der Sprachgeschichte (61960/11880:) betont, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts, auch in der Folge Saussures, lange Zeit verloren gegangen und muss immer wieder neu entdeckt werden. Eine Sprache, die die „Zusammenfassung des Usuellen“ ist, mag „keine reale Existenz“ haben, wohl aber eine Einzelsprache, die in ihrer relativen Systemhaftigkeit und ihren Realisierungsnormen im sprachlichen Wissen der Sprecher verankert ist. Die Einzelsprache erscheint dem Sprecher normalerweise als statisch und einheitlich. Diese Annahme teilt ein Sprecher mit seiner Sprachgemeinschaft. Ihren sinnfälligsten Ausdruck findet sie in einem Sprachennamen, der sich auf eine unterschiedliche regionale und soziale Reichweite einer Sprache beziehen kann. Am ehesten, so sollte man erwarten, könnte man die Sprachennamen in einem Sprachatlas finden, aber leider wird von den Exploratoren nicht immer danach gefragt. Der Atlas lingüístico-etnográfico de las Islas Canarias (ALEICan) hat jedoch die Frage nach dem “Nombre del habla local según los informantes” (,Name, den die Informanten
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der Ortssprache geben‘) in seinen Fragebogen aufgenommen. Wir erfahren auf diese Weise, dass man auf allen Kanarischen Inseln außer El Hierro die Sprache entweder español oder castellano nennt. Am meisten wird die Sprache also einfach mit ihrem allgemeinen, nicht mit einem örtlich begrenzt verwendeten Namen benannt. Je nach Insel werden auch noch weitere Sprachennamen angegeben, auf Gran Canaria etwa canario, auf Fuerteventura majorero. Die befragten Bewohner von El Hierro jedoch nennen ihre Sprache alle herreño. Mit dem Namen, den die Sprecher ihrer Sprache geben, identifizieren sie demnach zwei verschiedene Räume, entweder den gesamten spanischen Sprachraum oder einen räumlich begrenzten, d. h. im zweiten Fall bezieht sich der Name jeweils nur auf eine einzige Kanarische Insel. Man sollte hier unbedingt noch einmal zwischen Einzelsprache und Diskurs unterscheiden und den Diskurs als Verwendung von einer oder von mehreren Varietäten ansehen. Es kann dabei Variation dadurch zustande kommen, dass ein Diskurs eine Einzelsprache mit Entlehnungen aus vielen anderen Varietäten realisiert. Eine als relativ homogen zu denkende Einzelsprache ist vor jeder sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr, wie wir soeben bei der hypostasierten Einzelsprache hervorgehoben haben, im Sprachbewusstsein der Sprecher gegeben. Ein an sich schon Einheitlichkeit unterstellendes Sprechen liegt in Sprecherurteilen über sprachliche Korrektheit vor, in denen das Wissen über eine Sprache und ihr System partiell explizit gemacht wird. Die zweite Art von Homogenität liegt in den Standardsprachen vor. Standardsprachen sind in geschichtlicher Hinsicht nicht ursprünglich einheitlich. Im Gegenteil, sie nehmen in der Regel Elemente aus anderen Dialekten und Sprachen auf, so dass sie, was die „lautgesetzliche“ Entwicklung angeht, oft gerade nicht als homogen zu betrachten sind. „Einheitlich“ ist hier als relative interne Einheitlichkeit zu verstehen, als geringe innersprachliche Variation. In der Romania haben sich Sprachen in einem Prozess der Vereinheitlichung als Standardsprachen herausgebildet, die durch Grammatiker und Sprachplaner normiert und verbreitet wurden. In Werken von Autoren erhalten sie exemplarischen Charakter. Sie werden durch die Schule zur Nachahmung im täglichen Gebrauch gelehrt. Verwendet man diese Standardsprachen bei bestimmten Anlässen nicht, hat man mit Sanktionen zu rechnen. Die Standardsprachen sind zwar nicht völlig homogen; als Schriftsprachen werden sie jedoch in kanonischer Verwendung relativ einheitlich realisiert. Aber auch ein anderer Gesichtspunkt spricht für die Umkehrung in der Behandlung von sprachlicher Heterogenität und sprachlicher Homogenität: Die Reichweite der Standardsprachen grenzt in der Regel in der Romania eine historische Sprache von der anderen ab. Und die Sprecher sind sich vor allem der geschriebenen Standardsprache bewusst, die ihnen zum Maßstab der Unterordnung anderer mehr oder weniger homogener Sprachen unter eine historische Sprache geworden sind. Ein besonders erhellendes Beispiel bietet die Entwicklung der französischen Sprachnorm. In einer entscheidenden Phase der Geschichte des Französischen grenzt der französische Grammatiker und Lexikograph Claude Favre de Vaugelas 1647 in
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seinen Remarques sur la langue française den „richtigen Sprachgebrauch“ auf “la façon de parler de la plus saine partie de la Cour conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Autheurs du temps” ein (auf ‚die Art und Weise, wie der gesündere Teil des Hofes in Übereinstimmung mit der Art und Weise spricht, wie der gesündere Teil der zeitgenössischen Autoren schreibt‘, Vaugelas 2009: 68). Regional wird der Sprachgebrauch auf Paris eingegrenzt und sozial auf einen Teil des Hofs, insofern dieser sich so richtig und gut auszudrücken versteht wie die besten zeitgenössischen Schriftsteller. Wer so schreibt – und dies ist für alle präskriptiven Grammatiker festzustellen –, schließt aus der Norm den mehrheitlichen Sprachgebrauch aus. Eine dritte Art von Homogenität finden wir in der Beschreibung der Standardsprache vor, die präskriptiv oder deskriptiv sein kann. Die soziale Relevanz der Sprachbeschreibung drückt sich in der Forderung nach Einhaltung ihrer Regeln in ihrer Verwendung aus, besonders in ihrer schriftlichen und ihrer formellen Verwendung. Der monolithische Charakter der Standardsprache ist in den verschiedenen Sprachgemeinschaften sehr unterschiedlich ausgeprägt und die Norm ist in unterschiedlicher Weise verbindlich. Die Einhaltung der Sprachnorm wird von manchen sprachnormativen Instanzen sehr streng eingefordert. In Frankreich besteht man im Schulwesen und in der Gemeinschaft insgesamt besonders strikt auf der standardsprachlichen Norm, der “langue correcte”. Die dritte Art von Homogenität wird ebenfalls intentional von Grammatikern und ganz allgemein von Sprachwissenschaftlern geschaffen. Sie ist ein Erfordernis der Sprachbeschreibung, bei der von der Variation abgesehen wird. Wenn die Variation Berücksichtigung findet, ist sie in dieser Perspektive der auf Homogenität reduzierten Sprache nachgeordnet. Die einzelsprachliche Betrachtung, wie sie in Sprachbeschreibungen angewandt wird, setzt einige Reduktionen voraus. Für die Sprachbeschreibung ist eine Technik nötig. Für die Anwendung dieser Technik muss klar sein, wie der Gegenstand Sprache beschaffen ist, damit sie anwendbar ist. Der zentrale Bereich einer Einzelsprache besteht in Strukturen. Daraus legitimiert sich, wie bereits lange vor dem Strukturalismus, der sich dann auch so nannte, eine strukturalistische Sprachbetrachtung, die heute weiter betrieben wird, ohne dass sie sich immer so nennt, weil es vielen eben nicht opportun erscheint. Im Kernbereich ist Sprachbeschreibung jedoch nichts anderes. Wenn man also Strukturen beschreibt, sollte man seine Beschreibung weiterhin strukturalistisch nennen. Da wir aus beschreibungstechnischen Gründen eine erhebliche Reduktion von Sprache vornehmen müssen, die wir im Kapitel zur Variation (2.4) zum Teil wieder zurückgewinnen, werden wir die Strukturen nicht für das Ganze einer Einzelsprache halten und uns eine Integration in größere oder einfach in andere Zusammenhänge vorbehalten. Die Reduktionen, die in einer Sprachbeschreibung vorgenommen werden, haben eine technische Motivation. Sie sollen nur beschreibungstechnisch diejenige Sprache erfassen, die an der jeweiligen Stelle eines Diskurses funktioniert und die wegen dieses Funktionierens im Diskurs funktionelle Sprache genannt wird. Legt man einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung den Diskurs zugrunde, so stellt man kaum
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sprachliche Homogenität fest, denn im Diskurs setzt ein Sprecher mehrere funktionelle Sprachen ein. Der Diskurs ist somit der Ort, von dem aus man verschiedene Wege gehen kann: Nimmt man sich die Beschreibung einer Einzelsprache vor, wird man, im Allgemeinen mit relativ geringer Strenge, eine Einzelsprache als homogene Sprache darstellen (cf. 2.2 und 2.3); sieht man es dagegen als seine Aufgabe an, die Variation des Diskurses zu begründen, wird man eine Einzelsprache als ein Gefüge von funktionellen Sprachen betrachten müssen, die im Diskurs eines Sprechers und offensichtlicher noch bei mehreren Sprechern als „Kontinuum“ auftreten (cf. 2.4).
2.1.2 Einzelsprache und historische Sprache Die Einzelsprachen werden im Alten Testament als Sprachenvielfalt eingeführt und diese als Strafe Gottes angesehen, denn auf den Turmbau zu Babel folgte die Sprachenverwirrung (1. Mose 11). Bloß ein biblischer Mythos, mag man heute meinen. Das wäre voreilig. Immerhin ist der Babel-Mythos der Versuch einer Erklärung der sprachlichen Verschiedenheit und damit der Existenz von Einzelsprachen. Dagegen gibt es in der modernen Sprachwissenschaft durchaus Richtungen, die sich nicht die Frage nach der sprachlichen Verschiedenheit stellen. Was schon der Mythos als Problem gesehen hat, sollen wir auch heute des Nachdenkens für wert halten. Da die Perspektive, unter der wir alles Weitere sehen werden, in der Hauptsache die der Einzelsprache ist, fragen wir uns vor allem anderen, was zu einer Einzelsprache wie Französisch, Italienisch oder Spanisch gehört. Diese Perspektive schließt die Betrachtung des Sprechens im Allgemeinen ein, d. h. dessen, was jede Einzelsprache kennzeichnet. Der gewählte Gesichtspunkt ist nicht der einzig mögliche und nicht der einzig sinnvolle. Wenn wir aber die Verschiedenheit der Einzelsprachen und ihre Historizität zugrundelegen, die bei Fremdsprachenphilologien mit guten Gründen im Vordergrund steht, muss man Sprache eben aus der Perspektive der Einzelsprache betrachten. Aus dieser Tatsache kann man den Grund dafür ableiten, dass Einführungen in die Sprachwissenschaft (cf. die Angaben hier am Ende von 2.1.2) in der Regel Einführungen in die wissenschaftliche Betrachtung von Einzelsprachen sind. Eine Einzelsprache selbst umfasst als historische Sprache nun aber mehr als die relativ homogene Sprachnorm, sie umfasst auch die Standardsprache bis zu denjenigen regionalen Ausprägungen, die man im Deutschen „Umgangssprache“ nennt, sowie vor allem die Dialekte, die die Sprecher einer Sprache zuordnen, die Soziolekte und die je nach Redeanlass unterschiedlichen Sprachstile (2.4.2). Alle diese Erscheinungsformen, unter denen eine Einzelsprache auftritt, kann man wiederum unter dem Gesichtspunkt der Homogenität betrachten. Ein terminologisches und begriffliches Problem ist es nun, dass man sowohl eine Standardsprache und innerhalb der Standardsprache ihre präskriptive Norm mit denselben Eigennamen belegt wie diejenige Einzelsprache, die alles umfasst, was über-
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haupt mit einem Eigennamen wie Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch usw. benannt wird. So gehört zum Französischen nicht nur der Sprachgebrauch, der in den Grammatiken und Wörterbüchern des Normfranzösischen erfasst wird, sondern auch Dialekte wie das Pikardische oder Wallonische und zum Italienischen die gesamte Vielfalt seiner – im Gegensatz zum Französischen – noch lebendigen Mundarten. Erstaunlicherweise haben die meisten Sprachwissenschaftler für diese allgemeine Differenzierung keine eindeutigen Termini, wenn man von Eigennamen wie Französisch, Rumänisch, Katalanisch usw. absieht. Eine ganz klare Differenzierung dieser beiden Begriffe von Einzelsprache wird von Coseriu vertreten. Die Einzelsprache wird von ihm unter dem Gesichtspunkt der Homogenität, in einer kritischen Radikalisierung des Saussureschen Begriffs der langue, von ihm funktionelle Sprache (Coseriu 1981: 13–14) genannt, da in ihr die für ihr Funktionieren relevanten Unterschiede gemacht werden. Diejenige Einzelsprache dagegen, die alles einschließt, was überhaupt mit einem Eigennamen für eine Sprache benannt wird, nennt er historische Sprache. Diesen der Sprecherperspektive entsprechenden Begriff legen wir der Abgrenzung der romanischen Sprachen zugrunde (5.0.3). In den Einzelsprachen ist die Geschichtlichkeit von Sprache par excellence gegeben. Aus diesem Grunde werden sie, wenn sie in allen ihren Varietäten und in ihrer ganzen Variation betrachtet werden, hier „historische Sprachen“ genannt. Der Ausdruck “lingua storica” oder “lingue storiche” ist in der italienischen Sprachwissenschaft schon früher belegt. So verwendet etwa Terracini “lingue storiche” in einem spezifischeren Kontext: Es sind diejenigen Sprachen, die geschichtlich dokumentiert sind, im Gegensatz zu denjenigen Sprachen, zu denen ein Sprachwissenschaftler nur einen ,paläontologischen‘ Zugang hat, weil er sie, da er sie nicht dokumentiert vorfindet, rekonstruieren muss (Terracini 1949: 133; cf. “personalità storica della lingua” in Terracini 1957: 213). Der Name bietet sich aber auch für den Fall an, dass Sprecher ein Bewusstsein von ihrer geschichtlich gewordenen sprachlichen Individualität haben, die sie mit einem Sprachennamen belegen. In dieser weiten Fassung des Begriffs ist natürlich enthalten, dass „historische Sprache“ nicht nur schriftlich dokumentierte Sprache meinen kann. Zu einem Terminus hat diesen Ausdruck Coseriu in seinem Beitrag von 1981 gemacht, der auf den italienischen Entstehungkontext verweist. Der Begriff der historischen Sprache ist notwendig. Manche Linguisten merken, dass ihnen ein Terminus dafür fehlt, und müssen dann zu Umschreibungen greifen, so Gadet, wenn sie schreibt: “Les différents locuteurs d’une même communauté linguistique n’ont pas tous, ni toujours, exactement les mêmes usages: les langues manifestent de la variation et du changement, et le constat de l’hétérogène est coextensif à la notion de langue” (‚Die verschiedenen Sprecher ein und derselben Sprachgemeinschaft verwenden die Sprachen weder alle noch immer auf dieselbe Weise: Die Sprachen weisen Variation und Wandel auf, und die Feststellung des Heterogenen läuft auf dasselbe wie der Begriff der Sprache hinaus‘, 1989: 7). Zu “langue” führt sie dann in einer Anmerkung aus: “Nous prenons ici ‘langue’ dans son sens le plus large, sans en faire un concept à opposer à parole ou à
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discours. Sans que, selon nous, ceci doive s’interpréter comme prise de position antisaussurienne, ou antilinguistique théorique” (‚Wir nehmen langue hier in seiner weitesten Bedeutung, ohne daraus einen Begriff zu machen, der in Opposition zu parole oder discours stünde, und auch ohne dass dies unserer Meinung nach als Stellungnahme gegen Saussure oder gegen eine Sprachtheorie zu verstehen wäre‘, 1989: 7).
Beim Lesen der meisten sprachwissenschaftlichen Schriften könnte man den Eindruck gewinnen, dass es die Einzelsprache auf der einen Seite und die Variation auf der anderen Seite gibt. Dies ist gewiss unrichtig. Die Einzelsprache als funktionelle Sprache oder als langue im Sinne Saussures entspricht nur einem Teil unseres einzelsprachlichen Wissens. Dieses enthält immer schon die Variation. Eine konkret existierende Sprache ist als variierende Einzelsprache gegeben. Die Einführung des Terminus historische Sprache hat den Zweck, zu einer möglichst vollständigen Erfassung einer Einzelsprache zu einer bestimmten Zeit und in ihrem Werden zu gelangen. Dabei verfolge ich die Absicht, mit diesem Terminus das implizite Wissen der Sprecher zu verdeutlichen. Die Frage ist, in welcher Weise das Wissen um die Existenz einer historischen Sprache (Coseriu 1981: 12) dem Wissen der Sprecher entspricht oder in welchem Maße dies nicht der Fall ist. Also: Wie ordnet jemand das, was er spricht, in einen größeren Zusammenhang ein? Fasst er das, was er spricht, einfach als Deutsch, Französisch, Spanisch oder Italienisch auf und nennt es dann auch so oder ordnet er es als Mundart oder Dialekt oder sonstwie einer mit einem Eigennamen benannten Einzelsprache wie Deutsch, Französisch, Italienisch oder Spanisch zu? Wenn jemand am Ende dieses Klärungsprozesses das, was er spricht, mit „Deutsch“ zusammengefasst, so hat er es auf den Begriff gebracht. Für diese Zusammenfassung von verschiedenen Manifestationen des Deutschen – das ist in diesem konkreten Fall der „Begriff“ – verwenden wir hier als allgemeinen Terminus in diesem und in allen ähnlichen Fällen historische Sprache. Die hierbei letztlich entscheidende Frage ist nicht, wie Coseriu oder jemand anders historische Sprache definiert, ob ich diesen Terminus richtig oder falsch verwende oder ob er in der internationalen Forschung anerkannt ist, sondern ob der Begriff einem (impliziten) Wissen der Sprecher entspricht oder nicht. Natürlich sind die anderen aufgeworfenen Fragen durchaus nicht unwichtig, sie sind aber alle nachgeordnet. Es ist nun misslich, in ähnlichen Kontexten eine mehr oder weniger homogene Sprache im Hinblick auf ihre Einordnung in eine historische Sprache und im Hinblick auf ihre Realisierung im Diskurs mit demselben Terminus zu belegen. Deshalb nenne ich eine mehr oder weniger homogene Sprache, einem schon lange etablierten Usus folgend, „Varietät“ (Lüdtke 1999a), wenn eine solche Sprache in Relation zu einer historischen Sprache (dieser Terminus ist weniger verbreitet als „Varietät“) gesehen wird, und „Einzelsprache“, „funktionelle Sprache“ oder schlicht, wenn der Kontext eindeutig ist, „Sprache“, wenn dieselbe Sprache in Relation zum Diskurs betrachtet wird. Diese verschiedenen Relationen lassen sich in folgender Weise veranschaulichen:
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Abb. 2.1: Historische Sprache
Dargestellt wird hier das Verhältnis einer Standardsprache zu Varietäten, die einerseits von der Standardsprache beeinflusst werden, andererseits aber auf diese zurückwirken. Ein solches Verhältnis haben wir typischerweise in den Sprachräumen, in denen eine Standardsprache im Kontakt mit Dialekten wie etwa in Italien steht. Nicht erfasst sind in diesem Schema die Relationen der Varietäten untereinander. Der Perspektivenwechsel ist auf den Übergang von einer historischen Sprache auf eine Varietät als Einzelsprache reduziert und der Diskurs auf die Realisierung nur einer Einzelsprache oder Varietät. Im konkreten Diskurs finden wir dagegen Erscheinungen, die aus mehreren Varietäten einer historischen Sprache und sogar aus mehreren historischen Sprachen herrühren können. Das Schema hat nur den Sinn, die beiden verschiedenen Begriffe von Einzelsprache zueinander in Beziehung zu setzen. Wenn wir hier im Weiteren das Sprecherbewusstsein zur Grundlage unserer Fragestellungen machen, so ist damit keineswegs das reflexive Sprachbewusstsein gemeint, das wir bei der Erlernung einer Standardsprache, zumal in geschriebener Gestalt, ausbilden, sondern das Sprachbewusstsein, zu dem wir indirekt durch Beobachtung des Sprachverhaltens Zugang haben, denn wir werden nicht gut bestreiten können, dass Sprechen bei Bewusstsein stattfindet. Die Disziplin, die sich mit der Einzelsprache beschäftigt, ist die einzelsprachliche Linguistik oder, einzeln betrachtet, die französische, italienische, spanische usw. Sprachwissenschaft, wenn sie aus der Perspektive der Einzelsprache betrieben wird, wie dies Andrés Bello im Motto zum 2. Kapitel programmatisch fordert. Es ist aber durchaus üblich, allgemeine Sprachwissenschaft am Beispiel einer Einzelsprache zu betreiben. Im Einzelfall ist es möglich, dass ein ganzes einzelsprachliches Studium das Sprechen im Allgemeinen zum Gegenstand hat, auch wenn das Sprechen im Allgemeinen am Beispiel einer Einzelsprache untersucht wird (cf. 1.3).
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Bibliographischer Kommentar
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Unter den romanischen Sprachen wähle ich für die Darstellung einzelsprachlicher Erscheinungen in jedem Fall das Französische, Italienische und Spanische aus, da diese romanischen Sprachen im deutschen Sprachraum am meisten studiert werden. Es kommen hinzu das Portugiesische als Sprache mehrerer Nationalstaaten (mit gelegentlicher Berücksichtigung des Galicischen), das Rumänische und das Katalanische. Alle romanischen Sprachen, die heute eine Standardsprache herausgebildet haben oder sich auf dem Wege dahin befinden, werden in den standardsprachlichen Skizzen behandelt (5). Die Frage der Anerkennung möglicher künftiger Standardsprachen unter ihnen ist eine politische Frage, die in erster Linie die Sprecher selbst zu entscheiden haben. Für eine eigenständige Beschäftigung mit der Sprachwissenschaft ist eine gute Kenntnis möglichst vieler Grundlagenwerke von unterschiedlicher Ausrichtung unerlässlich. Der folgende Vorschlag von mehr oder weniger chronologisch angeordneten Werken beinhaltet keine inhaltliche Gewichtung. Diese sollte von der Orientierung abhängen, die man sich selbst geben will. In den folgenden bibliographischen Angaben nenne ich zuerst allgemeine Einführungen in die einzelsprachliche Linguistik. Ich verweise noch einmal auf die Unterscheidung von Sprechen im Allgemeinen, Einzelsprache und Diskurs, wie sie in 1.1 eingeführt worden ist. Die bibliographischen Hinweise zum Sprechen im Allgemeinen und zum Diskurs finden sich unter 1 bzw. 3. Im Anschluss an die allgemeineren Werke folgen hier Einführungen in die romanische Philologie bzw. Sprachwissenschaft, die zusammen als eine Geschichte der romanischen Philologie und der romanischen Sprachwissenschaft gelesen werden können. Darauf folgen Einführungen in die einzelnen romanischen Sprachen. Paul 101995 (11880) ist das maßgebliche Werk der junggrammatischen Sprachauffassung, geht aber weit darüber hinaus; ihm liegt vor allem das Deutsche zugrunde. Die synchronische Sprachwissenschaft in ihrer modernen europäischen Tradition wird von Ferdinand de Saussure 1916 begründet. Von ihm leiten sich die verschiedenen Richtungen des europäischen Strukturalismus ab. Unter den wichtigen Werken des europäischen Strukturalismus seien Hjelmslev 1974 und Martinet 41996 genannt. Zur diachronischen, von Saussure und seiner Schule beeinflussten Sprachwissenschaft kann Vendryes 1968 (11923) gelesen werden. Für das Verständnis der angloamerikanischen Tradition sollte man bei Sapir 1949 (11921) ansetzen. Die Bibel des amerikanischen Strukturalismus war Bloomfield 1933/1935, ein immer noch fundamentales Werk. In dieser Tradition stehen unter anderem Harris 1951, Gleason 1961 und Hockett 1958. Gegen diese Tradition wenden sich Chomsky 1957 und 1965, damit die heute in sehr verschiedene Richtungen gehende generative Transformationsgrammatik begründend. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die weltweite Entwicklung der deskriptiven Linguistik so unübersichtlich geworden, dass es schwer ist, Leseempfehlungen zu geben. Eine so vielseitige, am Englischen orientierte Einführung wie diejenige, die O’Grady, Dobrovolsky und Katamba 1997 herausgegeben haben, musste bereits von mehreren Autoren verfasst werden. Im Wesentlichen hat sich die Sprachwissenschaft partialisiert. Daher sind Einführungen in linguistische Einzelbereiche heute unentbehrlich geworden. Diese werden hier bei den Teildisziplinen angeführt. Als Beispiel sei die Einführung von Hock (21991) in die historische (d. h. diachronische) Sprachwissenschaft genannt, die die generativistische Sprachwissenschaft voraussetzt. Die Entwicklung der diachronischen romanischen Sprachwissenschaft ist in die der indogermanischen Sprachwissenschaft eingebettet. Darüber informiert immer noch gut Pedersen 1962. Morpurgo Davies 1996 gibt eine ausgezeichnete Darstellung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert. In umfassendster Weise informiert das von Holtus/Metzeltin/Schmitt herausgegebene LRL über das gesamte Gebiet der romanischen Sprachwissenschaft und die einzelsprachlichen Disziplinen aus heutiger Sicht. Zugleich treten die unvermeidlichen Lücken der Behandlung durch dieses gewaltige Werk wie auch die Lücken der Forschung klarer hervor. Die Entwicklung, die die romanische Sprachwissenschaft in den letzten hundert Jahren mitgemacht hat, lässt sich aus dem Vergleich mit dem von Gröber herausgegebenen Grundriß der romanischen Philologie (I. Band 21904–1906) ersehen.
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Zu den Einführungen in die romanische Sprachwissenschaft aus synchronischer Sicht gehören Renzi 21987 (mit Salvi), Harris/Vincent (eds.) 1988, Legdeway/Maiden (eds.) 2016, Gabriel/Meisenburg 3 2017 (Französisch, Spanisch, Italienisch). Als Einführungen in die einzelnen romanischen Sprachen oder als Handbücher sind die folgenden Schriften und Werke zu verwenden: aragonesische Sprachwissenschaft LRL VI,1 (1992): 37–54; asturianische Sprachwissenschaft (mit Leonesisch) LRL VI, 1 (1992): 652–708; bündnerromanische Sprachwissenschaft Gartner 1910, LRL III (1989): 764–912, Liver 1999; französische Sprachwissenschaft Geckeler/Dietrich 52012, Sokol 2001, Walter 2003, Stein 42014, Polzin-Haumann/Schweickard (éds.) 2015; friaulische Sprachwissenschaft LRL III (1989): 563–645, Heinemann/Luca (a cura di) 2015; galicische Sprachwissenschaft (unter dem Namen Galegisch) LRL VI, 2 (1994): 1–129; italienische Sprachwissenschaft Lepschy/Lepschy 1986, LRL IV (1988): 1–798, Geckeler/Kattenbusch 21992, Blasco Ferrer 1994, Kattenbusch 1999, Graffi/Scalise 2004, Dardano 2005, Serianni/Antonelli 2011, Haase 22013, Michel 22016, Lubello 2016; katalanische Sprachwissenschaft Lüdtke 1984a, LRL V, 2 (1991): 127–310, Argenter/Lüdtke (eds.) (in Vorbereitung); korsische Sprachwissenschaft LRL IV (1988): 799–835; ladinische Sprachwissenschaft LRL III (1989): 646–763; okzitanische Sprachwissenschaft LRL V, 2 (1991): 1–126; portugiesische Sprachwissenschaft Melo 51975, Neto 51986, Teyssier 1976, LRL VI, 2 (1994): 130– 692, Azevedo 2005, Endruschat/Schmidt-Radefeldt 32014 (auf Deutsch), 2016 (in portugiesischer Übersetzung), Martins/Carrilho 2016, Wetzels/Menuzzi/Costa (eds.) 2016; rumänische Sprachwissenschaft Schroeder 1967 (auf Deutsch), Coteanu/Dănăilă 1970, LRL III (1989): 563–645, Avram/Sala 2001 (auf Französisch), Sala (coord.) 2001 (auf Rumänisch, alphabetisch angeordnet); sardische Sprachwissenschaft LRL IV (1988): 836–935, Blasco Ferrer 2016, Blasco Ferrer/Koch/ Marzo (eds.) 2017; spanische Sprachwissenschaft LRL VI, 1 (1992): 55–651, Berschin/Felixberger 42012, Dietrich/Noll 6 2012, Alvar (Director) 2000, Wesch 2001, Hualde/Olarrea 22010, Kabatek/Pusch 22011, Becker 2013, Hualde/Olarrea/O’Rourke (eds.) 2013 (Enzyklopädie), Gutiérrez-Rexach (ed.) 2016 (Enzyklopädie).
2.1.3 Synchronie und Diachronie Der Unterschied, den der Genfer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure mit den Termini Synchronie und Diachronie benannt hat, ist im Grunde alt. In der Beschreibung der Einzelsprachen ging man von allem Anfang an synchronisch vor. Erst die Betonung der Entwicklung der Sprachen in der diachronischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat es notwendig werden lassen, die nicht für wissenschaftswürdig gehaltene Sprachbeschreibung „wiederzuentdecken“. Im Folgenden führen wir die Saussuresche Unterscheidung in ihrem geschichtlichen Kontext ein. Wir werden sie als wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven betrachten, die diachronische Perspektive auf die Begriffe „Substrat“ und „Superstrat“ anwenden, die Linguistik als deskriptive und historische Linguistik verstehen, die „historische Grammatik“ von der Sprachgeschichte trennen und schließlich
2.1 Vorüberlegungen
121
Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte als die beiden grundlegenden Bereiche ansehen, die zusammen die Erforschung der Einzelsprache ausmachen. Die Einzelsprache fand für Georg von der Gabelentz ihre Erklärung in ihrer „Vorgeschichte“. Will man wissen, wie die Einzelsprache geworden ist, widmet man sich deshalb ihrer „Vorgeschichte“: „Die Kenntnis der Einzelsprache wird nie vollkommen sein ohne die Kenntnis ihrer Vorgeschichte“ (Gabelentz 21901: 59). „Die einzelspr achliche Forschung als solche hat die Spr ache nur so, a b e r a u c h g a n z s o z u e r k l ä r e n , w i e s i e s i c h j e w e i l i g i m Vo l k s g e i s t e d a r s t e l l t . Zieht sie die Vorgeschichte, die Dialekte und stammverwandten Sprachen zu Rathe, so tritt sie auf das genealogisch-historische Gebiet über“ (Gabelentz 21901: 60).
Damit wird neben der „einzelsprachlichen Forschung“ eine zweite Disziplin eingeführt, die sich mit der Einzelsprache beschäftigt. Er nennt sie in diesem Zitat „das genealogisch-historische Gebiet“, sonst aber „genealogisch-historische Sprachforschung“. Die Einzelsprache wird also in zwei Disziplinen betrachtet, die uns bei Saussure als “linguistique statique” und “linguistique évolutive” wiederbegegnen und die der „synchronischen“ und der „diachronischen“ Betrachtung einer Einzelsprache entsprechen, während Sprachvermögen und Rede, obwohl sie als verschiedene sprachliche Ebenen gelten, von Gabelentz einer einzigen Disziplin, der allgemeinen Sprachwissenschaft, zugewiesen werden. Kommen wir zu Saussure. Er akzentuiert den Unterschied zwischen der Sprache, die die Sprecher wahrnehmen, und der Sprache vergangener Zeiten zu einer Gliederung nach zwei gegensätzlichen Gesichtspunkten, seiner Dichotomie von Synchronie und Diachronie. Dieser Unterschied wird im Cours mit Hilfe eines Achsenkreuzes dargestellt (1916: 115):
Abb. 2.2: Synchronie und Diachronie
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2 Die Einzelsprache
Die Achsen werden in der folgenden Weise erläutert: ‚1. die Achse der gleichzeitigen Erscheinungen [l’axe des simultanéités] (AB), die die Beziehungen zwischen koexistierenden Erscheinungen betrifft und aus der jedes Eingreifen der Zeit ausgeschlossen ist, 2. die Achse der aufeinanderfolgenden Erscheinungen [l’axe des simultanéités] (CD), auf der man immer nur eine Erscheinung auf einmal betrachten kann, auf der jedoch alle Erscheinungen der ersten Achse mit ihren Veränderungen liegen‘ (1916: 116; cf. Wunderli 2013: 191). Die Fakten aller Wissenschaften können nach der Formulierung des Cours auf diesen beiden Achsen angeordnet werden. Für Saussure dienen sie dazu, zwei Arten von Sprachwissenschaft zu unterscheiden, eine Sprachwissenschaft, die sich mit den Beziehungen im System beschäftigt (AB), und eine Sprachwissenschaft, die die Beziehungen auf der Achse der Zeit (CD) zu ihrem Gegenstand hat. Die Beziehungen im System sind dem Bewusstsein der Sprecher zugänglich, die Beziehungen auf der Achse der Zeit dagegen bilden kein System und sie sind dem Bewusstsein der Sprecher nicht zugänglich. Saussure zieht aus dem Unterschied zwischen dem Gleichzeitigen und dem Aufeinanderfolgenden Konsequenzen für die Benennung der linguistischen Disziplinen. Die zu seiner Zeit übliche Sprachwissenschaft, die historische, möchte er umbenennen nach dem Terminus ‚Entwicklung‘ (“évolution”) in “linguistique évolutive”. Im französischen Terminus “évolution” wird außerdem seine Verwendung in der Physiologie und in der Abstammungslehre von Charles Darwin evoziert. Saussure nimmt sich jedoch nicht vor, die evolutive Sprachwissenschaft neu zu begründen, sondern diejenige, die die langue zum Gegenstand hat, genauer die ‚Sprachzustände‘ (“états de langue”), und die deshalb von ihm “linguistique statique” genannt wird. Er ersetzt terminologisch “état de langue” durch “synchronie” und ‚Entwicklungsphase‘ (“phase d’évolution”) durch “diachronie” sowie entsprechend “linguistique statique” durch “linguistique synchronique” und “linguistique évolutive” durch “linguistique diachronique”. Die beiden Sprachwissenschaften unterscheiden sich also letztlich dadurch, ob die Zeit berücksichtigt wird oder nicht. Synchronie ist aus den griechischen Elementen sýn ‚zusammen, mit‘, chrónos ‚Zeit‘ und dem Suffix -ía für Prädikatnominalisierungen bzw. „Abstrakta“ gebildet; Diachronie enthält die Präposition diá ‚durch … hindurch‘. Zur Begründung der synchronischen Sprachwissenschaft kann aus sprachwissenschaftsgeschichtlicher Sicht einführend Albrecht (32007: 36–42, mit weiterführender Literatur) gelesen werden. Unter den kritischen Betrachtungen dieser Dichotomie sind Wartburg (1931) und Coseriu (1957/1974, 1980a), dessen Kritik hier verarbeitet wird, hervorzuheben.
Bei Saussure ist, wie wir gesehen haben, der Unterschied zwischen Synchronie und Diachronie in der zitierten Stelle ein Unterschied in der Sprache selbst. Es gibt für ihn diachronische Fakten, d. h. sprachliche Erscheinungen, die sich im Laufe der Zeit ändern, und synchronische Fakten, die zu einer bestimmten Zeit koexistieren, aber auch in nachfolgenden Zeiten, sofern sich eine Erscheinung im Laufe der Zeit nicht wandelt. Die synchronischen Fakten sind die “simultanéités”, die diachronischen
2.1 Vorüberlegungen
123
Fakten die “successivités”, die auf verschiedenen Achsen liegend dargestellt werden. Die synchronischen Fakten gehören für Saussure der langue an, die diachronischen der parole. Wir müssen uns fragen, ob sich denn die diachronischen Erscheinungen, darunter die Phänomene des Sprachwandels, wirklich außerhalb der langue befinden (cf. 1.2.1.4). Die Analogien nun, so zeigt es Saussure selbst (1916: 231), beruhen auf der Anwendung von sprachlichen Verfahren einer langue. Die Sprecher schaffen Neues nach existierenden Verfahren, wie Saussure mit interventionnaire, répressionnaire und firmamental belegt (1916: 225), alles mögliche Adjektive des Französischen, die jedoch nicht in den Sprachgebrauch eingegangen sind. Es ist auch nicht zu begreifen, wie eine langue als System sich wandeln kann, wenn der Wandel nicht in der langue stattfindet (Coseriu 1980a: 131–133). Wir kommen aus diesem Dilemma nur heraus, wenn wir das Zustandhafte (Statische) einer Einzelsprache nicht als ihre Eigenschaft annehmen, sondern Synchronie und Diachronie als sprachwissenschaftliche Perspektiven auffassen. Wir können bei der Betrachtung einer Einzelsprache von der Zeit absehen, indem wir sie gleichsam stillstehen lassen und zu einem Sprachzustand machen, oder wir können eine Einzelsprache in ihrem Werden, in ihrer Entwicklung betrachten. Der Gesichtspunkt des Sprachzustands und der Gesichtspunkt der Entwicklung entsprechen verschiedenen sprachwissenschaftlichen Zwecken. Die synchronische Perspektive nimmt man für die Beschreibung ein, die diachronische Perspektive für die Geschichte. Der Wechsel der Perspektive ergibt sich demnach aus diesen verschiedenen sprachwissenschaftlichen Zielsetzungen. Bei der Beschreibung lässt man die Zeit außer Acht. Der Zeitraum, für den man in einer Sprachbeschreibung von der Zeit absieht, kann mehr oder weniger weit gefasst sein. Für eine synchronische Beschreibung der Gegenwartssprache kann er zum Beispiel das 20. und die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts umfassen oder die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg oder aber die letzten beiden Jahrzehnte. Die Grenzen des Zeitraums wählt man unter der Annahme, dass die sprachlichen Veränderungen in diesem Zeitraum relativ begrenzt sind. Solche „synchronischen Schnitte“ können wir für jede Zeit in der Geschichte einer Sprache legen: Wir können das Pikardische um 1200, das Spanische zur Zeit der Katholischen Könige oder das Italienische unmittelbar vor der nationalen Einheit Italiens synchronisch beschreiben. Und umgekehrt können wir nicht nur die älteren Epochen einer Sprache diachronisch darstellen, sondern auch die Entwicklung der Gegenwartssprache, so die Geschichte des Französischen, Italienischen oder Spanischen im 20. und 21. Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg, des Spanischen nach der Wende usw. Da die Diachronie eine Sache der wissenschaftlichen Perspektive ist, kann diese der Richtung der Zeit folgen und von der Vergangenheit zur Zukunft übergehen, wie im Schema Saussures angegeben. Man kann aber auch aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückblicken, wie man es in der etymologischen Forschung tut. An einer weniger beachteten Stelle des Cours hat Saussure diese Unterscheidung selbst
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2 Die Einzelsprache
eingeführt. Er trifft sie ausdrücklich in seiner Gegenüberstellung der Methoden der synchronischen und der diachronischen Sprachwissenschaft: ‚Die jeweiligen Methoden unterscheiden sich auch, und zwar in zweierlei Hinsicht: a) Die Synchronie kennt nur eine Perspektive, diejenige der Sprecher, und ihre ganze Methode besteht darin, bei ihnen die Belegmaterialien zu erheben. Um zu erfahren, inwieweit etwas tatsächlich existiert, muss man und braucht man nur zu untersuchen, inwieweit es für das Bewusstsein der Sprecher existiert. Die diachronische Sprachwissenschaft muss dagegen zwei Perspektiven unterscheiden, eine prospektive, die dem Lauf der Zeit folgt, und eine retrospektive, die in die Vergangenheit zurückgeht‘ (1916: 128; cf. Wunderli 2013: 209; ähnlich 1916: 291. Die zweite Hinsicht, b), wird hier nicht wiedergegeben.).
So finden wir bei Saussure zwei Auffassungen von Diachronie. Nach der einen wird sie auf der “axe des successivités” dargestellt, womit gemeint ist, dass die Diachronie der Entwicklung entspricht. Nach der anderen wird dieser auch prospektiv genannten Perspektive eine retrospektive Perspektive gegenübergestellt. In dem „Fragen der retrospektiven Sprachwissenschaft. Schluss“ überschriebenen Kapitel (“Questions de linguistique rétrospective. Conclusion”, 1916: 291–294) wird dies weiter ausgeführt: ‚Während die Vorausschau [prospection] auf eine einfache Erzählung hinausläuft und sich völlig auf die kritische Bewertung der Sprachzeugnisse gründet, erfordert die Rückschau [rétrospection] eine Rekonstruktionsmethode, die sich auf den Vergleich stützt. Man kann die ursprüngliche Form eines einzigen, vereinzelten Zeichens nicht ermitteln, während hingegen zwei verschiedene Zeichen desselben Ursprungs wie lat. pater und Sanskrit pitar- oder der Stamm von lat. ger-ō und derjenige von ges-tus schon durch ihren Vergleich die diachronische Einheit erahnen lässt, die sie gegenseitig mit einem auf dem Induktionsweg rekonstruierbaren Prototyp verbindet. Je zahlreicher die zu vergleichenden Ausdrücke sind, desto genauer sind diese Induktionen und sie führen, wenn die Fakten ausreichen, zu richtigen Rekonstruktionen‘ (1916: 292; meine Übersetzung; cf. Wunderli 2013: 409).
Diese der Enwicklung entgegengesetzte Perspektive wird auch in einem Abschnitt über die Etymologie ausgeführt: ‚Die Etymologie […] geht so weit in die Vergangenheit der Wörter zurück, bis sie etwas findet, das sie erklärt‘, 1916: 259; meine Übersetzung). So ist bei Saussure selbst gut etabliert, dass die Diachronie den Blick auf vergangene Sprachstufen richten oder der Zeit folgen kann. “Remonter dans le passé”: Das ist genauso diachronisch wie die Entwicklung. Die diachronische Perspektive muss also nicht mit der evolutiven Perspektive zusammenfallen. Man kann, ja man muss die Perspektive wechseln, je nachdem welches Problem man sich vornimmt. Diese Bemerkungen zur retrospektiven Perspektive sind nötig, um den Begriff des „Substrats“ und des „Superstrats“ sprachwissenschaftlich einzuordnen. Saussure bezieht sich nur am Rande auf das Substrat, um seine Skepsis über seine Erklärungskraft auszudrücken (1916: 207–208). Der Begriff des Substrats wurde von Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907) eingeführt. Aus heutiger Sicht versteht man darunter eine Sprache und/oder eine Sprachgemeinschaft, welche in einer später in einen Raum
2.1 Vorüberlegungen
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eindringenden Sprache oder Sprachgemeinschaft aufgeht und welche sprachliche Elemente aus der davor in diesem Raum gesprochenen Sprache aufnimmt. Analog dazu hat Walther von Wartburg (1888–1971) den Begriff des Superstrats eingeführt. Damit ist eine Sprache oder Sprachgemeinschaft gemeint, die eine andere Sprache in einem bestimmten Raum beeinflusst, selbst aber dort untergeht. Nach dem zur Etymologie Gesagten verhält es sich mit dem Substrat und Superstrat im Wesentlichen nicht anders als mit der Etymologie. Ein Sub- oder Superstrat können wir nur annehmen, wenn wir ‚in die Vergangenheit zurückgehen‘. Stellen wir bei bestimmten romanischen Erscheinungen fest, dass sie sich nicht kontinuierlich vom Lateinischen herleiten, sondern einer früheren (vorrömischen) oder einer späteren (nachrömischen) Schicht entsprechen, die sich aber nicht fortgesetzt haben, dann spricht man von Substrat oder Superstrat. Ein bedeutendes Substrat der romanischen Sprachen in Gallien, Oberitalien und Hispanien war das Keltische, die wichtigsten Superstrate der romanischen Sprachen sind germanische Sprachen – Ostgotisch und Langobardisch in Italien, Westgotisch in Hispanien und vor allem Fränkisch in Frankreich – und das Arabische auf der Iberischen Halbinsel und auf Sizilien. Was bei den Begriffen aber eigentlich vorausgesetzt wird, ist eine Sprachkontaktsituation, in der die vor der Ausbreitung einer anderen Sprache gesprochene Sprache oder die später hinzukommende Sprache untergeht, aber die fortbestehende Sprache beeinflusst. Damit ist klar, dass es dabei eigentlich um Sprachkontaktsituationen geht. Im Unterschied zu heutigen Sprachkontaktsituationen müssen die historischen aufgrund von Zeugnissen rekonstruiert werden. Wenn die Zeugnisse zahlreich genug sind, können sie in Analogie zu den gegenwärtigen untersucht werden. In diesem Sinne ist es dann möglich, die retrospektive Perspektive, wie sie in der Auffassung des Sprachkontakts als Substrat und Superstrat vorliegt, durch eine prospektive oder evolutive Perspektive zu ersetzen. Die Substrat- und Superstrathypothese verkürzt den Sprachkontakt auf eine retrospektive Perspektive, wie sie in der Rekonstruktion vorliegt. So zeigt sich, dass Substrat und Superstrat Begriffe der diachronischen Sprachwissenschaft sind, nicht aber der Geschichte. In der Geschichte der Sprachen findet Sprachkontakt statt. Aus der Perspektive der retrospektiven diachronischen Sprachwissenschaft wird der Sprachkontakt reduktionistisch zu einem bloßen Substrat oder Superstrat eingeebnet. Wir können festhalten, dass Saussure Synchronie und Diachronie sowohl in der Sprache als auch in der Sprachwissenschaft unterscheidet. Im Gegensatz zu dieser schwankenden Auffassung soll dieser Unterschied in der Sprachwissenschaft allein Gültigkeit beanspruchen können. Wir können uns ferner fragen, warum Saussure die Diachronie einmal ausschließlich evolutiv und ein andermal in zweifacher Ausrichtung interpretiert. Diese Interpretation geht wohl hauptsächlich auf die Herausgeber zurück. Die im Cours von 1916 ans Ende gestellten Kapitel zur traditionellen Sprachwissenschaft sind die zuerst gehaltenen Vorlesungen. Liest man nun die Bemerkungen zur Diachronie in umgekehrter Reihenfolge, dann wird eine ursprünglich zweifache
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2 Die Einzelsprache
Perspektive allein auf die evolutive Perspektive reduziert, um diese der synchronischen Perspektive der Sprecher gegenüberzustellen. Wie wir gesehen gehaben, ist Saussures Auffassung aber komplexer. In diesem Sinne fragen wir uns nach dem Verhältnis zwischen historischer und deskriptiver Sprachwissenschaft. Die strikte, in der Sprache selbst angenommene Trennung von Synchronie und Diachronie hat Auswirkungen zum Teil bis heute. In der Sache begründet ist die strikte Trennung nicht, sondern sie geht auf Saussures polemische Gegenüberstellung zurück, die sprachwissenschaftsgeschichtlich letzten Endes zu einer Polarisierung in „historische Sprachwissenschaft“ und „deskriptive Linguistik“ geführt hat. In diese beiden Hauptdisziplinen gliedert sich im Allgemeinen die einzelsprachliche Linguistik. Die deskriptive einzelsprachliche Linguistik wird – häufiger von ihren Verächtern als von ihren Vertretern – bisweilen auch „Systemlinguistik“ genannt. Ich möchte diesen Ausdruck nicht verwenden, wenn er einer polemischen und zugleich negativen Sicht der Sprachbeschreibung entspricht: „Systemlinguistik“ ist das, was nicht Textlinguistik, Psycholinguistik, Soziolinguistik oder eine andere „Bindestrich-Linguistik“ ist. Das nicht recht verständliche Missvergnügen am System hindert nicht, dass es die Einzelsprachen gibt und dass sie deshalb beschrieben werden müssen. Ob die Einzelsprachen tatsächlich Systeme sind oder bis zu welchem Grade sie Systeme sind, ist eine empirische Frage, die zu entscheiden letztlich Aufgabe der Sprachbeschreibung selbst ist. Ablehnungen sprachwissenschaftlicher Richtungen haben etwas damit zu tun, dass sich neue Richtungen gegenüber den alten durchsetzen müssen, was – leider – mit sehr vielen Widerständen von seiten des Alten verbunden ist, und führen zu einer bisweilen verzerrenden und polarisierenden Darstellung der Anschauungen. Sehr viele gute theoretische Ansätze setzen sich überhaupt nicht durch. Auch die synchronische (oder beschreibende) Sprachwissenschaft musste sich in einem langen Entwicklungsprozess an den Universitäten erst gegen die diachronische Sprachwissenschaft durchsetzen. ‚Diachronische Sprachwissenschaft‘ hatte bereits Saussure konsequenterweise vorgeschlagen (1916: 117), allgemein ist dieser Ausdruck aber immer noch nicht geworden. Der Grund für die gegenseitige Ablehnung der synchronischen und der diachronischen Sprachwissenschaft liegt aber nicht in der Sprache selbst begründet. Heute hat sich in der romanischen Sprachwissenschaft im Allgemeinen eine synchronische und zugleich gegenwartsbezogene Sprachbetrachtung durchgesetzt. Aufgrund der jeweils verschiedenen internen Entwicklung der synchronischen und der diachronischen Sprachwissenschaft konzentrierten und konzentrieren sich die Forscher je nach ihren Interessen und ihren Aufgaben auf sehr verschiedene Bereiche. Grundsätzlich können wir jedoch dieselben Erscheinungen in der Vergangenheit und in der Gegenwart untersuchen. Mit einer Schwierigkeit müssen wir bei der Untersuchung der Sprache vergangener Zeiten allerdings rechnen, die durch besondere Forschungsmethoden überwunden werden muss: Für die älteren Epochen können wir uns nicht auf die Intuition der Sprecher stützen, sondern müssen mit philologischen
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Methoden arbeiten, da der sprachwissenschaftlichen Untersuchung immer Quellen, vor allem Texte zugrundeliegen (cf. 4.0.1). Kommen wir zum Verhältnis von Diachronie und Sprachgeschichte. Der Schwerpunkt der diachronischen Sprachwissenschaft lag in der „historischen Grammatik“, die die geschichtlichen Veränderungen nach den Klassifikationsprinzipien der deskriptiven Grammatik anordnet und mit Bedingungen (das ist angemessener, als von „Ursachen“ zu sprechen) für geschichtliche Veränderungen zu erklären sucht. Auf diese „historische Grammatik“ reduzierte und reduziert sich viel zu oft die „historische Sprachwissenschaft“. Die „historische Grammatik“ werde ich von nun an der Klarheit halber – entgegen dem allgemein etablierten Usus – „diachronische Grammatik“ nennen. Sprachgeschichte in dem Sinne, dass das Werden einer historischen Sprache untersucht werden sollte, wurde darin nicht oder nur am Rande betrieben. Die diachronische Grammatik untersucht vielmehr eine Sprache unter der Perspektive der Einheitlichkeit, meistens die Entwicklung hin zu einer Standardsprache. Was dieser als einheitlich unterstellten Sprache nicht entspricht, wird aus der diachronischen Grammatik ausgeschlossen. Im Bereich der romanischen Sprachwissenschaft wird durch die diachronische Sprachwissenschaft vorrangig der Sprachwandel in den romanischen Sprachen vom Latein bis ca. 1500 untersucht, wobei je nach Sprache oder Tradition der Linguistik in einzelnen Ländern die Akzente anders gesetzt werden. Diese Beschränkung der diachronischen Sprachwissenschaft, die auf die Sprachbetrachtung der Romantik zurückgeht, ist inhaltlich nicht gerechtfertigt. Heute beginnen sich die Sprachhistoriker grundsätzlich allen sprachlichen Themen zu öffnen. Die diachronische Betrachtung der Sprache ist allerdings immer noch erklärungsbedürftig. Das zeigt sich allein schon am alternierenden Gebrauch der Termini „diachronische Sprachwissenschaft“ und „historische Sprachwissenschaft“ bzw. „Linguistik“. Tatsächlich aber wird das Verhältnis der Diachronie zur Geschichte wenig problematisiert. Dies ist unter anderem dadurch bedingt, dass Saussure als derjenige, der die Unterscheidung zwischen Diachronie und Synchronie explizit eingeführt hat und deren Rezeption dann sprachwissenschaftsgeschichtlich wirksam geworden ist, nicht die diachronische Perspektive begründen wollte, sondern die synchronische. Die diachronische Perspektive als allein wissenschaftswürdige bedurfte dagegen zu jener Zeit keiner Begründung. Daher finden wir denn auch im Cours keine Erörterung der Sprachgeschichte unter dieser Benennung, sondern nur eine Diskussion der Entwicklung und der Diachronie. Die Anerkennung der Geschichte als einer von der Diachronie verschiedenen Betrachtung der Sprache ist relativ jung. Sie beginnt eigentlich zuerst in der Praxis der Sprachgeschichte und wird erst danach auf theoretischem Niveau diskutiert. Der Unterschied zwischen Diachronie und Geschichte drückt sich in ganz klar abgegrenzten linguistischen Textgattungen aus. Während die diachronische Grammatik zum Beispiel Historische Grammatik der französischen Sprache genannt wird, heißt die andere Textgattung Geschichte der französischen Sprache.
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Explizit stellt Coseriu (1957/1974) die Sprachgeschichte als integrale Betrachtung der Sprache sowohl der diachronischen als auch der synchronischen Perspektive gegenüber. Die Diskussion des Verhältnisses von Synchronie, Diachronie und Geschichte bei Coseriu ist, wenn überhaupt, in sehr reduzierter Weise rezipiert worden. Die Geschichte als Überwindung von Synchronie und Diachronie (Coseriu 1980a) spielt dabei kaum eine Rolle. Das mag daran liegen, dass die Forscher sich eher entweder in der Synchronie oder in der Diachronie spezialisieren. Die Überwindung von Synchronie und Diachronie besteht darin, diese Dichotomie als Beschreibung und Geschichte zu verstehen. Ich habe versucht zu verdeutlichen, dass sowohl Beschreibung als auch Geschichte Perspektiven sind, die auf jede Sprache unabhängig von einer bestimmten Epoche angewandt werden können. Die Beschreibung stellt das Funktionieren der Sprache dar, die Geschichte ihr Werden. Bestimmte Interessen dominieren zwar zu bestimmten Zeiten. Diese Tatsache darf uns aber nicht dazu verleiten, in Beschreibung und Geschichte Gegensätze zu sehen. Noch falscher wäre es, im Deutschen einen Gegensatz zwischen „Linguistik“ im Sinne von „synchronischer Linguistik“ und „diachronischer Sprachwissenschaft“ zu konstruieren, denn beide reduzieren in der üblichen Praxis ihren Gegenstand, wenn die Deskriptivisten die Sprachgeschichte und die Sprachhistoriker die Sprachbeschreibung ausklammern – wogegen im Übrigen, wenn dies bewusst und in Verbindung mit bestimmten Forschungsinteressen geschieht, nichts einzuwenden ist. Damit sind die beiden großen Disziplinen der einzelsprachlichen Sprachwissenschaft mit ihren zahlreichen Ausrichtungen umschrieben: Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte. Diese beiden Perspektiven begründen die Darstellung der Einzelsprache in diesem Handbuch. Die „Sprachbeschreibung“ bzw. „deskriptive Sprachwissenschaft“ oder „deskriptive Linguistik“ macht den Hauptgegenstand einer an den Sprechern orientierten Linguistik aus. Sie schließt die Dialektologie, die Soziolinguistik und die Stilistik ein, d. h. die Disziplinen, die die Sprachvariation und die nicht-standardsprachlichen Varietäten zu ihrem Gegenstand haben, für die es leider keinen anerkannten allgemeinen Terminus gibt. Man könnte sie „Variationslinguistik“ nennen, obwohl dieser Terminus zum Teil schon vorbelegt ist (z. B. Weinreich 1954, Labov 1970), oder „Variations- und Varietätenlinguistik“. Auch die Teildisziplinen entsprechen nicht genau den Bereichen, die wir abgegrenzt haben. Die historische Sprachwissenschaft sollte es eigentlich mit der Sprachgeschichte zu tun haben, wird aber meist enger als Entwicklung eines Sprachsystems aufgefasst und in diesem Fall traditionell „historische Grammatik“ genannt. Dem Problem der Sprachgeschichte werden wir uns im zweiten Teil widmen; die Sprachgeschichte schließt die Geschichte einer Einzelsprache mit der Entstehung ihrer Variation und ihrer Varietäten ein.
2.1 Vorüberlegungen
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2.1.4 Das sprachliche Zeichen Wir haben bisher immer wieder den Begriff des sprachlichen Zeichens verwendet, der für die Sprachwissenschaft wie für die Semiotik oder Zeichenlehre zentral ist. Aus diesem Grunde beginnen Einführungen in die Sprachwissenschaft oft mit dem Begriff des sprachlichen Zeichens. Da er seiner zentralen Rolle entsprechend sehr komplex ist, haben wir uns dem sprachlichen Zeichen über die Universalien genähert und somit zuerst das erörtert, was überhaupt zur Sprache gehört (1.2). Wir können noch einmal dieselben Zusammenhänge aufzeigen, soweit sie sich im sprachlichen Zeichen manifestieren. Die Beschäftigung mit dem Begriff des sprachlichen Zeichens ist zwar weit mehr als zweitausend Jahre alt, man bezieht sich aber in der heutigen Sprachwissenschaft meist auf die Formulierungen dieses Problems bei Saussure, da von ihm die weitere Diskussion ihren Ausgang genommen hat. Den Terminus ‚Zeichen‘ (signe) nimmt er aus der Tradition. Er wird jedoch im Cours de linguistique générale (1916: 97–100) begrifflich festgelegt und bezieht sich nun nicht mehr auf die lautliche oder materielle Seite allein (wie man das Wort Zeichen in der Alltagssprache auch verwenden kann), sondern das Zeichen hat zwei Seiten, die von Saussure als psychische Einheiten gesehen werden, eine inhaltliche und eine lautliche Seite, beides als Vorstellungen gedacht. Die inhaltliche Seite nennt er signifié (‚Signifikat‘), die lautliche oder materielle Seite bzw. die psychische Vorstellung davon signifiant (‚Signifikant‘): ‚Das sprachliche Zeichen verbindet nicht eine Sache mit einem Namen, sondern einen Begriff mit einer Hörvorstellung. Letztere besteht nicht aus dem materiellen Laut, etwas rein Physischem, sondern aus dem psychischen Abdruck dieses Lautes, der Vorstellung, die uns unsere Sinneswahrnehmungen davon geben. Sie ist sensorisch und, wenn wir sie gelegentlich ‚materiell‘ nennen, dann nur in diesem Sinne und im Gegensatz zum Gegenpol der Assoziation, dem – im Allgemeinen abstrakteren – Begriff. Der psychische Charakter unserer Hörvorstellungen tritt klar hervor, wenn wir unsere eigene Sprache beobachten. Wir können, ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, Selbstgespräche führen oder uns im Geiste ein Gedicht aufsagen. Weil die Wörter der Sprache für uns Hörvorstellungen sind, müssen wir es vermeiden, von den ‚Phonemen‘ zu sprechen, aus denen sie zusammengesetzt sind. Dieser Ausdruck, der die Vorstellung von einer Sprechhandlung impliziert, kann nur dem gesprochenen Wort zukommen, der Realisierung der inneren Lautvorstellung in der Rede. Spricht man von den Lauten und den Silben eines Worts, so vermeidet man dieses Missverständnis, sofern man bedenkt, dass es sich dabei um eine Hörvorstellung handelt. Das sprachliche Zeichen ist also eine psychische Einheit mit zwei Seiten […]. Diese beiden Elemente sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Ob wir nun die Bedeutung des lateinischen Worts arbor suchen oder das Wort, mit dem das Lateinische den Begriff ‚Baum‘ bezeichnet, so ist es doch klar, dass einzig und allein die in der langue üblichen Parallelen [zwischen Begriff und Hörvorstellung] für uns mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und wir schließen jede andere aus, die uns sonst noch in den Sinn kommen könnte. Diese Definition wirft eine wichtige terminologische Frage auf. Zeichen nennen wir die Verbindung des Begriffs mit der Hörvorstellung. In der Alltagssprache bezeichnet dieser Ausdruck aber meistens die Hörvorstellung allein, zum Beispiel ein Wort (arbor usw.). Man denkt dabei nicht
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2 Die Einzelsprache
daran, dass, wenn arbor ein Zeichen genannt wird, dann nur, weil es den Begriff ‚Baum‘ trägt, so dass die Vorstellung von dem sensorisch wahrnehmbaren Teil die des Ganzen impliziert. Die Doppeldeutigkeit würde sich auflösen, wenn man die drei fraglichen Fachbegriffe mit Namen bezeichnen würde, die sich aufeinander bezögen und gleichzeitig im Gegensatz zueinander stünden. Wir schlagen vor, das Wort Zeichen [signe] beizubehalten, um das Ganze zu bezeichnen, und Begriff [concept] bzw. Hörvorstellung [image acoustique] durch signifié und signifiant zu ersetzen. Die beiden letztgenannten Termini haben den Vorteil, den Gegensatz, der sie sowohl beide voneinander als auch vom Ganzen trennt, dessen Teile sie sind, klar zu markieren. Wenn wir uns mit Zeichen begnügen, dann deshalb, weil wir nicht wissen, wodurch wir es ersetzen sollten. Die Alltagssprache suggeriert kein anderes Wort dafür‘ (Saussure 1916: 98–100; cf. Wunderli 2013: 1969, 171).
In diesem Begriff des Zeichens ist prinzipiell seine Einzelsprachlichkeit enthalten, denn Saussure lehnt ausdrücklich die Annahme ab, eine Sprache sei eine Nomenklatur (1916: 97), also eine Gesamtheit von Termini, die die Wirklichkeit im Verhältnis eins zu eins zum Ausdruck bringt. Somit sind die signifiés und die signifiants einzelsprachlich gegeben: Jede Sprache gestaltet ihre Inhalte und ihre Sprachlaute sowie die Kombinationen von Inhalten und Sprachlauten auf ihre je besondere Weise. Die Verbindung zwischen einem signifiant und einem signifié ist nicht von Natur aus gegeben. Es besteht kein natürlicher Zusammenhang zwischen dem signifié ‚arbre‘ und der Lautfolge /arbr/, in einer vereinfachten Transkription (cf. 2.2.1.1). Diese Verbindung wird nur vom Menschen gesetzt; sie ist nicht natürlich, sondern willkürlich bzw. arbiträr (“l’arbitraire du signe”, Saussure 1916: 100–102). Statt „natürlich“ kann man auch „motiviert“ sagen und statt „willkürlich“ „unmotiviert“. Sprachliche Zeichen sind also prinzipiell willkürlich oder unmotiviert; es gibt nur eine gewisse Motiviertheit in der Lautmalerei (bei den Onomatopoetika), wie in frz. glou-glou ‚gluck gluck‘ oder tic-tac ‚ticktack‘. Die „Willkürlichkeit“ des Zeichens bezieht sich nur auf eine Betrachtung des Sprechens im Allgemeinen, in den Einzelsprachen dagegen müssen wir die geschichtlich gewordenen Zeichen mit ihren Bedeutungen verwenden (1.2.3.2). Frz. arbre ist in universeller Hinsicht unmotiviert, aber in der französischen Sprache müssen wir so sagen, weil der Baum aus geschichtlichen Gründen mit diesem Wort benannt wird. Graphisch gibt man den Unterschied zwischen den beiden Seiten des sprachlichen Zeichens in einer konventionellen Schreibweise wieder, die inzwischen recht verbreitet ist und an die man sich der Klarheit halber stets halten sollte. Das signifié schreibt man in der üblichen Weise, aber zwischen Anführungszeichen: ‚arbre‘. Die signifiants setzt man, wenn sie phonologisch transkribiert zwischen, zwischen Schrägstriche: /arbr/. Meint man das sprachliche Zeichen mit signifié und signifiant zusammen, dann wird es in der Handschrift unterstrichen bzw. im Druck oder mit einem Textverarbeitungsprogramm kursiv geschrieben: arbre. Außerhalb des Zeichens befinden sich die Gegenstände und Sachverhalte der Erfahrungswelt. Da wir die Beziehung zwischen Zeichen und außersprachlicher Wirklichkeit Bezeichnung genannt haben, ist das, worauf sich ein Zeichen bezieht,
2.1 Vorüberlegungen
131
dementsprechend ganz allgemein ein Bezeichnetes. Fassen wir dies alles in einem Schema zusammen:
Abb. 2.3: Sprachliches Zeichen
Die Beziehung zwischen zwei signifiés nennen wir Bedeutungsbeziehung, Bedeutungsrelation oder einfach Bedeutung, diejenige zwischen einem Zeichen insgesamt und dem Bezeichneten oder der bezeichneten Sache Bezeichnungsbeziehung, Bezeichnungsrelation oder eben einfach Bezeichnung. Nehmen wir als Beispiel frz. père/mère, it. sp. padre/madre, die sich semantisch minimal und im signifiant nur durch ein einziges Phonem unterscheiden. Das semantisch Gemeinsame in den signifiés von père/mère und padre/madre ist ‚Elternteil eines Kindes‘, das Unterscheidende ist das Geschlecht. Die zum Beispiel mit dem Zeichen mère oder madre bezeichnete Person steht jedoch in vielfältigen Bezeichnungsrelationen. Wenn sie aus der Sicht des Kindes mère ist, um beim Französischen zu bleiben, ist sie für den Vater des Kindes femme oder épouse oder sie kann mit ihrem Vornamen benannt werden. Bleibt man innerhalb der Verwandtschaftsgrade, kann sie sœur, belle-sœur, cousine, grand-mère usw. sein (cf. 2.3.3, Verwandtschaft) und man kann mit Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen fortfahren. Alle diese und weitere Beziehungen zwischen Menschen erschließen weitere Möglichkeiten der Bezeichnung derselben Person mit Zeichen, die die Erfahrung in sehr verschiedene signifiés gliedern. Nicht immer sind die Bezeichnungsverhältnisse so vielfältig wie bei Personen. Dennoch zeigen sie, dass man sich die Beziehung zwischen signifié und Bezeichnetem nicht in einfacher Weise vorstellen darf. Ich muss noch einmal (cf. 1.2.3.1) darauf hinweisen, dass im Deutschen bezeichnen umgangssprachlich völlig anders verwendet wird, als ich es hier tue. In der Alltagssprache „bezeichnet“ man eine Sache mit einem Wort, das als Lautkörper verstanden wird, nicht mit einem Zeichen. In anderen Sprachen verwendet man analoge Wörter nicht wesentlich anders, zum Beispiel désigner im Französischen. Eigentlich liegt diesem Gebrauch ein vor Saussure weit verbreiteter Zeichenbegriff zugrunde, dem zufolge unter Zeichen nur das verstanden wurde, was Saussure signifiant nannte. Saussure hat seinen Gebrauch von signifiant ebenfalls aus der Tradition genommen. Dieser hat jedoch keinen Eingang in die Alltagssprache gefunden.
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2 Die Einzelsprache
Wenn man unter Zeichen nicht mehr nur seine materielle Seite, sondern seine materielle und inhaltliche Seite zusammen versteht, ergibt sich daraus, dass man für das davon abgeleitete Wort bezeichnen in seiner terminologischen sprachwissenschaftlichen Verwendung Konsequenzen aus der begrifflichen Präzisierung von Zeichen zu ziehen hat. Man könnte auch nicht gut auf ein anderes Wort zurückgreifen, um das Problem der Verwechslung der beiden signifiés von bezeichnen zu vermeiden, denn dann würde die kohärente Beziehung zwischen Zeichen und bezeichnen verloren gehen. Das Zeichen und seine Verwendung gehören unmittelbar zusammen. Sprachliche Zeichen können dabei als ein besonderer Fall von Zeichen überhaupt betrachtet werden. Sie sind jedoch die Grundlage der anderen Zeichen, die etwa in einer Zeichensprache, den Verkehrszeichen, der Blumensprache und anderen mehr vorliegen. Diese „Sprachen“ sind Zeichensysteme, deren Grundlage in jedem Fall die „natürliche“ Sprache ist, es sind von der „natürlichen“ Sprache abgeleitete Zeichensysteme. Die Verwendung der sprachlichen Zeichen unterliegt im Allgemeinen keinen grundsätzlichen Sonderbedingungen. Dagegen ist es für die abgeleiteten Zeichensysteme notwendig anzugeben, in welchen Situationen oder unter welchen Bedingungen sie zu verwenden sind. Die von der Sprache abgeleiteten Zeichen werden in bestimmten Situationen verwendet. Die Abgrenzung der Zeichenverwendungssituationen hat sich als äußerst schwierig erwiesen, zumal man die Grenzziehung des Objektbereichs von seiner Disziplin her in Angriff genommen und nicht umgekehrt für diesen Objektbereich eine Disziplin etabliert hat. Diese Disziplin hat der amerikanische Semiotiker Charles W. Morris (1938) Pragmatik genannt. Sie hat die Benutzer von Zeichen, die Situationen und Kontexte der Zeichenbenutzung zum Gegenstand sowie alles, was damit im Zusammenhang steht. In diesem Sinne gibt es dann auch eine linguistische Pragmatik, die sich mit der Benutzung sprachlicher Zeichen befasst. Die Grenzen einer solchen Disziplin sind schwer zu ziehen. Sie geht jedoch in jedem Fall über die Sprachwissenschaft hinaus, denn sie umfasst vieles, was nicht ausschließlich an „natürliche“ Sprachen gebunden ist.
2.1.5 Ausdruck und Inhalt Louis Hjelmslev (1899–1965), mit Viggo Brøndal (1887–1942) und Hans J. Uldall (1907– 1957) einer der Hauptvertreter der Kopenhagener Schule des Strukturalismus (Albrecht 32007: 70–76), setzt in seiner Diskussion des Zeichenbegriffs an der gleichen Stelle wie Saussure an, nämlich bei der naiven Vorstellung, dass das sprachliche Zeichen für etwas steht, gleichsam als wäre das Zeichen etwas Materiell-Konkretes, eine Substanz, die für das Bezeichnete, eine andere Substanz, stünde. Das Saussuresche Diktum, dass, verkürzt gesagt, eine Sprache ‚eine Form, keine Substanz‘ (“une forme, non une substance”, 1916: 157) sei, wird von Hjelmslev radikaler gefasst zur Begründung einer Sprachwissenschaft, die beim sprachlichen Zeichen Substanz und
2.1 Vorüberlegungen
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Form schärfer trennt. Substanz und Form werden sowohl im signifiant als auch im signifié unterschieden. Statt signifiant verwendet Hjelmslev Ausdruck und statt signifié Inhalt, eine Unterscheidung, die über den Strukturalismus hinaus in die Sprachwissenschaft europäischer Prägung Eingang gefunden hat. Die Form des Inhalts werden wir sogleich an einem Beispiel aus der französischen Grammatik in 2.1.6 und die Form des Ausdrucks etwas ausführlicher am Beispiel der Phoneme in 2.2.1 erläutern. Deshalb mag eine allgemeine Einordnung an dieser Stelle genügen. Die Substanz des Ausdrucks kann phonisch oder graphisch sein, die Substanz des Inhalts ist das Bezeichnete (die außersprachliche Wirklichkeit). Ein Ausdruck ist grundsätzlich nur dann anzunehmen, wenn er Ausdruck eines Inhalts ist, und ein Inhalt ist anzunehmen, wenn er einen Ausdruck bekommt. In diesem Sinne sagt Hjelmslev, dass Ausdruck und Inhalt solidarisch, d. h. interdependent sind. Ein Sprachsystem gliedert sich demnach in eine Ausdrucksebene und eine Inhaltsebene (Hjelmslev 1974: 53). Diese Ebenen sind den drei Ebenen, die wir als die allgemeinsten sprachlichen Ebenen unterschieden haben – die des Sprechens im Allgemeinen, der Einzelsprache und des Diskurses –, nachgeordnet. Wir haben die Ebene des Inhalts als Universale der Semantizität (1.2.3) und die Ebene des Ausdrucks als Universale der Materialität (1.2.4) betrachtet. Mit dieser gleichzeitigen Berücksichtigung der beiden Ebenen wendet sich Hjelmslev gegen eine in der Sprachwissenschaft damals wie heute weit verbreitete Trennung von Ausdruck und Inhalt. Es ist zwar legitim, für bestimmte Zwecke Ausdruck und Inhalt getrennt zu untersuchen, in der Einzelsprache existiert aber immer beides zusammen. Auch wir wollen der Solidarität von Inhalt und Ausdruck stets Rechnung tragen.
Bibliographischer Kommentar
Mit diesen Bemerkungen wird nicht der Anspruch erhoben, Hjelmslevs Sprachauffassung darzustellen, die viel zu komplex ist, um sie in einem allgemeinen Werk auch nur annähernd verständlich zu machen. Es gilt nur, einen für die Sprache wesentlichen Gesichtspunkt vorzustellen, der in der Sprachwissenschaft immer noch oder schon wieder viel zu wenig beachtet wird. Dassselbe gilt zum Teil auch für das Folgende. Wer sich über Hjelmslev und sein Werk informieren will, kann Badir 2000 lesen.
2.1.6 Invarianten und Varianten Für die Klärung des Zeichenbegriffs hatten wir Saussures lateinisches Beispiel arbor ans Französische adaptiert. Wir haben damit den Eindruck erweckt, als sei ein sprachliches Zeichen mehr oder weniger dasselbe wie ein Wort. Sprachliche Zeichen können jedoch aus mehreren Wörtern bestehen und auch Teile von Wörtern sein. Dabei nehme ich den Begriff des Worts im Sinne von Leonard Bloomfield als “a minimum free form” (1935: 178). Freie Formen sind solche, die als Äußerungen vorkommen können. Die
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Ebene des Worts dürfte in den romanischen Sprachen damit hinreichend genau für allgemeinere Zwecke abgegrenzt sein (cf. jedoch den Anfang von 2.3). Wörter sind aber nicht die kleinsten sprachlichen Einheiten, die zugleich Ausdruck und Inhalt haben. Wir müssen noch weiter differenzieren und Ausdruck und Inhalt getrennt betrachten: Sprachliche Einheiten stellen wir sowohl auf der Ausdrucks- als auch auf der Inhaltsebene fest. Nehmen wir drei kurze, schlichte Sätze aus Raymond Queneaus Roman Zazie dans le métro (1959), dessen Sprache sich am volkstümlichen Französisch orientiert. Zazie, zu Besuch bei Onkel Gabriel und Tante Marceline, wird nach dem Abendessen ins Bett geschickt. Sie entschließt sich endlich, dieser Aufforderung nachzukommen: “Elle se leva. Gabriel lui tendit la joue. Elle l’embrassa” (‚Sie stand auf. Gabriel hielt ihr seine Wange hin. Sie küsste sie/ihn‘, Kap. II, Le Livre de Poche, 22). Um dem gesprochenen Medium nahe zu kommen, sollten wir uns diese Sätze zwar gesprochen vorstellen oder sie in phonetischer Transkription vorliegen haben. Der Einfachheit halber wählen wir aber nur Erscheinungen aus, die wir auch an der Orthographie zeigen können. Beginnen wir mit der Ausdrucksseite und fragen wir uns, ob die verschiedenen a verschiedene Varianten sind oder ob sie einer Invarianten bzw. einer Einheit entsprechen. Das a in “leva”, “Gabriel”, “la” und “embrassa” wird in etwas verschiedener Betonung, mit unterschiedlicher Länge und unterschiedlichem Öffnungsgrad gesprochen. Im Diskurs sind diese Laute im Hinblick auf die Substanz des Ausdrucks also nicht genau identisch. Wenn wir die verschiedenen Varianten von a untereinander austauschen, hören wir im Französischen jedoch immer „dasselbe“ a als Einheit, als Phonem. Wir können uns fragen, wie weit die Variabilität geht, und können etwa das a in “la joue” [laʒu] durch ein geschlossenes e ersetzen, um zu erfahren, ob sich inhaltlich etwas ändert: “les joues” [leʒu]. Wir verstehen dann eine andere Invariante, die Einheit /e/. Wir verstehen einen anderen Sprachlaut deshalb, weil wir auf der Inhaltsebene vom Singular des Artikels la zum Plural les, d. h. zu einem anderen Inhalt übergegangen sind. Betrachten wir nun die Ausdrucks- und Inhaltsseite gemeinsam. Fragen wir uns, ob la und l’ in “Gabriel lui tendit la joue. Elle l’embrassa” eine Einheit oder zwei sind. Bekanntlich sind die französischen Formen der Artikel la, le, l’ identisch mit den Formen la, le, l’ des unbetonten Personalpronomens; man darf sich daher das Problem stellen, worin sich denn die Formen la und l’ unterscheiden und auf welche sprachlichen Informationen sich ein Hörer stützt, der beide Formen differenziert. Zunächst setzen wir an die Stelle der elidierten Form l’ die Form la: “Elle la embrassa.” Wir erhalten zwar keinen korrekten, aber doch einen völlig verständlichen französischen Ausdruck. Wenn sich die Bedeutung von la und die Bedeutung von l’ in diesem Fall nicht unterscheiden, dann sind l’ und la formale Varianten. Diese beiden Varianten gehören folglich zu einer einzigen Invarianten. Die Form l’ ist in diesem Fall aber nur eine Variante des Pronomens la, das “la joue” insgesamt wiederaufnimmt. Ein Hörer bezieht l’ in “Elle l’embrassa” nur auf die Wortgruppe “la joue”, denn ein Ausdruck wie “Gabriel lui tendit la” kommt in der Kette der gesprochenen Rede nicht vor. Wir
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stellen fest, dass die Varianten la und l’ zu zwei verschiedenen Invarianten gehören. Die eine ist „Femininum des bestimmten Artikels im Singular“, die andere „Femininum des unbetonten Personalpronomens im Singular als direktes Objekt“. Diese Invarianten können nur durch ihre Position unterschieden werden: Der Artikel steht vor einem Substantiv, das unbetonte Personalpronomen vor einem Verb. Das l’ in “Elle l’embrassa” und das la in “la joue” unterscheiden sich durch ihre Distribution, d. h. die Umgebungen, in denen eine Einheit vorkommt: l’ und la werden mit anderen Elementen ihrer Umgebung kombiniert, das eine mit “embrassa” als eines von acht Elementen, d. h. einem Verb, das andere als eines von zwei Elementen mit “joue(s)”, mit einem Substantiv also. Beide Ausdrücke gehören verschiedenen Distributionsklassen an: Ihre unterschiedliche Bedeutung ergibt sich daraus, dass sie das eine Mal mit einem Verb, das andere Mal mit einem Substantiv kombiniert werden. Diese verschiedene Kombinatorik reicht dafür aus, dass ein Hörer jeweils eine andere Bedeutung versteht. Die Methode, wie man zu solchen Distributionsklassen gelangt, haben wir in Kurzform dargestellt. Wir könnten sie aber leicht bis in alle Einzelheiten durchführen, indem wir immer ein Element in einer Kombination durch ein anderes ersetzen und uns fragen, ob dadurch eine mögliche oder eine nicht mögliche Kombination entsteht. Dies ist die Methode, mit der man im Distributionalismus zu den Invarianten gelangt (Harris 1951). Vom Inhalt sieht man dabei in dieser Richtung der Sprachwissenschaft ab. Das Folgende soll zeigen, warum ich diese Methode nicht anwenden möchte. Als Sprecher verbinden wir nämlich immer Ausdruck und Inhalt und wir „wissen“, dass Ausdruck und Inhalt interdependent bzw. solidarisch sind. Deshalb wählen wir eine Methode zur Feststellung sprachlicher Einheiten, die dieser Tatsache Rechnung trägt. Inhaltliche Beziehungen können wir eben als inhaltliche verdeutlichen und wir können im Kontext erläutern, ob mit “Elle l’embrassa” “Elle embrassa Gabriel” oder “Elle lui embrassa la joue” gemeint ist. Diesen Unterschied drücken wir traditionell als „maskulines Personalpronomen Singular der dritten Person“ bzw. „feminines Personalpronomen der dritten Person“ aus. Und wir wissen, dass la in “la joue” dem entspricht, was in der Grammatik „bestimmter femininer Artikel im Singular“ genannt wird, auch wenn wir diese Termini nicht kennen sollten. Wenn wir allerdings [la] isoliert hören, wissen wir nicht, ob [la] eine Ortsangabe (“Qui est là?”), eine Note auf der Tonleiter, ein femininer Artikel im Singular oder ein unbetontes feminines Personalpronomen im Singular ist. Um herauszubekommen, welcher Invariante ich die Variante [la] zuordnen soll, brauche ich eine Kombination von sprachlichen Elementen, mit denen zusammen [la] vorkommt, d. h. seine Distribution. In einer etwas anderen Perspektive können wir das Verhältnis zwischen Invariante und Varianten als Verhältnis zwischen type und token erfassen, die von der Statistik übernommen worden sind. Gerade für statistische Untersuchungen ist es wichtig, zwischen einer sprachlichen Einheit oder Invariante (engl. type) im Gegensatz zu seinem Vorkommen (engl. token) zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist für jede Arbeit mit einem Korpus essentiell, allzumal mit einem digitalen Korpus.
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2 Die Einzelsprache
Versuchen wir nun das begrifflich genauer zu fassen, was wir mit allgemeinen Worten dargestellt haben.
2.1.7 Syntagmatisch und paradigmatisch Die Beziehungen der kombinierten Elemente im Text oder Diskurs untereinander werden syntagmatische Beziehungen genannt. Der Begriff des Syntagmas ist von Saussure eingeführt worden. Er ist dem griechischen sýntagma, latinisierend Syntágma ausgesprochen, entlehnt und bedeutet „Zusammenstellung“. „Zusammengestellt“ oder aneinandergereiht werden sprachliche Einheiten. Der Begriff des Syntagmas bezieht sich bei Saussure immer auf zwei aufeinanderfolgende Einheiten unterschiedlicher Größenordnung: re-lire (‚wiederlesen‘); contre tous (‚gegen alle‘); la vie humaine (‚das Menschenleben‘); Dieu est bon (‚Gott ist gut‘); s’il fait beau temps, nous sortirons (‚wenn das Wetter schön ist, gehen wir aus dem Haus‘). Saussures “rapports syntagmatiques” (‚syntagmatische Beziehungen‘) beziehen sich zunächst auf diese zweigliedrigen Syntagmen. Von Hjelmslev (1974: 42) ausgehend nennt man in der neueren Sprachwissenschaft die lineare Abfolge der Sprachelemente überhaupt, die durch ihr Vorhandensein einen Diskurszusammenhang bilden, syntagmatisch und sieht dabei von einer eventuellen Zweigliedrigkeit ab. Die Beziehungen zwischen Invarianten in der Einzelsprache werden paradigmatische Beziehungen genannt (Hjelmslev 1974: 42). Der Begriff des Paradigmatischen ist vom Deklinations- oder Konjugationsmuster eines Worts auf alle analogen Beziehungen übertragen worden. In der traditionellen Grammatik sind Paradigmen die grammatisch zusammenhängenden Formen der Deklination oder Konjugation, die ein Muster bilden (siehe dazu Beispiele weiter unten). Mit „paradigmatischen Beziehungen“ ersetzt Hjelmslev die “rapports associatifs” von Saussure (‚Assoziationsbeziehungen‘, 1916: 171, 173–175). Parádeigma ist das griechische Wort für „Beispiel“, die latinisierende Form lautet Paradígma. Ein Paradigma ist also zunächst ein Beispiel für ein Deklinations- und Konjugationsmuster. Das davon abgeleitete Adjektiv „paradigmatisch“ erhält bei Hjelmslev jedoch eine neue Bedeutung. Auf syntagmatischer Ebene und in syntagmatischer Beziehung befinden sich Elemente in praesentia (sie sind „anwesend“), auf paradigmatischer Ebene dagegen diejenigen „abwesenden“ Elemente, zwischen denen ein Sprecher wählen kann, die Elemente in absentia. Als Hörer sind wir auf die syntagmatischen Beziehungen angewiesen, die ein Sprecher uns bietet, damit wir erfahren, unter welchen paradigmatischen Beziehungen er gewählt hat: Ob er l’ unter den Artikeln oder den Personalpronomina bzw. la unter den Ortsadverbien (là ‚dort, da‘) oder den Substantiven (im Falle des la, des ‚A‘ der Tonleiter) gewählt hat. Kommen wir deshalb zu unserem Beispiel aus Zazie dans le métro zurück. Man könnte Zazie außer mit Gabriel und seiner Wange in weitere Situationen mit einem je, tu usw. bringen, bis alle sprachlichen Möglichkeiten erschöpft sind. Wenn wir alle
2.1 Vorüberlegungen
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diese Elemente der Situation zu syntaktischen Ergänzungen von embrassa machen, die Personen sind, erhalten wir folgende Kombinationen:
Abb. 2.4: Paradigma
Weitere pronominale Kombinationen gibt es nicht. Nicht alle Kombinationen sind in gleicher Weise „natürlich“. So ist “Elle s’embrassa” weniger wahrscheinlich als “Elle l’embrassa”, aber immerhin möglich. Wir stellen die paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen von “Elle l’embrassa” in einem Achsenkreuz dar. Die Elemente, die in paradigmatischer Beziehung zueinander stehen, sind, wie erwähnt, Elemente und Beziehungen in absentia. Sie sind zwar „abwesend“, sie werden aber dennoch mitgedacht, da ein Element aus den in paradigmatischer Beziehung stehenden Elementen ausgewählt wird. Diese Beziehungen stellt man verallgemeinernd folgendermaßen dar:
Abb. 2.5: paradigmatisch und syntagmatisch
Um diese Beziehungen zu veranschaulichen, haben wir “Elle l’embrassa” in der üblichen syntagmatischen Linearität der Schrift geschrieben und das Paradigma der nicht gewählten Personalpronomina darüber und darunter angeordnet. Vom Sprecher her gesehen entspricht das Paradigmatische der Selektion, denn er wählt ein Element aus den paradigmatischen Beziehungen aus, zum Beispiel la als femininen Artikel im Singular und nicht le oder les, des oder de la (cf. Martinet 41996: 26–27). Und wenn
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2 Die Einzelsprache
wir noch einen letzten Zweifel haben sollten, ob l’ sich auf “la joue” oder “Gabriel” bezieht, so ist dies ebenfalls durch diese mögliche syntagmatische Beziehung bedingt. Das Paradigmatische und das Syntagmatische gehören beides zu unserem Wissen als Sprecher und Hörer. Kinder erwerben es vor dem Schulalter. Um das festzustellen, braucht man nur auf ihren Spaß an Reimen und Wortwitzen zu achten und mit ihnen Reime zu schmieden. In der paradigmatischen und der syntagmatischen Charakterisierung gehen die romanischen Sprachen unterschiedlich weit. Im Französischen ist die Syntagmatik derart ausgeprägt, dass man sogar von einem typologischen Prinzip sprechen kann (cf. 5.8.3). Nehmen wir eines der vielen einsilbigen Wörter, mit denen man dies zeigen kann. Hört man doute /dut/ ohne jede syntagmatische Bestimmung, so kann man zwar eine allgemeine Bedeutung ‚Zweifel‘ oder ‚zweifeln‘ erkennen, man weiß aber nicht, welche es denn genau ist. Man braucht einen nominalen Determinanten wie un, des, le, les, um dieses Wort als Substantiv erkennen zu können, oder einen Determinanten eines Verbs wie zum Beispiel ein Personalpronomen: je doute, tu doutes, il/elle doute. Das andere Extrem stellt das Rumänische dar. In dieser Sprache herrschen, verglichen mit den anderen romanischen Sprachen, paradigmatische Bestimmungen vor, d. h. Bestimmungen am Wort. Der Genusunterschied bei nepot ‚Neffe‘ – nepoată ‚Nichte‘ wird nicht nur durch die Genusendung -ă ausgedrückt, sondern auch durch den Diphthong -oa-. In ähnlicher Weise wird bei den Formen des Indikativ Präsens von a vedea ‚sehen‘ zum Beispiel die erste, zweite und dritte Person zweimal markiert, in văd ‚ich sehe‘ durch ă und d, in vezi ‚du siehst‘ durch e und z und in vede ‚er, sie sieht‘ durch e und d. Dieses Prinzip gilt im Rumänischen zwar nicht in allen Fällen, es ist aber signifikant genug, um es von den anderen romanischen Sprachen deutlich zu unterscheiden. Wenn die Wörter in den anderen romanischen Sprachen am Wort selbst, also paradigmatisch bestimmt werden, folgen die Elemente in der Regel linear aufeinander. Das sehen wir in den italienischen und spanischen Entsprechungen zu unseren willkürlich herausgegriffenen französischen und rumänischen Beispielen: it. (dubbi-o ‚Zweifel‘ steht in keiner direkten Beziehung zum Verb dubitare ‚zweifeln‘); dubit-o, dubit-i, dubit-a; sp. dud-a; dud-o, dud-a-s, dud-a; it. nipote m./f.; sp. sobrin-o, sobrina; it. ved-o, ved-i, ved-e; sp. ve-o, ve-s, ve. Bei den Verbformen ist der Auslaut teils Themavokal wie in it. dubit-a und ved-e, sp. dud-a, teils Personalendung in den übrigen Fällen. Sp. ve ist ein komplexer Ausdruck, bei dem Themavokal, Personalendung und zum Teil das Lexem zusammenfallen. Wir werden auf die Morphologie in 2.3.1 eingehen. Im Distributionalismus (der in zahlreichen verdeckten Formen auftritt), wird das Paradigmatische auf das Syntagmatische reduziert. Dies gilt im Allgemeinen immer dann, wenn kein ausdrücklicher Unterschied zwischen paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen gemacht wird. Der Grund dafür liegt in der Perspektive der Analyse: Als Hörer einer Einheit – und als Sprachwissenschaftler – brauchen wir weitere Elemente in ihrer Umgebung, d. h. wir brauchen die Distribution einer Einheit,
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um sie eindeutig zu verstehen. Als Sprecher aber wissen wir von vornherein, was wir meinen, und deshalb brauchen wir die syntagmatischen Elemente nur, um uns einem Hörer verständlich zu machen. Bei der Simulation von Sprache, wie sie in der elektronischen Datenverarbeitung vorgenommen wird, braucht ein elektronischer Rechner unbedingt syntagmatische Unterschiede, um paradigmatische Unterschiede verarbeiten zu können. Viele Grammatikmodelle und phonologische Theorien bauen auf dieser Art von Simulation auf. Wir dürfen uns dadurch aber nicht dazu verleiten lassen anzunehmen, dass Sprache „so ist“. Vor allem kann auf diese Weise kein Sprechermodell von Sprache gegeben werden, sondern nur ein Hörermodell, denn der Sprecher weiß, wie er das Gesagte meint.
2.1.8 Kommutationsprobe Wie im Distributionalismus zur Feststellung von Einheiten die Substitutionsprobe bzw. Ersatzprobe (Harris 1951/1966: 29–30) und auch die Permutationsprobe – das ist die Umstellung von Einheiten – angewandt wird, so bei einer gleichzeitigen Betrachtung von Inhalt und Ausdruck die Kommutation oder Kommutationsprobe (Hjelmslev 1974: 73–75). Beides sind Techniken zur Feststellung der Elemente oder Glieder eines Paradigmas. Mit ihr soll das paradigmatische Wissen der Sprecher explizit gemacht bzw. „entdeckt“ werden. Die Kommutationsprobe besteht darin, dass ein Element des Ausdrucks auf der syntagmatischen Achse durch ein anderes Element ersetzt wird, das ein Sprecher an dieser Stelle hätte wählen können, um festzustellen, ob sich durch die Ersetzung des Ausdruckselements eine Veränderung auf der Inhaltsebene ergibt. So können wir l’ in “Elle l’embrassa” durch m’ oder t’ ersetzen. Der dadurch dargestellte Sachverhalt beinhaltet nunmehr, dass derjenige, der spricht, oder derjenige, der angesprochen wird, gemeint ist. Wir stellen fest, dass inhaltlich die dritte Person Singular durch die erste oder die zweite Person ersetzt wird. Wir haben es folglich mit verschiedenen Einheiten bzw. verschiedenen Invarianten zu tun. Wir erhalten solange mögliche Ausdrucks- und Inhaltsbeziehungen, wie wir innerhalb der Personalpronomina im Rahmen der Funktion eines grammatischen Objekts (ohne Hervorhebung der Personalpronomina) bleiben. Kommutieren wir diese Pronomina etwa mit “Gabriel” oder “la joue”, verlassen wir die möglichen paradigmatischen Beziehungen des Französischen an der Stelle, an der l’ in diesem Kontext einzelsprachlich möglich ist. Diese Kommutationsprobe wendet man immer an, wenn man feststellen will, ob ein Element eine Invariante oder eine Variante ist, so auch in der Lehre von den Sprachlauten, d. h. der Phonologie. Geben wir dazu ein Beispiel. Im Spanischen kann der Laut [r] lang oder kurz ausgesprochen werden. Was in carro [ˈkaro] ‚Wagen‘ und als erster Buchstabe in [ˈraɾo] raro ‚selten‘ geschrieben wird, spricht man lang aus und transkribiert es mit [r]. Sind aber [r] und [ɾ] Invarianten, d. h. gehören sie zu derselben Einheit? Wenn wir carro statt mit langem [r] mit einem kurzen [ɾ] ausspre-
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2 Die Einzelsprache
chen, erhalten wir einen Inhaltsunterschied, denn caro [ˈkaɾo] hat den Inhalt ‚teuer‘. Es liegen demnach zwei Einheiten bzw. zwei Invarianten vor, die wir phonologisch mit /r/ einerseits und /ɾ/ andererseits darstellen können. Wenn wir dagegen das erste r in raro, [r] gesprochen, durch [ɾ] ersetzen, wird kein Inhaltsunterschied wahrgenommen; Sprecher des Spanischen hören dasselbe Wort, jedoch nicht-normativ etwa von einem Deutschen ausgesprochen, denn im absoluten Anlaut und am Wortanfang existiert im Spanischen phonologisch nur [r]. In diesem Fall sind [r] und [ɾ] Varianten einer Invariante, die die Merkmale beider Varianten umfasst und die man mit /R/ notiert. Mit den Vorüberlegungen wurden die Gesichtspunkte eingeführt, die bei der Beschreibung der Einzelsprache immer mitzubedenken sind. Die Einzelsprache wird beschreibungstechnisch homogen in der Synchronie der Sprecher sowie in ihren Einheiten des Ausdrucks (2.2) und des Inhalts (2.3) dargestellt. Im Anschluss daran (2.4) gewinnen wir wieder die Variation und die Varietäten zurück, die wir in einem ersten Schritt ausklammern.
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck 2.2.1 Phoneme und Phonemsysteme In einer sprachwissenschaftlichen Darstellung gehen wir nicht von lautlichen Unterschieden aus, wie sie summarisch in 1.3.1 beschrieben worden sind, sondern von den Phonemen. Als Invarianten haben sie die Funktion, einzelsprachliche Bedeutungen zu unterscheiden. Diese Funktion nennt man deshalb distinktiv. Ob ein Laut eine distinktive Funktion hat oder nicht, wird durch die Kommutationsprobe (cf. 2.1.8) festgestellt. Dies ist ein technisches Verfahren, das uns verdeutlichen soll, ob ein Laut im Hinblick auf unser einzelsprachliches Wissen „derselbe“ Laut oder nicht „derselbe“ Laut ist. Ich wähle zur Exemplifizierung das spanische Phonem /e/, wie es in der Standardsprache Spaniens gesprochen wird, weil es je nach lautlicher Umgebung recht verschieden realisiert werden kann und diese verschiedenen Realisierungen in anderen Sprachen durchaus Phonemstatus haben. Die Phonemvarianten werden auch, nach den griechischen Wörtern állos ‚ein anderer‘ und phoné ‚Stimme‘, Allophone genannt. Wenn das Phonem /e/ im Spanischen betont ist, kann es als [e] oder als [ɛ] realisiert werden. Das Allophon [e] kommt in cabeza ‚Kopf‘ oder queso ‚Käse‘ vor, so auch in unbetonter Stellung etwa in pesar ‚wiegen‘, das Allophon [ɛ] in lejos ‚fern‘, oreja ‚Ohr‘ und in unbetonter Stellung z. B. in dejar ‚lassen‘. Daneben erscheint dieses Phonem noch in einer bestimmten nachtonigen Stellung im Allophon [ǝ], z. B. in hipótesis ‚Hypothese‘, húmedo ‚feucht‘. Diese drei Allophone sind Lauttypen, die im konkreten Sprechen eine große Variationsbreite aufweisen. Setzt man diese Allophone beim Sprechen – im Sinne der Kommutationsprobe – beliebig ein, werden Spanischsprachige mit diesen lautlichen Unterschieden keine verschiedenen Bedeutungen ver-
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binden. Allenfalls kann es vorkommen, dass ein Allophon an einer bestimmten Stelle so ungewöhnlich ist, dass nicht verstanden wird, welches Wort gemeint ist. Im Französischen und Italienischen dagegen haben /ɛ/ und /e/ Phonemstatus. Im Allgemeinen sind in diesen beiden Sprachen die Vokale zwar im Wortinneren in geschlossenen Silben offen und in offenen Silben geschlossen. Im Wortauslaut jedoch wird im Französischen eher ein geschlossenes /e/ realisiert, während im Italienischen in klarer Weise entweder /e/ wie in perché ‚weil‘ oder /ɛ/ wie in caffè ‚Kaffee‘ gesagt wird. Das Italienische weist auch in der Aussprache dieser Phoneme Unterschiede auf, die Distribution ist aber in der jeweiligen Region einheitlich. Beide Sprachen unterscheiden Wörter gelegentlich durch /ɛ/ und /e/, so das Französische in dais /dɛ/ ‚Baldachin‘ und dé /de/ ‚Würfel‘, das Italienische in venti /ˈvɛnti/ ‚Winde‘ und /ˈventi/ ‚zwanzig‘. Weitere Phonempaare, die Bedeutungen unterscheiden können, sind: /ʃ/ / /ʒ/ in frz. chou ‚Kohl‘/joue ‚Wange‘, /v/ / /v:/ in it. piove ‚es regnet‘/piovve ‚es regnete‘, /v/ / /f/ in it. vino ‚Wein‘/fino ‚fein‘. Der Schrägstrich / zwischen den Phonemen oder den Wortbeispielen drückt aus, dass die rechts und links davon stehenden Phoneme oder Ausdrücke „in Opposition zueinander stehen“. Statt / kann man auch „vs.“ (für versus, das lateinische Adverb, das ‚gegen … hin‘ bedeutet) schreiben, z. B. chou vs. joue. Wortpaare wie diese nennt man Minimalpaare, weil ihre Bedeutungen nur durch ein minimales lautliches Merkmal unterschieden werden. Im französischen Wortpaar ist es der Unterschied zwischen /ʃ/ und /ʒ/. Beide Phoneme sind palatale Reibelaute, die sich nur durch die Abwesenheit des Merkmals „stimmhaft“ in /ʃ/ bzw. die Anwesenheit dieses Merkmals in /ʒ/ unterscheiden. Die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Merkmals notiert man mit ±, z. B. ±stimmhaft wie im soeben genannten Beispiel. Wenn ein Merkmal eine Opposition zwischen zwei Einheiten begründet, sagt man, es sei oppositiv. Das erste italienische Wortpaar unterscheidet sich nur (wenigstens im Standarditalienischen) durch die Länge bzw. Quantität von /v/ vs. /v:/, ein Unterschied, der im Französischen bei Konsonanten praktisch nicht und im Spanischen nur gelegentlich bei Konsonantenphonemen vorkommt (cf. das Beispiel caro/carro in 2.1.8). Durch den Quantitätsunterschied wird bei diesem Wort im Italienischen der Bedeutungsunterschied zwischen Präsens und Perfekt (it. passato remoto) bei piove/ piovve ausgedrückt. Am zweiten italienischen Minimalpaar vino/fino lässt sich erläutern, dass in dieser Sprache ein Unterschied gemacht werden muss, der aber im Spanischen auf diese Weise nicht gemacht werden kann. Eine Aussprache [ˈvino] würde im Spanischen noch als ‚Wein‘ verstanden werden, auch wenn sie nicht normgerecht ist. Das heißt, dass der Unterschied zwischen [b] und [v] im Spanischen nicht zur Bedeutungsunterscheidung eingesetzt werden kann. Man vergleiche dagegen frz. bu ‚getrunken‘/vu ‚gesehen‘ und it. valle ‚Tal‘/balle ‚Ballen‘ (Plural). Wenn die Phonemunterschiede nicht eingehalten werden, ist die Verständigung nicht möglich. (So rigoros funktioniert allerdings eine Sprache nicht, dass bei einem längeren Wort das Verstehen an einem einzigen Unterschied hinge.) Die Verständigung kann darüber hinaus mindestens erschwert werden, wenn ein Sprecher sich nicht an die in einer Einzel-
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2 Die Einzelsprache
sprache üblichen Realisierungstypen hält wie in der falschen Aussprache [ˈvino] statt [ˈbino] im Spanischen. Neben den Phonemunterschieden gibt es je nach Sprache also noch die bei jedem Phonem übliche, die „normale“ Realisierung eines Phonems, wie wir sie bei den Realisierungen von sp. /e/ als [e], [ɛ] und [ǝ] kennengelernt haben. Wir haben bei der Besprechung der Phonemunterschiede mehr oder weniger stillschweigend mit zwei Begriffen gearbeitet, dem Begriff der Opposition und dem Begriff des unterscheidenden Zugs bzw. des distinktiven Merkmals. Zitieren wir dazu die Definition eines der Hauptvertreter der Prager Schule des Strukturalismus: „Der Begriff der Unterscheidung setzt den Begriff des G e g e n s a t z e s , der O p p o s i t i o n , voraus. Ein Ding kann bloß von einem anderen Ding unterschieden werden, und zwar nur insofern beide einander gegenübergestellt, entgegengestellt werden, d. h. insofern zwischen den beiden ein Gegensatz- oder Oppositionsverhältnis besteht. Distinktive Funktion kann daher einer Lauteigenschaft nur insofern zukommen, als sie einer anderen Lauteigenschaft gegenübergestellt wird – d. h. insofern sie das Glied einer lautlichen Opposition (eines Schallgegensatzes) ist. Schallgegensätze, die in der betreffenden Sprache die intellektuelle Bedeutung zweier Wörter differenzieren können, nennen wir p h o n o l o g i s c h e (oder p h o n o l o g i s c h d i s t i n k t i v e oder auch d i s t i n k t i v e ) O p p o s i t i o n e n“ (Trubeckoj 1939: 30).
Eine lautliche Eigenschaft ist folglich ein unterscheidender Zug oder ein distinktives Merkmal, wenn sie die Funktion hat, Bedeutungen und damit Phoneme zu unterscheiden. In diesem Sinne haben wir bei der Beschreibung der Laute diejenigen Eigenschaften behandelt, die distinktiv sein können. Durch die Aufstellung von Minimalpaaren kann man die phonologischen Oppositionen und schließlich das Phonemsystem einer Sprache feststellen. Durch die Aufstellung der Minimalpaare piso ‚Etage, Wohnung‘/puso ‚er, sie stellte‘, peso ‚Gewicht‘/poso ‚Bodensatz‘, paso ‚Schritt‘/peso, peso/piso usw. lassen sich die spanischen Vokalphoneme /i, e, a, o, u/ etablieren. Da diese Lautunterschiede die Funktion haben, Bedeutungen zu unterscheiden, nennt man sie auch einfach funktionell. Die Phonemvarianten dienen nicht der Bedeutungsunterscheidung und sie sind deshalb nicht funktionell. Nachdem man die funktionellen Einheiten auf lautlicher Ebene festgestellt hat, kann man sich auch fragen, ob eine Opposition häufig, nur selten oder überhaupt nicht zur Bedeutungsunterscheidung eingesetzt wird. Diese Häufigkeit, mit der eine Opposition der Bedeutungsunterscheidung dient, nennt man ihren funktionellen Ertrag. Der funktionelle Ertrag der spanischen Opposition zwischen /s/ und /θ/ auf der Iberischen Halbinsel zum Beispiel ist nicht sehr hoch. Man vergleiche casa ‚Haus‘/caza ‚Jagd‘ poso ‚Bodensatz‘/pozo ‚Brunnen‘ paso ‚Schritt‘/pazo ‚Stammhaus‘
sierra ‚er, sie sägt‘/cierra ,er, sie schließt‘ sebo ‚Talg‘/cebo ‚Futter‘ segar ‚mähen‘/cegar ‚blenden‘.
Deshalb kommt es auch zu keinen größeren Verständigungsschwirigkeiten mit Sprechern derjenigen Varietäten, die diese Phoneme nicht unterscheiden. Dennoch ist
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
143
es für die Tatsache, dass ein Laut als Phonem funktioniert, nicht wichtig, ob dieser Unterschied häufig funktioniert. Es würde ausreichen, wenn er in einem einzigen Fall funktioniert. Denn Einheiten, hier Phoneme, etablieren sich nur dadurch, dass sie in Opposition zu einer anderen Einheit stehen. Bestimmte Phoneme sind gegenüber anderen markiert oder unmarkiert. Die Phoneme /b/, /d/ und /g/ sind in den romanischen Sprachen gegenüber /p/, /t/ und /k/ markiert, weil sie durch die Anwesenheit eines Merkmals, das der Stimmhaftigkeit, bestimmt sind, während die anderen Phoneme als stimmlose Phoneme in dieser Hinsicht unmarkiert sind. Um ein Phonem phonologisch minimal zu beschreiben, braucht man je nach Phonem unterschiedlich viele Merkmale. Je mehr Merkmale ein Phonem hat, desto markierter ist es. Die auf diese Weise identifizierten Phoneme stehen nun nicht an jeder Stelle im Wort in Opposition zueinander. So funktioniert zwar im Spanischen die Opposition zwischen /n/, /m/ und /ɲ/ in cana ‚weißes Haar‘, cama ‚Bett‘, caña ‚Rohr‘, d. h. intervokalisch, aber nicht, wenn bilabiale Konsonanten folgen: en Berlín [em bɛɾˈlin] ‚in Berlin‘, en París [em paˈɾis], en Madrid [e maˈðɾið]. Vor /b, p, m/ wird /n/ als [m] ausgesprochen. Die Tatsache, dass eine Opposition in einer bestimmten Umgebung nicht funktioniert, nennt man Neutralisierung. So wird die Opposition /n///m/ vor bilabialen Konsonanten wie in den soeben angeführten Beispielen neutralisiert. Betrachten wir ferner die Beispiele en Sevilla, en Chile, álbum ‚Album‘, réquiem ‚Requiem‘, cantan ‚sie singen‘, desdeñar ‚geringschätzen‘, desdén ‚Geringschätzung‘. In diesen Ausdrücken kommen /n/ vor Konsonant und /m, n, ɲ/ im Auslaut vor. Ob von den drei hier vorkommenden Phonemen /n/, /m/ und /ɲ/ nun Allophone realisiert werden, die im Bereich dieser Phoneme liegen, hängt einzig und allein von der lautlichen Umgebung ab. Die Neutralisierung kann in verschiedene Richtungen gehen. So lautet etwa das /n/ in en Chile beim Schnellsprechen [ɲ], weil /n/ an das palatale /tʃ/ assimiliert wird. Kommt das Phonem /ɲ/ wie in desdeñar in den Auslaut, schreibt man in der spanischen Orthographie , also desdén. Da man sich für eine bestimmte Notation in der Lautschrift entscheiden muss, wählt man für diejenigen Phoneme, die neutralisierbar sind, als Zeichen einen Großbuchstaben. Die Einheit, die die drei angeführten spanischen Nasalkonsonanten umfasst, wird demnach mit /N/ notiert. Phonologisch wird also en Chile als /eN ˈtʃile/ transkribiert, weil dieser Ausdruck auch als [eɲˈtʃile] realisiert werden kann. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Neutralisierungen je nach Einzelsprache verschieden sind. Die Einheit, die durch Neutralisierung einer Opposition oder mehrerer zustande kommt, nennt man Archiphonem. Das Element Archi- drückt ganz allgemein, also nicht nur in der Phonologie, Überordnung innerhalb einer Hierarchie aus.
Phoneminventar und Phonemdistribution Alle diese Untersuchungen, die ich in sehr abgekürzter und unvollständiger Weise dargelegt habe, führen zur Aufstellung eines Phoneminventars. Wie wir aber am Bei-
144
2 Die Einzelsprache
spiel der Neutralisierung gesehen haben, kommen in den Einzelsprachen nicht alle Phoneme in allen Positionen und Kombinationen vor. Die jeweilige Art und Weise, wie ein bestimmtes Phonem im Wort oder in der Silbe „verteilt“ ist, nennt man seine Distribution (cf. 1.4.4). Ein Phonem erscheint nicht immer sowohl im Wortanlaut als auch Wortinlaut oder Wortauslaut bzw. Silbenanlaut, Silbeninlaut oder Silbenauslaut und auch nicht in allen möglichen Kombinationen mit anderen Phonemen. So sind sp., pt. und it. /ɲ/ und /ʎ/ im Wort- und Silbenauslaut ausgeschlossen, im Katalanischen ist diese Distribution dagegen im Wortauslaut möglich, z. B. in any /ˈaɲ/ ‚Jahr‘ und ull /ˈuʎ/ ‚Auge‘. Die angeführten Beispiele für Neutralisierungen von Phonemen implizieren, dass nicht alle Phoneme mit allen anderen kombiniert werden können. Zusätzlich zum Inventar und zur Distribution der Phoneme sind ihre Allophone zu berücksichtigen. Ich erinnere noch einmal an das Beispiel sp. /e/, das als [e], [ɛ] oder [ǝ] je nach lautlicher Umgebung realisiert wird.
Suprasegmentale Einheiten oder Prosodie Die suprasegmentalen Eigenschaften einer Sprache werden einschließlich der Sprechgeschwindigkeit, des Rhythmus und der Sprechpausen auch Prosodie genannt. Bei der Analyse des Gesprochenen sind wir mithilfe der Kommutationsprobe zu den Segmenten gelangt, den Phonemen. Betrachtet man jedoch das Phoneminventar im Vergleich mit seiner Distribution, so stellt man fest, dass nicht alle Phoneme in jeder Umgebung vorkommen. Die größten Unterschiede ergeben sich in Abhängigkeit von der Stellung des Phonems in der Silbe und in Abhängigkeit vom Akzent. Bei einer analytischen Darstellung muss man sich zuerst für eine Reihenfolge in der Behandlung von Phonem, Silbe und Akzent entscheiden. Man kann also zuerst die Lautsegmente bzw. Phoneme und danach die suprasegmentalen Merkmale beschreiben. Es wird letztlich von der jeweiligen Sprachstruktur abhängen, welche Abfolge man wählt. So könnte man den Akzent im Französischen nach den Phonemen behandeln, da er nicht variiert. In den anderen romanischen Sprachen, besonders im Portugiesischen und im Katalanischen ist dagegen das Phonemsystem so sehr durch den Akzent bedingt, dass man ihn vor der Darstellung der Subsysteme berücksichtigt. Der Akzent ist in den romanischen Sprachen, außer dem Französischen, distinktiv. Im Spanischen werden z. B. bei termino, terminó und término durch den Druckakzent die Bedeutungen ‚ich beendige‘, ‚er, sie beendigte (Perfekt)‘ und ‚Ziel, Terminus‘ unterschieden. Im Italienischen differenziert der Akzent auf der zweitletzten Silbe in capita /kaˈpita/ vs. der drittletzten Silbe in capita /ˈkapita/ die Bedeutungen ‚feminines Partizip Perfekt Singular‘ von capire ‚verstehen‘ vs. ‚es trifft sich, es kommt vor‘ von capitare. Die Schwierigkeit, Silben in der Rede klar abzugrenzen, mag darauf beruhen, dass sie phonologische Einheiten sind. Deshalb haben Sprecher intuitiv keine Schwierigkeiten, Silben zu identifizieren. Sie gliedern zum Beispiel beim Skandie-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
145
ren das Gesprochene in Silben. Das können schon kleine Kinder, die gerade einmal angefangen haben sprechen zu lernen. Die Gliederung in Silben fällt zusammen mit den potentiellen Pausen, wie sie im Diskurs bei Unterbrechungen und Selbstkorrekturen oder beim Stottern vorkommen. Phonetisch gleiten dagegen die Silben wie die Laute ineinander über. Am besten erfasst man phonetisch eine Silbe von ihrer Schallfülle her. Vokale haben die größte Schallfülle, sie sind Schallgipfel und damit Silben tragend. In den romanischen Sprachen sind – im Gegensatz zum Deutschen – nur Vokale und keine Konsonanten Silben tragend. Es sind betonte und unbetonte Silben zu unterscheiden. Im Französischen ist die letzte Silbe eines Wortes bzw. einer Wortgruppe (eines mot phonétique, einer Sprecheinheit) betont, im Rumänischen sind es in der Regel die vorletzte und die letzte Silbe, in den anderen romanischen Sprachen kann ferner noch die drittletzte betont sein. In der Struktur der Silbe ist der Unterschied zwischen offener und geschlossener Silbe wichtig. Eine offene Silbe lautet auf Vokal aus, eine geschlossene auf Konsonant. Denselben Sachverhalt bezeichnet man, vorzugsweise in der diachronischen Sprachwissenschaft, mit den Ausdrücken „Vokal in freier Stellung“ und „Vokal in gedeckter Stellung“, wenn die Entwicklung der Vokale erklärt werden soll, z. B. lat. digitum ‚Finger‘ > frz. doigt /dwa/, it. dito, sp. dedo vs. die erste Silbe in lat. corpus ‚Körper‘ > frz. corps /kͻʁ/, it. corpo, sp. cuerpo. Werden zwei aufeinanderfolgende Vokale als zwei verschiedene Silbengipfel artikuliert, nennt man diese Erscheinung Hiat, z. B. frz. ahuri /ayʁi/ ‚bestürzt‘ etc., sp. ahora /aˈoɾa/ ‚jetzt‘. Dagegen bilden ein Halbkonsonant und ein Vokal im Silbengipfel einen Diphthong. Es entsteht ein fallender Diphthong, wenn der Vokal dem Halbkonsonanten vorausgeht, und ein steigender Diphthong, wenn der Vokal dem Halbkonsonanten folgt: sp. it. causa ‚Ursache‘, frz. bien /bjɛ˜/. Die Diphthonge werden steigend oder fallend genannt, weil der Schallfüllegrad vom ersten zum zweiten Vokal steigt oder fällt. Der Schallfüllegrad hängt vom Akzent ab. Die Lautkombinationen, die je nach Sprache als Diphthonge bezeichnet werden, haben in den einzelnen romanischen Sprachen einen unterschiedlichen Status. Ich verweise dazu auf die einzelnen phonologischen Skizzen. Die Beispiele, die ich gebe, sind nur Illustrationen der eingeführten Begriffe, vor allem des Phoneminventars und der Phonemdistribution. Aus der Anwendung der Begriffe würde sich eine knappe Darstellung der Phonemsysteme ergeben. Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, als könnte man für eine genauere Kenntnis des Phonemsystems einer Sprache auf das Studium einer Abhandlung dazu verzichten. Die Schemata, mit denen die Phonemsysteme dargestellt werden, bieten nur einen Ausschnitt aus diesen Systemen. Sie enthalten die Phonemsysteme mit der größten Zahl von Phonemen einer jeden Sprache. In den Erläuterungen werden vereinzelt Hinweise darauf gegeben, wie die Systeme mit reduzierten Phoneminventaren gestaltet sind. Es werden sowohl die paradigmatischen als auch die syntagmatischen Beziehungen berücksichtigt.
146
2 Die Einzelsprache
Bibliographischer Kommentar
Während im europäischen Strukturalismus die Disziplin seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Phonologie genannt und komplementär zur Phonetik gesehen wird, ist sie im nordamerikanischen Strukturalismus eher als Phonemik, bisweilen auch als Phonematik bekannt. Die suprasegmentalen Merkmale werden ebenfalls als prosodische Merkmale beschrieben. Hat man die Artikulation im Sinne der hier gemachten Angaben genau identifiziert, empfiehlt es sich, eine ausführlichere Darstellung zu lesen. Es sei generell darauf hingewiesen, dass die phonologische Einzelforschung nicht berücksichtigt werden kann. Für eine schnelle Information empfiehlt es sich, mit dem Artikel über Phonemik von Ternes im LRL I, 1 (2001) anzufangen. Die Beschäftigung mit Phonetik und Phonologie ist die beste Methode zur Einarbeitung in die Sprachwissenschaft. Wegen der relativen Begrenztheit des Bereichs ist es eher möglich, alle relevanten Gesichtspunkte gleichzeitig präsent zu halten als in anderen sprachlichen Bereichen. Als Einführung in die Phonologie der Prager Schule kann man Trubeckoj 1939 = Trubetzkoy 71989 lesen, mit Jakobson der Hauptvertreter der Prager Schule des Strukturalismus; Jakobson/Halle 1956 begründet die Untersuchung der distinktiven Merkmale auf akustischer Grundlage. Die Prager Phonologie wurde für die Beschreibung der romanischen Phonemsysteme vor allem von Martinet (z. B. 3 1970, 21971, 41974) vermittelt. Eine allgemeine Einführung in die Phonologie auf artikulatorischer Grundlage gibt Ternes 21999, ferner Hall 22011 und das Handbuch von Goldsmith 22011. Es empfiehlt sich, für eine Einarbeitung in die Fachsprache der Phonologie in den Einzelspachen und in die einzelsprachlichen Fachtraditionen z. B. zu lesen Carvalho/Nguyen/Wauquier 2010 (Französisch), Boltanski 1999 (Französisch, neuere Richtungen), Muljačić 1973 (Italienisch), Nespor 1993 (Italienisch). Die generative Phonologie wird hier nicht dargestellt. Sie entspricht nicht dem in diesem Handbuch vertretenen Grundsatz, dass die theoretischen Probleme vor denen der Methode gestellt werden sollen. So wird das Wissen von den Lauten nicht eigentlich als abgestuftes Wissen betrachtet, bei dem die distinktiven und die nicht-distinktiven Unterschiede getrennt werden. Dass in der generativen Phonologie nicht vom Sprachwissen ausgegangen wird, zeigt sich darin, dass der Unterschied zwischen paradigmatisch und syntagmatisch nicht gemacht wird, sondern dass das Paradigmatische auf das Syntagmatische reduziert wird. So nimmt man zugrundeliegende kombinatorische Formen in der Kompetenz an, von denen die phonetischen Formen in der Performanz abgeleitet werden (1.1.2). Im Sinne der angenommenen Regeln sind sie „vorhersagbar“, da sie bereits in ihre Formulierung eingegangen sind. Diese Regeln sind lediglich Regeln einer Beschreibungstechnik. Das Grundlagenwerk ist Chomsky/Halle 1968. Die phonologischen Regeln dieser Richtung werden in der Optimalitätstheorie von Prince/Smolensky 2004 als Restriktionen zur guten Bildung von Wörtern formuliert, die Phonologie wird also weiterhin syntagmatisch und nicht zugleich auch paradigmatisch betrachtet. Dessen ungeachtet werden hier gelegentlich auch generativistische Arbeiten bei den Einzelsprachen erwähnt. Sie liegen der Formalisierung und der Simulation der Lautproduktion in der Computerlinguistik zugrunde und finden dort ihre wichtigsten Anwendungen.
2.2.1.1 Französische Phoneme Das Standardfranzösische ist in besonderem Maße von Paris als der Hauptstadt Frankreichs geprägt, so sehr sogar, dass es als normgebende Instanz auf das Französische außerhalb Frankreichs ausgestrahlt hat. Das Französische hat das komplexeste Phonemsystem unter den romanischen Sprachen. Es kennt, maximalistisch betrachtet, 37 Phoneme, davon sind 16 Vokalphoneme und 21 Konsonantenphoneme. Einen problematischen Status haben die Vokalphoneme /œ˜/, /ɑ/ und /ǝ/, weil ihr funktioneller Ertrag gering ist. Das Franzö-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
147
sische hat 21 Konsonantenphoneme, wenn man die Halbkonsonanten /ɥ/, /w/ und /j/ dazuzählt sowie das in Entlehnungen aus dem Englischen vorkommende /ŋ/. In dem Maße, wie man [ɥ], [w] und [j] für Varianten der Phoneme /y/, /u/ und /i/ hält und annimmt, dass /ŋ/ für ein genuines Phonem zu marginal ist, reduziert sich das Konsonantensystem entsprechend. Wir werden annehmen, dass es nur 19 Konsonantenphoneme gibt. Die Argumente werden weiter unten bei den Halbvokalen genannt. Die oralen Vokale sind folgende:
Abb. 2.6: Orale französische Vokale
Im Schema erscheinen „geschlossen“ und „offen“ zweimal. Das ist in der Weise zu verstehen, dass der mittlere Öffnungsgrad in sich durch einen relativ geschlossenen und einen relativ offenen Öffnungsgrad gekennzeichnet ist. Neben den vier Öffnungsgraden, die das Französische mit den meisten romanischen Sprachen teilt, kennt es im vorderen oder palatalen Artikulationsbereich im Gegensatz zu den anderen romanischen Standardsprachen den Unterschied zwischen gerundeten und ungerundeten Vokalen. Durch die Rundung oder Spreizung der Lippen bzw. durch das Merkmal ±Labialität unterscheidet es zwei Reihen von Vokalen. Die im Vergleich für das Französische charakteristischen Vokalphoneme sind also /y/, /ø/ und /œ/. Diese sind die markiertesten Vokalphoneme, weshalb wir mit der Exemplifizierung des Inventars bei ihnen beginnen. /y/ vs. /i/: nue /ny/ ‚Wolkeʻ vs. nid /ni/ ‚Nestʻ /ø/ vs. /e/: nœud /nø/ ‚Knotenʻ vs. nez /ne/ ‚Naseʻ /œ/ vs. /ɛ/: peur /pœr/ ‚Furchtʻ vs. père /pɛr/ ‚Vaterʻ
Im Hinblick auf die Markierheit folgt der Unterschied zwischen offen und geschlossen bei den Vokalen mittleren Öffnungsgrads: /e/ vs. /ɛ/: dé /de/ ‚Würfelʻ vs. dais /dɛ/ ‚Thronhimmel, Baldachinʻ /ø/ vs. / œ/: jeûne /ʒøn/ ‚Fastenʻ vs. jeune /ʒœn/ ‚jung, Jugendlicherʻ /o/ vs. /ͻ/: côte /kot/ ‚Rippe, Küsteʻ vs. cote, cotte /kͻt/ ‚Kennziffer etc., kurzer Rock, etc.ʻ
148
2 Die Einzelsprache
Unter den Oppositionen haben /ø/ vs. /œ/ und /o/ vs. /ͻ/ einen schwachen funktionellen Ertrag. Die Opposition zwischen /e/ und /ɛ/ funktioniert in der französischen Sprachnorm systematisch im Futur und im Konditional wie in je viendrai /-e/ ‚ich werde kommenʻ vs. je viendrais /-ɛ/ ‚ich würde kommenʻ; im umgangssprachlichen Französisch gibt es aber auch den Zusammenfall in /e/. Die genannten Oppositionen funktionieren nicht in allen Positionen. /e/ und /ɛ/, /o/ und /ͻ/, /ø/ und /œ/ haben die folgende allgemeine Distribution: In betonter Silbe vor Konsonant (bzw. in gedeckter Stellung bzw. geschlossener Silbe) sind diese Vokale offen oder sie haben sich im Laufe der Sprachentwicklung geöffnet: justesse /ʒystɛs/ ‚Richtigkeitʻ, école /ekͻl/ ‚Schuleʻ, épagneul /epaɲœl/ ‚Spanielʻ. In einer betonten Silbe, der kein Konsonant folgt, oder, anders ausgedrückt, in freier bzw. offener Silbe bzw. im absoluten Auslaut erscheinen geschlossene Vokale. Die offenen Vokale können im Laufe der Sprachentwicklung geschlossen werden: nez /ne/, dos / do/ ‚Rückenʻ, nœud /nø/. In betonter Stellung breiten sich /e/, /ø/ und /ͻ/ eher aus als die anderen Phoneme. Die sehr zahlreichen Fälle, die den genannten Regelmäßigkeiten nicht entsprechen, werden an dieser Stelle nicht erwähnt. Dafür ist eine die Sprachnorm darstellende Phonetik und Phonologie des Französischen zu konsultieren. /ɑ/ und /a/ stehen nicht in allen Varietäten des Französischen in Opposition zueinander. Als Minimalpaare lassen sich patte /pat/ ‚Pfoteʻ vs. pâte /pɑt/ ‚Teigʻ, mal /mal/ ‚schlecht, Übelʻ vs. mâle /mɑ:l/ ‚männlich, Mannʻ anführen. Der funktionelle Ertrag dieser Opposition ist auch dort, wo sie funktioniert, äußerst gering. Der Unterschied fällt in vielen Varietäten des Französischen in einem mittleren /a/ zusammen. An dieser Stelle können wir einen Hinweis auf die Vokalquantität oder Dauer anschließen, die im Französischen distinktiv ist. Sie ist in pâte und mâle auch dann distinktiv, wenn die Opposition zwischen /a/ und /ɑ/ in einem mittleren /a/ zusammengefallen ist. Gleichwohl ist der distinktive Charakter der Dauer ein marginales Phänomen. Sie funktioniert meist nicht mehr spontan in ehemaligen Minimalpaaren wie mettre ‚setzen etc.ʻ und maître ‚Meisterʻ, da beide Wörter meist [mɛtʁ] gesprochen werden. Sie ist ein „redundantes“ Merkmal, das bei betonten oralen Vokalen vor /ʁ/, /v/, /z/, /ʒ/ und /vʁ/ erscheint: or [ɔ:ʁ] ‚Goldʻ, chauve [ʃo:v] ‚kahlköpfigʻ, rose [ʁo:z] ‚Roseʻ, rouge [ʁu:ʒ] ‚rotʻ, rouvre [ʁu:vʁ] ‚Steineicheʻ. „Redundant“ bedeutet in diesen Fällen, dass das Merkmal nicht oppositiv ist. Die Längung der Vokale ist jedoch in der Normaussprache unbedingt erforderlich. Zur Transkription /ʁ/ verweise ich auf die Bemerkung am Ende des Abschnitts zu den französischen Phonemen. Es ist viel darüber geschrieben worden, ob [ǝ], das im Französischen “e muet”, “e caduc” oder “e instable” genannt wird, Phonemstatus hat oder nicht. Wenn wir einen Phonemstatus annehmen, stützen wir uns auf Minimalpaare wie z. B. sur ce / syʁsǝ/ ‚darauf, daraufhinʻ vs. sur ceux /syʁsø/ ‚über diejenigenʻ oder auf die Anwesenheit oder Abwesenheit von /ǝ/ wie in l’être /lɛtʁ/ ‚das Seinʻ vs. le hêtre /lǝɛtʁ/ ‚die Bucheʻ. Wie immer man diesen Phonemstatus bewerten mag, ist [ǝ] für die Wortstruk-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
149
tur und morphonologisch von großer Bedeutung. Je nach Sprachstil wird das “e muet” mit unterschiedlicher Häufigkeit gesprochen. Das Französische kennt maximal vier Nasalvokale:
ε̃
œ
ã Abb. 2.7: Französische Nasalvokale
Es ist mit dem Portugiesischen die einzige romanische Sprache, die Nasalvokale aufweist. Jedoch haben die Nasalvokale im Portugiesischen einen anderen Status (cf. 2.2.1.4). Die Nasalvokale belegen wir mit brin /bʁɛ˜/ ‚Halm‘, brun /bʁœ˜/ ‚braun‘, un /œ˜/ ‚ein‘, on /ɔ˜/ ‚man‘ und en /ɑ˜/ ‚in‘. Die Opposition zwischen /ɛ˜/ und /œ˜/ ist auf Kosten von / œ˜/ im Schwinden begriffen. Sie war ohnehin im System wenig gestützt, da dieser Phonemunterschied nur in wenigen Fällen distinktiv funktionierte. Für manche Phonologen gilt /œ˜/ als Variante von /ɛ˜/ in gepflegter Aussprache. Akzeptabel ist diese Feststellung nicht, denn zwischen einer gepflegten und einer weniger gepflegten Aussprache besteht ein Varietätenunterschied.
Halbkonsonanten Betrachten wir vor den konsonantischen Phonemen zuerst die Halbkonsonanten [j], [ɥ] und [w]. Bei ihnen ist das Problem zu klären, ob sie eigene Phoneme darstellen oder Varianten der Vokalphoneme /i/, /y/ und /u/ sind. Beginnen wir mit [ɥ] und [w]. [ɥ] ist ein labiopalataler Frikativ; wir können [ɥ] als eine Variante von /y/ betrachten. [w] ist ein labiovelarer Frikativ; es kann als Variante von /u/ gelten. Wenn wir uns die Frage nach dem Phonemstatus von [ɥ] und [w] stellen, müssen wir nach Minimalpaaren suchen. Der Unterschied zwischen [ɥ] und [w] funktioniert nur in wenigen Fällen, z. B. in lui [lɥi] ‚er‘ und Louis [lwi] ‚Ludwig‘. Da [ɥ] und [w] in diesem Wortpaar Bedeutungen unterscheiden, wäre eine phonologische Interpretation angesagt. Es gibt aber auch die entgegengesetzte Interpretation, die ausgehend von /y/ und /u/ sowohl in [ɥ] als auch in [w] Varianten sieht und [lɥi] mit [sɥe] ‚schwitzen‘ sowie [lwi] mit souhait [swɛ] ‚Wunsch‘ für vergleichbar hält. Wenn wir [ɥ] in lui und suer mit [y] kommutieren, erhalten wir keine andere Bedeutung, ebenfalls nicht, wenn wir [w] in Louis mit [u] kommutieren. Da wir also auf diese Weise keine Bedeutungen unterscheiden können, haben wir es mit Varianten zu tun. Der lautliche Unterschied
150
2 Die Einzelsprache
zwischen [ɥ] und [y], [w] und [u] ist im Standardfranzösischen Frankreichs gleichwohl stabil. Während Phonologen eher bereit sind, den Status von [ɥ] und [w] als Allophonen von /y/ und /u/ anzuerkennen, ist dies bei der Frage, ob [j] Phonemstatus hat oder ein Allophon von /i/ ist, in höherem Maße kontrovers. Vor Vokal ersetzt [j] als Variante [i], z. B. in hier [i.ɛ:ʁ] ‚gestern‘ mit Hiat oder [jɛ:ʁ] ohne Hiat. In diesem Fall erkennt man bereitwiliger den Status von [j] als Allophon von /i/ an. Anders verhält es sich dagegen im Wortauslaut. Während man einerseits bei pays [pɛi] ‚Land‘ und paye [pɛj] ‚zahlt‘ von einem Phonemunterschied ausgeht, wird dem andererseits entgegengehalten, dass dies kein wirkliches Minimalpaar sei, da zwischen dem zweisilbigen [pɛ.i] und dem einsilbigen [pɛj] eben dieser Silbenunterschied bestehe. Berücksichtigt man, dass die Silbe phonologischen Status hat, dürfte man für Wortpaare, die eine unterschiedliche Silbenzahl haben, nicht annehmen, dass sie als Minimalpaare genommen werden können. Je nachdem, welchen Argumenten man mehr Gewicht gibt, kann man [j] den Status einer Variante von /i/ und einer Variante von /j/ geben oder aber [j] oder sogar [ij] für Varianten von /i/ halten. Wenn man aber piller [pije] ‚plündern‘ und pied [pje] ‚Fuß‘ einander gegenüberstellt, kann man [ij] nicht als Variante von /i/ deuten, sondern man wird darin eine Kombination von /i/ + /j/ sehen müssen. Daher wird dieses /j/ in das Inventar der Konsonantenphoneme übernommen. Dabei gehören /i/ und /j/ verschiedenen Silben an. Abgesehen davon, dass der phonologische Status eines Lauts einzelsprachlich zu klären ist, kann der Vergleich mit den Phonemsystemen anderer romanischer Sprachen nichts zur Klärung beitragen, weil [j] im Französischen auch geschichtlich das Ergebnis der Entwicklung von [ʎ] > [j] ist wie in fille [fiʎə] > [fij] ‚Tochter‘.
Abb. 2.8: Französisches Konsonantensystem
Im Schema ist die Stelle von /j/ im System angegeben für den Fall, dass man der Argumentation zugunsten des Phonemstatus dieses Lauts folgt. Die meisten Oppositionen innerhalb des Konsonantensystems sind mehrdimen sional: Sie unterscheiden sich nicht nur durch ein einziges Merkmal (was einer ein-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
151
zigen Dimension entsprechen würde), sondern eben durch mehrere. So besteht der Unterschied zwischen /p/ und /ʒ/ wie in cap /kap/ und cage /kaʒ/ nicht in einer Dimension, sondern in mehreren: /p/ unterscheidet sich von /ʒ/ durch die Labialität, die Okklusivität und die Stimmlosigkeit, /ʒ/ von /p/ durch die Alveolarität, die Frikativität und die Stimmhaftigkeit. Das Funktionieren von Oppositionen zeigt man besser am Beispiel von eindimensionalen Oppositionen. Nur in eindimensionalen Oppositionen finden wir Minimalpaare, deren Unterschied in einem einzigen Merkmal besteht. So verbindet thé /te/ und dé /de/ die Merkmaldimension Dentalität und Okklusivität; die beiden Wörter unterscheiden sich aber in der Merkmaldimension der Stimme. Wir haben es gleichzeitig mit einer privativen Opposition zu tun, da der Unterschied in der Anwesenheit oder Abwesenheit der Stimmhaftigkeit besteht. Was die Distribution angeht, funktioniert das Merkmal ±stimmhaft bei den übrigen französischen Konsonanten in besonders systematischer Weise im Wort- und Silbenanlaut. Einige Beispiele dafür: paix /pɛ/ ‚Frieden‘ vs. baie /bɛ/ ‚Bucht‘ thé /te/ ‚Tee‘ vs. dé /de/ ‚Würfel‘ Caen /kɑ˜/ vs. Gand /gɑ˜/ ‚Gent‘ faux /fo/ ‚Sense‘ vs. veau /vo/ ‚Kalb sel /sɛl/ ‚Salz‘ vs. zèle /zɛl/ ‚Eifer‘ chant /ʃɑ˜/ ‚Gesang‘ vs. gens /ʒɑ˜/ ‚Leute‘
Geben wir einige Beispiele für die Distribution der stimmhaften und stimmlosen Verschlusslaute im Wortauslaut, die kontrastiv zum Deutschen wichtig ist, da das Deutsche diese Opposition im Auslaut neutralisiert: cap /kap/ ‚Kap‘ vs. cab /kab/ (selten) ‚Kabriolet‘ cote /kɔt/ ‚Anteil, Quote‘ vs. /kɔd/ code ‚Gesetzbuch, Kodex‘ bac /bak/ ‚Fähre‘ vs. bague /bag/ ‚Ring‘ neuf m. /nœf/ ‚neu‘ vs. neuve f. /nœv/ casse /kas/ ‚Zerbrechen‘ vs. case /kaz/ ‚Hütte‘ cache /kaʃ/ ‚Versteck, Schlupfwinkel‘ vs. cage /kaʒ/ ‚Käfig‘
Die stimmhaften und stimmlosen Verschlusslaute sowie die stimmhaften und stimmlosen Reibelaute kommen zwar im Wort- und Silbenanlaut und im Wortauslaut vor. Wenn auch die jeweiligen Distributionen belegt sind, ist doch ihr funktioneller Ertrag sehr verschieden. Er kann von einigen wenigen Minimalpaaren zu sehr zahlreichen gehen. Die Opposition zwischen /m/, /n/ und /ɲ/ funktioniert intervokalisch in hameau /amo/ ‚Weiler‘ vs. anneau /ano/ ‚Ring‘ vs. agneau /aɲo/ ‚Lamm‘, aber auch im Auslaut wie in chêne /ʃɛn/ ‚Eiche‘ vs. schème /ʃɛm/ ‚Schema‘ und in banne /ban/ ‚(Kohlen-, Trage-)Korb‘ vs. bagne /baɲ/ ‚Zuchthaus‘. Die Opposition zwischen /l/ und /ʁ/ bzw. /ʀ/ hat ein einen relativ geringen Ertrag, ein Beispiel dafür ist long ‚lang‘ vs. rond /ʁɔ˜/ ‚rund‘. Die Transkription /ʁ/ orientiert
152
2 Die Einzelsprache
sich an der uvularen Aussprache dieses Phonems. Diese wird im Französischen als Vibrant mit [ʀ] transkribiert, während [ʁ] dem r grasseyé vorbehalten ist. Darunter versteht man entweder eine Aussprache, bei der Zäpfchen und Hinterzunge sich im Rachenbereich berühren, oder einfach eine uvulare Aussprache im Gegensatz zu einer lingualen Aussprache des r, die es im Französischen dialektal und regional ebenfalls gibt. Die Transkription mit /ʁ/ wurde hier gewählt, um die Normaussprache hervorzuheben. Der Akzent ist im Französischen nicht disktinktiv. Aber natürlich kann man mit einem Druckakzent und/oder musikalischen Akzent bestimmte Silben und Wörter hervorheben.
Bibliographischer Kommentar
Für die Beziehungen zwischen Aussprachelehre, Phonetik und Phonologie sind, mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, Grammont 91966, Fouché 1959, Léon 1966 und Carton 1974 zu konsultieren. Nachschlagewerke zur Aussprache des Standardfranzösischen sind; für den tatsächlichen Sprachgebrauch, Martinet/Walter 1973, Lerond 1980 und im Hinblick auf die Gegenwartsnorm Warnant 41987. Die wohl beste knappe Einführung in die französische Phonologie gibt Straka in LRL V, 2, 1991. Etwas ausführlicher, aber immer noch elementar und zugleich auch praktisch sind Eggs/Mordellet 1990 (auf Französisch), Röder 1996 (auf Deutsch) und Mordellet-Roggenbruck 2005 (auf Französisch) ausgerichtet. Das Modell für die phonologische Untersuchung nicht nur des Französischen, sondern darüber hinaus hat Martinet mit einer 1941 unter kriegsgefangenen französischen Offizieren durchgeführten Umfrage (21971) nach den Grundsätzen der Prager Schule gegeben. In einem allgemeinen Zusammenhang behandelt Martinet 41974 phonologische Fragen. Die phonologische Variation des Französischen in Frankreich untersucht empirisch Walter 1982. Für Deutschsprachige sind eingerichtet Klein 21966, Rothe 21978 (Synchronie und Diachronie), Meisenburg/Selig 1998 sowie Pustka 22016. Die generative Phonologie behandelt Lyche (ed.) 1994. Zur Aussprache des Französischen in Belgien Pohl 1983, des Frankokanadischen Walker 1984, in der Frankophonie Detey et al. (éds.) 2010.
2.2.1.2 Spanische Phoneme Unter den spanischen Phonemsystemen ist dasjenige der Sprachnorm Spaniens am besten beschrieben. Es enthält das Maximum an phonologischen Unterschieden, wie sie der Orthographie zugrunde liegen. Die hispanoamerikanischen Systeme können als Reduktionen dieses Phonemsystems dargestellt werden, so dass es sich vor allen anderen Systemen für eine kurze Beschreibung anbietet (dazu und zur Variation 2.4.2.7). Das Spanische hat die fünf Vokalphoneme /i, e, a, o, u/. Es ist dreistufig, d. h. es hat drei Öffnungsgrade. Die Oppositionen zeigen wir mit den folgenden Beispielen: piso /ˈpiso/ ‚Fußboden; ich trete‘ vs. peso /ˈpeso/ ‚Gewicht‘ vs. paso /ˈpaso/ ‚Schritt‘ vs. poso /ˈposo/ ‚Bodensatz‘ vs. puso /ˈpuso/ ‚er, sie stellte‘. Wenn man das spanische Vokalsystem mit dem vierstufigen des Französischen, Italienischen und Portugiesischen vergleicht, stellt man fest, dass das Spanische nur /e/ und /o/ hat, wo das Fran-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
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Abb. 2.9: Spanische Vokale
zösische, Italienische und Portugiesische /e/ und /ɛ/, /o/ und /ɔ/ unterscheiden. Ein Blick auf die Diachronie des Lautsystems kann den Unterschied erklären. Vier Stufen liegen in den meisten vulgärlateinischen Vokalsystemen vor, so auch in dem System, das dem Spanischen zugrunde lag. In dieser Sprache aber wurde die Qualität der offenen mittleren Phoneme wie in vlt. terra(m) ‚Land‘, mit [ɛ], und vlt. bonu(m) ‚gut‘, mit [ɔ], in ihrer Vokalqualität dadurch verdeutlicht, dass sie diphthongiert wurden. Vlt. terra(m) entwickelte sich zu tierra und vlt. bonu(m) zu bueno. In seinem Artikulationsbereich kennt das Spanische nur eine vordere oder palatale und eine hintere oder velare Artikulation. Die Artikulation von /a/ verhält sich indifferent gegenüber dem palatalen und dem velaren Artikulationsbereich; normalerweise hat es eine mittlere Qualität, es gibt aber auch je nach lautlicher Umgebung stärker palatale oder stärker velare Varianten von /a/. Distributionell betrachtet können die Vokale betont oder unbetont sein. Man vergleiche: piso ‚ich trete‘ vs. pisó ‚er, sie trat‘ peso ‚ich wiege‘ vs. pesó ‚er, sie wog‘ paso ‚ich gehe vorbei‘ vs. pasó ‚er, sie ging vorbei‘ poso ‚ich posiere‘ vs. posó ‚er, sie posierte‘ busco ‚ich suche‘ vs. buscó ‚er, sie suchte‘.
Alle Vokale kommen am Wortanfang und -ende vor, im Anlaut z. B. in ir ‚gehen‘, en ‚in‘, aquí ‚hier‘, ojo ‚Auge‘, un ‚ein‘, im Auslaut z. B. in ti ‚dich (betont)‘, te ‚dir, dich (unbetont)‘, la ‚die (Artikel); sie (Personalpronomen)‘, lo ‚es (Personalpronomen, direktes Objekt)‘, tu ‚dein‘. Die quantitativen Verhältnisse sind aber gerade im Wortauslaut sehr verschieden. Während -e, -o, -a häufig sind, sind -i und -u außer bei Pronomina selten vertreten: cursi ‚affig, kitschig‘, marroquí ‚marokkanisch‘, tribu ‚Stamm‘, cebú ‚Zebu‘. Die wichtigsten Allophone entstehen durch auf den Vokal folgende Nasale wie in cantar [kãnˈtaɾ] ‚singen‘ vs. catar [kaˈtaɾ] ‚beobachten‘. Im Übrigen haben wir die Allophone der spanischen Vokale in 2.2.1 am Beispiel der Allophone von /e/ besprochen. Eine eher offene, eine eher geschlossene und eine abgeschwächte Variante gibt es insbesondere noch bei /o/. Wir haben auf die Varianten von /a/ hingewiesen, die in
154
2 Die Einzelsprache
Abhängigkeit von der Syntagmatik eher palatal oder eher velar realisiert werden. Die Varianten von /i/ und /u/ sind weniger ausgeprägt. Die spanischen Diphthonge werden phonologisch betrachtet aus zwei Vokalen gebildet, von denen einer der Silbengipfel ist. Sie bestehen aus /i/ oder /u/ + /e, a, o/, aus /e, a, o/ + /i/ oder /u/ oder aus Kombinationen von /i/ und /u/. Schematisch:
Abb. 2.10: Spanische Diphthonge
Wenn das zweite Element Silbengipfel ist, handelt es sich um einen steigenden Diphthong, wenn das erste Element Silbengipfel ist, um einen fallenden Diphthong. Phonetisch werden dabei /i/ als [j] und /u/ als [w] realisiert, z. B. in tiene /ˈtiene/ ‚er, sie hat‘ bzw. [ˈtjɛne] und bueno /ˈbueno/ bzw. [ˈbwɛno]. Steigende Diphthonge erscheinen in tiene [ˈtjɛne], Asia [ˈasja] ‚Asien‘, sintió [sinˈtjo] ‚er, sie fühlte‘, fallende Diphthonge in ley [ˈlɛj] ‚Gesetz‘, baile [ˈbajle] ‚Tanz‘, hoy [ˈɔj] ‚heute‘. Die sowohl aus /i/ als auch aus /u/ bestehenden Diphthonge können phonetisch als [ju] oder [iw], [wi] oder [uj] realisiert werden, z. B. in viuda [ˈbjuða] oder [ˈbiwða] ‚Witwe‘ und in cuida [ˈkujða] oder [ˈkwiða] ‚er, sie besorgt, pflegt‘. Die lautlichen Realisierungen hängen maßgeblich von der lautlichen Umgebung und der Sprechgeschwindigkeit ab. Daher wirken die angeführten isolierten Formen nicht in gleicher Weise natürlich. Unter den Triphthongen sei /uei/ wie in buey [ˈbwɛj] ‚Ochse‘ genannt. Wir hatten in 2.2.1 die Frage aufgeworfen, ob man die Phoneme in Abhängigkeit von der Silbe oder in Abhängigkeit vom Akzent darstellen soll. Im Spanischen ist die Distribution in der Silbe nur für die Konsonanten relevant: Eine implosive Stellung ist schwach. Beispiele dazu finden sich weiter unten bei der Besprechung der „Aspiration“ von /s/. Vokale, so sagten wir, seien Silbengipfel. Betrachten wir nun zuerst das Verhalten von Vokalen, die durch Konsonanten voneinander getrennt sind, und danach solche, die unmittelbar aufeinandertreffen. Wenn einfache Vokale durch Konsonanten voneinander getrennt werden, wird ihre Aussprache nicht gegenseitig beeinflusst, jedenfalls nicht wesentlich. Wir brauchen daher nicht weiter darauf einzugehen. Stehen sie aber im Hiat, d. h. folgt auf einen Silbengipfel ein anderer Silbengipfel, dann tritt ein besonders häufiger Fall von Koartikulation ein, der Synärese genannt wird. Man kann vier Fälle unterscheiden, die alle zur Standardsprache gehören: 1. Folgen zwei gleiche Phoneme aufeinander, werden sie prosodisch zu einem Laut und zu einer Silbe reduziert: alcohol [al.ko.ˈɔl] – [al.ˈkɔl] ‚Alkohol‘. 2. /i/ und /u/ werden zu Halbvokalen bzw. Halbkonsonanten reduziert, wie wir soeben bei der Aussprache der Diphthonge beobachtet haben; ich verweise
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
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noch einmal auf die angeführten Beispiele. 3. /e/ und /o/ können vor /a/ geschlossen und zu einer Silbe verkürzt werden wie in línea [ˈli.ne.a] – [ˈli.nəa] ‚Linie‘, real [re. ˈal] – [ˈrəal] ‚wirklich; königlich‘, toalla [to.ˈa.ʎa-] – [toˈa.ʎa-] ‚Handtuch‘. 4. Wenn /e/ und /o/ miteinander in Kontakt stehen, wird das erste Phonem geschlossen gesprochen wie in cohete [ˈkoe.te] ‚Rakete‘. 5. Bei /a/ + /e/ oder /o/ werden die beiden letzteren Vokale verkürzt und abgeschwächt: caen [ˈka.en] – [ˈkaen] ‚sie fallen‘, ahora [a.ˈɔ.ɾa] – [ˈao.ɾa] ‚jetzt‘. Der Hiat wird an der Wortgrenze durch Kontraktionen aufgelöst; diese Erscheinung wird traditionell Sinalöphe genannt. Die Ergebnisse sind denen ähnlich, die man bei Hiat im Wortinneren feststellt, sie sind aber noch komplexer. /i/ und /u/ werden zu Halbvokalen bzw. zu Halbkonsonanten, /e/ und /o/ werden verkürzt und abgeschwächt. Beispiele: su amistad [swa.mis.ˈtað] ‚seine/ihre Freundschaft‘, quiere hablar [ˈkjɛ.ɾəa.ˈβlaɾ] ‚er, sie will sprechen‘, envidio a Eusebio [em.ˈbi.ðjoaeṷ.ˈse.βjo] ‚ich beneide Eusebio‘ (Navarro Tomás/Haensch/Lechner 1970: 98–107). Der Akzent ist bei den Diphthongen zu behandeln, denn es gibt Diphthonge, die je nach Akzent erscheinen oder auch nicht, und Diphthonge, für die der Akzent irrelevant ist. Der Akzent ist nur für /ie/ und /ue/ relevant. Der Diphthong erscheint, wenn das Lexem (der „Stamm“) betont ist. Ist das Lexem nicht betont, sondern geht der Akzent über auf eine grammatische Endung oder auf ein Suffix, so tritt an die Stelle von /ue/ das Phonem /o/ und an die Stelle des Diphthongs /ie/ das Phonem /e/. tiene ‚er, sie hat‘ – tenemos ‚wir haben‘ hierba, am. yerba ‚Kraut‘ – herbaje, am. yerbaje ‚Weide‘ cuenta ‚er, sie erzählt‘ – contamos ‚wir erzählen‘ hueco ‚hohl‘ – oquedad ‚Höhlung‘
Die Diphthongierung unter dem Akzent ist kein aktuelles Verfahren des Spanischen mehr. Daher ist es möglich, dass neben dem alten Verfahren der Diphthongierung das Lexem konstant gehalten wird. Dadurch wird die Wortbildungsmorphologie des Spanischen regelmäßiger, so etwa in hierba – hierbajo ‚Unkraut‘, am. yerba – yerbajo, huelga ‚Streik‘ – huelguista ‚Streikende, -er‘. Der Akzent unterscheidet natürlich ganz allgemein betonte und unbetonte Silben. Es gibt aber auch Wörter, die an sich schon den Akzent tragen oder eben nicht tragen. Wenn ein Wort durch einen graphischen Akzent von einem anderen Wort unterschieden wird, markiert der graphische Akzent einen phonologisch relevanten Druckakzent, zum Beispiel: mi ‚mein‘ aun ‚sogar‘ que ‚dass‘
mí ‚mich‘ aún ‚(immer) noch‘ qué ‚was’ (Interrogativpronomen)
156
2 Die Einzelsprache
Der Akzent liegt im Spanischen meist auf der vorletzten Silbe, in bestimmten Fällen aber auch auf der letzten oder der drittletzten Silbe, und er hat eine distinktive Funktion. Am häufigsten unterscheidet der Akzent Wörter, die auf der vorletzten und auf der letzten Silbe betont sind: fíe ‚ich, er, sie vertraue‘ (Konjunktiv) vs. fié ‚ich vertraute‘ libro ‚Buch; ich befreie‘ vs. libró ‚er, sie befreite‘ llamo ‚ich rufe‘ vs. llamó ‚er, sie rief‘ peso ‚Gewicht; ich wiege‘ vs. pesó ‚er, sie wog‘.
Manchmal kommt aber noch die Akzentopposition zur drittletzten Silbe hinzu: célebre ‚berühmt‘ vs. celebre ‚ich feiere; er, sie feiert‘ (Konjunktiv) vs. celebré ‚ich feierte‘ depósito ‚Aufbewahrung‘ vs. deposito ‚ich deponiere‘ vs. depositó ‚er, sie deponierte‘ límite ‚Grenze‘ vs. limite ‚ich begrenze; er, sie begrenze‘ (Konjunktiv) vs. limité ‚ich begrenzte‘ término ‚Ende, Ausdruck‘ vs. termino ‚ich beende‘ vs. terminó ‚er, sie beendete‘.
Das spanische Konsonantensystem hat folgendes Inventar:
Abb. 2.11: Spanisches Konsonantensystem
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
157
Als Minimalpaare seien die folgenden angeführt: /p///b/: paso ‚Schritt‘ vs. vaso ‚Glas‘ /t///d/: tía ‚Tante‘ vs. día ‚Tag‘ /k///g/: callo ‚Hornhaut‘ vs. gallo ‚Hahn‘ /s///θ/: casa ‚Haus‘ vs. caza ‚Jagd‘ /n///ɲ/: campana ‚Glocke‘ vs. campaña ‚Feld‘ /j///ʎ/: cayó ‚er, sie fiel‘ vs. calló ‚er, sie verschwieg‘ /l///ʎ/: ola ‚Welle‘ vs. olla ‚Topf‘ /ɾ///r/: caro ‚lieb‘ vs. carro ‚Fuhrwerk‘
Die Konsonanten kommen in unterschiedlicher Frequenz im Wort- und Silbenanlaut, intervokalisch und im Silbenauslaut vor. Regelmäßig erscheinen die Konsonanten im Wort- und Silbenanlaut sowie intervokalisch. Im Wortauslaut kommen jedoch nur die folgenden Konsonanten vor: /s/: casas ‚Häuser‘, /n/: cantan ‚sie singen‘, /r/: cantar ‚singen‘, /l/: español, /d/: verdad ‚Wahrheit‘, /θ/: luz ‚Licht‘, /χ/: boj ‚Buchsbaum‘. Das Vorkommen von /-χ/ ist auf wenige Fälle beschränkt. Die Distribution von Konsonanten, die auch im Auslaut auftreten, wie z. B. /s/ und /θ/, unterliegt ansonsten kaum Beschränkungen: Anlaut Inlaut soy ‚ich bin‘ eso ‚das‘
Auslaut Silbenauslaut tos ‚Husten‘ esto ‚dies‘
cielo ‚Himmel‘
arroz ‚Reis‘
pozo ‚Brunnen‘
juzgar ‚urteilen‘
Die Konsonanten haben im Silbenauslaut, d. h. in implosiver Stellung, und im Auslaut eine schwache Position. Die häufigsten Allophone lassen sich nach Gruppen von Phonemen ordnen. Ihre Distribution weist in solchen Gruppen von Phonemen zahlreiche Ähnlichkeiten auf. Die stimmhaften Verschlusslaute /d, b, g/ haben die Allophone [d, ð], [b, β] und [g, ɣ]. Die Phoneme /d, b, g/ sind also nicht symmetrisch zu /p, t, k/, sondern ihre Realisierungsvarianten reichen in den frikativen Bereich hinein, was in der Tabelle durch das den okklusiven und den frikativen Bereich einschließende Fach zum Ausdruck kommt. Die okklusiven Varianten [d, b, g] erscheinen im Anlaut, nach Pause und nach Nasalkonsonanten, z. B.: dale [ˈdale] ‚gib’s ihm‘, ambos [ˈambos] ‚beide‘, manga [ˈmãŋga] ‚Ärmel‘. Intervokalisch und nach den anderen Konsonanten werden /d, b, g/ als Frikative, also als [β, ð, ɣ] gesprochen wie in cada [ˈkaða] ‚jeder‘ und pardo [ˈpaɾðo] ‚braun, graubraun‘, saber [saˈβeɾ] ‚wissen‘ und silbar [silˈβaɾ] ‚pfeifen‘, lugar [luˈɣaɾ] ‚Ort‘ und algo [ˈalɣo] ‚etwas‘. Die Stellung vor anderen Konsonanten ist eine schwache Stellung. Verschlusslaute werden an dieser Stelle nur bis zur implosiven Phase gebildet, während die Lösung des Verschlusses bei der Artikulation des nachfolgenden Konsonanten eintritt. In der implosiven Stellung werden /p, b, t, d, k, g/ stark abgeschwächt. Bei apto ‚fähig‘ ist die Aussprache bei normalem Sprechtempo [ˈaβto]. Da nun an dieser Stelle alle Varianten von /p/ und alle Varianten von /b/ möglich sind, stellt man fest, dass die Opposition zwischen /p/ und /b/ neutralisiert ist, und tran-
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2 Die Einzelsprache
skribiert alle Aussprachemöglichkeiten durch die phonologische Notation /ˈaBto/. Daneben stellt man in der Umgangssprache fest, dass das implosive /p/ nicht gesprochen wird: séptimo [ˈsɛtimo] ‚siebenter‘. Die Neutralisierung erscheint auch bei den anderen Verschlusslauten: atlas [ˈaðlas] /ˈaDlas/ ‚Atlas‘ admira [aðˈmiɾa] /aDˈmiɾa/ ‚er, sie bewundert‘ acta [ˈaɣta] /ˈaGta/ ‚Sitzungsbericht, Akte usw.‘ signo [ˈsiɣno] /ˈsiGno/ ‚Zeichen‘
Stimmlose Konsonnten werden vor stimmhaften Konsonanten generell sonorisiert: mismo /ˈmismo/ ‚selbst‘ wird als [ˈmizmo] ausgesprochen. Im Bereich der Sibilanten /θ/ und /s/ unterscheidet sich das Spanische ganz erheblich von den anderen romanischen Sprachen. /θ/ gehört zur Norm der Standardsprache Spaniens und ist dort auch außerhalb der Standardsprache verbreitet; es ist ein stimmloser interdentaler Frikativ. Die interdentale Artikulation kommt dadurch zustande, dass die Zungenspitze zwischen die Ränder der Schneidezähne geschoben wird. Vor stimmhaften Konsonanten hat dieses Phonem eine Variante, die der Variante [ð] des Phonems /d/ ähnlich ist wie in juzgar [χuðˈɣaɾ] ‚urteilen‘. /s/ ist in der Standardsprache Spaniens ein stimmloser apikoalveolarer Frikativ. Da die Zungenspitze (Apex) bei der Artikulation den Zahndamm der oberen Schneidezähne berührt, nennt man diesen Sibilanten „apikoalveolares s“. Mit dieser Artikulationsstelle unterscheidet sich das spanische /s/ von den Realisierungen dieses Sibilanten in den anderen romanischen und nicht-romanischen Sprachen außerhalb der Iberischen Halbinsel. Dort ist die Realisierung von /s/ prädorsal. Je nach Sprache kann die Zunge bei der Artikulation dieses prädorsalen [s] eher die oberen Schneidezähne berühren wie im Deutschen oder aber auch die unteren Schneidezähne wie häufig im Italienischen. /s/ und /θ/ dienen der internen Differenzierung zwischen der Standardsprache Spaniens und Hispanoamerikas; sie werden in manchen Regionen des spanischen Sprachraums nicht unterschieden. Es gibt zwei Haupttypen von Nichtunterscheidung, den seseo und den ceceo. Bei seseo tritt an die Stelle der beiden Phoneme /s/, bei ceceo dagegen /θ/. Der seseo ist weiter verbreitet als der ceceo. Als substandardsprachlich gelten der katalanische und der galicische seseo, der in der Verallgemeinerung des apikoalveolaren [s] besteht, während das s des andalusischen, des kanarischen und des hispanoamerikanischen seseo prädorsal realisiert wird. In Spanien gilt der seseo als regionales und sogar als dialektales sprachliches Merkmal, in Hispanoamerika gehört er dagegen zum Standard. Dort ist die apikoalveolare Aussprache nicht geläufig und die Aussprache [θ] wird in der Standardsprache allgemein abgelehnt. Allerdings fallen in einigen Gebieten Andalusiens und vereinzelten Gebieten in Hispanoamerika /θ/ und /s/ in der ceceo genannten Erscheinung zusammen. Die Realisierung des ceceo unterscheidet sich deutlich
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
159
von der Aussprache des Phonems /θ/. Die übliche Aussprache ist beim ceceo nicht interdental, sondern die Zungenspitze berührt gewöhnlich die oberen Schneidezähne. Die implosive Stellung der Konsonanten ist im Spanischen generell schwach. Beim seseo und ceceo kommt zur üblichen Abschwächung die so genannte „Aspiration“ hinzu. Im Kontext des Spanischen ist dieser Terminus kein Problem, da das Phänomen, das in den germanischen Sprachen mit diesem Terminus benannt wird, im Spanischen nicht existiert. In den germanischen Sprachen besteht die Aspiration insbesondere in der Aussprache [ph, th, kh] bei den Phonemen /p, t, k/. Diese Aspiration ist eine „Behauchung“ oder „Anhauchung“ in der etymologischen Bedeutung des lateinischen Worts. Im Spanischen handelt es sich dagegen um die Aussprache von /s/ als [h] in implosiver Stellung und im Wortauslaut, z. B. von estamos ‚wir sind‘ z. B. als [ehˈtamoh]. Die Abschwächung kann bis zum Verstummen gehen. Diese „Aspiration“, die man im Unterschied zur germanischen Aspiration besser Spirantisierung nennt, da eine Ersetzung des Sibilanten [s] durch den Spiranten [h] stattfindet, ist von Andalusien aus über die Kanarischen Inseln, die Karibik bis zum Río de la PlataGebiet verbreitet worden. Was die Realisierung von /m/, /n/ und /ɲ/ angeht, verweise ich auf die Bemerkungen in 2.2.1. Fügen wir noch hinzu, dass /n/ bei nachfolgendem /f/ die Variante [ɱ] hat wie in infierno [iɱˈfjɛrno] ‚Hölle‘. Das Phonem /j/ hat zwei Hauptvarianten, die stimmhafte palatale Affrikate [ɟ] und den stimmhaften Frikativ [j]. Die Affrikate kommt dadurch zustande, dass der Zungenrücken einen Augenblick lang den ganzen palatalen Bereich berührt und einen Verschluss bildet; die Zungenspitze erreicht dabei die unteren Schneidezähne. Die Vorderzunge löst den Verschluss und der Phonationsstrom passiert an der zwischen Zunge und hartem Gaumen gebildeten Enge. Wird die Artikulationsspannung verstärkt, so wird statt [ɟ] die Variante [dʒ] produziert. Die Affrikate [ɟ] kommt im absoluten Anlaut bei langsamem Sprechen in betonter Silbe vor wie in yo ‚ich‘ und im Silbenanlaut nach n und l, z. B. in cónyuge [ˈkɔnɟuχe] ‚Ehegatte‘. Die frikative palatale Variante [j] wird wie die frikative Öffnung des Verschlusses von [ɟ] realisiert und kann regional von Neukastilien bis Andalusien eine bis zu [ʒ] gehende Artikulationsspannung erreichen. Beispiele: ayer ‚gestern‘, yo. /ʎ/ ist ein stimmhafter palataler Seitenlaut oder Lateral. Der Zungenrücken berührt einen großen Teil des harten Gaumens, der Phonationsstrom passiert die Zunge seitlich im hinteren Bereich. Das Phonem hat eine beschränkte Distribution, es kommt im Anlaut wie in llave ‚Schlüssel‘ und intervokalisch wie in calle ‚Straße‘ vor, nicht dagegen im Auslaut. Die Opposition zwischen /ʎ/ und /j/ ist von der Mehrheit der Sprecher im ganzen spanischen Sprachraum aufgegeben worden. Diese Erscheinung wird yeísmo genannt. Dort, wo wie in Nordspanien und in Peru auch /ʒ/ existiert, ist der yeísmo ein diastratisches und ein diaphasisches Phänomen. Wo /j/ in den Varianten [ʒ] oder [dʒ] realisiert wird, kann der yeísmo phonetisch als žeísmo vorkommen. Im Gebiet des Río
160
2 Die Einzelsprache
de la Plata wird er rehilamiento genannt. Dort tritt neben [ʒ] vor allem unter Jüngeren die Aussprache [ʃ] und [tʃ] auf, die sich immer weiter ausbreitet. Am Beispiel von /ɾ///r/ hatten wir den Begriff der Opposition erläutert, wobei /r/ im Gegensatz zu /ɾ/ aus zwei bis vier Schwingungen besteht. Ergänzend stellen wir nur noch fest, dass /r/ im Wortanlaut (rey ‚König‘), in der intervokalischen Stellung (perro ‚Hund‘) und nach n, l sowie s (honra ‚Ehre‘, alrededor (de) ‚um … herum‘, Israel) vorkommt. Im Silbenauslaut stehen /ɾ/ und /r/ nicht in Opposition, daher habe ich cantar, infierno etc. mit [r] transkribiert.
Bibliographischer Kommentar
Die Laute des Spanischen wurden aus den unterschiedlichsten Perspektiven in einer umfangreichen Bibliographie dargestellt, aus der hier nur ein Ausschnitt gegeben werden kann. Beginnen wir mit den elementaren Werken, Quilis 1997 und Iribarren 2005, mit Übungen, sowie dem Handbuch von Martínez Celdrán 2007; Blaser 22011 führt knapp Studierende ein, die mit dem Spanischen noch nicht sehr vertraut sind. Die spanische Phonetik wurde ausgiebig, auch empirisch, zuerst von Navarro Tomás 11918 untersucht. Dieses Werk wurde immer wieder neu bearbeitet und nachgedruckt (282004) und auch bei sprachgeographischen Untersuchungen angewendet. Bearbeitungen für Deutschsprachige liegen in Navarro Tomás 1923 und Navarro Tomás/Haensch/Lechner 1970 vor; Kubarth 2009 hat einen Schwerpunkt auf Segmenten, Silben und Satzmelodien, Gabriel/Meisenburg/Selig 2013 versteht sich als umfassende Einführung in Phonetik und Phonologie. Empirische Untersuchungen zur spanischen Aussprache geben Quilis 1981 (akustisch), Cane llada/Kuhlmann Madsen 1987, zur Phonetik in der spanischen Umgangssprache Rivas Zancarrón/ Gaviño Rodríguez 2009. An Sprecher des Englischen und an Anfänger richtet sich Hualde 2005, über das Spanische in Spanien und in Hispanoamerika. Beispiele für eine kontrastive Phonetik und Phonologie Englisch-Spanisch sind Stockwell/Bowen 1965 und für Deutsch-Spanisch Grab-Kempf 1988. Zur spanischen Phonologie Alarcos Llorach 41965 nach der Phonologie der Prager Schule, d. h. Trubetzkoy, D’Introno/Del Teso/Weston 1995, Quilis 1993. Theoretisch und praktisch sowie unter Berücksichtigung des amerikanischen Spanisch und des Spanischen in den USA konzipiert ist Barrutia/Schwegler 21994. Aus akustischer, perzeptiver und artikulatorischer Perspektive stellt die Phonetik und Phonologie des Spanischen Hidalgo Navarro/Quilis Merín 2002 dar. Die generative Phonologie des Spanischen behandeln Harris 1975 und Núñez Cedeño/Colina/Bradley 2014. Die Geschichte der spanischen Aussprache stellen Pensado Ruiz 1983 und 1984, Ariza Viguera 1989, Fradejas Rueda 1997 und Cos Ruiz/Ruiz Hernández 2003 dar.
2.2.1.3 Katalanische Phoneme Den Sprachennamen Katalanisch kann man auf das gesamte Sprachgebiet anwenden oder nur auf die Sprache von Katalonien (5.11.1.1). Zwar hat sich in der Linguistik und in der Politik in unterschiedlichem Maße „Katalanisch“ für den ganzen Sprachraum durchgesetzt, doch bestehen in diesem Sprachraum mehrere regionale Normen, unter denen ich diejenige auswähle, die die meisten Sprecher hat und die größte sprachgeschichtliche Bedeutung hat, das Katalanische von Barcelona, auch Zentralkatalanisch genannt. Damit ist nicht die Umgangssprache
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
161
dieser Metropolregion gemeint, sondern die Sprachnorm, die ihre regionale Basis in dieser Region hat. Der Akzent ist im Katalanischen phonologisch relevant; die Vokalphoneme lassen sich aber angemessener beschreiben, wenn zuerst die betonten Vokale behandelt werden und danach die unbetonten. Das Vokalsystem ist vierstufig, wie aus dem folgenden Schema hervorgeht:
Abb. 2.12: Katalanisches Vokalsystem
Im Bereich des mittleren Öffnungsgrads könnten wir den eher geschlossenen Vokal „halb geschlossen“ und den eher offenen Vokal „halb offen“ nennen. Die phonologischen Unterschiede lassen sich mit den Oppositionen zwischen sic ‚sic!‘ (wie im Deutschen bei der ungewöhnlichen oder unangemessenen Schreibung eines Worts) vs. cec /ˈsek/ ‚blind’ vs. sec /ˈsɛk/ ‚trocken; ich sitze‘ vs. sac ‚Sack‘ vs. soc /ˈsɔk/ ‚Holzschuh‘ vs. soc /ˈsok/ ‚ich bin‘ vs. suc ‚Saft‘ belegen. Wir stellen insbesondere eine Opposition zwischen /e/ und /ɛ/ sowie /o/ und /ɔ/ fest. Während jedoch /o/ und /ɔ/ Parallelen in anderen romanischen Sprachen bei Wörtern mit derselben Herkunft haben, was sich darin zeigt, dass ein katalanisches /ɔ/ entweder einem solchen Phonem in einer anderen Sprache entspricht wie beim Wort für ‚Welle‘, also pt. onda bzw. kat. ona, oder einem Diphthong, der auf ein vulgärlateinisches /ɔ/ zurückgeht wie sp. bueno bzw. it. buono, die eine Entsprechung in kat. bo haben, ist dies bei dem anderen Phonempaar nicht der Fall. Einem italienischen /e/ wie in catena ‚Kette‘ entspricht ein zentralkatalanisches /ɛ/ in cadena. Dasselbe Phonem wird jedoch im Nordwestkatalanischen und im Valencianischen mit /e/ wie in anderen romanischen Sprachen ausgesprochen. In der Orthographie wird in beiden Fällen eher die geschlossene Aussprache markiert als die offene, so in té ‚er, sie hat‘ vs. te ‚Tee‘, bé ‚gut, Adv.‘ vs. be ‚Lamm‘, soc ,Holzschuh‘/sóc, so früher statt heute soc ,ich bin‘. Die mit /i/ und /u/ gebildeten Diphthonge bestehen aus zwei Phonemen, die phonetisch in den Allophonen [i] und [j] sowie [u] und [w] erscheinen können. /i/ und /u/ kommen sowohl betont als auch unbetont vor. Dagegen werden /e, ɛ, a/ in unbetonter Stellung als [ə] und /u, o, ɔ/ als [u] ausgesprochen. Das Verhältnis zwischen betonten und unbetonten Vokalen lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:
162
2 Die Einzelsprache
Abb. 2.13: Betonte und unbetonte Vokale im Katalanischen
Die Abschwächung des Vokalismus durch den Wechsel des Akzents hat erhebliche morphonologische Konsequenzen in der Grammatik und in der Wortbildung. In der Grammatik wechselt der Akzent in den Verbparadigmen häufig und führt in unbetonter Stellung zu den genannten Abschwächungen, zum Beispiel canta [ˈkantǝ] ‚er, sie singt‘ – cantem [kǝnˈtem] ‚wir singen‘ té [te] ‚er, sie hat‘ – tenim [tǝˈnim] ‚wir haben‘ perd [ˈpɛɾt] ‚er, sie verliert‘ – perdem [pǝɾˈðɛm] ‚wir verlieren‘ diu ‚er, sie sagt‘ – diem ‚wir sagen‘ tus ‚er, sie hustet‘ – tossim [tuˈsim] ‚wir husten‘ mou [ˈmͻw] ‚er, sie bewegt‘ – movem [muˈβɛm] ‚wir bewegen‘.
In der Wortbildung findet diese Abschwächung hauptsächlich in den folgenden Typen von Fällen statt: sac → saquet [sǝˈkɛt] ‚Säckchen‘ cec → cegar [sǝˈɣa] ‚blenden‘ sec → secada [sǝˈkaðǝ] ‚Trockenheit‘ ús ‚Gebrauch‘ → usar [uˈza] ‚gebrauchen‘ ós ‚Bär‘ → ossenc [uˈsɛŋ] ‚bärenhaft‘ os [ˈͻs] ‚Knochen‘ → ossam [uˈsam] ‚Gebeine‘.
Die Abschwächung unterbleibt in Komposita und Präfigierungen, da ihr erstes Element einen Nebenakzent trägt, z. B. in pelar ‚schälen‘ + canyas ‚Halme‘ → pelacanyes [ˌpɛlǝˈkaɲǝs] ‚armer Schlucker‘, preromànic [ˌpɾeruˈmanik] ‚vorromanisch‘, und in den adverbialen Ableitungen auf -ment wie in clar ‚klar‘ → clarament [ˌklaɾǝˈmen]. Treten Vokale im Wortinneren in Kontakt, können sie einen Hiat oder einen Diphthong bilden. Wenn durch den Kontakt ein steigender Diphthong entstehen kann, dann wird dieser bevorzugt wie in eina [ˈɛjnə] ‚Werkzeug‘ oder menyspreu [mɛɲʃˈprɛw] ‚Verachtung‘. Hat jedoch der zweite Vokal die größere Schallfülle, so ist das usuelle Ergebnis ein Hiat, z. B. in diana [diˈanə] ‚Morgenstern, Wecken‘ oder tió [tiˈo] ‚Holzscheit‘. [ǝ] haben wir nicht in das Schema des katalanischen Vokalismus aufgenommen. Das liegt daran, dass sein Phonemstatus in der Fachliteratur sehr kontrovers diskutiert worden ist (cf. Prieto 2004: 165–166; die Autorin schließt sich der generativistischen Auffassung an, derzufolge [ǝ] in einer „Deakzentuierungsregel“ eliminiert wird).
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
163
Das Katalanische hat, wenn man [j] und [w] als Varianten von /i/ und /u/ betrachtet, 21 Konsonantenphoneme, die sich nach Artikulationsstelle und Artikulationsart in folgender Weise zu einem System ordnen lassen:
Abb. 2.14: Katalanisches Konsonantensystem
Da der Phonemstatus von /tʃ/ und /dʒ/ kontrovers diskutiert wird, führe ich einige Beispiele an, die ihren monophonematischen Status gegenüber /t/, /z/, /ʒ/ und /dz/ belegen: botí ‚Beute‘ vs. botxí ‚Henker‘, guisa ‚Weise, Art‘ vs. guitza ‚Ausschlagen, Fußtritt‘, assajar ‚versuchen‘ vs. assetjar ‚belagern‘, sutze ‚schmutzig‘ vs. sutge ‚Ruß‘. Damit stimmt überein, dass die okklusive Phase von [t] und [d] in die frikative Phase von [ʃ] und [ʒ] an derselben Artikulationsstelle übergeht, was durch die hier verwendeten Transkriptionszeichen nicht zum Ausdruck kommt. Problematisch ist dagegen die Beweiskraft von Paaren wie peuet ‚Füßchen‘ vs. paquet ‚Packen, Päckchen‘ für ein angenommenes Phonem /w/ vs. /k/; reia ‚er, sie lachte‘ vs. renya ‚er, sie schimpft‘, für ein angenommenes Phonem /j/ vs. /ɲ/; deien ‚sie sagen‘ vs. deuen ‚sie müssen‘ für /j/ vs. /w/, wenn man sie für Phoneme halten würde, denn die Beispiele sind keine Minimalpaare. Für das Katalanische charakteristisch ist die Neutralisierung der Opposition stimmhaft/stimmlos im Wortauslaut. Das stimmlose Phonem ist das Archiphonem der jeweiligen Opposition. Dass hier eine Neutralisierung stattfindet, lässt sich im graphischen Code meist nur aus der Morphonologie ersehen, da die Orthographie sie verdeckt. In cap ‚Kopf‘ wird die Opposition zwischen /p/ und /b/ neutralisiert,
164
2 Die Einzelsprache
denn dies ist einerseits das Grundwort z. B. zum Diminutiv capet ‚Köpfchen‘ oder die 3. Person Indikativ Präsens zu caber ‚hineinpassen‘. In einem ähnlichen Verhältnis stehen /t/ und /d/ zueinander in pot ‚er, sie kann; Topf‘ (cf. potet ‚Töpfchen‘ und poder ‚können‘), /k/ und /g/ in ric ‚reich‘ (cf. rica f. und rigué ‚er, sie lachte‘, Perfekt von riure) sowie /s/ und /z/ in fos als Konjunktiv Imperfekt in jo fos ‚ich wäre‘ und als Partizip Perfekt zu fondre ‚schmelzen‘, dessen Femininum fosa lautet, mit [z]. In /tʃ/ können sowohl das Phonem /dʒ/ als auch das Phonem /ʒ/ neutralisiert werden. Keine Neutralisierung findet statt beim Substantiv esquitx ‚Spritzer‘ zum Verb esquitxar ‚spritzen‘, während /dʒ/ im Femininum mitja in mig ‚halb‘ zu /tʃ/ neutralisiert wird und /ʒ/ in roja f. zu /tʃ/ in roig ‚rot‘. Die Längung der Konsonanten ist nicht distinktiv, sie kann aber eintreten bei den intervokalischen Konsonantengruppen -bl- und -gl- wie in estable [əsˈtabbɫə] ‚stabil‘ statt [β] oder regla [ˈrɛggɫə] ‚Regel‘ statt [ɣ]. Eine weitere nicht-distinktive Eigenschaft ist die velare Aussprache von /l/ wie in den soeben angeführten Beispielen, die im Silbenauslaut am markantesten ist. Infolge der Lautentwicklung sind nach Konsonanten zuerst die Auslautvokale außer -a verstummt, wobei wir von Sonderbedingungen absehen, und danach der auslautende Konsonant, wenn er ein -n oder -r ist, z. B. lat. plenum ‚voll‘ > ple; das Femininum plena > plena und der Plural plenos > plens blieben dagegen erhalten. Die Wortstruktur variiert nach diesem Muster, so z. B. in pi ‚Pinie‘, pins Pl.; sa ‚gesund‘ m., sana f., sans Pl., sanitat ‚Gesundheit‘; té – tenir ‚haben‘ usw. In ähnlicher Weise wird -r behandelt, das jedoch geschrieben wird, weil es in manchen Fällen wie in mar ‚Meer‘ oder pur ‚rein‘ ausgesprochen wird: primer ‚erster‘, aber primera f., primers m. Pl.; clar ‚klar‘ m., clara f., clars m. Pl., claror ‚Helligkeit‘. In den Konsonantengruppen -mp, -mb, -nt, -nd, -nc, -ng, -lt, -ld wird der auslautenden Konsonant zwar ebenfalls elidiert, aber dennoch geschrieben, weil er in manchen Varietäten gesprochen wird und in Ableitungen vorkommt: camp [ˈkam] ‚Feld‘, rumb [ˈrum] ‚Fahrtrichtung‘, punt [ˈpun] ‚Punkt‘, banc [ˈbaŋ] ‚Bank‘, alt [ˈal] ‚hoch‘. An der Wortgrenze werden die Phoneme satzphonetisch anders als im Wortinneren realisiert. Die phonetische Realisierung ist durch die suprasegmentale Aussprache der Wortgruppen mit einem Wortgruppenakzent bedingt. Zwar ist die volle segmentale Aussprache der Vokale auch in diesem Fall bei sehr gepflegter Diktion möglich, doch werden die Vokale in Abhängigkeit von der Sprechgeschwindigkeit und vom Sprachniveau umgangssprachlich meist reduziert. Treffen zwei betonte Vokale oder ein unbetonter und ein betonter an der Wortgrenze zusammen, sind die Unterschiede noch nicht erheblich. Wenn zwei unbetonte Vokale an der Wortgrenze in Kontakt kommen, können sie in einer einzigen Silbe als Diphthonge gesprochen werden wie in parla idiomes [ˌpaɾlǝj’ðjomǝs] ‚er, sie spricht Fremdsprachen‘. Dies ist der Fall, wenn [i] und [u] miteinander oder mit [ǝ] in Kontakt kommen. [ǝ] in Kontakt mit einem anderen Vokal außer [i] und [u] wird mit besonders großer Häufigkeit elidiert, z. B. in no el conec [ˌnoɫku’nɛk] ‚ich kenne ihn nicht‘ und algú em visita [ǝɫˌɣumbiˈzitǝ] ‚jemand besucht mich‘. Zwei gleiche Vokale werden in der Regel
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
165
zu einem reduziert wie in que es diu [kǝz’ðiu] ‚der, die sich nennt‘ und ferro oxidat [ˌfɛruksi’ðat] ‚verrostetes Eisen‘. Bei drei Vokalen im Kontakt nimmt die phonetische Komplexität entsprechend zu. Die stimmlosen Konsonanten /p/, /t/, /k/ /f/, /s/, / t+s/, /ʃ/ und /tʃ/ werden vor einem stimmhaften Konsonanten sonorisiert, z. B. in un petit gos [umˌpǝtiðˈɣos] ‚ein kleiner Hund‘, cap dona [ˌkaβˈðͻnǝ] ‚keine Frau‘, tots dos [todzˈðos] ‚alle beide‘. Darüber hinaus werden /s/, /t+s/, /ʃ/ und /tʃ/ vor Vokal zu [z], [ddz], [ʒ] und [ddʒ] sonorisiert, z. B. hores i hores [ˈͻɾǝziˈͻɾǝs] ‚Stunden und Stunden‘, tots els altres [toddzǝɫzaˈɫtɾǝs] ‚alle anderen‘, peix i carn [ˌpeʒi’kaɾn] ‚Fisch und Fleisch‘.
Bibliographischer Kommentar
In allgemeiner Hinsicht ist auffallend, dass die Aussprachehandbücher, obwohl die katalanische Aussprache im Alltag wenig der Norm folgt, keine lange Tradition haben wie im Französischen oder Italienischen, was an der Dominanz der Schriftsprache liegt; jedoch steht Bau/Pujol/Rius 1995 zur Verfügung. Institut d’Estudis Catalans 1990 schlägt eine Standardnorm für die Aussprache vor. Einen Abriss der funktionellen Phonologie gibt Badia i Margarit 1988 in französischer Sprache. Die Phonetik und Phonologie des Zentralkatalanischen beschreiben Recasens i Vives 1993 und 2014. In der Gramàtica del català contemporani ist eine ausführliche Darstellung der katalanischen Phonetik und Phonologie enthalten, aus der ich hier stellvertretend das einführende Kapitel von Julià i Muné 2002 anführe; die Autoren dieser Grammatik wenden sich an Sprecher und Fachleute des gesamten Sprachgebiets und versuchen daher die Variation der Laute entsprechend breit darzustellen. Prieto 2004 (mit CD-ROM) stellt die Phonetik und Phonologie für katalanische Muttersprachler einschließlich der artikulatorischen und akustischen Eigenschaften der Laute der wichtigsten katalanischen Dialekte in der Weise dar, dass dieses Werk sowohl für die Verbesserung der eigenen Aussprache als auch für die Ausbildung in Berufen verwendet werden kann, in denen Phonetik- und Phonologiekenntnisse erforderlich sind. Für eine Bestandsaufnahme der Aussprache der Vokale und Konsonanten im gesamten Sprachgebiet ist Recasens i Vives 21996 zu konsultieren. Mit Wheeler 11979/22005, Palmada 1994, Bonet/Lloret 1998 und Prieto 2004 ist ein Forschungsschwerpunkt in der generativen Phonologie festzustellen, während die funktionelle Phonologie kaum vertreten ist.
2.2.1.4 Portugiesische Phoneme Unter den portugiesischen Phonemsystemen wähle ich das Phonemsystem von Lissabon als System der Hauptstadt Portugals aus, in der Menschen aus allen Regionen des Landes zusammengekommen sind. Die Sprache dieser Stadt hat Züge von außerhalb aufgenommen und von ihr gingen Innovationen aus. In der Herausbildung der Varietäten des Portugiesischen in seiner weltweiten Verbreitung ist Lissabon zwar nicht allein bestimmend gewesen. Es steht aber im Mittelpunkt der neuzeitlichen Expansion, wenn man seine Sprache mit der Norm von Coimbra vergleicht, dem älteren normgebenden Zentrum in Portugal. Es bietet sich daher für die Beschreibung der Expansion nach Brasilien einerseits, nach Afrika und Asien andererseits an. Während die Sprachnorm Brasiliens seit dem 19. Jahrhundert eine eigene Entwicklung nimmt, ist das europäische Portugiesisch, d. h. das Modell der Sprache Lissabons, maßgeblich
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2 Die Einzelsprache
für die afrikanischen und asiatischen Staaten oder Gemeinschaften. Für die geschichtliche Entwicklung dieser Norm sei auf die Skizze der portugiesischen Standardsprache verwiesen (cf. 5.15). Neben der geschichtlichen Stellung der Norm des europäischen Portugiesisch lassen sich beschreibungstechnische Aspekte für eine Bevorzugung des Lissaboner Phonemsystems anführen: Die brasilianischen Phonemsysteme, die wegen der demographischen und politischen Bedeutung Brasiliens den Vorrang hätten, lassen sich leichter auf dem Hintergrund des europäischen Portugiesisch beschreiben als umgekehrt. Die romanischen Sprachen haben zwar meist einen Druckakzent, so auch das Portugiesische, die akzentabhängigen Unterschiede sind aber ähnlich groß wie im Katalanischen. Der Akzent ist zudem distinktiv, wie die Beispiele ânimo ‚Wille, Gemüt‘ vs. animo ‚ich rege an‘ vs. animou ‚er, sie regte an‘ zeigen. Die meisten Wörter werden auf der vorletzten Silbe betont, manche jedoch auf der drittletzten Silbe. Die Vokalsysteme und das Konsonantensystem in Abhängigkeit von Akzent und Silbe zu beschreiben, folgt daher keinem Prinzip der deskriptiven Ökonomie, obwohl dies auch zutrifft, sondern Akzent und Silbe bedingen die Subsysteme, nicht umgekehrt. Auch die Allophone der portugiesischen Phoneme sind je nach betonter, vortoniger oder nachtoniger Silbe wesentlich verschiedener als die Allophone anderer hier berücksichtigter romanischer Sprachen, das Katalanische ausgenommen. Die meisten Wörter sind auf der vorletzten Silbe betont, manche jedoch auf der drittletzten Silbe, z. B. crítica ‚Kritik‘, oder der letzten Silbe, z. B. sentirão ‚sie werden fühlen‘. Während zahlreiche grammatische Wörter wie Artikel, einsilbige Präpositionen und unbetonte Personalpronomina klitisch sind, gibt es neben den haupttonigen Silben noch solche, die einen Nebenakzent tragen können. Welche Wörter welche Akzente tragen, hängt ab von der synchronischen Analysierbarkeit, da Wörter, die synchronisch nicht analysiert werden können, einen einzigen Wortakzent haben. Daneben können aber einzelne Elemente in der Rede hervorgehoben werden, was zu einer spezifischen allophonen Realisierung führen kann. Da also die Akzentverhältnisse im Diskurs sehr variabel sind, findet man im Portugiesischen bei den Phonemen eine große Realisierungsbreite. Die Phoneme /e/, /a/, /o/, /ͻ/ haben in unbetonter Stellung die Varianten [ə], [ɐ], [u]: peca [ˈpɛkɐ] ‚er, sie sündigt‘ vs. pecamos [pəˈkɐmuʃ] ‚wir sündigen‘, toca [ˈtɔkɐ] ‚er, sie berührt‘ vs. tocamos [tuˈkɐmuʃ] ‚wir berühren‘. Tritt diese Abschwächung nicht ein, sind die Abweichungen von der allgemeinen Regelmäßigkeit durch spezifische Distributionen zu erklären. Da ein implosives /l/ velarisiert als [ɫ] ausgesprochen wird, tritt nicht die leichte Öffnung zu [ɐ] ein, sondern /a/ wird als velares [ɑ] realisiert wie in altura [ɑɫˈtuɾɐ] ‚Höhe‘. Die Sonderbedingungen können wir hier nicht ausführlich behandeln. Es sei aber darauf hingewiesen, dass unbetontes anlautendes /e/ phonetisch als [i] realisiert wird wie in exacto [iˈzatu] ‚genau‘; die Variante kann auch bei folgendem [ʃ] wie in está ‚ist‘ als [iʃˈta] und sogar als [ˈʃta] realisiert werden.
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
167
Die Systeme der unbetonten Vokale sind verschieden, je nachdem ob die Vokale vor oder nach dem Akzent erscheinen. Im Auslaut kommen in offener Silbe und in geschlossener Silbe vor /S/ die Phoneme /e/, /a/ und /u/ vor, z. B. in den Formen des Verbs lavar ‚waschen‘ wie lave-lava, laves-lavas und in gato ‚Katze‘, gatos. Die Realisierung dieser Phoneme ist reich an Varianten, die bei /e/ von [ǝ] bis Null gehen. In betonter Silbe hat das Portugiesische acht Vokalphoneme, die sich auf vier Öffnungsgrade (kleinster, mittlerer eher geringer, mittlerer eher großer sowie größter Öffnungsgrad) und drei Artikulationsbereiche (vorderer bzw. palataler, mittlerer, hinterer bzw. velarer) verteilen:
Abb. 2.15: Portugiesische Vokale
Von den in diesem Phonemsystem enthaltenen Oppositionen werden nur diejenigen exemplifiziert, die kontrastiv relevant sind, darunter insbesondere diejenigen, die spezifisch sind. Dazu zählen: /e/ vs. /ɛ/: seu ‚sein‘ vs. céu ‚Himmel‘ /o/ vs. /ɔ/: avô ‚Großvater‘ vs. avó ‚Großmutter‘ /a/ vs. /ɐ/: amámos ‚wir liebten‘ vs. amamos ‚wir lieben‘ /ɐ/ vs. /e/: vamos ‚wir gehen‘ vs. vemos ‚wir sehen‘
Distributionell gesehen erscheint /ɐ/ vor /n/ und /ɲ/, nicht aber vor /l/. Die Phoneme /ɐ/ und /ɛ/ haben zwei bis drei Varianten. Eine Variante davon entspricht dem Laut in offener Silbe, wie er phonematisch notiert wird. Folgt der offenen Silbe aber ein /e/ oder wird die Silbe mit /l/ geschlossen, erscheint eine stark velarisierte Variante. Die Velarisierung wirkt sich noch stärker bei den velaren Vokalen /o/, /ͻ/ und /u/ aus, die zugleich labialisiert gesprochen werden. Die Vokale außer /i/ haben diphthongische Varianten, wenn die folgende Silbe mit Palatal (/ʎ/, /ɲ/) oder mit Zischlaut (/ʃ/, /ʒ/) beginnt. Die Wörter caixa ‚Kasse‘ und peixe ‚Fisch‘, phonologisch /ˈkaʃa/ und /ˈpeʃe/, werden als [ˈkai̯ʃɐ] und [ˈpɐi̯ʃǝ] oder [ˈkaʃɐ] und [ˈpeʃǝ] realisiert. In Lissabon wird in dieser Stellung die Opposition zwischen /e/ vs. /ɛ/ neutralisiert und das sich daraus ergebende Archiphonem /E/ steht nicht in Opposition zu /ɐ/. Das bedeutet, dass /E/ in dieser Position durch die
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2 Die Einzelsprache
Varianten [ɛ], [ɐ], [ɛi̯] und [ɐi̯] realisiert werden kann wie in velho ‚alt‘, venho ‚ich komme‘. Diesen Varianten entsprechen phonologisch /ˈvEʎu/ und /ˈvEɲu/. Da die Opposition /ɐ/ vs. /ɛ/ nicht vorkommt, führt es nicht zu Verständigungsschwierigkeiten, wenn man vom Deutschen als Ausgangssprache kommend diesen Unterschied nicht einhält. Das Portugiesische hat in betonter Stellung fünf Nasalvokale: [ĩ, ẽ, ɐ˜, õ, ũ]. Es gibt jedoch bei manchen Sprechern noch [ɛ˜] und [ɔ˜] (z. B. in vendes ‚du verkaufst‘, rompes ‚du zerbrichst‘). Die Nasalvokale werden phonologisch verschieden interpretiert. Nach der einen Auffassung stehen sie einfach in Opposition zu den entsprechenden Oralvokalen, z. B. in seda ‚Seide‘ vs. senda ‚Pfad‘. Nach der anderen sind sie als Vokal +/N/ zu interpretieren. Das Archiphonem /N/ ergibt sich aus der Neutralisierung von /n/, /m/ und /ɲ/ in dieser Position. Die Interpretation der Nasale als Vokalphoneme +/N/ stützt sich auf ihre Struktur- und Distributionseigenschaften. Nach Nasalen werden z. B. /b/, /d/ und /g/ nicht frikativisiert wie sonst nach Vokalen, d. h. dass senda als [ˈsẽndɐ] mit [d] und nicht mit [ð] sowie longo ‚lang‘ als [ˈlõ ŋgu] mit [g] und nicht mit [ɣ] ausgesprochen wird. Während die Vokale im Hiat kontrahiert werden, tritt dies nach Nasal nicht ein, z. B. bleiben der Vokal und der folgende Nasal in lã azul ‚blaue Wolle‘ als [ˈlɐ˜ aˈzul] erhalten. Die Vokalharmonie oder Metaphonie funktioniert nicht mehr synchronisch (cf. Barbosa 1994: 178–179). Der traditionelle Wortschatz und die Sprachnorm sind aber immer noch dadurch geprägt. Ein Beispiel wird beim Vokalismus des Vulgärlateins angeführt (4.5.1.2).
Abb. 2.16: Portugiesisches Konsonantensystem
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
169
Die Darstellung der portugiesischen Konsonanten trägt wiederum der Vergleichbarkeit der romanischen Konsonantensysteme untereinander Rechnung. Neben den zahlreichen stimmhaften Konsonanten des Systems, die z. T. desonorisierte Varianten aufweisen, korrelieren Okklusive und Frikative durch das Merkmal ±stimmhaft miteinander. Die Konsonanten unterscheiden sich nicht durch die Dauer (dieses Merkmal trifft allenfalls auf diejenigen Varietäten des Portugiesischen zu, in denen statt uvularem /ʁ/ ein linguales Phonem existiert). Alle Phoneme außer /j/ und /w/ kommen intervokalisch vor. Diese Distribution gilt, von einigen Restriktionen, besonders nach /ʎ/ und /ɲ/, abgesehen, auch für den Silbenanlaut nach Konsonant. Ähnlichen Restriktionen unterliegt der absolute Auslaut. Die Distribution der portugiesischen Konsonanten ist in vielem dem Spanischen ähnlich. Wie im Spanischen und Katalanischen haben /b/, /d/ und /g/ zwei übliche Allophone, [b], [d], [g] im absoluten Anlaut und meist auch nach Konsonant, [β], [ð], [ɣ] intervokalisch, nach /ɾ/ und /S/ sowie vor /ɾ/. Die letzteren Varianten sind weniger abgeschwächt als im Spanischen. Im Portugiesischen werden /s/ und /z/ nach dem Höreindruck traditionell Sibilanten (sibilantes) und /ʃ/ und /ʒ/ Zischlaute (chiantes) genannt. /-s/ und /-z/ werden im Silbenauslaut [ʃ] oder [ʒ] gesprochen; die stimmlose Variante erscheint im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten, die stimmhafte vor stimmhaften Konsonanten. Durch das Verstummen von unbetontem /e/ entstehen weitere Konsonantenkombinationen. /l/ wird im Silbenauslaut stark velarisiert als [ɫ] gesprochen, die Realisierung kann bis [u] gehen. Die Laterale, die Vibranten, die Nasalkonsonanten sowie die Sibilanten und Zischlaute werden im Silbenauslaut zu den Archiphonemen /L/, /R/, /N/ und /S/ neutralisiert. Die Opposition zwischen /ɾ/ und /ʁ/ wird nach Vokal neutralisiert wie sonst nach Konsonanten; nach Nasal kommt nur [ʁ] vor wie in genro ‚Schwiegersohn‘, honra ‚Ehre‘. Das portugiesische Phonemsystem weist starke Ähnlichkeiten mit dem Altspanischen auf. Die Realisierung der einzelnen Phoneme im europäischen Portugiesisch jedoch, allzumal in Schnellsprechformen, kennt in der Sprachnorm ein Höchstmaß an Varianten, besonders im Bereich der Vokale. Auch bei der Beschreibung ist es ein Problem, diese Varianten, darunter Null-Realisierungen, auf Phoneme zurückzuführen. Ich habe hier nicht versucht, die damit verbundenen komplexen Beschreibungsprobleme aufzuzeigen.
Bibliographischer Kommentar
Eine funktionelle Beschreibung des portugiesischen Phonemsystems in Europa im Sinne Martinets (cf. 2.2.1) gibt Barbosa 1994 als Einführung zu Barbosa 21983. Diese Position fasst Barbosa gedrängt zusammen in LRL VI, 2 (1994a): 130–142. Die Arbeiten Barbosas liegen im Allgemeinen meiner phonologischen Skizze zugrunde. Ich habe darüber hinaus die Phonologie von Ternes 21999 verwendet
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2 Die Einzelsprache
und die Skizze der portugiesischen Phonologie mit den anderen phonologischen Skizzen abgestimmt. Die erste Behandlung der portugiesischen Phonologie gibt H. Lüdtke 1952 und 1953. Cf. ferner Barroso 1999. Mateus 1990 mit Mitarbeitern ist eine umfassende Einführung in Phonetik, Phonologie und Morphologie des Portugiesischen, Mira/d’Andrade 2000 widmet sich der Phonologie allein. Eine Pionierarbeit zur brasilianischen Phonologie stellt Camara Jr. 21977 dar (zuerst 11949). Die brasilianische Aussprache und Phonologie behandelt einführend Callou/Leite 31990, Giangola 2001, die Phonologie des brasilianischen Portugiesisch Cagliari 21997, generativ und mit Übungen Silva 2003 sowie, bis zur Optimalitätstheorie, Bisol (org.) 52010. Den Prozess der diachronischen phonologischen und phonetischen Differenzierung des europäischen und des brasilianischen Portugiesisch zeigt Teyssier 1980 und 51993 auf. Die heutigen Unterschiede kontrastiert Noll 1999: 29–56 miteinander.
2.2.1.5 Italienische Phoneme Die Aussprache der italienischen Standardsprache hat ihre Herkunft in der Toskana des 14. Jahrhunderts, insbesondere in Florenz, ihre Norm beruht aber auf der Rezeption des Florentinischen außerhalb der Toskana, namentlich in Rom, soweit dort die Standardsprache gesprochen wird. Die komplexe Herausbildung der Standardsprache wird in der Skizze der Sprachgeschichte dargestellt (5.1). Das standardsprachliche System der betonten Vokale ist vierstufig und lässt sich nach artikulatorischen Gesichtspunkten im folgenden Schema darstellen:
Abb. 2.17: Italienische Vokale
Es ist also vergleichsweise einfach, nur das Spanische kennt weniger Phoneme. Es lassen sich zwar keine Minimalpaare finden, bei denen sich alle Wörter nur durch den betonten Vokal unterscheiden, aber immerhin begegnen wir einem solchen Unterschied in fünf Fällen: pizzo ‚Kinnbart‘ vs. pezzo /ɛ/ ‚Stück‘ vs. pazzo ‚verrückt‘ vs. pozzo /o/ ‚Grube, Brunnen‘ vs. puzzo ‚Gestank‘. Dieser Sachverhalt kommt nicht von ungefähr: Der funktionelle Ertrag der Opposition zwischen /e/ und /ɛ/ sowie /o/ und /ɔ/ ist gering. Zu den immer wieder angeführten Minimalpaaren gehören pesca /ˈpeska/ ‚Fischfang‘ vs. pesca /ˈpɛska/ ‚Pfirsich‘, venti /ˈventi/ ‚zwanzig‘ vs. venti /ˈvɛnti/ ‚Winde Pl.‘; botte /ˈbotte/ ‚Fass‘ vs. botte /ˈbɔtte/ ‚Schläge‘, colto /ˈkolto/ ‚gebildet‘ vs. colto /ˈkɔlto/ ‚gepflückt‘. Der mittlere Öffnungsgrad ist in manchen regionalitalienischen Varietäten nicht phonologisch relevant, auch wenn in einigen davon der Unterschied phonetisch gemacht wird. Es ist daher verständlich, dass dieser Unterschied
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
171
in der italienischen Orthographie nicht durch einen graphischen Akzent markiert wird. Unabhängig davon, ob diese mittleren Vokale in unbetonter Stellung offen oder geschlossen ausgesprochen werden, werden diese Oppositionen in phonologischer Hinsicht neutralisiert. Für eine normgerechte Aussprache kann man Ausländern den Rat geben, die Aussprache des begrenzten Wortschatzes mit grammatischer Bedeutung (z. B. me ‚mich‘, perché ‚weil‘, voi ‚ihr‘) sowie Endungen und Suffixe zu lernen (z. B. -etto, -mente, -ezza; -(z)ione, -oso, -otto), bei denen die Aussprache konstant ist. Problematisch bleibt im Italienischen die Annahme von Diphthongen und Triphthongen als phonologischen Einheiten, die aus zwei bzw. drei Phonemen bestehen. Bei steigenden Diphthongen wie [je] in piegare ‚biegen‘, [jɛ] in chiesa ‚Kirche‘, [jɔ] in chiodo ‚Nagel‘, [jo] in fiore ‚Blume‘, [wɔ] in uomo ‚Mann, Mensch‘ liegt eine monophonematische Interpretation näher als in fallenden Diphthongen wie [ei] in dei ‚von den m. Pl‘, [ɛi] in sei ‚du bist‘, [ai] in mai ‚nie‘, [oi] in voi ‚ihr‘ etc., die sehr unterschiedlich realisiert werden können. Noch mehr gilt dies für Triphthonge wie etwa [jɛi] in miei ‚meine m. Pl.‘, [wɔi] in tuoi ‚deine m. Pl.‘. Die Norm habe ich durch die Transkription mit [j] oder [w] bzw. unsilbisches [i] oder [u] markiert, deren Varianten ich jedoch nicht vermerke. Im Standarditalienischen ist die Vokalquantität nicht distinktiv, sie ist jedoch phonetisch sehr wichtig. Die Distribution der italienischen Vokale und Konsonanten ist komplementär in dem Sinne, dass nur Vokale, wie in den anderen romanischen Sprachen auch, Silbengipfel sein können, darunter Diphthonge und Triphthonge. Vor allem aber ist die Distribution der Vokale und Konsonanten im Wortauslaut, also an der Wortgrenze komplementär, da im Auslaut italienischer Erbwörter im Wesentlichen nur l, r, m und n zu finden sind und diese Konsonanten außerdem noch in grammatischen Wörtern wie dem maskulinen bestimmten Artikel il, der Präpostion per, der Negation non oder im Falle der Kürzung (it. troncamento) wie in vogliam dire ‚wir wollen sagen‘ statt vogliamo vorkommen. Diese Konsonanten finden sich inbesondere nach Kürzung in Kombinationen, die grammatisch eng zusammengehören: il dottor Bianchi ‚Doktor Bianchi‘, buon giorno ‚guten Tag‘, far venire ‚kommen lassen‘. Das Konsonantensystem hat seinen Schwerpunkt im vorderen Bereich des Vokaltrakts:
172
2 Die Einzelsprache
Abb. 2.18: Italienisches Konsonantensystem
Die Korrelation ±stimmhaft ist systematisch vertreten, auch bei den vier Affrikaten. Diese Opposition ist nicht bei allen Phonempaaren in gleicher Weise gestaltet. Gut etabliert ist sie bei den Okklusiven: pasta ‚Teig‘ vs. basta ‚es reicht‘ tardo ‚spät‘ vs. dardo ‚Pfeil‘, dato ‚Tatsache‘ vs. dado ‚Würfel‘ cala ‚Bucht‘ vs. gala ‚Prunk‘
Ferner in faglia ‚Verwerfung‘ vs. vaglia ‚Geldüberweisung‘ inferno ‚Hölle‘ vs. inverno ‚Winter‘ celato ‚verhohlen‘ vs. gelato ‚gefroren; Eis‘
Isoliert ist in dieser Hinsicht /ʃ/, da es, außer in Fremdwörtern, keine standardsprachliche Entsprechung in /ʒ/ hat. Da an den Graphien und nicht erkennbar ist, ob sie einem stimmhaften oder einem stimmlosen Laut entsprechen, funktioniert die Opposition zwischen /s/ und /z/ in komplexer und nicht immer vorhersehbarer Weise. /s/ + Vokal erscheint regelmäßig im Wortanlaut wie in sole ‚Sonne‘ und ebenso, wenn ein stimmloser Konsonant folgt oder im Wortinlaut vorausgeht sowie am Wortende, z. B. in statua ‚Statue‘, forse ‚vielleicht‘, gas ‚Gas‘. Dass in der Sprachnorm intervokalisch bei bestimmten Einzelwörtern, Endungen, Suffixen oder Lautsequenzen [s] gesprochen werden soll, muss ein Ausländer schlichtweg lernen, so in casa ‚Haus‘, presero ‚sie nahmen‘, animoso
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
173
‚feindselig‘, acceso ‚eingeschaltet‘. In analoger Weise spricht man [z] vor stimmhaften Konsonanten und intervokalisch bei bestimmten Einzelwörtern, Endungen und Suffixen wie z. B. in snello ‚schlank‘, incisero ‚sie schnitten ein‘, bei -sione, z. B. visione ‚Sehvermögen‘, oder -esimo wie in cristianesimo ‚Christentum‘ sowie generell in Latinismen. So kommt es, dass der phonologische Ertrag der Opposition /s/ / /z/ sehr gering ist; zu den wenigen Minimalpaaren gehören chiese /s/ ‚er, sie fragte’ vs. chiese /z/ ‚Kirchen‘ fuso /s/ ‚Spinnrocken‘ vs. fuso /z/ ‚geschmolzen‘ presente /s/ ‚er, sie ahnt‘ vs. presente /z/ ‚gegenwärtig‘
wird von Fall zu Fall als [ts] oder [dz] ausgesprochen, so [ts] in zanna ‚Stoßzahn‘, zio ‚Onkel‘, aber [dz] in zaino ‚Rucksack‘, zero ‚Null‘; und so auch [ts] im Wortinlaut nach Konsonant in senza ‚ohne‘ und einigen Suffixen wie -anza in usanza ‚Brauch‘, -zione in iscrizione ‚Eintragung‘ gegenüber [dz] in pranzo ‚Mittagessen‘. Intervokalisch werden [-tts] und [-ddz-] unabhängig von der Schreibung mit oder immer lang ausgesprochen, z. B. in nazione [natˈtsjo:ne] ‚Nation‘ oder im Minimalpaar razza [-tts] ‚Rasse‘ vs. razza [-ddz-] ‚Rochen‘. Als letztes Phonempaar der Opposition ±stimmhaft sei als Minimalpaar mit diesem Unterschied ciglio /tʃ/ ‚Wimper‘ vs. giglio /dʒ/ ‚Lilie‘ angeführt. Der Grund dafür ist die Opposition zwischen kurzen und langen Konsonanten, die intervokalisch und, wie wir sogleich sehen werden, im Wortanlaut in Erscheinung tritt. Bei manchen Phonempaaren funktioniert sie in dieser Position, bei anderen nicht. Dass die Quantität der Konsonanten oppositiv ist, ist der Normalfall und wird als Verdoppelung aufgefasst. Die Dauer der Vokale wird nach der fast einhelligen Ansicht der Phonologen durch die Bedingung bestimmt, dass die betonten Vokale in offenen, also nicht durch Konsonanten geschlossenen Silben lang sein können. Alle andere Vokale sind dagegen kurz: mese [ˈme:se] ‚Monat‘, bene [ˈbɛ:ne] ‚gut Adv.‘, loro [ˈlo:ɾo] ‚sie Pl.‘; fatto [ˈfatto] ‚gemacht‘, tempo [ˈtɛmpo] ‚Zeit‘, somma [ˈsomma] ‚Summe‘. Lange und kurze Vokale sind folglich Allophone. Bei den Konsonanten wird hingegen die Dauer phonologisch als Gemination bzw. Verdoppelung interpretiert, also als zwei gleiche aufeinanderfolgende Phoneme. Wenn sich demnach analoge Sequenzen durch einen oder zwei gleiche Konsonanten unterscheiden, dann werden sie in dieser Interpretation nicht als distinktives Merkmal ±lang gewertet. Dies trifft zu auf rupe /ˈɾupe/ ‚Fels‘ v. ruppe /ˈɾuppe/ ‚er, sie brach‘ tuta /ˈtuta/ ‚Overall‘ vs. tutta /ˈtutta/ ‚ganz f.‘ baco /ˈbako/ ‚Made‘ vs. Bacco /ˈbakko/ ‚Bacchus‘ tufo /ˈtufo/ ‚Tuff‘ vs. tuffo /ˈtuffo/ ‚ich tauche‘
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2 Die Einzelsprache
casa /ˈkasa/ ‚Haus‘ vs. cassa /ˈkassa/ ‚Kiste, Kasse‘ pala /ˈpala/ ‚Schaufel‘ vs. palla /ˈpalla/ ‚Ball‘ cane /ˈkane/ ‚Hund‘ vs. canne /ˈkanne/ ‚Rohre Pl.‘
Demgegenüber werden /j/, /w/ und /z/ immer einfach und /ʃ/, /ɲ/, /ʎ/, /ts/ und /dz/ intervokalisch immer geminiert, also pesce ‚Fische‘ als [ˈpeʃʃe] oder bagno ‚Bad‘ als [ˈbaɲɲo] ausgesprochen. Die Affrikaten habe ich hier in phonetischer Hinsicht als Verdoppelung des ersten Elements transkribiert wie oben in [ˈraddza], weil das der Artikulation entspricht. Eine alternative Transkription ist [ˈradz.dza]. Die Gemination im Wort wird teils orthographisch markiert, teils bleibt sie orthographisch unausgedrückt. Am Wortanfang ist sie standardspachlich bei bestimmten syntaktischen Konstellationen die Regel. Die Erscheinung wird syntaktische Verdoppelung, it. rafforzamento oder raddoppiamento sintattico bzw. raddoppiamento consonantico oder fonosintattico, genannt und ist für das Italienische charakteristisch. Sie tritt ein, wenn ein mehrsilbiges Wort, das dem mit Konsonant beginnenden Wort vorausgeht, endbetont ist: caffè buono ‚guter Kaffee‘; ferner wenn ein betontes einsilbiges Wort vorausgeht: va bene ‚in Ordnung‘; fakultativ bzw. unregelmäßig nach unbetonten Funktionswörtern wie a, da, se etc.: a casa ‚zuhause‘; ebenfalls unregelmäßig nach einigen mehrsilbigen Funktionswörtern: come vedi ‚wie du siehst‘, dove vai ‚wohin gehst du‘. Nur in bestimmten Fällen wie macché ‚ach was‘, ovvero ‚beziehungsweise‘, quassù ‚hier oben‘ wird die Verdoppelung auch orthographisch ausgedrückt. Das Italienische kennt einen Druckakzent. Er ist distinktiv und durch zahlreiche Minimalpaare belegbar: papà ‚Papa‘ vs. papa ‚Papst‘, camice ‚Hemden‘ vs. camice [ˈkamitʃe] ‚Kittel‘, womit zugleich auf der letzten, der vorletzten (dem häufigsten Fall) und der drittletzten Silbe betonte Wörter belegt sind, wie sie unabhängig von ihrer Verwendung im Diskurs vorkommen. Im Diskurs kann in Verbformen, besonders in Kombination mit Klitika, darüber hinaus die viertletzte Silbe betont werden wie in cantavano ‚sie sangen‘ und auch die fünftletzte wie in occupamelo ‚beschäftige ihn mir‘.
Bibliographischer Kommentar
In sehr auffälliger Weise stehen Aussprachelehren im Vordergrund, die die Anfänge der italienischen Phonetik und Phonologie stark geprägt haben. Dazu gehören Malagoli 21912, Camilli 31965 (diese Angaben berücksichtigen nicht die Nachdrucke), Chapallaz 1979 (auf Englisch), Canepari 1992 und Canepari/Giovanelli 2008. Die Erklärung dieser Tatsache ergibt sich aus der Skizze der Geschichte der Standardsprache (5.1). Canepari/Giovanelli 2008 lehren in diesem Sinne eine gute Aussprache des Standarditalienischen, das die Autoren “italiano neutroˮ nennen. Den Schwerpunkt auf die Phonetik legt das knappe Werk von Maturi 2006, Phonetik und Phonologie zusammen stellen Lichem 1969 und Schmid 1999 dar. Eine frühe generative Behandlung ist Saltarelli 1970; Krämer 2009 wendet die Optimalitätstheorie auf die italienische Phonologie an.
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
175
2.2.1.6 Rumänische Phoneme Die regionale Grundlage der rumänischen Standardsprache ist der muntenische Dialekt mit seinem Zentrum in Bukarest. Da sie diaphasisch betrachtet ihren Ursprung in der Literatursprache hat (5.7.4), wird sie im Rumänischen limba literarǎ genannt. Das rumänische Phoneminventar besteht aus sieben Vokalen und 22 Konsonanten. Die Vokalphoneme sind /a/, /e/, /i/, /ə/, /ɨ/, /o/ und /u/:
Abb. 2.19: Rumänische Vokale
Sie haben als unterscheidende Merkmale drei Öffnungsgrade, einen großen, einen mittleren und einen geringen Öffnungsgrad. Im Hinblick auf den Artikulationsbereich ist ein vorderer oder palataler und ein hinterer oder velarer zu unterscheiden. Der hintere Artikulationsbereich differenziert sich je nach Lippenrundung bzw. Labialisierung in gerundete und ungerundete Vokale. Die Oppositionen lassen sich etwa durch die folgenden Minimalpaare belegen: /a/ vs. /ə/ wie in casa ‚das Haus‘ vs. casă ‚Haus‘, par ‚Pfahl‘ vs. păr ‚Haar; Birnbaum‘, /ə/ vs. /e/ wie in casă vs. case ‚Häuser‘, /ə/ vs. /ɨ/ wie in rău ‚schlecht‘ vs. râu ‚Fluss‘, /o/ vs. /u/ wie in por ‚Pore‘ vs. pur ‚rein‘. Ein Problem besteht für die artikulatorische Zuordnung von /ə/ und /ɨ/, die, besonders /ɨ/, charakteristisch für das Rumänische im Verhältnis zu anderen romanischen Sprachen sind. Die Frage ist, ob bei ihnen eher die Ungerundetheit oder der mittlere Artikulationsbereich distinktiv ist. Aufgrund phonetischer Untersuchungen nimmt man an, dass die Ungerundetheit der Lippen distinktiv ist. Die Grapheme sind für /ə/ und für /ɨ/ , früher . Die übrigen Grapheme entsprechen genau den Phonemtranskriptionen. Das Rumänische ist sehr stark von Distributionsrestriktionen geprägt. So kommen -o und -u allenfalls in Entlehnungen wie studio ‚Atelier‘ und studiu ‚Studium‘ vor. Viele Distributionen sind morphologisch festgelegt. Betonte Auslautvokale markieren den Infinitiv wie in a grăi ‚reden‘, a greşi ‚sich irren‘, a hotărâ ‚bestimmen, unterscheiden‘, a lua ‚nehmen‘, a strâmba ‚krümmen‘. Die Distribution ist gleichfalls in zahlreichen weiteren Fällen morphologisch festgelegt. Es ist interessant, dass /ə/ auch unter dem Akzent vorkommt, z. B. in dă ‚er, sie gibt‘. Kommen wir zu den wichtigsten Varianten der Vokalphoneme. Die Realisierung von /i/ ist recht komplex. Es hat im Anlaut und Inlaut die Variante [i] wie in inimă ‚Herz‘. In steigenden Diphthongen und in Triphthongen erscheint die Variante [j]:
176
2 Die Einzelsprache
iepure ‚Hase‘, băiat ‚Junge‘, iau ‚ich nehme‘. In fallenden Diphthongen und als drittes Element von Triphthongen kommt die Variante [i] vor: dai ‚du gibst‘, iei ‚du nimmst‘. Nach auslautendem Konsonant hat /i/ die Variante [j] und gleichzeitig wird der vorausgehende Konsonant palatalisiert: vezi [vez’j] ‚du siehst‘, auzi [aṷz’j] ‚du hörst‘, dragi [dɾadʒ’j] ‚lieb‘ (m. Pl. zu drag). Dieser Laut erscheint auch am Wortanfang, z. B. in este ‚(er, sie) ist‘, el, ele ‚er, sie‘. /e/ wird neben der Variante [e] in etern ‚ewig‘ und minte ‚Verstand‘ als [ḙ] in steigenden Diphthongen und als erstes Element in Triphthongen realisiert: seară [ˈsḙaɾə] ‚Abend‘, credeai [kɾeˈdḙaj] ‚du glaubtest‘. /a/, /o/ und /u/ weisen nach den Palatalen – das sind [ḙ], [j], [tʃ], [dʒ], [k’], [g’] – palatale Varianten auf, z. B. in seară, iarbă ‚Gras‘, picior ‚Fuß‘, geam ‚Fensterscheibe‘, chior ‚einäugig‘, ghiol ‚See, Teich‘. /a/ hat nach den gerundeten Halbvokalen [o̯ ] und [ṷ] die leicht gerundete Variante [å]: soartă [ˈso̯ åɾtə]. Im Diphthong [o̯ å] tritt nach Palatalen eine leichte Palatalisierung ein, z. B. in cioară ‚Krähe‘. /u/ wird in steigenden Diphthongen und als erstes Element von Triphthongen als Halbvokal [ṷ] realisiert: a lua ‚nehmen‘, luau ‚sie nahmen‘. In fallenden Diphthongen und als drittes Element von Triphthongen wird es halbvokalisch oder halbkonsonantisch als [w] realisiert, z. B. mit [w] in au ‚sie nehmen‘, iau ‚ich nehme‘, mit [ṷ] in luau. Wie in anderen romanischen Sprachen wird der phonematische Status der Halbvokale bzw. -konsonanten im Rumänischen kontrovers diskutiert. Zu den auch in anderen romanischen Sprachen existierenden Halbvokalen oder -konsonanten [j] und [w] treten im Rumänischen noch [i] und [u] hinzu wie in iarbă /ˈiaɾbə/, a lua /a ˈlua/, seară /ˈseaɾə/, soare /ˈsoaɾe/ ‚Sonne‘. In der rumänischen Sprachwissenschaft werden diese Vokale als Halbvokale mit Phonemstatus interpretiert, nachdem sie anfangs als Vokalphoneme gewertet worden waren. Die Argumente, die zur Stützung eines Phonemstatus der Halbvokale angeführt werden, erscheinen mir schwach. Vorab sei betont, dass die hier anzunehmende Opposition zwischen /i/ und /j/, /u/ und /w/, /e/ und /ḙ / sowie /o̯ / und /ṷ/ nicht wie in phonologischen Darstellungen üblich durch Minimalpaare belegt werden kann. So nimmt Vasiliu (1989: 3) an, dass diese Laute Phoneme sind, er stellt dann aber bei Nennung der Diphthonge fest: “Les diphtongues /iw/ et /uw/ sont instables en position post-tonique, et cela surtout à la finale: à côté de [perˈpetuw], on entend également des prononciations telles que [perˈpetuu], à côté de [ˈmediw], on entend aussi [ˈmedju·] ou [ˈmediu]“ (Vasiliu 1989: 3). In demselben Sinne hatte Vasiliu (1974: 102) [i] und [j], [u] und [w], [e] und [ḙ] sowie [o] und [o̯ ] freie Varianten genannt, da diese Laute alternativ in demselben Kontext erscheinen können, bzw. komplementäre Distribution in diesen Fällen angenommen. So liege komplementäre Distribution vor bei rea [rḙa] ‚böse, schlecht‘ (Femininum zu rău) und real [reˈal] ‚real, wirklich‘, bei piatră [ˈpjatrə] ‚Stein‘ und pian [piˈan] ‚Piano, Klavier‘. Vasiliu erklärt diese Ausspracheunterschiede mit der Zugehörigkeit der Wörter zu verschiedenen Wortschatz-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
177
schichten: rea und piatră gehörten zum alten, real und pian zum jüngeren („neologischen“) Wortschatz. Dieser Unterschied spiegele sich in einer unterschiedlichen Silbenstruktur wider: Während ea und ia in rea und piatră silbisch gesprochen würden, seien sie zweisilbig in real und pian (Vasiliu 1974: 100). In der femininen Form des Suffixes -ior, d. h. in -ioară, nimmt Vasiliu für -i- freie Variation zwischen [i] und [j] an, z. B. in căprioară ‚Reh‘ (Vasiliu 1974: 101–102). Weder aus diesen noch aus der Diskussion weiterer Fälle geht hervor, dass den Lauten [ḙ], [o̯ ], [j] und [w] Phonemstatus zugesprochen werden kann. Sie sind als Varianten der Phoneme /e/, /o/, /i/ und /u/ zu bewerten. Das Rumänische hat folgendes Konsonantensystem:
ɾ Abb. 2.20: Rumänisches Konsonantensystem
Die Distribution der Konsonanten belege ich mit Wörtern, in denen sie im Wortanlaut und gegebenfalls im Auslaut erscheinen. Die Fälle, in denen Beispiele mit an- und auslautenden Konsonanten genannt werden, spiegeln die üblichen Distributionen wider. Die ebenfalls geläufige intervokalische Position wird nicht eigens dokumentiert. Beispiele: /p/: pâine ‚Brot‘, plop ‚Pappel‘; /b/: bun ‚gut‘, slab ‚mager, schwach‘; /t/: timp ‚Zeit‘, tot ‚ganz, jeder‘; /d/: dor ‚Sehnsucht‘, văd ‚ich sehe‘; /k’/: chior ‚einäugig‘; /g’/: ghiol ‚Tümpel‘; /k/: casă, copac ‚Baum‘; /g/: galben ‚gelb‘, steag ‚Fahne, Flagge‘; /f/: femeie ‚Frau‘; /v/: vreme ‚Zeit‘, bolnav ‚krank‘; /s/: sărac ‚arm‘, apus ‚Sonnenuntergang, Westen‘; /z/: zi ‚Tag‘, caz ‚Fall‘; /ʃ/: şapte ‚sieben‘, oraş ‚Stadt‘; /ʒ/: jos ‚niedrig‘, limbaj ‚Sprache‘; /h/: hotar ‚Grenze‘; /ts/: ţară ‚Land‘, vorbăreţ ‚gesprächig‘; /tʃ/: cer ‚Himmel‘; /dʒ/: ginere ‚Schwiegersohn‘; /m/: minte ‚Geist‘, semn ‚Zeichen‘; /n/: a naşte ‚geboren werden‘, cetăţean ‚(Staats-)Bürger‘; /l/: lac ‚See‘, ghiol; /ɾ/: a râde ‚lachen‘, cer. Die Konsonanten haben regelmäßig leicht palatalisierte Varianten, wenn ein vorderer Vokal oder Halbvokal folgt. Es gibt auch den Vorschlag, diese palatalisierten Konsonanten als Phoneme aufzufassen. In Analogie zu den palatalisierten
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2 Die Einzelsprache
Varianten gibt es leicht gerundete Varianten, wenn ein gerundeter Vokal oder Halbkonsonant folgt. Das Rumänische weist unter den romanischen Sprachen eine distributionelle Besonderheit auf: Es hat je nach Wortkategorie Paradigmen geschaffen, die jeweils diesen Wortkategorien eigen sind, so dass die morphologische Struktur eines Worts einem Hörer Aufschlüsse über seine grammatische Funktion gibt. Die Grundlage der Wortstruktur ist die Vokalharmonie: Geschlossene auslautende Vokale schließen die betonte Silbe, offene auslautende Vokale öffnen die betonte Silbe. Palatale Vokale führen zur Palatalisierung der ihnen unmittelbar vorausgehenden Konsonanten. Unter den romanischen Standardsprachen nimmt das Rumänische damit eine Sonderstellung ein. In ihren Typen und in der Vorkommenshäufigkeit sind die Alternanzen wichtiger als in anderen romanischen Sprachen. Sie stellen eine gewisse Lernschwierigkeit dar. Die vokalischen Alternanzen beruhen auf Metaphonie bzw. Vokalharmonie. Dabei schließt wortauslautendes -i den betonten Vokal (prăzi ‚Beuten Pl.‘ vs. pradă ‚Beute‘), offene und halboffene Vokale öffnen ihn (pieţe ‚Plätze‘ vs. piaţă ‚Platz‘). Wortauslautendes -u hat keine vokalharmonisierende Wirkung oder, besser gesagt, es gibt kaum einen Anlass dazu, da lt. -u oder -o in dieser Stellung nicht regelmäßig erhalten geblieben sind: lt. caballum > rum. cal ‚Pferd‘, lt. canto > rum. cânt ‚ich singe‘. Sehr häufig treten vokalische und konsonantische Alternanzen gleichzeitig auf. In einer Aufstellung empfiehlt es sich, nach Vokalen und Konsonanten sowie nach grammatischer Morphologie und nach Wortbildungsmorphologie zu differenzieren (cf. die Listen in Coteanu 1981: 20–22). Coteanu unterscheidet zwei und drei alternierende Vokale. Dies bedeutet aber nur, dass die Alternanz zwei Glieder in der Nominalmorphologie, z. B. im Falle von Singular und Plural oder Maskulinum und Femininum betrifft, im Verbalparadigma dagegen gewöhnlich mehr als zwei Glieder: a – ă: carte ‚Buch‘ – cărţi, sare ‚er, sie springt‘ – săr ‚ich springe‘ a – e: pară ‚Birne‘ – pere ă – e: văr ‚Vetter‘ – veri, văd – vede ‚er, sie sieht‘ â – i: jurământ ‚Eid‘ – jurăminte e – ea: obştesc ‚gemeinsam, allgemein‘ – obştească o – oa: nostru ‚unser‘ – noastră, scot ‚ich nehme weg‘ – scoate ‚er, sie nimmt weg‘ oa – o: ploaie ‚Regen‘ – ploi ia – ie: piatră – pietre ie – ia: fier ‚Eisen‘ – fiare
Es alternieren die folgenden Konsonanten: t – ţ: frate ‚Bruder‘ – fraţi, poate ‚er, sie kann‘ – poţi ‚du kannst‘ c – c(e,i): vacă ‚Kuhʻ – vaci, fac ‚ich tueʻ – faci ‚du tustʻ d – z: pradă ‚Plünderung‘ – prăzi, arde ‚es brennt‘ – arzi ‚du brennst‘ g – g(e,i): drag – dragi, frâng ‚ich breche‘ – fringe ‚es bricht‘ s – ş: frumos ‚schönʻ – frumoşi l – i: cal ‚Pferdʻ – cai
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
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Morphologisch bedingte Alternanzen kommen ebenfalls in den folgenden Konsonantengruppen vor: sc – şt: muscă ‚Fliege‘ – muşte st – şt: prost ‚dumm‘ – proşti, acest ‚dieser‘ – aceşti ‚diese m. Pl.‘ cs – cş: ortodox – ortodocşi, cresc ‚ich wachse‘ – creşti ‚du wächst‘ str – ştr: nostru ‚unser‘ – noştri şc – şt: muşc ‚ich beiße‘ – muşti ‚du beißt‘ – muşcă ‚er, sie beißt‘
In der Wortbildungsmorphologie sind die angeführten Alternanzen ebenfalls zu finden. Darüber hinaus kommen z. B. noch die folgenden vor: ţ – c(i): uliţă ‚Gasse‘ – ulicioară ‚Gässchen‘ z – j: dârz ‚kühn, hartnäckig‘ – a îndârji ‚sich auf etwas versteifen‘
Bibliographischer Kommentar
Lombard 1935 sei als kurzgefasste Aussprachelehre in französischer Sprache erwähnt. Vasiliu 1965 gibt eine frühe zusammenfassende Darstellung der rumänischen Phonologie. Eine kurze Einführung in die Phonologie stellen Vasiliu 1974 und 1989 dar; auf die letztere Darstellung habe ich besonders häufig zurückgegriffen. Rusu 1983 behandelt die dakorumänischen Mundarten, Chitoran 2002 widmet sich der Interaktion von Phonologie und Morphologie nach der Optimalitätstheorie (cf. den bibliographischen Kommentar zu 2.2.1). Ein Aussprachewörterbuch hat Tǎtaru 1999 vorgelegt. Rothe 1957 und Vasiliu 1968 sind Einführungen in die historische Phonologie. Die Aussprache des Rumänischen und des Englischen behandelt kontrastiv Tǎtaru 1975 im Bereich der Okklusive, das Rumänische im Vergleich mit dem Englischen und dem Deutschen Tǎtaru 1997 und ferner das rumänische und das deutsche Lautsystem Gregor-Chiriţǎ 1991.
2.2.2 Grapheme und Schriftsysteme Es gehört zu den populären Auffassungen von Sprache, dass man die geschriebene Sprache als eigentliche Sprache auffasst. Eine solche Einstellung zur Sprache hat durchaus Folgen für die Sprachverwendung, insbesondere dann, wenn es um die Bewertung dessen geht, was nicht der Norm der kodifizierten Schriftsprache entspricht, sondern dialektale, soziale und sonstige Variation der gesprochenen Sprache ist. Die durch Schrift und Schriftlichkeit präskriptiv gesetzten Normen werden zum Maßstab der Bewertung gesprochener Sprache, die im Vergleich mit der geschriebenen Sprache in der Regel abgewertet wird. Sprachwissenschaftlich nicht bewanderte Sprecher haben, wenn sie Tonbandaufnahmen der von ihnen selbst gesprochenen Sprache hören, das Gefühl, dass sie schlecht sprechen. Diese Meinung ist wohl in der französischen Sprachgemeinschaft, in der Grammatikregeln als Schreibregeln gelehrt werden, am stärksten verbreitet. Von diesen durch die Schule vermittelten präskriptiven Vorstellungen muss man sich befreien, wenn man zu einer unvoreingenommenen Sprachbetrachtung gelangen will.
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2 Die Einzelsprache
Die Schrift kann als Ausdruck angesehen werden, der von der Lautung abgeleitet wird oder aber eigenständig ist. Als historisches und somit einzelsprachliches Problem kommt es auf das Verhältnis zwischen Laut und Schrift in einer bestimmten Einzelsprache an. Einzelsprachlich gesehen ist die Schrift in einer Sprache, die eine enge Entsprechung zwischen Schrift und Lautung zum Ziel hat, naturgemäß viel eher von der Lautung abhängig als in einer Sprache, die wie namentlich das Französische keine konstante Entsprechung zwischen Schrift und Lautung kennt. Die Schrift ist ein System von graphischen Zeichen, das in Wörtern realisiert wird. Das sind die beiden Gesichtspunkte, unter denen wir uns kurz mit der Schrift beschäftigen werden, d. h. als Schriftsystem, mit dem eine Einzelsprache verschriftet wird, und als Graphie der einzelnen Wörter, die die Anwendung eines Schriftsystems darstellen. Die Orthographie ist demgegenüber die präskriptive Norm, nach der entweder ganze Wörter geschrieben werden, relativ unabhängig von deren signifiant in seinen einzelnen Komponenten, oder aber sie ist die Menge der Regeln, mit denen Laute oder besser Phoneme durch Buchstaben wiedergegeben werden. Die Anwendung des einen oder des anderen Grundsatzes hängt von der Struktur und der Orthographie tradition der jeweiligen Einzelsprache ab. Orthographien werden nicht rein abstrakt nach ihrer rationalen Zweckmäßigkeit geschaffen und erhalten. Sie schließen sich immer an vorgängige Orthographien einer anderen Sprache an, die man als Modell nimmt, oder der Schreibtradition der eigenen Sprache, die es ebenfalls nach einer Modellvorstellung zu reformieren gilt. Da eine Orthographie in einer Gemeinschaft immer eine Identifikationsfunktion hat, sind Orthographieprobleme zugleich gesellschaftliche Probleme. Dies wird in den sprachgeschichtlichen Skizzen (5.1–5.16) konkretisiert werden. Bei neu zu verschriftenden Sprachen stellt sich stets die Frage, welche Sprache als orthographisches Modell dienen soll. Das Modell für die romanischen Sprachen war im Allgemeinen das Lateinische mit seiner alphabetischen Schrift. Dies war bereits bei der ursprünglichen Verschriftung der Fall, denn die frühen Texte wie die Straßburger Eide oder die im Kloster San Millán de la Cogolla in der Rioja geschriebenen Glossen, um nur besonders bekannte Beispiele zu nennen, scheinen schon einer Schreibtradition zu folgen. Der für die Verschriftung der romanischen Sprachen verwendete Schrifttyp war also überall dort, wo das Lateinische die Sprache der Religion, der Rechtsprechung und der Verwaltung war, die lateinische Schrift. Das Lateinische stand aber nicht in der gesamten Romania als dominante Sprache im Kontakt mit dem Romanischen. Dasjenige Romanisch, das in den nach 711 von den Arabern eroberten und besetzten Gebieten der Iberischen Halbinsel gesprochen wurde, verschriftete man mit dem arabischen, zum Teil auch mit dem hebräischen Alphabet. Romanische Texte in lateinischer Schrift sind aus diesem Raum nicht auf uns gekommen. Auf Sizilien, einem anderen romanisch-arabischen Kontaktgebiet, wurde das Romanische (das Sizilianische) ferner in griechischer Schrift geschrieben. Und da die Kultsprache der orthodo-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
181
xen Kirche der Rumänen das Altkirchenslavische war, wurde das Rumänische anfangs in kyrillischer Schrift geschrieben. Das Rumänische der Republik Moldau schrieb man zeitweilig auch in neuerer Zeit in kyrillischer Schrift, jetzt wird sie nur noch in Transnistrien verwendet. Wie oben festgestellt, ist zu betrachten, welche Art von sprachlichen Einheiten durch graphische Zeichen dargestellt wird. Für die romanischen Sprachen kommen im Wesentlichen Phoneme (2.2) und sprachliche Zeichen (2.1.4) in Frage. Wird ein sprachliches Zeichen durch die Schrift als Ganzes dargestellt, spricht man vom ideographischen (grch. und lat. idea ‚Urbild, Idee‘) oder logographischen Prinzip (grch. logos ‚Wort‘). Wenn ein Phonem durch einen Buchstaben oder eine Buchstabenfolge repräsentiert wird, wendet man hingegen das phonographische Prinzip an. Man könnte dieses zweite Prinzip auch als Wiedergabe von Lauten verstehen. Für die Zwecke der Schriftkultur einer Gemeinschaft hätte es aber keinen Sinn, bloß lautliche Unterschiede wiederzugeben. Dies wäre nur dann angebracht, wenn solche Unterschiede wie in der wissenschaftlichen Phonetik durch eine phonetische Umschrift (Transkription) für ganz bestimmte Zwecke notiert werden sollten. In der Regel beschränkt sich eine phonographische Schrift auf die Wiedergabe von Phonemen. Aber nicht alle Phoneme einer jeden Sprache werden systematisch graphisch unterschieden, so z. B. nicht /ɛ/ und /e/, /ɔ/ und /o/ im Italienischen, Portugiesischen, Galicischen oder Katalanischen. Damit ist nicht gesagt, dass in diesen Sprachen diese Phonemunterschiede nicht auch unter bestimmten Bedingungen geschrieben werden. Es wird nur behauptet, dass dies nicht systematisch geschieht. Welche Verschriftungsprobleme sich in den romanischen Sprachen gestellt haben und wie sie gelöst wurden, können wir am Beispiel der Schreibung von Palatalen aufzeigen. So wird /ʃ/ je nach Sprache als , , oder gefolgt von e, i als geschrieben: frz. chant ‚Gesang‘, gal. pt. peixe ‚Fisch‘, kat. xinxa ‚Wanze‘, rum. șapte ‚sieben‘, it. pesce; /tʃ/ als , , , : it. cielo, rum. cer ‚Himmel‘, sp. chico ‚klein‘, kat. esquitx ‚Spritzer‘, boig ‚verrückt‘; /ʒ/ als , : frz. gendre ‚Schwiegersohn‘, kat. gent ‚Leute‘, pt. gente, frz. jour ‚Tag‘, rum. joc ‚Spiel‘; /dʒ/ als , : it. genero ‚Schwiegersohn‘, rum. ginere, kat. sutge ‚Ruß‘; /ɲ/ als , , , : it. sard. montagna ‚Berg‘, okz. pt. montanha, kat. montanya, sp. montaña; /ʎ/ als , , : frz. fille ‚Tochter‘, sp. calle ‚Straße‘, kat. filla, it. figlia, okz. pt. filha. Diese Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Das phonographische Prinzip wird auf die romanischen Sprachen nicht ausschließlich angewandt. In einzelnen Sprachen wird es durch die gemäßigte Anwendung des ideographischen bzw. logographischen Prinzips ergänzt. Schematisch lassen sich die Beziehungen in folgender Weise verdeutlichen:
182
2 Die Einzelsprache
Abb. 2.21: Beziehungen zwischen signifié und signifiant phonique/graphique
(a) ist die übliche Zeichenrelation. Sie stellt eine Verbindung zwischen der Lautung eines Worts und seiner Bedeutung dar. Für die Darstellung der orthographischen Verhältnisse reicht dies natürlich nicht aus. (b) ist die ideographische Relation. Es ist hier ausdrücklich nur von einer Relation die Rede, bei der sich gewisse Signifikanten nur auf diese Weise erklären lassen. Es wird jedoch nicht behauptet, dass in einer romanischen Sprache signifiés an sich ideographisch repräsentiert werden. Die Berücksichtigung dieser Relation ist der Hauptgrund dafür, dass wir uns in diesem Kontext überhaupt mit Orthographie beschäftigen. Am weitesten geht in dieser Richtung das Französische. Die sprachlichen Zeichen, deren Identität man ideographisch kenntlich machen will, sind (meist grammatische) Moneme und Lexeme. Das signifiant /e/ als Monem eines Verbs wie in chanter wird als Infinitivmonem -er (chanter) geschrieben, als 2. Person Plural im Verbparadigma -ez (chantez usw.), als maskulines Perfektpartizip im Singular -é (chanté), als feminines Perfektpartizip -ée (chantée) und in den entsprechenden Pluralformen -és und -ées (chantés, chantées). Ähnlich werden Lexeme differenziert, wenn sie lautlich identisch bzw. homophon sind oder, anders ausgedrückt, wenn einem lexematischen signifiant verschiedene signifiés entsprechen: frz. /pwa/ wird pois ‚Erbse‘, poids ‚Gewicht‘ und poix ‚Pech‘ geschrieben. In diesem Fall wird die teilweise ideographische Schreibung zur Homonymendifferenzierung eingesetzt. Wenn das phonologische, d. h. phonographische Prinzip bei der Schaffung der ersten romanischen Orthographien implizit leitend gewesen ist, änderte sich dies gleichwohl, nachdem die jeweilige Tradition etabliert war. Hierin zeigt sich der geschichtliche Charakter der Orthographie. Den angeführten Formen von chanter entsprachen bis zum 13. Jahrhundert (und zum Teil darüber hinaus) Phoneme in der Aussprache. Bis zu dieser Zeit wurden die Wörter pois, poids und poix der Phonologie entsprechend pois geschrieben. Während die Schreibung für ‚Erbse‘ in der Folgezeit traditionell bleibt, wird in poids im Rückgriff auf die falsche Etymologie lat. pondus ‚Gewicht‘ (statt pensum) das -d- eingeführt (Bloch/Wartburg 51968, s. v. poids) und in poix wird im Rückgriff auf den Nominativ des zugrundeliegenden lateinischen Worts pix das -s durch -x ersetzt (Bloch/Wartburg 51968: s. v. poix). (c) ist die phonographische Relation. Nach dieser richten sich meist Orthographiereformen in der Annahme aus, dies würde zu einer Vereinfachung führen. Unter den romanischen Sprachen kennt das Rumänische eine stark phonographische Ortho-
2.2 Einzelsprachlicher Ausdruck
183
graphie, weshalb wir diese Relation mit dem Rumänischen belegen. Dass das Rumänische fast völlig phonographisch ist, liegt daran, dass diese Sprache erst spät (vom 16. Jahrhundert an) verschriftet worden ist und das lateinische Alphabet erst vom 18. Jahrhundert an (cf. 5.7.4) eingeführt wurde. Die fast völlige Entsprechung zwischen Phonem und Graphem führt aber dazu, dass Varianten von Monemen und Lexemen nicht orthographisch identisch geschrieben und damit die Moneme und Lexeme in ihrer Einheit beim Lesen nicht wahrgenommen werden. In der Struktur des Rumänischen unterscheiden sich Singular- und Pluralformen in ihren Lexem- und Monemvarianten bisweilen stark voneinander, z. B. ladǎ ‚Kasten‘ – lǎzi, ebenso zahlreiche Formen der Paradigmen des Verbs, z. B. iau ‚ich nehme; sie nehmen‘ – luǎm ‚wir nehmen‘. Als Sprecher einer relativ spät in lateinischer Schrift verschrifteten Sprache mussten die Rumänen außerdem Wege suchen, die Romanität ihrer Sprache in der Orthographie auszudrücken. So wurde für /ɨ/ nach und nach, außer bei în-, eingeführt, um wie in mânǎ ‚Hand‘ < manu(m) oder câine < cane(m) die lateinische Herkunft dieser Wörter sichtbar zu machen. So schreibt man auch für lat. und allgemein für /ə/. Das Graphem für /ts/ stellt wie in ţarǎ ‚Land‘ < terra(m) sowohl den Bezug zum lateinischen Etymon her als auch zu den anderen romanischen Sprachen. Schreibregeln sind immer Orthographieregeln. Dies ergibt sich aus ihrer konventionellen Festsetzung. Je nach Sprachgemeinschaft ist die Rechtschreibung in verschiedenem Maße verbindlich. Wo sie aber einmal für den amtlichen Gebrauch des Staates in seinen Institutionen, in erster Linie der Schule, eingeführt worden ist, wird sie verbindlicher in der Gemeinschaft gehandhabt, als die Sache es erfordern mag.
Bibliographischer Kommentar
In einer vergleichenden Untersuchung stellt Meisenburg 1996 nach den Parametern der GraphemPhonem-Korrespondenzen und der relativen Monemkonstanz den Weg von der lateinischen zur französischen, spanischen und portugiesischen Orthographie dar, mit einigen Hinweisen zum Okzitanischen, Katalanischen und Rumänischen. Die französische Orthographie behandelt einführend Börner 1977. Catach hat sie zu ihrem Hauptarbeitsgebiet gemacht, besonders in Catach 1992 und 2001. Einen Überblick über System und Entwicklung der spanischen Orthographie gibt Weißkopf 1994. Als sehr ausführliche Abhandlung liegt Real Academia Española/Asociación de Academias de la Lengua Española 2010 vor. Die Geschichte der katalanischen Orthographie arbeitet Segarra 1985 auf. Die heutige Orthographie hat Fabra geschaffen, dafür beispielhaft Fabra 31927 und Institut d’Estudis Catalans 2017; für Zweifelsfragen kann man Abril Español 1999 konsultieren. Die portugiesische Orthographie untersucht Kemmler 2001 geschichtlich bis 1911; das beherrschende Thema danach sind die Abkommen zwischen Portugal und Brasilien, dazu Castro/Duarte (eds.) 21987 und Silva 22010. Die italienische Orthographie berücksichtigt Camilli 3 1965; praktisch ausgerichtet ist Ilardi 2003. Für Zweifelsfragen der rumänischen Orthographie ist das umfangreiche Marele dicţionar ortografic al limbii române von [Autorenkollektiv] 2008 zu konsultieren. Die Orthographie der romanischen Sprachen, die unter dem Dach anderer Sprachen verschriftet wurden, besprechen wir in den sprachgeschichtlichen Skizzen, denn sie haben zu den üblichen Funktionen einer Schrift noch die Aufgabe, die Identität der Minderheitensprachen gegenüber den Nationalsprachen auszudrücken.
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2 Die Einzelsprache
2.3 Inhalt 2.3.0.1 Grammatischer und lexikalischer Inhalt Die Abschnitte über den Inhalt schließen an die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Inhalt an (2.1.5). Was das Grundsätzliche angeht, hatten wir in 1.3.3 die Unterscheidung zwischen nennen und sagen bei Platon eingeführt, die besser als jeder Rückgriff auf die Morphologie geeignet ist, die inhaltliche Grenze zwischen Grammatik und Wortschatz zu begründen. Die einzelnen Themen, die ich auswähle, orientieren sich am Wandel vom lateinischen zum vulgärlateinischen und romanischen Sprachtyp (4.5.2) und am typologischen Wandel beim Übergang vom Alt- zum Neufranzösischen (5.8.3). Das vorliegende Kapitel und die beiden anderen sind aufeinander abgestimmt und sollten im Zusammenhang gelesen werden. Wir werden die Differenzierung des Nennens und Sagens an einem literarischen Beispiel vornehmen. Der folgende Auszug ist dem Roman Cien años de soledad (zuerst 1967 veröffentlicht) des kolumbianischen Autors Gabriel García Márquez entnommen. In unserem Textstück ist José Arcadio Buendía dabei, den weit von anderen Siedlungen entfernten Ort Macondo zu verlegen und bereitet den Umzug vor. Seine Frau Úrsula, die die Frauen Macondos gegen den Plan eingenommen hatte, hindert ihren Mann schließlich im letzten Augenblick am Umzug. Sp. “Sólo cuando empezó a desmontar la puerta del cuartito, Úrsula se atrevió a preguntarle por qué lo hacía, y él le contestó con una cierta amargura: ‘Puesto que nadie quiere irse, nos iremos solos.’ Úrsula no se alteró. – No nos iremos –dijo–. Aquí nos quedamos, porque aquí hemos tenido un hijo” (García Márquez 1971: 19). Dt. „Erst als er die Tür der Kammer auszuhängen begann, wagte Ursula die Frage, warum er das tue, worauf er mit einem Anflug von Bitterkeit erwiderte: »Und wenn kein Mensch mitgeht, gehen wir allein!« Ursula verlor nicht die Fassung. »Wir gehen nicht«, sagte sie. »Wir bleiben hier, weil hier unser Sohn geboren wurde«” (García Márquez 1979: 23). Frz. “Ce n’est que lorsqu’il commença à démonter la porte de son cabinet qu’Ursula se risqua à lui en demander la raison, et il lui répondit avec une amertume qui n’était pas feinte : « Puisque personne ne veut partir, nous irons tout seuls. » Ursula ne s’émut pas pour autant. « Nous ne nous en irons pas, dit-elle. Nous resterons ici parce que c’est ici que nous avons eu un enfant »” (Garcia Marquez [sic] 1968: 24). Kat. “Solament quan va començar a desmuntar la porta de la cambra, l’Úrsula es va atrevir a preguntar-li que per què ho feia i ell li va dir, amb una certa amarguesa: “Perquè com que ningú no se’n vol anar, ens n’anirem sols.” L’Úrsula no es va alterar. − No ens n’anirem –va dir–. Aquí ens quedarem, perquè és aquí on hem tingut un fill” (García Márquez 1970: 24).1 1 Den katalanischen Text verdanke ich Joan A. Argenter, Universitat Autònoma de Barcelona und Institut d’Estudis Catalans.
2.3 Inhalt
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Pt. “Só quando começou a desmontar a porta do quartinho é que Úrsula se atreveu a perguntarlhe por que o fazia, e ele respondeu-lhe com uma certa amargura: «Já que ninguém se quer ir embora, vamos nós sozinhos.» Úrsula não se alterou. – Não vamos – disse. – Ficamos aqui porque aqui tivemos um filho” (García Márquez 1988: 18–19). It. “Solo quando cominciò a smontare la porta dello stanzino, Ursula si arrischiò a chiedergli perché lo faceva, e lui le rispose con una certa amarezza: ‘Dato che nessuno vuole andarsene, ce ne andremo noi soli.’ Ursula non si turbò. ‘Non ce ne andremo,’ disse. ‘Restiamo qui, perché qui abbiamo avuto un figlio’” (García Márquez 1973: 21). Rum. “Abia când incepu sǎ demonteze ușa de la cabinetul sǎu, Ursula riscǎ sǎ-l întrebe pentru ce o face, și el îi rǎspunse cu o amǎrǎciune care nu era prefǎcutǎ: ‒ De vreme ce nimeni nu vrea sǎ plece, vom merge numai noi singuri. Ursula nu se tulburǎ nici ea. ‒ Nu plecǎm, zise ea. Vom rǎmâne aici, deoarece aici am avut un copilˮ (García Márquez, https:// www.scribd.com/doc/180744574/un-veac-de-singuratate-pdf, S. 6).
Die Segmentierung dieser Sätze in Wörter, die etwas in der außersprachlichen Wirklichkeit bezeichnen, versteht sich nicht von selbst. Wenn wir sp. contestó, iremos und hemos tenido, frz. répondit, irons, avons eu, kat. va començar, ens n’anirem, hem tingut, pt. respondeu-lhe, vamos, tivemos, it. rispose, andremo, abbiamo avuto, rum. răspunse, vom merge, am avut miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass an diesen Verben die Zeitverhältnisse einmal am Wort, ein andermal außerhalb des Worts ausgedrückt werden. Das Portugiesische weist in diesem Textstück diese Unterschiede nicht auf. Ich habe dabei das Wort als orthographisches Wort genommen, wie es ein Sprecher tut, der schreiben kann, der aber keine sprachwissenschaftliche Ausbildung hat. Wir werden bei der Zusammenstellung der Wörter zuerst diejenigen nennen, bei denen der Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit eindeutig ist. Diese Wörter benennen etwas unmittelbar. Um das Verfahren abzukürzen – wir werden darauf gleich im nächsten Kapitel eingehen –, gebe ich eine Klassifikation nach Wortkategorien, also nach Verben, Substantiven und Adjektiven. Die in Kombination mit Verben erscheinenden Personalpronomina werden mitaufgeführt. Es werden nur Types, keine Tokens genannt: sp. empezó, desmontar, se atrevió, preguntarle, hacía, contestó, quiere, irse, nos iremos, se alteró, dijo, nos quedamos, hemos tenido puerta, cuartito, Úrsula, amargura, hijo cierto, solos frz. est, commença, démonter, se risqua, demander, répondit, était, veut, partir, irons, s’émut, nous en irons, dit-elle, resterons, avons eu porte, cabinet, Ursula, raison, amertume, enfant feinte, seuls
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kat. va començar, desmuntar, es va atrevir, preguntar-li, feia, va dir, vol, se’n … anar, ens n’anirem, es va alterar, ens quedarem, és, hem tingut porta, cambra, l’Úrsula, amarguesa, fill certa, sols pt. começou, desmontar, se atreveu, perguntar-lhe, fazia, respondeu-lhe, quer, ir embora, vamos nós, se alterou, disse, ficamos, tivemos porta, quartinho, Úrsula, amargura, filho certa, sozinhos it. cominciò, smontare, si arrischiò, chiedergli, faceva, rispose, vuole, andarsene, andremo, si turbò, disse, restiamo, abbiamo avuto porta, stanzino, Ursula, amarezza, figlio certa, soli rum. începu, sǎ demonteze, riscǎ, sǎ-l întrebe, face, rǎspunse, era prefǎcutǎ, vrea, sǎ plece, vom merge, se tulburǎ, plecǎm, zise, vom rǎmâne, am avut, ușa, cabinetul, Ursula, amǎrǎciune, vreme, copil singuri
Es zeigt sich, dass das orthographische Wort, wie man ja weiß, eine untaugliche Grundlage für eine linguistische Darstellung ist. Im Abschnitt über „Grapheme und Schriftsysteme“ (2.2.2) haben wir soeben gesehen, welche Probleme die Verschriftung von Sprache mit sich bringt. Besser ist es schon, das „grammatische Wort“ als Grundlage zu nehmen. Wenn wir in unserem Textbeispiel sp. irse und nos iremos, it. andarsene und ce ne andremo, kat. se’n … anar, ens n’anirem miteinander vergleichen, werden wir auch als Sprecher etwas Gemeinsames zwischen den jeweiligen Ausdrücken feststellen und bereit sein, sie in gewisser Weise für „dasselbe“ Wort zu halten. Das Französische können wir an dieser Stelle nicht als Beispiel verwenden, weil in der französischen Übersetzung Wiederholungen vermieden werden, ein stilistisches Prinzip, das in dieser Sprache noch strenger eingehalten wird als in den anderen. So wird irse mit partir übersetzt und nur die beiden anderen Tokens mit “nous irons” und “Nous ne nous en irons pas”. In semantischer Hinsicht verweisen die nach Wortkategorien angeführten Wörter auf die Welt von Macondo. Sie ergeben sogar einen, wenn auch etwas rudimentären Sinn. Ein Sprechen mit Wörtern, die auf die außersprachliche Wirklichkeit verweisen, gibt es auch sonst unter bestimmten Umständen. So sprechen viele Menschen etwa mit Ausländern, wenn sie ihnen keine ausreichenden Sprachkenntnisse unterstellen. Bei dieser Varietät des Sprechens mit Ausländern (engl. foreigner talk) wird die Morphologie reduziert und die Wörter werden nur genannt. Es ist also sehr wohl möglich, unter ganz spezifischen Bedingungen etwas zu sagen oder auszusagen, indem man die Wörter nur nennt, aber im eigentlichen Sinn „sagt“ man etwas nur in „gebundener Rede“. Der Unterschied zwischen sagen und nennen, das sei wiederholt, ist wesentlich für die Grenzziehung zwischen Wortschatz und Grammatik.
2.3 Inhalt
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Die anderen Wörter bleiben übrig, wenn man die Nennwörter identifiziert hat. Sie treten nicht unmittelbar in das Bewusstsein von Sprechern, die keine linguistische Ausbildung haben. Sie stellen auf die unterschiedlichste Weise den Diskurszusammenhang zwischen den soeben erwähnten Wörtern her, die eine Benennungsfunktion haben. Was sie bedeuten, ist für einen Sprecher nicht schlechthin evident: sp.
se, lo, él, le, nos; aquí; nadie; la, una, un; a, por, con; del; cuando, qué, puesto que, porque; y; no frz. Ce; il, se, lui, en; ici; personne, nous; son, la, une, un; à, de, avec, pour; lorsqu’il, qu’Ursula, qui, puisque, parce que; que, tout, autant; et; pas, ne kat. es, ho, ell, li, se’n, ens n’; aquí; ningú; la, una, un; a, de, per, amb; quan, que, què, perquè, com que, on; solament; i; no pt. se, o, ele, nós; aqui; ninguém; a, uma, um; a, por, com; do; quando, que, já que, porque; e; não it. lo, lui, le, ce, noi, si; qui, ne; nessuno; la, una, un; a, con; dello; quando, perché, Dato, che; e; non rum. o, el, îi, noi, se, ea; aici; nimeni; o, un; de la, pentru, cu, de; când, sǎ, ce, care, deoarece; abia, numai; și; nu
Wir differenzieren folglich zwischen Inhalt in der Grammatik (2.3.1) und im Wortschatz (2.3.3). Mit der Wortbildung (2.3.2) werden wir einen Bereich kennenlernen, der in seinen allgemeinen Verfahren Gemeinsamkeiten mit der Grammatik aufweist, in den Resultaten oder Produkten der Verfahren aber mit dem Wortschatz. Die drei sprachlichen Bereiche Grammatik, Wortbildung und Wortschatz überschneiden sich also. Die Überschneidungen sind aber erst dann klar zu erkennen, wenn wir die Bereiche in ihren jeweiligen Grenzen erfasst haben. Der Inhalt ist einzelsprachlich. Hier wird er aber so dargestellt, als wäre er in den romanischen Sprachen gleich, was nicht der Fall ist. Dennoch gibt es zahlreiche romanische Gemeinsamkeiten, die eine gemeinsame Darstellung rechtfertigen können. Die Übereinstimmungen liegen im Systematischen, auf das es in diesem Zusammenhang ankommt. Im Hinblick auf die Wortkategorien hätten die entsprechenden Erscheinungen ebenfalls als allgemein-sprachliche Erscheinungen behandelt werden können (cf. 1.4.5.1). 2.3.0.2 Typen von sprachlichen Zeichen Wie die sprachlichen Zeichen weiter zu differenzieren sind, erläutern wir am Beispiel unseres Textstücks aus García Márquez. Eine Differenzierung wird nicht in allen sprachwissenschaftlichen Richtungen in gleicher Weise als Notwendigkeit angesehen. Im Usus des nordamerikanischen Strukturalismus und dem deutschen sowie dem europäischen, der sich an ihn anschließt, werden als minimale Einheiten, die Ausdruck und Inhalt haben, lediglich Morpheme unterschieden. Dieser Terminus geht auf das griechische Wort für ‚Form, Gestalt‘, morphé, zurück, das mit dem linguistischen Suffix -em anzeigt, dass etwas eine sprachliche Einheit ist. Wir
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haben dieses Suffix schon beim Phonem kennengelernt. Bei Bedarf bildet man mit -em neue Termini, wenn man neue Einheiten annimmt. Ein Morphem in diesem Sinne also ist jede minimale Form des Ausdrucks, die einen Inhalt hat. Und umgekehrt ist eine Form nur dann Ausdruck im eigentlichen Sinne, wenn sie Ausdruck eines Inhalts ist. Aber ein Morphem ist nicht immer, anders als das Wort, eine freie Form. Wir arbeiten zunächst mit diesem Terminus und werden dann eine Modifizierung vorschlagen.
Freie und gebundene Morpheme Die Morpheme werden im nordamerikanischen Strukturalismus in freie und gebundene Morpheme unterschieden. Das Kriterium dafür ist die Distribution, die wir bei der Besprechung der Phonologie kennengelernt haben (2.2). Daraus ergibt sich ein Problem, denn aufgrund der Distribution lassen sich mehrfach wiederkehrende Abfolgen von Phonemen oder Graphemen feststellen wie -mett- in frz. mettre ‚setzen, stellen, legen‘, admettre ‚zulassen‘, commettre ‚begehen‘, démettre ‚ausrenken‘, promettre ‚versprechen‘, remettre ‚zurückstellen‘; -duc- in sp. conducir ‚führen‘, deducir ‚ableiten‘, inducir ‚verleiten‘, reducir ‚reduzieren‘, seducir ‚verführen‘; -met- in sp. cometer ‚angreifen‘, prometer ‚versprechen‘, remeter ‚(zu)senden‘; -mit- in sp. admitir ‚zulassen‘, demitir ‚entlassen‘; -duz- in pt. conduzir ‚führen‘, deduzir ‚ableiten‘, induzir ‚induzieren‘, reduzir‚herabsetzen‘, seduzir ‚verführen‘; ced- in it. cedere ‚nachgeben‘, accedere ‚eintreten‘, concedere ‚gewähren‘, decedere ‚verscheiden‘, precedere ‚vorangehen‘, procedere ‚weitergehen‘, recedere ‚zurücktreten‘; usw.
Die Entsprechungen dieser Verben werden sich im Katalanischen, im Rumänischen und in anderen romanischen Sprachen leicht finden lassen. Kann man etwas als sprachliche Einheit allein aufgrund der Distribution feststellen? Ich habe die Bedeutungen der angeführten Verben im Deutschen mit Wörtern wiedergegeben, die eine gewisse semantische Transparenz der romanischen und der deutschen Wörter nahelegen. Sie ist im besten Fall nur partiell gegeben, keinesfalls aber systematisch. Wirklich lebendig waren die Beziehungen zwischen den Elementen dieser Wörter nur im Lateinischen, aus dem sie entlehnt worden sind, denn in der Herkunftssprache waren diese Verben tatsächlich Wortbildungen. Sie sind aber nicht mit ihren systematisch motivierten Bedeutungen in die romanischen Sprachen übernommen worden, sondern mit ihren unterschiedlichen Lexikalisierungen. Die morphologischen Beziehungen sind heute also demotiviert. Es hat keinen Sinn, so zu tun, als wäre die Morphologie ein völlig systematischer und transparenter sprachlicher Bereich und wir dürfen die geschichtlich entstandenen Unregelmäßigkeiten nicht in das Prokrustesbett morphologischer Regelmäßigkeit zwängen. Die Zusammenhänge zwischen den genannten Wörtern können wir nur noch diachronisch erklären, weil
2.3 Inhalt
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sie synchronisch betrachtet ihre Motivation fast völlig verloren haben. Es gilt hier der Grundsatz, dass man das Funktionieren einer Sprache eben nur da aufzeigen kann, wo dies wirklich der Fall ist. Am Beispiel von sprachlichen Fossilien kann man die Lebendigkeit einer Sprache nicht begreifen. Wir stellen also noch einmal fest: Ein Morphem enthält immer einen Ausdruck für einen Inhalt. Das ist bei frz. -mettr-, sp. -duc-, -met-, -mit-, kat. -du-, -met-, pt. -duz-, it. -ced-, rum. -duc-, -mit- usw. nicht der Fall. Wenn wir die Verben, Substantive und Adjektive unseres Textstücks aus Cien años de soledad genau betrachten, sehen wir, dass die meisten dieser Wörter nicht aus freien Morphemen bestehen, sondern aus gebundenen. Wir greifen einige Wörter heraus, um das Grundsätzliche zu zeigen. Die mit den Verben vorkommenden Pronomina berücksichtige ich nicht. Wenn wir die Kommutationsprobe anwenden (2.1.8), mit der wir die kleinsten sprachlichen Einheiten feststellen können, kommen wir zu folgendem Ergebnis: sp. empez-ó, des-mont-a-r, hac-í-a, contest-ó, quier-e, dij-o, he-mos ten-i-d-o puert-a, cuart-it-o, amarg-ur-a hij-o, ciert-o, sol-o-s frz. est, commenç-a, dé-mont-er, demand-er, répond-it, ét-ait, veut part-ir, i-r-ons, d-it, rest-er-ons, av-ons eu porte, cabinet, raison, amer-tume, enfant feint-e, seul-s kat. va començ-a-r, va atrev-i-r, pregunt-a-r, fe-i-a, va d-i-r, vol an-a-r, an-ir-em, va alter-a-r, queda-r-em, és, he-m, ting-u-t port-a, cambr-a, amargu-es-a, fill cert-a, sol-s sola-ment pt. começ-ou, des-mont-a-r, atrev-e-u, pergunt-a-r, faz-i-a, respond-e-u, quer, i-r embora, va-mos, alter-ou, d-iss-e, fic-a-mos, tiv-e-mos port-a, quart-inh-o, amarg-ur-a, filh-o cert-a, soz-inh-os it. cominci-ò, s-mont-a-re, fac-e-v-a, rispos-e, vuol-e, d-iss-e, rest-iamo, abb-iamo av-u-t-o port-a, stanz-in-o, amar-ezz-a, figli-o cert-a, sol-i rum. încep-u, de-mont-ez-e, risc-ǎ, întreb-e, fac-e, rǎspun-se, er-a pre-fǎc-u-t-ǎ, vre-a, plec-e, v-om merg-e, tulbur-ǎ, plec-ǎm, zi-se, v-om rǎmân-e, a-m av-u-t uș-a, cabinet-ul, Ursula, amǎr-ǎciune, vreme, copil singur-i
Streng genommen können wir -a-, -e-, -i- in sp. des-mont-a-r, it. fac-e-v-a, sp. ten-id-o nicht mir der Kommutationsprobe feststellen, denn diese Elemente tragen keine
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Bedeutung. Wir kommen darauf zurück. Es fällt auf, dass das Französische sich anders als das Spanische, Portugiesische, Italienische und Rumänische verhält, weil die französischen Formen Buchstaben enthalten, denen nichts in der Aussprache entspricht, z. B. in est [ɛ] und seul-s [sœl]. Manchmal werden aber unter bestimmten Bedingungen weitere Laute hörbar, z. B. -t bei est, wenn eine Inversion des Subjektpronomens vorliegt wie in est-il, est-elle [ɛtil, ɛtɛl] oder dit-elle [ditɛl] in unserem Text. Bei frz. dit, sp. ir, kat. dir, pt. it. disse müssen wir berücksichtigen, dass -i- sozusagen doppelt zu werten ist, einmal als gebundenes Morphem mit lexikalischer Bedeutung und ein andermal als Themavokal in Verbindung mit einem grammatischen Morphem. Bleiben wir bei den übrigen Formen innerhalb der Paradigmen der einzelnen Tempora. Wir stellen fest, dass wir im Spanischen nach der Anwendung der Kommutationsprobe, indem wir anstelle der 3. Person die 1. Person einsetzen wie in empez-ó vs. empec-é, contest-ó vs. contest-é, dij-o vs. dij-e, einerseits die gebundenen Morpheme empez- (oder empec-, das nur eine orthographische Variante ist), contestund dij- erhalten, andererseits die gebundenen Morpheme -ó oder -o. Das Portugiesische verhält sich ähnlich wie das Spanische; die entsprechenden gebundenen Morpheme sind começ- und respond-, -ou und -e-u. Im Italienischen kommen wir durch die Anwendung desselben Verfahrens zu den Oppositionen cominci-ò vs. cominci-ai, rispos-e vs. rispos-i und diss-e vs. diss-i, im Rumänischen sind încep-u und încep-ui sowie răspun-se und răspun-se-i oppositiv. Deutlich anders verhält sich dagegen wieder das Französische. Ich habe zwar der Einfachheit halber nur die Formen commenç-a, répond-it und dit angeführt, wir wissen aber, dass diese Formen immer mit einem Subjektpronomen oder einem nominalen Subjekt vorkommen. In unserem Text lauten die Formen il commença, il répondit und dit-elle. Dies bedeutet, dass wir bei der Anwendung der Kommutationsprobe nicht nur die Endung kommutieren dürfen, sondern auch das Subjektpronomen dabei berücksichtigen müssen. In Opposition stehen folglich il commenç-a und je commenç-ai, il répond-it und je répond-is, dit-elle und dis-je (dieser letzte Ausdruck hat eine geringe Vorkommenswahrscheinlichkeit). Das Französische zeigt noch eine weitere Besonderheit. Der Unterschied zwischen der 3. und der 1. Person in répond-it und répond-is wird eigentlich nur durch die Personalpronomina il und je ausgedrückt. In der Aussprache gibt es an dieser Stelle des Textes keinen Unterschied, da sie in beiden Fällen [ʁepɔ˜ndi] ist. Bei dit-elle und dis-je kommt noch ein weiteres Problem hinzu, da diese Formen sowohl Perfektformen als auch Präsensformen sein können. Anders als in allen diesen Sprachen wird das dort einfache Perfekt im Katalanischen mit va començar, va atrevir und va alterar periphrastisch ausgedrückt; nur in der Literatursprache existiert das einfache Perfekt (començà, atreví, alterà) neben dem periphrastischen. Nach den vielen Beispielen für gebundene Morpheme gebe ich einige für freie Morpheme: frz. porte, cabinet, raison, enfant unter denen, die zum Wortschatz gehören. Die Sonderstellung der französischen Morphologie wird deutlich: Während die Verbmorphologie große Gemeinsamkeiten mit den übrigen romanischen Sprachen aufweist, denn die Verbformen bestehen aus einer Kombination eines Lexems,
2.3 Inhalt
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dazu gleich mehr, mit einem Morphem, kennen die französischen Substantive in der Regel keine Bestimmung am Wort. Wir können diesen Unterschied auch mit den Begriffen paradigmatisch und syntagmatisch erfassen. Wenn wir die Formen unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob die grammatischen Bestimmungen am Wort oder außerhalb des Worts ausgedrückt werden, können wir die Bestimmungen am Wort wie in sp. empez-ó, frz. il commenç-a, pt. começ-ou, it. cominci-ò, rum. încep-u einerseits und it. pt. port-a, sp. puert-a, rum. uş-a andererseits paradigmatisch nennen; dagegen enthält frz. porte keine paradigmatische Bestimmung. Diese wird nur außerhalb des Worts, d. h. syntagmatisch gegeben wie in la porte. Die französische Orthographie verschleiert die Tatsache, dass das Substantiv in der Regel keine grammatischen Bestimmungen hat. In kat. va començar usw. haben wir es ebenfalls mit einer syntagmatischen Bestimmung zu tun. Unter den grammatischen Wörtern kommen die folgenden freien Morpheme im Textstück vor. Es sind im Spanischen und analog in den anderen Sprachen nacheinander Personalpronomina, ein deiktisches Ortsadverb, ein Indefinitpronomen, Artikel, Präpositionen, subordinierende Ausdrücke, ein Adverb, eine Konjunktion, eine Negation, dazu im Katalanischen und Rumänischen Adverbien (solament; abia, numai): sp. frz.
se, lo, él, le, nos; aquí; nadie; la, un; a, por, con; cuando, qué, puesto que; y; no Ce; il, se, lui, en; ici; personne, nous; son; la, une, un; à, de, avec, pour; qui, parce, que; que, tout; autant, et; pas, ne kat. es, ho, ell, li, se’n, ens n’; aquí; ningú; la, una, un; a, de, per, amb; quan, que, què, perquè, com que, on; solament; i; no pt. se, o, ele, nós; aqui; ninguém; a, um; a, por, com; quando, que, já que; e; não it. lo, lui, le, ce, noi, si; qui, ne; la, un; a, con; quando, Dato che; e; non rum. o, el, îi, noi, se, ea; aici; nimeni; o, un; de la, pentru, cu, de; când, sǎ, ce, care, deoarece; abia, numai; și; nu
Wie man sieht, entsprechen sich die grammatischen Wörter zwischen den Sprachen nicht genau. So mussten frz. Ce und son hinzugefügt werden. Nicht zu den freien Morphemen zähle ich sp. una, del, porque, pt. uma, do, porque, perguntar-lhe, respondeu-lhe, frz. lorsque, puisque, parce que, it. nessuno, una, dello, rum. de la, pentru ce, deoarece. Durch die Anwendung von nur einem Kriterium, dem Unterschied zwischen frei und gebunden bei den Morphemen, hat sich eine beträchtliche Komplexität bei der Analyse ergeben. Wir müssen das begrifflich aufarbeiten, was sich inzwischen an Problemen angesammelt hat.
Lexeme und Morpheme Eine Differenzierung von verschiedenen Typen von Morphemen ist dann sinnvoll, wenn wir zeigen können, dass die Typen von Inhalten (signifiés) bei den minimalen
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sprachlichen Zeichen sehr verschieden sind. Betrachten wir die Wörter ohne ihre interne Gestaltung, dann unterscheiden wir solche, die eine grammatische Bedeutung haben, von denen mit lexikalischer Bedeutung (2.3.0.1). Die einen „bedeuten selbst etwas“ und werden Autosemantika genannt. Sie können unabhängig von einem Satzzusammenhang genannt werden und die Funktion von Satzgliedern übernehmen. Sie sind Verben, Substantive, Adjektive und Adverbien mit lexikalischer Bedeutung. Die Wörter mit grammatischer Bedeutung sind Synsemantika, sie „bedeuten etwas zusammen mit“ den Autosemantika. Die Synsemantika, die in unserem Textstück vorkommen, sind Pronomina, Artikel, Präpositionen, nebenordnende und unterordnende Konjunktionen, Adverbien sowie die Negationspartikel: sp.
se, lo, él, le, nos; aquí; nadie; la, una, un; a, por, con; del; cuando, qué, puesto que, porque; y; no frz. Ce; il, se, lui, en; ici; personne, nous; son; la, une, un; à, de, avec, pour; lorsqu’il, qu’, qui, Puisque, parce, que; que, tout, autant; et; pas, ne kat. es, ho, ell, li, se’n, ens n’; aquí; ningú; la, una, un; a, de, per, amb; quan, que, què, perquè, com que, on; solament; i; no pt. se, o, ele, nós; aqui; ninguém; a, uma, um; a, por, com; do; quando, que, já que, porque; e; não it. lo, lui, le, ce, noi, si; qui, ne; nessuno; la, una, un; a, con; dello; quando, perché, Dato che; e; non rum. o, el, îi, noi, se, ea; aici; nimeni; o, un; de la, pentru, cu, de; când, sǎ, ce, care, deoarece; abia, numai; și; nu
Weil der Unterschied zwischen Grammatik und Wortschatz so wichtig ist, wollen wir ihn auch durch eine eigene Terminologie ausdrücken. Greifen wir dabei auf einen der ersten Vertreter des europäischen Strukturalismus, auf den der Prager Schule angehörenden französischen Sprachwissenschaftler Martinet zurück. Für die verschiedenen minimalen sprachlichen Zeichen oder minimalen Einheiten bzw. Moneme in seiner Terminologie (mónos, ‚einzig, allein‘ + -em; 11960: 20; 41996: 15–16) wollen wir verschiedene Termini einführen, um den Typen von Inhalten Rechnung zu tragen. Minimale Einheiten oder Moneme, die einen lexikalischen Inhalt haben, werden Lexeme genannt, minimale Einheiten oder Moneme, die eine grammatische Bedeutung haben, grammatische Moneme oder auch Morpheme. Lex- in Lexem geht auf grch. léxis, ‚Ausdruck, Wort‘, zurück, das wiederum mit dem Suffix -em für sprachliche Einheiten verbunden wird. Die Wortbildungsinhalte werden einerseits durch Lexeme, andererseits durch Wortbildungsmoneme bzw. Wortbildungsmorpheme ausgedrückt. Der Terminus Morphem steht demnach je nach sprachwissenschaftlicher Richtung für einen anderen Begriff. Im nordamerikanischen Strukturalismus meint er ein sprachliches Zeichen überhaupt, im europäischen Strukturalismus ist er auf die minimalen Zeichen der Grammatik und der Wortbildung begrenzt. Nehmen wir als Beispiele die Verbformen der 3. Person des Perfekts -ó und o im Spanischen wie in empezó, contestó und dijo, -ou und -e-u im Portugiesischen wie in começou und respondeu, im Französischen -a und -it wie in il commença und il
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répondit, im Italienischen -ò und -e wie in cominciò, rispose und disse, im Rumänischen -u und -se wie in începu und răspunse. Das sind komplexe Verbformen, die wir nach ihren jeweiligen Beziehungen zwischen Ausdruck und Inhalt zum Beispiel in sp. empez-ó, pt. começ-ou, frz. il commenç-a, it. cominci-ò analysiert haben. Die Elemente sp. empez-/empec-, frz. commenç-/commenc-, it. cominci- entsprechen dem lexikalischen Inhalt oder dem Lexem (‚beginn-ʻ), die Elemente oder grammatischen Moneme sp. -ó, pt. -ou, frz. - a, it. -ò, rum. -u machen die Formen sp. empez-/empec-, pt. começ-, frz. commenç-/commenc-, it. cominci-, rum. încep- zum Perfekt des Indikativs, wobei in diesen Monemen zugleich die 3. Person Singular enthalten ist. Im Katalanischen wird das Perfekt in va començar periphrastisch mit den Formen von anar ‚gehen‘ im Präsens und dem Infinitiv gebildet. Ich gebe hier statt einer statischen Analyse eine Formulierung als Vorgang, als Verfahren, weil man, wenn man eine dieser romanischen Sprachen spricht, immer wieder in dieser Weise beim Bilden der Formen verfährt. Erinnern wir uns an die Humboldtsche Erkenntnis, dass Sprechen wesentlich Tätigkeit (enérgeia) und kein Werk (érgon) ist. Für sich alleine genommen haben die Zeichen sp. empez- und -ó, pt. começ- und -ou, frz. commenç- und -a, it. cominci- und -ò, rum. încep- und -u keine Bedeutung und keinen Sinn, sondern erst als Verfahren zur Schaffung von Ausdruck-Inhalt-Beziehungen. Moneme als Ausdruck-Inhalt-Einheiten der Grammatik sind in unseren Beispielen it. -o und -ò bei Verben für die 3. Person Singular oder sp. -a für das Femininum Singular von Substantiven (und Adjektiven). Anstelle von grammatisches Monem oder Morphem kann man für die genannten Elemente auch traditionell Endung verwenden, wenigstens für die romanischen Sprachen, da die grammatischen Moneme bzw. Morpheme in ihnen auf das Lexem folgen. Es gibt aber auch Sprachen, in denen analoge Moneme vor dem Lexem stehen können. Das Vorkommen als Endung ist demnach nur eine von mehreren Realisierungsmöglichkeiten eines Monems. Es ist auch weiterhin sinnvoll, statt Endung den Terminus Morphem zu verwenden, da er auf die Morphologie beschränkt bleibt. Als Endungen werden in den romanischen Sprachen Numerus und Genus beim Substantiv und Adjektiv ausgedrückt. Wie die Formen uş-a und cabinet-ul zeigen, erscheint im Rumänischen auch der bestimmte Artikel als Endung, nicht aber der unbestimmte wie in o amărăciune und un copil. In kat. va començar ist das Hilfsverb va ein grammatisches Monem und -ar in començar eine Endung. Statt Endung verwendet man im nordamerikanischen Strukturalismus und der sich daran anschließenden Tradition Suffix. Da die auf ein Lexem folgenden Moneme entweder grammatische Moneme oder Wortbildungsmoneme sein können, empfiehlt sich aus theoretischen Gründen eine Differenzierung. Wir gehen darauf noch einmal bei den Affixen ein. Nicht immer reihen sich die minimalen Einheiten linear aneinander. Sp. -o und -ó, pt. -ou und -u, frz. -a und -it, it. -ò, rum. -u, -se und -e haben in unseren Beispielen die Bedeutungen ‚Indikativ‘, ‚3. Person‘, ‚Singular‘, ‚Perfekt‘. Der Ausdruck ist einfach, der Inhalt komplex. In kat. va començar ist sowohl der Ausdruck als auch der Inhalt
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komplex. Wenn wir nicht für jede minimale Einheit einen Ausdruck und einen Inhalt haben, sondern mehr als ein Inhalt durch einen einzigen Ausdruck realisiert wird, sprechen wir mit Martinet von einem Amalgam (41996: 101–102). Auch va in kat. va començar ist ein Amalgam, das allein ‚3. Person‘, ‚Singular‘ und ‚Präsens‘ ausdrückt und erst zusammen mit dem folgenden Infinitiv Perfekt bedeutet.
Affixe Minimale Einheiten, die zur Wortbildungsmorphologie gehören und zur Schaffung von neuen lexikalischen Einheiten führen können, sind, wie wir eben festgestellt haben, Wortbildungsmoneme oder Wortbildungsmorpheme bzw. Affixe. Affixe unterscheidet man noch weiter nach ihrer Stellung gegenüber dem Lexem. Folgt ein Affix dem Lexem, nennen wir es Suffix wie -ur-, -tume, -es-, -ezz-, -ăciune in sp. pt. amargur-a, frz. amer-tume, kat. amargu-es-a, it. amar-ezz-a, rum. amărăciune; geht es ihm voraus, ist es ein Präfix wie des-, dé-, s-, de- in sp. pt. des-montar, frz. dé-monter, kat. des-muntar, it. s-montare, rum. a de-monta, so auch pre- in rum. a pre-face. Sp. pt. amargura besteht aus der Kombination der Inhalte und Ausdrücke amarg-, dem Suffix -ur- und der Endung -a. Einen lexikalischen Inhalt hat amarg-, er wird durch -ur- nominalisiert und -a macht diese Zeichenkombination zu einem Femininum Singular. Genau analoge Verfahren werden in kat. amargu-es-a und it. amar-ezza angewandt. Frz. amer-tume unterscheidet sich dadurch von sp. pt. amarg-ur-a, kat. amargu-es-a und it. amar-ezz-a, dass das Femininum und der Singular bei diesem Wort nicht morphologisch ausgedrückt werden, so auch nicht in rum. amărăciune. Hier gilt wiederum das, was wir oben im Allgemeinen gesagt haben. Bei diesem Verfahren liegt der Inhalt sp. ‘el ser amargoʼ, kat. ‘el ser amarg’, pt. ‘o ser amargoʼ, frz. ‘l’être amerʼ, it. ‘l’essere amaroʼ, rum. ‘faptul/proprietatea de a fi amarʼ zugrunde, zugleich wird dieser Inhalt zu einem Substantiv gemacht, eben nominalisiert. Dieses Wortbildungsverfahren nenne ich Prädikatnominalisierung und als Produkt Prädikatnomen. Wiederum haben sp. pt. -ur- und -a, kat. -es- und -a, it. ezz- und -a sowie frz. -tume, rum. -ăciune allein keine klar erkennbaren Bedeutungen. Diese erhalten sie erst in der Kombination mit anderen Einheiten. Dass wir einen prädikativen Inhalt in sp. pt. amargura, frz. amertume, it. amarezza, rum. amărăciune haben, können wir durch die Paraphrasen sp. ‘el ser amargo/amarga/amargos/amargas’, kat. ‘el ser amarg/amarga/amargs/amargues’, pt. ‘o ser amargo/amarga/amargos/amargas’, frz. ‘le fait d’être amer/amère/amers/amèresʼ, it. ‘l’essere amaro/amara/amari/amareʼ, rum. ‘faptul de a fi amar/amară/amariʼ (das ‚Bitter-Sein‘) zeigen. Wenn wir keinen Bezug auf einen Inhalt wie sp. kat. ‘serʼ, frz. ‘êtreʼ, it. ‘essereʼ in der Paraphrase für sp. pt. amargura, frz. amertume, kat. amarguesa, it. amarezza, rum. amărăciune annehmen, geben wir ihn nicht angemessen wieder. Das Prädikat in sp. pt. amargura, frz. amertume, it. amarezza, rum. amărăciune und das Prädikat in der Grammatik sind natürlich in ihrer Inhaltsstruktur nicht identisch. Das sieht man schon allein daran, dass bei den Prädikatnominalisierungen nicht das Genus eines Adjektivs in der
2.3 Inhalt
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Grundlage ausgedrückt werden kann und auch nicht die verschiedenen Arten von Aktualisierung wie Modus, Tempus und Person in der Ableitung. Sp. pt. des-montar, frz. dé-monter, it. s-montare, rum. de- sind mit Präfixen gebildete Verben. Die Präfixe des-, dé-, s- und de- drücken aus, dass diese Verben den verbalen Basen sp. pt. montar, frz. monter, it. montare, rum. a monta entgegengesetzt sind. Am besten lässt sich der Inhalt von sp. desmontar la puerta mit einem kleinen Schema als │O→O darstellen. Dabei steht das Symbol O zweimal für sp. la puerta, frz. la porte, kat. la porta, pt. a porta, it. la porta, rum. uşa, in unserem Beispieltext, und zwar das erste Mal für die Ausgangsposition der Tür beim Abmontieren und das zweite Mal für die Endposition, und der Pfeil → steht für sp. pt. des-, frz. dé-, it. s-, rum. de-. Typisch für eine Bedeutung wie diese ist aber, dass die Stelle, an der sich die Tür befindet und von der sie ausgehängt wird, überhaupt nicht sprachlich ausgedrückt wird. Sie wird hier ganz allein durch │ symbolisiert. Man stelle sich in diesem Fall einen Türrahmen vor. Diese Präfixbildung ist semantisch komplexer als die Suffixbildung sp. pt. amargura, frz. amertume, kat. amarguesa, it. amarezza, rum. amărăciune, denn Verben sind Sachverhaltsdarstellungen in komprimierter Gestalt. Deshalb brauchen wir für das Verständnis eines Verbs wie sp. pt. desmontar, kat. desmuntar, frz. démonter, it. smontare, rum. a demonta die Beziehung zu einem Handelnden, zur Tür und zu einer Sache, dem Türrrahmen, von der die Tür ausgehängt wird. Wenn man sp. kat. pt. des-, frz. dé-, it. s-, rum. de- paraphrasieren wollte, könnte man sagen, dass die Tätigkeit zwar „von ihrem Ausgangspunkt her“ gesehen wird, der Ausgangspunkt, d. h. der Türrahmen, aber unausgedrückt bleibt. Demgegenüber ist bei sp. pt. montar, kat. muntar, frz. monter, it. montare, rum. a monta der Zielpunkt gemeint, er wird aber nicht morphologisch ausgedrückt und es wird meist auch nicht gesagt, wo man etwas einbaut oder anbringt. Da im angloamerikanischen Sprachgebrauch lexikalische Moneme, grammatische Moneme und Wortbildungsmoneme nicht regelmäßig terminologisch voneinander unterschieden werden, nennt man dort alle auf ein Lexem folgenden Moneme „Suffixe“ und die dem Lexem vorausgehenden Moneme „Präfixe“. Das Problem taucht nicht bei den Präfixen auf, da dem Lexem in den romanischen Sprachen keine grammatischen Moneme vorangehen. In diesem Fall verhält sich schon das Lateinische anders, denn das Perfekt mit Reduplikation wird wie in pe-pul-it ‚er, sie trieb‘ durch die Reduplikation pe- und die Endung -it in Verbindung mit dem Perfektstamm -puldes Verbs pellere ausgedrückt. Wie wir aber bei sp. pt. amarg-ur-a, frz. amer-tume, kat. amargu-es-a, it. amar-ezz-a, rum. amăr-ăciune gesehen haben, ist der Status von sp. -ur-, kat. -es-, it. ezz- und sp. kat. pt. it. -a sehr verschieden. Sp. kat. pt. it. -a steht als Ausdruck des Inhalts ‚Femininum‘ nur dem ‚Maskulinum‘ gegenüber, während sp. pt. -ur- eines einer ganzen Reihe von prädikatnominalisierenden Suffixen wie sp. -dad, -ez, -ez-, -or usw. bzw. pt. -dade, -ez, -ez-, -or bzw. kat. -dat/-tat, -itud, -ia, -eria, -or, -ària usw. ist bzw. it. -ezz- in eine Reihe mit -i-a, -età, -ità, -ore, -tudine usw. gestellt werden kann und rum. -ăciune mit -(e,ă)tate, -eaţă, -et, -ime usw. Rum. -et bildet Neutra wie in zâmbet ‚Lächeln‘, das Rumänische besitzt also drei Genera. Die
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terminologische Konvention des nordamerikanischen Strukturalismus ist der Sprache nicht angemessen, denn Grammatik und Wortbildung sind in Ausdruck und Inhalt deutlich getrennte Bereiche: Die Moneme der Grammatik oder Morpheme und die Morpheme bzw. Affixe der Wortbildung fallen in der Regel nicht zusammen.
Varianten Ein Monem – das wir uns immer als sprachliche Einheit mit Ausdruck und Inhalt vorstellen müssen – kann ausdrucksseitige Varianten aufweisen. Bei der Verwendung des Terminus „Morphem“ ergibt sich übrigens das Problem, dass damit oft nur die Ausdrucksseite einer Einheit der Grammatik oder des Wortschatzes gemeint ist. Diese terminologische Abgrenzung halte ich nicht für kohärent, da sie die Bedeutung nicht oder nicht angemessen berücksichtigt. Auch beim Terminus Morphem muss man vorausstzen, dass er sich auf Ausdruck und Inhalt zugleich bezieht. Ein Monem kann formale Varianten haben, die wir einfach Monemvarianten nennen werden. Die Monemvarianten stehen in komplementärer Distribution zueinander: Wo die eine Form steht, ist die andere ausgeschlossen. Das Perfektmonem wird in den sechs diskutierten romanischen Sprachen verschieden realisiert. Es kommt nicht in Gestalt einer einzigen Monemvariante vor, sondern von mehreren. Im Spanischen lässt sich -o ohne Akzent wie in dijo von -ó mit Akzent wie in empezó unterscheiden (wobei ich nicht den graphischen Akzent meine). Im Portugiesischen haben wir einen analogen Unterschied zwischen disse und começou. Im Französischen sind -a und -it Monemvarianten, im Italienischen -ò und -e mit einem Druckakzentunterschied wie im Spanischen, im Rumänischen -u und -se, alle jeweils in Abhängigkeit von den Konjugationsklassen. Lexemvarianten erscheinen in den „unregelmäßig“ genannten Paradigmen, besonders von Verben. Geben wir je ein Beispiel für die hier betrachteten sechs romanischen Sprachen: frz. s’asseoir ‚sich setzen‘: asse-/ass- in s’asse-oir, il s’ass-it ‚er setzte sich‘, ass-is ‚sitzend‘; assied-/ assié- in je m’assieds ‚ich setze mich‘, je m’assié-rai ‚ich werde mich setzen‘; assey- in ils s’asseyent ‚sie setzen sich‘, je m’assey-ais ‚ich setzte mich‘ (Imperfekt); sp. tener ‚haben‘: teng- in teng-o ‚ich habe‘, ten- in ten-emos ‚wir haben‘, ten-ido ‚gehabt‘; tien- in tien-e ‚er, sie hat‘; tend- in tend-ré ‚ich werde haben‘; tuv- in tuv-e ‚ich hatte, ich bekam‘; kat. anar ‚gehen‘: va- in vaig ‚ich gehe‘, an- in an-em ‚wir gehen‘, an-iré ‚ich werde gehen‘, ana-va ‚ich ging‘; tenir ‚haben‘: ten- in ten-iu ‚ihr habt‘, tinc ‚ich habe‘, ting- in tingu-i ‚er, sie habe (Konj.)‘, ting-ut ‚gehabt‘, tind- in tind-ré ‚ich werde haben‘; pt. pôr ‚legen, stellen, setzen‘: pô- in pô-r ‚legen‘, pô-rei ‚ich werde legen‘, pô-ria ‚ich würde legen‘, pô-mos ‚wir legen‘; ponh- in ponh-o ‚ich lege‘; põ- in põ-es ‚du legst‘; pon- in pon-des ‚ihr legt‘; punh- in punh-a ‚ich legte‘ (Imperfekt); pus- in pus ‚ich legte‘, pus-este ‚du legtest‘, pus-esse ‚ich würde legen‘ (Konjunktiv Imperfekt); pos- in pos-to ‚gelegt‘; it. venire ‚kommen‘: veng- in veng-o ‚ich komme‘, veng-ono ‚sie kommen‘; vien- in vien-i ‚du kommst‘, vien-e ‚er, sie kommt‘; ven- in ven-iamo ‚wir kommen‘, ven-ite ‚ihr kommt‘, ven-uto ‚gekommen‘; venn- in venn-i ‚ich kam‘; verr- in verr-ò ‚ich werde kommen‘, verr-ei ‚ich würde kommen‘;
2.3 Inhalt
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rum. a da ‚geben‘: da- in da-u ‚ich gebe, sie geben‘, da-ţi ‚ihr gebt‘, da-t ‚gegeben‘, d- in d-ǎ ‚er, sie gibt‘, d-ând ‚gebend‘; dǎde- in dǎde-am ‚ich gab‘ (Imperfekt); dǎd- in dǎd-ui ‚ich gab, habe gegeben‘ (Perfekt), dǎd-usem ‚ich hatte gegeben‘.
Den Themavokalen, die die Konjugationsklassen von Verben anzeigen, kann man keine Bedeutung (kein signifié) zuschreiben. Themavokale sind zum Beispiel -e- in it. fac-e-v-a und sp. ten-e-mos oder -a- in sp. desmont-a-r und rum. a demont-a. Sie kommen bei fast allen grammatischen Formen eines Verbs und in seinen Ableitungen vor, z. B. in sp. mont-a und sp. mont-a-je ‚Montage‘, kat. munt-a-tge, pt. mont-a-gem, sp. pt. mont-a-dor ‚Monteur‘, kat. munt-a-dor, it. mont-a-tore, mont-a-ggi-o ‚Montage‘, rum. mont-a-j. Im Französischen erscheint zwar der Themavokal nicht in il démonte, wohl aber in il démonta, als Amalgam mit der Endung, sowie in démont-a-ble ‚auseinandernehmbar‘ und démont-a-ge. Deshalb kann man die Themavokale als Bestandteil des Lexems betrachten.
Wort Wie wir gesehen haben, ist das Wort im alltäglichen Verständnis das kleinste sprachliche Zeichen, das Ausdruck und Inhalt hat. Es ist bei verschrifteten Sprachen nicht mehr möglich, ein Vorverständnis von „Wort“ vorauszusetzen, das unabhängig von der Schrift ist. Für jemanden, der eine Schule durchlaufen hat, scheint es klar zu sein, dass ein Wort das sprachliche Zeichen ist, das getrennt geschrieben wird. Wir müssen deshalb differenzierter vorgehen. Wir nähern uns dem Begriff des Worts am besten, wenn wir das Wort in graphischer, phonetischer, grammatischer und lexikalischer Hinsicht unterscheiden. Ein graphisches Wort setzt sich durch eine Lücke von einem anderen graphischen Wort ab. Ein grammatisches Wort ist ein Wort mit allen seinen grammatisch bedingten Formen; so gehören zu frz. s’asseoir, sp. tener, kat. tenir, pt. pôr, it. venire, rum. a da als grammatischem Wort alle Formen der Paradigmen aller Tempora und Modi. Dieser Begriff kommt der Sprecherintention eher nahe. Schließlich zeigt ein Wort wie frz. pomme de terre, dass ein graphisches Wort nicht immer einem lexikalischen Wort entspricht. So ist pomme de terre eine lexikalische Einheit, die als ganze die Kartoffel bezeichnet. Aber auch alle Ausdrücke, die einen einzigen Gegenstand (oder eine Entität) bezeichnen, auch wenn sie aus mehreren lexikalischen Einheiten bestehen, gehören hierher wie frz. flûte à champagne ‚Sektkelch‘, sp. vino tinto ‚Rotwein‘, kat. vi negre ‚Rotwein‘, pt. golpe de sorte ‚Glücksfall‘, it. primo ministro ‚Premierminister‘, rum. păsări de curte ‚Geflügel‘. In lautlicher Hinsicht kann ein Wort eine Spracheinheit sein, die gelegentlich noch mehr umfasst als eine lexikalische Einheit. Dies ist besonders relevant im Französischen, in dem die Sprecheinheiten einen einzigen Wortgruppenakzent tragen und deshalb mot phonique oder mot phonétique genannt werden wie z. B. in [ilfɛbotɑ˜] il fait beau temps ‚das Wetter ist schön‘.
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Morphologie Die Teildisziplin, die sich mit der Struktur der Wörter beschäftigt, ist die Morphologie. Man unterscheidet ferner die Flexionslehre (Wortbeugungslehre) als Morphologie in der Grammatik und Wortbildungslehre als Morphologie im Wortschatz. Allerdings wird man der Grammatik und der Wortbildung nicht gerecht, wenn man sie nur unter dem Gesichtspunkt der Morphologie betrachtet, denn man versteht dabei in der Praxis gewöhnlich Morphologie als Untersuchung der Formen ohne gleichzeitige Untersuchung der Inhalte. Weil der Inhalt weiterhin ziemlich stiefmütterlich behandelt wird, stelle ich ihn in den Vordergrund. Aus diesem Grunde insistiere ich hier auf den grammatischen Inhalten (2.3.1), den Wortbildungsinhalten (2.3.2) und den Wortinhalten (2.3.3). Gleichzeitig sollte es unmissverständlich klar sein, dass ein Inhalt nicht ohne seinen Ausdruck existiert (cf. das Motto am Anfang von 1.2.4). Es ist schließlich die Funktion des Ausdrucks, den Inhalt auszudrücken. Würde man immer Ausdruck und Inhalt zusammen betrachten, könnte man einfach von Grammatik, Wortbildung und Wortsemantik sprechen. Der Terminus Morphologie wurde um 1790 von Goethe als biologischer Terminus für die Formen der Tiere und Pflanzen geprägt und im 19. Jahrhundert auf die Untersuchung der sprachlichen Formen übertragen, da die Biologie zu jener Zeit eine Leitwissenschaft war. „Morphologie“ wurde als „Formenlehre“ ins Deutsche übersetzt. Vor der Einführung von „Morphologie“ nannte man den sprachlichen Bereich „Sprachbau“ oder „Etymologie“ (in einem synchronischen Sinne). Es gab noch andere Ausdrücke, die aber nicht Schule gemacht haben.
Bibliographischer Kommentar
Die Morphologie stand seit der Entstehung der abendländischen Grammatik bei den Griechen im Zentrum des Interesses. Daher kann man allenthalben auf die bibliographischen Kommentare zu den Einzelsprachen insbesondere im Anschluss an 2.1.2 zurückgreifen. Da die Grammatik im Grunde immer strukturalistisch dargestellt wurde, bevor man das Wort kannte, sind die Werke der gesamten Grammatiktradition dafür zu verwenden und allen voran die Werke zu den verschiedenen Richtungen des europäischen und des nordamerikanischen Strukturalismus. Ein besonders großes Interesse hat die Morphologie in der generativen Grammatik gefunden, so z. B. in Aronoff 1976 (Wortbildung), Cressey 1978 (Spanisch), Corbin 1987 (französische Wortbildung), Jensen 1990, Scalise 1990, Spencer 1991, Spencer/Zwicky (eds.) 2008. Außerhalb der generativen Grammatik kann man sich in Bergenholtz/Mugdan 1979, Matthews 1991, Bauer 22003 und vor allem in HSK 17.1 informieren. Die in diesen Arbeiten vertretenen Ansichten sind weder untereinander noch stets mit der hier dargestellten Auffassung kompatibel. Mit einer didaktischen Zielsetzung behandeln Zimmer 1992 die Morphologie des Verbs im Italienischen, Spanischen und Portugiesischen sowie Schpak-Dolt die Morphologie im Französischen (42016) und Spanischen (22012).
2.3 Inhalt
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2.3.0.3 Kombinationen von sprachlichen Zeichen Form-Inhalt-Beziehungen haben wir nur bei Lexemen und solchen Inhalten in Erwägung gezogen, die am Wort ausgedrückt werden, sei es als Tempusform, als modifizierendes Präfix oder als prädikatnominalisierendes Suffix. Die Sätze aus Gabriel García Márquez’ Roman enthalten jedoch weit mehr Beschreibungsprobleme. Nehmen wir sp. hemos tenido, kat. hem tingut, frz. nous avons eu, it. abbiamo avuto und rum. am avut. Die Form ist ein zusammengesetztes Perfekt, ein Tempus, das zusammen mit un hijo, un fill, un enfant, un figlio, un copil einen nahe am Zeitpunkt des Sprechens liegenden Sachverhalt ausdrückt. Wenn wir dieses Tempus „zusammengesetzt“ nennen, so meinen wir, dass es durch zwei Wörter ausgedrückt wird. Am einfachsten ist es, wir kontrastieren dieses Tempus mit dem unmittelbar vorausgehenden Präsens in sp. nos quedamos, it. restiamo und dem Futur in frz. Nous resterons und in kat. ens quedarem. (Pt. tivemos und rum. vom rămâne eignen sich für die Argumentation aus naheliegenden Gründen nicht zum Vergleich.) Während bei dem Präsensmonem und dem Futurmonem die Endungen nur jeweils eine Funktion haben, d. h. in sp. nos queda-mos, it. rest-iamo, frz. Nous reste-r-ons, hat jeder der Bestandteile oder orthographischen Wörter von sp. hemos tenido, frz. (Nous) avons eu und it. abbiamo avuto im Prinzip eigene Endungen, also sp. he-mos teni-d-o, frz. (Nous) av-ons eu, it. abbiamo avu-t-o. Frz. eu [y] ist ein Amalgam, das dem Inhalt von avoir entspricht und ein Partizip Perfekt ist. Der Vergleich der einfachen Formen mit den zusammengesetzten zeigt, dass sie zu derselben Gruppe von Tempusparadigmen gehören. Nur drücken die einfachen Tempusformen die Unterschiede an ein und demselben Wort aus; die zusammengesetzten Formen enthalten Endungen an jedem der beiden Wörter, die das zusammengesetzte Perfekt bilden. Wenn wir gesagt haben, dass die Morphologie die am Wort ausgedrückten Morpheme beinhaltet, trifft dies auf das romanische zusammengesetzte Perfekt nicht zu. Wir haben auf der signifiant-Seite zwei Wörter, die, so scheint es, für einen einzigen Inhalt stehen. Innerhalb eines Paradigmas stellen wir also syntagmatische Beziehungen fest. An dieser Stelle erkennen wir, dass unsere Idee von Morphologie noch zu einfach ist. Nun können wir uns beim zusammengesetzten Perfekt damit behelfen zu sagen, dass sp. hemos, kat. hem, frz. avons, it. abbiamo, rum. am Hilfsverben sind, weil sie ihre Tempusbedeutung nicht alleine zuwege bringen, sondern zusammen mit dem Partizip Perfekt. Wie aber sollen wir das erste Lexem in sp. empezó a desmontar, pt. começou a desmontar, frz. il commença à démonter, it. cominciò a smontare, rum. începu să demonteze erklären? Wenn wir sp. empezó, frz. il commença, pt. começou, it. cominciò, rum. începu alleine hören oder lesen, wissen wir nicht, was geschieht. Er fing an, aber womit? Mit diesem Verb erfahren wir nur, dass ein Sachverhalt, eine Tätigkeit anfängt zu bestehen, aber nicht, worin die Tätigkeit besteht, die Hauptsache fehlt noch. Wir erkennen daran, dass es semantische Zusammenhänge gibt, die oberhalb der Ebene des Worts existieren. Noch komplexer ist kat. va començar a desmuntar. Diese Fälle gehen aber über die hier zu behandelnden Themen hinaus.
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2.3.1 Grammatische Inhalte Mit „Grammatik“ in der hier verwendeten Bedeutung ist keine Beschreibung eines Bereichs einer Einzelsprache gemeint und auch keine sprachwissenschaftliche Disziplin. Mit „Grammatik“ benennen wir einen Teil des sprachlichen Wissens der Sprecher unabhängig davon, ob dieses Wissen in einem „Grammatik“ genannten Werk beschrieben worden ist oder nicht. Leider ist dieser Terminus also ambig, was etwas mit seiner langen Tradition zu tun hat, die von der Antike bis zur Gegenwart reicht. Weil der Terminus „Grammatik“ mehrere Begriffe enthält, hat man versucht, unter Verwendung herkömmlicher Termini und mit der Einführung neuer in der Abgrenzung der einzelnen Sprachbereiche und Disziplinen mehr Klarheit zu schaffen. Dies ist aber nur zu einem Teil gelungen, denn man gelangt je nach Zugrundelegung des Ausdrucks oder des Inhalts zu anderen Einteilungen. Eine traditionelle ausdrucks orientierte Einteilung unterscheidet zwischen Morphologie (oder Formenlehre) und Syntax (oder Satzlehre) als Disziplinen. Die Morphologie umfasst die Formen, die am Wort ausgedrückt werden wie etwa -ó in sp. empezó und -a in sp. puerta, die Syntax den durch die Kombination von Wörtern zustande gekommenen Bau von Wortgruppen und Sätzen. Kohärent ist diese Auffassung jedoch nicht, denn der Morphologie werden solche Kombinationen wie die von Personalpronomen, Hilfsverb und Verb, z. B. frz. nous avons eu, oder die Steigerung der Adjektive, z. B. frz. plus grand ‚größer‘, zugeordnet. Problematisch ist auch, dass der bestimmte Artikel im Rumänischen zur Morphologie gehören würde, weil er wie in cabinetul am Wort ausgedrückt wird, in den anderen romanischen Sprachen aber nicht. Diese Inkohärenz ist durch die anfängliche Reduktion der Grammatik auf Morphologie in der lateinischen Grammatiktradition bedingt, die zu einer begrifflich nicht abgedeckten Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Morphologie führte. Da diese Grammatiktradition von den frühen Grammatiken der romanischen Sprachen übernommen wurde, weisen diese die gleichen Inkohärenzen auf. Vor allem das Französische, das die Autonomie des Worts kennt, da seine weiteren Bestimmungen in der Regel erst syntagmatisch gegeben werden wie in den obigen Beispielen grand – plus grand und eu – nous avons eu, wird mit dieser Auffassung von Morphologie nicht adäquat beschrieben. Die Syntax behandelt die Kombination von Wortformen auf der Ebene des Satzes, aber auch auf der Ebene der Wortgruppe (cf. 1.4.5), während die Bedeutungen (oder „Funktionen“) der Kombinationen je nach Syntaxmodell in sehr unterschiedlicher Weise Berücksichtigung finden. Auch die Bedeutungen der am Wort ausgedrückten Formen stellen traditionell ein Problem dar, da die Formen meist nicht zusammen mit den Bedeutungen betrachtet werden. Man beachte die herkömmliche Behandlung des Verbs: Die Paradigmen der Verbformen und ihre Funktionen oder Bedeutungen werden in getrennten Kapiteln dargestellt. Man hat aus den Unzulänglichkeiten der Abgrenzung von Morphologie und Syntax die Konsequenz gezogen, den Bereich dieser beiden älteren Disziplinen zu
2.3 Inhalt
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einer neuen zusammenzufassen, die man Morphosyntax nennt. Es gibt aber auch den Usus, den gesamten Bereich der Syntax zuzuweisen. All dies ist nun keine Frage der Beliebigkeit. Wenn wir den sprachlichen Bereich darstellen wollen, den wir Grammatik und nun auch Morphosyntax genannt haben, kommen wir infolge der Komplexität der sprachlichen Verhältnisse zu keiner klaren Darstellung, wenn wir Ausdruck und Inhalt gleichzeitig berücksichtigen. Die zahlreichen bisher unternommenen Versuche haben gezeigt, dass ein solcher Weg zum Scheitern führen muss. Bleibt also die Zugrundelegung entweder des Ausdrucks, d. h. der Formen, oder des Inhalts. Eine ausdrucksbasierte Grammatik oder Morphosyntax könnte die Kombinationen von der minimalen Einheit bis zum Satz, als Ebene der sprachlichen Strukturierung verstanden, umfassen (cf. 1.4.5). Welche Ebenen der Strukturierung anzunehmen sind, hängt dabei von der jeweiligen Einzelsprache ab. Diesen Weg werden wir hier nicht beschreiten. Im Sinne unserer funktionellen Option legen wir die Annahme zugrunde, dass der Ausdruck (cf. die Materialität, 1.2.4) dazu da ist, einen Inhalt (cf. die Semantizität, 1.2.3) auszudrücken. Daher legen wir also der weiteren Betrachtung die Inhalte zugrunde. Sie seien „grammatische Inhalte“ oder „grammatische Bedeutungen“ genannt, da eine Wahl nun einmal zwischen den zur Verfügung stehenden Termini getroffen werden muss, wenn man keinen neuen prägen will. Da aber gleichzeitig eine Solidarität zwischen Ausdruck und Inhalt anzunehmen ist, sollten wir keine Inhalte postulieren, die keinen Ausdruck haben (cf. die Bemerkungen zu freien und gebundenen Morphemen in 2.3.0.1). Bei den grammatischen Inhalten ist zwischen den universellen und den einzelsprachlichen zu unterscheiden. Unter den universellen Inhalten haben wir in 1.4.5 die Äußerungs- und die Wortkategorien behandelt. Diese werden üblicherweise in den Einzelsprachen dargestellt oder sogar „definiert“. Streng genommen setzen aber diejenigen, die z. B. das Adjektiv im Französischen definieren, voraus, dass es das Adjektiv übereinzelsprachlich überhaupt gibt. Wäre dies nicht der Fall, könnte man das Adjektiv – oder irgendeine andere Wortkategorie – nicht in zwei oder mehr Sprachen vergleichen, denn was nichts Gemeinsames hat, lässt auch keinen Vergleich zu. Es muss aber von Fall zu Fall festgestellt werden, welche Kategorien in einer Einzelsprache existieren und wie sie morphologisch ausgedrückt werden. Mit der Grammatik wird aus dem nur abstrakten einzelsprachlichen Wissen heraus ein Diskurs produziert. Dies geschieht dadurch, dass die abstrakten Einheiten „bestimmt“ oder „determiniert“ werden. Bestimmung ist alles, was dazu dient, ein sprachliches Zeichen zu aktualisieren. Die Aktualisierung besteht darin, dass ein im Wissen des Sprechers potentiell existierendes Zeichen für den Diskurs verwendbar gemacht wird. Die dafür notwendigen Bestimmungen oder Determinationen werden durch Determinanten geleistet. Dabei sind wie bei allen sprachlichen Zeichen auch die in der Grammatik relevanten sprachlichen Zeichen nach Form und Inhalt zu betrachten. Es gibt einen eigenen Bereich der sprachlichen Zeichen, der grammatisch relevant ist. Das sind die Zeichen, die kategoriale Bedeutung, und solche, die instrumentale Bedeutung haben.
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2.3.1.1 Grammatik des Verbs Weil es unter den Linguisten sehr große Unterschiede zwischen den Auffassungen zur Rolle des Verbs und seinen weiteren Bestimmungen im Satz gibt, ist es umso wichtiger, dass wir nur die einfachsten und elementarsten grammatischen Bedeutungen besprechen. Das Verb übernimmt als prädikativer Satzkern die zentrale Funktion im Satz (zu seinem geschichtlichen Zustandekommen in den romanischen Sprachen 4.5.2.8), deshalb eignet es sich als Basis für eine inhaltliche Analyse der Satzstruktur und der Satzfunktionen. Um das Verb gegenüber den anderen Wortkategorien zu situieren und seine Funktion im Satz zu bestimmen, ist es nützlich, zwischen Bedeutungen zu unterscheiden, die eine Funktion im Satz haben, und solchen, die keine Funktion im Satz haben. Bedeutungen mit Funktion im Satz finden sich beim Verb und seinen weiteren Bestimmungen. Dies hatte zu der Aussage geführt, dass das Verb das Nennen zum Sagen macht (1.4.5). Diese Funktion hat das Verb als Prädikat, nicht aber in seinen anderen Verwendungen. Als Prädikat hat es die zentrale Funktion im Satz, die zugleich eine komplexe Funktion ist. Sie wird am Verb durch Moneme bzw. Endungen ausgedrückt, die insbesondere die Bedeutungen Tempus, Modus, Person und Numerus haben. Sp. vivíamos ‚wir lebten‘ ist demnach zu analysieren in die folgenden kleinsten sprachlichen Zeichen: viv- ist das Verballexem, -ía- das Monem, das mit einer einzigen Form die Inhalte ‚Indikativ‘ und ‚Imperfekt‘ ausdrückt, und -mos ist ebenfalls mit einer einzigen Form als Amalgam Ausdruck für die Inhalte ‚Person‘, wobei mindestens eine Person Sprecher ist, und ‚Plural‘. Des Weiteren stehen die Funktionen des Subjekts, des direkten Objekts und des indirekten Objekts mit dem Verb im Zusammenhang, wie man diese Funktionen traditionell nennt. Sie kommen nur im Verhältnis zu einem Verb vor. Da Verben Sachverhalte darstellen und die grammatischen Funktionen Sachverhaltselemente beinhalten, verweise ich noch einmal auf ihre universelle Betrachtung (1.4.3). Je nach Komplexität eines Satzes können auch mehrere Sachverhalte dargestellt werden. Um die Verhältnisse nicht unnötig kompliziert darzustellen, begnügen wir uns mit Sätzen, die ein einziges Prädikat enthalten. Die komplexen Funktionen des Verbs seien in einer knappen Zwischenbilanz resümiert. Das Verb ist die Wortkategorie des Sagens und enthält daher die Moneme, die dieser Funktion, meist Prädikatfunktion genannt, dienen. Diese erscheint als Verankerung des Sachverhalts in der Zeit (2.3.1.2). Das Verb als Zentrum einer Sachverhaltsdarstellung ist zugleich die Mitte, auf die die Elemente eines Sachverhalts bezogen werden. Diesem Thema ist das gegenwärtige Kapitel gewidmet. Die bisher fruchtbarste Theorie, die sich mit diesen und weiteren Bestimmungen des Verbs befasst, ist die Valenztheorie, deren Begründer Lucien Tesnière mit seinen Éléments de syntaxe structurale (1959: 238–282) ist. Nach dieser Theorie eröffnet ein Verblexem jeweils eine bestimmte Zahl von Leerstellen. Diese für die jeweilige Verbverwendung spezifische Zahl von Leerstellen nennt man „Valenz“ oder „Wertigkeit“. Eine Vorstufe dieser Auffassung ist die traditionelle Unterscheidung zwischen transi-
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tiven und intransitiven Verben. Während aber Transitivität und Intransitivität in der Hauptsache die Präsenz oder das Fehlen des direkten Objekts betreffen, erfasst die Valenztheorie auch die Funktion des Subjekts sowie alle anderen Funktionen, die vom Verb abhängen. Das Subjekt ist jedoch nach dem Prädikat die wichtigste Funktion im Satz, was man formal daran erkennt, dass Subjekt und Person des Verbs in Übereinstimmung (Kongruenz) gebracht werden. In frz. Pierre travaille ‚Peter arbeitet‘ stimmt der Singular der dritten Person des Verbs mit dem Subjekt überein. In zusammengesetzten Tempora werden sogar noch mehr Inhalte parallel ausgedrückt. In frz. Marie est venue besteht Kongruenz der Person des Verbs mit dem Subjekt im Singular, hinzu kommt noch das Genus, das beim Partizip erscheint, in unserem Beispiel allerdings nur orthographisch. Die besondere Stellung des Subjekts wird im Übrigen auch dadurch deutlich, dass man mit dem Subjekt und dem Verb zusammen nach den weiteren Bestimmungen des Satzes fragen muss: Frz. Où travaille-t-il? ‚Wo arbeitet er?‘ Die Kongruenz zwischen den Verbformen und dem grammatischen Objekt unterliegt dagegen stärkeren Beschränkungen und drückt sich in manchen romanischen Sprachen nur in der Kongruenz des vorangestellten direkten Objekts mit dem Partizip aus. Dieses Verfahren ist relativ marginal. So schreibt und sagt man im normativen Französisch z. B. la lettre que j’ai écrite ‚der Brief, den ich geschrieben habe‘. In älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen war die Objektkongruenz beim Partizip noch in weiteren Sprachen verbreitet. Im Altspanischen findet man etwa Ausdrücke wie im Cantar de Mio Cid “Ellos [los infantes de Carrión] las han dexadas [mis primas] a pesar de nós” (Montaner (ed.) 31993: Vers 3440) – ‚Sie haben sie zu unserem Leidwesen verlassen‘, d. h. die Infanten von Carrión die Kusinen Minayas bzw. die Töchter Cids. Die Beziehungen zwischen dem Verb und seinen weiteren Bestimmungen werden in den romanischen Sprachen durch die Satzgliedstellung und durch Präpositionen ausgedrückt: Frz. Le facteur a donné le courrier à ma voisine ‚Der Briefträger hat die Post meiner Nachbarin gegeben‘. In der Regel hat die vor dem Verb stehende sub stantivische Wortgruppe (oder das Nominalsyntagma) Subjektfunktion, die nachgestellte Wortgruppe Objektfunktion, während das indirekte Objekt durch eine Präposition kenntlich gemacht wird. Darüber hinausgehende Bestimmungen werden üblicherweise durch Präpositionen markiert wie in der folgenden Zeitangabe: Frz. À la mi-décembre, elle entre à la clinique ‚Mitte Dezember geht sie in die Klinik‘. Mit der Satzgliedstellung und der Markierung der syntaktischen Funktionen durch Präpositionen erschöpfen sich die Möglichkeiten des Ausdrucks einer Funktion im Satz nicht. Im Lateinischen hatte diese Funktion auch der Kasus beim Substantiv, der noch bis zum Altfranzösischen und Altokzitanischen erhalten blieb, jedoch reduziert auf die Funktionen eines Casus rectus (Subjektskasus und Vokativ) und eines Casus obliquus (alle anderen Verwendungen eines Substantivs): Afrz. “Halt sont li pui et molt halt sont li abre” – ‚Hoch sind die Berge und sehr hoch sind die Bäume‘ (La Chanson de Rolland, Vers 2271), “Rollant saisit e son cors e ses armes” – ‚Roland ergriff er, sowohl ihn als auch seine Waffen‘ (La Chanson de Rolland, Vers 2280). Daher kann der Ausdruck der syntaktischen Funktion unabhängig von der Wort- und Satzglied-
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stellung sein. Im ersten angeführten Beispiel ist das Subjekt nachgestellt, im zweiten ist das direkte Objekt vorangestellt. Die romanischen Personalpronomina erhalten die Kategorie des Kasus. Das Rumänische kennt diesen Unterschied bis heute beim Substantiv. Skizzieren wir Tesnières Grammatiktheorie, besonders im Hinblick auf das französische Verb. Ich greife dabei direkt auf Tesnière zurück, da er der Ausgangspunkt der Entwicklung war (cf. die „semantischen Rollen“ in 1.4.3) und man somit die Grundprobleme ohne die späteren Ausdifferenzierungen der Theorie aufzeigen kann. In der traditionellen Grammatik wird ein Satz wie Pierre travaille in zwei Elemente analysiert. Für Tesnière dagegen sind drei Elemente zu berücksichtigen, Pierre bzw. travaille und die Verbindung („connexion“) zwischen ihnen. Da die Elemente nicht auf der gleichen hierarchischen Ebene liegen, sondern das eine Element das andere regiert, das eine Element also hierarchisch höher als das andere ist, werden diese Beziehungen entsprechend durch ein Stemma oder einen Stammbaum symbolisiert. Dabei „hängt“ Pierre von travaille „ab“, weshalb diese Grammatiktheorie Dependenzgrammatik genannt wird. Die Satzgliedfolge kann die Struktur des Satzes abbilden oder im Gegensatz zu ihnen stehen. In einer Satzgliedfolge wie votre jeune ami connaît mon jeune cousin ‚euer/Ihr junger Freund kennt meinen jungen Cousin‘ steht an der Spitze das Verb connaît, von dem die beiden Elemente ami und cousin abhängen (1959: 104). Von ami hängt seinerseits votre und andererseits jeune ab und so auch mon und jeune von cousin. Hier liegen das Subjekt oder der Erstaktant, in der Terminologie von Tesnière, ami und das direkte Objekt oder der Zweitaktant, d. h. cousin auf der gleichen Ebene. Das indirekte Objekt me wie in le facteur m’a donné le courrier ‚der Briefträger hat mir die Post gegeben‘ wird Drittaktant genannt. Das Subjekt hat nach dieser Analyse keinen besonderen Status mehr, sondern es ist zunächst eine Ergänzung des Verbs wie die anderen Aktanten auch. Demgegenüber werden die Elemente, die die Umstände eines durch ein Verb ausgedrückten Sachverhalts angeben, Zirkumstanten genannt. Dazu gehören die Umstände der Zeit, des Orts und der Art und Weise. Auf den Unterschied zwischen Aktanten und Zirkumstanten werden wir noch einmal zurückkommen. Vorerst müssen einige Ausführungen zum Verb und seinen Aktanten gegeben werden. Ein Verb kann unterschiedlich viele Aktanten zu sich nehmen. Diese Eigenschaft wird Valenz oder Wertigkeit genannt. Der Terminus stammt aus der Chemie; dort versteht man darunter das gegenseitige Bindungsvermögen der chemischen Elemente. So ist die Wertigkeit die Anzahl der Atome, die von einem Atom gebunden oder in einer Verbindung ersetzt werden können. Demgemäß spricht man von einwertigen, zweiwertigen, dreiwertigen usw. Elementen. Bei den Verben gibt es vier Typen von Wertigkeit. Es gibt Verben ohne Aktanten, solche mit einem Aktanten, mit zwei oder drei Aktanten. Für diese Wertigkeiten oder Valenzen haben sich im Deutschen sowohl die internationalen wie die eingedeutschten Termini eingebürgert: avalente oder nullwertige, monovalente oder einwertige, bivalente, divalente oder zweiwertige und trivalente oder dreiwertige Verben. Die avalenten Verben oder Verben ohne Aktant nennt man traditionell unpersönliche Verben.
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Besonders oft wurden die Verben für Witterungserscheinungen diskutiert wie il pleut ‚es regnet‘. Die monovalenten oder einwertigen Verben hießen in der traditionellen Grammatik intransitiv wie in Alfred dort ‚Alfred schläft‘ (1959: 241), aber auch Darstellungen eines Zustands gehören dazu, z. B. l’arbre est vert ‚der Baum ist grün‘. Besonderes Interesse verdienen die zweiwertigen bzw. bi- oder divalenten Verben, die traditionell transitiv genannt werden. Bei diesen wird jedoch nicht unterschieden, ob sie zwei oder drei Aktanten zu sich nehmen. Insofern ist Tesnières Klassifikation schon genauer. Bei den bivalenten Verben wird weiterhin unterschieden, ob eine Handlung, um im traditionellen Bild zu bleiben, von einem Aktanten auf den anderen „übergeht“ oder nicht. Dieser Unterschied wird Vox oder Diathese genannt. Es gibt die aktive Diathese oder das Aktiv in Alfred frappe Bernard ‚Alfred schlägt Bernhard‘ und die passive Diathese oder das Passiv wie in Bernard est frappé par Alfred ‚Bernhard wird von Alfred geschlagen‘, die reflexive Diathese in Alfred se regarde dans un miroir ‚Alfred betrachtet sich in einem Spiegel‘ und die reziproke Diathese in Alfred et Bernard s’entretuent ‚Alfred und Bernhard bringen sich um‘ (1959: 243–251). Die trivalenten oder dreiwertigen Verben können drei Aktanten zu sich nehmen und sind ebenfalls transitiv. Tesnière weist zu Recht darauf hin, dass die trivalenten Verben eine besondere Schwierigkeit beim Lernen von Fremdsprachen darstellen und ihre Analyse besonders notwendig ist. Zu ihnen gehören hauptsächlich Verben des Sagens und Gebens, z. B. Alfred donne le livre à Charles ‚Alfred gibt Karl das Buch‘ und Alfred dit bonjour à Charles ‚Alfred sagt Karl guten Tag‘. Wichtig ist hierbei, dass es bei den trivalenten Verben zwei Arten von Passiv geben kann, ein Passiv des Zweitaktanten oder ein Passiv des Drittaktanten, z. B. mit dem Zweitaktanten in Le livre est donné par Alfred à Charles ‚das Buch wird von Alfred Karl gegeben‘. Dieses Verfahren ist im Französischen mit dem Drittaktanten in dieser Weise nicht möglich, wohl aber im Englischen. Der aktive Satz Alfred gives the book to Charles hat die beiden passiven Entsprechungen The book is given by Alfred to Charles im Falle des Zweitaktanten und Charles is given the book by Alfred beim Drittaktanten. Die Grammatiktheorie von Tesnière erschöpft sich nicht in der Valenztheorie. Da wir es hier mit der Grammatik des Verbs zu tun haben, gibt es keinen Anlass zu einer Darstellung der Gesamtkonzeption. Auch die Weiterentwicklungen der Dependenzgrammatik und namentlich der Valenztheorie kann ich in dieser deskriptiven Skizze nicht aufzeigen. Stattdessen sei ein kurzer Versuch unternommen, diese Grammatiktheorie im Hinblick (1959: 256) auf ihre Angemessenheit, auf ihre Leistungsfähigkeit und ihre Entwicklungsfähigkeit zu bewerten. Die Dependenzgrammatik kann eine Analyse der Syntagmatik des Satzes leisten. Eine jede Grammatik enthält Paradigmatisches und Syntagmatisches, wie wir oben gesehen haben (2.1.7). Die Satzanalyse ist nun ganz eigentlich die Analyse der Syntagmatik eines Satzes. Dazu gehören die Funktionen im Satz wie Subjekt, Objekt bzw. Ergänzung und die Umstandsbestimmungen und auch die Kasus in den Sprachen, die über diese Kategorie verfügen. In den romanischen Sprachen finden sich Kasus – abgesehen vom Rumänischen – nur noch bei den Pronomina. Für die Analyse der Syn-
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tagmatik des Satzes eignet sich die Dependenzgrammatik deshalb besonders, weil sie die syntagmatischen Beziehungen zugleich interpretiert, d. h. explizit angibt. Dabei ist gegenüber anderen Positionen von besonderer Wichtigkeit, dass die Analyse auf den tatsächlichen (also letztlich nicht nur methodisch angenommenen) Relationen im Satz beruht. Als angemessen ist auch anzusehen, dass die grammatischen Bestimmungen als Abhängigkeiten erfasst werden und dass innerhalb dieser Abhängigkeiten dem Verb die hierarchisch höchste Stelle zukommt. Man kann sich die Frage nach den Abhängigkeitsverhältnissen im Satz auch in der folgenden Weise stellen: Was kann ohne etwas anderes begriffen, erfasst oder verstanden werden und was nicht? Was also setzt beim Begreifen schon etwas anderes voraus? Daraus ergibt sich dann das, was als etwas Unabhängiges oder an sich begriffen wird, und das, was abhängig ist und eben nicht an sich begriffen werden kann, sondern etwas anderes voraussetzt, um selbst begriffen zu werden. Das Verb stellt sich dabei als das unabhängigste Element heraus, daher kann das Übrige nur vom Verb abhängen. Das Verb kann selbst wiederum eine komplexe Struktur haben, die keinen Einfluss auf die Funktionen im Satz hat, so etwa in seiner Verbindung mit Hilfsverben. Mit der Begründung der Unabhängigkeit des Verbs im Satz schließt sich der Kreis mit der Aussage, die wir am Anfang gemacht haben: Wir gingen von der Frage aus, dass es die Funktion des Verbs sei, das Nennen zum Sagen zu machen. Von diesen beiden Funktionen hatten wir die Fundierung zweier sprachlicher Bereiche abgeleitet, die des Wortschatzes und die der Grammatik. Kommen wir zu dem, was die Dependenzgrammatik nicht leisten kann: Sie kann das Paradigmatische nicht untersuchen, also nicht die Elemente, die auf der paradigmatischen Achse stehen und zusammen ein System bilden. In der Dependenzgrammatik kann man folglich nicht die Satzparadigmen untersuchen, die wir als Äußerungskategorien (1.4.5.2) behandelt haben, und natürlich auch nicht solche Funktionen wie diejenige des Artikels (4.5.2.5), des Tempus (2.3.1.2) und anderen wie die Wortkategorien (1.4.5.2), weil diese Funktionen nicht von der Abhängigkeit betroffen sind. Daher kann die Dependenzgrammatik nicht die gesamte Grammatik umfassen; sie ist wie fast alle sprachwissenschaftlichen Theorien eine partielle Theorie. Schließlich ein Wort zum dritten Punkt, zu den Bereichen, in denen die Dependenzgrammatik zwar unzulänglich, aber entwicklungsfähig ist. Den Begriff der strukturellen Syntax, wie ihn Tesnière vertrat, entwickelte man gerade im Bereich der Valenztheorie weiter und unterscheidet heute – in unterschiedlichen Ausprägungen – eine syntaktische und eine semantische Valenz, denn Tesnière stellte nicht ausdrücklich fest, ob mit Valenz ein Phänomen des Ausdrucks oder des Inhalts gemeint ist. Mit syntaktischer Valenz ist die Valenz auf der Ebene des Ausdrucks gemeint, auf der Ebene der Satzkonstitution oder -morphologie; die semantische Valenz ist dagegen die Valenz auf der Ebene des Inhalts. Eine in diese Richtung gehende Forschung, die universalsemantische Ansätze mit einzelsprachlichen verbindet, verspricht interessante Ergebnisse (cf. Koch 1981).
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Um eine mögliche Weiterentwicklung der Valenztheorie aufzuzeigen, müssen wir die wichtigsten noch nicht genannten Grundannahmen der Valenztheorie kurz darlegen, wie sie landläufig vertreten wird. Die erste Weiterentwicklung betrifft die eben genannte Unterscheidung von syntaktischer und semantischer Valenz. Als Zweites ist anzumerken, dass Tesnières Aktanten und Zirkumstanten meist umbenannt worden sind und man heute im Deutschen statt von Aktanten und Zirkumstanten von Ergänzungen und Angaben spricht. Zum Dritten unterscheidet man die obligatorischen Aktanten von den fakultativen. Obligatorische Aktanten sind solche, die im Satzbauplan nicht fehlen dürfen. Anders ausgedrückt: Wenn ein obligatorischer Aktant fehlt, ist ein Satz ungrammatisch wie ein Satz mit prêter ‚leihen‘, wenn nicht drei Aktanten genannt werden. Fakultative Aktanten sind solche, die zwar zum Satzbauplan eines Verbs gehören, aber unter gewissen Umständen weggelassen werden können wie in Marie mange une pomme ‚Maria isst einen Apfel‘ und Marie mange ‚Maria isst‘. In der Frage der Weiterentwicklung der Valenztheorie wurde der Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben, ihre Zugehörigkeit zur Valenz eines Verbs und der angenommene obligatorische oder freie Charakter gerade bei den Angaben weiterdiskutiert. Uneinigkeit besteht vor allem in den Kriterien, mit denen man diese Unterscheidung beweisen will, um sich nicht dem Vorwurf des Intuitionismus auszusetzen. Auf die Zusammenstellung der jeweils angeführten Kriterien kann ich verzichten, weil ich eine neue Differenzierung bei den Angaben einführe, d. h. den alten Umstandsbestimmungen: Die lokalen, temporalen und modalen Angaben sollen von den übrigen Angaben geschieden werden. Die traditionellen Benennungen sind „Umstandsbestimmungen des Orts, der Zeit und der Art und Weise“. Diese Differenzierung innerhalb der Angaben scheint eine Notwendigkeit zu sein, denn Angaben zum Ort, zur Zeit und zur Art und Weise beziehen sich immer auf den Sachverhalt, der den Inhalt des jeweiligen Satzes ausmacht. Selbst wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird, geschieht etwas immer irgendwo, irgendwann und irgendwie. So sind die Angaben ici/là, maintenant/alors, ainsi meist implizit vorhanden, wenn keine Angaben ausgedrückt werden. Marie mange une pomme – das tut Maria an einem Ort, den man durch ihre Präsenz feststellen kann und den man deshalb nicht zu nennen braucht; sie tut dies jetzt, und auch in einer bestimmten Weise, schnell oder langsam, laut oder leise oder in noch einer anderen Weise. Eine Annahme des meist impliziten Vorhandenseins solcher Angaben im Umfeld lässt sich mit den syntaktischen Proben, die man üblicherweise anwendet, schlecht beweisen, da in vielen Fällen gerade durch die Hinzufügung des sprachlich Funktionellen, aber Impliziten infolge der daraus entstehenden Redundanz kommunikativ unakzeptable Sätze entstehen würden. Sie wären überdeterminiert, denn die Umstände des Sprechens gehören unmittelbar zum Sprechen (3.4). Man stelle sich nur einmal einen Satz wie Marie mange une pomme ici et maintenant vor. Hier trifft der Unterschied zwischen obligatorischen und fakultativen Angaben nicht zu, da sie eben schlicht redundant sind. Eine weitere Bemerkung betrifft die Frage, ob nur Ergänzungen zur Valenz eines Verbs gehören oder auch Angaben dazuzuzählen sind. Verfechter einer strikten Tren-
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nung von syntaktischen und semantischen Kriterien bei der Etablierung der Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben unterscheiden Ergänzungen aufgrund der Tatsache, dass sie obligatorisch oder fakultativ sein können, von den Angaben, die „frei“ sind. Dieser syntaktisch genannte Gesichtspunkt betrifft eigentlich nur die Kombinatorik des Verbs bzw. dessen distributionelle Klassifikation. Er gerät in Konflikt mit dem semantischen Gesichtspunkt, da eine Inkohärenz dadurch entsteht, dass gewisse Angaben einmal obligatorisch, ein andermal frei sind: Eine Ortsbestimmung ist bei habiter und loger ‚wohnen‘ obligatorisch und müsste nach der Auffassung, dass das Obligatorische eine Ergänzung ist, eben auch eine solche sein. Bei den meisten Verben ist eine Ortsbestimmung jedoch eine freie Angabe. Mit anderen Worten: Derselbe Typ von Inhalt kann bereits im Inhalt eines Verbs angelegt sein oder aber erst in der konkreten Sprechsituation hinzukommen. Wenn etwa mettre in mettre quelque chose sur la table ‚etwas auf den Tisch legen‘ als dreiwertiges Verb dargestellt wird (Kotschi 1974: 12–13), dann wird nicht berücksichtigt, dass ein Element der Valenz eine Ortsangabe ist. Wenn man also ein semantisches Kriterium in Rechnung stellt, d. h. den Verbalinhalt, dann ist zu folgern, dass nicht nur Ergänzungen, sondern auch Angaben obligatorisch sein können. Wir haben also zwei Gesichtspunkte, deren Anwendung in einer bestimmten Sprache nicht übereinstimmen muss, den Gesichtspunkt der obligatorischen, fakultativen oder freien Kombination eines Satzelements mit einem Verb und den Gesichtspunkt des Unterschieds zwischen Ergänzungen und Angaben. Folglich berücksichtigen wir beide Gesichtspunkte gemeinsam – den inhaltlichen der Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben und den syntaktisch-kombinatorischen zwischen obligatorisch, fakultativ oder frei. Beide zusammen führen zu einer Kreuzklassifikation. Demnach hätte man auf der einen Seite obligatorische und fakultative Ergänzungen und auf der anderen Seite obligatorische, fakultative und freie Angaben. Das bedeutet also, dass es inhaltliche Merkmale in einem Verb gibt, die in seiner Syntagmatik eine obligatorische Angabe verlangen, z. B. mettre + Ortsangabe. Manche Angaben sind zwar auch im Verb angelegt, gelegentlich sind sie aber fakultativ, wenn sie in der Situation und im Kontext ergänzbar sind wie bei Reste donc! ‚Bleib doch!‘ der Ort in der Situation mitgegeben ist und bei Ça dure! ‚Das dauert aber!‘ die Zeitangabe. Solche Sätze gehören zur lexikalisierten Grammatik (2.3.1.4). Die Unterscheidung zwischen lokalen, temporalen und modalen Angaben sowie den übrigen kann durch weitere Argumente plausibel gemacht werden. Während Orts-, Zeit- und Art-und-Weise-Angaben immer satzintern funktionieren, da sie sich auf den im Verb ausgedrückten Sachverhalt beziehen oder darin ausgedrückt sind, funktionieren die übrigen Angaben wie Grund, Folge, Zweck usw. satzübergreifend. Ferner existieren zwar lokale, temporale und modale Satzadverbien wie ici/là, maintenant/alors, ainsi, nicht dagegen in der Regel für die anderen Angaben, wenn sie durch eine einfache Ersatzform ausgedrückt werden sollen. Charakteristischerweise müssen wir in diesen Fällen interpretierende Ausdrücke verwenden, da eben die Art des Zusammenhangs der einen Proposition mit der anderen (1.4.3, 3.8.1) explizit angegeben werden muss, wenn sie nicht ohne Weiteres deutlich wird: So kann man zwar
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pour cela ‚deswegen‘ sagen, aber oft verdeutlich man die Beziehung mit pour cette raison ‚aus diesem Grund‘, à cette fin ‚zu diesem Zweck‘, à cet effet ‚zu diesem Zweck‘, dans ce cas ‚in diesem Fall‘ usw. Diese Ausdrücke enthalten alle einen Bezug auf eine andere Proposition, die durch eine Präposition in den jeweils aktuellen Satz eingefügt werden muss. Nur wenn die Präposition selbst schon die Art der Angabe spezifizieren kann wie pour in pour cela, kann der Bezug auf einen vorausgehenden oder folgenden Satz durch ein Pronomen wie cela geleistet werden. Sonst muss er durch einen Interpretator des Sinns wie z. B. prétexte ‚Vorwand‘, raison, fin usw. verdeutlicht werden. Der Sinn (3.11) ist also ein weiteres Kriterium für die Unterscheidung von zwei Klassen von Angaben. Somit haben wir eine Klasse von Angaben, den Ort, die Zeit und die Art und Weise, die zum jeweiligen durch ein Verb dargestellten Sachverhalt dazugehören, und eine Klasse von Angaben, die durch ihren Sinn zu charakterisieren sind und nicht zu dem im Verb dargestellten Sachverhalt gehören. Angaben des Sinns sind kausal, final, konsekutiv usw. Typischerweise werden diese Angaben durch Angabesätze ausgedrückt (3.10.4). Sinnangaben sind notwendigerweise frei. Die soeben besprochene Frage betraf nicht die Ergänzungen, denen wir uns jetzt zuwenden. Erinnern wir uns wieder an den Anfang von 2.3 (2.3.0.1), als es um den Unterschied zwischen Syntax und Grammatik bzw. Syntax und Morphologie ging. Diese Unterschiede wurden zugunsten eines einheitlichen sprachlichen Bereichs aufgegeben, den man entweder Syntax oder Morphologie nennen kann, denn in der Sprache geht es immer um Inhalt mit Form, um geformten Inhalt und nicht um Form allein. Aus der Solidarität von Form bzw. Ausdruck und Inhalt (2.1.5) sind Konsequenzen für die Valenztheorie zu ziehen. Wir brauchen also eine einheitliche, Form und Inhalt berücksichtigende Konzeption. Und gleichfalls ist das Ineinandergreifen von Grammatik und Wortschatz zu bedenken. Die Valenz eines Verbs als Lexem im Allgemeinen ist nicht identisch mit der Valenz eines Verbs in einem bestimmten Satz. Die Valenz ist im Inhalt eines Verballexems mit seinen inhaltlichen Merkmalen angelegt, die in erster Linie lexikalisch zu untersuchen sind. Diese lexikalische Valenz wird in konkreten Sätzen realisiert. Zwar greifen Grammatik und Wortschatz in der Valenz von Verben unzweifelhaft ineinander, jedoch ist das hier anstehende deskriptive Problem sicherlich nicht angemessen von ihrer Realisierung in Sätzen her zu stellen, da das Wissen vom lexikalischen Inhalt einer Anwendung in einem Satz vorausgeht. Eine Begrenzung der Valenz auf die Ergänzungen verspricht außerdem ein Beitrag zu ihrer Klärung zu sein. Es handelt sich bei ihnen um tatsächliche Ergänzungen des Verbs. Die Angaben hingegen sind keine eigentlichen Ergänzungen, sondern weitere, zusätzliche Bestimmungen. Sie sind, mit anderen Worten, Modifizierungen des Verbalinhalts selbst. Nehmen wir wieder das Beispiel Marie mange une pomme. Dieser Sachverhalt und Satz kann eine weitere Bestimmung durch die Modifizierung mit einem Adverb erhalten: Elle la mange lentement. Lentement bezieht sich unmittelbar nur auf den Inhalt des Verbs selbst, nicht auf den ganzen Satz, auch nicht auf die Ergänzungen.
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Nach der Einordnung dieser Bestimmung in die Modaladverbien wenden wir uns den Ergänzungen zu und schließen die Angaben aus den Ergänzungen und der Valenz aus. Wenn wir feststellen wollen, in welcher Weise die Ergänzungen im Verbinhalt angelegt sind, können wir uns wieder auf die Klassematik der Substantive in 2.3.3 beziehen und auf diese Weise eine Verbindung zwischen dem lexikalischen Inhalt der Substantive, die Ergänzungen sind, und der Grammatik eines Verbs herstellen, denn die Substantive können sich je nach Klassenzugehörigkeit ganz unterschiedlich verhalten. Nehmen wir als Beispiel frz. pain, das zu zwei Klassen gehören kann, d. h. einmal zur Klasse der Substantive mit den Merkmalen ‚nicht-belebt‘, ‚Gegenstand‘, ‚+kontinuierlich‘ und ein andermal zur Klasse der Substantive mit den Merkmalen ‚nicht-belebt‘, ,Gegenstand‘, ‚‒kontinuierlich‘. Wir fügen also der Klassematik der Substantive das Klassem ‚±kontinuierlich‘ hinzu; dafür findet man in der Grammatik auch den Ausdruck ‚±zählbar‘. Diese unterschiedlichen Merkmale korrelieren mit einem unterschiedlichen grammatischen Verhalten. Im Falle der Zugehörigkeit zur Klasse ‚+kontinuierlich‘ ist bei pain der unbestimmte Artikel möglich (aber nicht der Teilungsartikel), sowie der Plural des bestimmten und des unbestimmten Artikels: un pain, les pains, des pains. Klassen mit den genannten Merkmalen kann man „determinierende Klassen“ nennen (Busse 1974: 26–29), da das skizzierte grammatische Verhalten durch die klassematischen Züge bedingt ist. Bei den Verben werden die Klassen Transitivität und Intransitivität genannt, die man weiterhin anerkennen kann, wenn man sie nach dem Gesichtspunkt der Valenz differenziert. Im Gegensatz dazu stehen die determinierten Klassen (Busse 1974: 29–31); es handelt sich dabei um Substantive, die Gegenstände bezeichnen, und funktionelle Substantive, die ebenfalls Ergänzungen eines Verbs sein können. Funktionelle Substantive sind substantivische Wortgruppen bzw. Nominalsyntagmen, Infinitivkonstruktionen und subordinierte Sätze, die Sachverhalte darstellen. Die Idee der Valenz und die Klassematik des Verbs sind eng verbunden mit der Kasustheorie. In der Verbindung dieser Gesichtspunkte ist im Übrigen auch eine fruchtbare Weiterentwicklung der Dependenzgrammatik zu sehen. Den Anstoß zu einer einflussreichen Entwicklung gab Charles J. Fillmore in „The case for case“ (1968) mit der Uminterpretation der lateinischen Kasus als „Tiefenkasus“, die Gegebenheiten der außersprachlichen Wirklichkeit sind und im Zusammenhang mit dem Sprechen im Allgemeinen als Elemente der Sachverhaltsdarstellung als semantische Rollen behandelt wurden (1.4.3), die noch weiter zu untergliedern sind. Im Unterschied zu den darin enthaltenen Bezeichnungskategorien geht es hier um die einzelsprachlich spezifischen Ausprägungen, die sich zwar in Grenzen systematisieren lassen, aber eben nicht restlos und zu Unterschieden in den Gebrauchsnormen der Einzelsprachen führen, denen wir an dieser Stelle nicht nachgehen, da sie letztlich lexikalisch erfasst werden müssen. Ein Blick in die einsprachigen und die kontrastiven Wörterbücher zeigt, dass weder die Syntagmatik der Verben als determinierende Klassen noch die Syntagmatik der Substantive als determinierte Klassen vollständig erfasst werden.
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Bibliographischer Kommentar
In diesem 2. Teil wird die Dependenzgrammatik behandelt, weil in der Einzelsprache die Unterschiede, Humboldts „Verschiedenheiten“, im Vordergrund stehen. Diese Tatsache führt dazu, dass Dependenz und Valenz einen festen Ort in der kontrastiven Linguistik haben, dazu HSK 25.2 (2006): 1158‒1308. Dort wird die Fachliteratur behandelt, die das Deutsche mit dem Französischen kontrastiert (Plewnia 2006), mit dem Italienischen (Bianco 2006), mit dem Spanischen (Fandrych 2006) und dem Rumänischen (Stănescu 2006). Es liegen ausgehend vom Deutschen Valenzwörterbücher vor zum Spanischen (Rall/Rall/Zorrilla 1980), zum Französischen (Busse/Dubost 21983), zum Rumänischen (Engel/Savin et al. 1983), zum Portugiesischen (Busse (coord.) 1994) und zum Italienischen (Bianco 1996). Am stärksten wurde die Dependenzgrammatik in der Germanistik rezipiert, gefolgt von der französischen Sprachwissenschaft im deutschen Sprachraum, wovon die Dissertationen von Busse (1974), Kotschi (1974) und Koch (1981) Zeugnis ablegen. Die Anwendungen auf andere romanische Sprachen sind z. B. in Koch/Krefeld (Hrsg.) 1991 und den genannten kontrastiven Valenzwörterbüchern belegt. Das Portugiesische ist mit Busse/Vilela (1986), Vilela (1992) und Busse (coord., 1994) gut vertreten. Dass die Entwicklung sich nicht dynamisch fortsetzte, zeigt unter anderem, dass die Einzelsprachen als solche nicht im Zentrum des gegenwärtigen Forschungsinteresses zur Grammatik stehen. Diese haben sich vielmehr zu den universellen Fragestellungen verschoben, wie sie aus dem Hinweis auf Fillmore (1968) und aus den bibliographischen Angaben zum 1. Teil hervorgehen, und zu den diskursiven Themen im 3. Teil, die ihrerseits die einzelsprachlichen Unterschiede bereits voraussetzen.
2.3.1.2 Das romanische Tempussystem Für eine Einführung in die Probleme der Beschreibung von grammatischen Inhalten wähle ich das Verb aus, denn an ihm werden die aktualisierenden Kategorien Tempus, Aspekt, Modus, Person, Numerus sowie weitere ausgedrückt, denen wir in unserem Rahmen nicht nachgehen können. Damit nimmt das Verb die zentrale Stelle im Satz ein. Eine Kategorie tritt mit besonderer Insistenz auf, das Tempus. Es erscheint stets zusammen mit dem Modus, d. h. dem Indikativ oder Konjunktiv. Die Tempora sind mein Beispiel für eine etwas ausführlichere Analyse der Inhaltsseite in der Grammatik. Ihr entspricht die Phonologie auf der Ausdrucksseite. Der Vergleich der beiden Ebenen zeigt die höhere Komplexität des sprachlichen Inhalts. Wem die Analyse nicht deutlich genug geworden sein sollte, dem empfehle ich, zu 2.3.1 zurückzugehen oder den einen oder den anderen der im bibliographischen Kommentar angeführten Beiträge zu lesen. In diesem Rahmen gebe ich eher eine Exem plifizierung als eine Diskussion der Begriffe. Im Deutschen unterscheidet man bei den Verben zwischen Zeit und Tempus, im Englischen zwischen time und tense. Die romanischen Sprachen kennen dafür nur einen Ausdruck: frz. temps, it. tempo, rum. timp, sp. tiempo usw. Doch kann man verbal hinzufügen, wenn man den terminologischen Unterschied ausdrücklich benennen will, z. B. frz. temps verbal; auch frz. grammatical dient zur Differenzierung. Die Zeit erleben und erfahren wir, die Tempora sind einzelsprachliche Bedeutungen, mit denen wir über unsere Zeiterfahrung sprechen. Die Zeit ist uns im Sprechen gegenwärtig, sie ist vergangen und kann in immer entferntere Vergangenheiten hineinreichen, und sie ist zukünftig und kann in eine immer fernere Zukunft ausgedehnt werden. Das Tempus aktualisiert den vom Verb ausgedrückten Sachverhalt in Bezug auf die
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Zeit, verbindet sich aber auch mit dem Modus, wobei die Tempora des Indikativs und des Konjunktivs verschiedene Formen aufweisen. Es verbindet sich ferner mit dem Aspekt, da die Tempora zugleich Aspektbedeutungen haben. Aspekt bedeutet nichts anderes als „Betrachtungsweise des Sachverhalts, der durch das Verb ausgedrückt wird“. Dabei kann vorrangig der Sachverhalt selbst betrachtet werden, der durch das Lexem ausgedrückt wird, im Deutschen meist Aktionsart genannt. Oder man versteht im engeren Sinne unter Aspekt eine grammatische Bedeutung, die durch die Verbmoneme ausgedrückt wird. Die Tempora der romanischen Sprachen können als unterschiedliche Entfaltungen eines einzigen Systems verstanden werden. Deshalb führe ich Beispiele aus mehreren romanischen Sprachen parallel an. Aber nicht nur fehlt ein Werk, das veranschaulichen könnte, in welcher Weise die Einheit des romanischen Tempussystems begründet ist, sondern es gibt keine Synthese dieses Gesamtbereichs. Bei der Beschreibung des Systems der romanischen Tempora werde ich von der Auffassung Coserius (1976) ausgehen, obwohl sie nicht oft zur Kenntnis genommen und noch weniger angewandt worden ist. Damit möchte ich keineswegs behaupten, dass damit schon alle deskriptiven Probleme in den romanischen Sprachen gelöst sind. Wegen des grundlegenden und integrativen Charakters dieser Verb- und Tempustheorie können aber von der hier skizzierten elementaren Darstellung detaillierte linguistische Untersuchungen aller romanischen Sprachen in sehr verschiedene Richtungen gehen. In dieser Konzeption wird berücksichtigt, dass die romanischen Tempora zugleich Aspektbedeutungen haben. Wir werden diese Aspektbedeutungen zwar mitbetrachten, aber wegen der erforderlichen Kürze in Abhängigkeit von den Tempora. Die Grundlage der Untersuchung sind die morphologisch einfachen Formen. Die minimalen Einheiten oder Moneme des Verbalsystems sind grundsätzlich einzelsprachlich. Dies schließt aber nicht aus, dass mehrere Einzelsprachen teilweise ähnlich gestaltet sind wie gerade die romanischen Sprachen. Der Ausgangspunkt der Gestaltung der Tempora wie überhaupt der Kategorien des Verbs ist der Sachverhalt der Äußerung, d. h. das Sprechen selbst, das vom geäußerten Sachverhalt unterschieden werden muss. Es ist ferner der Beteiligte am oder der Protagonist des Sachverhalts der Äußerung vom Beteiligten am oder dem Protagonisten des geäußerten Sachverhalts zu unterscheiden (Jakobson 1963: 181). Wenn wir im Matthäusevangelium 2, 9 lesen: “et ecce stella, quam viderant in oriente, antecedebat eos, usquedum veniens staret supra, ubi erat puer” („Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war“); dann wissen wir, dass dies jemand geschrieben hat, der als Erzähler mit Matthäus identifiziert wird und den wir uns als jemanden vorstellen dürfen, der seinen Text gegen Ende des 1. Jahrhunderts vielleicht in Syrien schreibt. Dies ist der Sachverhalt der Äußerung mit seinem Protagonisten. Er erscheint nicht im Wortlaut des zitierten Satzes und auch sonst nicht im Evangelium. Davon hebt sich der geäußerte Sachverhalt ab, den wir lesen und dessen Protagonisten, „Magi ab oriente“
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(„die Weisen aus dem Morgenlande“, Mt 2, 1), dem Stern folgten. Wir verstehen die Zeitstruktur eines Textes nicht, wenn wir uns nicht in dieses Verhältnis zwischen der Äußerung des Sachverhalts und dem geäußerten Sachverhalt hineinversetzen. Dies wird noch relevanter, wenn ein Sprecher (oder Schreiber) mehrere Sachverhalte äußert, die er aufeinander bezieht. Es hat Gustave Flaubert einen berühmten Prozess eingebracht, dass sein Lesepublikum und seine Richter nicht zwischen den Protagonisten von Madame Bovary, insbesondere Emma, und Gustave Flaubert bzw. dem Erzähler unterschieden haben: Ihnen war sein Gebrauch der Tempora imparfait, conditionnel und plus-que-parfait nicht geläufig, mit denen die Distanz zwischen Erzähler und Protagonisten markiert werden kann. Wir werden diese Zeitebene sogleich inaktuell nennen. Die romanischen Tempora sind in zwei Zeitebenen strukturiert, der aktuellen und der inaktuellen Zeitebene. Im Zentrum der aktuellen Zeitebene befindet sich das Präsens, im Zentrum der inaktuellen das Imperfekt:
Abb. 2.22: Zeitebenen
Die grundlegende Perspektive überhaupt ist die primäre Perspektive. Von ihr aus gestaltet der Sprecher weitere Perspektiven. So kann er auf der aktuellen Zeitebene einen Sachverhalt in drei verschiedenen Perspektiven betrachten: Der dargestellte Sachverhalt kann ihm zum Zeitpunkt des Sprechens gegenwärtig sein, er kann vor diesem Zeitpunkt verwirklicht worden sein oder nach diesem Zeitpunkt verwirklicht werden. Die Perspektive des zum Zeitpunkt des Sprechens gegenwärtigen und in seinem Ablauf betrachteten Sachverhalts sei parallel genannt, diejenige der Verwirklichung vor dem Zeitpunkt des Sprechens retrospektiv („zurückschauend“) und die Perspektive, die sich auf die Verwirklichung eines Sachverhalts nach dem Zeitpunkt des Sprechens bezieht, prospektiv („als vorwärtsschauend betrachtet“). Dadurch werden drei Zeiträume abgegrenzt.
Abb. 2.23: Zeitliche Perspektiven
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2 Die Einzelsprache
Das Tempus der parallelen Perspektive auf der aktuellen Ebene ist das Präsens; der retrospektiven Perspektive entspricht das Perfekt, der prospektiven Perspektive das Futur. Die Pfeile zeigen an, dass die Tempora in ihrer zeitlichen Ausdehnung erweitert werden können, beim Präsens in beide Richtungen, bei den beiden anderen Tempora nur in die Richtung der jeweiligen Perspektive. Die Tempora werden durch Linien getrennt, wenn sie als distinkte Einheiten funktionieren.
Abb. 2.24: Aktuelle Zeitebene/primäre Perspektive
In analoger Weise gestaltet das Imperfekt sprachlich die parallele Perspektive auf der inaktuellen Ebene; das einfache Plusquamperfekt ist, soweit es in den romanischen Sprachen vorkommt (im Rumänischen, im Portugiesischen und Galicischen, marginal im Spanischen und im Katalanischen), das Tempus der retrospektiven Perspektive, der Konditional das der prospektiven Perspektive.
Abb. 2.25: Inaktuelle Zeitebene/primäre Perspektive
Der Konditional wird demnach als Tempus und nicht als Modus betrachtet, denn er entspricht auf der inaktuellen Ebene semantisch genau dem Futur auf der aktuellen Ebene. Für diese Interpretation spricht aber auch die Verbmorphologie. Im Portugiesischen zum Beispiel stimmen die Formen des Imperfekts wie in fazia ‚ich tat‘ mit den Formen des Konditionals wie in faria ‚ich täte‘ überein. Das Plusquamperfekt fizera ‚ich hatte getan‘ konvergiert mit der Endung -a mit dem Imperfektmonem und dem des Konditionals; das -r- des Plusquamperfektmonems stimmt aber auch mit dem -r- im Konditionalmonem -ria überein. Im Französischen werden ebenfalls die Gemeinsamkeiten in der Aussprache von /ɛ/ durch das Graphem betont: je faisais, je ferais, j’avais fait. Und die anderen romanischen Sprachen verhalten sich nicht anders. Form und Funktion finden sich somit in den romanischen Sprachen in einen Einklang gebracht, der in dieser Weise im Lateinischen nicht gegeben war. Mit der Einteilung der Zeiträume sind zwei Aspekte verbunden. Bei paralleler Perspektive wird ein Sachverhalt (charakteristischerweise eine Handlung) in ihrem Ablauf betrachtet. Daher nennt man diesen Aspekt kursiv. Dieser Aspekt ergibt sich aus der Tatsache, dass der Sachverhalt dem Sprecher zum Zeitpunkt des Sprechens gegenwärtig ist. Im Falle der retrospektiven und der prospektiven Perspektive wird
2.3 Inhalt
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ein Sachverhalt als Ganzes betrachtet. Diesen Aspekt nennt man folglich komplexiv. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise eines Sachverhalts ist nur möglich, wenn er schon realisiert worden ist oder die Realisierung noch bevorsteht. Wegen dieser Verbindung von Tempus und Aspekt bezeichnet Coseriu das romanische Verbalsystem als ein Tempus-Aspekt-System. Schematisch lässt sich die primäre Einteilung der Zeiträume am Beispiel des Portugiesischen in folgender Weise darstellen:
Abb. 2.26: Primäre Einteilung der Zeiträume im Portugiesischen
Die durch die primäre Perspektive abgegrenzten Zeiträume können wiederum nach demselben Prinzip in Zeiträume eingeteilt werden. So kann man im Zeitraum des Präsens die parallele Perspektive auf einen kürzeren Zeitraum begrenzen, die Retrospektive kann einen unmittelbar zurückliegenden Sachverhalt und die Prospektive einen unmittelbar vor der Verwirklichung stehenden Sachverhalt betreffen. Man hat also gleichsam im Zeitraum des Präsens zum Beispiel wiederum ein Perfekt und ein Futur. Die dabei eingenommene Perspektive ist die sekundäre Perspektive. Wenn wir diesen Grundsatz auf die Tempora der primären Perspektive anwenden, erhalten wir im Spanischen die folgenden weiteren Tempora:
Abb. 2.27: Tempora der primären und sekundären Perspektive im Spanischen
Das Italienische ist diesem spanischen System analog im Bereich der parallelen und der retrospektiven Perspektiven. Dagegen fehlt der sekundäre Ausdruck der prospektiven Perspektive völlig:
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2 Die Einzelsprache
Abb. 2.28: Italienisches Tempussystem
Das französische Tempussystem weist je nach dem Medium der Realisierung interne Unterschiede auf. Im geschriebenen Französisch finden sich alle Tempora; es unterbleibt aber die Ersetzung des Perfekts (passé simple) durch das zusammengesetzte Perfekt (passé composé) und die Ersetzung des Futurs durch das futur proche. Im gesprochenen Französisch wird das Perfekt nicht verwendet und das futur proche breitet sich auf Kosten des Futurs aus, ohne es aber zu ersetzen. Das – zusammengesetzte – Plusquamperfekt ist im geschriebenen wie im gesprochenen Französisch an die Stelle des einfachen Plusquamperfekts getreten. Daher kann man hier keinen Unterschied zwischen primärer und sekundärer Perspektive machen. Ausgehend von der aktuellen und der inaktuellen primären Perspektive kann der Sprecher eine sekundäre Perspektive einnehmen, indem er mit einem näheren Bezug zum Zeitpunkt des Präsens und des Imperfekts eine retrospektive oder prospektive Perspektive einnimmt. Ausgehend von den anderen Tempora (Perfekt, Futur, Konditional) wird jeweils nur die retrospektive Perspektive realisiert. Schließlich ist noch eine tertiäre Perspektive möglich, die vom zusammengesetzten Perfekt, vom Futur II, vom (zusammengesetzten) Plusquamperfekt und vom Konditional II ausgeht. Wiederum wird tertiär nur die retrospektive Perspektive realisiert. Die durch die sekundäre Perspektive abgegrenzten Zeiträume können ihrerseits nach demselben Prinzip unterteilt werden. Im Französischen entstehen durch die tertiäre Perspektive die formes surcomposées – z. B. j’ai eu fait ‚ich habe gemacht gehabt‘ –, die von der normativen Grammatik zwar abgelehnt werden, in der gesprochenen Sprache aber gleichwohl häufig sind, so auch im Deutschen. Sie sind aber auch in der Standardsprache belegt, wie das folgende Beispiel zeigt: “Ils sont tombés en cet état trente-huit ans après qu’ils ont eu sacrifié Jésus-Christ” (Bossuet, Discours sur l’Histoire universelle, II, 20, t. II, p. 131; zitiert nach Touratier 1996: 159). ‘Gefallen sind sie in diesen Zustand 38 Jahre, nachdem sie Jesus Christus geopfert gehabt haben.‘
Die Striche, die, ausgehend vom Präsens, alle Tempora miteinander verbinden, dienen der Darstellung eines Tempus gegenüber denjenigen Tempora, die sie verbinden und zu denen sie in Opposition stehen. Da damit zugleich Sachverhalte ver-
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knüpft werden, implizieren verschiedene Tempora an sich schon komplexe Sachverhalte. Dieser Komplexität kann aber auch Ausdruck durch die Subordinierung und die Koordinierung von Sätzen und Satzgliedern gegeben werden. Je weiter ein Tempus vom Präsens entfernt ist, umso größer ist die Komplexität der implizierten Sachverhalte. Die sich durch die Einteilung der Zeiträume konstituierenden Tempora belegen wir mit Beispielen aus der Bibel. Das Alte und das Neue Testament eignen sich in ganz besonderer Weise, denn Prophezeiungen der Vergangenheit, die Gegenwart von Jesus in den Evangelien sowie die Heilserwartung und die Prophezeiung von Endzeit und Erlösung sind Grundelemente der Struktur dieser Texte. In die im Perfekt dargestellte Erzählung werden Passagen in direkter Rede eingefügt, die zum Zeitpunkt des Sprechens Voraussagen enthalten wie im zitierten Beispielsatz neben dem im Präsens erfassten Bezug. Diese Rede wird im Neuen Testament „prophetische Rede“ genannt (1. Kor. 14, 1–5). Auf diese Weise belegen wir die Tempora, die in primärer Perspektive auf der aktuellen Zeitebene verwendet werden. Aus Matthäus 16, 16–18: Lat. „Respondens Simon Petrus dixit: Tu es Christus, filius Dei vivi. Respondens autem Iesus, dixit ei: Beatus es Simon Bar Iona: quia caro, et sanguis non revelavit tibi, sed Pater meus, qui in caelis est. Et ego dico tibi, quia tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam, et portae inferi non praevalebunt adversus eam.“ Dt. „Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.“ Frz. “Simon-Pierre répondit: ‘Tu es le Christ, le Fils du Dieu vivant.’ En réponse, Jésus lui dit: ‘Tu es heureux, Simon fils de Jonas, car cette révélation t’est venue, non de la chair et du sang, mais de mon Père qui est dans les cieux. Eh bien! moi je te dis. Tu es Pierre, et sur cette pierre je bâtirai mon Église, et les Portes de l’Hadès ne tiendront pas contre elle.’” Sp. “Tomando la palabra Simón Pedro, dijo: Tú eres el Mesías, el Hijo de Dios vivo. Y Jesús, respondiendo, dijo: Bienaventurado tú, Simón Bar Jona, porque no es la carne ni la sangre quien esto te ha revelado, sino mi Padre, que está en los cielos. Y yo te digo a ti que tú eres Pedro, y sobre esta piedra edificaré yo mi Iglesia, y las puertas del infierno no prevalecerán contra ella.” Kat. “Simó Pere respongué: ‘Vós sou el Messies, el Fill del Déu vivent.’ Jesús li contestà: ‘Sortós de tu, Simó, fill de Jonàs, perquè no t’ho ha revelat carn i sang, sinó el meu Pare del cel. I jo et dic que tu ets Pere, i sobre aquesta pedra edificaré la meva Església, i les portes del reialme de la mort no la dominaran.”
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2 Die Einzelsprache
Pt. “Simão Pedro respondeu: ‘Tu és o Cristo, o Filho de Deus vivo‘. Em resposta, Jesus disse: ‘Feliz és tu, Simão filho de Jonas, porque não foi a carne nem a sangue quem te revelou isso, mas o Pai que está nos céus. E eu te digo: Tu és Pedro e sobre esta pedra construirei a minha Igreja e as portas do inferno nunca levarão vantagem sobre ela.” It. “Simon Pietro, rispondendo, disse: Tu sei il Cristo, il Figliuol dell’Iddio vivente. E Gesù, replicando, gli disse: Tu sei beato, o Simone, figliuol di Giona, perché non la carne e il sangue t’hanno rivelato questo, ma il Padre mio che è ne’ cieli. E io altresì ti dico: Tu sei Pietro, e su questa pietra edificherò la mia Chiesa, e le porte dell’Ades non potranno vincere.” Rum. “Simon Petru, drept răspuns, i-a zis: ‘Tu eşti Hristosul, Fiul Dumnezeului celui viu!’ Isus a luat din nou cuvîntul, şi i-a zis: ‘Ferice de tine, Simone, fiul lui Iona; fiindcă nu carnea şi sîngele ţi-a descoperit lucrul acesta, ci Tatăl Meu care este în ceruri. Şi Eu îţi spun: tu eşti Petru, şi pe aceasta piatră voi zidi Biserica Mea, şi porţile Locuinţei morţilor nu o vor birui.”
In erzählenden Texten werden typischerweise Hintergrundinformationen durch die Tempora der inaktuellen Ebene gegeben wie im folgenden Satz, in dem die Bewegung des Sterns von Bethlehem und der Ort, an dem sich Jesus befand, im Imperfekt erscheinen, während die dem Wandern des Sterns vorausgehende Wahrnehmung im (zusammengesetzten) Plusquamperfekt steht. Aus Matthäus 2, 9: Lat. „et ecce stella, quam viderant in oriente, antecedebat eos, usquedum veniens staret supra, ubi erat puer.” Dt. „Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war.“ Frz. “et voici que l’astre, qu’ils avaient vu à son lever, les précédait jusqu’à ce qu’il vînt s’arrêter au-dessus de l’endroit où était l’enfant.” Sp. “y la estrella que habían visto en Oriente les precedía, hasta que vino a pararse encima del lugar donde estaba el niño.” Kat. “i l’estrella que havien vist a l’orient els anava al davant fins que s’aturà al damunt d’on era l’infant.” Pt. “E a estrela, que tinham vista no Oriente, ia à frente deles, até parar sobre o lugar onde estava o menino.” It. “ed ecco la stella che avevano veduta in Oriente, andava dinanzi a loro, finché, giunta al luogo dov’era il fanciullino, vi si fermò sopra.” Rum. “Şi iată că steaua, pe care o văzuseră în Răsărit, mergea înaintea lor, pînă ce a venit şi s’a oprit deasupra locului unde era Pruncul.”
2.3 Inhalt
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Es ist interessant, dass sich manche Diskursbedeutungstypen von Tempora im Rahmen der vorgestellten Tempustheorie systematisch erklären lassen. Die Aktualität von Präsens, Perfekt und Futur kann man dadurch zeigen, dass diese Tempora in an sich inaktuellen Kontexten unter bestimmten Bedingungen vorkommen können. Nach einem Tempus der Vergangenheit werden in den romanischen Sprachen in abhängigen Sätzen inaktuelle Tempora verwendet. Diese können durch die aktuellen Tempora ersetzt werden, wenn die Tatsächlichkeit der dargestellten Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden soll. Ich gebe dazu ein Beispiel aus der Rechtssprache der spanischen Kolonialzeit in Amerika, in der der Unterschied zwischen bloßer Redewiedergabe und Feststellung einer Tatsache juristisch relevant war. Dem Ausschnitt geht die Ernennung eines Gouverneurs von Tucumán, einer Region im heutigen Nordwesten Argentiniens, im Jahre 1570 voraus. Der Satz beginnt mit einem relativischen Anschluss: “la qual dicha provision vista por los dichos ss justa e rregimiento e leyda por mi el escro dixeron en unanime conformes que la obedeçian e obedesçieron como carta e provision de su magt e la ponian e pusieron sobre sus cabezas e que la cumpliran en todo como en ella se contiene” (Fontanella de Weinberg (ed.) 1993: 267).
In modernisierter Orthographie lautet der Text folgendermaßen: “La cual dicha provisión vista por los señores justicia y regimiento y leída por mí, el escribano, dijeron en unánime conformes que la obedecían -y obedecieron- como carta y provisión de Su Majestad y la ponían -y pusieron- sobre sus cabezas y que la cumplirán en todo como en ella se contiene.” „Nachdem die besagte Verfügung von dem besagten Herrn Richter und den besagten Herren Ratsherren gesehen und von mir, dem Schreiber, verlesen worden war, sagten sie einstimmig mit gleichem Wortlaut, dass sie ihr als Urkunde und Verfügung Seiner Majestät Gehorsam leisten und sie sich auf den Kopf legen und dass sie sie in allem, was in ihr steht, ausführen würden.“
Wie bei der romanischen consecutio temporum zu erwarten, erscheinen nach “dixeron” zunächst zwei Imperfekte, “obedeçian” und “ponian”. Für sich genommen, sind damit nur Diskursinhalte gemeint, die folglich inaktuell sind, denn aktuell ist das Sagen, die Äußerung, nicht aber notwendigerweise das Gesagte, das ja nicht der Wahrheit entsprechen muss. Um aber zu betonen, dass der Rat von San Miguel de Tucumán die Verfügung tatsächlich befolgte, setzte der Schreiber das Perfekt daneben und brachte damit zum Ausdruck, dass es sich nicht nur um einen gemeinten Sachverhalt, sondern um eine Tatsache handelte. Der Wechsel des Tempus allein verdeutlicht damit den performativen Charakter (3.9) der Ausdrücke. Ebenso wird “cumpliran” statt des inaktuellen “cumplirían”, verwendet, weil sonst der Unterschied zwischen einem bloßen Sagen und einer performativen Verwendung dieses Verbs nicht gemacht werden könnte. Das Futur anstelle des Konditionals zieht dann erwartungsgemaß das Präsens “contiene” nach sich.
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2 Die Einzelsprache
Die inaktuellen Tempora, namentlich das Imperfekt und der Konditional, können durch das Präsens, das Perfekt oder das Futur ersetzt werden. Obwohl an sich das übergeordnete Verb die Zeitebene der Inaktualität erfordert, kann hier durch den Wechsel der Tempora die Dominanz der Aktualität zum Ausdruck gebracht werden. Diese Tempora sind zugleich performativ. Mit diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass dieselben Sachverhalte und Zeiten durch verschiedene Tempora ausgedrückt werden können. Das Bezeichnete, die gemeinten Sachverhalte, sind in diesen Fällen identisch, nicht aber die Bedeutungen.
Die Tempora der primären Perspektive Wir können nunmehr die Tempora der primären Perspektive im Einzelnen betrachten. Wir beginnen mit dem Präsens und dem Imperfekt, weil dies die zentralen Tempora sind. Durch die Betonung dieser grundlegenden Opposition wird der Zusammenhang zwischen Präsens, Perfekt und Futur, Imperfekt, Plusquamperfekt und Konditional etwas weniger deutlich.
Das Präsens Der elementare Charakter des Präsens drückt sich in seinen Formen aus, denn dieses Tempus wird morphologisch nicht markiert:
Abb. 2.29: Romanische Tempora der primären Perspektive
Betrachtet man die Formen im Einzelnen, so stellt man fest, dass keine von ihnen ein Monem für das Präsens enthält. Allenfalls wird die Person in allen Sprachen außer dem Französischen ausgedrückt. Die Person hat nur in der 1. und in der 2. Person Plural einen eigenen Ausdruck als Amalgam. Die anderen Personen des französischen Präsens werden orthographisch und durch das Personalpronomen selbst differenziert. Im Falle der 3. Person Singular und Plural kann die Form durch die Liaison differenziert werden (“chante-t-elle”). Keinen monematischen Ausdruck erhält die 3. Person Singular, mit der Ausnahme der eventuellen Liaison im Französischen. Was als Präsensmonem angesehen werden könnte (-a-), ist nur ein Themavokal. Damit wird die Sonderstellung des Präsens als Tempus manifest, von dem aus alle anderen Tempora in Perspektive gesetzt werden.
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Der Träger oder Protagonist eines Sachverhalts kann eine höchst unterschiedliche Kontinuität mit seinem Sachverhalt haben: Die Kontinuität des Trägers oder Protagonisten kann sich auf den bloßen Moment des Sprechens beschränken, sie kann bereits in der Vergangenheit bestanden haben, noch in der Zukunft bestehen oder alle diese zeitlichen Übereinstimmungen einschließen. Alle diese Diskursbedeutungen werden mit dem grundlegenden Merkmal „parallel“ charakterisiert. Mit „Sachverhalt“ greife ich den Begriff wieder auf, den ich in 1.4.3 expliziert habe. Die Parallelität impliziert den Zeitpunkt des Sprechens, weist aber retrospektiv und prospektiv meist über ihn hinaus. Diese Diskursbedeutung erscheint beim habituellen Präsens: “Je ne fume pas” – „Ich rauche nicht“, im Sinne von „Ich bin Nichtraucher“; im Satz des Pythagoras: “Le carré de l’hypothénuse est égal à la somme des carrés des deux autres côtés.” ‘Das Hypothenusenquadrat ist gleich der Summe der Quadrate der beiden anderen Seiten (oder: der Kathetenquadrate).‘
in einer „ewigen“ oder überzeitlichen Wahrheit: “Le plus grand séducteur après tout n’est pas Alcibiade, c’est Socrate” (Yourcenar 1977: 43). „Sokrates hieß der größte Verführer und nicht Alkibiades“ (Yourcenar 1998: 35).
Eine Übersetzungsentsprechung gibt nicht immer die Diskursbedeutungen genau wieder, wie die Übersetzung von “est” mit „hieß“ zeigt. Das längere Zitat aus Marguerite Yourcenar am Anfang der Behandlung des Imperfekts weiter unten enthält allgemeine Betrachtungen im Präsens, in denen ebenfalls das Überzeitliche ausgedrückt wird. Im Gegensatz zu dieser weiten Parallelität steht diejenige zum unmittelbaren Zeitpunkt des Sprechens wie in „Et ego dico tibi“ im Matthäusevangelium mit seinen Übersetzungen. Im Sprechakt “Je vous accepte dans mon train”, von einer Zugbegleiterin eines TGV gesagt, fallen das Handeln und der Augenblick des Sprechens in der Gegenwart zusammen. Der Moment kann unmittelbar vor dem Augenblick des Sprechens liegen, ihm folgen oder beides umfassen. Dieses Präsens kann man inklusives Präsens nennen. Die geringe temporale Spezialisierung des Präsens zeigt sich darin, dass es an die Stelle derjenigen Tempora treten kann, zu denen es in unmittelbarer Opposition steht. Das sind unter den einfachen Tempora das Perfekt, das Futur und das Imperfekt. Im Falle der Neutralisierung steht für diese das Präsens, da es das unmarkierte Glied der Opposition ist. Das Praesens historicum kommt vor in der Zusammenfassung geschichtlicher Ereignisse des Jahres 1943 durch Elsa Morante: “In Russia, il crollo del fronte del Don, travolto dai Sovietici, segna la fine rovinosa del corpo di spedizione italiano” (1974: 141). ‚In Russland markiert der Zusammenbruch der von den Sowjets überwältigten Donfront die Aufreibung des italienischen Expeditionskorps.‘
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2 Die Einzelsprache
Neben dem seltenen prophetischen Futur kann das Präsens einen Sachverhalt in der Vorstellung vorwegnehmen und dadurch vergegenwärtigen: “Mañana te traigo los negros” – ‚Morgen bringe ich dir die Schwarzen wieder‘ (von einem Kleinbusfahrer 1987 zur Ortswache in Las Matas de Farfán, Dominikanische Republik, vor der Abfahrt nach Santo Domingo gesagt).
Das Imperfekt wird in der üblichen Analyse der Tempora ausschließlich als Vergangenheit angesehen und deshalb in Opposition zum Perfekt gestellt. Diese Auffassung berücksichtigt nicht alle Diskursverwendungen des Imperfekts, sondern nur diejenigen, die mit dem Perfekt alternieren. Die Gründe für die Ablehnung einer unmittelbaren Opposition zwischen Imperfekt und Perfekt sind innersprachlich. Die innersprachliche Betrachtung beginnt bei der Form: Die Gemeinsamkeiten der Formen des Imperfekts, des Konditionals und des (je nach Sprache) einfachen oder zusammengesetzten Plusquamperfekts, die ich oben erwähnt habe, werden bei der traditionellen Auffassung und auch bei neueren meist nicht in Betracht gezogen. Die romanischen Sprachen verweisen aber durch morphologische Indizien ganz klar auf einen Zusammenhang zwischen Imperfekt, Konditional und Plusquamperfekt, wie wir oben am Beispiel des Portugiesischen und des Französischen gesehen haben. Aus dem semantischen Bereich des Imperfekts werden sehr gängige Verwendungen dieses Tempus, die nicht in das Schema einer unmittelbaren Opposition zwischen Imperfekt und Perfekt hineinpassen, in den meisten Darstellungen einfach ausgeklammert. Das Imperfekt hat auf der inaktuellen Ebene dieselben Diskursbedeutungen, die das Präsens auf der aktuellen Ebene hat. Im folgenden Auszug aus den Mémoires d’Hadrien von Marguerite Yourcenar verschiebt sich das Jetzt des Schreibens im Hier der Hadriansvilla in Tivoli zum Damals in Spanien. Die Erzählhaltung ändert sich aber nicht. Wie das Präsens ein Tempus ist, das einen Sachverhalt in seiner zeitlichen Ausdehnung parallel zum Zeitpunkt des Sprechens ohne Begrenzung in der Rückschau und der Vorausschau darstellt, so leistet dies in der Inaktualität das Imperfekt, das einen Zeitraum der Vergangenheit ohne anvisierte Begrenzungen evoziert. Die Rückschau wird durch allgemeine Betrachtungen im Präsens eingeleitet und mit Bewertungen im zusammengesetzten Perfekt und im Präsens abgeschlossen. In der Übersetzung wird diese Textgestaltung leider nicht erfasst: “La fiction officielle veut qu’un empereur romain naisse à Rome, mais c’est à Italica que je suis né; c’est à ce pays sec et pourtant fertile que j’ai superposé plus tard tant de régions du monde. La fiction a du bon : elle prouve que les décisions de l’esprit et de la volonté priment les circonstances. Le véritable lieu de naissance est celui où l’on a porté pour la première fois un coup d’œuil intelligent sur soi-même : mes premières patries ont été des livres. A un moindre degré, des écoles. Celles d’Espagne s’étaient ressenties des loisirs de la province. L’école de Térentius Scaurus, à Rome, enseignait médiocrement les philosophes et les poètes, mais préparait assez bien aux vicissitudes de l’existence humaine : les magisters exerçaient sur les écoliers une tyran-
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nie que je rougirais d’imposer aux hommes ; chacun, enfermé dans les étroites limites de son savoir, méprisait ses collègues, qui tout aussi étroitement savaient autre chose. Ces pédants s’enrouaient en disputes de mots. Les querelles de préséance, les intrigues, les calomnies, m’ont familiarisé avec ce que je devais rencontrer par la suite dans toutes les sociétés où j’ai vécu, et il s’y ajoutait la brutalité de l’enfance. Et pourtant, j’ai aimé certains de mes maîtres, et ces rapports étrangement intimes et étrangement élusifs qui existent entre le professeur et l’élève, et les Sirènes chantant au fond d’une voix cassée qui pour la première fois vous révèle un chefd’œuvre ou vous dévoile une idée neuve. Le plus grand séducteur après tout n’est pas Alcibiade, c’est Socrate” (1979: 43). „Die offizielle Annahme verlangt, daß ein römischer Kaiser in Rom zur Welt kommt, ich bin aber in Italica geboren. Dieses kleine steinige Dorf sollte ich später mit so vielen fernen Ländern vertauschen. Die Fiktion hat ihr Gutes: sie beweist den Vorrang der geistigen Entscheidung vor dem Ungefähr des Geschehens. Der wirkliche Geburtsort ist der, wo der Mensch zum ersten Male seiner selbst bewußt wird. Meine ersten Heimstätten waren Bücher, weniger die Schulen, denen man in Spanien den provinziellen Schlendrian anmerkte. In Rom vermittelte die Schule von Terentius Scaurus nur mäßige Kenntnisse der Philosophie und Literatur. Um so besser bereitete sie auf die Wechelfälle des Schicksals vor, denn die Lehrer behandelten ihre Zöglinge so, wie ich mich schämen würde, irgend jemand zu behandeln. In den engen Grenzen eines Faches befangen, verachtete jeder den Kollegen, dessen ebenso enges Wissen ein anderes Gebiet anging. Diese Pedanten zanken sich heiser, doch verdanke ich ihren Rangstreitigkeiten, Ränken und Verleumdungen eine Vorahnung dessen, was ich später in jeder Gesellschaft, in der ich lebte, antreffen sollte. Dennoch habe ich manche meiner Lehrer geliebt und den Reiz der festen und zugleich dehnbaren Beziehung, die Meister und Schüler verbindet, wohl verspürt. Oft bestrickte mich die verschleierte Stimme des Meisters wie Sang der Sirenen, wenn er dem Knaben die Pforte zu neuen Gedanken auftat oder den Sinn für die Schönheit eines Kunstwerkes weckte. Sokrates hieß der große Verführer und nicht Alkibiades“ (Yourcenar 1998: 34–35).
Die Stabilität des romanischen Imperfekts zeigt sich auch im Rumänischen. Ein narratives Beispiel werde ich beim einfachen Plusquamperfekt geben. In der Fachliteratur über die Tempora hat das Verhältnis zwischen Imperfekt und Perfekt eine besondere Aufmerksamkeit gefunden. Das Imperfekt steht in erzählenden Texten häufig am Anfang und am Ende einer Kette von im Perfekt erzählten Ereignissen. So beginnen typischerweise Märchen im Imperfekt, um die Ausgangslage zu schildern. “Cendrillon” (‚Aschenputtel‘) von Charles Perrault beginnt mit den folgenden Sätzen: “Il était une fois un gentilhomme qui épousa en secondes noces une femme, la plus hautaine et la plus fière qu’on eût jamais vue. Elle avait deux filles de son humeur, et qui lui ressemblaient en toutes choses. Le mari avait de son côté une jeune fille, mais d’une douceur et d’une bonté sans exemple; elle tenait cela de sa mère, qui était la meilleure personne du monde” (Perrault 1979: 59). ‘Es war einmal ein Edelmann, der in zweiter Ehe die hochmütigste und herrischste Frau heiratete, die man jemals gesehen hatte. Sie hatte zwei Töchter ihres Naturells, die ihr in allem glichen. Der Ehemann hatte seinerseits ein Mädchen, das aber von einer Sanftmut und Güte ohnegleichen war. Das hatte sie von ihrer Mutter, die der beste Mensch von der Welt war.‘
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In diesen Beginn hinein findet die Heirat statt mit den Ereignissen, die danach im Perfekt erzählt werden. Würde die Erzählung aber im Hier und Heute stattfinden, würde man alle Sachverhalte im Präsens statt im Imperfekt darstellen. Bei der Kommutation der Imperfekte in Perfekte würde man dagegen eine andere Geschichte erzählen: Das in zweiter Ehe verheiratete Paar würde keine Kinder in die Ehe mitbringen, sondern sie in der neuen Ehe bekommen. Damit lässt sich zeigen, dass die Opposition zwischen Imperfekt und Perfekt keine einfache Opposition ist, wie meist angenommen, sondern ein zweifache. Sowohl Imperfekt wie Perfekt stehen zum Präsens in unmittelbarer Opposition. Spiegelbildlich zur Verwendung des Imperfekts am Anfang einer Erzählung gibt es eine Verwendung des Imperfekts, das gleichsam als Bild am Ende einer Erzählung stehenbleiben soll, im Französischen “imparfait de rupture” genannt. Mit den beiden folgenden Sätzen wird ein Kapitel eines Romans abgeschlossen: “J’envoyai Joseph dire à mon père que j’allais arriver. En effet, deux heures après, j’étais rue de Provence” (Dumas Fils s. a.: 229). ‚Ich ließ meinem Vater mein Kommen durch Joseph ankündigen. Zwei Stunden später war ich dann wirklich in der Rue de Provence.‘
Der Autor kann vom Erzählen der Ereignisse zur Innensicht des Erlebens einer Person übergehen. So schließt der Roman Bel-Ami von Guy de Maupassant mit den folgenden Sätzen: “Il descendit avec lenteur les marches du haut perron entre deux haies de spectateurs. Mais il ne les voyait point ; sa pensée maintenant revenait en arrière, et devant ses yeux éblouis par l’éclatant soleil flottait l’image de Mme de Marelle rajustant en face de la glace les petits cheveux frisés de ses tempes, toujours défaits au sortir du lit” (1981: 413). ‚Langsam stieg er die Stufen der hohen Freitreppe zwischen einem Spalier von Schaulustigen hinunter. Aber er sah sie nicht. Seine Gedanken gingen jetzt in die Vergangenheit zurück, und vor seinen von der strahlenden Sonne geblendeten Augen schwebte das Bild von Mme de Marelle, wie sie das an den Schläfen krause, beim Verlassen des Bettes immer aufgelöste Haar richtete.‘
Auch diese Imperfekte sind nicht mit dem Perfekt kommutierbar, sondern allenfalls mit dem Präsens. Die in die Erklärung einzubeziehenden Verwendungen betreffen den Konditionalsatz: “Si vos parents vivaient encore, ils vous feraient de grands reproches et ils auraient raison” (Touratier 1996: 137) – ‚Wenn eure Eltern noch lebten, würden sie euch heftige Vorwürfe machen, und sie hätten Recht‘;
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die Höflichkeit: “je voulais te dire …” – ‚ich wollte dir sagen …‘;
einen abgemilderten Vorwurf, der an Kinder gerichtet wird (“imparfait hypocoristique”): “Il faisait de grosses misères à sa maman, le vilain garçon” (Imbs 1968: 97) – ‚Hat der böse Junge seiner Mutter aber einen großen Kummer bereitet!‘
die Rollenverteilung in Spielen: “Tú eras la princesa y yo, la reina y éste era el palacio” (Cartagena 1976–77: 11) – ‚Du bist die Prinzessin und ich die Königin und das hier ist das Schloss‘,
eine Verwendung, die auch im Französischen und anderen romanischen Sprachen üblich ist; einen Wunsch: “si vous saviez comme elle est drôle, ma petite sœur!” (nach Touratier 1996: 138) – ‚Wenn ihr wüsstet, wie lustig meine kleine Schwester ist!‘.
In allen diesen Verwendungen funktioniert das Imperfekt nicht als Hintergrund zu Sachverhalten, die im Perfekt ausgedrückt werden. Man kann die umgekehrte Probe machen. Wenn das Imperfekt in unmittelbarer Opposition zum Perfekt stünde, müsste eine Neutralisierung in die eine oder die andere Richtung möglich sein. Wir können also eine Kommutationsprobe vornehmen und in den obigen Beispielen vivaient durch vécurent, voulais durch voulus, faisait durch fit, saviez durch sûtes [!] usw. ersetzen. Die Bedeutung ist im Falle der Kommutation eine völlig andere – wenn sie denn einen Sinn ergäbe. Wir können bei der Kommutationsprobe auch eine Ersetzung in der umgekehrten Richtung vornehmen und das Resultat betrachten. Ersetzen wir also in der Übersetzung von Matthäus 16, 16–18, répondit durch répondait, dit durch disait: Wir würden uns in diesem Fall fragen, um welche Ereignisse es denn noch gehen würde, die zu erzählen wären, da die mit dem Imperfekt ausgedrückten Sachverhalte als Wiederholungen verstanden werden würden, die weitere Ereignisse vorbereiteten. Die Oppositionen, in denen das Imperfekt steht, sind neutralisierbar. In diese Neutralisierungen ist niemals das Perfekt einbezogen, d. h., dass das Imperfekt nicht anstelle des Perfekts verwendet werden kann. Das Imperfekt kann aber für den Konditional eintreten: “Et puis, un jour, elle annonça qu’elle arrivait (au lieu de arriverait)” (Imbs 1968: 94) – ‚Und eines Tages teilte sie dann auf einmal mit, sie komme (statt: sie würde kommen).‘
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So auch in Konditionalsätzen. Allerdings sind die Normunterschiede zwischen den romanischen Sprachen beträchtlich. Im gesprochenen Italienisch ist diese Neutralisierung sehr üblich: “Mi hanno detto di ritornare a Novi Ligure dai miei cugini. Mi hanno dato i soldi per il viaggio. Non erano cattivi. Ma io cosa facevo a Novi Ligure. Quei miei cugini non sapevano più niente di me da un pezzo. Se mi vedevano arrivare con quella pancia cascavano morti” (Ginzburg 1973: 22). ‚Sie haben mir gesagt, ich solle zu meinem Cousin und meiner Cousine nach Novi Ligure zurückkehren. Sie haben mir das Geld für die Reise gegeben. Sie waren nicht unfreundlich zu mir. Aber was hätte ich denn in Novi Ligure tun sollen. Dieser Cousin und diese Cousine hatten schon seit Langem keine Nachrichten mehr von mir. Wenn sie mich mit diesem Bauch [scil. als Hochschwangere] hätten kommen sehen, wären sie tot umgefallen.‘
Dieses Imperfekt steht anstelle des Konditionals II, das damit neutralisiert wird.
Das Perfekt Das Perfekt situiert einen Sachverhalt in der Vergangenheit in seiner Abgegrenztheit, sei es als punktuellen Sachverhalt, sei es als zeitlich zwischen einem Anfangs- und einem Endpunkt ausgedehnten Sachverhalt. Das Perfekt situiert retrospektiv einen Sachverhalt in einer tatsächlichen, geschichtlichen Vergangenheit; er wird dabei global und faktisch betrachtet. Dieses Tempus eignet sich für die Darstellung einer zeitlichen Folge von vergangenen Sachverhalten, wobei in charakteristischer, aber nicht notwendiger Weise der erste Sachverhalt abgeschlossen ist, wenn der zweite betrachtet wird, und so die folgenden. In Mémoires d’Hadrien skizziert Marguerite Yourcenar den Lebenshintergrund des sechzehnjährigen Zöglings und späteren Kaisers Hadrian in Athen. Der für die ganze Passage geltende Hintergrund wird im Imperfekt dargestellt. Davon heben sich die im Perfekt erzählten Sachverhalte ab: “J’avais seize ans : je revenais d’une période d’apprentissage auprès de la Septième Légion, cantonnée à cette époque en pleines Pyrénées, dans une région sauvage de l’Espagne Citérieure, très différente de la partie méridionale de la péninsule où j’avais grandi. Acilius Attianus, mon tuteur, crut bon de contrebalancer par l’étude ces quelques mois de vie rude et de chasses farouches. Il se laissa sagement persuader par Scaurus de m’envoyer à Athènes auprès du sophiste Isée, homme brillant, doué surtout d’un rare génie d’improvisateur. Athènes immédiatement me conquit ; l’écolier un peu gauche, l’adolescent au cœur ombrageux goûtait pour la première fois à cet air vif, à ces conversations rapides, à ces flâneries dans les longs soirs roses, à cette aisance sans pareille dans la discussion et la volupté. Les mathématiques et les arts m’occupèrent tour à tour, recherches parallèles ; j’eus aussi l’occasion de suivre à Athènes un cours de médecine de Léotichyde” (1979: 46; das temporale Grundmuster setzt sich noch weiter fort). „Ich war sechzehn Jahre alt, als meine Lehrzeit bei der Siebenten Legion ablief. Sie lag damals in den Pyrenäen, in einer rauhen Region des diesseitigen Spaniens, das sehr verschieden ist vom Süden, in dem ich groß geworden war. Acilius Attianus, mein Vormund, hielt es für gut, auf diese
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Monate angestrengten Dienstes und wilder Jagden zum Ausgleich eine Periode des Studiums folgen zu lassen. Auf den Rat des Scaurus hin schickte er mich nach Athen zu dem Sophisten Isaios, einem glänzenden Geist von ungewöhnlicher Wendigkeit. Sofort verfiel ich dem Zauber Athens. Dem scheuen, ein wenig linkischen Jüngling ging das Herz auf in der freien Luft, bei diesen lebendigen Gesprächen, bei diesen Spaziergängen im rosigen Abendlicht, bei dieser Freude am Wort wie am Genuß. Ich beschäftigte mich mit der Mathematik und den schönen Künsten, auch hatte ich Gelegenheit, an einem medizinischen Kurs bei Leotychides teilzunehmen“ (Yourcenar 1998: 37–38).
Die aktuell und retrospektiv situierten Sachverhalte werden vom Zeitpunkt des Sprechens aus in ihrer Abgegrenztheit betrachtet. Untereinander können sie die verschiedensten Beziehungen zueinander haben: Sie können einer chronologischen Abfolge entsprechen, sich aber auch zeitlich gegenseitig überschneiden und sogar ganz verschiedene Zeiträume in der Vergangenheit abgrenzen. Die in der Retrospektive abgegrenzten Sachverhalte müssen also nicht aufeinanderfolgen. “Quant aux exercices de rhétorique où nous étions successivement Xerxès, Octave et Marc-Antoine, ils m’enivrèrent ; je me sentis Protée. Ils m’apprirent à entrer tour à tour dans la pensée de chaque homme, à comprendre que chacun se décide, vit et meurt selon ses propres lois” (Yourcenar 1979: 44). „Die rhetorischen Übungen begeisterten mich vollends. Bald sprachen wir wie Xerxes, bald wie Themistokles, nacheinander spielten wir Octavian und Antonius, und ich fühlte mich zum Proteus werden. Ich lernte mich in die Gedanken anderer hineinzudenken und begriff, wie ein jeder nach seinem eigenen inneren Gesetz handelt, lebt und stirbt“ (Yourcenar 1998: 35).
Das Perfekt kann sich mit Aspektbedeutungen verbinden. Es ist durativ in “Pendant un demi-siècle, les bourgeoises de Pont-l’Évêque envièrent à Mme Aubain sa servante Félicité” (Flaubert 1947: 3) „Während eines halben Jahrhunderts beneideten die Bürgersfrauen von Pont-l’Évêque Mme Aubain um ihre Dienerin Félicité”,
iterativ in “Son âme [scil. l’âme de Julien Sorel] était navrée et avant de passer la montagne, tant qu’il put voir le clocher de l’église de Verrières, souvent il se retourna” (Stendhal 1952: 369). ‚Seine Seele war zutiefst betroffen und, solange er den Turm der Kirche von Verrières sah, wandte er sich, bevor er den Berg überquerte, oft um‘,
konklusiv in “Reprenez vos esprits ; et souvenez-vous bien Qu’un dîner réchauffé ne valut jamais rien” (Boileau). ‚Kommt wieder zu euch; und entsinnt euch doch, dass ein aufgewärmtes Esen noch nie etwas getaugt hat‘,
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ein von Imbs (1968: 85) als eine auf der Erfahrung beruhende Wahrheit zitiert, die aspektuell aber zugleich eine Konklusion beinhaltet. Diese Aspektbedeutungen stehen nicht im Gegensatz zur Abgegrenztheit des retrospektiv und aktuell betrachteten Sachverhalts. Die Normunterschiede zwischen den romanischen Sprachen sind bedeutend. So wird in manchen Regionen Spaniens und Hispanoamerikas der Ausdruck der Vorzeitigkeit bevorzugt und das eventuelle Andauern bis zum Zeitraum der Gegenwart ausgeklammert.
Das Futur situiert einen Sachverhalt prospektiv, d. h. er tritt zeitlich betrachtet nach dem Zeitpunkt des Sprechens ein oder soll danach eintreten. Nach diesen beiden Gesichtspunkten werden temporale und modale Diskursbedeutungen unterschieden. Die deutlichste zeitliche Einordnung finden wir in einer Prophezeiung wie Matthäus 16, 16–18. Die prospektive Perspektive kommt also besonders klar dann zum Ausdruck, wenn das Futur auch syntagmatisch in Opposition und im Kontrast zum Präsens steht, vor allem wenn es von Zeitangaben begleitet ist: “La grammaire, avec son mélange de règle logique et d’usage arbitraire, propose au jeune esprit un avant-goût de ce que lui offriront plus tard les sciences de la conduite humaine, le droit ou la morale” (Yourcenar 1977: 42). „Mit ihrem Gemisch aus erdachter Regel und vorgefundenem Brauch gibt die Grammatik dem Geist des Jünglings einen Vorgeschmack der Rechtswissenschaft und der Morallehre“ (Yourcenar 1998: 35).
Das Futur kann auch kontextuell mit Präsens und Perfekt kontrastiert werden: “La lecture des poètes eut des effets plus bouleversants encore : je ne suis pas sûr que la découverte de l’amour soit nécessairement plus délicieuse que celle de la poésie. Celle-ci me transforma : l’initiation à la mort ne m’introduira pas plus loin dans un autre monde que tel crépuscule de Virgile” (Yourcenar 1977: 44). „Noch hinreißender war die Wirkung der Poesie, so berauschend, daß ich mich frage, ob der Rausch der ersten Liebe ihr gleichkommt. Ich wandelte mich, und selbst das Mysterium des eigenen Todes wird mir das Jenseits nicht besser erhellen als die Offenbarung Vergils“ (Yourcenar 1998: 35–36).
Die gnomische Verwendung des Futurs braucht zur Verdeutlichung das Zeitadverb immer oder niemals wie in “Un coup de dés jamais n’abolira le hasard” (Stéphane Mallarmé) – ‚Niemals wird ein Würfel den Zufall abschaffen‘. Das modale Futur wird als volitives Futur realisiert. Die Realisierung des Sachverhalts wird explizit in einen prospektiven Zeitraum projiziert. Aus der Vielfalt der Diskursbedeutungen sei aus den zehn Geboten zitiert: “Tu ne tueras pas. Tu ne com-
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mettras pas d’adultère. Tu ne voleras pas” (2. Mose 20, 13–15). Das Futur dient ebenfalls der Abschwächung einer Äußerung.
Der Konditional Der Konditional zeigt sich am deutlichsten in seiner temporalen und modalen Funktion in subordinierten Sätzen, wofür im ersten Zitat zum Imperfekt je ein Beispiel enthalten ist.
Das Plusquamperfekt Das einfache Plusquamperfekt ist als Tempus des Indikativs mit einem sehr unterschiedlichen Status im Galicischen, Portugiesischen, Valencianischen, Spanischen und Rumänischen erhalten, ferner im Altokzitanischen. Mein Belegbeispiel nehme ich aus einem Roman des moldauischen Erzählers Mihail Sadoveanu, der hier die Erzählebene des Imperfekts mit der davorliegenden Erzählebene im Plusquamperfekt verbindet. “De la adormirea bătrînului Ştefan-Voievod, părintele Moldovei, trecuseră şaptezeci şi doi de ani. Urgii felurite se abătuseră asupra ţării : foametea şi ciuma se dovedeau tot aşa de cumplite cît şi războaiele pentru stăpînirea ţării. Ca şi cu un veac mai nainte, se perindaseră feciori legiuiţi ori copii din flori ai Domniei, care rîvneau să ia puterea, stîrnind tăieri, pustirii şi pojaruri, cu ajutor de la munteni, leşi ori tatari, şi gloabele le plăteau bieţii pămînteni. Aceştia de mult scorniseră vorba potrivită pentru asemenea împrejurări despre schimbarea domnilor şi bucuria nebunilor. Sărăciţi şi prigoniţi de poghiazuri şi bulucuri de pradă, se îngreţoşau şi moldovenii de asemenea viaţă ; puneau şi ei mîna pe sabie şi se amestecau în războaiele timpului. Ajutau la ieşirea în asemenea treburi şi asupririle cnejilor care îşi sporeau tot mai mult lăcomia de a apuca silnic ocinile răzăşilor şi storceau fără nici o cumpătare pe ţăranii plugari” (Sadoveanu 1977: 5). „Seit dem Hinscheiden des alten Ştefan-Vodă, des Vaters der Moldau, waren zweiundsiebzig Jahre vergangen. Plagen aller Art hatten das Land heimgesucht: Hunger und Pest wüteten ebenso furchtbar wie die Kämpfe um die Herrschaft. Genau wie im vergangenen Jahrhundert hatten die Fürstensöhne – eheliche sowohl wie Kinder der Liebe – sich mit Munteniern, Polen oder Tataren verbündet, um die Macht an sich zu reißen. Das Sengen und Brennen und Blutvergießen nahm kein Ende; die Zeche bezahlten wie immer die armen Einheimischen. Es gibt ein altes Sprichwort: Über den Wechsel der Herren freuen sich die Narren. Verarmt und durch Plünderungs- und Beuteabteilungen gehetzt, wurden die Moldauer eines solchen Daseins überdrüssig; sie griffen zum Säbel und mischten sich in die jeweiligen Kriege ein. Auch die Bojaren, die sich gewaltsam die Erbgüter der Freisassen anzueignen und die Ackerbauern maßlos auszubeuten suchten, trieben durch ihr Verhalten die Moldauer zu den Waffen“ (Sadoveanu 1971: 5).
Mit diesen Sätzen beginnt der historische Roman, der eine moldauische Geschichte des 16. Jahrhunderts erzählt. Ştefan-Vodă oder Stephan der Große lebte von 1457 bis 1504; er behauptete die Unabhängigkeit der Moldau von der türkischen Oberherrschaft. Diese bedeutende Gestalt der rumänischen Geschichte dient dem Autor nur
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2 Die Einzelsprache
dazu, die Erzählung in der Geschichte zu situieren. Daher werden die inaktuellen Tempora Plusquamperfekt für die Zeit Stephans und das Imperfekt für die Zeit danach verwendet.
Die sekundäre Perspektive Im Romanischen gibt es als grundsätzliche Möglichkeit die Realisierung der sekundären Perspektive in sechs Zeiträumen. Die Tempora der retrospektiven sekundären Perspektive im Zeitraum des Präsens werden mit Fortsetzungen von lat. habere, tenere oder esse + Partizip gebildet, diejenigen der prospektiven mit Formen von ire + eventuell der Präposition a + Infinitiv. Sie drücken Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit gegenüber dem Referenzpunkt aus. Dazu einige Beispiele.
Das zusammengesetzte Perfekt Dieses Tempus kombiniert die präsentischen Eigenschaften des Hilfsverbs mit der Vorzeitigkeit oder Retrospektive und der Perfektivität des Partizips Perfekt. Es wird vor dem Zeitpunkt des Sprechens, aber mit Bezug zu ihm innerhalb des Zeitraums Präsens realisiert. Das Tempus bezeichnet einen anhaltenden Sachverhalt, der eingetreten ist, in der Gegenwart fortbesteht und wahrscheinlich auch in der Zukunft fortbestehen wird. Wenn man diese letztgenannte Interpretation ausschließen will, muss man die genaue zeitliche Begrenzung durch Zeitangaben vornehmen. In den Diskursbedeutungen überwiegt je nach Fall das Perfektive oder die Vorzeitigkeit. Im Unterschied zu den andauernden Sachverhalten gibt es solche, die einen Endpunkt enthalten: “c’est à Italica que je suis né : c’est à ce pays sec et pourtant fertile que j’ai superposé plus tard tant de régions du monde” (Yourcenar 1977: 43; siehe zu weiteren Verwendungen die Fortsetzung dieses Zitats bei der Behandlung des Imperfekts).
Die Vorzeitigkeit kann in einer kurz zurückliegenden oder in einer ferneren Vergangenheit liegen. Den zweiten Fall haben wir in den folgenden Beispielen: “mes premières patries ont été des livres” (Yourcenar 1977: 43). “J’ai souvent réfléchi à l’erreur que nous commettons quand nous supposons qu’un homme, une famille, participent nécessairement aux idées ou aux événements du siècle où ils se trouvent exister” (Yourcenar 1977: 42; zur Übersetzung siehe „Das Imperfekt“). „Wie irrig ist doch die Vorstellung, daß ein Mensch oder eine Familie unbedingt an den Gedanken oder Begebenheiten der Epoche teilhaben müssen, in der sie leben!“ (Yourcenar 1998: 33).
Eine zeitliche Begrenzung enthält das folgende Beispiel: “En un dos por tres estuvo listo mi traje. Nunca me he divertido tanto como al recibirlo” (Neruda 1992: 247) –‚ Im Nu war mein Anzug fertig. Noch nie habe ich mich so amüsiert, wie als ich ihn bekam.‘
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Von dieser Verwendung aus hat sich das zusammengesetzte Perfekt im Französischen, im Norditalienischen und im Rumänischen ausgeweitet und hat das einfache Perfekt ersetzt, besonders in der gesprochenen Sprache. Den gnomischen Gebrauch finden wir in “presque tout ce que les hommes ont dit de mieux a été dit en grec” (Yourcenar 1977: 45) – „[weil] das, was am besten gesagt worden ist, auf griechisch gesagt ist“ (Yourcenar 1998: 36).
Das zusammengesetzte Plusquamperfekt Das Tempus der Vorzeitigkeit auf der aktuellen Zeitebene – frz. j’eus fait, sp. hube hecho, it. ebbi fatto – ist in seiner Verwendung höchst eingeschränkt. An seine Stelle tritt die Retrospektive der inaktuellen Zeitebene, noch dazu in ihrer sekundären Perspektive. Dieses Tempus hat sich so sehr verallgemeinert, dass es nicht nur an die Stelle des einfachen Plusquamperfekts getreten ist, sondern es funktioniert überhaupt als Vorvergangenheit und zwar gegenüber dem Imperfekt, dem Perfekt und dem zusammengesetzten Perfekt. Diese Feststellungen betreffen nicht allein das Vorkommen dieser Tempora auf der syntagmatischen Ebene; es können vorgestellte Zeitstufen im Gebrauch des zusammengesetzten Plusquamperfekts impliziert sein, namentlich in Hauptsätzen. “J’avais seize ans : je revenais d’une période d’apprentissage auprès de la Septième Légion, cantonnée à cette époque en pleines Pyrénées, dans une région sauvage de l’Espagne Citérieure, très différente de la partie méridionale de la péninsule où j’avais grandi” (Yourcenar 1977: 46; zur Übersetzung siehe „Das Perfekt“).
In Konditionalsätzen treten Neutralisierungen im zusammengesetzten Plusquamperfekt an Stelle des Konditionals II ein: “Non, je serais mort sans connaître le bonheur, si vous n’étiez venue me voir dans cette prison” (Stendhal; nach Imbs 1968: 129) – ‚Nein, ich wäre gestorben, ohne das Glück kennenzulernen, wenn Sie mich nicht in diesem Gefängnis aufgesucht hätten.‘
Das Futur II oder das zusammengesetzte Futur situiert einen Sachverhalt retrospektiv gegenüber einem Sachverhalt, der prospektiv gegenüber dem Zeitpunkt des Sprechens betrachtet wird oder eine Mutmaßung gegenüber einem mit dem Sprechzeitpunkt gleichzeitigen oder nachzeitigen Sachverhalt enthält: “De tant de vertus, si ce sont là bien des vertus, j’aurai été le dissipateur” (Yourcenar 1977: 42) – „Alle diese Tugenden, sofern es Tugenden waren, hab’ ich vertan“ (Yourcenar 1998: 34). Wie man an der Übersetzung sieht, vermeidet man dieses Tempus im Deutschen.
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2 Die Einzelsprache
Die Skizze des Tempussystems, die ich gegeben habe, strebt an, den systematischen Charakter seiner Formen und Funktionen hervorzuheben. Es werden sowohl die Systembedeutungen als auch besonders häufige Diskursbedeutungen begründet. Bei den im Tempussystem häufigen Neutralisierungen kann die Richtung der Neutralisierung eindeutig angegeben mit ihrer Stellung im System begründet werden. Der oft als Modus dargestellte Konditional lässt sich wesentlich besser mit den Merkmalen „inaktuell + prospektiv“ erklären.
Bibliographischer Kommentar
Die Grundlagen für eine Untersuchung des romanischen Verbalsystems stellt Coseriu 1976 (in einer Version von Bertsch, die er nach von Mitte der 1960er Jahre gehaltenen Hauptseminaren und Vorlesungen zusammengestellt hat) in kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Tempustheorien des 20. Jahrhunderts dar. Über die Lehre Coserius auch im spanischen Sprachraum gelangte diese Auffassung in andere Schriften, wo ihre Herkunft nicht mehr identifizierbar ist. Wichtige Etappen auf dem Wege zu einer Entwicklung der Theorie des Verbs sind Bello 1981 für das Spanische und Jakobson 1963 zu den Kategorien des Verbs am Beispiel des Russischen. Eine auf Coseriu aufbauende Beschreibung des okzitanischen und des katalanischen Tempus- und Aspektsystems gibt Schlieben-Lange 1971, eine des spanischen Tempus- und Aspektsystems Cartagena 1976–77 und 1999. Die portugiesischen Tempora werden im Rahmen einer Grammatik relativ ausführlich behandelt von Hundertmark-Santos Martins 21998: 105–139. Die Diskursbedeutungstypen der französischen Tempora stellt Imbs 1968 auf der Grundlage von Beispielen aus der Literatur dar. Touratier 1996 diskutiert die Fachliteratur zu den französischen Tempora aus einer Sicht, die mit der hier vertretenen in vielem kompatibel ist, obwohl er sie nicht kennt. Besonders hervorzuheben ist seine Beschreibung des Imperfekts mit dem Merkmal ‛non actuel’ (1996: 107–109). Die französischen Tempora bearbeitet Viguier (2013) semantisch und integrativ, ein Weg, der vielversprechend ist. Den Zusammenhang zwischen Tempus, Aspekt und Aktionsart im Italienischen untersucht Bertinetto 1984, ausgehend von der angloamerikanischen Fachliteratur, die sich mit dem Englischen beschäftigt. Deshalb sind weder die Beschreibung der italienischen Tempora noch die sprachwissenschaftliche Perspektive sehr erhellend. Eine interessante Diskussion beginnt mit einem Artikel von Benveniste 1966b, in dem zwischen “histoire” und “discours” in der Verwendung der französischen Tempora unterschieden wird. Diese Unterscheidung interpretiert Weinrich 62001 (11964) in „Erzählen“ und „Besprechen“ um und wendet sie auf mehrere romanische Sprachen an. Sie ist eigentlich eine textlinguistische Unterscheidung, keine des Systems, und bedarf daher einer neuen Interpretation, die die Realisierung von Tempora in Texten als Möglichkeiten des Tempussystems begreift.
2.3.1.3 Grammatik des Substantivs, des Adjektivs und des Adverbs Aus der Kenntnis der universellen Kategorien (1.4.5.1) ergeben sich durchaus noch nicht die einzelsprachlichen Verhältnisse. Nehmen wir die Bildung des Plurals bei den Substantiven im Italienischen im Vergleich mit dem Französischen. In den italienischen Grammatiken werden die entsprechenden Formen als verschiedene Pluralformen aufgelistet und der Unterschied zwischen diesen Formen erklärt. Es ist jedoch der eigentliche Plural inhaltlich von denjenigen Bildungen zu unterscheiden, die paarweise vorkommende Dinge oder etwas als Gesamtheit Betrachtetes bezeichnen,
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z. B. il braccio ‚der Arm‘ – le braccia ‚die (beiden) Arme des menschlichen Körpers‘ – i bracci ‚die Arme‘, einzeln betrachtet oder von einem Sessel und dergleichen, il dito ‚der Finger‘ – le dita ‚die Finger einer Hand in ihrer Gesamtheit‘ – i diti ‚die Finger‘, einzeln genommen. Dass es im Italienischen neben Singular und Plural noch ein Drittes gibt, das allerdings eine marginale Kategorie darstellt, lässt sich im Vergleich mit dem Französischen feststellen, das nur Singular und Plural hat: le bras – les bras, le doigt – les doigts. Daher ist die Opposition zwischen Singular und Plural im Italienischen keine einfache Opposition, sondern eine komplexe, denn bei einem Teil der Substantive steht nicht der Singular dem Plural gegenüber, sondern der “plurale singolativo“ steht außerdem noch in Opposition zu einem “plurale collettivo“. Im Französischen wird dazu der Plural in den meisten Fällen nur orthographisch durch ausgedrückt, wie überhaupt viele Grammatikregeln des Französischen Schreibregeln sind. In der gesprochenen Sprache erscheint der Numerusunterschied im Französischen selten, z. B. in cheval ‚Pferd‘ – chevaux. Oppositionen zwischen grammatischen Inhalten sind einzelsprachlich in unterschiedlicher Weise neutralisierbar. Ist die Verwendung des Singulars an Stelle des Plurals in vielen Sprachen noch weit verbreitet, gehen die Neutralisierungen in einer Sprache wie dem Spanischen noch weiter, da der Maskulinum Plural den Unterschied zwischen Maskulinum und Femininum neutralisieren kann. So sind sp. hijos entweder ‚Söhne‘ oder aber ‚Kinder‘, padres entweder ‚Väter‘ oder üblicherweise ‚Eltern‘, los reyes de España ‚der König und die Königin von Spanien‘. Das Genus erscheint in den romanischen Sprachen in der Regel als Maskulinum und Femininum: it. libro ‚Buch‘, terra ‚Land‘. Dieser Unterschied wird im Französischen wie in vielen weiteren Fällen nicht am Wort, sondern außerhalb des Worts ausgedrückt: le livre, la terre. Im Rumänischen wird oft ein Neutrum angenommen: Es hat, morphologisch betrachtet, einen „maskulinen“ Singular und einen „femininen“ Plural: braţ ‚Arm‘ – braţe. Bei den Wortkategorien können wir weitere Unterkategorien feststellen, so bei den Substantiven den Numerus (Singular und Plural in den meisten romanischen Sprachen), das Genus (Maskulinum und Femininum, gelegentlich das Neutrum) und den Kasus (im Rumänischen, im Altfranzösischen und im Altokzitanischen). Im Rumänischen hat sich ein Zwei-Kasus-System bis heute erhalten. In dieser Sprache existiert einerseits ein Nominativ-Akkusativ, z. B. casă ‚Haus‘, und andererseits ein Genitiv-Dativ, z. B. case. Dazu kommt bei Namen von Personen und sonstigen Personenbezeichnungen der Vokativ, z. B. Ioane! ‚Hans!‘, zu Ion, der für sich allein bereits für eine selbständige Äußerung bestimmt ist. Da die meisten Sprachbeschreibungen die Wortkategorien (bzw. die Redeteile) zugrunde legen, ist es notwendig, sich mit diesen Kategorien genau vertraut zu machen. Ihre Erörterung und ihr formaler Ausdruck werden den einzelnen Grammatikkapiteln meist vorangestellt. Der Zusammenhang zwischen der Typologie und der Entwicklung der nominalen Kategorien vom Lateinischen zum Romanischen kommt in 4.5.2.1 zur Sprache. Die Klassen der Gegenstände oder Entitäten, die von Substantiven bezeichnet werden,
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werden bei der Polysemie der Adjektive eingeführt (2.3.3); diejenigen Entitäten, die Sachverhalte bezeichnen, wurden in 1.4.3 behandelt. Die Substantive, die Wortbildungen sind (2.3.2, besonders 2.3.2.1), verhalten sich auch grammatisch in einer spezifischen Weise, d. h. bei ihnen sind einerseits die grammatischen Eigenschaften der Grundlage, andererseits diejenigen der Wortbildung zu berücksichtigen. Was die Adjektive betrifft, wird die romanische Bildung des Komparativs, des Superlativs und des Elativs weiter unten (4.5.2.3) aus historischer Perspektive erörtert. An dieser Stelle sind einige weitere grammatische Eigenschaften dieser Wortkategorie anzuschließen, unter denen die attributive und die prädikative Verwendung zu nennen sind. Das attributive Adjektiv determiniert ein Substantiv in einer nominalen Wortgruppe und kann vor- oder nachgestellt sein, z. B. in frz. un gentil garçon ‚ein netter Junge‘, quelques paroles aimables ‚ein paar nette Worte‘; sp. mal gusto ‚schlechter Geschmack‘, una cama dura ‚ein hartes Bett‘; kat. una bona persona ‚ein guter Mensch‘, llàgrimes amargues ‚bittere Tränen‘; pt. um velho amigo ‚ein alter Freund‘, a cidade alta ‚die Oberstadt‘; it. una bella poesia ‚ein schönes Gedicht‘, una poesia molto bella ‚ein sehr schönes Gedicht‘; rum. întreaga colecţie und colecţia întreagă ‚eine schöne Sammlung‘, sală sportivă ‚Sporthalle‘. Dabei kann die Gebrauchsnorm auf die Voranstellung oder die Nachstellung eingeschränkt sein oder beides zulassen. Eine prädikative Verwendung liegt vor in frz. Jean est maladroit ‚Hans ist ungeschickt‘, sp. permanece sentada ‚sie bleibt sitzen‘, kat. sembla honest ‚er scheint ehrlich zu sein‘, pt. João é menor ‚Hans ist minderjährig‘, it. non ti rendi simpatico ‚du machst dich nicht beliebt‘, rum. casa voastră este la fel de mare ca a noastră ‚euer Haus ist ebenso groß wie unseres‘. In allen diesen Verwendungen wird das Adjektiv nach Genus und Numerus dekliniert, im Rumänischen ferner noch nach dem Kasus. In der Regel werden die Modaladverbien von den Adjektiven durch das Verfahren der Transposition (2.3.2.1) abgeleitet wie in frz. récent → récemment ‚vor Kurzem‘, sp. lento → lentamente ‚langsam‘, kat. possible → possiblement ‚möglicherweise‘, pt. casual → casualmente ‚zufällig‘, it. nuovo → nuovamente ‚erneut‘. Das Rumänische konvertiert hingegen regelmäßig Adjektive zu Adverbien ohne Suffix, z. B. corect → corect ‚richtig‘, ein Verfahren, das auch in anderen romanischen Sprachen marginal vorkommt wie in frz. parler clair ‚deutlich reden‘, sp. comer fatal ‚schlecht essen‘, kat. parlar clar, pt. falar baixo ‚leise reden‘, it. parlare chiaro. Fernerhin gibt es einfache Orts- (3.5.2), Zeit- (3.5.4) und Modaladverbien (3.5.5), die weitere syntagmatische Bestimmungen erfahren können. Diese Bestimmungen sind eine romanische Neuerung, wie in 4.5.2.3 und 4.5.2.4 gezeigt wird.
Bibliographischer Kommentar zur Grammatik
Französisch. Es sei darauf hingewiesen, dass die Tradition der französischen Grammatikschreibung lange Zeit auf andere Grammatiktaditionen ausgestrahlt hat, besonders vom 18. Jahrhundert an. Diese Querverbindungen können hier nicht dargelegt werden. Es soll genügen, aus der Vielzahl von Grammatiktypen einige wenige Beispiele auszuwählen. Beginnen wir mit der sehr erfolgreichen Schulgram-
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matik für Deutschsprachige, Klein/Kleineidam 2011, gefolgt von einer ausführlichen präskriptiv-normativen Lerngrammatik, Dethloff/Wagner 22007, und Weinrich 1982 als Textgrammatik, zugleich als Beschreibungsmodell entworfen. Die grammatische Kasuistik des Französischen beginnt mit Vaugelas 2009/11647 als Lehre vom guten und richtigen Sprachgebrauch und setzt sich unter dem Titel bon usage mit Grevisse/Goosse 15 2011 bis heute fort. Unter den alternativen Grammatiktypen finden wir die onomasiologische Grammatik von Brunot 31953, den klassischen und modernen Sprachgebrauch in Wagner/Pinchon 21968, die strukturalistische Orientierung mit Chevalier/Blanche-Benveniste/Arrivé/Peytard 1964, die Nutzbarmachung der Erkenntnisse der heutigen Linguistik in Riegel/Pellat/Rioul 41998 und die kritische Sichtung der linguistischen Positionen zu einzelnen Themen, systematisch geordnet, in Wilmet 32003. Spanisch. Das Spanische kam als Schulsprache erst seit jüngerer Zeit im deutschen Sprachraum hinzu. Ausführlichere Grammatiken auf Deutsch sind de Bruyne 22002, Reumuth/Winkelmann 52006 und Vera Morales 62013. Nebrija 11492 ist die erste gedruckte Grammatik einer romanischen Sprache überhaupt; sie entstand in der Auseinandersetzung mit dem italienischen Humanismus, hatte aber trotz ihrer epochalen Leistung damals keinen Erfolg. Eine kontinuierliche Grammatiktradition bildete sich mit der Akademiegrammatik von 1771, Real Academia Española 1984, heraus. Sie wurde kritisch durch Bello 1981, 1 1847, befruchtet und setzte sich in Real Academia Española 1973 mit dem Strukturalismus auseinander, der durch Alarcos Llorach 1951 in die spanische Grammatikschreibung eingeführt worden war. Die deskriptive Grammatik von Bosque/Demonte (dirigida por) 1999 wurde von der Akademie gefördert, bis sie schließlich mit Real Academia Española/Asociación de Academias de la Lengua Española 2009 eine exhaustive, das amerikanische Spanisch berücksichtigende eigene Grammatik mit zahlreichen Belegen herausgab. Das amerikanische Spanisch wurde durch Cuervo 71939/11867 in die spanische Linguistik in Gestalt von kritischen Bemerkungen eingeführt. Neben der Akademietradition wurden Grammatiken wie Alonso 1968 zum modernen Sprachgebrauch mit Belegen aus spanischen und hispanoamerikanischen Autoren, Alcina Franch/Blecua 91995 für Studenten, Hernández Alonso 3 1996 als funktionelle Grammatik und Alarcos Llorach 1994 anstelle einer Akademiegrammatik veröffentlicht. Katalanisch. Eine deutsche Elementargrammatik ist in Lüdtke 1984 enthalten, eine ausführliche Grammatik liegt mit Brumme 22007 vor. Die heutige Grammatikographie geht von der Norm des Institut d’Estudis Catalans aus, die Fabra ausgearbeitet hat, grundlegend ist Fabra 1956. Die zentralkatalanische Norm beschreibt auf Spanisch Badia Margarit 1962, eine geographisch breit angelegte Beschreibung geben dagegen Badia Margarit 1995 und noch mehr Solà/Lloret/Mascaró/Pérez Saldanya 42008 sowie Institut d’Estudis Catalans 2016, diese drei zuletzt genannten Werke auf Katalanisch. Die regionale Norm der Balearen berücksichtigen Moll 1968, die valencianische Sanchis Guarner 1950 und Fontanelles/Garcia/Lanuza 1987. Eine generative Arbeit ist die Syntax von Bonet/Solà 1986. Portugiesisch. Für Deutschsprachige stehen Hundertmark-Santos Martins 21998 und, ausführlich, Gärtner 1998 zur Verfügung. Wer zuerst Spanisch gelernt hat, kann sich dem Portugiesischen in Portugal und in Brasilien mit Vázquez Cuesta/Luz 31971 und 1980 (auf Portugiesisch) nähern, um die beiden Sprachen möglichst gut zu trennen. Beide Sprachnormen sind auch Gegenstand von Teyssier 2 1992 (auf Französisch) und 1989 (auf Portugiesisch) sowie von Cunha/Cintra 52010. Für das europäische Portugiesisch legt Vilela 1995 einen Beschreibungsvorschlag vor, der die Grammatik in Wort, Satz und Text gliedert. Für die universitäre Lehre ist die generative, pragmatische und kommunikationsorientierte Grammatik von Mateus/Brito/Duarte/Faria 52003 konzipiert. Das gesprochene Portugiesisch behandelt Brauer-Figueiredo 1999. Mit Raposo/Nascimento/Mota/Segura/Mendes 2013 verfügen wir seit Kurzem über eine exhaustive wissenschaftliche, auf drei Bände angelegte Grammatik des europäi-
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schen Portugiesisch, deren allgemeinere Kapitel zugleich als Einführung in die portugiesische Sprachwissenschaft verwendet werden können. Der brasilianische Sprachgebrauch liegt der Grammatik von Câmara Jr. 1970 zugrunde, die auf dem Strukturalismus und seinen Weiterentwicklungen aufbaut. Unter den zahlreichen brasilianischen Grammatiken seien Neves 2000, Bechara 52015 und Azevedo 2010 genannt. Besondere Beachtung verdient die Untersuchung des gesprochenen Portugiesisch der Gebildeten in den fünf brasilianischen Hauptstädten Recife, Salvador, Rio de Janeiro, São Paulo und Porto Alegre, die unter dem allgemeinen Titel Gramática do português falado als Aufsatzsammlungen herausgegeben wurden in Castilho (org.) 21991, Ilari (org.) 42002, Castilho (org.) 32002, Kato (org.) 2 2002, Koch (org.) 22002, Neves (org.) 1999 und Abaurre/Rodrigues (orgs.) 2002. Italienisch. Wenn man einmal die Einzelforschung beiseitelässt, wird die italienische Grammatikschreibung von Fragen der Sprachnorm und der Sprachlehre so sehr beherrscht, dass grammatica üblicher als in anderen Sprachen ein Sprachlehrwerk benennt. Die Gründe dafür lassen sich am besten aus der Geschichte des Italienischen (5.1) und aus der Geschichte der italienischen Grammatikographie (Poggi Salani 1988) herleiten, die ich hier nicht in der gebotenen Kürze darlegen kann. Auch auf Deutsch liegen nicht wenige Lehrwerke vor, von denen ich Krenn 1996, Esposito-Ressler 2007, Da Forno/Manzini-Himmrich 22010, Reumuth/Winkelmann 72012 und als wissenschaftliche Grammatik Schwarze 21995 nenne. Neuere Grammatiken sind unter anderem Serianni 1988, Sensini 1990, Dardano/Trifone 1997 und Patota 2009. Costabile 1967 erwähne ich als generative Transformationsgrammatik zum Vergleich mit anderen romanischen Grammatiken dieser Ausrichtung. Die bedeutendste wissenschaftliche Grammatik ist Renzi/Salvi/Cardinaletti 22001, die in drei Bänden vorliegt. Rumänisch. Das Rumänische ist in deutscher Sprache in Beyrer/Bochmann/Bronsert 1987 und Iliescu/Popovici 2013 ausgiebig beschrieben worden, ferner auch als kontrastive Grammatik in Engel/ Isbăşescu/Stănescu/Nicolae 1993. Vom Französischen ausgehend ist Pop 1948 zu verwenden. Eine rumänische Grammatik für den allgemeinen Leser ist Avram 32001; eine Akademiegrammatik liegt in zwei Versionen vor, eine traditionellere mit Academia Republicii Socialiste România 21963 und eine neuere in Academia Română 2005, die als Wort- und als Satzgrammatik aufgebaut ist. Zum Vergleich mit anderen Sprachen eine generative Transformationsgrammatik: Vasiliu/Golopenţia-Eretescu 1969 (Rumänisch) und 1972 (Englisch).
2.3.1.4 Lexikalisierte Grammatik: Die Idiomatik oder Phraseologie Bei der Erlernung einer Fremdsprache und der Anwendung ihrer Verfahren beim Sprechen und Schreiben macht man immer wieder Fehler, die den Verfahren einer Sprache zwar entsprechen, die aber vom Sprachgebrauch ausgeschlossen werden, weil es dafür bereits einen üblichen Ausdruck gibt. Nehmen wir das deutsche Wort Schwarzweißfoto. In den romanischen Sprachen haben wir dafür unter anderem die Entsprechungen frz. photo (en) noir et blanc, sp. foto en blanco y negro, kat. foto en blanc i negre, pt. foto a branco e preto, it. foto in bianco e nero, rum. foto(grafie) în alb şi negru. Es ist von der Sache her völlig gleichgültig, ob zuerst weiß und dann schwarz oder die Adjektive in umgekehrter Reihenfolge genannt werden. Im Deutschen, Französischen und Englischen ist die Reihenfolge schwarz – weiß zu einer festen Gewohnheit geworden, in den meisten romanischen Sprachen dagegen die Reihenfolge weiß – schwarz. Das Verfahren betrifft die Reihung dieser beiden Adjektive, die in bestimmten Fällen wie dem genannten Beispiel nicht mehr frei verfügbar ist. Wir haben in solchen Fällen
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nicht mehr die Freiheit, die Reihenfolge nach Belieben zu wählen. Der Ausdruck ist in dieser Weise in der Rede geprägt worden und wird seitdem in gleicher Weise wiederholt. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Das ist (alles) für die Katz. Die Festlegung betrifft hier zunächst Katz. Hierbei wird materiell angezeigt, dass die übliche lexikalische Verwendung von Katze aufgehoben ist durch Katz, denn der Satz Das ist für die Katze würde etwas anderes bedeuten. Die Wiederholung betrifft in diesem Beispiel als Erstes Katz statt Katze. Damit wird zugleich die übliche Interpretation von Katze ausgeschlossen. Dann aber wird durch die Form auch zum Ausdruck gebracht, dass der ganze Satz nicht mehr im üblichen Verständnis funktioniert. Romanische Entsprechungen dazu können sein: frz. c’est pour rien, c’est pour des prunes, sp. es inútil, esto no vale un comino, kat. això és inútil, pt. de nada serve, é em vão, it. questo è como niente, è tutto inutile, rum. e degeaba, e în zadar. So wird durch Katz nicht nur die übliche Form außer Kraft gesetzt, sondern auch die Bedeutung. Die Folge davon ist, dass nicht alle Wörter im Einzelnen ihre übliche Bedeutung haben, sondern durch die einzelnen Bedeutungen hindurch verweisen sie auf die Bedeutung dieses Satzes insgesamt, die wiederum nicht aus den einzelnen Elementen erschlossen werden kann. Die Wiederholung geht aber noch sehr viel weiter. Die Sitzung ist eröffnet hat eine analoge Entsprechung in frz. La séance est ouverte, sp. La sesión está abierta, in it. La seduta è aperta. Die Wörter bedeuten auch in der Kombination genau das, was die einzelnen Wörter zusammengenommen bedeuten. Was hier wiederholt wird, entspricht zugleich auch den Verfahren der jeweiligen Einzelsprache. Dennoch wird erwartet, dass dieser Satz in dieser Form oder in sehr ähnlicher, jedenfalls aber konventionellen Weise gesagt wird, denn seine Äußerung ist ein institutioneller Akt. Wenn er nicht erkennbar ist, kann auch seine institutionelle Funktion ignoriert werden. Das Entscheidende bei der Untersuchung der Redewiederholung sind demnach nicht die formalen Merkmale, sondern es ist letztlich die Wiederholung selbst. Das Wiederholte kann sich durch seine Form von den freien Möglichkeiten einer Sprache unterscheiden, dies muss aber nicht der Fall sein. Das Wiederholte kann auch mit dem übereinstimmen, was man auch sonst in der „freien Technik der Rede“ sagen würde. Der Unterschied, um den es eigentlich geht, ist der zwischen freier Rede und wiederholter Rede (Coseriu 1978c: 218–223), nicht der zwischen frei und fixiert. Aus der Sicht der sprachlichen Regelmäßigkeiten geht es um ihre Reichweite in der Synchronie. Sowohl in der eigenen als auch in der fremden Sprache ist man sich dessen zunächst nicht bewusst, dass man beim Sprechen keinen einheitlichen Verfahren folgt. Die Uneinheitlichkeit, von der hier gleichwohl nicht die Rede sein soll, ist die diatopische, die diastratische und die diaphasische Variation. Diese Variation ist dennoch nicht ganz auszuschließen, da kein Sprechen, kein Diskurs ganz einheitlich ist. Es geht aber nicht um diese Variation als solche. Auch innerhalb einer Sprache, die man sich für unsere Demonstrationszwecke einheitlich vorstellen sollte, gibt es immer Bereiche, die für uns als Sprecher nicht
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frei zur Verfügung stehen. Es gibt im Diskurs gleichsam Versatzstücke, die für die Wiederverwendung zur Verfügung stehen und nicht mehr „gemacht“, die nicht mehr neu geschaffen werden müssen und oft auch nicht geschaffen werden dürfen. Man denke an eine Begrüßung, wofür wir frz. Bonjour, ça va?, sp. Buenos días, ¿Qué tal?, ¡Hola!, kat. Bon dia, com va, com anem, què tal, hola!, it. Buongiorno, Ciao, Come va?, rum. alo, Bunǎziua, vǎ salut haben. Man kann diese Ausdrücke noch variieren oder kombinieren. Wenn aber der Gruß oder die Begrüßung als solche verstanden werden soll, muss sich die Variation in bestimmten Grenzen halten. Man kann also nicht ohne weiteres einen Gruß neu schaffen. Als Sprecher kommen wir deshalb um die Wiederholung nicht herum. Sie ist auf jeden Fall ein fester Bestandteil des Sprechens. Gerade bei der Erlernung einer Fremdsprache muss man die offenen und die versperrten Wege kennen. Der Terminus für das, was immer wieder wiederholt wird, ist z. T. konventionell. Thun verwendet „fixiertes Wortgefüge“ (1978), Zuluaga “unidades fraseológicas“ oder “combinaciones fijas“ (1980). Die Fixiertheit als solche ist nicht das entscheidende Kennzeichen, sondern die Tatsache, dass eine Kombination in bestimmter Weise wiederholt wird. Die Wiederholung lässt eine gewisse Variation zu. Die Wiederholung kann entweder situationsgebunden sein oder die Kombination der Elemente allein betreffen. Den ersten Typ von Wiederholung nennt Zuluaga „pragmatisch“, in diesem Fall kann das Wiederholte aus einem Wort oder aus mehreren Wörtern bestehen: sp. ¡Adiós! und Buenos días. Den anderen Typ von festem Ausdruck nennt er „sprachlich“. Diese zweitgenannten Ausdrücke bestehen immer aus Kombinationen. Abgesehen vom Wort kann das Wiederholte eine Wortgruppe, ein Satz oder sogar ein Text sein. Nach diesen Ebenen der sprachlichen Strukturierung (1.4.5) kann man die Formen der wiederholten Rede einteilen. Auch die wiederholte Rede entspricht grammatisch diesen Ebenen der sprachlichen Strukturierung. Da es sich meist um Kombinationen handelt, geht es bei der wiederholten Rede um Wortgruppen und andere höhere Ebenen. Dabei kommt es vor, dass das Wiederholte ein Element aus einem älteren Sprachzustand enthält: Sp. El que/Quien malas mañas ha, tarde o nunca las perderá – ‚Aus seiner Haut kann man nicht heraus‘. In diesem Satz hat haber die Bedeutung, die heute tener hat. Dieser Sprachgebrauch war bis zum 16. Jahrhundert gängig. Nicht wenige phraseologische Ausdrücke werden der Wortbildung zugerechnet. Für manche lexikalischen Einheiten ist „Wortbildung“ ein konventioneller und durchaus irreführender Terminus. Wir sollten zu diesem Bereich nicht alle Kombinationen zählen, die zu neuen komplexen Wörtern führen. Nach dem morphologischen Kriterium müssten wir darin sonst solche Kombinationen wie frz. pomme de terre ‚Kartoffel‘, sp. cajón de sastre ‚Sammelsurium, kat. mar de fons ‚dicke Luft‘, pt. (Brasilien) boia fria ‚kaltes Essen, d. h. Landarbeiter‘, oder it. presidente del consiglio dei ministri ‚Ministerpräsident‘, rum. fotografie alb-negru mit einschließen, die von ihrer Ausdrucksstruktur her zur Grammatik, von ihrer Inhaltsstruktur her jedoch zum Wortschatz zu rechnen sind.
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Es gibt einen großen Bereich in der Grammatik einer jeden Sprache, der formal eine grammatische Gestaltung aufweist, inhaltlich aber sehr verschieden eingeordnet wird. Wenn die grammatisch kombinierten Einheiten, bei denen die Bedeutung der gesamten Kombination nicht der Bedeutung der einzelnen Komponenten entspricht, in Analogie zu einem Wort funktioniert, werden die auf diese Weise geschaffenen Kombinationen der Wortbildung zugewiesen wie z. B. frz. pomme de terre. Ist dies nicht der Fall und ist die Kombination nicht als Satz strukturiert, so gehören sie zur Phraseologie wie frz. avoir une dent contre qn ‚jemanden auf dem Kieker haben‘, sp. dar a luz und it. dare alla luce ‚zur Welt bringen‘, sp. kat. estirar la pata und pt. estirar o pernil ‚abkratzen‘. Wir sehen aber bereits an diesen Beispielen, dass verbale Ausdrücke anders eingeschätzt worden sind als nominale, denn dare alla luce funktioniert wie das Wort partorire ‚gebären‘ und estirar la pata wie morir ‚sterben‘. Sind die festen Kombinationen als Sätze strukturiert, erscheinen sie meist als Sprichwörter oder Redensarten, die als knappe Texte funktionieren: frz. C’est bonnet blanc et blanc bonnet ‚Das ist Jacke wie Hose‘, it. Vuole la botte piena e la moglie ubbriaca ‚Er will Unmögliches (Er will, dass das Fass voll und seine Frau betrunken ist)‘.
2.3.2 Wortbildungsinhalte Da die Wortbildung eigentlich immer unter dem Gesichtspunkt der Form eingeführt wird – das wurde hier in 2.3.0.2 auch getan –, ist zuerst in aller Klarheit festzustellen, dass es bei der Wortbildung um sprachliche Inhalte geht. Daher wird die Form oder die materielle Seite der Wortbildung hier dem Inhalt und seiner Betrachtung nachund untergeordnet. Viele Linguisten sind bereit, eine inhaltliche Betrachtung des Wortschatzes wohl im Allgemeinen anzuerkennen, belassen es in der Wortbildungslehre dennoch aber bei einer morphologischen Perspektive. Wenn man sich auch nur im Geringsten vornimmt, die Wortbildung als sprachlichen Bereich mit spezifischen Inhalten abzugrenzen, wird man mit einer morphologischen Darstellung sehr schnell an die Grenzen der Erfassung sprachlicher Adäquatheit gelangen. Nehmen wir einmal die Suffixe und die Präfixe einer Sprache und unterscheiden wir formal zwischen der Wortart oder Wortkategorie der Grundlage oder Basis und der Wortart der Ableitung. Wir stehen dabei vor dem Problem, wie denn die Ergebnisse solcher Wortbildungsprozesse zu ordnen sind. Die übliche Methode ist eine bloß alphabetische Anordnung, die keineswegs den Anspruch erheben darf, die sprachlichen Verhältnisse deskriptiv abzubilden. Erst danach werden Angaben zu den Bedeutungen gemacht. Die morphologischen Verhältnisse fassen wir im folgenden Schema zusammen. Im Sinne von 1.2.4 und 2.3.0.2 betrachten wir sie als materielle Verfahren:
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Abb. 2.30: Materielle Wortbildungsverfahren
Wörter werden erstmalig im konkreten Sprechen geschaffen. Der Diskurs ist daher der Ort der Innovation und des ständigen Weiterschaffens mit den Wörtern (cf. 1.2.1.4), was zur Umgestaltung der Wortbildungsverfahren und des Wortschatzes führt. Man weiß allerdings nicht, ob das Neue nicht schon im sprachlichen Wissen des Sprechers in dem Augenblick war, in dem er ein Wort zum ersten Mal äußerte. Wörter sind Produkte der Tätigkeit des Sprechens. Sie können infolgedessen von der Tätigkeit her bzw., um mit Humboldt zu sprechen, energetisch betrachtet werden oder aber von den Produkten her, als Ergon (cf. 1.2.1.1). Diese letzteren werden wir Wortbildungsprodukte nennen, um auf diese Weise mit einem einzigen Ausdruck sowohl Ableitungen (Suffigierungen und Präfigierungen) als auch Wortzusammensetzungen benennen zu können. Viele der miteinander unvereinbaren Betrachtungsweisen der Wortbildung lassen sich auf diesen Unterschied zwischen Tätigkeit und Produkt einer Tätigkeit im Gegenstand selbst zurückführen. Wortbildung ist aber beides, eine wortschaffende Tätigkeit und eben das fertige Wortbildungsprodukt. Dokulil (1968) hat dies terminologisch mit „Wortbildung“ und „Wortgebildetheit“ unterschieden. Die Wortbildungsinnovation kann nun eine einmalige Bildung, ein „Hapax legomenon“ sein (ein altgriechischer Ausdruck, der ‚einmal Gesagtes‘ bedeutet und der oft auf „Hapax“ allein reduziert wird), die ihre Aufgabe bereits beim Sprechen vollständig erfüllt hat oder als Fehler betrachtet worden ist. So hatte eine Frau im von Sigmund Freud zitierten Versprecher les avant-midis statt les matins gebildet (1.2.1.3). Die Neuerung kann aber auch aus dem Diskurs in die Einzelsprache des Sprechers oder des Hörers übernommen werden und wird dann durch jede weitere Verwendung in ihrer Eigenschaft als Wortbildungsprodukt stärker im Wortschatz etabliert. Die Übernahme ist demnach für die Identifikation der auf diese Weise zustande gekommenen Wörter wesentlicher als die Schöpfung. Diese Tatsache erklärt aber zugleich auch, wie schwer es ist, das Wortbilden als konkreten Vorgang zu beobachten. Die Beobachtung eines aktuellen Wortbildungsprozesses ist in Sprachgemeinschaften mit einer strengen Sprachnorm besonders schwer. Wie in den meisten Sprachen wird es in den romanischen wenig akzeptiert, dass die Sprecher neue Wörter verwenden. Man kann dabei sogar so weit gehen zu behaupten, dass Wörter, die nicht im Wörterbuch stehen, nicht als Wörter anerkannt werden. Im Spanischen kann man als Kommentar zu Neologismen hören: “Son palabras que no existen” – ‚Diese Wörter gibt es nicht.‘ Man muss in der Regel davon ausgehen, dass Wörter – sei es im all-
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tagssprachlichen oder im fachsprachlichen Sprechen – in der gesprochenen Sprache geschaffen werden und dann nicht sehr auffallen. Werden sie aber schriftlich verwendet, kommt dies schon einer Anerkennung gleich. Offiziell etabliert ist ein Wort jedoch erst dann, wenn es nach einer gewissen Anzahl von schriftlichen Belegen so weit in das sprachliche Wissen der Gemeinschaft integriert ist, dass es in ein Wörterbuch aufgenommen wird. Methodisch ist daraus abzuleiten, dass wir bei der Untersuchung der Wortbildung einer romanischen Sprache mit Hilfe eines Wörterbuchs, der üblichsten Methode, sehr weit vom ursprünglichen Schöpfungsvorgang entfernt sind, denn die auf diese Weise sanktionierten Wörter werden bereits als bloße Wortbildungsprodukte behandelt. Auszunehmen von der hier gemachten Feststellung sind bewusste terminologische Prägungen, wie sie etwa von Terminologiekommissionen oder auch von Einzelnen vorgenommen werden. Aus der Feststellung, dass neu geschaffene Wörter in der Regel nicht von den Sprechern übernommen werden, können wir ableiten, dass nicht die belegten, sondern die möglichen Wörter Gegenstand der Wortbildungslehre sind. Im Diskurs werden nicht nur Wörter neu geschaffen und neu verwendet. Eine andere Quelle der Erweiterung des Wortschatzes sind Entlehnungen. Darunter können sich ebenfalls Wortbildungsprodukte befinden, sie sind aber zunächst Wortbildungsprodukte in der Herkunftssprache. Die meisten Entlehnungen sind aus dem Lateinischen bzw. in lateinischer Gestalt aus dem Griechischen in die romanischen Sprachen gelangt. Wenn das Grundwort und das Wortbildungsprodukt in eine romanische Sprache übernommen worden sind, steht damit zugleich ein Wortbildungsmuster zur Verfügung, das zur Schaffung weiterer Wörter führen kann. Wenn zu ciel ‚Himmel‘ nach lateinischem Muster afrz. celeste ‚himmlisch‘ entlehnt wird, so im altfranzösischen Alexiuslied, steht von da an nicht nur dieses Adjektiv allein zur Verfügung, sondern es wird beim Übergang vom Lateinischen zum Altfranzösischen ein möglicherweise untergegangener Wortbildungstyp überhaupt aktiviert. Da die Wörter lateinischer Herkunft nicht als Fremdwörter im eigentlichen Sinn betrachtet werden, wird es in den romanischen Sprachen eher als in den germanischen akzeptiert, wenn ein lateinisches Wort oder ein lateinisches Verfahren übernommen wird. Die aus dem geschriebenen Lateinisch entlehnten und traditionell gewordenen griechisch-lateinischen Verfahren stehen daher den gebildeten Sprechern romanischer Sprachen ebenso zur Verfügung wie die ununterbrochen vom Lateinischen zum Romanischen tradierten. Solche Muster entstehen dagegen seltener durch Entlehnungen aus anderen Sprachen als dem Lateinischen. Die englischen Nominalisierungen auf -ing haben, nachdem einige davon ins Französische entlehnt worden sind, zur Bildung von footing ‚Jogging‘ geführt, das im Englischen in dieser Bedeutung unbekannt ist. Noch marginaler ist der aus dem Deutschen entlehnte Typ frz. autoroute ‚Autobahn‘ geblieben, dessen zweites Element route im Gegensatz zur sonstigen Struktur des französischen Worts das Determinatum eines Wortbildungssyntagmas ist. Das Determinans ist auto. Die übliche Determinatum-Determinans-Struktur liegt vor in sp. buque escuela ‚Schulschiff‘.
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Die grammatischen Bedeutungen – seien es solche, die keine Funktion im Satz haben, als auch solche, die eine Funktion im Satz haben, – erscheinen nicht nur in der grammatischen Kombination der Wörter untereinander, sondern auch in der Wortbildung. Man kann die Wortbildung geradezu als den Bereich des Wortschatzes bestimmen, dessen Grundbedeutungen den üblichen grammatischen Bedeutungen ähnlich sind. Die beiden Grundtypen von grammatischen Bedeutungen spiegeln sich formal wieder. Wenn eine Funktion im Satz impliziert ist, ändert sich die Wortkategorie (frz. (être) rond ‚rund (sein)‘ → rondeur ‚Rundheit, Rundung‘). Wenn keine Funktion im Satz impliziert ist, ändert sich die Wortkategorie nicht (frz. rond ‚rund‘ → rondelet ‚rundlich‘). Es sind in der Wortbildungslehre eine Reihe von weiteren Gesichtspunkten in Betracht zu ziehen. Die beiden genannten gehen aber allen anderen voraus. Sie müssen in der Wortbildungsparaphrase zum Ausdruck kommen. Die Analyse sollte immer mit einer solchen Paraphrase beginnen. Dabei ist nicht relevant, ob die Paraphrase ein üblicher Ausdruck in einer Sprache ist, sondern nur ob sie den Unterschied zwischen der Grundlage und dem durch ein Wortbildungsverfahren geschaffenen Wort in einer sehr allgemeinen, aber angemessenen Weise wiedergibt. Frz. rondeur kann man also in sehr allgemeiner Weise mit ‘le fait d’être rond’ paraphrasieren, wie es meist – unabhängig von diesem Beispiel – in Wörterbüchern geschieht. (In Lexis findet sich dafür jedoch die Paraphrase ‘État de ce qui est rond’, die schon etwas mehr als das unbedingt Notwendige enthält.) Dabei benennt ‘le fait de’ nur den substantivischen Charakter der Ableitung und bedeutet nicht einfach ‚Tatsache‘, denn bei einer solchen abstrakten Bedeutungsangabe kann es gar nicht darum gehen, ob etwas eine ‚Tatsache‘ ist oder nicht. Denn eine Tatsache gibt es nur im Diskurs, wenn ein bestimmter Ausschnitt aus der Wirklichkeit auf diese Weise bezeichnet wird. Die beiden Wörter ‘être rond’ beinhalten die Angabe, dass diesem Wortbildungsprodukt das Adjektiv rond in prädikativer Funktion (im Gegensatz zu einer attributiven Funktion wie in table ronde ‚runder Tisch‘) zugrunde liegt. Im Sinne der vorangehenden Bemerkungen werden wir uns auf das Wesentliche beschränken. Dabei gelten folgende Grundsätze: 1. Ein Wort muss durch ein Wortbildungsverfahren zustande gekommen sein. Dadurch werden grammatische Verfahren, die zur wiederholten Rede gehören (2.3.1.4), und Entlehnungen ausgeschlossen. 2. Ein durch ein Wortbildungsverfahren zustande gekommenes Wort muss synchronisch in der jeweiligen romanischen Sprache analysierbar sein. Dadurch werden Zeichenkombinationen ausgeschlossen, die in einer anderen Sprache analysierbar sind, z. B. im Lateinischen (con-cev-oir, cf. concipere; re-cev-oir, cf. recipere), bzw. etymologisch als Wortbildungsprodukte rekonstruiert werden (z. B. frz. aubépine ‚Weißdorn‘ < alba spina, soleil ‚Sonne‘ < *soliculum). 3. Die Folge der synchronischen Analysierbarkeit ist, dass ein Wortbildungsprodukt in Einheiten mit Form und Inhalt analysierbar sein muss.
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4. Die Inhalte werden paraphrasiert. Die Paraphrasen sind von zwei Arten: Sie explizitieren zum einen die Wortbildungsbedeutung, zum anderen die Wortschatzbedeutung oder lexikalische Bedeutung. Im Folgenden gebe ich ein Schema der Haupttypen der romanischen Wortbildung aus inhaltlicher Sicht. Unter Paragrammatikalisierung wird die Anwendung eines inhaltlichen Wortbildungsverfahrens verstanden. Der implizierte Terminus Paragrammatik rührt daher, dass die Wortbildung so ähnlich wie die Grammatik funktioniert:
Abb. 2.31: Paragrammatikalisierung
Diese Typen sollen kurz charakterisiert werden. 2.3.2.1 Transposition Der erste Bereich der Wortbildung, Transposition oder Entwicklung genannt, entspricht denjenigen Wortbildungsbedeutungen, die den grammatischen Bedeutungen mit einer Funktion im Satz analog sind. Sie schließen immer einen Wortkategorienwechsel ein. Deshalb wird dieser Bereich der Wortbildung auch Transkategorisierung genannt. Die Entwicklung setzt die Wortkategorien und ihre universelle Semantik voraus. Die Möglichkeiten des Übergangs von einer Wortkategorie zur anderen sind als solche ebenfalls universell. Im Hinblick auf die Universalsemantik der Wortkategorien sei auf 1.4.5.1 verwiesen.
Konversion Was den materiellen Ausdruck angeht, kann die Entwicklung ausschließlich grammatisch ausgedrückt werden. Dieses Verfahren nennen wir Konversion. Dabei lassen sich verschiedene Formtypen unterscheiden. Der formal einfachste Typ besteht aus einer Konversion ohne jede Flexion:
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frz. sp. kat. pt. it. rum.
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dedans ‚drinnen‘ → le dedans ‚das Innere‘, sin vergüenza ‚ohne Scham‘ → el/la sinvergüenza ‚die unverschämte Person‘, perquè ‚warum‘ → el perquè ‚der Grund‘, porquê ‚warum‘ → o porquê ‚der Grund‘, senza tetto ‚ohne Dach‘ → il senzatetto ‚der Obdachlose‘, frumos ‚schön‘ → frumosul ‚das Schöne‘.
Bei einem weiteren Typ wird ein einziges Monem der Grundlage selegiert. Bei den folgenden Verben ist es das Infinitivmonem, bei den Adjektiven die maskuline oder die feminine Form: frz. sp.
être ‚sein‘ → l’être ‚das Sein‘, belle → la belle ‚die Schöne‘, andar ‚das Gehen‘ → el andar ‚das Gehen‘, revolucionario ‚revolutionär‘ → el revolucionario ‚der Revolutionär‘, kat. parlar ‚sprechen‘ → el parlar ‚das Sprechen‘, pt. falar ‚sprechen‘ → o falar ‚die Sprache, die Mundart‘, escuro ‚dunkel‘ → o escuro ‚das Dunkel‘, it. fare ‚tun‘ → il fare ‚das Tun‘, necessario ‚notwendig‘ → il necessario ‚das Nötige‘, rum. alb ‚weiß‘ → albul ‚das Weiße‘.
Bei einem dritten Typ von Konversion werden die Flexionskategorien der Grundlage durch die Flexionskategorien des Produkts der Konversion ausgetauscht. In den Beispielen wird die Morphologie des Verbs, vertreten durch den Infinitiv des Verbs in der Grundlage, durch die Morphologie des Substantives ersetzt: frz. marcher ‚marschieren‘ → la marche ‚der Marsch‘, sp. hablar ‚sprechen‘ → el habla (f.) ‚die Sprache, die Mundart‘, kat. parlar ‚sprechen‘ → la parla ‚die Sprache, die Sprechweise‘, pt. lutar ‚kämpfen‘ → a luta ‚der Kampf‘, it. qualificare ‚qualifizieren‘ → la qualifica ‚die Qualifizierung‘, rum. a lupta ‚kämpfen‘ → luptǎ ‚Kampf‘.
Die Grundlagen des dritten Typs werden in der Infinitivform zitiert. Das ist aber nur eine Konvention. Gemeint ist das Grundwort mit allen seinen grammatisch variierenden Formen. Die übrigen Entwicklungen sind Suffigierungen. Wir werden Konversion und Suffigierungen bei den einzelnen Verfahren nicht mehr unterscheiden. Verbbildung Die Grundlage einer Verbbildung kann ein Substantiv oder ein Adjektiv in der Funktion eines Subjekts oder Objekts sein oder es liegt eine grammatische Angabe zugrunde, die ein Substantiv oder ein Adjektiv enthält. Die von einer präpositionalen Ergänzung ausgehende Entwicklung ist in allen romanischen Sprachen ein besonders produktives Verfahren. Dabei steht R in den Beispielen für Relationselement. Das hier konkret gemeinte Relationselement ist eine
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Präposition. (Auch Konjunktionen können Relationselemente sein oder Kasusmoneme wie im Rumänischen.) Als Relationselemente verbindet eine Präposition zwei Elemente, die wir A und B nennen: frz.
L’avion (A) se pose à (R) terre (B) ,Das Flugzeug setzt auf dem Boden auf‘ → “L’avion (A) atterrit (RB) (sur la piste)” – ,Das Flugzeug setzt auf der Landebahn auf‘, sp. “poner un dibujo/una pintura (A) en un cuadro (B)” – ‚eine Zeichnung/ein Gemälde in einen Rahmen setzen‘ → encuadrar ‚einrahmen‘, “hacer pedazos (A) de (R) algo (B)” → despedazar ‚zerstückeln‘, kat. posar a la butxaca ‘in die Tasche stecken’ → embutxacar, pt. pôr barro em alguma coisa ‚Lehm auf etwas aufbringen‘ → embarrar ‚mit Lehm verputzen‘, it. mettere in barca ‚in ein Boot setzen‘ → imbarcare, rum. a pune în şir ‚in eine Reihe, nacheinandersetzen‘ → a înşira ‚aufreihen‘.
Grundsätzlich bedeuten die Präpositionen in der Wortbildung dasselbe wie in der Grammatik. Eine Änderung gegenüber der Grammatik ergibt sich vor allem aber daraus, dass in der Wortbildung nicht nur die übliche Elementenfolge RB existiert, sondern auch RA und daraus, dass die Bedeutung der Präpositionen in der Wortbildung allgemeiner als in der Grammatik ist. Die zweitgenannte Folge spiegelt sich nicht in der lexikographischen Definition wider. Moliner (1981: s. v.) definiert despedazar etwa als ‘partir una cosa en pedazos’. Das würde eine Form wie *empedazar motivieren, aber nicht despedazar. Im Falle von enrejar ‚vergittern‘ paraphrasiert María Moliner richtig mit ‘poner rejas en algún sitio’ – ‘Gitter an einer Stelle anbringen’. An den Paraphrasen für den Inhalt von Beispielen wie diesen sehen wir, dass man semantisch genau die Elementenfolge der Grundlage rekonstruieren muss. Hingegen erklärt die Darstellung als Parasynthesen, die fast ausschließlich vertreten wird, noch nicht einmal die Morphologie. Die Paraphrasen für Parasynthesen pflegen die von den Vertretern der Parasynthese angenommen formalen Zusammenhänge inhaltlich nicht widerzuspiegeln. Die Annahme einer Parasynthese besagt, dass gleichzeitig ein Suffix und ein Präfix an ein Lexem angefügt werden. Das sind drei Elemente. Die Paraphrase enthält dagegen nur zwei Elemente wie in sp. en-riqu-ec-er, ‘hacer rico’ – ‚reich machen‘ statt ‘convertir en rico’ – ‚in reich verwandeln‘. Es ist schon klar, dass ‘hacer rico’ alltagssprachlich „natürlicher“ ist als ‘convertir en rico’. Es kommt aber nicht auf die Natürlichkeit der Paraphrase an, sondern darauf, ob sie das Verfahren verdeutlicht oder nicht.
Prädikatnominalisierungen bzw. Prädikatnomina Als Beispiel für eine Wortbildungsbedeutung, die einer grammatischen Funktion mit einer Bedeutung im Satz ähnlich ist, gebe ich belleza ‚Schönheit‘, das eine Prädikatfunktion enthält, die man mit ‘el ser bello, -a, -os, -as’ – ‚das Schön-Sein‘ umschreiben kann und so auch frz. beauté, sp. hermosura, kat. bellesa, pt. beleza, it. bellezza, rum. frumuseţe. Auch hier gibt es keine Identität der Prädikatfunktion im Satz mit der
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dieser nur analogen Prädikatfunktion in der Wortbildung, denn wiederum ist diese Bedeutung in der Wortbildung viel allgemeiner. Die im Prädikat eines Satzes enthaltene Aktualität, die im Tempus, im Modus, in der Person und weiteren aktualisierenden Kategorien zum Ausdruck kommt, fehlt der Prädikatfunktion in der Wortbildung, die daher leichter negativ als positiv zu bestimmen ist. Diesen Wortbildungstyp nenne ich Prädikatnominalisierung oder Prädikatnomina (Lüdtke 1978a). Einer der älteren Termini dafür war Abstrakta, der aber zu unspezifisch ist, da er auch Substantive einschließt, die keine Wortbildungen sind, z. B. frz. paix ‚Friede‘, it. silenzio ‚Stille, Schweigen‘. Den Prädikatnominalisierungen liegen Verben, Adjektive und Substantive zugrunde.
Deverbale Prädikatnominalisierung frz. sp. kat. pt. it. rum.
niveler ‚nivellieren‘ → nivellement ‚Nivellierung‘, acercar(se) ‚(sich) nähern‘ → acercamiento ‚Annäherung‘, aclarir ‚erläutern‘ → el aclariment ‚die Erläuterung‘, mover(-se) ‚(sich) bewegen‘ → movimento ‚Bewegung‘, ridere ‚lachen‘ → riso ‚Lachen‘, a pleca ‚weggehen‘ → plecarea ‚der Weggang, die Abfahrt‘.
Deadjektivische Prädikatnominalisierung frz. sp. kat. pt. it. rum.
être juste ‚richtig sein‘ → justesse ‚Richtigkeit‘, ser bueno ‚gut sein‘ → bondad ‚Güte‘, (és)ser gran ‚groß sein‘ → grandesa ‚Größe‘, ser surdo ‚taub sein‘ → surdez ‚Taubheit‘, essere duro ‚hart sein‘ → durezza ‚Härte‘, a fi sărac ‚arm sein‘ → sărăcie ‚Armut‘.
Desubstantivische Prädikatnominalisierung frz. sp. kat. pt. it. rum.
être président ‚Präsident sein‘ → présidence ‚Präsidentschaft‘, ser novios ‚befreundet sein, eine Beziehung haben‘ → noviazgo ‚Beziehung‘, degà, -ana ‚Dekan, -in‘ → deganat ‚Dekanat‘, ser professor ‚Lehrer, Professor sein‘ → professorado ‚Lehramt, Professur‘, essere pontefice ‚Pontifex, Papst sein‘ → pontificato ‚Pontifikat‘, a fi copil, copilă ‚Junge, Mädchen sein‘ → copilărie ‚Kindheit‘.
Die Adjektive des Typs trabajador sind wegen ihrer formalen Eigenschaften als „deverbale Adjektive“ bekannt. Eine eher wortbildungssemantische Charakterisierung bestünde darin, sie „subjektbezogene Adjektive“ zu nennen. Die von Substantiven abgeleiteten Adjektive heißen Relationsadjektive, z.B frz. présidentiel, sp. it. planetario.
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2.3.2.2 Wortzusammensetzung Generische Zusammensetzung bzw. -komposition Verb + ‚Person‘ oder ‚Sache‘ Wir hatten gesehen, dass neben dem Prädikat dem Subjekt das größte Gewicht im Satz zukommt (2.3.1.1). Daher ist es nicht überraschend, dass sehr viele Verben Ableitungen haben, die das Subjekt mit einem Prädikat kombinieren, z. B. frz. travailleur ‘(celui) qui travaille’, it. lavoratore ‘(colui) che lavora’, sp. trabajador ‘(el) que trabaja’ – ‚(derjenige,) der arbeitet‘. Mit einer Paraphrase wie ‘(el) que trabaja’ versucht man, den allgemeinen Inhalt dieser Wortbildung wiederzugeben. Die Paraphrasenversion ohne Klammern steht dabei für das Adjektiv, ‘el que trabaja’ dagegen für das Substantiv. Auch in diesem Fall gibt man mit der Paraphrase nur eine relativ allgemeine Wortbildungsbedeutung wieder, nicht dagegen die lexikalische Bedeutung. Dies wird offensichtlich, wenn wir den Ausdruck el que trabaja mit trabajador Sb. vergleichen: Nicht jeder, der arbeitet, ist ein Arbeiter. Substantive wie trabajador nennt man mit einem älteren Terminus Nomina agentis, der sich auf das mit solchen Substantiven Bezeichnete bezieht. frz. travailler ‚arbeiten‘ → travailleur ‚Arbeiter‘, diriger ‚leiten‘ → dirigeant ‚Leiter‘, sp. trabajar → trabajador, estimular ‚stimulieren’ → estimulante ‚Stimulans‘, kat. treballar → treballador, pt. vender ‚verkaufen‘ → vendedor ‚Verkäufer‘, it. lavorare ‚arbeiten‘ → lavoratore ‚Arbeiter‘, rum. a cumpăra ‚kaufen‘ → cumpărător ‚Käufer‘.
Die Relationskomposita entsprechen ziemlich genau den Relationsadjektiven. Während diese sich aber immer an ihr Bezugssubstantiv „anlehnen“, enthalten die Relationskomposita immer eine Beziehung zwischen der Grundlage und dem Kompositum, das aus der Grundlage und einem allgemeinen Inhaltselement besteht, das für „Person“ oder „Sache“ steht. Die folgenden Beispiele beziehen sich auf Personen: frz. sp. kat. pt. it. rum.
caisse ‚Kasse‘ + ‘quelqu’un’ → caissier ‚Kassierer‘, mina ‚Grube‘ + ‘alguien’ → minero ‚Bergmann‘, capsa ‚Schachtel‘ + ‘algú’→ capser ‚Schachtelhersteller‘, pastel ‚Kuchen‘ + ‘alguém’ → pasteleiro ‚Konditor‘, barba ‚Bart‘ + ‘qualcuno’ → barbiere ‚Herrenfrisör‘, bucate ‚Speisen‘ + ‘cineva’ → bucătar ‚Koch‘.
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2 Die Einzelsprache
Die Lexemzusammensetzung bzw. – komposition wird im Allgemeinen als die eigentliche Wortzusammensetzung betrachtet. Ich gebe Beispiele für Fälle, die für einfach gehalten werden. frz. sp. kat. pt. it. rum.
homme ‚Mann‘ + grenouille ‚Frosch‘ → homme-grenouille ‚Froschmann‘, boca ‚Mund‘ + calle ‚Straße‘ → bocacalle ‚Straßeneinmündung‘, vagó ‚Wagen‘ → vagó llit ‚Schlafwagen‘, edifício ‚Gebäude‘ + garagem ‚Garage‘ → edifício-garagem ‚Parkhaus‘, parola ‚Wort‘ + chiave ‚Schlüssel‘ → parola chiave ‚Schlüsselwort‘, redactor ‚Redakteur‘ + şef ‚Chef‘ → redactor -şef ‚Chefredakteur‘.
Diese Fälle können deshalb als einfach gelten, weil sie alle einer Determinatum-Determinans-Struktur entsprechen. Dies ist die übliche Abfolge der Elemente in den romanischen Sprachen, während die umgekehrte Folge darauf hinweist, dass der Typ aus einer anderen Sprache, meist dem Englischen oder dem Deutschen, entlehnt worden ist (wie frz. autoroute). 2.3.2.3 Modifizierung Die Wortbildungsverfahren, deren Bedeutung einer Bedeutung ohne Funktion im Satz entspricht, gehören der Modifizierung an. Wortkategorie der Grundlage und Wortkategorie der Ableitung ändern sich nicht. Eben weil die Wortkategorie und die allgemeinen Bestimmungen sich nicht ändern, hatten wir diese Verfahren inaktuell genannt. Darunter sind zu nennen:
Femininbildung oder Motion frz. sp. kat. pt. it. rum.
lion ‚Löwe‘ → lionne ‚Löwin‘, hijo → hija, fill → filla, filho → filha, figlio → figlia, copil ‚Kind, Junge‘ → copilă ‚Mädchen‘.
Kollektivbildung frz. sp. kat. pt. it. rum.
rosier ‚Rosenstrauch‘ → roseraie ‚Rosengarten‘, olivo ‚Ölbaum‘ → olivar „Ölbaumpflanzung‘, faig ‚Buche‘ → fageda ‚Buchenwald‘, corda ‚Tau‘ → cordame ‚Takelwerk‘, foglio ‚Blatt‘ → fogliame ‚Laub‘, student ‚Student‘ → studenţime ‚Studentenschaft‘.
2.3 Inhalt
249
Die Diminutivbildung (oder Diminutivierung), als Verkleinerung verstanden, bildet zusammen mit der Augmentativbildung, der Vergrößerung, einen eigenen Bereich. Beide sind typische Bedeutungen, die keiner Funktion im Satz ähnlich sind. Sie ist etwa in frz. maisonnette, it. casetta, sp. casita ‚Häuschen‘ gegeben; -ette, -etta, -it- entsprechen hier einer Bestimmung eines Substantivs durch ein Adjektiv bzw. sind einer Bestimmung eines Substantivs durch ein Adjektiv analog. Im Gegensatz aber zu petite maison, casa piccola, casa pequeña erfassen maisonnette, casetta, casita einen lexikalischen Inhalt als etwas Einheitliches. Zugleich ist casita in seiner Bedeutung allgemeiner als casa pequeña. Wie im Deutschen können auch Verben diminutiviert werden: frz. voler ‚fliegen‘ → voleter ‚flattern‘, it. piegare ‚falten‘ → pieghettare ‚fälteln‘. Im Gegensatz zum Deutschen gehen die Möglichkeiten der Diminutivierung in den romanischen Sprachen sehr viel weiter. Sie erfassen auch Adjektive, z. B. frz. rondelet ‚rundlich‘, it. piccolino‚ ganz klein‘, sp. bajito ‚etwas klein, etwas niedrig‘, wobei -it- einer adverbialen Bestimmung zu bajo entsprechen würde, ferner Adverben wie besonders im amerikanischen Spanisch verwendetes ahorita ‚gleich, sofort‘, das der adverbialen Bestimmung des Adverbs ahora ‚jetzt‘ analog wäre, und sogar ein Gerundium wie callandito ‚ganz leise‘, abgeleitet von callando ‚schweigend‘. frz. maison ‚Haus‘ → maisonnette ‚Häuschen‘, voler ‚fliegen‘ → voleter ‚flattern‘, sp. mano ‚Hand‘ → manita ‚Händchen‘, kat. casa → caseta, pt. casa → casinha, it. casa → casetta, rum. casă → căsuţă.
Augmentativbildung oder Augmentivierung sp. kat. pt. it. rum.
mano ‚Haus‘ → manaza ‚große Hand, Pranke‘, home ‚Mann‘ → homenàs ‚großer Mann‘, animal ‚Tier‘ → animalaço ‚großes Tier‘, naso ‚Nase‘ → nasone ‚große Nase‘, casă ‚Haus‘ → căsoaie ‚großes Haus‘.
Intensivierung frz. sp. kat. pt. it. rum.
riche ‚reich‘ → richissime ‚steinreich‘, usado ‚abgenutzt‘ → requeteusado ‚abgedroschen‘, bo ‚gut‘ → boníssim ‚sehr gut‘, bom ‚gut‘ → boníssimo ‚sehr gut‘,
alto ‚hoch‘ → altissimo ‚sehr hoch‘, vechi ‚alt‘ → străvechi ‚uralt‘.
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2 Die Einzelsprache
Negierung frz. sp. kat. pt. it. rum.
stable ‚stabil, beständig‘ → instable ‚unbeständig‘, fiel ‚treu‘ → infiel ‚untreu‘, precís ‚genau‘ → imprecís ‚ungenau‘, leal ‚treu‘ → desleal ‚untreu, unloyal‘, piacevole ‚angenehm‘ → spiacevole ‚unangenehm‘, clar → neclar ‚unklar, konfus‘.
Wiederholung frz. sp. kat. pt. it. rum.
peser ‚wiegen‘ → repeser ‚nachwiegen‘, examinar ‚prüfen‘ → reexaminar ‚noch einmal prüfen‘, embarcar ‚einschiffen‘ → reembarcar ‚wieder einschiffen‘, fazer → refazer ‚noch einmal machen‘, fare ‚machen, tun‘ → rifare ‚neu machen‘, a citi ‚lesen‘ → a răsciti ‚wieder und wieder lesen‘ (mehrfache Wiederholung).
Situierung
frz. voler → survoler ‚überfliegen‘, pilote ‚Pilot‘ → copilote ‚Kopilot‘, sp. dominar ‚herrschen‘ → predominar ‚vorherrschen‘, kat. posar ‚setzen, stellen, legen‘ → anteposar ‚voranstellen‘, pt. meter ‚hineinbringen‘ → entremeter ‚einfügen‘, it. annunciare ‚ankündigen‘ → preannunciare ‚vorankündigen‘, pasto ‚Mahlzeit‘ → antipasto ‚Vorspeise‘, rum. a pune ‚setzen, stellen, legen‘ → a interpune ‚einfügen‘ (meist reflexiv).
Bibliographischer Kommentar
Mit diesem Kapitel fasse ich Lüdtke 2005 und 2011 (romanische Sprachen, diachronisch und synchronisch) zusammen; dort findet sich die weitere Bibliographie zur Wortbildung, woraus ich hier einen Auszug gebe. Die Erforschung der Wortbildung in den romanischen Einzelsprachen ist sehr ungleich, was sich nur zum Teil in den folgenden Angaben widerspiegelt. Französisch: Darmesteter 1877 (wichtig für die weitere Entwicklung der Disziplin), Meyer-Lübke 21966, Gauger 1971, Corbin (éd.) 1991, Weidenbusch 1993 (Präfigierung), Dubois/Dubois-Charlier 1999 (Suffixe); Spanisch: García-Medall 1995 (Bibliographie), Gauger 1971, Varela (ed.) 1993, Rainer 1993, Almela Pérez 1999, Bosque/Demonte (dirigiga por) 1999: III: 4505–4841, Pharies 2003 (Etymologie der Suffixe und anderer Elemente), Czerwenka 2009, NGLE I: 337–788; Katalanisch: Blasco Ferrer 1984a, Cabré/Rigau 1986, Mascaró 1986, Cabré 2002: 731–775 (Ableitung), Gràcia 2002: 777–827 (Komposition), Cabré Monné 2002a: 889–932 (sonstige Wortbildungsverfahren), Rull 2004 (Gesamtdarstellung); Portugiesisch: Sandmann 1986 und 1989, Vilela 1994: 51–125; Italienisch: Rohlfs 1954: III und 1969: III (diachronisch), Dardano 1978, Schwarze 21995: 425–543, Grossmann/Rainer (a cura di) 2004; Rumänisch: Ciobanu/Hasan 1970 (Komposition), Avram et al. (Präfixe), Vasiliu 31989 (Suffixe).
2.3 Inhalt
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2.3.3 Wortinhalt Die Untersuchung der einzelsprachlichen Semantik liegt im Argen. Der am weitesten entwickelte Zugang dazu waren die verschiedenen Richtungen der strukturellen Semantik. Nach hoffnungsvollen Anfängen in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts scheint das Interesse heute nahezu erloschen zu sein, es ist aber nichts an ihre Stelle getreten. Häufig wird Kritik an der strukturellen Semantik geäußert, aber aus der Perspektive einer unzulänglichen Information. Sie ist auch in der Hinsicht einseitig, dass kein Versuch einer wirklichen Würdigung unternommen wird, sondern die Kritik nur der Hintergrund für die Einführung des favorisierten eigenen Ansatzes ist. In der Semantik sollte man sich mehr als in anderen Bereichen der Sprache dessen bewusst sein, dass der Wortschatz eine interne Gliederung hat, die nicht unterschlagen werden darf. Wenn man dann an die konkrete Untersuchung des Wortschatzes herangeht, muss man genau wissen, um welche Art von Wortschatzbereich es geht und welche Methode diesem Wortschatzbereich angemessen ist. Die verschiedenen Formen der Universalsemantik, die an sich ihre volle Berechtigung haben, sind kein Ersatz für eine einzelsprachlich-funktionelle Untersuchung. Deshalb sollen einige immer noch nicht abgegoltene Grundgedanken der einzelsprachlichen Semantik dargestellt werden. Die Entwicklung begann recht früh. Im 18. Jahrhundert versuchte der Abbé Gabriel Girard (1677–1748) in La justesse de la langue françoise, ou les différentes significations des mots qui passent pour sinonimes (1718), in der zweiten und dritten Auflage Synonymes françois, leurs significations et le choix qu’il en faut faire pour parler avec justesse (1736, 1740) genannt, die Wörter mit ähnlicher Bedeutung, die Synonyme, zu differenzieren (Girard 101753; dazu Gauger 1973). Bei der Synonymie unterscheidet man zwei Grundtypen. Beim einen nimmt man Identität des einen mit dem anderen signifié an, beim anderen eine Ähnlichkeit zwischen zwei oder mehr signifiés. Für Girard gibt es keine eigentlichen Synonyme mit Identität der signifiés, er betrachtet die feinen Unterschiede zwischen den Wörtern. Der Hintergrund der Entwicklung der Lehre von der Synonymie ist die sehr restriktive Selektion der Norm des 17. Jahrhunderts. Wie jede bedeutende Kultursprache hat das Französische einen reichen Wortschatz. Die von Vaugelas und vor allem seinen Nachfolgern vertretene Selektion im bon usage führte dagegen zu einer Beschränkung im Wortschatz des honnête homme, die im 18. Jahrhundert bereits traditionell geworden war. Diese traditionelle Norm wurde von Girard festgehalten und reflektiert. Seine Lehre von den Synonymen bezieht sich immer noch auf die gesprochene Sprache. Den Zusammenhang zwischen idées und Wörtern stellt Girard sich auf folgende Weise vor: “Les Idées sont les simples images des choses: mais étant intérieures et spirituelles, il a falu, pour les faire paroitre au dehors des corps: ce qu’on a exécuté par l’établissement des mots” (Les Vrais Principes, premier discours; Girard 1982).
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2 Die Einzelsprache
,Die Vorstellungen sind einfache Abbilder der Dinge. Da sie aber innerlich und geistig sind, hat man Körper gebraucht, um sie nach außen in Erscheinung treten zu lassen. Das hat man mit den Wörtern geleistet.‘
Bei den Synonymen gibt es einen gemeinsamen Kern in der Darstellung des Gemeinten, des “objet” oder der “idée générale”. Daneben bestehen Unterschiede, die durch Synonyme erfasst werden. Diesen Synonymen entsprechen die “idées accessoires”: “la différence délicate des synonymes, c’est-à-dire le caractère singulier de ces mots qui se ressemblent comme freres par une idée commune, sont néanmoins distingués l’un de l’autre par quelque idée accessoire et particulière à chacun d’eux.” “La ressemblance que produit l’idée générale fait donc les mots synonymes; et la différence qui vient de l’idée particulière qui accompagne la générale fait qu’ils ne le sont pas parfaitement” (Synonymes, Girard 101753, Préface). ,der feine Unterschied zwischen den Synonymen, d. h. das Besondere dieser Wörter, die sich durch eine gemeinsame Vorstellung wie ein Bruder dem anderen gleichen, sind gleichwohl voneinander durch eine zusätzliche und jedem von ihnen eigenen Vorstellung verschieden.‘ ,Die Ähnlichkeit, welche die allgemeine Vorstellung bewirkt, macht also die Wörter zu Synonymen. Und der von der spezifischen Vorstellung herrührende Unterschied, der die allgemeine begleitet, macht sie zu unvollkommenen Synonymen.‘
Girard behandelt weniger die Unterschiede zwischen den signifiés als zwischen dem, was mit den Wörtern im Wissen der Sprecher bezeichnet wird. Er grenzt also Wörter im Hinblick auf die von den Sprechern gemeinten Typen von Gegenständen und Sachverhalten ab und wählt dann Beispiele für diese Abgrenzungen. Insofern verbindet sich bei ihm eine Betrachtung des signifié mit dem Bezeichneten (oder ein intensionaler Bedeutungsbegriff mit einem extensionalen) (cf. Gauger 1973). Er tut dies im Hinblick auf ein und dieselbe Varietät. Andere Auffassungen von Synonymie behandelt er nicht. Betrachten wir als Beispiel den Unterschied zwischen demeurer und rester: “L’idée commune à ces deux mots est de ne se point en aller: & leur différence consiste en ce que Demeurer ne présente que cette idée simple & générale de ne pas quitter le lieu où l’on est; & que Rester a de plus une idée accessoire de laisser aller les autres. Il faut être hypocondre pour demeurer toujours chez soi sans compagnie & sans occupation. Il y a des femmes qui ont la politique de rester les dernières aux cercles, pour dispenser les autres de médire d’elles. Il paroît aussi que le second de ces mots convient mieux dans les occasions où il y a une nécessité indispensable de ne pas bouger de l’endroit; & que le premier figure bien où il y a pleine liberté. Ainsi l’on dit, Que la sentinelle reste à son poste, & que le dévot demeure longtemps à l’église” (Gauger 1973: 118). ‚Die diesen beiden Wörtern gemeinsame Vorstellung ist ‚nicht weggehen‘ und ihr Unterschied besteht darin, dass demeurer nur die einfache und allgemeine Vorstellung darbietet, den Ort, an
2.3 Inhalt
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dem man ist, nicht zu verlassen, und dass rester dazu noch die zusätzliche Vorstellung beinhaltet, die anderen gehen zu lassen. Man muss schon ein Hypochonder sein, wenn man immer zuhause ohne Gesellschaft und ohne Beschäftigung bleibt. Es gibt Frauen, die es sich zur Verhaltensmaxime gemacht haben, in Gesellschaften bis zum Schluss zu bleiben, um es den anderen zu ersparen, ihnen übel nachzureden. Es scheint, dass das zweite dieser Wörter besser bei den Gelegenheiten passt, in denen es unbedingt notwendig ist, nicht von der Stelle zu weichen, und dass das erste dort angebracht ist, wo völlige Freiheit herrscht. So sagt man, dass die Wache auf ihrem Posten bleibt und dass der Andächtige lange in der Kirche verweilt.‘
In diesem Sinne untersucht Girard die Unterschiede bedeutungsähnlicher Wörter, da er wie die Linguisten der Gegenwart der Meinung ist, dass es keine völlig bedeutungsgleichen Wörter gibt. Der darin liegende Grundgedanke der semantischen Differenzierung des Wortschatzes nach Wortfeldern wird erst lange nach ihm fruchtbar. In der Zwischenzeit aber gibt es eine ununterbrochene Tradition von Synonymielehren, die sich in allen großen Sprachgemeinschaften entwickelt hat. Zu den Synonymen kommen die Antonyme hinzu, die ebenfalls in Spezialwörterbüchern gesammelt werden.
Polysemie Die Synonymie besteht in einem geringen semantischen Unterschied zwischen lexikalischen Sprachzeichen. Polysemie ist demgegenüber die Tatsache, dass ein signifiant mehrere signifiés hat. Diese werden als Diskursbedeutungstypen ein und desselben Sprachzeichens betrachtet. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt Homonymie vor. Betrachtet man die Beispiele demeurer und rester beim Abbé Girard genauer, so zeigt sich, dass er die Polysemie dieser Verben ausgeklammert hat und sich nur auf ein einziges signifié bei jedem Verb bezieht. In der Tat ist anders eine Untersuchung dieser Verben als Synonyme nicht möglich. Wenn wir im Weiteren Bedeutungen besprechen, stützen wir uns vorzugsweise auf Wörterbücher. Die Wörterbuchdefinitionen zeigen, dass die Lexikographen das Problem der Zusammenhänge im Wortschatz kennen und ihre Definitionen relationell vornehmen. Sie beschreiben den Inhalt der Wörter nicht nur in Beziehung zu dem, was sie bezeichnen, sondern auch in Beziehung zu ähnlichen oder entgegengesetzten Bedeutungen von Wörtern, d. h. zu Synonymen und Antonymen. Da das Problem der Relationen im Wortschatz schon lange bekannt ist, kann man sich auf Grund der Wörterbuchdefinitionen Beschreibungen einzelner Wortschatzbereiche selbst entwerfen. Aus diesem praktischen Grund zitiere ich lexikographische Definitionen und nicht so sehr oder ausschließlich Fachliteratur im engeren Sinne. Betrachten wir als Beispiele für Polysemie sp. bueno ,gut‘ und malo ,schlecht, böse‘. Diese Adjektive stehen als antonymische Adjektive in polarer Opposition zueinander. Als Grundlage nehmen wir die Bedeutungsangaben des DEUM, berücksichtigen aber nicht die lexikalisierten Verwendungen:
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2 Die Einzelsprache
bueno I 1 Que se inclina hacia el bien, que es valioso, bondadoso o sincero 2 Que es conveniente, beneficioso, útil, correcto para algo o alguien II 2 Que tiene valor o calidad, que hace bien su trabajo o función 3 Que está en condiciones de usarse III 1 Muy grande, abundante, importante o intenso IV Que es agradable, placentero, positivo o causa alegría malo 1 Que destruye, es injusto o se opone a la vida; que tiene intención de actuar de esa manera 2 Que es contrario a lo establecido en un momento dado, que se opone a lo que se considera justo o deseable 3 Que hace daño, que resulta inconveniente, desagradable, desafortunado, incompleto, etc para algo o para alguien 4 Que es de menor calidad que la debida, conveniente o deseada
Zu diesen Diskursbedeutungstypen gehören Beispiele, die die Bedeutungen belegen. Auf den ersten Blick weisen die Bedeutungsangaben eine so beträchtliche Heterogenität auf, dass etwas Gemeinsames kaum festzustellen ist. Bezieht man aber die Beispiele mit ein, so stehen die Bedeutungsspezialisierungen im Zusammenhang mit den Substantiven, die bueno und malo bestimmen. In der jeweils ersten angegebenen Bedeutung finden wir als Beispiele buena voluntad ,guter Wille‘, mala voluntad ,böser Wille‘, buena persona ,guter Mensch‘, mala persona ,schlechter Mensch‘. Die anderen Bedeutungen sind aber trotz der Gegensatzrelation nicht aufeinander bezogen. Aber damit steht dieses Wörterbuch nicht allein. Für eine Bedeutungsdifferenzierung brauchen wir eine Differenzierung der Substantive oder Ausdrücke überhaupt, mit denen bueno und malo kombiniert werden. Es scheint keine Beschränkung zu geben, denn diese Adjektive bestimmen sogar Sätze: “Será bueno evitar que la paciente sufra un susto” ,Es wird gut sein zu vermeiden, dass die Patientin einen Schrecken erleidet‘, “Era malo que las mujeres fueran a la universidad” ,Es war schlecht angesehen, dass Frauen studieren‘. In 1.4.3 hatten wir eine Klassifikation von Sachverhalten nach Gesichtspunkten des Bezeichneten gegeben. Nunmehr kommen wir auf diese Fragen im Rahmen der Grammatik und des Wortschatzes zurück. Substantive (und Sachverhalte, von denen wir im Folgenden aber meist absehen werden) gehören Klassen an. Eine Klasse von substantivischen Lexemen kann das Merkmal ‚nicht belebt‘ oder ‚belebt‘ gemeinsam haben. Bei ‚nicht belebt‘ sind ‚Gegenstand‘ und ‚Sachverhalt‘ zu unterscheiden, wobei wir ‚Sachverhalt‘ als Entität wie in 1.4.3 weiter differenzieren können. Ein ‚Gegenstand‘ kann das Merkmal ‚Person‘ oder ‚Nicht-Person‘ haben, eine ‚Nicht-Person‘ kann ‚belebt‘ sein oder ‚nicht belebt‘, ‚belebt‘ wiederum ist das Merkmal für ein ‚Tier‘ oder eine ‚Pflanze‘. Schematisch:
2.3 Inhalt
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Abb. 2.32: Merkmale von Klassen von Gegenständen bzw. Entitäten
Ein Merkmal, das einer ‚Klasse‘ gemeinsam ist, ist ein ‚Klassem‘. Ein Klassem funktioniert nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Grammatik. Dies lässt sich etwa mit der Verwendung der Pronomina, besonders der Personalpronomina zeigen. Die klassematische Unbestimmtheit bringt eine Vielfalt von Diskursbedeutungen mit sich. Klassematisch sind buena impresión ,guter Eindruck‘, buena cosecha ,gute Ernte‘, mala digestión ,schlechte Verdauung‘, clima malo ,schlechtes Klima‘ als Sachverhalte bestimmt, buenos zapatos ,gute Schuhe‘, mala novela ,schlechter Roman‘ als Gegenstände und buena amiga ,gute Freundin‘, mala persona ,schlechter Mensch‘ als Personen. Dazu kommt, dass sich von Fall zu Fall weitere Bestimmungen ergeben, die ohne diese Adjektive nicht vorkommen. Buenos zapatos sind gut zum Laufen, ein clima malo wird deswegen so genannt, weil man in einem solchen Klima schlecht lebt, eine amiga muss nur buena sein im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Freundin. Was sich als Polysemie darstellt, sind signifiés, die bei einem Lexem vorkommen und die sich im diskutierten Fall je nach Klassem und nach Gruppen von kombinierten substantivischen Lexemen verschieden realisieren. Die Adjektive bueno und malo beinhalten ansonsten eine große semantische Einheit. Diese erfassen wir mit dem Merkmal ‚positive Einschätzung‘ bzw. ‚nicht positive Einschätzung‘. Da sich keine Differenzierung nach Klassen ergibt, fügen wir als Merkmal ‚für alle Klassen‘ hinzu. Nicht obligatorisch ist das Merkmal ‚für einen bestimmten Zweck‘. Für jede der einzelnen Bedeutungsangaben hat man ferner Synonyme, die das Wortfeld noch differenzierter ausgestalten. Sie sind nicht berücksichtigt worden. Die Polysemie von bueno und malo ergibt sich aus der Kombination mit verschiedenen Typen von Substantiven. Von Normunterschieden abgesehen, verhalten sich die anderen romanischen Sprachen ähnlich. Polysemie kommt aber noch auf andere Weise zustande. Betrachten wir frz. clair ,hell‘ – obscur ,dunkel‘/sombre ,finster‘ und dur ,hart‘ – tendre ,zart‘/mou ,weich‘. Man vergleiche damit sp. claro – oscuro, it. chiaro – scuro mit ihren jeweiligen Synonymen. Wir geben zuerst wieder einen Überblick über die Diskursbedeutungstypen, wie sie in einem Gebrauchswörterbuch des Französischen verzeichnet werden. Es ist wichtig, dass man sich auf diesen Typ von Wörterbuch stützt und nicht auf eine Kodifizierung des Sprachgebrauchs aus mehreren Jahrhunderten und zahlreichen Sprachstilen, da diese Untersuchungsgrundlage zu heterogen wäre. Man braucht einen mög-
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2 Die Einzelsprache
lichst einheitlichen Sprachgebrauch als Grundlage der Untersuchung. Der DFC erfüllt diese Anforderungen und enthält die folgenden Angaben zu clair – obscur/sombre: clair 1o Qui répand ou qui reçoit beaucoup de lumière 2o D’une couleur peu marquée ; qui a plus d’analogie avec le blanc qu’avec le noir 3o Qui laisse passer les rayons lumineux, qui permet de voir distinctement 4o Peu épais, peu consistant 5o Son clair, son qui est distinct, bien timbré […] ; qui a une certaine hauteur dans la gamme 6o Se dit d’une chose ou du comportement d’une personne qui a une signification, un sens nettement intelligible 7o Se dit d’une personne qui comprend rapidement et qui se fait nettement comprendre obscur 1o Se dit d’un lieu qui est mal éclairé, privé de lumière, qui n’est pas lumineux 2o Se dit d’une pensée, d’une personne que l’on comprend difficilement 3o Se dit de quelqu’un (ou de son rôle) qui reste inconnu, peu célèbre sombre 1o (après le nom) Se dit d’un lieu peu éclairé 2o (après le nom) Se dit d’une couleur qui tire sur le noir 3o Se dit d’une personne dont l’attitude exprime la tristesse, la mélancolie, l’inquiétude 4o (avant ou après le nom) Se dit de ce qui est inquiétant, menaçant
Die Adjektive stehen in polarer Opposition zueinander. Clair steht den beiden Adjektiven obscur und sombre gegenüber, was sich auch in der größeren Zahl von Diskursbedeutungstypen ausdrückt. Die Bedeutungsangaben haben bei clair als Grundlage das Merkmal ‚mit Licht‘. Dazu kommt das Merkmal in 2o ‚mit Farbe‘, in 3o ‚durchlässig (für Licht)‘. In 4o liegt eine Übertragung von der Helligkeit an sich auf die Helligkeit von Gegenständen vor wie das Beispiel sauce claire ,helle Sauce‘ zeigt, so auch auf Töne in 5o, auf Verständlichkeit in 6o und auf den Verstand in 7o. Die darin enthaltenen Metaphorisierungsprozesse sind häufig. Sie bestehen in der Übertragung einer Art von Sinneswahrnehmung auf eine andere Art von Sinneswahrnehmung, in unserem Fall vom Gesicht auf das Gehör. Vom Gesicht und vom Gehör geht 6o zur geistigen Wahrnehmung über und 7o enthält eine geistige Eigenschaft mit dem Klassem ‚für Personen‘. Bei obscur mit dem Merkmal ‚ohne Licht‘ liegt eine Übertragung auf die Verständlichkeit der Manifestationen einer Person und auf den Bekanntheitsgrad oder Status einer Person vor. Im Unterschied dazu wird bei sombre das Merkmal ‚ohne Licht‘ auf Farbe, auf Gemütszustände und die Verursachung von Gemütszuständen übertragen. Die von dur – tendre/mou ausgehenden Metaphorisierungsprozesse sind anders gelagert, weil deren Grundlage der Tastsinn ist. Wieder bietet sich ein Vergleich mit sp. duro – tierno/blando/delicado, it. duro – tenero/delicato/morbido/molle mit ihren weiteren Synonymen an.
2.3 Inhalt
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dur 1o Se dit de ce qui a une consistance ferme, résistante 2o Se dit de ce qui demande un effort physique ou intellectuel 3o Se dit de ce qui est pénible, désagréable aux sens 4o Se dit de ce qui impose une contrainte, de ce qui affecte péniblement 5o Se dit d’une personne qui supporte fermement la fatigue, la douleur 6o Se dit d’une personne qui ne se laisse pas émouvoir, attendrir, qui est sans bonté tendre1 1o Se dit d’une chose qui se laisse facilement entamer, couper 2o Qui ne résiste pas sous la dent, facile à mâcher 3o La tendre enfance tendre2 1o Se dit d’une personne accessible à l’amitié, à la compassion, à l’amour Qui manifeste de l’affection, de l’attachement mou 1o (après le nom) Qui cède facilement au toucher, qui manque de fermeté 2o (après le nom) Qui manque de rigidité, qui plie facilement 3o (souvent avant le nom) Qui a de la souplesse, de la douceur 4o (après le nom) Qui manque de force 5o (après le nom) Qui n’a pas d’énergie, de fermeté morale 6o (avant le nom) Qui manifeste un manque de ténacité, de vigueur
Die Inkonsequenz der Darstellung des DFC bei tendre habe ich gelassen. Die Annahme zweier homophoner Adjektive ist jedoch nicht gerechtfertigt, denn es liegen Übertragungen vor, die denen bei dur analog sind. Auch der klassematische Unterschied ‚für Nicht-Belebtes‘ und ‚für Personen‘ begründet nicht die Annahme, dass wir es mit zwei verschiedenen Lexemen zu tun hätten. Die semantische Dimension, die bei dur – tendre/mou vorliegt, ist die Konsistenz. Es fällt auf, dass das Merkmal ‚mit relativ großer Konsistenz‘ bei dur nicht im Hinblick auf die Merkmale ‚für das Schneiden‘ und ‚für die Zähne‘ wie bei tendre oder ‚für den Tastsinn‘ wie bei mou differenziert wird. Diese ist dagegen, ausgehend von ‚nicht mit relativ großer Konsistenz‘, in tendre/mou enthalten. Von der Konsistenz aus wird bei dur die Übertragung auf Schwierigkeiten (2o) angegeben, die durch körperliche oder geistige Anstrengungen zu überwinden sind, und auf Sinneswahrnehmungen überhaupt, sei es den Gesichtssinn, das Gehör oder den Geschmack (3o). In 4o ist eine Übertragung auf abstrakte Sachverhalte gegeben, in 5o auf die Leistungsfähigkeit einer Person und in 6o auf das Gefühlsleben einer Person. Während tendre nur auf die Gefühlseigenschaften und Gefühlsäußerungen von Personen übertragen wird, gehen die Bedeutungen bei mou von ‚nicht mit relativ großer Konsistenz‘ über zur Eigenschaft ‚biegsam‘, und von dort zum Sichtbaren oder Hörbaren (3o). 1o ist die Grundlage ferner für Abschwächung überhaupt in 4o und für die Übertragung auf eine Eigenschaft einer Person (50) und Manisfestationen dieser Eigenschaft einer Person (60).
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2 Die Einzelsprache
Bei den Oppositionsverhältnissen haben wir nur die Grundlage der Übertragungen berücksichtigt. Die sich durch die Übertragungen ergebenden Diskursbedeutungstypen stehen ihrerseits in Opposition zu anderen Adjektiven, die von Fall zu Fall in Betracht gezogen werden müssen. Die bis hierher diskutierten Adjektive sind nicht nur Fälle von Polysemie, sie bilden auch Wortfelder. Davon wird nun die Rede sein.
Wortfeld Im Deutschen ist die Idee des Wortfelds durch Jost Trier in seinem Buch über Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes (1931) gut eingeführt. Als Terminus hat er Wortfeld aber abgelehnt und „Sinnbezirk“ vorgezogen, wie der Buchtitel zeigt. Die Idee wurde durch die inhaltbezogene Grammatik weiter verbreitet, vor allem durch Leo Weisgerber. Im Spanischen wird meist “campo semántico” und gelegentlich “campo léxico” verwendet, obwohl “campo semántico” eigentlich zu weit gefasst ist, da nicht nur Wörter „semantisch“ sind, sondern auch die Moneme der Grammatik. Diesem Usus folgen it. campo semantico, kat. camp semàntic, rum. câmp semantic. Im Französischen ist champ lexical und im Portugiesischen campo lexical eingeführt. Die zur Hochzeit der strukturellen Semantik am meisten verbreitete Definition von „Wortfeld“ stammt von Coseriu (cf. Lounsbury 1978: 164): „Ein Wortfeld ist eine paradigmatische Struktur, die aus lexikalischen Einheiten besteht, die sich eine gemeinsame Bedeutungszone teilen und in unmittelbarer Opposition zueinander stehen“ (1978a: 261). Das erste Problem bei der Konstruktion eines Wortfelds ist das Finden der Außengrenzen; danach erfolgt die Binnengliederung. Für die Außenabgrenzung kann das Bezeichnete oder der Referent zentral sein oder der “núcleo semántico irreductible” (‚nicht hintergehbarer Bedeutungskern‘, Trujillo 1976: 68). Für das kleine Wortfeld bueno – malo hatten wir die positive oder nicht positive Einschätzung genannt. Dies ist eine Dimension, ein solches Wortfeld ist ein eindimensionales Wortfeld. Der Begriff der Dimension wurde von Lounsbury in die Wortfeldanalyse eingeführt (1978: 165). Auch clair – obscur/sombre und dur – tendre/mou, die wir unter dem Gesichtspunkt der Polysemie betrachtet haben, sind Wortfelder mit wenigen Elementen. Wenn hier französische und spanische Wortfelder skizziert werden, so entspricht diese Einseitigkeit in etwa der Forschungslage.
Tageszeiten Gut abgrenzbar durch seinen semantischen Zentralbereich ist das Wortfeld der Tageszeiten. Sie bestehen im regelmäßigen Wechsel von hell und dunkel in einem Zeitraum von 24 Stunden. Im Französischen funktioniert jour als „Archilexem“, da es sowohl für ‘jour’ + ‘nuit’ stehen kann als auch für ‘jour’ allein. Die Opposition zwischen jour und nuit ist also neutralisierbar. Die übrigen Tageszeiten werden durch die Einschnitte lever du soleil ‚Sonnenaufgang‘, midi ‚Mittag‘ und tombée de la nuit ‚Einbruch der Nacht‘
2.3 Inhalt
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markiert. Das Wortfeld wird in matin, après-midi, soir und nuit eingeteilt. Matin ist nach dem DFC “Temps compris entre le lever du soleil et midi. (On étend parfois le matin au temps compris entre minuit et midi.)”, après-midi “Partie de la journée comprise entre midi et la tombée de la nuit”, soir “Temps compris entre le coucher du soleil et minuit”, nuit “Temps pendant lequel le soleil n’est pas visible en un point de la Terre”. Drei der genannten Lexeme haben eine Entsprechung, die die Dauer markiert: journée, matinée, soirée. Die Dauer ist eine Dimension, die in diesem Wortfeld nur in diesen drei Lexemen einen eigenen Ausdruck hat. Journée kann sich wie jour auf einen Zeitraum von 24 Stunden beziehen und auf die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang. Am Beispiel des Spanischen lässt sich zeigen, dass das Wortfeld der Tageszeiten nicht nur zwischen den romanischen Sprachen verschieden ist, sondern auch eine regionale Differenzierung in einer Einzelsprache aufweist. Día und noche stehen wie im Französischen in einer neutralisierbaren Opposition zueinander. In Spanien sind die Orientierungszeiten einerseits mediodía ‚Mittag‘ und medianoche ‚Mitternacht‘, andererseits amanecer “salir el sol o hacerse de día” und atardecer “acercarse la tarde a su fin”/anochecer “ponerse el sol”. Mañana ‚frühe Morgenstunden, Morgen, Vormittag‘ hat eine weitere und eine engere Ausdehnung, d. h. es ist “parte del día desde la medianoche hasta el mediodía” oder dieser Zeitraum ist unterteilt in madrugada ‚frühe Morgenstunden‘ und mañana. In diesem Fall begreift man madrugada als “primeras horas del día antes de amanecer” und mañana “parte del día desde el amanecer hasta del mediodía o, más frec., hasta la comida del mediodía”. An mañana in der zweiten Verwendung ist zu sehen, dass das Einteilungskriterium “mediodía” mit “comida” in Konflikt gerät, denn sprachlich lässt man “mediodía” und “comida” zusammenfallen, in Wirklichkeit aber liegen “mediodía” und “comida” je nach Region mehrere Stunden auseinander. Dasselbe Problem einer Grenzziehung zwischen den Tageszeiten wiederholt sich bei tarde ‚Nachmittag, früher Abend‘ “parte del día desde el mediodía (esp. desde la hora de comer) hasta el anochecer”. Hier haben wir eine zu mañana komplementäre Grenzziehung zwischen den Tageszeiten. Sie ist umso auffälliger, als sie dem zeitlichen Unterschied zwischen dem Gruß buenos días und buenas tardes entspricht. Und schließlich ist noche ‚Abend, Nacht‘ “tiempo que transcurre desde la puesta del Sol hasta el amanecer”. Aber bei den Grüßen reicht wieder die Zeit von buenas tardes in die Zeit der Dunkelheit hinein, denn buenas noches fällt nicht mit dem Einbruch der Dunkelheit zusammen. Nach dem Zeugnis des DEUM haben wir in Mexiko eine etwas andere Einteilung der Tageszeiten. Wie allgemein bleibt die Neutralisierbarkeit von día und noche; “mediodía” und “media noche”, “amanecer” und “atardecer”/“puesta del Sol”/“anochecer” dienen wiederum der Orientierung in der Abgrenzung der Tageszeiten. Mañana ist “Periodo entre la media noche y el mediodía, especialmente del amanecer al mediodía”; in dieser zweiten Bedeutung steht mañana in Opposition zu madrugada: “Periodo del día comprendido entre la media noche y el amanecer, particularmente las horas más próximas a la salida del Sol”. Im Gegensatz zum Spanischen Spaniens ist die Grenze “mediodía” in sehr klarer Weise maßgeblich für den Unter-
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schied zwischen mañana und tarde, denn tarde ist “Periodo o espacio de tiempo que hay desde el mediodía hasta el anochecer”. Dieser Unterschied funktioniert auch in den Grüßen. Für noche gibt der DEUM an: “Tiempo comprendido entre la puesta del Sol y el amanecer, durante el cual hay oscuridad”. Die Struktur des Wortfelds der Tageszeiten ist im Französischen und Spanischen linear, die Grenzen sind beim Übergang von der Nacht zum Tag in beiden Sprachen variabel, im Spanischen dazu noch der Übergang von mañana zu tarde und von tarde zu noche. Im Französischen wird in sekundärer Hinsicht die Dauer bei drei Lexemen markiert.
Verwandtschaft Das französische Archilexem des Wortfelds der Verwandtschaft ist das substantivisch und adjektivisch verwendbare Lexem parent, parente, im Spanischen ist es das Substantiv pariente (m, f). Die Verwandtschaftsnamen sind ein gutes Beispiel für ein relationelles Wortfeld. Es umfasst also Lexeme, die selbst relationelle Begriffe sind oder Entitäten als Relationen beinhalten, denn ein Vater ist immer Vater von x, ein Neffe ist immer ein Neffe von x. Innerhalb eines relationellen Wortfelds kann ein Lexem eine feste Position haben wie im Falle der Wochentage. Die Abfolge frz. dimanche, lundi, mardi, mercredi, jeudi, vendredi, samedi ist immer identisch. Im Gegensatz zu einem solchen positionellen Wortfeld sind die nicht-positionellen relationellen Wortfelder dadurch zu charakterisieren, dass sie wie gerade im Wortfeld der Verwandtschaftsnamen einen wechselnden Gesichtspunkt enthalten. Das Schema von Weisgerber veranschaulicht das, was mit den Verwandtschaftsnamen bezeichnet wird. Dass wir es nicht einfach mit einer Klassifikation zu tun haben, ersieht man daraus, dass das Wortfeld der Verwandtschaftswörter von einer Bezugsperson aus aufgebaut ist, ego genannt. Von dieser Origo aus entfaltet sich das ganze System. Die Verwandtschaftsnamen bilden ein mehrdimensionales Wortfeld, das von diesem ego ausgeht. Das x in Vater von x, Neffe von x ist also ego. 1. Die erste zu berücksichtigende Dimension ist der Verwandtschaftstyp. Man kann natürlich verwandt bzw. blutsverwandt sein oder durch Heirat. Im Falle der Verwandtschaft durch Heirat kann man verwandt sein durch die eigene Heirat oder die Heirat eines Elternteils. Die Schwieger- und die Stiefverwandtschaft wird im Französischen nicht regelmäßig unterschieden. Die phraseologische Kombination der Verwandtschaftsnamen mit beau- und belle- bezeichnet zwei Untertypen von angeheirateter Verwandtschaft. So bezeichnet beau-père den Schwiegervater und den Stiefvater, belle-mère die Schwiegermutter und die Stiefmutter, beau-fils den Schwiegersohn und den Stiefsohn, belle-fille die Schwiegertochter und die Stieftochter, beau-frère dagegen nur den Schwager und belle-sœur nur die Schwägerin.
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Es gibt neben diesen gewissermaßen regelmäßigen phraseologischen Kombinationen das üblichere Lexem gendre statt beau-fils und das seltenere Lexem bru statt belle-fille. Der Stiefbruder wird mit demi-frère benannt, die Stiefschwester mit demisœur. Im Spanischen haben wir mit político gebildete phraseologische Einheiten für die Schwiegerverwandtschaft oder aber primäre Lexeme: suegro oder padre político für den Schwiegervater, suegra oder madre política für die Schwiegermutter, yerno und hijo político für den Schwiegersohn, nuera und hija política für die Schwiegertochter, cuñado und cuñada oder hermano, -a político, -a für den Schwager und die Schwägerin. Die Stiefverwandtschaft wird mit Wörtern bezeichnet, die mit dem Suffix -astro, -a abgeleitet sind: padrastro, madrastra, hijastro, hijastra, hermanastro, hermanastra. Zur Bluts- und angeheirateten Verwandtschaft kommen noch die Pflege- und die Adoptivverwandtschaft hinzu. Die Benennungen beschränken sich auf die Eltern- und die Kindergeneration. Im Französischen haben wir für die Pflegeeltern père nourricier, mère nourricière und fils en nourrice/en garde, fille en nourrice/en garde sowie für die Adoptiveltern père adoptif, mère adoptive und die Adoptivkinder fils adoptif, fille adoptive. Die spanischen Entsprechungen sind jeweils padre tutelar, madre tutelar; niño en tutela, niña en tutela; padre adoptivo, madre adoptiva; niño, -a adoptado, -a oder hijo, -a adoptivo, -a. 2. Die zweite Dimension ist die Generation. Die Verwandten können derselben Generation angehören wie das ego (G0), die Generationen können in aufsteigender Linie (G+1, G+2, G+3 …) oder in absteigender Linie (G-1, G-2, G-3 …) aufeinander folgen. Im Französischen gehören nur die Lexeme, die Verwandte in direkter Linie in G0, G+1 und G-1 die Seitenlinie ersten Grades von G+1 und G-1 bezeichnen, dem primären Wortschatz an: G0: ego, frère, sœur; dazu die durch Motion gebildeten Lexeme cousin, cousine; G+1: père, mère; oncle, tante; G-1: fils, fille; neveu, nièce. Die übrigen werden stark rekursiv gebildet. Für die rekursiven phraseologischen Einheiten stehen in G+2 grand- zur Verfügung: grand-père, grand-mère; grand-oncle, grand-tante; in G-2 analog petit-, petite: petit-fils, petite-fille; und gleichermaßen arrière- in G+3: arrière-grand-père, arrièregrand-mère; arrière-grand-oncle, arrière-grand-tante; und in G-3: arrière-petit-fils, arrière-petite-fille; arrière-petit-neveu, arrière-petite-nièce. In die rekursiven Verfahren ist auch angeheiratete Verwandtschaft einzureihen, deren Namen mit beau-, bellegebildet werden. Die spanischen Verwandtennamen sind bis G+2 und G-2 primäre Lexeme, also für G0 hermano, hermana und primo, prima, für G+1 padre, madre und tío, tía, für G+2 abuelo, abuela, für G-1 hijo, hija und sobrino, sobrina, für G-2 nieto, nieta. Die Rekursivität beginnt erst an der Peripherie des Wortfelds mit bis- für G+3 und G-3: bisabuelo, bisabuela; bisnieto, bisnieta; und mit tatara- für G+4 und G-4: tatarabuelo, tatarabuela; tataranieto, tataranieta.
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2 Die Einzelsprache
3. Das Geschlecht ist im Französischen bis G+2 und G-2 mit der Ausnahme von cousin, cousine lexematisch gestaltet. Diese Opposition ist neutralisierbar, dann aber haben wir es mit eigenen Lexemen zu tun, so für G+1 parents, für G-1 enfants, für G+2 grands-parents, für G-2 petits-enfants. Die Lexeme für die Seitenlinie ersten Grades (z. B. oncle + tante) sind nicht neutralisierbar. Das Spanische weist bei dieser Dimension eine auffallend systematische Strukturierung auf. Wir finden zwar eine Unregelmäßigkeit in G+1 bei padre und madre sowie im Falle der angeheirateten Verwandtschaft bei yerno und nuera. Alle anderen Oppositionen aber sind regelmäßig, so G0: hermano, hermana; primo, prima; in G+1 tío, tía; G-1: hijo, hija; sobrino, sobrina; G+2: abuelo, abuela; tío abuelo, tía abuela; G-2: nieto, nieta; sobrino nieto, sobrina nieta. Die Opposition des Geschlechts ist, außer bei yerno und nuera, regelmäßig neutralisierbar: hermanos, primos, padres, hijos, abuelos, nietos usw. 4. Die Dimension der Linie oder Lateralität stellt die Linie des ego als direkte Linie oder L0 den Seitenlinien gegenüber, die von den Geschwistern oder L0ˈ ausgehen, im Französischen also von frère und sœur, von L1, also von oncle und tante, von L2, also von arrière-grand-oncle und arrière-grand-tante usw. Die spanischen Entsprechungen der von L0ˈ ausgehenden Seitenlinie sind hermano und hermana, von L1 tío und tía, von L2 tío abuelo und tía abuela usw. (zum Übergang des Wortfelds der Verwandtschaft vom Lateinischen zum Romanischen am Ende von 4.5.2.4 mit Angaben zu weiteren romanischen Sprachen).
Altersadjektive im Französischen Ein mehrdimensionales Wortfeld ist auch “vieux/ancien – nouveau/neuf – jeune”, das Wortfeld der französischen Altersadjektive (Geckeler 1971). Wir sehen an diesem Beispiel, dass man nicht immer ein einziges Wort, in diesem Falle ein einziges Lexem hat, um die Außengrenzen des Wortfeldes archilexematisch zu benennen. An die Stelle des nicht vorhandenen Archilexems verwenden wir das Substantiv ‚Alter‘ oder frz. ‘âge’. Das erste Problem, das sich auftut, wenn man in einem weiteren Schritt das Paradigma der Altersadjektive gliedern will, besteht darin zu zeigen, in welcher Weise ein Sprecher zwischen den Altersadjektiven wählt (2.1.7, 2.1.8). Denn auf der syntagmatischen Achse kommen diese Adjektive in drei Typen von Distribution vor: Vor einem Substantiv, nach einem Substantiv und im Prädikat: une jeune république ‚eine junge Republik‘, un pays jeune ‚ein junges Land‘, elle/il est jeune ‚sie, es ist jung‘. Auf die in diesen Beispielen vorkommende Verwendung von jeune werden wir allerdings ansonsten nicht eingehen. Nicht immer aber gibt es alle diese drei Möglichkeiten. In un ancien ami ‚ein ehemaliger Freund‘ wird diese Bedeutung des Altersadjektivs ancien nur vor dem Substantiv realisiert. Wir müssen also, um der Struktur des Paradigmas gerecht zu werden, alle drei Positionen, d. h. die gesamte Distribution der Altersadjektive auf der syntagmatischen Ebene berücksichtigen, vor allem aber die Stellung vor und nach dem Substantiv. Unter diesen Voraussetzungen erhalten wir etwa folgende Adjektive:
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vieux âgé jeune ancien antique archaïque moderne récent usw.
Die angeführten zentralen Wörter – die peripheren lassen wir in dieser Demonstration unberücksichtigt – stammen aus dem primären Wortschatz. Dieser gestaltet die Erfahrung direkt mit arbiträren Wörtern oder, anders ausgedrückt, nicht mit sekundär motivierten Wörtern wie im Falle der Wortbildung. Ein Adjektiv, âgé, ist dennoch sekundär, d. h. von âge ‚Alter‘ abgeleitet. Solche Wörter sind aber erst in zweiter Hinsicht zu berücksichtigen. Âge ist im Hinblick auf den Unterschied zwischen ‚jung‘ und ‚alt‘ neutral, deshalb kann dieses Substantiv den ganzen semantischen Bereich abdecken, wie wir ihn auch in âgé mit Ergänzung wiederfinden, z. B. il est âgé de quatre mois ,er ist vier Monate alt‘. Diese Verwendung müssen wir strenggenommen ausklammern. Dagegen gliedert sich âgé ‚alt‘ in das Wortfeld der Altersadjektive ein, da es kein neutrales Alter bedeutet. Vor der Einführung der unterscheidenden Züge ist der Zusammenhang mit einer grammatischen Eigenschaft der Substantive zu betrachten, mit denen die Altersadjektive kombiniert werden. Man kann z. B. une personne âgée ‚ein alter Mensch‘ und une vieille maison ‚ein altes Haus‘ sagen, aber *une maison agée wäre kein akzeptabler Ausdruck. Der Unterschied liegt in den klassematischen Bestimmungen der Adjektive. Es gibt Adjektive, die ‚für Belebtes‘ bestimmt sind oder ‚für Nicht-Belebtes‘ und innerhalb des Klassems ‚belebt‘ ‚für Personen‘ oder ‚für Nicht-Personen‘. Während vieux für alle genannten Verwendungen bestimmt ist, wird âgé klassematisch nur ‚für Personen‘ verwendet, denn auch *un cheval âgé ist kein akzeptabler Ausdruck. Für den weiteren Fortgang der Argumentation gehen wir von den in der Analyse dieses Wortfelds erreichten Ergebnissen aus und konstruieren die Binnengliederung des Wortfelds, wie in anderen Bereichen der Sprache auch, indem wir die Oppositionen darlegen, die im Wissen der Sprecher funktionieren. Das Verfahren, mit dem die einzelnen Schritte verdeutlicht werden können, ist wie üblich die Kommutationsprobe (2.1.8). In der Vorwegnahme der Ergebnisse sind oben die wichtigsten Adjektive nach dem Unterschied zwischen ‚Eigenalter‘ und ‚zeitlicher Einordnung‘ angeordnet worden. Das Eigenalter ist die verflossene Zeit, die das im Substantiv ausgedrückte Belebte oder Nicht-Belebte betrifft. Die Einordnung in die Zeit betrifft die Situierung in der Zeit aus der Sicht eines gegebenen Bezugspunkts. Man vergleiche un jeune/vieil homme ‚ein junger/alter Mann‘ gegenüber la peinture moderne ‚die moderne Malerei‘, die sich durch ‚Eigenalter‘ vs. ‚zeitliche Einordnung‘ unterscheiden. Sowohl ‚Eigenal-
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ter‘ als auch ‚zeitliche Einordnung‘ sind einer Reihe von Alterslexemen inhaltlich eigen. Sie gliedern folglich ein Wortfeld in seiner Gesamtheit. Diese Merkmale sind daher Dimensionen. Das Eigenalter bemisst sich an der Zeit, die vom Beginn der Existenz einer Entität verflossen ist. Es wird antonymisch gestaltet, da es in der polaren Opposition vieux/ jeune betrachtet wird. Die Opposition zwischen vieux und jeune gründet sich auf den unterscheidenden Zug bzw. das Sem ‚in relativ hohem Grad‘ und ‚nicht (in relativ hohem Grad)‘ auf der Grundlage der den beiden Adjektiven gemeinsamen Dimension ‚Eigenalter‘. Das Adjektiv jeune wird in seiner semantischen Beschreibung negativ im Verhältnis zu vieux dargestellt. Das liegt daran, dass die Opposition zwischen vieux und jeune neutralisierbar ist, d. h. vieux kann unter bestimmten Bedingungen für jeune eintreten: Man wird es gelten lassen, dass ein einjähriges Pferd un jeune cheval ist, wenn man aber das Alter genau angibt, muss man un cheval vieux d’un an sagen. Den Inhalt, den wir rekonstruiert haben, können wir in der folgenden Formel zusammenfassen: vieux: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) + (‚in relativ hohem Grad‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für NichtBelebtes‘). jeune: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) + (‚nicht (in relativ hohem Grad‘), + ‚für Belebtes‘. Diese Formel lässt sich für adjektivische Lexeme verallgemeinern: Lexem = Archilexem + (Dimension(en)) + Sem(e) + Klassem(e) Die Klammern geben fakultative Inhaltselemente an.
Fahren wir mit den Oppositionen fort. Zwischen âgé und jeune besteht ebenfalls eine polare Opposition. Der Unterschied von âgé zu vieux ist einerseits klassematisch, da âgé nur ‚für Personen‘ verwendet wird, andererseits geht aus dem Vergleich zwischen une vieille femme und une femme âgée die spezifische Dimension ,wertende Einschätzung‘ hervor, die für âgé das Sem ‚respektvoll‘ und für vieux das Sem ‚nicht respektvoll‘ ergibt. Der obigen Formel für den Inhalt von vieux ist demnach das Sem ‚nicht respektvoll‘ hinzuzufügen, während âgé gegenüber vieux das Sem ‚respektvoll‘ hat. Den anderen zentralen Altersadjektiven ist die Dimension ,zeitliche Einordnung‘ gemeinsam. Die zeitliche Einordnung lässt sich mit dem Beispielpaar langues anciennes – langues modernes erläutern, in dem die Adjektive in polarer Opposition zueinander stehen. Durch ancien und moderne werden die Sprachen vom Jetzt aus betrachtet. Mit moderne ordnet man die Sprachen in die Jetztzeit ein, die eine – nicht näher bestimmte – Zeit angedauert hat und noch andauern wird. Mit ancien werden andere Sprachen in die Vergangenheit verlegt. Im vorliegenden Fall versteht man darunter, wenn keine weiteren Bestimmungen gegeben werden, die großen Kultursprachen der Antike, das Griechische und das Lateinische. Demnach ist der Inhalt von ancien: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ weit zurückreichend‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘) und von moderne: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚nicht (relativ weit zurückreichend)‘, + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘).
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Die Dimension ‚zeitliche Einordnung‘ trifft ferner zu auf antique und archaïque am einen Pol und récent und frais am anderen. Die wichtigsten Oppositionen bei diesen Adjektiven sind diejenigen zwischen ancien und moderne, ancien und antique, antique und archaïque, moderne und récent sowie récent und frais. Die Opposition zwischen “ancien”/“antique” ist eine graduelle Opposition, da “antique” eine Stufe älter ist als “ancien”, paraphrasierbar mit “très ancien”: antique: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr weit zurückreichend‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘). Gegenüber dem Inhalt von antique enthält der Inhalt von archaïque ein weiteres Merkmal, formulierbar mit dem Merkmal ‚die Anfänge, den Ursprung betreffend‘: archaïque: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr weit zurückreichend‘ + ‚die Anfänge, den Ursprung betreffend‘), + (‚für Nicht-Belebtes‘). Diesen semantischen Unterschieden zwischen ancien, antique und archaïque entsprechen in etwa semantische Unterschiede zwischen moderne, récent und frais. Die graduelle Opposition zwischen “moderne”/“récent” unterscheidet sich – in Analogie zu “ancien”/“antique” formuliert – durch das Sem ‚nicht (relativ weit zurückreichend)‘ bzw. ‚relativ nahe‘. Diese zweite Angabe ist nur die positive Umformulierung des Sems. Das Adjektiv récent bezieht sich meist auf ‚Nicht-Belebtes‘, mit dem Klassem ‚für Belebtes‘ wird es selten verwendet: récent: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr nahe‘), + (‚für Nicht-Belebtes‘ + ‚für Belebtes (mit Einschränkung)‘). Vergleichen wir une nouvelle fraîche mit une nouvelle récente, so ergibt sich als Sem von frais ‚unverändert‘, das zu einer weiteren Dimension ‚Zustand‘ gehört: frais: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr nahe‘) + (‚Zustand‘) (‚relativ unverändert‘), + ‚für Nicht-Belebtes (in beschränktem Maße)‘. Actuel ordnet Geckeler (1971: 508–515) mit ancien und futur in ein eigenes Wortfeld ‚zeitliche Einordnung‘ ein. Uns bleiben noch die Bedeutungen von vieux vs. neuf und eine weitere Verwendung von frais sowie eine weitere Verwendung von ancien vs. nouveau zu klären. Dabei steht vieux mit den Dimensionen ‚Zustand‘ und ‚Eigenalter‘ “non-vieux” gegenüber und “non-vieux” differenziert sich in neuf und frais4. Hier die Merkmale von vieux: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Zustand‘) (‚relativ stark gebraucht‘) + (‚Eigenalter‘) (‚in relativ hohem Grad‘), + ‚für Nicht-Belebtes‘. Und von neuf: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Zustand‘) (‚nicht oder relativ wenig gebraucht‘) + (‚Eigenalter‘) (‚nicht in relativ hohem Grad‘), + ‚für Nicht-Belebtes (mit Einschränkung)‘. Die Einschränkung bei neuf bezieht sich auf eine Unterklasse der Klasse ‚nichtbelebt‘, d. h. die verderblichen Stoffe, darunter besonders Nahrungsmittel. Bei der ‚zeitlichen Einordnung‘ kommt die weitere Unterdimension ‚Grad des Bekanntseins‘ in ancien1 vs. nouveau1 vor. nouveau1: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Grad des Bekanntseins‘) (‚Null‘) bezogen auf (‚zeitliche Einordnung‘) (‚bis jetzt‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘); ancien1: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Grad des Bekanntseins‘) (‚nicht-Null‘) bezogen auf (‚zeitliche Einordnung‘) (‚seit Langem‘), + (‚für Belebtes‘ + für Nicht-Belebtes‘);
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ancien2: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Änderung der Funktion‘) (‚beendete Funktion‘) bezogen auf (‚relative zeitliche Einordnung‘) (‚frühere Phase‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘); nouveau1: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Änderung der Funktion‘) (‚Ersetzung‘) bezogen auf (‚relative zeitliche Einordnung‘) (‚spätere Phase‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘).
Altersadjektive im Spanischen Die spanischen Adjektive für das Alter funktionieren auf der einen Seite in den Wortfeldoppositionen viejo//joven/nuevo und auf der anderen in den Oppositionen antiguo//nuevo/moderno/reciente/actual. Es kommen noch einige Adjektive hinzu, die wir weiter unten besprechen werden. Wir können für dieses Wortfeld auf keine Untersuchung zurückgreifen. Die Untersuchung des Alters von Inmaculada Corrales Zumbado (1982) betrifft das Lebensalter, das in Substantiven wie infancia, puericia, niñez, adolescencia, juventud, vejez etc. ausgedrückt wird. Wir werden eine kleine Konstruktion des Wortfelds unternehmen und dabei auf die Angaben des DEUM und die Kriterien Geckelers zurückgreifen. Statt eines Archilexems verwenden wir edad, das uns keine weiteren Adjektive liefert. Wiederum sind von zentraler Bedeutung die Dimensionen ‚Eigenalter‘ und ‚zeitliche Einordnung‘. Diesen Unterschied belegen wir mit persona joven, persona vieja und persona moderna. Das ‚Eigenalter‘ weist die Seme (‚in relativ hohem Grad‘) bei viejo und ‚nicht (in relativ hohem Grad)‘ bei joven auf wie in árbol joven, joven trabajador, ideas jóvenes, caballo viejo, coche viejo. Kommen wir zur Angabe der Bedeutungen viejo: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚in relativ hohem Grad‘), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘); joven: ‚Alters adjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚nicht in relativ hohem Grad‘), + ‚für Belebtes‘. In Opposition zu viejo und in unmittelbarer Opposition zu joven wird nuevo1 ‚für Nicht-Belebtes‘ in pantalón nuevo, casa nueva vs. camino viejo, zapatos viejos, coche viejo verwendet. nuevo1: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚nicht in relativ hohem Grad‘), + „für Nicht-Belebtes“ Gegenüber viejo ist antiguo um eine Stufe älter, was wir durch das Sem ‚in relativ sehr hohem Grade‘ ausdrücken. Außerdem ist antiguo auf ‚Nicht-Belebtes‘ beschränkt. antiguo: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚in relativ sehr hohem Grad‘), + ‚für Nicht-Belebtes‘. Die meist als Substantive, aber doch auch als Adjektive verwendeten Lexeme anciano und mozo geben das ‚Eigenalter‘ (‚in relativ sehr hohem Grad‘) bzw. (‚nicht (in relativ sehr hohem Grad‘) an und sind, in Opposition zu viejo und joven, klassematisch nur ‚für Personen‘ bestimmt.
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anciano: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚in relativ sehr hohem Grad‘), + ‚für Personen‘: mozo: ‚Altersadjektiv‘ + (‚Eigenalter‘) (‚nicht in relativ sehr hohem Grad‘), + ‚für Personen‘. Die ‚zeitliche Einordnung‘ ist die Dimension von antiguo in Opposition zu nuevo/ moderno/reciente/actual. Die erste Opposition geht aus der Gegenüberstellung von ropaje antiguo und ropaje nuevo hervor. Der Unterschied zwischen ‚relativ weit zurückreichend‘ und ‚relativ sehr weit zurückreichend‘ wie in antiguas culturas ist im Spanischen bei antiguo nicht distinktiv, er ist nur ein Unterschied im Diskursbedeutungstyp. Weitere Beispiele für nuevo sind nueva ley, nuevo impuesto. antiguo: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ weit zurückreichend‘), + ‚für Nicht-Belebtes‘; nuevo: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚ nicht (relativ weit zurückreichend‘)), + ‚für Nicht-Belebtes‘. Aus dem Vergleich von ideas antiguas und ideas nuevas sowie ideas modernas und hombre moderno, instrumento moderno ergibt sich für moderno das Sem ‚nicht (relativ weit zurückreichend)‘ mit der klassematischen Bestimmung ‚für Belebtes‘ und ‚für Nicht-Belebtes‘; moderno: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚ nicht (relativ weit zurückreichend‘)), + (‚für Belebtes‘ + ‚für Nicht-Belebtes‘). Wenn wir historia moderna und historia reciente vergleichen, stellen wir das Sem ‚nicht (relativ sehr weit zurückreichend)‘ bzw. ‚relativ sehr nahe‘ fest. Das Adjektiv wird nur ‚für Nicht-Belebtes‘ verwendet. reciente: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr nahe‘), + ‚für Nicht-Belebtes‘. Relativ marginal ist wie im Französischen fresco als Altersadjektiv. Diese Verwendung belegen wir gleichfalls mit noticias frescas im Vergleich zu noticias recientes. fresco: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚relativ sehr nahe‘) + (‚Zustand‘) (‚relativ unverändert‘, ‚für Nicht-Belebtes (in beschränktem Maße)‘. Aus situación actual und situación reciente ergibt sich als ‚zeitliche Einordnung‘ das Sem ‚im Jetzt‘. Zwischen moderno, reciente und actual besteht eine graduelle Opposition. actual: ‚Altersadjektiv‘ + (‚zeitliche Einordnung‘) (‚im Jetzt‘), + (‚für Nicht-Belebtes‘ + ‚für Belebtes‘). Auch im Spanischen ließe sich ein eigenes Wortfeld ‚zeitliche Einordnung‘ rechtfertigen, in dem antiguo, actual und futuro in Opposition zueinander stehen.
Bibliographischer Kommentar
Allgemeines Wissen zur Semantik vermitteln Ullmann 21957 und 1962, Geckeler (Hrsg.) 1978 insbesondere mit Coseriu 1978c und Pottier 1978, Greimas 1966, Lyons 1977. Die funktionelle Sprachwissenschaft von Martinet erweitert Germain 1981 um eine Semantik, in die er vielseitige Anregungen der
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strukturellen Semantik aufnimmt und auf das Französische anwendet. Blank 1997 liefert eine wichtige Untersuchung zum Bedeutungswandel in den romanischen Sprachen. Zum Französischen: Ullmann 11952, mit Beispielen für Wortfelduntersuchungen, die ich ausgiebig verwendet habe, Geckeler 1973 und Geckeler 1971 („alt – jung/neu“). Die Wortfelduntersuchungen leitet Trier 1931 zum Deutschen ein. In Spanien hat Gregorio Salvador in der Zeit seiner Lehre an der Universidad de La Laguna (Teneriffa) die strukturelle Semantik Pottiers und Coserius vermittelt und eine Reihe von Dissertationen betreut, die das Spanische zu einer in dieser Hinsicht am besten beschriebenen Sprache machen. Zu nennen sind Trujillo 1970 (Adjektive der intellektuellen Einschätzung), Corrales Zumbado 1977 (Dimension), Corrales Zumbado 1982 (Alter), Escobedo Rodríguez 1980 (“hablar”), ferner Espejo Muriel 1990 (Farben). Das Portugiesische wird durch Vilela 1980 und 1994 untersucht, weitere romanische Sprachen nur sporadisch, z. B. in Hoinkes (Hrsg.) 1995.
2.4 Sprachvariation und Varietäten 2.4.1 Permanentes Entstehen von Variation im Sprechen und ihre Grenzen Da die Sprecher die Sprache immer wieder neu schaffen, wie wir bei der Erörterung des Universale der Kreativität gesehen haben, wandelt sich die Sprache und es entsteht auf ganz natürliche Weise eine Variation, die im Grunde keiner Rechtfertigung bedarf. Die darin sich zeigende sprachliche Kreativität würde jedoch alleine, in ihrer letzten Konsequenz gedacht, zu einer grenzenlosen Variation führen. Da die Sprecher aber gleichzeitig mit den anderen, für die anderen und wie die anderen sprechen und tatsächlich so sprechen wollen, halten sie ihre Sprache in den Grenzen der Verständlichkeit für die anderen und beschränken somit ihre Kreativität. Diese universelle Eigenschaft von Sprache hatten wir Alterität genannt. Sie kommt immer schon in gesprochener Sprache zum Ausdruck, sie wird aber noch ausgeprägter, wenn Sprache geschrieben und dadurch die Sprachvariation im Vergleich zur gesprochenen Sprache reduziert wird. Als Schreiber wollen wir eben mehr andere erreichen denn als Sprecher. Die Reduktion von Variation ist ein reflexiver Vorgang, der auch in gesprochener Sprache dann zu beobachten ist, wenn die Rede geplant und sehr gewählt ist. Umgekehrt kann Sprachwandel bewusst herbeigeführt werden, wenn eine Sprache oder ein Sprachgebrauch durch die Feminisierung von Substantiven in einer Gemeinschaft politisch durchgesetzt werden soll. Auch in diesem Fall entsteht, da nicht jeder die ganze Sprache oder alle Menschen einen bestimmten Sprachgebrauch in einer Gemeinschaft übernehmen, Variation. Kreativität und Alterität stehen also in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Als Kreativität ist Sprache idealiter grenzenlose Schaffung von sprachlichen Verschiedenheiten, demnach also Variation und Wandel; als Alterität ist sie Tradition und beschränkt Variation und Wandelbarkeit dadurch, dass Sprache in den Grenzen der Verständlichkeit für die anderen gehalten wird.
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2.4.1.1 Homogenität Obwohl den Linguisten bekannt ist, dass Sprache an sich heterogen ist und die Homogenität in der Standardsprache ebenso wie in der Sprachbeschreibung in einem lange dauernden Prozess intentional geschaffen worden ist, wurde daraus dennoch nicht die Konsequenz gezogen, in der Linguistik von der einfachen Tatsache auszugehen, dass Sprache einschließlich der Standardsprache real nur in der Sprechtätigkeit und somit in ihrer Variation existiert. Mehr noch, durch die Entwicklung von Standardsprachen entsteht in einer historischen Sprache eine neue Variation. Die Dominanz eines homogenen Sprachbegriffs in der Sprachwissenschaft hat neben ihren negativen Auswirkungen aber auch durchaus praktische Vorteile, da sie dadurch nun wiederum als Problem der Sprachwirklichkeit und der adäquaten Sprachbeschreibung besser erkennbar geworden ist. Variation stellt man zunächst bei der Beobachtung der Sprache im Diskurs fest. Die Variation ist gering in hochgradig formellen Texten, wie wir sie im wissenschaftlichen Schrifttum vorfinden oder in der öffentlich vorgetragenen Rede, und sie ist sehr stark ausgeprägt in der Rede von Sprechern, die über eine Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten besonders in Sprachkontaktsituationen verfügen. In Fällen starker Variation in der Rede stellen Sprachwissenschaftler, vor allem diejenigen, die nicht ihre eigene Sprache untersuchen, gerne ein Kontinuum fest. Sprecher und Sprachwissenschaftler dagegen, die sich in ihren metasprachlichen Aussagen auf ihr eigenes sprachliches Wissen stützen, unterscheiden stets verschiedene Varietäten. Daher wird von solchen Sprachwissenschaftlern dem Kontinuum der Rede ein Gradatum des sprachlichen Wissens gegenübergestellt (Stehl 2012). Ganz offensichtlich betrifft diese Gegenüberstellung von Kontinuum und Gradatum nicht Phänomene, die auf derselben Ebene liegen. Die lange Auseinandersetzung um dieses Thema zeigt, dass es nicht um ein Entweder-Oder gehen kann. Ich glaube, dass es die Vertreter der einen und der anderen Auffassung meist mit einem anderen wissenschaftlichen Gegenstand zu tun haben. Als ein Kontinuum stellt sich Sprache im Diskurs für einen Forscher dar, dem die untersuchte Sprache an sich fremd ist, wenn er sie nicht eigens gelernt hat, und der deshalb auf ein Korpus gesprochener Sprache rekurrieren muss. Ein Gradatum ist Sprache für die Sprecher und für diejenigen Sprachwissenschaftler, die die untersuchte(n) Einzelsprache(n) beherrschen. Unter Einzelsprache sei hier diejenige Sprache verstanden, die einem mehr oder weniger homogenen Wissen entspricht (cf. 2.1.1 und 2.1.2). Da Sprecher gerade in Sprachkontaktsituationen ein komplexes sprachliches Wissen haben, das mehrere Einzelsprachen in diesem Sinne umfasst, können sie in jedem Augenblick ihrer Rede auf eine andere Einzelsprache zurückgreifen. Daraus entsteht dann der Eindruck eines Kontinuums. Wir müssen aber auch in Rechnung stellen, dass eine Einzelsprache bis zu einem gewissen Grade interne Variation aufweisen kann. Diese Erscheinung sollten wir der Klarheit halber nicht Kontinuum nennen, sondern sprachliche Uneinheitlichkeit oder Heterogenität.
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Wir werden zunächst zu skizzieren versuchen, wie es zum Primat der sprachlichen Einheitlichkeit gekommen ist, um danach einen Begriff von sprachlicher Variation zurückzugewinnen, der in ein dialektisches Verhältnis zur Varietät (Homogenität) gesetzt werden muss. Dass Sprache einheitlich ist, wurde implizit in der diachronischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts vorausgesetzt. Auch die historisch-vergleichende Grammatik postulierte stillschweigend eine solche Sprache, wenn sie eine Rekonstruktion unternahm. Eine Konsequenz der sprachlichen Homogenitätsannahme war die These von François Raynouard (1761–1836), das von ihm noch langue romane genannte Okzitanisch sei die Grundlage der romanischen Sprachen gewesen. Wie Iordan meint, seien die Zeitgenossen von der Einheitlichkeit, Regelmäßigkeit und der „Analogie“ des Okzitanischen überrascht gewesen (1967: 14). Nicht anders wirkte das naturwissenschaftliche Verständnis, das August Schleicher (1821–1868) von der Sprache hatte. Das „Leben der Sprache“ äußerte sich ihm zufolge auch darin, dass sie sich entwickle und verfalle. Im Verfall spalte sich die indogermanische „Ursprache“ in verschiedene „Grundsprachen“, aus denen sich die einzelnen Sprachen herausdifferenzierten. Die Sprachen spalteten sich sodann in „Mundarten“ und diese in „Untermundarten“ (21866: 4–5). Was das Verhältnis zwischen Sprachen und „Mundarten“ angeht, hatte Schleicher drei Jahre zuvor nach der Lektüre von Charles Darwins The origin of species geschrieben: „Die Arten einer Gattung nennen wir Sprachen eines Stammes; die Unterarten einer Art sind bei uns die Dialecte oder Mundarten einer Sprache; den Varietäten und Spielarten entsprechen die Untermundarten oder Nebenmundarten und endlich den einzelnen Individuen die Sprechweise der einzelnen die Sprachen redenden Menschen“ (Schleicher 1977: 92). Mit „Varietät“ greift Schleicher einen biologischen Terminus auf, der in der Abstammungslehre Darwins zentral ist. Da der wissenschaftsgeschichtliche Kontext in der heutigen Sprachwissenschaft völlig verloren gegangen zu sein scheint, sei die Diskussion um den Begriff der „Varietät“ im Verhältnis zur „Art“ (“species”) bei Darwin in extenso zitiert: “Before applying the principles arrived at in the last chapter to organic beings in a state of nature, we must briefly discuss whether these latter are subject to any variation. To treat this subject properly, a long catalogue of dry facts ought to be given; but these I shall reserve for a future work. Nor shall I here discuss the various definitions which have been given of the term species. No one definition has satisfied all naturalists; yet every naturalist knows vaguely what he means when he speaks of a species. Generally the term includes the unknown element of a distinct act of creation. The term ‘variety’ is almost equally difficult to define; but here community of descent is almost universally implied, though it can rarely be proved. We have also what are called monstrosities; but they graduate into varieties. By a monstrosity I presume is meant some considerable deviation of structure, generally injurious, or not useful to the species. Some authors use the term ‘variation’ in a technical sense, as implying a modification directly due to the physical conditions of life; and ‘variations’ in this sense are supposed not to be inherited; but who can say that the dwarfed condition of shells in the brackish waters of the Baltic, or dwarfed plants on Alpine summits, or the thicker fur of an animal from far northwards, would not in some
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cases be inherited for at least a few generations? and in this case I presume that the form would be called a variety” (Darwin 1951: 42–43; nach 61872; 11859).
Im Sinne von „Unterarten“ verwendet Ascoli einige Jahre später “varietà” in der Formulierung “distinte varietà dialettali” (1876: 391; bei Ascoli kursiv). Saussure weist beiläufig auf derartige Varietäten hin: ,Ein Reisender, der dieses Land von einem Ende zum anderen durchquert, würde von Ort zu Ort nur geringfügige Dialektunterschiede feststellen‘ (Saussure 1916: 275; meine Übersetzung). So weit ist der Wortschatz der Biologie in die damalige Sprachbetrachtung eingedrungen, dass auch Schleichers Kritiker Whitney sich dem Zeitgeist nicht entziehen konnte. Auf die Frage, was denn die englische Sprache sei, stellt er nach einer schrittweisen Annäherung an eine Antwort fest: “It is a mighty region of speech, of somewhat fluctuating and uncertain boundaries, whereof each speaker occupies a portion, and a certain central tract is included in the portion of all: there they meet on common ground; off it, they are strangers to one another, it includes numerous varieties, of greatly differing kind and degree: individual varieties, class varieties, local varieties” (Whitney 1971: 16–17; 11867; meine Hervorhebungen). Whitney überträgt somit den Terminus „Varietät“, der sich zuerst auf „Untermundarten“ bezog, auf grundsätzlich alle Arten von Varietäten im heutigen Sinne. Die Geschichte des Begriffs und des Terminus „Varietät“ kann hier nicht nachgezeichnet werden. Wenn er in der heutigen Sprachwissenschaft neu aufgelebt ist, steht seine Verwendung in keinem biologischen Zusammenhang mehr. Wie es aber zum teilweisen Vergessen und Wiederaufleben von „Varietät“ kam, muss eine vorerst offene Frage bleiben. Dagegen führt uns der wissenschaftsgeschichtliche Kontext, in dem „Varietät“ von der Abstammungslehre auf die Sprachgeschichte übertragen wurde, unmittelbar in einen biologischen Erklärungszusammenhang zurück. In seiner Schrift Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft hat Schleicher eine naturwissenschaftliche Erklärung für die sprachliche „Gleichartigkeit“ geliefert: „Da wir in historischer Zeit beobachten können, daß bei Menschen, die unter wesentlich gleichartigen Verhältnissen leben, die Sprachen sich im Munde aller sie redenden Individuen gleichmäßig verändern, so nehmen wir demzufolge auch an, daß sich die Sprache bei völlig gleichartigen Menschen auch gleichartig bildete“ (Schleicher 1977: 101). Von dieser Homogenitätsannahme der Sprache bis zum gleichartigen Wirken der Lautentwicklung, ja sogar bis zu Lautgesetzen, die wie Naturgesetze ausnahmslos wirken, war es nur noch ein kurzer Weg. Die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, die eine Konsequenz seiner Sprachauffassung ist, hat Schleicher nicht in seinen Schriften, wohl aber nach dem Zeugnis seines Schülers Johannes Schmidt in der Lehre vertreten (Christmann in Christmann (Hrsg.) 1977: 106). Die Annahme einer Einheitlichkeit der Durchführung des Lautwandels in den Dialekten finden wir ausdrücklich bei den Junggrammatikern. Programmatisch äußern sich bekanntlich Osthoff und Brugmann dazu:
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2 Die Einzelsprache
„In allen lebenden volksmundarten erscheinen die dem dialect eigenen lautgestaltungen jedesmal b e i w e i t e m c o n s e q u e n t e r durch den ganzen sprachstoff durchgeführt und von den angehörigen der sprachgenossenschaft bei ihren sprechern inne gehalten als man es vom studium der älteren bloß durch das medium der schrift zugänglichen sprachen her erwarten sollte; diese consequenz erstreckt sich oft bis in die feinsten lautschattierungen hinein“ (Osthoff/ Brugmann 1977: 195–196). „Und sollten nun nicht die, die so gern und so oft ausnahmen von den mechanischen lautgesetzen zulassen, diese thatsache sich zu herzen nehmen? Wenn der sprachforscher mit eigenen ohren hören kann, wie es im sprachleben zugeht: warum zieht er es vor, sich seine vorstellungen von consequenz und inconsequenz im lautsystem einzig auf grund der ungenauen und unzuverlässigen schriftlichen überlieferung älterer sprachen zu bilden?“ (Osthoff/Brugmann 1977: 196) „Aller lautwandel, so weit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach a u s n a h m s l o s e n gesetzen, d. h. die richtung der lautbewegung ist bei allen angehörigen einer sprachgenossenschaft, außer dem fall, daß dialectspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle wörter, in denen der der lautbewegung unterworfene laut unter gleichen verhältnissen erscheint, werden ohne ausnahme von der änderung ergriffen“ (Osthoff/Brugmann 1977: 200).
Dass die Ideen der Junggrammatiker in der romanischen Sprachwissenschaft bis weit in unser Jahrhundert hinein fortwirkten, ist der langjährigen Lehre und den allgegenwärtigen Handbüchern von Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936) zu verdanken, Professor in Wien, später in Bonn. Viele Auffassungen und Forschungsinteressen fanden deshalb ihre Anhänger, weil sie durch seine Grammatik der romanischen Sprachen (1890–1902), seine Italienische Grammatik (1890), seine Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (31920), seine Historische Grammatik der französischen Sprache (1. Band 1909, 2. Band 1921), sein Romanisches Etymologisches Wörterbuch (11911–1920, 31935) und Das Katalanische (1925) eine weite Verbreitung erfuhren. Mit der Zugrundelegung der Lautgesetze und dem naturwissenschaftlichen Vorverständnis im Umgang mit Fakten gibt er der Untersuchung der Materialität von Sprache den Vorzug vor allen ihren anderen Eigenschaften. Gegen die von MeyerLübke geprägte junggrammatische Sprachwissenschaft mussten sich andere Forschungsrichtungen und -ansätze erst einmal durchsetzen. Mit der programmatischen Forderung, die lebendig gesprochene Sprache zu untersuchen, leiteten die Junggrammatiker unfreiwilig und, ohne es zu wissen, die Kritik an ihren Positionen ein. Hatte bereits Hugo Schuchardt 1885 in seiner Streitschrift Über die Lautgesetze (Schuchardt 1976) die Existenz von Lautgesetzen, deren Ausnahmslosigkeit, die so zustandegekommene Einheitlichkeit des Dialekts und die ausnahmslose Wirkung der Lautgesetze innerhalb derselben Periode angefochten, so wurde durch frühe dialektologische Untersuchungen zum Französischen und durch die ersten Sprachatlanten überhaupt diesen Ideen auch empirisch eine Absage erteilt. Noch aber war die in der Folge von Saussure in die Sprachwissenschaft eingeführte Unterscheidung zwischen langue und parole längst nicht allgemein etabliert, sonst hätte man die Annahme der Existenz von Dialekten der Ebene der langue zuzuord-
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nen gewusst und ihre Infragestellung notwendigerweise mit der parole in Verbindung bringen müssen. Denn diejenigen Forscher, die sich den junggrammatischen Grundsatz, die lebendige Sprache zu untersuchen, zu eigen gemacht hatten, stellten fest, da sie die Rede beobachteten, dass es Mundartgrenzen in der postulierten Weise nicht gibt, dass sich, mehr noch, Sprache bis in die einzelnen Familien hinein differenziert. Dass die theoretische Annahme der Existenz eines Dialekts und seine empirische Untersuchung, die sich stets auf die konkrete Rede stützen muss, auf verschiedenen sprachlichen Ebenen liegen, der Ebene der Einzelsprache (langue) und der Ebene des Diskurses (parole), war keine leicht zugängliche Erkenntnis. Heute, nach der festen Etablierung dieser Unterscheidung in abstracto bei im Grunde allen Sprachwissenschaftlern, ist ihre Anwendung immer noch nicht Allgemeingut, auch nicht in der hier anstehenden Frage. 2.4.1.2 Wege der Vereinheitlichung. Drei Beispiele Die Notwendigkeit, die Variation für die Sprachwissenschaft zurückzugewinnen, möchte ich mit drei Beispielen illustrieren. Alle drei illustrieren Phasen der Herausbildung von Standardsprachen. Durch die beiden ersten soll außerdem gezeigt werden, wie in der textphilologischen Praxis die jeweils tatsächlich existierende Variation eliminiert wird. Die Textphilologie steht für einen Bereich, in dem die sprachliche Vereinheitlichung von Texten, besonders im 19. Jahrhundert unter der Dominanz der romantischen, der naturalistischen und später der junggrammatischen Ideologie, zum Teil aber auch bis in die jüngste Vergangenheit hinein, sehr weit getrieben wurde. Sprachliche Variation wird aber auch dann eliminiert, wenn gesprochene Sprache transkribiert (d. h. durch ein eigens für die Wiedergabe von Merkmalen von gesprochener Sprache geschaffenes Notationssystem aufgezeichnet wird, wie es etwa in den phonetischen Transkriptionssystemen vorliegt) oder transliteriert (d. h. in die übliche Orthographie einer Standardsprache umgesetzt) wird. In einer Transliteration werden stets mehr Variationsphänomene aufgegeben als in einer Transkription. Dieses uns allen selbstverständliche Umgehen mit Variation ist zu bedenken, wenn ich im Folgenden einige kritische Bemerkungen zu zwei Editionen mache. Das dritte Beispiel soll ein Stadium der Entwicklung auf dem Weg zur Standardsprache veranschaulichen. Dafür habe ich ein Beispiel für die Annäherung des Neapolitanischen an die toskanische Literatursprache im 15. Jahrhundert gewählt. Ich kann darauf verzichten, die Vereinheitlichung zu belegen, wie sie in der Beschreibung einer Varietät auftritt. Die synchronische Beschreibung einer Standardsprache handelt von nichts anderem, auch wenn gewöhnlich die Reduktion auf eine einzige Varietät nicht mit letzter Strenge angestrebt wird, wie oben festgestellt. Die Auffassung nun, dass die Autoren des Mittelalters ebenso wie die Sprecher der Dialekte den Lautgesetzen folgen würden, lag der Editionspraxis des 19. Jahrhunderts und noch später zugrunde, wie wir bei der Edition von Les .XV. joies de
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mariage sehen werden. Heute scheut man vor tiefen Eingriffen in einen zu edierenden Text zurück, auch weil man ein differenzierteres Verständnis des Verhältnisses zwischen Schriftsprache und regional gesprochener Sprache hat, die beide variieren, aber in jeweils anderer Weise. Die innersprachliche Variation ist besonders stark in der Zeit des Umbruchs vom Altfranzösischen zum modernen Französisch, die man der Bequemlichkeit halber „Mittelfranzösisch“ nennt (5.8.2, 5.8.3). Während sich die französische Schriftsprache zu ihrer heute noch im Wesentlichen geltenden Norm hin entwickelte, bildete sich in den Phasen ihrer Expansion das Varietätenspektrum des Französischen als historischer Sprache schlechthin heraus. In der Variation der jeweiligen Schriftsprache (Scripta) scheinen die gesprochene Sprache ebenso auf wie die Übernahmen aus den Schriftsprachen, mit denen eine bestimmte Schriftsprache in Kontakt kommen konnte. Die französische („franzische“) Scripta (5.8.1.3, 5.8.1.5) wirkt dabei wie ein magnetisches Feld, das durch seine Anziehungskraft die anderen Scriptae umwandelt, sich gleichzeitig aber intern wandelt. Dass diese ineinandergreifenden Prozesse nicht linear ablaufen, werden wir an unserem Textbeispiel sehen. Les .XV. joies de mariage enthalten erkennbare regionale Züge kaum. Einige Wörter wie borgne für ‚Reuse‘ statt nasse verweisen in den Westen des französischen Sprachgebiets, so auch travoiller ‚dévider‘, appistollé ‚afistolé‘, d. h. ‚getäuscht‘, chutrin ‚grabat, mauvaise paillasse‘, se rauder ‚plaisanter, rire, se moquer‘ und triboil ‚peine, souci‘. Die Schreibung -oi- oder -oy- statt -ai- bzw. -e verweisen auf dieselbe Region. Unter Berücksichtigung dieser Merkmale nimmt der Herausgeber das nördliche Poitou als Herkunftsregion an. Für eine Untersuchung der Variation können deshalb die unter solchen Voraussetzungen edierten Texte nicht oder nur innerhalb bestimmter Grenzen verwendet werden. Vor einer Verwendung sind immer die Editionskriterien zu berücksichtigen. Wenn nun der Editor Rychner seiner Textausgabe die in Rouen aufbewahrte Handschrift zugrunde legt, die auf November 1464 datiert ist – für die Abfassung des Originals schlägt er den Zeitraum zwischen dem Ende des 14. und dem Anfang des 15. Jahrhunderts vor –, sollte er sämtliche Editionskriterien in der Einführung aufführen, die ihn geleitet haben. Da er einer Tradition folgt, nennt er nicht die für selbstverständlich gehaltenen Kriterien, zu denen die Auflösungen von Abkürzungen, die Modernisierung der Groß- und Kleinschreibung und die Interpunktion gehören. Während demnach diese Bereiche der Sprache nicht an nach diesen Kriterien edierten Texten untersucht werden können, sind die Emendationen von Varianten der zugrunde gelegten Handschrift aus dem Apparat zu erschließen. In dieser Hinsicht verwenden wir die Edition von Les .XV. joies de mariage, die Rychner vorgelegt hat:
2.4 Sprachvariation und Varietäten
“Et par especial doit on bien tenir celui sans nul sans de soy estre ainxin emprisonné, s’il avoit ouy davant plourer et gemir ou dedens la chartre les prisonniers qui liens estoient. Et pour ce que nature humaine appete de soy liberté et franchise, pluseurs grans seigneuries se sont perdues pour ce que les seigneurs d’icelles vouloient tollir franchise a leurs subgitz” (Rychner (éd.) 1967: 1).
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estoiens (1) perduz (2)
,Und besonders muss man denjenigen für von allen guten Geistern verlassen halten, der sich so in Gefangenschaft begeben hat, wenn er doch zuvor die Gefangenen, die im Kerker waren, darin hatte weinen und stöhnen hören. Und weil die menschliche Natur von sich aus frank und frei zu sein strebt, sind mehrere große Herrschaften verloren gegangen, weil deren Herren ihren Untertanen die Freiheit nehmen wollten.‘ “la terre est deserte, destituee de peuple, desollee de science et de pluseurs autres vertuz, et par consequent y regnent pechiez et vices” (Rychner (éd.) 1967: 2).
desolles (3)
,Das Land ist wüst, menschenleer, seines Wissens und mehrerer Tugenden sonst noch beraubt und folglich herrschen dort Sünden und Laster.‘ “Ainxin, regardans cestes paines qu’ilz prennent pour joies, considerans la repugnance qui est entre leur entendement et le mien et de pluseurs aultres, me suy delicté, en les regardant noer en la nasse ou ilz sont si bien embarrez, a escripre icelles .xv. joies de mariage a leur consolacion, en perdant ma paine, mon ainte et mon papier au regart des autres qui sont a marier, qui pour ce ne lesseront pas a soy metre en la nasse” (Rychner (éd.) 1967: 5). ,So habe ich angesichts der Qualen, die sie für Freuden halten, und in Anbetracht des schroffen Gegensatzes, der in ihrer Art, die Dinge zu verstehen, und der meinen und derjenigen mehrerer anderer, Vergnügen daran gefunden – wenn ich sie in der Reuse, in der sie so sicher eingeschlossen sind, schwimmen sehe –, diese fünfzehn Freuden der Ehe zu ihrem Troste zu schreiben, wobei ich meine Mühen, meine Tinte und mein Papier vergeude für die anderen, die noch zu verheiraten sind, die es aber dennoch nicht unterlassen, in die Reuse zu gehen.‘
en (4) noez (5)
lessent (6)
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“Et combien qu’il a aises et plaisances largement, il ne les peut endurer, mais regarde les autres mariés qui sont en la nasse bien embarrez, qui s’esbanoient, ce lui semble, pour ce qu’ilz ont l’apast emprés eux dedens la nasse, c’est assavoir la femme, qui est belle, bien paree et bien abillee de tieulx abillemens que a l’aventure son mari n’a pas paiez, car l’en lui fait acroire que son pere ou sa mere les li ont donnez de leur livree. Si tournoye et serche le jeunes homs environ la nasse et fait tant qu’il entre dedens et se marie. Et pour la haste qu’il a de taster du past avient souvent qu’il enquiert petitement des besoingnes et s’i boute tel feur telle vente. Or est dedens la nasse le pouvre homs qui ne se souloit esmoier fors de chanter, d’echapter esguilletes, bources de saye et autres jolivetés pour donner aux belles” (Rychner (éd.) 1967: 6).
onst (7)
donnez (8)
,Und obgleich er Freuden und Vergnügungen in Hülle und Fülle hat, kann er sie doch nicht ertragen, sondern schaut die anderen an, die, verheiratet, schön in der Reuse eingesperrt sind, die sich ergötzen, so meint er, weil sie den Köder bei sich in der Reuse haben, denn das ist ja die Frau, die schön, prächtig geschmückt und mit Kleidern bekleidet ist, die vielleicht nicht ihr Mann bezahlt hat, denn man macht ihn glauben, dass ihr Vater oder ihre Mutter sie ihr in ihrer Großzügigkeit geschenkt haben. So sucht und schwimmt der junge Mann um die Reuse herum, bis er hineinkommt und heiratet. Und wegen seiner Eile, an den Köder heranzukommen, geschieht es oft, dass er sich wenig nach den Beschwernissen erkundigt und die Katze im Sack kauft. In der Reuse ist jetzt der arme Mann, der sich vorher nur darum zu kümmern brauchte, fröhlich zu singen, Hosenträger, Seidenbörsen und sonstige Artigkeiten zu kaufen, um sie den Schönen zu schenken.‘ “Quant vient au matin, le proudomme, qui est tout debatu de la nuit, des grans pensees qu’il a a eues, se lieve et s’en va” (Rychner (ed.) 1967: 11).
ilz (9)
,Wenn der Morgen kommt, steht der wackere Mann auf, der noch ganz müde ist von den schweren Gedanken, die ihn nachts nicht haben schlafen lassen, und geht weg.‘
Die kursiv gedruckten Wörter sind nicht die einzigen Eingriffe des Herausgebers in den Text der in Rouen aufgewahrten Handschrift. Sie sollen nur zeigen, wie sich die Emendationen auf die sprachliche und inhaltliche Interpretation durch den Leser auswirken. Wenn nun der Editor estoiens (1) durch estoient ersetzt, muss er die Schreibung mit -s für einen schlichten Abschreibfehler gehalten haben. Es ist aber auch eine andere Deutung möglich. Im Verbparadigma werden die 1. Person Plural mit -s markiert und die 2. Person Plural mit -z, in bestimmten Fällen ebenfalls mit -s (z. B. faites). Die Schreibung estoiens kann also durchaus eine Verallgemeinerung der Plu-
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ralmarkierung mit -s zur Markierung der 3. Person Plural darstellen. Gestützt würde eine solche Auffassung durch die Schreibung onst (7), die als doppelte Markierung, mit -s und mit -t, verstanden werden kann. Die Markierung mit -t allein mag deshalb nicht ausreichen, weil -t für die 3. Person schlechthin sowohl im Singular (z. B. dit, fait, peut) als auch im Plural verwendet werden kann. Derartige Entwicklungen werden in einer historischen Grammatik nicht vermerkt. Die Darstellung der Entwicklung wird idealisiert, denn ihre einzelnen Stadien werden so angeordnet, dass sich eine lineare Entwicklung vom Lateinischen zum Altfranzösischen sowie zum Neufranzösischen hin ergibt. Die historischen Grammatiker müssen in dieser Weise vorgehen, denn ihr Ziel ist nicht unbedingt, wie man annehmen könnte, die Darstellung der Geschichte an sich, sondern die geschichtliche Erklärung der Entstehung der heutigen Sprache. Der Sprachwandel selbst geht sehr viel komplexer vonstatten. Er schließt intensive und extensive Verallgemeinerungen ein (1.2.1.4), die nicht bis heute fortdauern. Die Emendationen von perduz (2), desolles (3), noez (5) und donnez (8) weisen auf ähnliche Probleme hin, die deshalb zusammen behandelt werden können. Es ist symptomatisch, dass wiederum -z und -s zur morphologischen Kennzeichnung einer Partizipialform und des Infinitivs Verwendung finden, denn, wo immer ein Schreiber oder Abschreiber im Zweifel ist, welche Form er wählen soll, scheint er sich für diese Markierung zu entscheiden. Unproblematisch ist offenbar nur das maskuline Partizip im Singular, das unmarkiert bleibt. Bei der Schreibung der Infinitivmorpheme kommt hinzu, dass wir letztlich nicht wissen, wie weit die Eingriffe des Editors gegangen sind. Das Infinitivmorphem wird in der Handschrift oft als Kürzel geschrieben, wie oft, ist aber den Hinweisen des Herausgebers nicht zu entnehmen. Nur zur Auflösung der Kürzel bei savoir und avoir schreibt er mit Bedauern im Nachhinein, dass diese Interpretation der Endung wahrscheinlich nicht begründet ist, da an dieser Stelle ebenso gut -er hätte stehen können (Rychner (éd.) 1967: XXXVI). Setzt man die Schreibung mit einer möglichen oder wahrscheinlichen Aussprache ins Verhältnis, wird der kurz gesprochene Auslautvokal des maskulinen Partizips im Singular sich unterschieden haben vom mehr oder weniger gelängten Vokal der anderen Partizipformen und des Infinitivmorphems. Diese Längung ist durch das Verstummen des auslautenden Konsonanten zu erklären. Folglich lässt sich die einheitliche Schreibung des maskulinen Partizips im Singular durch eine einheitliche kurze Aussprache stützen, während die anderen Formen gelängt sind, jedoch verschiedenen Funktionen entsprechen. Unter diesen Umständen kann es zur Verallgemeinerung der Schreibung mit -s für das Femininum (desoles) kommen, zur Verallgemeinerung der Schreibung -z für das maskuline und feminine Partizip Plural (perduz) und sogar für die Infinitivendung (noez, donnez), wenn sie nicht als Kürzel geschrieben wird. Eine Verbindung besteht zwischen den Partizipien im Plural und den Infinitiven auch dadurch, dass die Infinitive in einer inhaltlichen Beziehung zu einer Vielheit von Personen oder von Dingen stehen: “en les regardant noez”, “autres jolivetés pour donnez aux belles”.
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Die Verallgemeinerung der Markierung mit -z in ilz (9) ist nicht mit einer eventuellen Längung zu begründen. Da sie nicht isoliert vorkommt, ist sie nicht als bloßer Fehler zu werten. In diesem Fall, so ist anzunehmen, handelt es sich um die Verallgemeinerung der Subjektmarkierung, die demnach im Singular ebenso erscheint wie im Plural, wo sie zu dieser Zeit bereits etabliert war. Diese hat ihre Herkunft nicht in der Tradition, die für das maskuline Personalpronomen im Singular nur il hat, wenn das Subjekt hervorgehoben werden soll. Es kommt als Erklärung dieser Schreibung nur die Übertragung der Subjektmarkierung des maskulinen Substantivs im Singular in Frage. Man nimmt allgemein an, dass -s in dieser Funktion verstummt ist, jedoch wird diese Tradition in der Schriftsprache zum Teil aufrechterhalten, wie man aus der Variation “le jeunes homs” – “le pouvre homs” in unseren Textauszügen ersehen kann. Da -s und -z in ihren morphologischen Funktionen als Varianten zu betrachten sind, dient die entsprechende Form über seine Pluralfunktion hinaus gelegentlich als Subjektmarkierung. Die Emendation von en (4) durch entre führt zu einer anderen Interpretation von “entendement” und verändert den Sinn der Textstelle. Im Ausdruck “en leur entendement et le mien et de pluseurs autres” ist “entendement” als ,Art und Weise des Verstehens‘ zu interpretieren, in Kombination mit der Präposition entre jedoch als ,Verstand‘. Die Verbindung mit en ist im älteren Französisch so üblich und der Sinn so plausibel, dass eine Emendation nicht gerechtfertigt ist. Das verbleibende Beispiel (6) ist am ehesten als Übertragung von modernen Erwartungen an die Textkonstitution auf ältere Texte zu verstehen. Die kontextuell gegebene Nachzeitigkeit in “pour ce ne lessent pas a soy metre en la nasse” macht der Editor durch die Verwendung des Futurs explizit. Von den textphilologischen Editionen älterer Texte sind solche zu unterscheiden, die sich vornehmen, dem heutigen Leser Mühen bei der Lektüre zu ersparen. Im Allgemeinen ediert man Texte aus der Zeit vom 16. Jahrhundert an in modernisierter Orthographie. Der Grund dafür ist in der von der Renaissance bis heute andauernden Tradition der Rezeption von Texten zu sehen, der nicht derart tiefgreifende Brüche unterstellt werden, wie sie für die Zeit zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit angenommen werden. Allenfalls belässt man es bei einigen Merkmalen, die einem Text nur eine gewisse Patina geben. Dass diese Editionspraxis für den modernen Leser nicht ohne Probleme ist, soll am Beispiel eines Briefs aus den Cartas privadas de emigrantes a Indias (1540–1616) (1988) aufgezeigt werden, die Enrique Otte herausgegeben hat. Diese in Spanisch-Amerika geschriebenen Briefe verfolgen den Zweck, Angehörige, meistens Ehefrauen, zur Auswanderung zu bewegen. Dies ist auch die Absicht des folgenden Briefs, den Alonso Ortiz am 8. März 1574 (zusammen mit einem anderen Brief vom selben Tage) in Mexiko eigenhändig an seine Frau Leonor González in Zafra, einer Stadt der spanischen Extremadura, schrieb: “Señora, recibiré muy gran merced que, vistas estas cartas, que os determinéis luego de aviar vuestro viaje, y de que se venga Melchor González a Sevilla, y allí hallará ciento y cincuenta pesos de oro común, de a ocho reales cada uno, en poder del veinticuatro García de León en Sevilla, y
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tiene compañía con otro mercader de acá de México, que se dice Alonso Ramos, y éste os mandará dar luego parte de ellos para empezar a aviaros, y lo demás dará cuando lo hayas menester para matalotaje para veniros, porque este dinero os lo envía un amigo mío sólo para que vengas, y esto es para sólo el comer y para lo que más necesidad tengas para el viaje para los fletes. Allí envío yo mi poder a vos, para que lo sustituyas a quien vos quisiéredes, para que lo vayan a negociar, y también para que me puedas obligar por los fletes, aunque sean hasta docientos ducados de Castilla, que yo los pagaré luego como sea venida la flota en México” (Otte 1988: 79). ‚Ich werde, liebe Frau, eine sehr große Gunst von Euch erfahren, wenn Ihr, nachdem Ihr diese Briefe gesehen habt, sofort den Entschluss fasst, Eure Reise vorzubereiten, und dass Melchior González nach Sevilla geht. Und dort wird er 150 Pesos aus gewöhnlichem Gold, jeder zu acht Reales, vorfinden, für die der Regidor (Ratsherr) García de León in Sevilla Vollmacht hat. Und er hat eine Kapitalgesellschaft mit einem anderen Kaufmann hier in Mexiko, der Alonso Ramos heißt. Und dieser wird Euch sogleich einen Teil davon übergeben lassen, damit Ihr mit Euren Vorbereitungen beginnen könnt, und den Rest wird er Euch geben, wenn Ihr ihn für den Proviant auf der Herreise braucht, denn dieses Geld schickt Euch ein Freund von mir nur, damit Ihr kommt. Und dies ist nur für das Essen und für das, was Ihr unbedingt für die Überfahrt braucht. Was die Fracht angeht, schicke ich Euch hier meine Vollmacht, damit Ihr einsetzt, wen Ihr wollt, damit man das aushandelt und auch damit Ihr mich für die Fracht verschulden könnt, obwohl es bis zu zweihundert kastilische Dukaten sind, die ich zahlen werde, sowie die Flotte in Mexiko angekommen ist.‘
Diesen Brief edierte Concepción Company Company ein weiteres Mal in einer für sprachgeschichtliche Untersuchungen tauglichen Fassung: “Señora, reçebiré muy gran merçe que, bistas es/7tas cartas, que os determines luego de abiar bues/8tro biaxe, y de que se benga Merçor Gonçalez/9 a Sebilla. Y ay hallará çiento y çinquenta pesos/10 de oro comun, de a ocho reales cada uno, en poder/11 del bentiquatro Garçia de Leon, en Sebilla. Y tie/12ne conpañia con otro mercader de aca de Mexico,/13 que se dize Alonso Ramos. Y éste os mandará dar luego /14 parte dellos para enpeçar abiaros, y lo demas /15 dara quando lo ayas menester, para matalotaxe /16 para beniros, porqueste dinero os lo enbia un amigo /17 mio sólo para que bengas. Y esto es para sólo el co /18mer y para lo que más neçesida tengas para el /19 biaje. Para los fretes, ay enbío yo mi poder a bos, /20 para que lo sostituyas a quin bos quisierdes, pa /21ra que lo bayan a negoçar y tan bien para /22 que me podas obligar por los fretes, aunque se /23an hasta dozientos ducados de Castilla, que /24 yo los pagaré, luego como sea benida la frota /25 en Mexico” (Company Company (ed.) 1994: 177).
Bevor wir ins Einzelne gehen, ist ein Wort zu den Editionskriterien nötig. Die beiden Editionen, denen dieses Textstück entnommen ist, haben sehr verschiedene Zielsetzungen. Heinrich Otte, dessen paläographische Edition von venezolanischen Urkunden aus der Kolonialzeit nicht die gebührende Anerkennung fand (Otte (ed.) 1959), legt mit diesen Briefen eine Textsammlung für Historiker vor. Er erspart dem heutigen Leser die unvertraute Sprache und modernisiert sie. Diese Modernisierung wird jedoch auch wieder nicht konsequent durchgeführt – darin ähneln sich solche Ausgaben –, denn manche Formen, in unserem Textstück zum Beispiel “quisiéredes” statt “quisiereis”, werden nicht in ihrer heutigen Gestalt wiedergegeben. Man indiziert diese Texte gleichsam als archaische durch solche Merkmale, um sie von modernen zu
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unterscheiden. Der Eindruck des Archaischen wird ebenfalls verstärkt durch Wörter mit einer anderen Bedeutung als ihrer heutigen, was aber nicht kommentiert oder glossiert wird. Es kommt eine neue Variation in diesen Text, die im Original nicht zu finden ist. Company Company edierte ihre Texte für eine sprachgeschichtliche Auswertung. Innerhalb der Dokumentation der Geschichte des Spanischen in Amerika sammelt und gibt sie Texte zur Entwicklung des Spanischen auf der mexikanischen Hochebene zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert heraus. Wenn es um Variation geht, müsste es sich also um eine Variation innerhalb des amerikanischen Spanisch handeln. Nichts ist nun aber weniger gewiss. Wenn Alonso Ortiz an seine in Zafra lebende Frau schreibt, bedeutet dies für seine Sprache, dass er nach allem, was wir aufgrund der Lektüre seiner Briefe annehmen dürfen, das regionale Spanisch der Extremadura schreibt. Diese Varietät bringt er nach Mexiko, sie kann daher nicht als Spanisch von Neuspanien gelten. Ediert man Texte, die die Sprache einer spanischen Region in den Kolonien fortsetzen, impliziert man damit die Untersuchung des sprachlichen Verschmelzungsprozesses der in Spanien gesprochenen und geschriebenen Varietäten zu einer oder mehreren neuspanischen Varietäten. Dies ist jedoch nicht intendiert. Nun zur Variation in den Einzelheiten. Vorausgeschickt sei, dass man in jedem Fall über hinreichende sprachgeschichtliche Kenntnisse auch für eine modernisierende Edition verfügen muss. Wenn in der Edition Ottes “y allí hallará ciento y cincuenta pesos” und “Allí envío yo mi poder a vos” steht, was Company Company mit “y ay hallará” und “ay enbío yo mi poder a bos” wiedergibt, wird die Entwicklung von [ʎ] zu [j] implizit angenommen. Vielleicht weiß der Herausgeber Otte nicht, wie sehr die Hispanisten nach frühen Belegen des yeísmo suchen. Die Briefe von Alonso Ortiz geben der mexikanischen Edition zufolge nicht den geringsten Anlass zu dieser Annahme. Wir haben es also mit einem Transliterationsfehler für ahí zu tun. Auch wenn yeísmo vorläge, müsste allí als ayí erscheinen. Das zweite zu besprechende Phänomen betrifft die Anrede der Ehefrau, die zwischen der 2. Person Plural (“os determinéis”, “quisiéredes”) und der 2. Person Singular in den meisten Fällen zu variieren scheint. Die Hispanisten, die sich für ein frühes Vorkommen der Mischung zwischen voseo und tuteo interessieren, würden diese Variation für einen äußerst wichtigen Fund halten. Allein, damit ist es nichts, wenn wir diese Stellen mit Company vergleichen (“determines”, aber “quisierdes”, “ayas menester” usw.), die ebenfalls eine Variation in der Anrede implizieren, aber eine andere. Die Anrede zwischen Eheleuten und überhaupt zwischen Familienangehörigen ist geschichtlich alles andere als belanglos. Das bloße Duzen zwischen Eheleuten wäre in dieser Zeit eine eher ungewöhnliche Erscheinung, mehr noch aber der häufige und, der Edition zufolge, unvorhersehbare Wechsel einer Anrede mit tú und mit vos, die weiter kompliziert wird durch den Wechsel zwischen Singular- und Pluralformen: “Allí envío yo mi poder a vos [Plural], para que lo sostituyas [Singular] a quien vos quisiéredes [Plural], para que lo vayan a negociar, y también para que me puedas
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[Singular] obligar por los fletes”. In dieser neuen Variation wird die Anrede, die für die Konstitution gesellschaftlicher Schichtung eine bedeutende Rolle spielt, als Phänomen nicht mehr verständlich. Ein Plädoyer für eine sprachgeschichtliche Fundierung von Editionen kann aber noch weitergehen: In einer solchen Edition werden Spuren einer regionalen Identität, wie sie nun einmal hier aufscheinen und die auch Historiker interessieren müssten, gelöscht. Die regionalen Merkmale treten dagegen klar in der Edition vom Company hervor: “determines”, “Merçor”, “ayas”, “bengas”, “tengas”, “fretes”, “sostituyas”, “podas”, “frota”. Andere Phänomene wie das Verstummen von [-d] (“merçe”, “neçesida”), der Zusammenfall von /ʃ/ und /ʒ/ in /ʃ/ oder einem anderen Laut, was die phonetische Realisierung angeht (“biaxe” vs. “biaje” als Varianten in diesem Text), Aussprache von [h-] (“hallará”) und anderes mehr verweisen nicht auf eine bestimmte spanische Region. Die als differentiell herausgestellten Merkmale müssen wir mit Zafra und der Extremadura in Verbindung bringen. Ihre Verbreitung ist sehr verschieden. Während fr- im gesamten Westen der Iberischen Halbinsel einschließlich des Portugiesischen zu finden ist, lässt sich zur Monophthongierung determinedes > determinéis > determinés oder podades > podáis > podás verlässlich sagen, dass sie im eigentlich kastilischen und im portugiesischen Sprachraum nicht üblich ist. “Merçor” mit seinem Rhotazismus und der Schreibung ç statt ch, durch einen Schreiber der damaligen Zeit mit “Melchor” überschrieben, wie Company kommentiert, ist wohl ein vereinzeltes Phänomen. Ansonsten wird auch dieser Text bis zu einem gewissen Grad modernisiert. Den heutigen Gepflogenheiten folgen die Interpunktion, die Groß- und Kleinschreibung sowie zum Teil die Setzung von Akzenten. Die Akzentuierung wird nicht systematisch durchgeführt: Die Endbetonung wird bei “mandará” markiert, bei “dara” nicht. Wir finden “enbío” vs. “enbia”, “más” vs. “lo demas”. Lesehilfen sollten besonders in den Fällen gegeben werden, in denen heute Missverständnisse aufkommen können. Dies ist am meisten bei der Schreibung “determines” usw. der Fall. Wenn schon Akzente gesetzt werden, ist man durch die heutigen Lesegewohnheiten versucht, diese Wörter als 2. Person Singular zu lesen und dieselben Fehlinterpretationen zu leisten, die wir im Text von Otte gefunden haben. Die Variation bei Company wäre dann aber eine andere als bei Otte. Wenn man Akzente setzt, sollte man sie in allen Fällen setzen, in denen sie heute der Schreibnorm entsprechen. Dass wir es mit der 2. Person Plural ohne jede intendierte Variation in diesem Text zu tun haben, entnehmen wir dem Nebeneinander der Formen “quisierdes” und “podas”; “podas” kann keine 2. Person Singular sein, weil der betonte Vokal nicht diphthongiert ist. Dementsprechend wären die eine Anrede enthaltenden Verbformen zu akzentuieren: “determinés”, “ayás”, “bengás”, “tengás”, “sostituyás”, “podás”. Wie in mittelalterlichen Handschriften werden also in den modernen gedruckten Editionen neue Varianten eingeführt. Weder werden die Editionskriterien völlig explizit angegeben noch werden sie stets konsequent durchgehalten. Die Variation des Originals mischt sich mit der neuen der Edition. Wenn der Editor in bestimmten Fällen die Sprache vereinheitlicht, entfernen wir uns von der verbürgten Sprache.
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Jede Art von Eingriff wirkt sich unweigerlich auf unsere sprachwissenschaftliche Interpretation aus, sei sie synchronisch oder diachronisch ausgerichtet. Aus unseren Schwierigkeiten werden wir keinen Ausweg finden. Wir werden, wenn wir uns auf ein Sprachzeugnis nicht direkt stützen, immer Eingriffe in die Sprache eines Textes vornehmen müssen, wenn wir ihn für einen bestimmten Zweck edieren. Eine Edition für alle denkbaren Zwecke ist auszuschließen. Die Auswirkung der Editionskriterien auf die sprachwissenschaftliche Interpretation ist nicht nur ein Problem, das wir bei der Verwendung älterer Texte bewältigen müssen, es stellt sich ebenfalls bei der schriftlichen Wiedergabe gesprochener Sprache heute, wie sorgfältig auch immer diese transkribiert oder transliteriert sein mag. Nach den technischen Schwierigkeiten, die bei der Verwendung jedes edierten Textes zu bedenken sind und die zu einer neuen Variation führen können, kommen wir zu einer rein innersprachlichen Variation, die auf dem Wege der Durchsetzung einer einheitlichen Standardsprache neue Varianten zur Folge hat oder, wenn eine standardisierte Sprache noch nicht vollständig übernommen ist, alte Varianten beibehält. In Les .XV. joies de mariage war ein Entwicklungsstadium des Französischen festzustellen, in dem der Prozess der Vereinheitlichung der Schriftsprache sehr weit fortgeschritten war. Den Übergang von einer Varietät zu einer anderen zeigen wir noch einmal an einem italienischen Beispiel. Das Italienische ist diejenige romanische Sprache, deren Standardvarietät früh außerhalb des Ursprungsgebiets in anderen Regionen als Schriftsprache übernommen worden ist. Die berühmtesten Beispiele für die Übernahme der toskanisch-florentinischen Standardsprache sind die sprachliche Überarbeitung des Prosaromans (mit Versdichtungen) Arcadia (1504) durch den Neapolitaner Iacopo Sannazaro (1456–1530), des Epos Orlando furioso (1516, 1521, 1532) durch den oberitalienischen Dichter Ludovico Ariosto (1474–1533) und des Romans I promessi sposi (1821–1823, 1825–1827, 1840–1842) durch den Mailänder Alessandro Manzoni (1785–1873). Die Unterschiede sind bei diesen Autoren jedoch nicht so manifest wie bei denjenigen, die eine Standardsprache schreiben wollen, dennoch aber relativ stark in ihrer Tradition verhaftet bleiben. Deshalb wähle ich einen neapolitanischen Text des 15. Jahrhunderts, in dem ein anonymer Dichter in der Nachfolge Dantes (“Nel mezo del camin(o) di nostra vita …”, was Karl Vossler mit „Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe“ wiedergibt) sich bemüht, wie andere Dichter außerhalb der Toskana durch die Toskanisierung seiner Sprache und in Annäherung ans Lateinische eine gemeinsame italienische Literatursprache zu schreiben. Eine weiße und eine schwarze Frau erscheinen dem anonymen Dichter in einem finstern Walde. Er beschwört sie, sich zu erkennen zu geben. Eine der beiden Frauen gibt ihm zur Antwort: 15
“– Tòrnate a reto tu che nanti vai: ché nui ti diceremo quanto e come, poi te palificaremo lu nostro nome.
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Da miccino garzone assai t’amammo: nelli vinti anni bello ti facesti, ad una grande sedia t’assedammo, insieme con nui magnasti e crescesti; nelli trent’anni qui te ritrovammo. Lo mondo t’enganda e non lo conoscesti: tòrnate a reto e piú nanti non gire. Pensa la morte, ché tu de’ morire” (Altamura (a cura di) 1978: 62).
,Kehr zurück, du, der du vorangehst. Denn wir werden dir alles sagen, danach werden wir dir unseren Namen kundtun. Wir liebten dich von klein auf sehr. In diesen zwanzig Jahren bist du schön geworden. Wir setzten dich auf einen großen Stuhl. Zusammen mit uns hast du gegessen und bist du aufgewachsen. Hier fanden wir dich mit dreißig Jahren wieder. Die Welt betrügt dich und du hast sie nicht kennengelernt: Kehr zurück und geh nicht weiter. Denk an den Tod, denn du musst sterben.‘
Der Text dieses in der Universitätsbibliothek von Bologna aufbewahrten Gedichts ist in einer Abschrift überliefert, die seine neapolitanischen Züge noch klar hervortreten lassen. Mit diesen wollen wir uns hier ausschließlich befassen. In der Phonetik ist die auffälligste Erscheinung die Metaphonie oder der Umlaut von [e] zu [i] und von [o] zu [u], die durch den Einfluss von [-i] herbeigeführt wird in “vinti” (18) und “nui” (15, 20). Die analoge Metaphonie, die durch [-u] bedingt ist, kommt in den zitierten Versen nicht vor; sie ist in den italienischen Dialekten weniger verbreitet als die durch [-i] bedingte. Die Metaphonie besteht in einer Erhöhung der Zungenstellung, die auch zur Diphthongierung führen kann. Da diese Auslautvokale nicht immer als [-i] oder [-u] erhalten sind, ist diese Wirkung heute nicht mehr ohne weiteres festzustellen. Im Neapolitanischen findet sich für altes [-i] ein [-ə]. Auslautendes -i und -e variieren in “ti diceremo” (15), “te palificaremo” (16), “ti facesti” (18) und “te ritrovammo” (21). Den Wechsel dieser Formen dürfen wir auf das an dieser Stelle in der gesprochenen Sprache vorkommende [ə] zurückführen. Die Verbform “t’enganda” (22) weist neben dem vom Toskanischen abweichenden Anlaut mit estatt i- eine hyperkorrekte Schreibung auf. Da in den süditalienischen Dialekten eine Assimilation von -nd- > -nn- stattfand, die im Neapolitanischen auch bei mondo (22) normalerweise zu diesem Resultat geführt hat, wird im Bewusstsein der Entsprechung -nn-/-nd- diese, ausgehend vom Neapolitanischen, auch dort hergestellt, wo sie wie bei inganna nicht besteht. Unter den lautlichen Erscheinungen sei noch die Aphärese in “nanti” (14, 23) statt inante erwähnt. Während lo als Artikelform in “Lo mondo” (22) noch eine allgemeine, wenn auch seltener werdende Möglichkeit seines Ausdrucks darstellte, ist lu in “lu nostro nome” (16) phonetisch eine neapolitanische Form. In der Morphologie ist weiterhin die Futurform “diceremo” (15) statt diremo nicht adaptiert. Im Wortschatz fallen “Tòrnate” (14, 23), “a reto” (14, 23), “nanti” (14, 23), “palificaremo” (16), “miccino” (17), “magnasti” (20) und “gire” (23) auf.
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Die Variation erscheint in diesen drei Beispielen im Diskurs, genauer im Text. Man kann sie als Indizien dafür ansehen, dass in den Texten zwei verschiedene Varietäten realisiert werden, zum Beispiel das damalige überregionale Französisch und ein südwestfranzösischer Dialekt in Les .XV. joies de mariage, das damalige überregionale Spanisch und ein südleonesischer Dialekt (extremeño) im Brief von Alonso Ortiz und die damalige toskanische Literatursprache und das Neapolitanische. Die Variation im Text müssen wir aber klar unterscheiden von der Variation, die sich aus dem Vergleich mehrerer analoger sprachlicher Erscheinungen ergibt.
2.4.2 Dimensionen der Variation Den Dimensionen der Sprachvariation nähern wir uns wie zuvor der sprachlichen Homogenität über die Sprachwissenschaftsgeschichte. Es wird im Wesentlichen um die Entwicklungslinie gehen, die in diesem Kontext fortgesetzt werden soll. Andere Auffassungen kommen zur Sprache, um den hier vertretenen Standpunkt besser zu situieren. Deshalb kommen wir wieder auf Saussure zurück. Der Cours de linguistique générale hätte den Intentionen seines Autors zufolge in seiner letzten Fassung mit der Verschiedenheit der Sprachen (“De la diversité des langues”, 1916: 261–264) beginnen sollen und zwar mit der Verschiedenheit der Sprachen im Raum (Saussure 21985: 474, Anmerkung 291). Das mit ,Sprachgeographie‘ überschriebene Kapitel (“Géographie linguistique”, 1916: 261–289) wurde jedoch als vierter Teil fast ans Ende des Werks verbannt und daher der Zusammenhang mit dem Stand der Sprachwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch mit den Interessen von Laien, die sich im Allgemeinen für die sprachliche Verschiedenheit interessieren, aufgehoben. Statt Saussures Auffassungen an die Sprachwissenschaft seiner Zeit im Cours anzuschließen, akzentuieren die Herausgeber einen Bruch mit der Tradition durch eine Abfolge der Themen, die die langue, den Gegenstand der Sprachwissenschaft bei Saussure, scharf von der zeitgenössischen diachronischen Sprachwissenschaft absetzt und dadurch das Neue betont, den Zusammenhang mit der Tradition aber herunterspielt. Es ist nun eigenartig, dass die übergreifende theoretische Reflexion über die Sprachvariation nicht von denjenigen Linguisten geübt wurde, die sich ihr in ihrer täglichen wissenschaftlichen Arbeit widmeten: Die Dialektologen und die Sprachgeographen verfeinerten ständig ihre Untersuchungsmethoden und so bedeutende Sprachgeographen wie die Schweizer Karl Jaberg (1877–1958) und Jakob Jud (1882– 1952) bezogen in ihren Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (1928–1940; abgekürzt AIS) neben der räumlichen Variation auch die soziale ein. Die Theorie der Variation aber wurde dadurch nicht unmittelbar vorangebracht, solange sie die Variation selbst im Rahmen der Dialektologie, der Sprachgeographie und der Sprachgeschichte untersuchten.
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Die Variation wurde dagegen dort zum Problem, wo sie zunächst aus der Betrachtung ausgeschlossen worden war, in der Sprachwissenschaft also, die sich im europäischen Kontext in der Folge von Saussure mit der langue beschäftigte. Damit beanspruchte nicht mehr ausschließlich die diachronische Sprachwissenschaft wissenschaftliche Dignität, sondern auch die synchronisch-deskriptive Linguistik. In Gestalt der Phonologie wurde die deskriptive und nicht-normative Linguistik in strukturalistischer Ausrichtung auf dem ersten internationalen Linguistenkongress 1928 in Den Haag von den Russen Roman Jakobson (1896–1982), Sergej Karcevskij (1884–1955) und dem Fürsten N. S. Trubetzkoy (bzw. Trubeckoj; 1890–1938) aus der Taufe gehoben. Die Entwicklung der Beschreibung im Sinne einer homogenen Sprache des dritten Typs, wie wir sie oben unterschieden haben (2.1.1), musste schon recht weit gehen, bevor die Variation reflektiert wurde und zwar im Rahmen der Kopenhagener Schule des Strukturalismus durch den Norweger Leiv Flydal. 2.4.2.1 Leiv Flydal über die Beziehungen zwischen Stil und Sprachzustand Saussure hatte zwischen Synchronie und Diachronie unterschieden: Die synchronische Sprachwissenschaft habe es mit dem Sprachzustand zu tun, die diachronische mit der Entwicklung. An dieser Stelle setzt Leiv Flydal (1904–1983) mit seiner Saussure-Kritik an. Er verweist auf Saussures Annahme, dass die Unterscheidung zwischen Synchronie und Diachronie, die wir hier als nur methodische Unterscheidung in der Sprachwissenschaft herausgestellt haben (cf. 2.1.3), im Sprecherbewusstsein verankert sei und hebt in seinem Saussure-Zitat diesen strikten Zusammenhang zwischen Sprachzustand und Sprecherbewusstsein hervor: ‚Wenn man die Fakten einer Sprache untersucht, fällt einem als Erstes auf, dass ihre Aufeinanderfolge in der Zeit für den Sprecher nicht existiert: Er befindet sich vor einem Zustand. Daher muss der Sprachwissenschaftler, der diesen Zustand verstehen will, von allem absehen, was ihn herbeigeführt hat, und die Diachronie ignorieren. Er kann in das Bewusstsein der Sprecher nur eindringen, wenn er die Vergangenheit beiseitelässt‘ (Saussure 1916: 117; Hervorhebungen von Flydal; meine Übersetzung).
Dieser Zusammenhang wird unter Verweis auf norwegische und französische Beispiele in Abrede gestellt. Wenn Franzosen “À la belle fontaine les mains me suis lavées” (‚Am schönen Quell habe ich mir die Hände gewaschen‘) singen, wüssten sie, dass sie eine syntaktische Struktur verwenden, die nicht dem heutigen Sprachgebrauch entspricht. Folgerichtig bringt er die Diachronie wieder in die Betrachtung eines Sprachzustands, wie Flydal meint, hinein. Genau genommen geht es ihm aber nicht nur um einen Sprachzustand. In Frage stehen gerade die Wahlmöglichkeiten, die die Sprecher zur Verfügung haben. So nimmt Flydal an, dass die Sprecher gewöhnlich ein bestimmtes Sprachsystem verwenden, punktuell jedoch zu einem System der Vergangenheit übergehen können: ‚Es zeigt sich also, dass die Sprecher in den zitierten Fällen einen Augenblick lang lieber ein anderes Sprachsystem als
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ihr übliches verwenden, nämlich ein System, das für sie der Vergangenheit angehört‘ (Flydal 1951: 242; meine Übersetzung). Im Zentrum der theoretischen Überlegungen steht hier der Text, in dem Sprecher eine bestimmte Varietät, stellenweise aber andere Systeme verwenden, allerdings nicht nur ältere wie im gegenwärtigen Beispiel. Mit Sprachzustand ist vor allem der gegenwärtige Sprachzustand gemeint. Da aber viele Menschen Texte aus anderen Zeiten lesen (Flydal meint besonders die ‚Gelehrten‘), existieren die entsprechenden Sprachzustände nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Um eine Differenzierung in die ‚gleichzeitigen Sprachzustände‘ zu bringen, die ein einzelner kennt, bevorzugt er den Terminus ‚Struktur‘, wenn es um eine Gesamtheit von miteinander solidarischen Phänomenen geht, die verschiedene Teilsysteme einschließt. Daraus ergibt sich die folgende Erläuterung zur Stellung der ‚Archaismen‘. ‚Folglich sind die verschiedenen Systeme des Französischen, die der Gelehrte (und in einem bescheideneren Maße der Schüler) kennt und aus denen er bisweilen gerne in seine Alltagssprache entlehnt, bei ihm gleichzeitige Sprachstrukturen. Diese verschiedenen Sprachstrukturen sind in seinem Sprachbewusstsein je nach seinen Kenntnissen in größerer oder geringerer Übereinstimmung mit der geschichtlichen Abfolge auf einer Achse angeordnet, die aus streng synchronischer Sicht keine Achse der in der Zeit aufeinanderfolgenden Erscheinungen mehr ist, sondern eine Achse, auf der sich gewisse gleichzeitige Erscheinungen oder, wie wir sie lieber nennen möchten, gewisse zeitlich koexistierende Erscheinungen aneinanderreihen, deren Verschiedenartigkeit im Verhältnis zu ihrer Umgebung ihnen einen expressiven Wert verleiht: die Archaismen‘ (Flydal 1951: 244; meine Übersetzung).
Die Einzelsprachen können solche Rückgriffe auf frühere Sprachstrukturen in einem unterschiedlichen Ausmaß zulassen. Elemente aus älteren Sprachzuständen, die mit der gegenwärtigen Sprachstruktur koexistieren, nennt er ‚Extrastrukturalismen‘ und ferner ‚innereinzelsprachlich‘, da sie aus derselben historischen Sprache, wie wir hier sagen, herrühren. Um die Beziehung zwischen der Struktur und den Extrastrukturalismen zu erfassen, führt Flydal den neuen Begriff ‚Gesamtarchitektur der Sprache‘ oder ‚Spracharchitektur‘ ein. Obwohl wir diesen Terminus in diesem Handbuch verwenden und er letztlich auf Flydal zurückgeht, ist er begrifflich vom Flydalschen verschieden, da wir damit das Gefüge der Varietäten einer historischen Sprache in ihrer Gesamtheit und auch die mit ihnen interagierenden Varietäten anderer historischer Sprachen bezeichnen, während Flydal auf diese Weise den durch die Übernahme von Extrastrukturalismen bis zu einem gewissen Grad heterogenen Charakter einer langue benennt. Diese langue ist für ihn vorzugsweise, aber nicht ausschließlich, die Standardsprache. Mit den ,Archaismen‘, die in Beziehung zu einer gegenwärtigen Sprachstruktur stehen, meint er nicht diejenigen wie z. B. à son corps défendant ‚ungern, aus Notwehr‘, bachelier ès lettres ‚Baccalaureus der Philosophie‘, sondern diejenigen, die
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als Verfahrensweisen oder als sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten in die moderne Sprache entlehnt werden können. Als Erläuterungen sei je ein Beispiel für die Stellung der verbundenen Pronomina und für Sätze ohne Subjektpronomen gegeben. Im Cid von Corneille antwortet D. Sanche auf die Frage “Et que pourrez-vous dire?” (‚Und was werdet Ihr sagen können?‘) von D. Fernand: “Qu’une âme accoutumée aux grandes actions Ne se peut abaisser à des submissions” (Corneille 1961: 42; Vers 582–584). ‚Dass eine an große Taten gewöhnte Seele sich nicht zur Unterwerfung erniedrigen kann.‘
Solche Fälle wie “ne se peut abaisser” statt “ne peut s’abaisser” kämen in Frage, wenn Anatole France, den Flydal als Beispiel anführt, vergangene Zeiten evoziert. Oder nach dem Muster eines ironischen “Ne vous en déplaise!” (‚mit Ihrer gnädigen Erlaubnis‘ oder ‚wenn’s gefällig ist‘) können ähnliche subjektlose Sätze gebildet werden. Nach der Betrachtung der Diachronie in der Synchronie sieht sich Flydal dazu veranlasst, die Synchronie nicht nur als ‚Achse der zeitlich aufeinanderfolgenden Erscheinungen‘, sondern allgemein als ‚Achse der aufeinanderfolgenden Erscheinungen‘ zu verstehen, denn die sprachlichen Erscheinungen folgen aufeinander nicht nur in der Zeit, sondern ebenfalls im Raum. An dieser Stelle werden die Termini „diatopisch“ und „syntopisch“ in die Sprachwissenschaft eingeführt. Sie schließen sich (wie die weiter unten eingeführten und analog gebildeten) an „diachronisch“ und „synchronisch“ bei Saussure an. ‚Die Sprachstrukturen folgen in ziemlich ähnlicher Weise im Raum aufeinander. In kaum merklichen Veränderungen lösen sich die verschiedenen Sprachstrukturen einander in den Mundarten von der Nordsee bis zur germanisch-slavischen Sprachgrenze ab. Ebenso steht es mit den Mundarten in Frankreich und Italien vom Ärmelkanal bis zur Adria. Die diesem Raum eigenen sprachlichen Erscheinungen können entweder mit vergleichenden Methoden in ihren von Region zu Region beobachtbaren Veränderungen betrachtet werden, d. h. in dem, was man ihre diatopische Perspektive nennen könnte, oder in den Beziehungen der Phänomene untereinander, die man jeweils innerhalb eines Teils dieses Gebiets beobachten kann, d. h. gemäß dem, was wir den syntopischen Gesichtspunkt nennen möchten. In diatopischer Perspektive stellen sich die sprachlichen Fakten als im Raum aufeinanderfolgende Erscheinungen dar, in syntopischer als räumlich koexistierende Erscheinungen, die systematische Ganzheiten bilden, die wir als Sprachstrukturen bezeichnet haben […]‘ (Flydal 1951: 248; meine Übersetzung)
Flydal denkt dabei insbesondere an eine Amtssprache, die sich im Kontakt mit einer Mundart befindet, so dass Sprecher aus der Amtssprache in die Mundart oder aus der Mundart in die Amtssprache entlehnen. Diese meist lexikalischen Entlehnungen sind ‚Provinzialismen‘. Wichtig sind ihm vor allem die Wortentlehnungen aus den Mundarten in die Standardsprache, für die diese, je nach Tradition, in unterschiedlichem Maße aufnahmebereit sein kann. Auch durch die Ausnutzung der im Raum differenzierten Strukturen ist eine spezifische Sprachstruktur gekennzeichnet.
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Die Termini „diastratisch“ und „synstratisch“ führt er dagegen nur in einer Abbildung ein. Die damit gemeinten Begriffe erläutert er in sehr allgemeiner Weise: ‚Neben der Aufeinanderfolge in der Zeit und im Raum folgen die Sprachstrukturen in Gesellschaften mit hinreichend entwickelter gesellschaftlicher Hierarchie auch in dem Maße aufeinander, wie man auf der sozialen Stufenleiter auf- oder niedersteigt. Die Divergenzen zwischen der Sprechweise der niedrigsten Schicht und derjenigen der höchsten Schicht im nicht-vertraulichen Umgang beschränken sich zwar auf eine ziemlich begrenzte Anzahl von Teilsystemen, sie werden aber sehr ausgiebig von den Schriftstellern genutzt, denn ihre gebildete Leserschaft beherrscht immer eine variable Anzahl von Teilsystemen, die verschiedenen gesellschaftlichen Niveaus angehören und in ihrem Geist ihrem Prestige nach angeordnet sind. Diese Unterschiede, meinen wir, dürfen sehr wohl dann als Strukturunterschiede bezeichnet werden, wenn sie so tiefgreifend wie im Französischen zum Beispiel die Formen der Frage oder der Verneinung, die Mittel der Ableitung und des passé composé der reflexiven Verben berühren‘ (Flydal 1951: 250– 251; meine Übersetzung).
Aus dem Über- oder Untereinander mehrerer Sprachstrukturen in einer Gesellschaft zieht er weitergehende Konsequenzen. Er betrachtet nicht nur aus diastratischer Perspektive koexistierende Strukturen, sondern auch solche, die diachronisch und diatopisch im Sprachbewusstsein nebeneinander bestehen. Daraus leitet er einen teilweisen Bilinguismus oder Polylinguismus der Sprecher ab. Dieser Bi- oder Polylinguismus ist deshalb partiell, weil die Sprecher oft nur Teilsysteme einer anderen Struktur erlernen. Von hier aus ergeben sich Verbindungen zur Bilinguismus- und Polylinguismusdiskussion, die wir an einer anderen Stelle wieder aufgreifen müssen. Was Flydal ‚Grenze der Verständlichkeit‘ innerhalb einer historischen Sprache nennt, für die er als Terminus frz. idiome hat, gehört nach der hier vertretenen Auffassung zur Spracharchitektur, wenn man darunter das Gefüge aller Varietäten einer historischen Sprache versteht. Flydal grenzt ‚Gesamtarchitektur‘ oder ‚Spracharchitektur‘ auf die ‚interstrukturellen‘ Entlehnungen und diejenige Spracharchitektur ein, in die sie integriert werden. Er ist eher für die individuelle Ausnutzung der Ausdrucksmöglichkeiten einer historischen Sprache relevant als für diejenigen Erscheinungen, die in einer Sprachgemeinschaft eine unterschiedlich weite Verbreitung finden. Die Unterscheidung zwischen Sprachzustand und Sprachstruktur ist von Coseriu aufgegriffen und verbreitet worden; die Struktur ist in diesem Sinne nichts anderes als die „funktionelle Sprache“ (Coseriu 21992: 266–278). In einem strengen Sinne wäre dies ebenfalls die Definition von „Varietät“, wenn auch in einem anderen wissenschaftlichen Kontext. So stellt Flydal fest: ‚Das Systemganze, das die Sprachstruktur ist, untergliedert sich in Teilsysteme. Diese Teilsysteme sind in ihrem Verhältnis zueinander das, was zeitlich koexistiert; gleichzeitig koexistiert es im Raum und in der Gesellschaft. Wir nennen sie regelmäßige in der Struktur koexistierende Erscheinungen‘ (Flydal 1951: 255; meine Übersetzung). Der Ort, an dem die Übernahme von Teilsystemen in die Sprachstruktur stattfindet, ist in erster Linie der einzelne Sprecher. Die entsprechenden ‚in der Struktur
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koexistierenden Entlehnungen‘ (Flydal 1951: 255) sind dann Stilmittel, die ein Sprecher als Extrastrukturalismen in die dominierende Struktur integriert. Der Rückgriff auf Extrastrukturalismen kann jedoch in einer Sprachgemeinschaft üblich sein; in diesem Fall haben wir es mit einem einzelsprachlichen Faktum zu tun: ‚Solche Operationen können alle diejenigen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft durchführen, die mehr als eine einzige Sprachstruktur, und seien es auch nur Bruchstücke davon, besitzen, d. h. diejenigen, die in dem Sinne, den wir diesem Wort gegeben haben, mehr oder weniger zweisprachig sind. Wenn der Sprecher die Verbindung zwischen den beiden betreffenden Strukturen bereits vorfindet (wie vollständig auch immer diese sein mögen) und der Weg für das jeweilige Element frei ist, hat man es mit einem einzelsprachlichen Faktum zu tun. Wenn er diesen Weg selbst bahnt, ist sein Werk, als Werk eines einzelnen, ein Faktum der Rede‘ (Flydal 1951: 256; Flydals Hervorhebungen und meine Übersetzung).
Flydal trägt mit seinem Aufsatz zur Stilistik im Rahmen des Kopenhagener Strukturalismus bei. Er nimmt die Perspektive derjenigen Sprecher ein, die über mehr als eine Sprachstruktur verfügen. Dadurch geraten ihm aber viele Phänomene nicht in den Blick, die Coseriu, vor allem auf Flydal aufbauend, diaphasisch bzw. symphasisch nennt (cf. 2.4.2.3). Die durch Rückgriff auf ältere Texte bedingte Variation, die man diachronische Variation nennen kann, verlassen wir an dieser Stelle. Damit wird nicht behauptet, dass sie irrelevant oder unwichtig wäre. Im Gegenteil, eine ältere Schriftsprache wirkt, wenn ihre Texte in einer Sprachgemeinschaft bekannt bleiben, auf ihre geschriebene und auf ihre gesprochene Gegenwartssprache zurück. Ein frühes Beispiel dafür ist Jean Froissart (um 1337–um 1410) in der französischen Sprachgeschichte. In seinen Chroniques stellt er die vergangenen Heldentaten des Adels in einer archaisierenden Sprache dar, die sich am deutlichsten in der Morphologie und in der Syntax ausdrückt. Die italienische Standardsprache hat sich durch die Verwendung der toskanischen Sprache der Dichter des 14. Jahrhunderts in einem komplexen Prozess herausgebildet. In späterer Zeit konstituieren sich auf diese Weise Standardsprachen. Die Kastilisierung der gesprochenen katalanischen Sprache wird zum Teil rückgängig gemacht durch eine neue Orientierung an der katalanischen Sprache des Mittelalters und an den weniger vom Spanischen beeinflussten Dialekten (cf. 5.11). Analoges gilt für das Okzitanische (cf. 5.9) und überhaupt für Sprachen, deren Sprecher ihre Sprache für überfremdet ansehen. Wenn es also einerseits eine diachronisch motivierte Variation gibt, so ist andererseits die Annahme einer diachronischen Varietät ein Widerspruch in sich. Man aktualisiert eine Varietät einer vergangenen Synchronie und kann damit eine archaisierende Varietät in der Gegenwart schaffen. Zu einer „diachronischen Varietät“ wird die vergangene Sprache nicht. Darin unterscheidet sich eine diachronische Variation grundlegend von einer diatopischen, diastratischen und diaphasischen. Wir werden sie also im Weiteren nicht mehr in der synchronischen Betrachtung berücksichtigen.
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2.4.2.2 Uriel Weinreich zum Diasystem Für die Einzelsprache mit allen ihren Teilsystemen hatte Flydal frz. idiome verwendet. Viele Linguisten wählen heute für den Verweis auf eine Einzelsprache in ihrer Gesamtheit den Terminus Diasystem unter Bezug auf Weinreich (1968). Betrachten wir also den Aufsatz näher, in dem er den Terminus einführt. Weinreich (1926–1967) legt seiner Klärung des Begriffs des Diasystems nicht das Sprecherbewusstsein oder, wie er sich ausdrückt, die ‚empirische Realität‘ zugrunde (1968: 317), sondern ein Diasystem ist das Ergebnis einer methodischen Konstruktion. In einer ersten Reihe von Schritten muss eine Sprache im Sinne der strukturellen Sprachwissenschaft als System abgegrenzt und beschrieben werden. Dies macht eine Reduktion der Heterogenität von Sprache zum Zwecke der Beschreibung notwendig. Folglich werden Elemente aus anderen Sprachsystemen, die man in den Daten findet, eliminiert. Aber auch nach dieser Operation ist eine Sprache immer noch ein Bündel von Varietäten, das auf eine einzige einheitliche Varietät reduziert werden muss. Eine solche einheitliche Varietät stellt Weinreich dem Begriff von Sprache bei Laien gegenüber, die ein “aggregate of systems” (1968: 306) umfasse. In Rahmen einer strukturalistischen Beschreibung ist jedoch ‚die gleichzeitige Betrachtung mehrerer teilweise ähnlicher Varietäten‘ (1968: 307) unmöglich. An dieser Stelle führt Weinreich die Konstruktion eines Diasystems ein: “Structural linguistic theory now needs procedures for constructing systems of a higher level out of discrete and homogeneous systems that are derived from description and that represent each a unique formal organization of the substance of expression and content. Let us dub these con structions ‘diasystems’, with the proviso that people allergic to such coinages might safely speak of supersystems or simply of systems of a higher level. A ‘diasystem’ can be constructed by the linguistic analyst out of any two systems which have partial similarities (it is these similarities which make it something different from the mere sum of two systems)” (1968: 307).
Und weiter unten in einem anderen Kontext: “Constructing a diasystem means placing discrete varieties in a kind of continuum determined by their partial similarities” (1968: 314). Wenn er dann feststellt, dass ein solches konstruiertes Diasystem in der Wirklichkeit derjenigen Sprecher, die die beiden der Konstruktion zugrunde liegenden Varietäten kennen, vorkommen kann, so ist dies doch eine sekundäre Erscheinung. Grundsätzlich bleibt ein Diasystem ein System, das aufgrund der Ähnlichkeiten zweier oder mehrerer Systeme im Bereich der Phonologie, der Grammatik oder des Wortschatzes vom Linguisten konstruiert wird. Ein Diasystem hat bei Weinreich folglich einen anderen Status als die Spracharchitektur Flydals. Und der Begriff, der heute mit dem Terminus „Diasystem“ verbunden wird, ist ebenfalls ein anderer als bei Weinreich. Er stimmt eher mit dem Begriff von Sprache überein, den er “aggregate of systems” genannt hatte und der bei ihm im Sprachbewusstsein der Laien verankert ist. Dem Terminus Diasystem entsprechen bei Weinreich und im heutigen allgemeinen Usus also verschiedene Begriffe. Man kann zwar durchaus eine neue begriffliche Deutung dieses Terminus vornehmen, es ist aber
2.4 Sprachvariation und Varietäten
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eine – weit verbreitete – Fehlinterpretation, wenn man sich bei dieser Verwendung von Diaystem einfach auf Weinreich beruft. 2.4.2.3 Typen von sprachlichen Unterschieden und von Varietäten Die Rezeption der in diesem Kapitel zu besprechenden Terminologie für die Variation und die Varietäten, die mindestens in Europa und in Iberoamerika am weitesten verbreitet ist, geht nicht von ihrem Urheber, dem norwegischen Romanisten Flydal (1951), direkt aus, sondern von Coseriu. Der offenbar nur wenigen bekannte Weg der Verbreitung seiner Auffassung verdient eine Erläuterung. Die neue Terminologie schlägt Coseriu im Beitrag “Los conceptos de ‘dialecto’, ‘nivel’ y ‘estilo de lengua’ y el sentido propio de la dialectología” (,Die Begriffe ‘Dialekt’, ‘Niveau’ und ‘Sprachstil’ und der eigentliche Sinn der Dialektologie‘) vor, den er für den 1958 in Porto Alegre gehaltenen Primeiro Congresso Brasileiro de Dialectologia e Etnografia geschrieben hatte (Coseriu 1981: 32, Anmerkung 48). Da die Akten dieses Kongresses nicht erschienen sind, geht die erste Rezeption von 1957 an in Montevideo vom Manuskript und von der Lehre aus. Als der Beitrag 1981 in Lingüística Española Actual erschien (eine kürzere und etwas anders gewichtete Fassung kam 1980 heraus), war diese Auffassung bereits durch die Vorträge und die Lehre Coserius besonders in Deutschland und im spanischsprachigen, aber auch im sonstigen romanischsprachigen Raum von 1961 an bekannt geworden. Sie wurde von 1966 an in seine Publikationen aufgenommen, in denen es zuerst um den Ort der strukturellen Semantik in der deskriptiven Sprachwissenschaft im Allgemeinen und später um eine integrale Sprachwissenschaft ging (Coseriu 21992; die Jahreszahl gibt auch in diesem Fall nicht das Jahr der ersten publizierten Fassung an). Obwohl Coseriu unter seinen Quellen ganz besonders Flydal hervorhebt (Coseriu 1981: 3) und angibt, welche Termini er übernimmt und welche er neu schafft, kommt er darauf im Kontext seiner eigenen Darstellungen später nicht mehr zurück. Leser, die diese Zusammenhänge nicht kennen, können diese sprachtheoretischen Positionen für allgemein vertretene halten, da sie von Coseriu so präsentiert werden, als seien sie allgemein bekannt. Daher erfahren die Leser nicht, dass Coseriu die Beschreibung des großen Bereichs, den man heute der Variation und den Varietäten zuordnet, wenigstens vom Ansatz her systematisiert. Die hier skizzierten Zusammenhänge, die weite Bereiche der Variationslinguistik betreffen, werden, soweit mir bekannt ist, unzulänglich oder überhaupt nicht in den einschlägigen Handbüchern dargestellt, so auch nicht in Koch/Oesterreicher 22011/11990, die sich auf Coseriu berufen. Dazu mehr weiter unten. Rezipiert wurden von so gut wie allen Linguisten (allerdings weniger im englischen Sprachraum) nur die Termini, die die Variation betreffen („diatopisch“, „diastratisch“, in geringerem Maße „diaphasisch“). Die anderen Termini, die die „funktionelle Sprache“ bzw. eine Varietät abgrenzen („syntopisch“, „synstratisch“, „symphasisch“), wurden, da die „funktionelle Sprache“ die Sprachstrukturen betrifft und die mit ihnen sich beschäftigende strukturelle Sprachwissenschaft den meisten
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2 Die Einzelsprache
als „überholt“ gilt (obgleich sie recht regelmäßig ohne diese als abqualifizierend betrachtete Benennung weiterbetrieben wird), von ganz wenigen übernommen. Was ich hier „Varietät“ nenne, erscheint bei Coseriu in einer sehr strengen Begriffsbestimmung als „funktionelle Sprache“. Die sprachliche Homogenität und die sprachliche Heterogenität sieht Coseriu im Rahmen der historischen Sprache; diesen Terminus führt er ebenfalls 1958 ein. Die für uns wichtigsten Seiten gebe ich in einer neuen Übersetzung wieder, in der die ursprünglichen Termini „diaphatisch“ und „symphatisch“ jedoch durch die später eingeführten Formen „diaphasisch“ und „symphasisch“ ersetzt werden: ,Dialekte, Niveaus, Sprachstile 3.1.1. Die dialektale (‘räumliche’) Verschiedenheit macht […] nicht die ganze Verschiedenheit der historischen Sprachen aus. Normalerweise lassen sich in einer historischen Sprache drei Grundtypen innerer Differenzierung feststellen: a) Unterschiede im geographischen Raum oder diatopische Unterschiede; b) Unterschiede zwischen den verschiedenen soziokulturellen Schichten der Sprachgemeinschaft oder diastratische Unterschiede; und c) Unterschiede zwischen den Typen von Ausdrucksweisen, entsprechend den bei jedem Sprechen stets gegebenen Umständen (Sprecher, Hörer, Situation oder Anlass des Sprechens und Thema, über das gesprochen wird) oder diaphasische Unterschiede. 3.1.2. Umgekehrt (d. h. im Sinne der Konvergenz und Homogenität der einzelsprachlichen Traditionen) entsprechen diesen drei Typen von Unterschieden drei Typen einheitlicher (oder zumindest mehr oder weniger einheitlicher) Isoglossensysteme [eine Isoglosse ist in der Sprachgeographie eine gedachte Linie, die die Verbreitung eines Phänomens auf einer Sprachkarte abgrenzt, J.L.], nämlich syntopische Einheiten, die man weiterhin Dialekte nennen kann, da sie tatsächlich einen besonderen Typ von ‚Dialekten‘ darstellen; synstratische Einheiten oder Sprachniveaus (z. B. ‚Sprache der Gebildeten‘, ‚Sprache der Mittelschicht‘, ‚Sprache des Volks‘ usw.); und symphasische Einheiten oder Sprachstile (z. B. ‚familiäre Sprache‘, ‚feierliche Sprache‘ usw.). Zu den Sprachstilen gehören auch die ‚Gruppensprachen‘, die auf ein und derselben soziokulturellen Ebene (oder von den Ebenen unabhängig) unterschieden werden können: Zum einen die ‚Sprachen‘ der großen ‚biologischen‘ Gruppen (‚Männersprache‘, ‚Frauensprache‘, die in gewissen Gemeinschaften sehr divergieren können) und die der Generationen (‚Erwachsenensprache‘, ‚Kindersprache‘); zum anderen die ‚Sprachen‘ der Gesellschafts- und der Berufsgruppen. Die sehr allgemeinen Typen zusammenhängender Stile, die weiten Lebens- und Kulturbereichen und zusammenhängenden Typen von Umständen entsprechen (z. B. ‚gesprochene Sprache‘, ‚geschriebene Sprache‘, ‚Literatursprache‘) kann man einzelsprachliche Register nennen. 3.1.3. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass alle diese Einheiten jeweils nur von einem einzigen Standpunkt aus homogen sind, das heißt, dass Homogenität in einer Hinsicht nicht Homogenität in den beiden anderen impliziert: Innerhalb einer jeden syntopischen Einheit gibt es in der Regel diastratische und diaphasische Unterschiede (Unterschiede in Niveau und Stil); auf jedem Niveau wird man diatopische und diaphasische Unterschiede feststellen können und in jedem Sprachstil diatopische und diastratische Unterschiede. Andererseits handelt es sich in der Wirklichkeit der historischen Sprache nicht um geschlossene und nicht miteinander in Beziehung stehende Einheiten, sondern um Einheiten, die gegenseitig interferieren und die in der Regel zahlreiche gemeinsame Elemente aufweisen: Zwischen den syntopischen Dialekten gibt es gewöhnlich zahlreiche ‚diatopische‘, zwischen den Niveaus noch viel zahlreichere ‚dia stratische‘, und zwischen den ‚Stilen‘ unzählige ‚diaphasische‘ Isoglossen.
2.4 Sprachvariation und Varietäten
293
Ein von den drei Gesichtspunkten aus einheitliches Sprachsystem, d. h. eine ‚syntopische‘, ‚synstratische‘ und ‚symphasische‘ Einzelsprache (d. h. eine syntopische Einheit, die auf nur einem einzigen Sprachniveau und in nur einem einzigen Sprachstil erfasst wird), kann man funktionelle Sprache nennen. Diese Bezeichnung ist gerechtfertigt, da es sich genau um den Typ von ‚Sprache‘ handelt, der beim Sprechen unmittelbar funktioniert; an jedem Punkt eines Diskurses ‚in spanischer Sprache‘, wird nicht (hierauf wurde schon vorher hingewiesen) ‚das Spanische‘ im Allgemeinen realisiert, sondern immer eine ganz bestimmte Varietät des Spanischen, eine der zahlreichen ‚funktionellen Sprachen‘, die in der historischen Sprache Spanisch enthalten sind. Eine funktionelle Sprache ist in diesem Sinne ein autarkes Minimalsystem innerhalb einer historischen Sprache. 3.1.4. In Bezug auf die Dialekte im Besonderen kann noch eine weitere Unterscheidung gemacht werden, die zum Verständnis der Beziehungen zwischen Dialekten, Niveaus und Sprachstilen in den Sprachgemeinschaften, die eine Gemeinsprache besitzen, notwendig ist. Die Dialekte, die einer historischen Sprache in ihrer ursprünglichen Abgrenzung (bei ihrer ‚Herausbildung‘) aufgrund der Existenz einer Gemeinsprache zugeordnet werden, sind selbstverständlich nicht deren Dialekte. Die Gemeinsprache ist im Gegenteil schon aufgrund ihrer dialektalen Basis einer dieser Dialekte. Es können jedoch aufgrund der diatopischen Differenzierung der Gemeinsprache neue ‚Dialekte‘ entstehen, und diese können nun sehr wohl als ihre Dialekte angesehen werden. So ist das Spanische Amerikas im Grunde ein Dialekt (besser ein Verbund von Dialekten) der spanischen Gemeinsprache (d. h. des Kastilischen als Gemeinsprache). Das Gleiche lässt sich vom Andalusischen, vom Kanarischen, ja sogar vom Judenspanischen sagen. Die Dialekte, die älter sind als die Gemeinsprache und auch älter als der Dialekt, aus dem sie hervorgeht, sowie die Dialekte der historischen Sprachen, die keine Gemeinsprache besitzen, kann man Primärdialekte nennen; die Dialekte, die innerhalb der Gemeinsprache entstanden sind, Sekundärdialekte. Und wenn innerhalb der Gemeinsprache eine Sprachform als exemplarisch, als Standardsprache etabliert wird, kann auch diese Unterschiede im Raum ausbilden und daher regionale Varietäten aufweisen, die man dann als Tertiärdialekte bezeichnen kann. Die diastratischen und diaphasischen Unterschiede kommen sowohl in den Primärdialekten als auch in der Gemeinsprache und der ‚exemplarischen‘ Sprache vor, sie sind gewöhnlich aber in der Gemeinsprache auffälliger. Andererseits entsprechen diese Dialekte in den Gemeinschaften, die eine Gemeinsprache besitzen und in denen zugleich Primärdialekte fortbestehen, in der Regel bestimmten Niveaus und/oder bestimmten Sprachstilen, während auf anderen Niveaus und für andere Stile die Gemeinsprache verwendet wird‘ (Coseriu 1981: 12–14, ohne die Anmerkungen; cf. Coseriu 1980: 111–114. Den Text übersetzte Christa Heim).
Zusammenfassend gebe ich einen Überblick in der folgenden Tabelle: Eine historische Sprache enthält drei Grundtypen innerer Differenzierung
drei Typen von mehr oder weniger einheitlichen Isoglossensystemen
diatopische Unterschiede
syntopische Einheiten bzw. Typen von Dialekten
diastratische Unterschiede
synstratische Einheiten bzw. Sprachniveaus
diaphasische Unterschiede
symphasische Einheiten bzw. Sprachstile
294
2 Die Einzelsprache
Die zitierten Seiten bedürfen einiger Kommentare. „Verschiedenheit“ im Abschnitt 3.1.1. gibt das spanische “variedad” wieder, während auf den Seiten davor die „Varietäten“ wie im allgemeinen Sprachgebrauch mit “variedades” bezeichnet wurden. Von dieser Stelle an meint sp. variedad bzw. frz. variété in den französischen Darstellungen dieser Auffassung fast immer „Verschiedenheit“ wie bei Wilhelm von Humboldt, der damit indirekt zitiert wird. Dieser Begriff von „Verschiedenheit“ entspricht heute dem „sprachlichen Unterschied“. Nach der Klärung der Stellung der Dialekte, Sprachniveaus und Sprachstile ersetzt Coseriu stillschweigend gegen Ende des zweiten Absatzes von 3.1.3. den allgemein gebrauchten Terminus Varietät durch funktionelle Sprache, allerdings mit einigen begrifflichen Präzisierungen und einer neuen Begründung. Ich bin einmal der Herkunft von Varietät in der Sprachwissenschaft nachgegangen: Der Terminus ist von der Biologie im 19. Jahrhundert ursprünglich auf diejenige Art von Sprache übertragen worden, die unterhalb der Dialekte liegt (Lüdtke 1999a; cf. 2.4.1.1). In Fachdiskussionen (die nicht bis zur Veröffentlichung gelangen) wird bisweilen skeptisch angemerkt, die Beschreibung einer „funktionellen Sprache“ sei nicht möglich. Das ist nicht richtig. Schon vor längerer Zeit hat Quintana (1976–1980) eine Modellstudie zur funktionellen Sprache vorgelegt. Da diese Untersuchung aber einen katalanischen Ort betraf und sie in katalanischer Sprache publiziert wurde, hat bedauerlicherweise nur eine geringe Rezeption stattgefunden. Die begrifflichen Unterscheidungen zwischen diatopisch, diastratisch und diaphasisch werden mit anderen Termini im Wesentlichen auch sonst getroffen. Für diatopisch finden wir räumlich, geographisch oder regional, für diastratisch sozial und für diaphasisch stilistisch, funktionell oder situationell. Wenn die mit dia- gebildeten Termini übernommen werden, ist der Gewinn an begrifflicher Klärung noch nicht sehr erheblich, es sei denn, man begnügt sich mit der Tatsache, dass dadurch Termini für ausschließlich sprachliche Erscheinungen zur Verfügung stehen. Der eigentliche Gewinn besteht jedoch in der Parallelisierung des sprachlich Heterogenen, der Variation, mit dem sprachlich Homogenen, der Varietät. Soweit die Rezeption unvollständig ist, schließt sie wichtige Zusammenhänge aus der Sprachbetrachtung aus. Die zweifache Trias der Termini bezieht sich auf die Einzelsprache als Varietät: Nicht nur ist eine Einzelsprache eine zugleich syntopische, synstratische und symphasische Einheit, sondern auch die diatopischen, diastratischen und diaphasischen Unterschiede werden in erster Linie im Vergleich zwischen Varietäten oder „funktionellen Sprachen“ festgestellt. Durch Diskursbeispiele werden diese Unterschiede allenfalls exemplifiziert. Daher ist im Bereich der einzelsprachlichen Unterschiede, wie von Flydal betont, zu beachten, ob wir es mit einer einzelsprachlichen Erscheinung oder einer Erscheinung der Rede zu tun haben. Die Gliederung der Dialekte in Primär-, Sekundär- und Tertiärdialekte ist trotz ihrer geschichtlich motivierten Abfolge nicht als eine eigentlich geschichtliche zu verstehen. Es handelt sich letztlich um rationale Möglichkeiten von syntopischen Einheiten, die geschichtlich konkret auftreten können oder nicht. Wenn man daran denkt,
2.4 Sprachvariation und Varietäten
295
was in der Geschichte der Sprachen selbst geschieht, sollte man die Primärdialekte in der Zeit des Anfangs der Geschichte einer Sprache nicht so nennen, denn von den begrifflichen Merkmalen „vollständiges Isoglossensystem“ (Coseriu 1981: 5), „syntopische Einheit“ (Coseriu 1981: 12) und „einer historischen Sprache untergeordnet“ (Coseriu 1981: 5) trifft das letztgenannte geschichtlich gesehen auf den Primärdialekt nicht zu. Ein solcher Dialekt wird ja deshalb primär genannt, weil sich manche der primären syntopischen Einheiten zu Gemeinsprachen entwickeln und sich später von ihnen aus tertiäre syntopische Einheiten herausbilden. Der Terminus Primärdialekt lässt sich also erst vom heutigen Stand der Entwicklung her rechtfertigen. Wie die Primärdialekte sind die Sekundärdialekte nicht nur in einer rationalen Abfolge, sondern auch geschichtlich zu betrachten. Wir werden noch sehen, dass Sekundärdialekte nicht einfach im Verhältnis zu Primärdialekten gesehen werden dürfen, denn die Sprecher einer Gemeinsprache schaffen syntopische Einheiten, die nicht nur sekundär gegenüber den Primärdialekten sind. Da sie im Falle der Ausbreitung normalerweise mit anderen Sprechern in Kontakt kommen, bilden sie Kontaktvarietäten aus, auf die wir noch zu sprechen kommen (cf. 2.4.2.4). Die diaphasischen Unterschiede lassen sich wie die diatopischen noch weiter differenzieren. Eine begriffliche Differenzierung hängt davon ab, welche diaphasischen Unterschiede in einer historischen Sprache existieren. Coseriu berücksichtigt die Unterschiede der Sprache von Männern und Frauen, die Unterschiede zwischen den Generationen – hier wäre etwa die „Jugendsprache“ einzuordnen – und namentlich die Unterschiede zwischen den Berufsgruppen. Generell sind also innerhalb der Bereiche des Diatopischen, Diastratischen und Diaphasischen alle diejenigen Unterschiede anzunehmen, die in einer Sprachgemeinschaft tatsächlich funktionieren. Die Systematisierung Coserius ist daher grundsätzlich offen für weitere Differenzierungen, wenn sie aufgrund der gegebenen sprachlichen Verhältnisse erforderlich sind. Zwischen den Dialekten und der historischen Sprache steht vermittelnd die Gemeinsprache, die einen Dialekt als Grundlage hat. Eine Gemeinsprache kann zu einem Sekundärdialekt werden. Eine Standardsprache hat ihrerseits eine Gemeinsprache als Grundlage. Gemeinsprache meint bei diesen Erwähnungen des Terminus Verschiedenes oder kann Verschiedenes meinen. Dadurch mag der Eindruck entstehen, dass wir es mit einem sehr ungenau abgegrenzten Begriff zu tun haben. Das ist nicht der Fall. Das Gemeinsame sind die Sprecher, die mit einer Gemeinsprache eine Gemeinsamkeit von unterschiedlicher Reichweite mit anderen Sprechern schaffen. Diese Gemeinsamkeit geht über den eigenen Dialekt hinaus, wenn ein Dialekt in einem anderen Dialektgebiet übernommen oder den dortigen Sprechern aufgezwungen wird. Das Gemeinsame können die Sprecher mehrerer Primär- und Sekundärdialektgebiete sein, die ihre Gemeinsprache unter Umständen standardisieren. Und es kann eine Übernahme einer Standardsprache stattfinden, die dann zwar wiederum eine Gemeinsprache ist, die aber bis zu einem gewissen Grade regional modifiziert worden ist.
296
2 Die Einzelsprache
Aus der Feststellung, dass die an einem Punkt des Diskurses funktionierende Sprache syntopisch, synstratisch und symphasisch ist (nicht: sein muss), kann man als Forderung an die deskriptive Linguistik ableiten, dass eine Grammatik eine in dieser Hinsicht einheitliche Sprache darstellen soll. Die triadische Einheitlichkeit wird der Sprachbeschreibung nicht aufgezwungen, sie ist nicht willkürlich. Die Grammatiker bemühen sich von sich aus, die syntopische, synstratische und symphasische Reichweite ihrer Sprachbeschreibung in einer Einleitung zu erläutern, falls der Konsens in der Sprachgemeinschaft nicht eindeutig genug ist. Die begriffliche Klärung Coserius macht folglich das explizit, was zum Teil ohnehin geschieht. Von dieser Klärung lassen sich zugleich aber auch Forderungen an die methodische Stringenz und Kohärenz der Sprachbeschreibung ableiten. Man darf nunmehr erwarten, dass bei der Feststellung der Datenbasis nicht nur der Zeitraum abgegrenzt wird, der in eine sprachwissenschaftliche Untersuchung eingeht, sondern auch der Raum selbst, innerhalb eines Raumes die Gesellschaftsschicht und innerhalb einer Gesellschaftsschicht die Anlässe, bei denen gesprochen oder geschrieben wird. Das berühmteste Beispiel für eine Eingrenzung einer Sprache, die beobachtet wird, ist Vaugelas’ Suche nach dem bon usage im Paris der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Vaugelas 1970, und hier 5.8.4.1). In der Linguistik wird mindestens seit der Zeit der Junggrammatiker auf mehr Strenge in der Beschreibung auch außerhalb der Standardsprache geachtet, bedingt durch die scharfe Trennung von Dialekt und Standardsprache, von geschriebener und gesprochener Sprache. Am notwendigsten sind derlei Vorklärungen bei Forschungsunternehmen, an denen zahlreiche Wissenschaftler beteiligt sind, deren Datenerhebung koordiniert werden muss, z. B. bei der Erstellung von Sprachatlanten. Das Ziel kontrollierter Datenerhebungen muss es durchaus nicht immer sein, Material für die Beschreibung einer einheitlichen Sprache zu liefern. Wenn man die Variabilität von Sprache feststellen will, geht man nicht anders vor. Nehmen wir die Untersuchung der Sprache der Gebildeten (habla culta) im iberoromanischen, vor allem iberoamerikanischen Sprachraum. Der Raum, in dem die Daten zu erheben sind, ist kein zusammenhängender Raum, denn er besteht aus Großstädten auf der Iberischen Halbinsel und in Iberoamerika. Die Gesellschaftsschichten werden approximativ nach ihrer Bildung in fünf Schichten eingeteilt und innerhalb dieser Schichten die Gebildeten für die Interviews ausgewählt. Es ist klar, dass die Einteilung einer Gesellschaft immer ihrer jeweiligen Struktur folgen muss und dass bei Wandel der Gesellschaft und des Verhältnisses der Gruppen zueinander ebenfalls die für eine sprachwissenschaftliche Untersuchung relevante Gliederung neu vorgenommen werden muss. Die zu wählende symphasische Einheitlichkeit ergibt sich aus der Interviewsituation. Sie ist relativ formell, die Gebildeten sind aber eher daran gewöhnt als andere Gesellschaftsgruppen (cf. Lope Blanch 1986). Die Rezeption der Auffassung Coserius hat in der Regel implizit und indirekt stattgefunden, deshalb gehe ich nicht weiter auf die Art und Weise ein, in der ein Teil der
2.4 Sprachvariation und Varietäten
297
Terminologie üblicherweise verbreitet ist. Ich beziehe mich dagegen auf eine Konzeption, die explizit an Coseriu anschließt und die ihrerseits in der deutschsprachigen Romanistik und darüber hinaus recht breit rezipiert wurde: Peter Koch und Wulf Oesterreicher haben 1990 ihre Auffassung zu Variation und Varietäten in Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch dargelegt. Unter Bezug auf Coseriu (1980) übernehmen sie die Termini, die die Variation charakterisieren, also „diatopisch“, „diastratisch“ und „diaphasisch“. Die Variation dokumentieren sie mit Varietäten und ordnen die drei Typen von einzelsprachlicher Variation „drei Dimensionen der Sprachvarietät“ zu (Koch/Oesterreicher 1990: 13). Man beachte, dass als Oberbegriff „Varietät“ verwendet wird, als Unterbegriff „Variation“. Das bedeutet faktisch, dass zwischen „Varietät“ und „Variation“ nicht unterschieden wird (Koch/ Oesterreicher 1990: 15). Der „einzelsprachliche Varietätenraum“ enthält ansonsten eigentlich die einzelsprachliche Variation (die im Gegensatz zur Varietät sehr wohl in eine einzelsprachliche und eine nicht-einzelsprachliche geschieden werden kann), denn die diatopische, diastratische und diaphasische Variation kann schwach oder stark ausgeprägt bzw. niedrig oder hoch sein und Diatopisches kann diastratisch, Diatopisches und Dia stratisches können diaphasisch verwendet werden. 2.4.2.4 Zweisprachigkeit und Kontaktvarietäten Die Kontaktvarietäten sind das Ergebnis von Zweisprachigkeit. Deshalb wenden wir uns zuerst der Zweisprachigkeit zu. Zweisprachigkeit ist ein individuelles oder ein gesellschaftliches Problem oder beides zugleich. Die individuelle Zweisprachigkeit wird meist „Bilinguismus“ oder „Bilingualismus“ genannt, für die Koexistenz von zwei oder mehr Sprachen hat sich in der Folge von Ferguson (1959) Diglossie eingebürgert. Die Festlegung ist konventionell, denn beide Ausdrücke bedeuten nichts anderes als ‚Zweisprachigkeit‘. Im Rückblick auf die Diskussion um den Begriff und die damit benannten sprachlichen Wirklichkeiten wollen wir die in den Begriffen implizierte „Sprache“ für eine erste Annäherung weit fassen und darunter alles von einer historischen Sprache bis zu einer Varietät verstehen, wenn die Sprecher ein Bewusstsein von der Verschiedenheit dieser Sprachen haben (oder haben können), denn wir brauchen eine grobe begriffliche Einordnung, die auch auf wenig bekannte und vor allem auf vergangene Sprachkontaktsituationen anwendbar ist, bevor wir zu den Verfeinerungen für die besser erforschbaren Situationen übergehen. In diesem Sinne und unter der Voraussetzung eines weiten Sprachbegriffs stellte Fishman, um von den einfachsten Beziehungen zwischen Bilinguismus und Diglossie ausgehen zu können, diese Beziehungen in einer Kreuzklassifikation nach dem Kriterium des Vorhandenseins oder Nicht-Vorhandenseins von Bilinguismus und dem Kriterium des Vorhandenseins oder Nicht-Vorhandenseins von Diglossie dar (Fishman 1967: 30). Die Kombination ergibt die folgenden vier Möglichkeiten:
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2 Die Einzelsprache
1. Diglossie und Bilinguismus 3. Diglossie ohne Bilinguismus
2. Bilinguismus ohne Diglossie 4. weder Diglossie noch Bilinguismus
In den Beispielen trenne ich mich von Fishman und nehme als eine typische Situation zuerst die Zweisprachigkeit, bei der zwei historische Sprachen in Kontakt kommen. Hierbei differenzieren sich nicht zwei Varietäten von historischen Sprachen in einer Gemeinschaft, sondern Bündel von Varietäten auf beiden Seiten. Unter den nicht unmittelbar verwandten Sprachen begegnen sich das Bündnerromanische und das Deutsche in Graubünden. Das Deutsche wird als schweizerdeutscher Dialekt und als regionales Hochdeutsch gesprochen, das Bündnerromanische als Ortsmundart und als regionale Standardsprache; schriftlich kommt noch die überregionale Standardsprache rumantsch grischun hinzu. In vergleichbarer Weise funktioniert die Verteilung des Französischen und des Bretonischen in der Bretagne, des Baskischen und des Spanischen oder Französischen im spanischen oder französischen Baskenland. Als relativ nahe verwandte historische Sprachen stehen das Katalanische und das Spanische in Katalonien, im Valencianischen Land und auf den Balearen in Kontakt oder das Galicische und das Spanische in Galicien. In den romanischen Gemeinschaften mit Diglossie und Bilinguismus unterscheiden sich die Dialektgemeinschaften von den Sprachkontaktsituationen, an denen enger verwandte historische Sprachen beteiligt sind, dadurch, dass die Dialekte in der Regel nicht verschriftet sind. Die Sprecher verfügen dann nicht alle über dasselbe Repertoire von Varietäten bei Diglossie mit Bilinguismus. Diglossie ohne Bilinguismus findet sich in postkolonialen Gemeinschaften, in denen die Elite, wie in einigen afrikanischen Staaten, Französisch spricht und schreibt, die Mehrheit der Bevölkerung aber eine der ethnischen Sprachen. Die bilingualen Sprecher gibt es zwar in diesen Gemeinschaften (ohne sie würden sie nicht bestehen können), aber in so geringer Zahl, dass sie nicht sehr ins Gewicht fallen. Erwähnenswert sind die vorübergehenden Gemeinschaften, die variable Sprechergruppen in Gebieten des Massentourismus bilden. Bilinguismus ohne Diglossie besteht bei Arbeitsmigranten unter Bedingungen von starker Industrialisierung: Maghrebiner in Frankreich, Hispanoamerikaner in den Vereinigten Staaten von Amerika, Migranten in Deutschland. Die dabei in Kontakt stehenden Varietäten oder Sprachen beeinflussen sich gegenseitig, ohne dass dabei stabile zweisprachige Gemeinschaften entstehen. Sprachgemeinschaften ohne Diglossie und ohne Bilinguismus sind ein selten vorkommender instabiler Fall, der nur der Vollständigkeit halber genannt wird. Es ist klar, dass in erster Linie der erste Fall interessant ist. Betrachtet man die Dialekte, die Coseriu primär, sekundär und tertiär nennt, geschichtlich und nicht nur als rationale Möglichkeiten, sind weitere Varietäten anzunehmen. Gehen wir von den Fällen aus, die Coseriu nennt: Eine Sprache breitet sich als Gemeinsprache aus und bildet Sekundär- oder Kolonialdialekte und eine sich ausbreitende „exemplarische“ Sprache bringt Tertiärdialekte zuwege.
2.4 Sprachvariation und Varietäten
299
Überführt man diese Dreiteilung in eine geschichtliche Betrachtung, dürfte es offensichtlich sein, dass die wirklichen Verhältnisse komplexer sind. Wenn man von dem Fall absieht, dass die Sprecher einer relativ homogenen Sprache sich in einem menschenleeren oder wenig besiedelten Raum niederlassen, treten sie bei der Ausbreitung immer mit Sprechern einer anderen Sprache in Kontakt. Die miteinander in Kontakt tretenden Sprachen sind nach dem Kontakt nicht mehr identisch mit den Sprachen vor dem Kontakt, denn es entstehen im Kontakt weitere Varietäten. Sie sind in der sprachwisssenschaftlichen Literatur sehr oft als solche identifiziert worden, jedoch werden die dabei feststellbaren Vorgänge nicht immer in ihrer schlichten Allgemeinheit erkannt. Wenn sie einmal als solche bekannt und anerkannt sind, können sie als Interpretationsmuster für schlecht dokumentierte Sprachkontaktsituationen verwendet werden, denn gerade in solchen Fällen lässt die Informationsgrundlage keine detailliertere Interpretation zu. Vor allem in der Sprachgeschichte erlauben metasprachliche Äußerungen in den Quellen nur recht grobe Einschätzungen von Sprachkontaktsituationen vergangener Zeiten. Kommen wir zu den Beziehungen zwischen Diglossie und Sprachkontakt sowie der Entstehung von Kontaktvarietäten im Einzelnen. Die Vorgänge stelle ich schematisch dar. Erst in einem zweiten Schritt werde ich auf konkrete Sprachsituationen Bezug nehmen. Die Einzelsprachen bzw. Varietäten, die in Kontakt kommen, seien der Einfachheit halber zwei, A und B genannt. Mit jeder Einzelsprache oder Varietät, die hinzukommt, würde die Situation komplexer werden. In einer ersten Phase werden A und B in verschiedenen Räumen gesprochen, es findet kein Sprachkontakt statt: A
B
Beide Einzelsprachen oder Varietäten können in demselben Raum parallel gesprochen werden. Wenn und A und B von verschiedenen Sprachgemeinschaften gesprochen werden, können wir diese Verhältnisse in der folgenden Weise darstellen: A B Die dritte Phase ist komplex. Sprecher von A erlernen B und Sprecher von B erlernen A, wenn diese Sprachlernvorgänge parallel stattfinden. Es ist jedoch auch möglich, dass nur die Sprecher von A auch B lernen oder nur die Sprecher von B auch A. In diesem Fall wäre der Vorgang asymmetrisch. Bei der Erlernung einer anderen Einzelsprache oder Varietät wird eine neue geschaffen. Da Sprecher bei der Erlernung der jeweils anderen Sprache durch die Übertragung von Erscheinungen aus ihrer eigenen Sprache auf die andere Interferenzen produzieren, schaffen die Sprecher von A bei der Erlernung von B die Varietät B‘ und die Sprecher von B bei der Erlernung von A die Varietät A‘:
300
2 Die Einzelsprache
A ‣
A‘ ‣
B‘ B
Das Resultat dieses Lernprozesses sind beim einzelnen Sprecher die Lernervarietäten A‘ und B‘ als Zweitsprachen, die nicht stabil sein müssen. In einer vierten Phase können die Lernervarietäten A‘ und B‘ von einem Teil der Sprecher als Erstsprachen gelernt werden. Alle vier Einzelsprachen oder Varietäten können in dieser vierten Phase zusammen auftreten oder nur ein Teil von ihnen (z. B. A, B‘ und B oder B, A‘ und A): A A‘ B‘ B Die als Zweitsprachen bezeichneten Varietäten nenne ich Kontaktvarietäten. Diese entsprechen den Tertiärdialekten Coserius (2.4.2.3), wenn diese Varietäten sich aufgrund einer exemplarischen bzw. Standardsprache herausgebildet haben (Typ A‘). „Kontaktvarietäten“ ist insofern allgemeiner, als damit in allen Kontaktsituationen entstandene Varietäten gemeint sind. Dazu können auch Kontakte zwischen Primärund Sekundärdialekten gehören usw. „Kontaktvarietät“ scheint ein bereits geläufiger Ausdruck zu sein. Man versteht darunter aber eine Varietät oder Sprache, die in Kontakt zu einer anderen steht, also unsere Fälle A oder B. Kontaktvarietäten dagegen in dem Sinne, den ich diesem Ausdruck geben möchte, sind Varietäten, die aufgrund von Kontakt überhaupt erst entstehen. So würde man wohl Standarditalienisch und Dialekt ohne weiteres „Kontaktsprachen“ oder „Kontaktvarietäten“ zu nennen bereit sein. In einem terminologischen Sinne behalte ich aber „Kontaktvarietät“ für das aus diesem Kontakt entstehende Regionalitalienisch einerseits und den italianisierten Dialekt andererseits vor. Das Wort ist wie „Kontaktsprache“ im Deutschen eine Wortzusammensetzung, die auf „Varietäten im Kontakt“ bzw. „Sprachen im Kontakt“ zurückgeht, ein Forschungsgebiet, dessen Grundlagen Weinreich (11953) geschaffen hat. Für die interne Charakterisierung der Kontaktvarietäten sind die Interferenzen von besonderer Bedeutung (dazu Payrató 1985 mit einer am katalanisch-spanischen Sprachkontakt orientierten allgemeinen Klassifikation).
2.4 Sprachvariation und Varietäten
301
In einer fünften Phase kann die Symmetrie aufgehoben werden durch die Eliminierung von B oder von A. Dies geschieht, wenn die Sprecher der nachfolgenden Generationen immer mehr zu den Kontaktvarietäten übergehen und dadurch eine ursprünglich mit einer anderen Sprache in Kontakt getretene Sprache aufgeben: A A‘ B‘ B In einer sechsten Phase können auch B‘ oder A‘ eliminiert werden. Schematisch stellen wir dies am Beispiel des Untergangs von B dar: A A‘ Die siebente Phase ist erreicht, wenn auch noch A (oder analog B) untergeht: A‘ Die erste Phase brauchen wir nicht weiter zu kommentieren. Es muss allerdings klar sein, dass A und B nur im Hinblick auf die später zu erfassenden Kontaktsituationen homogen gedacht werden. Wir abstrahieren bei dieser Modellvorstellung davon, dass jede Sprache eine interne Komplexität hat, und betrachten ausschließlich die neue Komplexität, die durch den Sprachkontakt herbeigeführt wird. Bei der Beschreibung einer konkreten Kontaktsituation sind dagegen alle Phänomene zu behandeln, die die Situation in ihrer geschichtlichen Individualität zustande gebracht haben. Situationen des Typs unserer zweiten Phase werden, wenn die beiden Varietäten derselben historischen Sprache oder verwandten Sprachen angehören, als Diglossiesituationen beschrieben. Je nach Autor gelten unterschiedliche Sprachkontaktkonstellationen als typisch. Ihre jeweiligen Merkmale gehen dann in die Definition von entsprechend variierenden Situationen ein. Das Besondere der diglossischen und anderer Sprachkontaktsituationen besteht darin, dass sie auf zwei im Kontakt befindliche Sprachen oder Varietäten verkürzt werden, während es grundsätzlich möglich ist, dass zwei neue (A‘, B‘) entstehen. Die beiden neuen konvergierenden Kontaktvarietäten werden in unterschiedlicher Weise wahrgenommen. Angenommen, A ist die Standardsprache einer Sprachgemeinschaft, B ein Primärdialekt oder eine historische Sprache, die eine begrenzte regionale Geltung besitzt. Da die Standardsprache der normale Gegenstand der Sprachbeschrei-
302
2 Die Einzelsprache
bung ist, fällt die in der Regel mehr oder weniger stigmatisierte Kontaktvarietät A‘ auf, während die interne Differenzierung des Dialekts, wenn sie nicht im Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Interesses steht, nicht in Betracht gezogen wird. In dieser Weise reflektieren Halliday, McIntosh und Strevens (1964: 81–87) diejenige Varietät, die Sprecher schaffen, wenn sie eine Standardsprache lernen. Wie man als Ausländer bei der Erlernung einer Fremdsprache einen Akzent behält, indem man phonetische, grammatische oder lexikalische Muster von der eigenen Sprache auf die fremde überträgt, lernen auch Dialektsprecher eine Standardsprache auf diese Weise und sprechen sie mit einem regionalen Akzent, den sie selbst dann beibehalten, wenn sie ihren ursprünglichen Dialekt aufgegeben haben. Diese Standardsprache mit Akzent kann die Erstsprache der folgenden Generation werden. Vorzugsweise diese Varietät der Standardsprache wird in der englischen Sprachwissenschaft oft interlanguage genannt. Ähnlich wie “interlanguage” verwendet Trudgill “interdialect” (z. B. in Trudgill 1988). Eine solche Varietät, die Sprecher hervorbringen, wenn sie ausgehend von einem “dialect” einen anderen lernen, entspricht einer Lernphase bei anhaltendem Sprachkontakt. Den Terminus versteht Trudgill nur als “label”, der ad hoc eingeführt wird zur Beschreibung der englischen Dialekt- und Dialektkontaktsituationen. Er kann aber in zweiter Linie auf stabile Varietäten angewandt werden, also auf Kontaktvarietäten im Allgemeinen: “Interdialect, then, may be a short-lived, temporary phenomenon, or a long-term feature” (Trudgill 1988: 562). Solche Termini, die für einen bestimmten typischen Fall geprägt werden, sind inadäquat. Sie lassen keinen hohen Grad an Allgemeinheit ihrer begrifflichen Anwendung zu. So wäre eine Charakterisierung einer Varietät, die sich im Kontakt einer Standardsprache mit einer anderen herausbildet, als “interdialect” nicht gut brauchbar. Kontaktvarietät hat dagegen den Vorteil, Sprache in jeder Gestalt zu erfassen, die auf Kontaktsituationen zurückgeht. In einem weiteren Schritt kann festgestellt werden, ob eine Varietät einer anderen gegenüber unter-, über- oder nebengeordnet ist.
Unter Bezug auf das Spanische, das Quechuasprecher in Peru geschaffen haben, führt Escobar den Terminus “interlecto” ein (1978, 1989), der in der Hispanistik inzwischen einige Verbreitung gefunden hat. Der “interlecto” entspricht in diesem Kontext dem, was im Zweitsprachenerwerb unter anderem „Interimsprache“ oder „Lernervarietät“ genannt wird; er kann aber in diesem konkreten Fall als „andines Spanisch“ auch Erstsprache werden. Es bleibt hieran hervorzuheben, dass nicht die ganze Sprachkontaktsituation, wenigstens in ihren Grundzügen, theoretisch erfasst wird, sondern eben nur die standardnähere Varietät. Die analogen Entwicklungen im Dialekt oder in der untergeordneten Sprache bleiben gewöhnlich außer Betracht. Einer der wenigen, die dieses Problem früh reflektiert haben, ist Hermann Paul. Er unterscheidet begrifflich sehr klar die Kontaktvarietäten, die in beiden Richtungen entstehen. Die Standardsprache nennt er in diesem Kontext „künstliche Sprache“, den Dialekt „natürliche Sprache“. Nachdem er die Beeinflussung der „künstlichen Sprache“ durch die „natürliche“ dargestellt hat, kommt er zum umgekehrten Fall:
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„Zweitens wirkt die künstliche Sprache auf die natürliche, indem aus ihr Wörter, hie und da auch Flexionsformen und Konstruktionsweisen entlehnt werden. Die Wörter sind natürlich solche, welche sich auf Vorstellungskreise beziehen, für die man sich vorzugsweise der künstlichen Sprache bedient. Sie werden wie bei der umgekehrten Entlehnung entweder in den Lautstand der natürlichen Sprache umgesetzt oder in der Lautform der künstlichen beibehalten. Es gibt keine einzige deutsche Mundart, die sich von einer solchen Infektion gänzlich frei gehalten hätte, wenn auch der Grad ein sehr verschiedener ist“ (Paul 61960: 415).
Diesen Prozess konnte Paul noch in einer intensiveren Phase im deutschen Sprachraum verfolgen als heute. Da die massive Entstehung oder die Erweiterung der Geltung von Kontaktvarietäten mit neuen Entwicklungen in der Dialektologie junggrammatischer Prägung zusammenfiel, die darin bestand, in ihrer lautgesetzlichen Entwicklung nicht beeinträchtigte Dialekte zu beschreiben, hat man die standardsprachlich beeinflussten Dialekte (B‘) ganz bewusst aus der Untersuchung ausgeschlossen. In der Geschichte der Einzelsprachen spiegelt sich die Entstehung von Varietäten im Kontakt von Dialekt bzw. Sprache mit der Standardsprache in den Kommentaren von Sprechern wider. Je stärker die Sprache standardisiert und durch Kirche und Staat in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung verbreitet worden ist, desto schärfer ist das Bewusstsein von der Existenz der Kontaktvarietäten. Auf die Wahrnehmung des Unterschieds zwischen Lateinisch und Volkssprache werden wir bei der Herausbildung der romanischen Sprachen zurückkommen (4.3, 5.8.1.2). Bis hingegen die romanischen Sprachen einen Grad an Standardisierung erreichten, der auch nur an das Lateinische heranreichte, vergingen Jahrhunderte. In der Zwischenzeit wurden die Sprecher stigmatisiert, die die gesprochene oder geschriebene Sprache, die sich auf dem Wege der Standardisierung und Verbreitung befand, nicht erreichten. Während der aus Pont-Sainte-Maxence bei Compiègne stammende Dichter Guernes (Garnier) zwischen 1170 und 1173 von sich behaupten kann, “Mes langages est buens, car en France fui nez” – ,Meine Sprache ist gut, denn ich wurde in Frankreich [=Ile-de-France] geboren‘, entschuldigt sich der pikardische Dichter Conon de Béthune († 1224) dafür, dass er nicht so gut Französisch spreche, weil er nicht in Pontoise aufgewachsen sei, und er müsse den Spott der Königinmutter und des Königs über sich ergehen lassen:
“La roïne ne fist pas que cortoise Qui me reprist, ele et ses fius li rois. Encor ne soit ma parole françoise, Si la puet on bien entendre en françois. Cil ne sont pas bien appris ne cortois Qui m’ont repris, se j’ai mot d’Artois Car je ne fus pas nouriz a Pontoise” (Brunot I: 1966: 329–330).
‚Die Königin hat nicht nach höfischer Sitte gehandelt, als sie mich tadelte, und ihr Sohn, der König. Zwar ist meine Sprache nicht französisch, doch kann man sie auf Französisch gut verstehen. Die, die mich tadelten, wenn ich ein Wort aus dem Artois verwendete, sind nicht gut erzogen und sie folgen nicht höfischer Sitte, denn ich wurde nicht in Pontoise aufgezogen‘ (meine Übersetzung).
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Die pikardischen Interferenzen dieses auf Französisch geschriebenen Textes oder anderer Texte des Dichters sind uns nicht mehr ersichtlich. Das Missgeschick, von den ‚Franzosen‘ kritisiert zu werden, ist ihm jedenfalls nicht nur einmal widerfahren, denn er singt in “Chanson legiere a entendre”: “Ke mon langaige ont blasmé li François” – ‚denn meine Sprache haben die Franzosen getadelt‘. Die Klagen über die nicht erreichte Sprache, die immer die Sprache eines Staates ist, ziehen sich durch die Jahrhunderte. Die dem Dialekt näher stehende Kontaktvarietät (B‘) wird aber erst systematischer reflektiert, seitdem die Standardsprache in ihrer nunmehr meist kodifizierten Gestalt weiteren Schichten der Bevölkerung unterrichtet wird. In den romanischen Ländern geschah dies vor allem von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. Die Schulpolitik Maria Theresias wirkte sich in Siebenbürgen und in der Lombardei aus, diejenige Karls III. in Spanien und im spanischsprachigen Amerika. In Italien wurden in der von Laien betriebenen Dialektologie, die im Dienste der Italianisierung steht, neben den mit der Standardsprache in Kontakt stehenden Dialekten regelmäßig die beiden Kontaktvarietäten identifiziert. Gelegentlich werden dafür Ausdrücke verwendet, die je nach Fall in einer Region allgemein üblich oder einem bestimmten Autor eigen waren. Der Neapolitaner Basilio Puoti (1782–1847) nannte die beiden Kontaktvarietäten “semi-napoletano” und “semi-toscano” (Lüdtke 1985: 129). Das Kontaktvarietätenmodell mag nun viel zu grob erscheinen, und in der Tat ist es das für die Darstellung der heutigen Sprachverhältnisse, denn man kann sich leicht vorstellen, dass die Kontaktvarietäten ihrerseits im Lernprozess späterer Generationen miteinander in Kontakt treten, so dass eine Varietätenabgrenzung sogar über das Bewusstsein der Sprecher illusorisch wird. Diese Entwicklung kann man durch die Unterscheidung zwischen „spontan gelernter Sprache“ und „reflexiv gelernter Sprache“, die im Sprecherbewusstsein verankert ist, erklären. Ich habe sie getroffen, um damit Diglossiesituationen beschreiben zu können, in denen ein Sprecher zwei Sprachen oder Varietäten verwendet. Von einem spontanen Sprachgebrauch setzt sich ein reflexiver ab, der immer eine andere übergeordnete Sprache oder Varietät voraussetzt, die man bewusst nicht schreiben oder sprechen will (Lüdtke 1991: 239). Ich habe mich dabei auf Benedetto Croce bezogen, dessen Unterscheidung “spontaneo/riflesso” nur die Dialektliteratur betrifft, die uns weiter unten beschäftigen wird. Die Unterscheidung hat jedoch bei Croce einen ganz anderen Sinn. Die Unterscheidung zwischen spontan und reflexiv gelernter Sprache kann sich ebenso auf den mündlichen wie auf den schriftlichen Sprachgebrauch beziehen. Sie fällt nicht mit der Unterscheidung zwischen Erst- und Zweitsprache zusammen, denn eine spontan mündlich gelernte Erstsprache muss in ihrer geschriebenen Gestalt stets reflexiv gelernt werden. Insofern ist also geschriebene Sprache an sich schon reflexiv: Die bloße Bereitstellung der einfachsten Schreibutensilien verlangt einen gewissen praktischen Planungsaufwand: Bleistift, Kugelschreiber, Füllfederhalter, früher Schreibmaschine oder heute elektronischer Datenträger? Oder abgerissener Zettel,
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weißes Papier, Monitor? Mehr noch aber ist eine innersprachliche Planung vonnöten: Textsorte, Stil und Wortwahl verschiedenen Grades an Formalität oder Durchbrechung der üblichen Vorgaben. Die beim Schreiben zwangsläufig gegebene Reflexivität werden wir im Zusammenhang mit der zwangsläufigen Textualität des schriftlichen Diskurses betrachten. Für die Genealogie der Kontaktvarietäten spielt dagegen der Unterschied mündlich/ schriftlich und spontan/reflexiv eine besonders wichtige Rolle, denn in den Gemeinschaften mit Schriftkultur ergibt sich immer dann mindestens eine doppelte Schwierigkeit für die Sprecher, wenn sie schriftlich eine Sprache oder Varietät erlernen, die sie als nicht identisch mit ihrer Erstsprache ansehen. Ein weiteres Element der Komplexität ist von den Sprechern dann zu bewältigen, wenn sie nicht nur eine Erstsprache spontan reden und reflexiv schreiben lernen, sondern auch eine Zweitsprache für den mündlichen und schriftlichen Gebrauch erwerben, nun aber beides reflexiv. Als Beispiel für die vom Dialekt ausgehende Erlernung der Standardsprache nenne ich die Sprachverhältnisse der entwickelten Regionen Italiens von der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts an, als Beispiel für zwei historische Sprachen, die mit ihren Standardsprachen und auf seiten der untergeordneten historischen Sprache mit ihren Dialekten in Kontakt treten, sei die spanisch-katalanische Diglossiesituation genannt (cf. Grossmann 1991 und Lüdtke 1991: 235–241; Kailuweit 1997) und hier ferner die spanisch-galicische (5.14.3, 5.14.4). Mit dem Beginn der massiven Verbreitung des Standarditalienischen in Italien lässt sich die besondere Komplexität der Situation der standardsprachlichen Schriftsprache im Kontakt mit dem mündlichen Dialekt (der im 18. Jahrhundert nur in manchen Staaten, wie in Venedig, als Amtssprache geschrieben wurde) darstellen. Der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache kann in den heutigen großen romanischen Sprachgemeinschaften als Registerunterschied angesehen werden (cf. 2.4.2.3). Diese Betrachtungsweise gilt nicht für das 18. Jahrhundert in Italien und ebenso wenig in den Regionen, in denen die Standardsprache nur geschrieben und allenfalls Geschriebenes mündlich vorgetragen wurde. Zu dieser Zeit traten deutlich verschiedene Varietäten in Kontakt, wobei die Standardsprache nicht allen Sprechern verständlich war (Lüdtke 1996). In dieser Zeit und Situation schufen diejenigen, die die italienische Schriftsprache (A) zu lernen beabsichtigten, ein auf dialektaler Basis gesprochenes Italienisch (A‘), das von den Zeitgenossen anfangs als affektiert und lächerlich beschrieben wird. Die Dialektinterferenzen dieser standardnahen gesprochenen Kontaktvarietät traten ebenfalls zum Vorschein, wenn sie geschrieben wurde. In diesem Fall wird man von einem Registerunterschied in der Kontaktvarietät (A‘) selbst sprechen können: Die Schreiber lernen zwar die Standardsprache schreiben, produzieren aber nur eine standardnahe Varietät, falls nicht schon die Lehrer diese Kontaktvarietät A‘ lehrten; als Reflex der geschriebenen standardsprachlichen Varietät lernen sie diese, wenn es unumgänglich ist, auch sprechen. Die bei diesem Prozess ebenfalls entstehende dialektale Kontaktvarietät kann durch die Erlernung der geschriebenen Standardsprache selbst oder aber im Kontakt mit
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der mündlich realisierten standardnahen Kontaktvarietät erworben werden. Die Kontaktvarietäten, namentlich die standardnahe, stabilisieren sich dadurch, dass eine affektierte Sprache (A‘) oder, weniger evident, ein “dialetto incivilito“ (B‘, ,zivilisierter Dialekt‘) der Elterngeneration zur spontanen Sprache (Muttersprache, Erstsprache) der nachfolgenden Generation wird. Wenn wir weiter in die Vergangenheit der romanischen Sprachen zurückgehen, ist eine analoge Argumentation auf das geschriebene Lateinisch im Kontakt mit dem gesprochenen (und erst später dem geschriebenen) Romanisch anzuwenden (cf. 4.3). Mit den Kontaktvarietäten entsteht eine neue soziale Differenzierung, denn auch wenn anzunehmen ist, dass es in einer regionalen Varietät einer Sprache soziale Unterschiede gibt, so sind diese doch weniger markant, als wenn eine bestimmte Gruppe von Sprechern zu einer Varietät übergeht bzw. diese zuwege bringt. In dieser Weise scheint im 13. Jahrhundert in Paris eine Sprache der Oberschicht entstanden zu sein, die die Grundlage der französischen Standardsprache wurde (5.8.1.8). Sprecher anderer historischer Sprachen in einem Staat wie die Katalanen im 18. Jahrhundert schufen durch die Erlernung des Spanischen als Zweitsprache eine soziale Distanz zu den Sprechern, die dazu keinen Zugang hatten, bzw. sie vergrößerten eine bereits bestehende soziale Distanz. Eine fünfte Phase hatte ich für den Fall unterschieden, dass die untergeordnete Kontaktvarietät (B‘) Erst- oder Spontansprache der nachfolgenden Generation(en) wird und die Sprecher B aufgeben bzw. nicht mehr sprechen und nur noch in Resten kennen. Dieser Entwicklungsstand ist im Wesentlichen in Frankreich erreicht. Die Dialekte werden nur noch in Randgebieten des Landes gesprochen. Sogar das Okzitanische existiert in der Regel nur noch in Gestalt von französierten Mundarten. Wenn der Unterschied zwischen B und B‘ verschwindet, hat diese Unterscheidung keinen Sinn mehr. Solange aber Sprecher von B‘ glauben, dass eine irgendwie „ursprüngliche“ Varietät des Typs B existiert, hat der Unterschied wenigstens eine Realität in ihrer Vorstellung. Eine analoge Dynamik kann zur Eliminierung der übergeordneten Sprache führen. Das Lateinische verschwindet so in der Romania aus dem Gebrauch. Die Superstratsprachen, ehemals in bestimmten Räumen dominierende Sprachen wie das Fränkische in Gallien, das Arabische auf der Iberischen Halbinsel und Sizilien, das Altkirchenslavische im rumänischen Sprachgebiet, gehen unter und hinterlassen Interferenzen, die von den Sprechern selbst nicht mehr als fremde Elemente wahrgenommen werden. Die sechste Phase stellt den Untergang der übergeordneten oder der untergeordneten Varietät dar, so dass nur noch als Ergebnis des gesamten Prozesses als siebente Phase entweder A‘ oder B‘ übrigbliebe. Auch A oder B wären Möglichkeiten des Modells, eine Realisierung in der Geschichte ist aber nicht gut denkbar. So einfach ist keine Sprache, dass als Ergebnis des Kontakts nur eine Varietät bliebe. Deswegen reduziere ich die Betrachtung auf eine hier modellhaft angenommene Dynamik
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der Entwicklung von zwei Varietäten im Kontakt. Phasen wie die hier vorgestellten werden in der romanischen Sprachwissenschaft aus der Perspektive des Substrats und des Superstrats bzw. der Substrat- und Superstratsprache dargestellt. Dem Bewusstsein der Sprecher ist die Substrat- oder Superstratsprache nicht eigentlich zugänglich. Die Substratsprachen des Lateinischen sind für das Sprecherbewusstsein, mit Ausnahme desjenigen des Etymologen, verloren. Im amerikanischen Spanisch haben die Sprecher zum Teil noch ein Bewusstsein vom Fortleben indianischer Substratwörter, sie können sie aber gewöhnlich nicht identifizieren. Das Arabische als Superstratsprache ist in Spanien im Bewusstsein teilweise gegenwärtig, den Nachweis können die Sprecher aber nicht im Einzelnen führen. Damit verweisen „Substrat“ und „Superstrat“ für den Etymologen zwar auf Sprachkontaktsituationen. Diese selbst werden aber, da sie der Untersuchung nur in vagen Ansätzen zugänglich sind, nicht betrachtet. 2.4.2.5 Variation und Varietäten in der Romania Die romanischen Spracharchitekturen mit ihren Variationen und Varietäten werden zusammen mit anderen Gesichtspunkten Gegenstand des 5. Kapitels sein. Dort werden sowohl die Geschichten der Einzelsprachen behandelt, die Standardsprachen herausbildeten oder dies wenigstens versuchten, darunter besonders die Standardsprachen von Nationalstaaten, die komplexe Spracharchitekturen bilden. Damit sich daraus nicht allzu viele Überschneidungen ergeben, wähle ich hier die Sprachen mit kolonialer Expansion, also das Spanische, das Portugiesische und das Französische. Im Überblick über die heutigen Varietäten werde ich zwischen der Perspektive der Verschiedenheiten oder Heterogenität und der Perspektive der Einheitlichkeit oder Homogenität wechseln. Wie in derartigen Darstellungen üblich, werde ich das Syntopische, Synstratische und Symphasische (das sonst meist diatopisch, diastratisch und diaphasisch genannt wird) betonen. Ich vermeide die Ausdrücke „diatopische Varietät“, „diastratische Varietät“ und „diaphasische Varietät“, die inzwischen zu Unrecht recht üblich geworden sind, aus zwei Gründen. Erstens wurden mit den Adjektiven „diatopisch“, „diastratisch“ und „diaphasisch“ ursprünglich Unterschiede benannt und nicht Varietäten. Und zweitens wird eine Varietät durch Gemeinsamkeiten im Raum, in einer sozialen Schicht und bei einem Rede- und Schreibanlass zusammen konstituiert. Allenfalls verwende ich einen umständlichen Ausdruck wie z. B. „syntopisch charakterisierte Varietät“, wenn zum Ausdruck kommen soll, dass syntopische Gemeinsamkeiten in einer Varietät dominant sind. Die grundlegende Variation einer jeden Sprache betrifft die diatopischen Unterschiede. Unterschiede im Raum sind auch dann vorhanden, wenn eine historische Sprache keine Standardsprache ausgebildet hat. In diesem Fall sind die syntopischen Einheiten zugleich vollständige Sprachen bzw. Sprachen schlechthin. Der Status einer solchen Sprache kam in der Vergangenheit durch Termini wie langage und langue, lingua, lengua usw. zum Ausdruck. In der heutigen Phase der Entwicklung sind nicht
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alle romanischen syntopischen Einheiten vollständige Sprachen, sondern nur solche, die sich zu Standardsprachen entwickelt haben. Die syntopischen Einheiten, die eine solche Entwicklung nicht mitgemacht haben, sind zu Dialekten abgesunken, was sich darin ausdrückt, dass sie nicht mehr die Sprache aller gesellschaftlichen Schichten bei allen Anlässen sind. Dieses Absinken findet komplementär zur Verbreitung der Standardsprache statt. In der Dialektologie ging man anfangs davon aus, dass die Dialekte gut abgrenzbar seien. In der sprachlichen Wirklichkeit stellte man dagegen je nach Phänomen nur verschiedene Isoglossen fest und wollte daraus schließen, dass es keine Dialekte gebe. Heute ist es noch weniger möglich, einheitliche Dialekte zu finden als zur Zeit der frühen dialektologischen Untersuchungen. Und wenn es sie gibt, beruht ihre Einheitlichkeit eher auf dem Vordringen der Standardsprache, die die dialektale Homogenität reduziert und eine standardsprachliche Einheitlichkeit eingeführt hat. Noch unschärfer als die Dialektgrenzen sind die Grenzen der verschiedenen regionalen Ausprägungen einer Standardsprache. Definierbar sind sie nicht, denn als diatopisch differenzierte Standardsprachen weisen sie zugleich diastratische und diaphasische Abstufungen auf. Coserius Einteilung der syntopischen Einheiten in Primär-, Sekundär- und Tertiärdialekte (cf. 2.4.2.3) wollen wir nicht auf einen synchronischen Kontext anwenden. Wir hatten sie nicht eigentlich geschichtlich genannt, sie ist vielmehr diachronisch, d. h. durch eine sprachwissenschaftliche Perspektive motiviert. Dem Sprecherbewusstsein ist sie nicht zugänglich. Allenfalls in der Phase der Herausbildung eines Sekundär- oder Kolonialdialekts mag es den Sprechern bewusst sein, dass eine neue Sprache im Raum entsteht; dies ist gelegentlich metasprachlich nachweisbar. Ebenso ist ein Tertiärdialekt im Bewusstsein derjenigen vorhanden, die von ihrem Dialekt ausgehend die Standardsprache erlernen, das Modell aber nicht vollständig erreichen und von anderen Sprechern deshalb zum Beispiel für affektiert gehalten werden. So heißt es in der Personenbeschreibung des Steckbriefs von 1852, mit dem Giuseppe Mazzini, ein die italienische Einheit vorbereitender „Revolutionär“, von der österreichischen Polizei gesucht wurde: „Er spricht ein wenig affectirt den toscanischen Dialekt“. Dieser Brief wird im Museo del Risorgimento in Genua ausgestellt. Der heutige Status der Dialekte ist im Gegensatz dazu durch das Verhältnis zu derjenigen Standardsprache zu bestimmen, der sie untergeordnet sind. Heute werden die Dialekte zwar im Allgemeinen nicht mehr „verderbt“ oder „korrumpiert“ genannt, weil dies unserer Sensibilität widersprechen würde, sie werden aber doch stillschweigend so betrachtet, als seien sie von der Standardsprache abgeleitet. Dem folgen alle diejenigen Sprachwissenschaftler, die bei der Beschreibung eines Dialekts die Standardsprache zugrunde legen und nur die Abweichungen ihr gegenüber beschreiben. Diatopische Unterschiede bestehen in den romanischen Sprachen im Wesentlichen als dialektale Unterschiede, als Unterschiede einer als Dialekt angesehenen Kontaktvarietät (B‘) und als Unterschiede einer als standardsprachlich angesehenen Kontaktvarietät (A‘). Die für die entsprechenden syntopischen Einheiten volkstüm-
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lich und in der Fachliteratur verwendeten Termini divergieren in den einzelnen Sprachen und Staaten erheblich, so dass wir keine allgemein üblichen Termini nennen können. Der zweite Typ von Unterschieden und von Einheiten besteht in solchen, die von der Strukturierung einer Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft abhängen. Wie diese Unterschiede im Einzelnen zu begründen sind, muss sich aus der spezifischen Strukturierung dieser Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft ergeben. Soziale Schichten konstituieren sich in der Romania in der Regel nach der Ausbildung und Bildung sowie nach dem Einkommen. In den Flydalschen Termini diastratisch und synstratisch sind die soziokulturellen und sozioökonomischen Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten enthalten. Eine weitere Differenzierung kann danach von Fall zu Fall erfolgen. Unter der Perspektive der synstratischen Einheitlichkeit können ebenfalls die syntopischen Einheiten, wenn sie von bestimmten sozialen Schichten gesprochen werden, Sprachniveaus (Coseriu) genannt werden. Dieser Terminus kann in manchen sprachwissenschaftlichen Terminologien, etwa als “niveau de langue” in Frankreich, mit einer symphasischen Einheit verwechselt werden, die Coseriu Sprachstil nennt. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch sind dafür auch Soziolekt und sozialer Dialekt üblich. Ein Soziolekt bzw. sozialer Dialekt wird aber als Varietät betrachtet, was beim Sprachniveau nicht der Fall ist, denn eine im Diskurs funktionierende Sprache ist ein Dialekt bzw. zugleich eine syntopische Einheit, ein Sprachniveau und ein Sprachstil. Das Diastratische fällt nun in den romanischen Sprachen weitgehend mit dem Diatopischen zusammen. Oder anders ausgedrückt: Die diatopischen Unterschiede erhalten eine weitere diastratische Bestimmung, da räumliche Unterschiede an bestimmte soziale Schichten gebunden sind. Eine Untersuchung von Variation und Varietäten kann man nach unterschiedlichen Graden von Komplexität vornehmen. Es ist ein Vorteil, hierfür ein entsprechend unterschiedlich differenziertes begriffliches Instrumentarium zu haben. Gerade für die nur rudimentär erfassbaren Varietäten der Vergangenheit sind eher grobe Unterscheidungen von Nutzen. In diesem Sinne ist die sehr allgemeine Unterscheidung von Halliday, McIntosh und Strevens in “varieties according to users (that is, varieties in the sense that each speaker uses one variety and uses it all the time)” und in “varieties according to use (that is, in the sense that each speaker has a range of varieties and chooses between them at different times)” (1964: 77) immer noch von theoretischem und praktischem Interesse, denn die diaphasischen Unterschiede bzw. die Sprachstile kann jemand, der ansonsten syntopisch und synstratisch einheitlich spricht, einsetzen, um je nach Rede- oder Schreibanlass, d. h. nach der Situation, nach Gesprächspartnern, nach dem Thema seine Sprache zu variieren. Von daher ist es verständlich, dass diese Variation bei Flydal noch nicht mit einem eigenen Terminus belegt worden ist. Diese Variation ist auch insofern von anderer Art, als ein Sprecher, der einer bestimmten Region und einer bestimmten sozialen Schicht angehört, je nach den Gepflogenheiten seiner Sprachgemeinschaft in Abhängigkeit von der Situation – Unterhaltung mit Vertrauten über Belangloses, Fachgespräche, feierliche Rede – eine andere Sprache
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oder Varietät verwenden kann. Man braucht nur an Sprecher von in regional begrenzter Weise verbreiteten Varietäten in der Romania zu denken, die, wenn sie schreiben wollen, die durch die Schule gelehrte nationale Standardsprache verwenden müssen. Die damit verbundene Annahme, der Unterschied zwischen Sprechen und Schrei ben sei diaphasisch, muss nach dem Versuch, den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache als eine weitere Dimension einzuführen (Koch/ Oesterreicher 11990: 5–6), erneut betont werden. Dies darf auch dann behauptet werden, wenn wir gelten lassen, dass sich der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache nicht auf einen diaphasischen Unterschied reduzieren lässt. In der Tat beziehen wir die als außersprachliche Wirklichkeit existierende Situation in deutlich anderer Weise in das Sprechen ein, als dies beim Schreiben geschehen kann. Auf diesen Unterschied werden wir bei der Besprechung der Umfelder zurückkommen (3.4). Die Variation und die Varietäten sind sehr ungleich dokumentiert. Die diatopische Differenzierung der romanischen Sprachen in ihrer Anfangszeit wird uns hier nur kurz beschäftigen. Man hatte bei der ersten Verschriftung der romanischen Sprachen nicht die Absicht, eine in syntopischer oder in sonstiger Hinsicht einheitliche Sprache zu schreiben. Ein Autor verfolgte mit seinem Text vielmehr den Zweck, überregional verständlich zu sein. Die lateinisch-romanische Zweisprachigkeit hatte gleichfalls zur Folge, dass die Verschriftlichung romanischer Texte kein Abbild einer nur lokalen Sprache war, sondern die Texte standen in der Tradition von Schreibsprachen. Dafür wurde als Terminus Scripta eingeführt (Remacle 1948). Von den Scriptae sind die Varietäten zu trennen, die während und nach der Durchsetzung einer überregional dominierenden Sprache geschrieben wurden. Solche Sprachen, von denen einige es schafften, Standardsprachen zu werden, wurden für manche Bereiche wie Rechtsprechung, Verwaltung und Literatur übernommen. Wenn die ehemals gesprochenen Dialekte in einen niederen diastratischen Status abgedrängt wurden, schrieb man die Literatur dieser sozialen Schicht in einer Varietät, die man nun mit vollem Recht Dialekt nennen kann, da sie einer anderen Sprache untergeordnet wurde. Diese Literatur nannte Benedetto Croce Reflexliteratur (31956; cf. 5.1.2). Die Reflexliteratur schließt noch keinen Versuch einer Dialektbeschreibung ein und wird an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigt. Der Dialektbeschreibung dienen hingegen Dialektwörterbücher, Dialektmonographien, Sprachatlanten und Einzeluntersuchungen. Diatopische Kriterien überwiegen am Anfang der Beschreibung von Variation und Varietäten, weil diatopische Unterschiede auffälliger sind als andere und deshalb am frühesten wahrgenommen wurden. Diastratische Gesichtspunkte kommen nach und nach in wenig systematischer Weise hinzu. Das Diaphasische ist bei den diatopischen und diastratischen Informationen immer mitgegeben. Zum Beispiel enthält ein literarischer Text einen bestimmten Sprachstil oder mehrere und bei der Befragung von Informanten für die Erstellung eines Sprachatlanten stellen der Redeanlass und die Redesituation den jeweiligen diaphasischen Unterschied von einer Befragungssituation zur anderen dar.
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Die ersten Bestandsaufnahmen von Dialekten waren Wörterbücher. Die ersten unter ihnen haben Modellfunktion für die späteren, so für die italienischen Dialekte dasjenige der Seminaristen von Brescia ([Alunni del Seminario Episcopale di Brescia] 1759), für das Französische die Beschreibung des lothringischen Dialekts der Grafschaft Ban de la Roche im Elsass durch Oberlin (1970, 11775), die schon den Charakter einer Dialektmonographie hat. Die Beispiele sind nicht an sich bedeutend, sondern nur deshalb, weil sie eine Tradition begründet haben, die erst sehr viel später wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte. Die Forschung hat ihre Anfänge später ignoriert. Da mir der Sinn für das Entstehen von Traditionen wichtig ist, sprachlichen wie wissenschaftlichen, weise ich auch in diesem Fall darauf hin. Einen Aufschwung nahm die Dialektmonographie mit den Junggrammatikern, die die Untersuchung der gesprochenen Sprache entdeckten und die für das Verstehen der Entstehung so wichtigen Vorarbeiten in den Hintergrund drängten. Die gesprochene Sprache, die sie untersuchten, war nicht die Standardsprache, sondern es waren die Dialekte, die damit am Anfang der wissenschaftlichen Erforschung gesprochener Sprache stehen. Das Musterbeispiel ist das Werk Les modifications phonétiques du langage étudiées dans le patois d’une famille de Cellefrouin (Charente) (1891) des Abbé Rousselot, das die Variation bereits in einer Familie zeigt. Dem Spannungsverhältnis zwischen Standardsprache und Dialekten haben früh Krüger für das Spanische (1914) und Bloch für das Französische (1921) ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Die Sprachgeographie und ihr Forschungsinstrument, der Sprachatlas, gehen vom deutschen Sprachatlas aus, den Georg Wenker (1852–1911) in einer schriftlichen Umfrage bei Volksschullehrern und anderen Kennern von Mundarten unternommen hat. Das Material liegt in der Teilveröffentlichung Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland, auf Grund von systematisch mit Hülfe der Volksschullehrer gesammeltem Material aus ca. 30.000 Orten (1881) vor. Ein Sprachatlas besteht, ganz allgemein gesprochen, aus einer Reihe von Sprachkarten. Jede Sprachkarte enthält die Antworten auf eine Frage zur Phonetik, zur Grammatik und zum Wortschatz, die ein Informant an einem zuvor festgelegten Ort gegeben hat. Die Befragung kann man schriftlich durchführen, wie Wenker es getan hat, oder mündlich, wie es die Regel bei der Erhebung der Daten für einen Sprachatlas ist. Eine Sprachkarte ist also eine Momentaufnahme eines Phänomens an bestimmten Orten eines Erhebungsgebiets zu einer bestimmten Zeit. Auf einer Sprachkarte stellt man immer Variation fest. Den ersten großräumigen Sprachatlas eines romanischen Landes hat Gustav Weigand vorgelegt: Linguistischer Atlas des dakorumänischen Sprachgebietes (1909). Darauf folgte der von dem Schweizer Gilliéron konzipierte und mit Edmont als Explorator durchgeführte Atlas linguistique de la France (ALF, 1902–1910). Dies ist kein Atlas einer bestimmten Sprache, also nicht nur des Französischen, sondern aller in Frankreich gesprochenen romanischen Sprachen. Vergleicht man diese Untersuchung mit den hier eingeführten Gesichtspunkten, so sehen wir, dass als exemplarische Sprecher alte Männer ausgewählt wurden, die Analphabeten waren, ihren Ort nicht verlassen hatten und deshalb als typische Repräsentanten des ältesten Zustands der Dialekte
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galten. Sie lebten auf dem Land und hatten wenig Kontakt mit anderen Regionen. Größere Städte waren aus der Befragung ausgeschlossen. Damit war die Konzeption dieses Typs von Sprachatlas auf eine museale Bestandsaufnahme ausgerichtet. Die Phase, in der der von diesen Männern gesprochene Dialekt wirklich lebendig war, war ihre Jugendzeit. Die von Gilliéron verfolgte Absicht bestand darin, den möglichst ursprünglichen Dialekt für die Nachwelt zu dokumentieren. In unserer Terminologie ausgedrückt können wir sagen, dass Primärdialekte dokumentiert werden sollten. Die verstädterten Dialekte oder gar die dialektal gefärbte Umgangssprache waren ausgeschlossen. Die synchronische Darstellung an dieser Stelle und die diachronische greifen ineinander und man kann den gegenwärtigen Zustand von seiner Entwicklung her begreifen. Daher kann man die Lektüre mit dem geschichtlichen Teil über die gegenwärtigen Einzelsprachen mit kolonialer Vergangenheit oder die Geschichte der Sprachen von Nationalstaaten fortsetzen. 2.4.2.6 Spracharchitekturen in der Romania Die Architektur einer historischen Sprache ist den Sprechern wie den Linguisten, die über eine oder mehrere Varietäten einer historischen Sprache schreiben, stets gegenwärtig, denn Variation und Varietäten werden immer in einem hierarchischen Gefüge situiert. Nur hatte man das, was man tat, noch nicht auf den rechten Begriff gebracht. Die Sache wird nun mit einem eigenen Terminus nicht einfacher. Die klassischen Schwierigkeiten der Abgrenzung von Dialekten potenzieren sich noch in der wesentlich komplexeren Spracharchitektur. Wenn wir bisher mit der historischen Sprache als Bezugsrahmen operiert haben, so reicht er doch nur für relativ einfache Fälle aus. Spätestens bei der Berücksichtigung des Diaphasischen in mehrsprachigen Gemeinschaften stellt sich das Problem, in welchem Verhältnis historische Sprache und Spracharchitektur zueinander stehen. Eine Klärung dieser Frage kann nicht ohne die Erörterung des Begriffs der Sprachgemeinschaft auskommen. Sprachgemeinschaft soll man sich nicht als einen auf ein bestimmtes Forschungskonzept reduzierten Begriff denken, sondern bei einer von den Sprechern und ihrem Wissen ausgehenden Auffassung so weit fassen wie die Bedeutung des Wortes selbst, was angesichts einer sehr variierenden Praxis durchaus tautologisch formuliert werden darf: Eine Sprachgemeinschaft bilden alle diejenigen, die eine gemeinsame Sprache sprechen. Die Grenzen der Gemeinschaft hängen dann von den Grenzen der Verwendung der Sprache ab, die diese Gemeinschaft stiftet. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Sprecher nicht nur einer Sprachgemeinschaft angehören muss. Und auch die „Sprache“ einer Sprachgemeinschaft kann sehr verschieden aufgefasst werden. Die Art und Weise, wie sich eine Gemeinschaft über ihre Sprache konstituiert, lässt sich vom kleinsten Netz der Beziehungen zwischen Familienangehörigen, Freunden und Bekannten sowie Arbeitskollegen bis zum größtmöglichen aufzeigen. Eine
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minimale Gemeinschaft kommt durch das soziale Netzwerk derjenigen zustande, die über die Sprache, die sie als dieselbe anerkennen, in mündlichen Kontakt zueinander treten. Diese Sprecher sind mit anderen Sprechern wiederum in ähnlicher Weise vernetzt. Durch eine von Staats wegen gelehrte Schriftsprache erhalten wir als Sprecher Zugang zu – aus Raum und Zeit entbundenen – Texten, die als öffentlich gesprochene Sprache in Vorträgen, Reden und Predigten, in Rundfunk und Fernsehen mündlich und nun auch multimedial schriftlich überall eingesetzt und von all denen, die in ihr sozialisiert wurden, als eigene Sprache anerkannt wird. Daher sind die Grenzen einer Sprachgemeinschaft in abgestufter Weise gegeben. Die Abstufungen zeigen sich in den Umfeldern, in denen die mündliche und dann die schriftsprachliche Sozialisierung erfolgt, die, wie angedeutet, vom Umfeld der Familie und ihrem sozialen Netzwerk angefangen bis zu denjenigen reichen kann, die die als dieselbe anerkannte Sprache als Erstsprache umfassen und darüber hinaus diejenigen einschließen kann, die diese Sprache als Zweitsprache verwenden. Die umfassendste Sprachgemeinschaft bilden daher diejenigen, die dieselbe Standardsprache sprechen oder eine gemeinsame überregionale Sprache, wenn kein Standard existiert. Dabei ist es nicht erheblich, ob die gemeinsame Sprache mehr oder weniger gleich oder gar identisch ist (z. B. Bloomfield 1933). Es genügt, dass die Sprecher durch ihre Sprachverwendung zum Ausdruck bringen, dass sie die gemeinschaftsstiftende Funktion einer bestimmten Sprache anerkennen. Dass die Anerkennung einer Standardsprache eine Vielfalt von Variationen einschließt, zeigen vor allem die spanische und die portugiesische Sprachgemeinschaft. In der französischen Sprachgemeinschaft ist dagegen Frankreich so dominant, dass die Anerkennung des Gemeinsamen in der Frankophonie außerhalb Frankreichs selbst schon ein Problem ist. Die durch ihre gemeinsame Sprache konstituierte Gemeinschaft nimmt einen Raum ein, dessen Ausdehnung sehr verschieden wahrgenommen wird. Der Regelfall ist die Wahrnehmung innerhalb der Grenzen eines Staates, in dem eine oder mehrere Standardsprachen durch die Institutionen des Bildungswesens gelehrt werden und das öffentliche Leben bestimmen. Deshalb wird eine solche Sprache oft, aber unzutreffend, „Nationalsprache“ genannt, denn man braucht nur auf die Verbreitung des Spanischen, Portugiesischen und Französischen in der Welt zu schauen, um festzustellen, dass dieselbe Sprache (bzw. die Sprache, die als dieselbe anerkannt wird) die Sprache verschiedener Nationen ist. Es ist richtig zu sagen, dass das Französische die Nationalsprache Frankreichs ist, aber nicht, dass es eine Nationalsprache schlechthin ist. Es ist also gleichsam natürlich, dass als Raum einer Sprachgemeinschaft der Nationalstaat gilt, der von Sprachwissenschaftlern in seiner Spracharchitektur dargestellt wird, denn in diesem Raum wird dieselbe Sprache als Unterrichtssprache gelehrt und in diesem Rahmen sind deshalb die Sprecher durch den stärksten mündlichen und schriftlichen Austausch miteinander verbunden. Von diesem Raum mittlerer Größe kann man zu einem mehrere Staaten umfassenden Raum übergehen (z. B. zum Französischen in Europa oder Afrika, vom Spanischen Spaniens zum
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amerikanischen Spanisch) oder zum gesamten Raum einer Standardsprache (z. B. el español general) bzw. zu kleineren Räumen wie den Regionen, die man sich innerhalb unterschiedlicher administrativer oder landschaftlicher Grenzen denken kann (z. B. Südfrankreich, Gaskogne, Bigorre). Nicht also die Verbreitung einer Varietät ist die Grundlage für die Abgrenzung eines Raums, wie man eigentlich annehmen sollte, da es sich um sprachliche Grenzen handelt, sondern ein nach außersprachlichen Kriterien abgegrenzter Raum, weil die Sprecher annehmen, dass eine bestimmte Varietät sich in einem außersprachlich abgegrenzten Raum verbreitet hat. Nur so lassen sich die Irritationen von „Franzosen“, „Italienern“, „Spaniern“ oder „Rumänen“ erklären, wenn sie feststellen müssen, dass innerhalb der Grenzen ihres Nationalstaats neben der „Nationalsprache“ in manchen Regionen noch eine andere Sprache gesprochen wird. Dieses Vorgehen, das darin besteht, einfach einen außersprachlichen Raum als gegeben zu setzen, wird ganz selbstverständlich auch von denjenigen Sprachwissenschaftlern angewandt, die für die Angabe der Herkunft von spanischen Auswanderern nach Amerika im 16. Jahrhundert die heutigen spanischen Provinzen wählen, deren Grenzen aber erst auf das Jahr 1833 zurückgehen (z. B. von Boyd-Bowman 31985). Nicht anders verfahren italienische Dialektologen und Sprachhistoriker, die für die Darstellung italienischer Dialekte ebenfalls als Rahmen die nach der Einheit Italiens geschaffenen Provinzen nehmen, um dann darauf hinzuweisen, wo denn die Isoglossen der Dialekte diesseits oder jenseits der Provinzgrenzen verlaufen (Devoto/Giacomelli 1972, Bruni (a cura di) 1992, 1994). Die Metapher von der Architektur einer Sprache legt eine hierarchische Gestaltung der Varietäten einer historischen Sprache nahe. In der Tat genießen, auch von der Standardsprache abgesehen, nicht alle Varietäten die gleiche Anerkennung. Sie besitzen eine unterschiedliche Reichweite und einen jeweils anderen Status. Unter den Typen hierarchischer Gestaltung sind vor allem drei zu nennen: Eine Standardsprache mit ihren Dialekten, eine Standardsprache mit einer oder mehreren ihr untergeordneten historischen Sprachen und eine Standardsprache mit ihren standardnahen Kontaktvarietäten. Die Standardsprache, die sich in den Staaten romanischer Sprache in Europa als Nationalsprache durchgesetzt und dabei die mit ihr unmittelbar verwandten Sprachen als Dialekte in eine Situation der Unterordnung gebracht haben, gilt beinahe als Normalfall für die Beziehungen zwischen den Varietäten innerhalb einer Spracharchitektur, besonders für die Beziehung der Überordnung und Unterordnung. Die Entwicklung der Sprachwissenschaft ist vor allem von der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Dialekten und Standardsprachen gekennzeichnet, so dass andere Typen von Beziehungen zwischen Varietäten nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden (cf. das Schema in 2.1.2). Der zweite häufig abgegrenzte Fall von Spracharchitektur ist die Diglossiesituation. Er überschneidet sich insofern teilweise mit dem ersten, als bei manchen Dialekten in besonderem Maße der Abstand zu „ihren“ Standardsprachen wahrgenommen wird. Varietäten, auch dialektale, die in verschiedenen Umfeldern funktio-
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nieren, stehen im Verhältnis einer Diglossiesituation zueinander (cf. Fishman 1967). Bei dieser Betrachtungsweise könnte man auch die als ersten Fall genannte Konstellation der Standardsprache mit ihren Dialekten unter die Diglossie subsumieren. Dann aber müsste man diese Diglosssiesituation von einem anderen Typ unterscheiden, bei dem zwei historische Sprachen miteinander in Kontakt gekommen sind. Wenn es sich dabei um zwei romanische Sprachen handelt, die beide Standardsprachen ausgebildet haben, besteht zwischen einer Standardsprache mit ihren Dialekten und einer Standardsprache im Kontakt mit einer anderen nur der Statusunterschied zwischen Standardsprache und Dialekt. Dieser Statusunterschied kommt in dem – meist prekären – Nationalbewusstsein zum Ausdruck, das die Sprecher der untergeordneten Standardsprache in unterschiedlichem Maße ausgebildet haben (cf. 5.11 zum Katalanischen, 5.14 zum Galicischen, 5.3 zum Sardischen, 5.9 zum Okzitanischen). Der dritte Fall wird in seiner Besonderheit kaum angemessen eingeschätzt. Es dominiert bei seiner Erfassung im Gegenteil, wenn man die Spracharchitektur in Betracht zieht, das Modell der Standardsprache, die andere Sprachen zu Dialekten umfunktioniert. Dies geschieht bei der Einschätzung der Architektur einer Sprache in ihrer kolonialen Expansion. Die weiteste koloniale Verbreitung haben das Spanische, das Portugiesische und das Französische erfahren. Es haben in den an die Ursprungsgebiete dieser und anderer romanischer Sprachen angrenzenden Räumen ebenfalls Kolonisierungsprozesse stattgefunden. Wegen ihrer räumlichen Kontiguität werden diese Gebiete aber zu den Dialekten der jeweiligen Standardsprache gezählt, so das Andalusische zum Spanischen, das Valencianische zum Katalanischen. In dieser Beziehung stand im Mittelalter das Anglonormannische zum Normannischen und später zum Französischen. Alle diese kolonialen Varietäten sind Gemeinsprachen. Als solche haben sie sich, andere verwandte Varietäten eliminierend oder aufnehmend, in den Kolonialgebieten ausgebreitet. Wenn heute von den Mutterländern her dort diatopische Unterschiede wahrgenommen werden, ist es einfach unangemessen, diese als dialektal zu betrachten, es sei denn, diese Varietäten sind Dialekte aus der Sicht der ehemals kolonialen Regionen. Die kolonialen Varietäten sollten selbst dann nicht als Dialekte betrachtet werden, wenn die Sprecher dieser Varietäten die Standardsprache des Mutterlandes in manchen Verwendungssituationen als übergeordnet empfinden, wie dies im spanischen Sprachraum geschehen kann. Wir können nun noch einmal auf das Modell einer historischen Sprache mit ihren Dialekten zurückkommen, um es zu präzisieren. Dies kann allerdings am leichtesten aus einer geschichtlichen Perspektive gelingen. In Europa ist der Spracharchitekturtyp einer Standardsprache mit ihren Dialekten als derjenige einer historischen Sprache mit ihren Primärdialekten zu verstehen. In einer kolonialen Spracharchitektur finden wir aber eine historische Sprache mit Sekundärdialekten vor, die denselben geschichtlichen Ursprung haben wie die historische Sprache selbst. Die Kolonialsprachen haben ihre eigenen Diglossiesituationen geschaffen. Sie sind in ihren frühen Expansionsphasen zwangsläufig selbst in Kontakt mit nicht verwandten Sprachen getreten. Diese anderen Sprachen haben sie stets eliminiert oder
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marginalisiert. Zur Erklärung dieses Prozesses kann man das Modell der Entstehung und des Untergangs von Kontaktvarietäten heranziehen (cf. 2.4.2.4). Geblieben sind z. B. spanische Kontaktvarietäten in den Regionen ehemaliger Hochkulturen wie denen der Mayas oder Inkas und in einem ehemaligen Missionsgebiet wie Paraguay. Weitere Kontaktvarietäten entstehen in kolonialen Kontaktsituationen durch Einwanderer, wenn sie sich in großer Zahl in bestimmten Siedlungsgebieten niederlassen oder in Großstädten relativ geschlossene Stadtviertel bilden. So haben italienische Einwanderer, die als Umgangssprache zunächst italienische Dialekte sprachen, im Kontakt mit dem Spanischen ein italianisiertes Spanisch, das cocoliche herausgebildet, das einen so geringen sozialen Status in Buenos Aires hat wie in den romanischen Ländern Europas die Dialekte. Und wie in Europa die Dialekte marginalisiert werden, so in den Gebieten kolonialer Expansion die Kontaktvarietäten, auch diejenigen der europäischen Einwanderer. Eine sowohl synchronische als auch diachronische Perspektive nehmen wir nicht nur bei der Untersuchung einer Einzelsprache ein. Wir können auch die gesamte Architektur einer historischen Sprache oder der in einem Raum gesprochenen Sprachen in dieser Weise betrachten. Eine Spracharchitektur besteht nicht nur aus einer Einzelsprache oder Varietät, sondern aus einer Gesamtheit von Varietäten, die von den Sprechern in geregelter Weise verwendet werden. Auch hier können wir die Verwendung von Varietäten zu einer bestimmten Zeit, also synchronisch untersuchen oder in diachronischer Perspektive und schließlich ihr Zustandekommen, d. h. ihre Geschichte. Bei der Reihenfolge der Besprechung der romanischen Spracharchitekturen gehen wir nach der Zahl der Sprecher vor. Daher folgen auf das Spanische das Portugiesische und das Französische. Die Architekturen aller romanischen Sprachen werden im 5. Kapitel ausführlich aus diachronischer Sicht dargestellt.
Bibliographischer Kommentar
Man hat immer schon eine Intuition von der Spracharchitektur gehabt. In dialektologischen und soziolinguistischen Darstellungen wurden die untersuchten Varietäten im Allgemeinen gegenüber der Standardsprache und anderen Varietäten situiert. Nur verfuhr man dabei nicht explizit und systematisch. Die Architektur romanischer Sprachen vergleichen programmatisch Oesterreicher 1995 und Koch/Oesterreicher 2008. In diesem Sinne kann man unter den knappen Spracharchitekturskizzen die Situation der Sprachen in Frankreich in Pottier 1968 und die der Sprachen in Kolumbien in Caudmont 1968 erwähnen. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung des Französischen in Müller 1975. Einen Vergleich des französischen und spanischen Varietätenraums gibt Wesch 1998 in seiner unveröffentlicht gebliebenen Habilitationsschrift. In der Sprachgeschichtsschreibung wird ein implizites Spracharchitekturkonzept dann verwirklicht, wenn wie in Lodge 1993 das Zustandekommen der heutigen Varietäten in Frankreich geschichtlich erklärt wird. Eine solche Konzeption ist unter den romanischen Sprachgeschichten (und darüber hinaus) eher die Ausnahme. Ein Versuch in dieser Richtung wird in Lüdtke 2006 für die Anfänge des Spanischen in Amerika unternommen.
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2.4.2.7 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Spanischen Unsere genaueren Kenntnisse der dialektalen Verhältnisse auf der Iberischen Halbinsel gründen sich auf dem Atlas lingüístico de la Península Ibérica (ALPI). Dieser Sprachatlas war von Menéndez Pidal angeregt worden und wurde von Navarro Tomás geleitet. Die Arbeiten daran unterbrach der Spanische Bürgerkrieg. Von den Materialien wurde nur ein einziger phonetische Sprachkarten umfassender Band 1962 veröffentlicht. Aber auch nach der Unterbrechung der Arbeiten fuhren die Exploratoren fort, ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Der Vorteil der Perspektive des ALPI ist, dass alle romanischen Dialekte der Iberischen Halbinsel mit derselben Methode erfasst wurden. Unter den Dialekten des Spanischen sind diejenigen wenig voneinander verschieden, die sich unmittelbar aus dem Kastilischen als Sekundärdialekte herleiten. Dies sind das Alt- und Neukastilische, d. h. das Kastilische von Altkastilien und von Neukastilien, das extremeño, das Murcianische, das Andalusische, das Kanarische und die verschiedenen Modalitäten des volkstümlich gesprochenen amerikanischen Spanisch, während das Asturianische und das Aragonesische ausgeprägtere Unterschiede aufweisen und Primärdialekte sind. Die spanischen Sprachwissenschaftler fassen das Asturianische und das Leonesische im so genannten „Asturleonesischen“ zusammen. „Asturleonisch“ ist nur eine sprachwissenschaftliche Benennung. Für die Sprecher gibt es entweder nur das Asturianische oder das Leonesische. Das Asturianische ist ein Primärdialekt, das Leonesische der Sekundärdialekt des Asturianischen. Das Aragonesische und das Asturianische werden von einem Teil der Sprecher auch als eigene Sprachen betrachtet (cf. 5.8.12 und 5.8.13). Die spanische Standardsprache tritt durch den Ausbau von historischen Sprachen in Spanien in ein neues gegenseitiges Verhältnis. Am sinnfälligsten ist die Entwicklung nach der Verfassung von 1978. Die Zeit danach ist völlig anders zu betrachten als die Zeit davor. Während vor 1978 die anderen historischen Sprachen Spaniens auf das Niveau von Dialekten absanken, wurde diese Entwicklung danach umgekehrt und führte zu einem Ausbau, den es zum Beispiel im Falle des Katalanischen in der heutigen Ausprägung nicht gegeben hat. Die Spracharchitektur eines hispanoamerikanischen Landes hat zu berücksichtigen, ob neben dem Spanischen Indianersprachen gesprochen werden oder nicht. Existieren indianische Sprachgemeinschaften, stellt sich das Problem der Alphabetisierung oder der nicht erfolgten Alphabetisierung. Indigene Sprecher, die nicht alphabetisiert sind, können wir uns vorzugsweise als einsprachige Sprecher ihrer Sprache vorstellen. Wird eine Alphabetisierung der indianischen Gemeinschaften in der Schule betrieben, sollte man der Alternative der Alphabetisierung zuerst in der indianischen Sprache und danach im Spanischen nachgehen oder die problematische direkte Alphabetisierung in spanischer Sprache bedenken. In Amerika geht die Marginalisierung nicht-spanischsprachiger Sprechergruppen, bedingt durch ihren niedrigen sozialen Status, weiter. Ausnahmen stellen die zeitweilige Anerkennung des Quechua als Amtssprache in Peru dar, der
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Unterricht in Quechua und Aymara in Bolivien sowie der indigenen Sprachen in Mexiko. Sprecher indigener Sprachen schaffen Kontaktvarietäten des Spanischen. In Mexiko gibt es im zentralen Hochland zahlreiche solcher spanischer Kontaktvarietäten, unter denen diejenigen der Sprecher des Náhuatl seit Jahrhunderten die wichtigsten sind. Was seine Flächenverbreitung angeht, ist aber das yucatekische Spanisch besonders auffällig (Lope Blanch 1987). In den Andenstaaten Ecuador, Peru, Bolivien und zum Teil im Nordwesten Argentiniens ist das im Kontakt mit dem Quechua und dem Aymara entstandene andine Spanisch verbreitet. In Paraguay ist der Kontakt zwischen dem Guaraní und dem Spanischen so eng, dass man ein stark vom Guaraní geprägtes Spanisch von einem neutraleren Spanisch unterscheiden muss. Anstelle von „Kontaktvarietät“ verwendet Escobar (1978) interlecto, wofür Lastra (21997: 326– 327) interlenguaje vorzieht. Die Adaptation des zugrundeliegenden englischen Terminus interlanguage sollte eher interlengua sein. Da aber beim Sprachkontakt immer zwei Konvergenzsprachen entstehen, ist die einseitige Berücksichtigung von nur einer Kontaktsprache, von derjenigen, die eine Varietät des Spanischen ist, zu vermeiden. Da in Hispanoamerika generell zwischen zweisprachigen Regionen und einsprachig spanischsprachigen Regionen zu unterscheiden ist und die zweisprachigen Regionen – immer im Rahmen der riesigen kontinentalen Dimensionen betrachtet – relativ kleinräumig sind, kommen für unsere Darstellung fast nur die einsprachigen Regionen in Frage. Die Unterschiede sind in der Hauptsache diastratisch. Dabei ist die Unterscheidung der sozialen Schichten abhängig von der Gesellschaftsstruktur des jeweiligen Landes. Ein Sprachatlas des gesamten hispanoamerikanischen Sprachgebiets ist seit langer Zeit geplant, aber nicht realisiert worden. Unsere Kenntnis stützt sich daher auf die Sprachatlanten einzelner Länder und Regionen, auf allgemeine Amerikanismenwörterbücher, auf die Wörterbücher, die den Wortschatz einzelner Länder sammeln, und Monographien. Die Bemerkungen zu diesen Typen sprachwissenschaftlicher Textgattungen sind wie immer sehr selektiv zu verstehen. Man geht dabei von fünf Niveaus aus: Oberschicht, obere Mittelschicht, untere Mittelschicht, obere Unterschicht und untere Unterschicht. Die Ober- und die Mittelschicht sind relativ klein. In manchen Ländern verarmt die Mittelschicht, z. B. in Argentinien, was Folgen für die sprachliche Abstufung der sozialen Niveaus hat. Diese fünf Sprachniveaus liegen auch der Untersuchung der “norma del habla culta” (,Sprachnorm der Gebildeten‘) zugrunde, die von einer großen Arbeitsgruppe der Asociación de Lingüística y Filología de la América Latina (ALFAL) untersucht wird (Lope Blanch 1986). Die Einteilung des amerikanischen Spanisch in Dialektgebiete war seit der Arbeit von Henríquez Ureña (1921) eine der Hauptfragen der hispanoamerikanischen Sprachwissenschaft. Heute können wir die sprachlichen Phänomene etwas genauer als Kontinuum zwischen Sekundär- und Tertiärdialekten erkennen. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts aber lagen den wissenschaftlichen Fragen die Probleme zugrunde, die sich bei Primärdialekten stellen. Das führte zu Verzerrungen in der wissenschaft-
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lichen Wahrnehmung, denn die hispanoamerikanische Linguistik hatte das Problem, dass sie dialektologische Forschungsmethoden vorfand, die für Primärdialekte konzipiert waren, die Dialekte sind, die einen relativ großen Abstand untereinander aufweisen. Dialektgrenzen sind deswegen etwas leichter durch Isoglossen zu bestimmen, was aber häufig ebenfalls für die Primärdialekte bestritten wurde. Die am Beispiel von Primärdialekten entwickelten Methoden wurden folglich auf Hispanoamerika übertragen. Die erste Sammlung von Sprachkarten zum amerikanischen Spanisch legte Navarro Tomás in El español de Puerto Rico (21966) vor. Der erste große Sprachatlas, der Atlas lingüístico-etnográfico de Colombia (ALEC, 1981–1983), entstand am Instituto Caro y Cuervo in Bogotá. Die Forscher hatten am Anfang eben kein Bewusstsein davon, dass man es in kolonialen Sprachsituationen mit Sekundärund Tertiärdialekten einschließlich eines breiten Variationsbereichs dazwischen zu tun hat. Bei der konkreten Arbeit wurde aber klar, dass man für eine durch Kolonisierung entstandene Sprache nicht denselben Typ von Sprachatlas schaffen konnte wie für eine Sprache in Europa. Es handelt sich bei den darin erfassten Phänomenen nicht um eigentlich dialektale Unterschiede und schon gar nicht um solche zwischen Primärdialekten, sondern es sind Unterschiede in der Gemeinsprache, die, diatopisch betrachtet, einem sekundären oder tertiären Typ entsprechen. Hier halte ich es für genauer, wenn wir das Konzept der Typen von Dialekten anwenden und Sekundärdialekte von Tertiärdialekten unterscheiden. Die hispanoamerikanischen Standardvarietäten entsprechen Tertiärdialekten; sie sind also standardsprachliche Formen der Gemeinsprache. Diese wiederum unterscheiden sich von denjenigen Varietäten, die in Hispanoamerika Sekundärdialekte sind und den standardsprachlichen Tertiärdialekten untergeordnet werden. Diese Unterordnung erkennt man daran, dass die Sprecher in Hispanoamerika die Sprache der Hauptstadt ihres Landes als mustergültig anerkennen. Der bedeutendste hispanoamerikanische Sprachatlas ist der Atlas lingüístico de México (ALM oder Almex). Die ursprüngliche Motivation dieses Sprachatlanten war die Untersuchung der dialektalen Gliederung des mexikanischen Spanisch. Lope Blanch unternahm mit einer Gruppe von Mitarbeitern an El Colegio de México von 1967 an die Aufstellung eines Fragebogens von 1.000 Fragen zu phonetischen, grammatischen und lexikalischen Phänomenen. Die Befragung wurde an 193 Orten mit dem Ziel durchgeführt, die erhobenen Daten in einem Sprachatlas zu veröffentlichen. Es wurde dabei immer derselbe Fragebogen angewendet. Diese Methode entspricht gut dem Typ von diatopischer Differenzierung des mexikanischen Spanisch. Der ALM kennt einige Innovationen in der Methode. Es wurde nicht nur ein einziger Informant befragt, sondern mindestens drei, maximal sieben. Dabei wurden der Bildungsgrad berücksichtigt, von gebildet über einen mittleren Bildungsgrad bis zu einem niederen Bildungsniveau, das Geschlecht und das Alter mit den Altersgruppen Jugendliche, Erwachsene und Alte. Diese Daten erlauben die Erstellung eines soziolinguistischen Profils für jeden untersuchten Ort. In die Zahl der Befragungsorte wurden die Großstädte aufgenommen und alle Hauptstädte von Bundesstaaten,
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wobei das Netz der Orte die Bevölkerungsdichte widerspiegelt. An jedem Ort wurden Tonbandaufnahmen von vier Informanten in spontanen halbstündigen Unterhaltungen gemacht. Sie dienten der Untersuchung der Grammatik und der Phonetik. Diese Methode erlaubt gegenüber der Abfragung einzelner Wörter die Untersuchung der Laute in natürlich gesprochener Sprache und in ihrer phonetischen Umgebung. Damit wird der ALM der Tatsache gerecht, dass das amerikanische Spanisch eine breite Übergangszone zwischen sekundären und tertiären Dialektphänomenen ist, wenn diese Terminologie auch nicht Verwendung findet. Aus den Tonbandaufnahmen wurde der statistische Durchschnitt für jedes Phänomen ermittelt und auf einer einzigen Karte eingetragen. Die dadurch entstehende Informationsdichte macht die Sprachkarten sehr schwer lesbar. Diese sind Materialsammlungen, die analysiert und interpretiert werden müssen. Die Auswertung des Materials steht in vielen Einzelfragen erst noch bevor. Eine phonetische Interpretation der Sprachkarten vor dem Hintergrund der immer wieder in der hispanoamerikanischen Forschung aufgeworfenen Probleme gibt Moreno de Alba 1994. Wenn wir im Anschluss an die Forschungslage einen Überblick über einige sprachliche Erscheinungen geben, ist es nicht möglich, direkt auf den Stand der Forschung einzugeben. Das verbietet sich wegen der breit angelegten Forschung und wegen der Breite der zu leistenden Beschreibung. Beginnen wir mit den Vokalen. Die Region, deren unbetonter Vokalismus als besonders interessant beschrieben wird, ist Mexiko. Die unbetonten Vokale können auf der mexikanischen Hochebene abgeschwächt werden. Die stärkste Abschwächung, die bis zum Verstummen des Vokals geht, findet in der Umgebung von /s/ statt und in zweiter Linie in der Umgebung von anderen stimmlosen Konsonanten. Am häufigsten wird e abgeschwächt, darauf folgen o, i und a, a ist am wenigsten betroffen. Die Abschwächungsstufen sind, am Beispiel von a und e: 1. estas, antes; 2. estas, antes; 3. estas, antes; 4. ant’s (Moreno de Alba 1994: 32). Aber auch dort, wo diese Erscheinung auftritt, ist sie keineswegs häufig; sie existiert vor allem im zentralen Teil der Hochebene sowie im östlichen Küstenland Mexikos. /e/ wird gelegentlich in einem relativ kleinen Gebiet des mexikanischen Hochlands geschlossen ausgesprochen: noche [ˈnotʃi] ‚Nacht‘. Diese Erscheinung ist diastratisch niedrig markiert. Im Zentrum und Süden Mexikos und vereinzelt im Westen und in Yucatán kennt man, teils allgemein, teils eher in ländlichen Gebieten, für teatro ‚Theater‘ die Aussprache [ˈtjatro]. Diese dipthongische Aussprache von /e/ + Vokal ist seltener für die Wortgrenze im Zentrum und Norden Mexikos belegt wie in me alegro [mja’leɣɾo] ‚ich freue mich‘. /o/ wird mit einer ähnlichen geographischen Verbreitung bei ungebildeten Sprechern, also diastratisch sehr niedrig markiert, als [w] gesprochen: toalla [ˈtwaja] ‚Handtuch‘, poeta [ˈpwɛta] ‚Dichter‘. Auf den Einfluss des Andalusischen führt man den seseo des amerikanischen Spanisch zurück, d. h. den Zusammenfall der Phoneme /s/ und /θ/ in /s/. Während das /s/, das sich in Opposition zu /θ/ befindet, apikoalveolar gesprochen wird, realisieren die Andalusier und die Hispanoamerikaner das Phonem /s/ als prädorsal-alveolaren
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Laut, wobei der Zungensaum meist die oberen Schneidezähne und die Zungenspitze die unteren Schneidezähne berührt. Neben dem seseo ist aber auch der andalusische ceceo nach Hispanoamerika gebracht worden. Er wird in der Fachliteratur seltener erwähnt und besteht im Zusammenfall der Phoneme /s/ und /θ/ in /θ/. Er war und ist diastratisch niedriger markiert und wurde meist zu Gunsten des seseo aufgegeben. Dennoch hat er sich vereinzelt bis heute erhalten, etwa in manchen Regionen Chiles (Cartagena 2002: 22–28). Eine weitere Erscheinung andalusischen Ursprungs ist die Aspiration bzw. Spirantisierung von /-s/ in implosiver Stellung (cf. 2.2.1.2). Hierbei handelt es sich eigentlich nur um eine distributionelle Variante von /s/. Da sie aber eine hohe Vorkommenshäufigkeit hat, bestimmt sie in sehr ausgeprägter Weise die Wahrnehmung der regionalen Unterschiede des amerikanischen Spanisch. Beim implosiven /-s/ sind die folgenden Umgebungen zu unterscheiden: 1. vor Pause, 2. im Wortauslaut vor Vokal (los ojos ‚die Augen‘), 3. vor nasalem Konsonanten (mismo ‚selbst‘), 4. vor stimmlosen okklusiven Konsonanten im Wortinlaut (este ‚dieser‘), 5. im Wortauslaut vor Okklusiv (los platos ‚die Teller‘), 6. vor stimmhaftem Konsonanten (desde ‚seit‘). Die Allophone sind Abschwächungen von /s/, z. B. [s], Spirantisierungen ohne Abschwächung wie im stimmlosen [h] oder mit Abschwächung wie [h], z. B. in moscas [ˈmohkah] ‚Fliegen‘. Es gibt sogar eine stimmhafte Variante wie in desde [ˈdeɦðe]. Als Allophon von /-s/ gilt auch das Verstummen dieses Lauts. Die Abschwächung, die Spirantisierung und das Verstummen des implosiven /-s/ sind auf den Antillen, in den Küstenregionen und im Norden Mexikos, in Mittelamerika, Venezuela, Kolumbien, Teilen von Peru und Bolivien, sowie in Chile, Argentinien, Uruguay und Paraguay verbreitet. Auf den Antillen und an den Küsten der Karibik kann die Spirantisierung sogar den Silbenanlaut erfassen wie in nosotros [no’hotɾo] ‚wir‘. Wie der seseo ist auch der yeísmo eine Reduktion des hispanoamerikanischen Phonemsystems gegenüber dem Standardspanischen der Iberischen Halbinsel. Er besteht im Zusammenfall von /ʎ/ und /j/ in /j/ und breitet sich auch in Spanien zunehmend aus. In Hispanoamerika ist er seit dem 16. Jahrhundert belegt und heute eine fast allgemeine Erscheinung. Der Ertrag der Opposition ist nicht sehr hoch, daher führt der Zusammenfall kaum zu Verwechslungen wie etwa in (se) calló ‚er, sie schwieg‘/(se) cayó ‚er, sie fiel‘. Im Río de la Plata-Gebiet geht die Entwicklung bis zu [ʒ] und wird žeísmo genannt. ž ist nur ein phonetisches Transkriptionszeichen der diachronischen Grammatik für [ʒ] im internationalen phonetischen Alphabet und wird allgemein für diese phonetische Entwicklung verwendet, weshalb ich keine Adaptation vornehme. Die Artikulation [ʒ] ist die Grundlage des Lautwandels zu [ʃ] und sogar zu [tʃ] bei den Jüngeren in diesem Raum, darunter besonders den Frauen. Da der Lautwandel von [ʒ] zu [ʃ] im Kontakt mit dem Italienischen eingetreten ist, darf man wohl genauer von Lautersetzung sprechen. Der žeísmo ist auch mit der Aussprache [tʃ] in [ˈtʃo] für yo ‚ich‘ dabei, in den Standard aufzusteigen. Die maßgebliche Untersuchung zu diesem Lautwandel in seinem soziolinguistischen Kontext hat Fontanella de Weinberg (1979) in Bahía Blanca, einer Stadt der Provinz Buenos Aires, durchgeführt.
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Als einem Hinweis darauf, dass -r und -l immer noch phonologische Relevanz haben, kann man den alternativen Zusammenfall von /ɾ/ und /l/ im Wort- und Silbenauslaut in /-ɾ/ oder /-l/ ansehen, denn den Zusammenfall in /ɾ/ oder in /l/ kann man als konfuses Wissen um diesen phonologischen Unterschied betrachten. Wir stellen also Aussprachen wie soldado [soɾˈðao] ‚Soldat‘ und wie mujer [mu’hel] ‚Frau‘ fest. Die Abschwächung des auslautenden /-ɾ/ kann bis zu [h], z. B. in carne [ˈkahne] ‚Fleisch‘, und bis zur Verstummung gehen. Das intervokalische /-d-/ verstummt in volkstümlicher Sprache sehr häufig, z. B. pelado [pe’lao] ‚kahl‘. Die Abschwächung der intervokalischen Okklusive /-b-/, /-d-/, /-g-/ geht also bei /-d-/ in der Regel noch weiter als bei den anderen Okklusiven und sie ist frequenter. Asp. f- entwickelte sich zu [ɸ], und dieser Laut wurde zu [h], bevor er im Standardspanischen und zahlreichen Dialekten verstummte. In Hispanoamerika konnte er aber als [h] erhalten bleiben, z. B. in hierro [ˈhjɛro] oder fierro ‚Eisen‘. Ebenfalls zu [h] wurde der Laut, der aus [ʃ] entstanden ist und der in der Standardsprache zu [χ] wurde. Während sich die Aussprache von ojo ‚Auge‘ in der Standardsprache von [ˈoʒo] über [ˈoʃo] zu [ˈoχo] entwickelte, entstand in Andalusien und in Amerika aus [ˈoʃo] [ˈoho]. Wenn man die Aussprache [h] graphisch wiedergeben will, schreibt man . Die schon im Altspanischen reduzierten Konsonantennexus bleiben in volkstümlicher Sprache erhalten: digno [ˈdino] ‚würdig‘. Das heißt, dass die latinisierende Schreibung des 15. und 16. Jahrhunderts nicht zur Wiedereinführung von [g] in der Aussprache geführt hat. Unter den grammatischen Phänomenen nenne ich die am weitesten verbreiteten. Die voseo genannte Erscheinung ist die auffälligste. Sie ist eine Konservation von vos als allgemeiner Anrede für eine einzelne Person und für mehrere Personen im amerikanischen Spanisch des 16. Jahrhunderts. Um die Verhältnisse im amerikanischen Spanisch zu verstehen, gehen wir zum Altspanischen zurück. Die Anrede mit tú war fast ganz auf Kinder beschränkt. Man konnte bei vos, das der ehrerbietigen und der informellen Anrede diente, nicht mehr Singular und Plural unterscheiden. Es setzte noch im Altspanischen ein diastratisches Absinken von vos für die informelle Anrede ein und eine parallele Ersetzung von vos für die ehrerbietige Anrede durch Kombinationen mit einem Substantiv wie merced ‚Gnade‘, aber je nach zu erweisender Ehrerbietung auch ein anderes wie señoría ‚Herrschaft‘ für Adlige oder alteza ‚Hohheit‘ bis zum zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Dadurch wurde es wieder möglich, in der Anrede Singular und Plural zu unterscheiden: vuestra merced ‚Euer Gnaden‘ vs. vuestras mercedes ‚Eure Gnaden‘. Für die informelle Anrede mit vos wurde ebenfalls ein Plural eingeführt. Durch die Hinzufügung von otros konnte vos für den Singular und vosotros für den Plural verwendet werden. Die Opposition zu vosotras lässt die Genusmarkierung zu. Für ‚wir‘ wurde nos verwendet. Es ist möglich, dass der Plural vosotros, -as den Plural nosotros, -as nach sich zog.
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Nach Amerika gelangte tú für die Anrede von Kindern, ansonsten vos für den Singular und den Plural, vuestra merced mit dem Plural vuestras mercedes und die anderen formellen Anreden, nicht aber vosotros. Noch formeller waren Anreden wie su merced mit der 3. Person Singular beim Verb, die aber nicht fortlebten. Ohne dass man den Prozess aus Mangel an Dokumentation genau beschreiben könnte, wurde vos in den ersten Jahrzehnten der Geschichte des Spanischen in Amerika auf Kosten von tú verallgemeinert. Die zunächst in Variation mit vos gebrauchte Anrede vuestra merced/vuestras mercedes entwickelte sich zu einer formellen Anrede. Dabei entstanden Schnellsprechformen wie vuesarced, voacé, vuced, vusted, usted, von denen usted mit dem Plural ustedes sich verallgemeinerte. Tú als verallgemeinerte informelle Anrede wurde über den engeren Kontakt der Antillen mit Spanien eingeführt und von dort nach Venezuela verbreitet. Die vizeköniglichen Höfe in Mexiko und Lima förderten ebenfalls die erneute Einführung von tú. Stark vereinfachend kann man sagen, dass das sprachgeographische Ergebnis in den stärker mit dem Norden der Iberischen Halbinsel in Kontakten stehenden hispanoamerikanischen Regionen die Anrede mit tú im Singular für die informelle Anrede, mit usted für die formelle Anrede und mit ustedes ohne Unterschied zwischen formell und informell ist. Dies ist der Fall in der Karibik, in Mexiko, in Peru und in Bolivien. Hispanoamerikanische Regionen, die in der Kolonialzeit Randregionen waren wie Argentinien, Uruguay, Paraguay und Mittelamerika gebrauchen dagegen vos für die informelle und usted für die formelle Anrede, während der Plural ustedes unterschiedslos formell und informell verwendet wird. Daneben existieren Regionen, in denen tú und vos mit einem Unterschied nebeneinander bestehen; das sind z. B. Chile, Costa Rica, Panama, Kolumbien, Venezuela und Ecuador. Zur räumlichen Verbreitung des voseo kommt seine höchst unterschiedliche diastratische Einschätzung hinzu. Er ist z. B. niedrig in Chile markiert, dagegen die allgemeine informelle Anrede unter Argentiniern und Uruguayern. Unter voseo versteht man heute die Verwendung von vos statt tú. Nicht weniger wichtig ist aber die gänzliche Abwesenheit von vosotros im gesprochenen hispanoamerikanischen Spanisch und seine Ersetzung durch ustedes. Bis hierher betreffen meine Kommentare die Anredepronomina in Subjektfunktion und nach Präpositionen. Nicht berücksichtigt wurden die anderen syntaktischen Verwendungen und die Verbformen. Kommen wir zuerst zu den Verbformen. In jedem Fall kennt das hispanoamerikanische Verb nur fünf Personen, da die 2. Person Plural überhaupt fehlt. Bei voseo wird die Anrede mit vos entweder mit der alten 2. Person Plural vom Typ cantáis ‚ihr singt‘ kombiniert oder mit der 2. Person Singular vom Typ cantas ‚du singst‘. Im Allgemeinen werden Formen vom Typ cantáis selegiert. Das Personalmorphem tritt aber in mehreren Allomorphen auf. Es kann der Diphthong erhalten bleiben wie in vos amáis ‚du liebst‘, vos tenéis ‚du hast‘, vos sois ‚du bist‘, und es gibt die monophthongierten Formen vos amás, vos tenés oder tenís, vos sos. Man findet vos aber auch in Verbindung mit der 2. Person Singular, wie bei vos amas, vos tienes, vos eres in weiten Gebieten Ecuadors. Da die 2. Person Plural aufgegeben
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2 Die Einzelsprache
worden ist, wird auch bei der Kombination der 2. mit der 3. Person im Singular und im Plural die 3. Person Plural verwendet: “Lorenzo colocará la mano sobre tu hombro. Se verán a los ojos, sonreirán” (Fuentes 2001: 320) – ‚Lorenzo wird seine Hand auf deine Schulter legen. Ihr werdet euch in die Augen sehen, ihr werdet lächeln.‘ Noch deutlicher ist die Verwendung von du mit einer dritten Person aus demselben Werk: “Los espero a ti y a tu hermano esta noche” (Fuentes 2001: 390) – ‚Ich warte heute Nacht auf euch, auf dich und deinen Bruder‘. Das voseo genannte Phänomen impliziert noch weiteres. Während das Subjektpronomen und die Form nach Präpositionen vos lautet, hat das unbetonte Objektpronomen die Form te, z. B. in einem argentinischen Ausdruck wie te quiero a vos ‚ich liebe dich‘. Dazu gehören ebenfalls die Possessivpronomina tu und tuyo. Das System der Anrede ist hybrid. Das heißt, dass fast alle Formen in den unterschiedlichsten Arten und Weisen miteinander kombiniert werden können, was eine große Komplexität mit sich bringt. Sie wird noch größer, wenn man die diatopischen, diastratischen und diaphasischen Unterschiede berücksichtigt. Im Hinblick auf diese diasystematische Einordnung sind wir noch nicht genau über den voseo in allen hispanoamerikanischen Regionen informiert. Bei der Verwendung der Tempora wird das Präteritum dem zusammengesetzten Perfekt vorgezogen: Pasó sagt man statt Ha pasado, wenn ein Autobus, den man erreichen wollte, gerade eben abgefahren ist. In gesprochener Sprache wird eine Periphrase mit ir a oder haber de den einfachen Futurformen vorgezogen. Unter den beiden Formen des Konjunktiv Imperfekts gibt es eine Präferenz für die Form auf -ra statt auf -se. Für Buenos Aires hat Lavandera (1984) eine Untersuchung vorgenommen, in der sie zeigt, dass unter Jugendlichen und bei Informanten mit geringer Schulbildung, darunter vor allem Frauen, der Konditional an die Stelle des Konjunktiv Imperfekts treten kann: Si tendría que hacer una cosa como ése, me gustaría – ‚Wenn ich etwas wie der zu tun hätte, würde es mir gefallen‘. Der Konditional ist in diesem Fall volkssprachlich und wird in der Normsprache als Fehler angesehen. Die pronominalen Formen der Verben sind häufiger als in der Standardsprache der Iberischen Halbinsel, z. B. enfermarse ‚krank werden‘. Für das direkte Objekt wird auch für Personen lo ‚ihn‘ verwendet. Die Neuerung le, die in Spanien weit verbreitet ist, ist nicht nach Hispanoamerika gelangt. Der dequeísmo besteht in der Verwendung von de nicht nur vor Substantiven, die den nachfolgenden que-Satz interpretieren, wie in “el hecho de que no venga” – ‚die Tatsache, dass er, sie nicht kommt‘, sondern darüber hinaus nach Verben in derselben Funktion, wie etwa in “digo de que” – ‚ich sage, dass‘, eine auch unter Gebildeten mündlich sehr häufige, aber normativ nicht anerkannte Erscheinung. In der Wortbildung werden dieselben Verfahren wie im Spanischen der Iberischen Halbinsel angewandt, die Realisierungen gehen aber entweder über die dort bekannten hinaus oder sie weisen Normunterschiede auf. Als Adverbien werden besonders
2.4 Sprachvariation und Varietäten
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häufig die adverbialisierten Adjektivformen verwendet: Los niños duermen tranquilo – ‚Die Kinder schlafen ruhig‘. Die Realisierungen der Modifizierung gehen noch weiter als im Spanisch der Iberischen Halbinsel: ahorita ‚gleich, sofort‘, buenazo ‚seelengut‘. Die größten Divergenzen liegen im Bereich des Wortschatzes und der Wirklichkeit, die die Wörter bezeichnen. Als Einführung in die Spracharchitektur Spaniens können 5.10, 5.11, 5.12, 5.13 und 5.14 gelesen werden.
Bibliographischer Kommentar
Die aktuellste Übersicht über die Dialekte in Spanien, auch die historischen, und die als „Dialekte“ betrachteten Varietäten in Amerika bieten Alvar (ed.) 1996 und 1996a. Überblicke über das Spanische in Amerika geben, zum Teil mit Berücksichtigung von Fragen der Sprachgeschichte, Moreno de Alba 32001, Fontanella de Weinberg 1992, Quesada Pacheco 2000, Noll 2001, Aleza Izquierdo/Enguita Utrilla 2002, Frago Gracia/Franco Figueroa 2003.
2.4.2.8 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Portugiesischen Den Raum des Galicischen und des Portugiesischen trenne ich voneinander. Da die dialektologischen Schriften zum Portugiesischen fast alle vor der Anerkennung des Galicischen als Standardsprache in der autonomen Region Galicien verfasst wurden, weiß man nicht, welchen Standpunkt die heutigen portugiesischen Dialektologen einnehmen würden. Die überwiegende Mehrheit der Galicier erkennt das Portugiesische nicht als ihre Standardsprache an (cf. zu den galicischen Dialekten Fernández Rei 1990 und 1994). Die galicische Dialektologie dagegen hat sich eher nach der Annahme des galicischen Autonomiestatuts entwickelt. Deshalb sind die galicischen und die portugiesischen dialektologischen Fragen noch nicht in einer gemeinsamen Diskussion geklärt worden. Der Ausdruck „Galicisch-Portugiesisch“ (pt. galego-português) ist für das Gebiet des Portugiesischen und des Galicischen ungeeignet, da dieser Sprachenname zu keiner Zeit von den Sprechern selbst eingeführt wurde (cf. zur Herkunft dieses Terminus den bibliographischen Kommentar in 5.14). Die in Portugal gesprochenen Dialekte sind Sekundär- oder Kolonialdialekte. Sie weisen eine noch geringere interne Differenzierung auf als die meisten Kolonialdialekte des Kastilischen und des Katalanischen auf der Iberischen Halbinsel. Die Portugiesen erkennen einander als aus dem Norden, dem Zentrum und dem Süden Portugals stammende Sprecher, eine Klassifikation der diatopischen Unterschiede in Form von Dialekten hat aber bisher noch nicht zu klaren Ergebnissen geführt. Der Norden weist die größten diatopischen Unterschiede auf, vom Zentrum zum Süden hin nehmen sie ab. Die Sprachräume in Portugal werden von den Dialektologen durch Isoglossen abgegrenzt, die aus ihrer Sicht auffällige Phänomene darstellen. Es ist nicht klar, ob die den Dialektologen auffallenden Phänomene im Bewusstsein der Sprecher selbst präsent sind und auf diese Weise Dialekträume konstituieren. In den dialektologischen Untersuchungen wird auch darauf hin-
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gewiesen, dass die lautlichen diatopischen Unterschiede gering sind; zugleich ist der Abstand zwischen Standardsprache und Dialekt ebenfalls gering. Da die Standardisierung des Portugiesischen ihren Ausgang von einer diatopisch relativ wenig differenzierten Sprache nahm und das gesprochene Portugiesisch sich in der sehr kurzen Zeit von im Wesentlichen 200 Jahren im ganzen Land ausgebreitet hat, ist mit einer starken dialektalen Gliederung eigentlich auch nicht zu rechnen. Als die wichtigsten Differenzierungsmerkmale gelten die apikoalveolar oder prädorsodental gesprochenen Sibilanten, der Zusammenfall von /b/ und /v/ zu /b/ oder die Unterscheidung dieser beiden Laute und die Erhaltung der Diphthonge [ou] und [ei] oder ihre Monophthongierung in Wörtern wie ouro ‚Gold‘, janeiro ‚Januar‘, azeite ‚Öl‘ im Süden Portugals. Größere Unterschiede bestehen dagegen im Wortschatz. Standardisiert wurden, außer der Monophthongierung, die südlichen Dialektmerkmale. In diesen Merkmalen konvergierten übrigens die beiden normgebenden Städte Coimbra und Lissabon. Von den Dialekten des Festlands heben sich diejenigen der Atlantikinseln (Madeira, Porto Santo, Azoren) klar ab. Sie sind für die weitere Expansion nach Brasilien wichtig. Sie strahlen durch Kolonisierung auf das überseeische Spanisch aus: Die Kanarischen Inseln, besonders die westlichen (La Palma, Teneriffa, Gran Canaria), weisen tiefgehende portugiesische Einflüsse auf und Portugiesen nahmen teil an der Kolonisierung Hispanoamerikas. Das Portugiesische auf den Kapverdischen Inseln sowie São Tomé und Príncipe, in Guinea-Bissau, Angola und Mosambik steht, sofern es nicht um Kreolsprachen geht, in der Tradition des europäischen Portugiesisch. Die Dialekte Portugals und Brasiliens sind nicht hinreichend beschrieben, insbesondere die Lautgeographie ist nicht sehr weit entwickelt. Das Problem des geringen Abstands zwischen dem, was in Portugal als dialektal, und dem, was als hochsprachlich angesehen wird, wiederholt sich in Brasilien. Das umgangssprachlich gesprochene brasilianische Portugiesisch leitet sich von recht einheitlich gesprochenen Sekundärdialekten ab, die in den Expansionsgebieten neue Gemeinsamkeiten und neue Unterschiede ausgebildet haben. Auch die gesprochene Sprache Brasiliens ist in der Forschung im Verhältnis zum Portugiesischen des Mutterlands und zur Bedeutung Brasiliens unterrepräsentiert. Während sich eine Sprachnorm in Portugal auf dem Wege über einen Konsens herausgebildet hat, ist diese in Brasilien noch nicht abgeklärt. Eine wirkliche Normierung kennt nur die brasilianische Orthographie. Es wird schwer sein, einen direkten Zugang zur brasilianischen Sprachnorm über die Fachliteratur zu bekommen. Teyssier kontrastiert in seinem Manuel de langue portugaise (Portugal-Brésil) (21992, 1 1976) systematisch die europäische und die brasilianische Norm des Portugiesischen. Dagegen versuchen Cunha und Cintra in ihrer Nova gramática do português contemporâneo (52010) eine beide Sprachräume umgreifende Norm zu schaffen. Zwei Stellen aus dem Vorwort mögen dies verdeutlichen:
2.4 Sprachvariation und Varietäten
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‚Es schien uns eine Beschreibung des heutigen Portugiesisch zu fehlen, die gleichzeitig die verschiedenen in seinem weiten Sprachgebiet geltenden (hauptsächlich die als Standard in Portugal und Brasilien zugelassenen) Normen berücksichtigt und somit eine möglichst vollständige und aktualisierte Informationsquelle dafür wäre. Sie sollte gleichzeitig als Orientierungshilfe für einen mündlichen und schriftlichen Ausdruck dienen, den man im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Sprachentwicklung als ‚korrekt‘ betrachten könnte‘ (52010: XIII; meine Über setzung). ,Da diese Grammatik die höhere Einheit der portugiesischen Sprache in ihrer natürlich gewachsenen Verschiedenheit besonders aus diatopischer, geographischer Sicht zeigen will, wird den Unterschieden im nationalen und regionalen Sprachgebrauch, vor allem denjenigen, die man zwischen der nationalen europäischen und der amerikanischen Varietät beobachtet, genaueste Aufmerksamkeit geschenkt‘ (52010: XIV–XV); meine Übersetzung).
Im Vergleich zu Portugal werden die diatopischen Unterschiede in Brasilien eher toleriert. Sie werden in einer Reihe von regionalen, nach Staaten erstellten, onomasiologisch ausgerichteten Sprachatlanten erfasst. Wichter als die diatopischen Unterschiede sind in Brasilien die diastratischen. Im 1969 initiierten Projekt der Associaçião de Linguística e Filologia da América Latina (ALFAL) zur Untersuchung der “Norma Urbana Culta”, der Entsprechung zur spanischen “norma del habla culta”, werden sprachliche Unterschiede mit den fünf sozialen und Bildungsunterschieden korreliert, die wir beim Hinweis auf das spanische Projekt genannt haben. Es liegen bereits mehrere Bände mit Materialien vor und die Auswertung hat ebenfalls begonnen. Auf das Material dieses Projekts stützt sich die von Ataliba Texeira de Castilho herausgegebene Gramática do português falado (z. B. Castilho (org.) 21991, 32002), die zu einer gesprochenen Norm des brasilianischen Portugiesisch hinführen soll. Der betonte brasilianische Vokalismus kennt ähnliche Laute wie das europäische Portugiesisch, [ɐ] ist aber kein Phonem, sondern eine Variante von /a/, die vor Nasalkonsonanten vorkommt. In vortoniger Stellung erscheinen in der Hauptsache fünf Vokale. Im Norden Brasiliens sind es /i/, /ɛ/, /a/, /ɔ/, /u/ und im Süden /i/, /e/, /a/, /o/, /u/. Der wichtigste diatopische Unterschied liegt im Öffnungsgrad von /e/ und /ɛ/ sowie /o/ und /ɔ/. Die mittleren und die offenen Vokale werden nicht wie in Portugal abgeschwächt. Unbetontes /e/ wird in unbetonter Stellung [i] gesprochen: de [di] ‚von‘. Eine Öffnung des Vokals erscheint auch bei den mittleren Vokalen unter dem Nebenakzent oder als Erhaltung des Stammvokals: somente ‚allein, nur‘ mit [ɔ]. Vortonig können [e] und [i], [o] und [u] aber auch variieren. Das Phonem /a/ wird in vortoniger Stellung nicht generell in der Variante [ɐ] realisiert. Die im europäischen Portugiesisch abgeschwächten Varianten erscheinen nachtonig im Inlaut nicht, außer bei /o/, das als [u] realisiert wird. Auslautvokale werden zu [i], [a] und [u]: pode [ˈpɔdʒi] und auch [ˈpɔdʒ] ‚er, sie kann‘, ótimo [ˈɔtʃimu] ‚bester‘, canela [ka’nɛla] ‚Zimt‘, canto [ˈkɐ˜ntu] ‚ich singe‘. Die Diphthonge, die und geschrieben werden, lauten in Brasilien [ei̯] wie in seis ‚sechs‘ und [ɛi̯] wie in papéis ‚Papiere. [ei̯] kann auslautend unter bestimmten
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2 Die Einzelsprache
Bedingungen monophthongiert werden, so in peixe [ˈpeʃi]. Vor [ʃ] kann auch [ai̯] monophthongiert ausgesprochen werden wie in caixa als [ˈkaʃa]. /s/ wird vor stimmlosen Konsonanten und im Auslaut [s] gesprochen, [z] dagegen vor stimmhaften Konsonanten und vor Vokal: os gatos [uz ˈgatus] ‚die Katzen‘. Im carioca, der Sprache von Rio de Janeiro und Umgebung, haben wir dieselben Varianten von /s/ wie in Portugal, also chiamento (Noll 1999: 43–46). Zu den auffälligsten Merkmalen zählt die Palatalisierung von /t/ und /d/ vor [i] zu [tˈ] und [dˈ] und zu [tʃ] und [dʒ]: noite [ˈnoitʃi] ‚Nacht‘, cidade [siˈdadʒi] ‚Stadt‘. Die Palatalisierung ist zwar nicht allgemein, aber standardsprachlich. Im Nordosten des Landes kommt sie kaum vor. /ɾ/, apikoalveolar in Portugal, wird in Brasilien besonders intervokalisch mit dieser Artikulation gesprochen. /r/ wird für Portugal als meist uvulares [ʁ] beschrieben. Die in Brasilien verbreitete Velarisierung setzt aber als Allophon [R] voraus, das zu [χ] velarisiert und dann zu [h] spirantisiert werden kann: rapaz [χaˈpai̯s] ‚Junge‘, rio [ˈhiṷ] ‚Fluss‘. Auch /ɾ/ kann die velare Variante [χ] aufweisen und, vor stimmhaften Konsonanten, die Variante [ɣ]: aperto [aˈpɛχtu] ‚offen‘, árvore [ˈaɣvuɾi] ‚Baum‘. /l/ erscheint nach Vokal als [l] oder [ɫ]. Im Silbenauslaut wird [ɫ] zu [ṷ] vokalisiert, z. B. in Brasil [braˈziṷ] oder alto [ˈaṷtu] ‚hoch‘. Dadurch entstehen Diphthonge, die meist auch sonst vorkommen, die Zahl der auf diese Weise diphthongierten Wörter ist aber größer als in Portugal. Das Allophon [ṷ] ist in Brasilien fast allgemein und ist als standardsprachlich zu werten. Diastratisch niedrig markiert ist der Zusammenfall von /ɾ/ und /l/ in implosiver Stellung in [ɾ] mit Varianten: alto [ˈaɾtu], [ˈartu], [ˈaχtu]. /ʎ/ kann diastratisch niedrig als [j] oder [l] realisiert werden: mulher ‚Frau‘ als [muˈjɛ] oder als [muˈlɛ]. In diesem Fall ist das Phonemsystem reduziert. In Brasilien werden die Verschlusslaute /b/, /d/, /g/ im Allgemeinen intervokalisch nicht frikativ ausgesprochen: amado [aˈmadu] ‚geliebt‘, amigo [aˈmigu] ‚Freund‘.
Bibliographischer Kommentar
Als erster Überblick ist der Beitrag Kröll 1994 zu konsultieren. Die Dialektologie Portugals beginnt mit Vasconcellos 1901. Wichtige Aufsätze enthalten Boléo 1974 und 1975 sowie Cintra 1983. Über das brasilianische Portugiesisch informieren Neto 51986, Teyssier 1989, Noll 1999. Eine umfassende bibliographische Information zum brasilianischen Portugiesisch gibt Dietrich 1980.
2.4.2.9 Variation, Varietäten und Spracharchitekturen im Französischen Im Französischen sind dialektale Unterschiede am wenigsten ausgeprägt. In einem weiten Kreis um Paris herum sind keine eigentlichen dialektalen Unterschiede festzustellen. Die Sprache dieses Raums gilt als Modell des Französischen. Man spricht ein „neutrales“ Französisch, wenn man dieses Französisch nachahmt. Dagegen werden in ländlichen und weiter von Paris entfernteren Gebieten, von der Normandie über die Pikardie bis Wallonien in Belgien, bis zu den südostfranzösischen („frankopro-
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venzalischen“) Gebieten Frankreichs, der Schweiz und des Aostatals sowie nördlich von Bordeaux und dem Massif Central von traditionellen Berufsgruppen wie Bauern, Fischern, Winzern oder Forstarbeitern marginal oder residual noch Dialekte gesprochen. Sie sind in Frankreich dialektale Kontaktvarietäten, da alle Sprecher spätestens in der Schule die Standardsprache gelernt haben. Die im Süden Frankreichs gesprochenen Mundarten gehören meist zum Okzitanischen und werden hier nicht weiter berücksichtigt, weil sie zu einer anderen historischen Sprache gehören. In der Schweiz ist die Betonung der mit Frankreich gemeinsamen Standardsprache stärker als die dialektale Differenz, die eine helvetische Identität zu stiften vermag. Anders Belgien, wo die noch lebendigen Dialekte, das Wallonische und in einem ganz kleinen Gebiet im Süden des Landes das Pikardische, in der Gestalt von relativ wenig standardsprachlich beeinflussten Kontaktvarietäten sich sowohl vom ebenfalls dialektal differenzierten Flämisch wie vom belgischen Standardfranzösisch absetzen. Ausgeprägte Dialekte existieren im französischsprachigen Kanada. Von ihrer Entstehung her sind es Kolonialdialekte. Die weltweit verbreiteten französischen Kreolsprachen sind, wenn auch keine Dialekte, so doch syntopische Einheiten, die dort, wo sie gesprochen werden, der französischen oder einer anderen Standardsprache untergeordnet sind. Die diatopischen Unterschiede der französischen Standardsprache sind heute weit wichtiger als die dialektalen. Die räumlich differenzierte Umgangssprache nennt man Regionalfranzösisch (français régional oder, da diese Umgangssprache je nach Region sehr verschieden ist, français régionaux). Es ist je nach Gebiet verschieden stark ausgeprägt, schwach im ursprünglichen französischen Sprachgebiet (abgesehen von Belgien), stärker dagegen in den Regionen, in denen das Französische Frankreichs in Kontakt mit Regionalsprachen (frz. langues régionales), d. h. dem Okzitanischen, dem Korsischen, dem Katalanischen, dem Baskischen, dem Bretonischen, dem Flämischen und dem Deutschen gekommen ist. In Frankreich haben die verschiedenen Typen des Regionalfranzösischen im Wesentlichen bereits die Dialekte abgelöst. Es liegt in der Natur der Sache, dass nur solche Elemente als regionalfranzösisch wahrgenommen werden, die von der Standardsprache abweichen. Dies sind lautliche Merkmale, wie sie sich besonders im Französisch der Okzitanen zeigen, in der Hauptsache sind das aber Wörter (Regionalismen). Dabei ist nicht relevant, ob die Sprecher selbst ein Bewusstsein vom regionalen Charakter ihrer Sprache haben. Es reicht schon, dass Sprecher anderer Regionen und vor allem des neutralen Französisch die Regionalismen erkennen. Vielfach kennen aber die Sprecher selbst ihre regionalen Unterschiede, da sie zu ihrer regionalen Identität gehören. Deren Wahrnehmung durch die Sprecher beruht auf einem Vergleich der in der Schule gelehrten Standardsprache mit der regional gesprochenen Umgangssprache. Die regionalsprachlichen Unterschiede sind im Zusammenhang mit regionalen kulturellen Unterschieden zu betrachten. Vieles vom regionalsprachlichen Alltagswissen wird nur über einen regionalen Wortschatz tradiert. Auch weil dieses regionale Wissen nicht bei allen Sprechern gleich verbreitet ist (man denke nur an die landwirtschaftliche Produktion,
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2 Die Einzelsprache
die Forstwirtschaft und dergleichen), ist das Regionalfranzösische in der jeweiligen Region keineswegs homogen. Das Französische außerhalb Frankreichs ist, von Frankreich und der Frankophonie her gesehen, im Grunde immer Regionalfranzösisch, wird aber nicht so genannt. In den anderen französischsprachigen Staaten kommt zur Umgangssprache ferner ein durch die Eigenstaatlichkeit bedingter spezifischer Wortschatz hinzu. Im Französischen ist die Darstellung der Sprache im Raum besonders sorgfältig von den sozialen Unterschieden zu trennen oder, je nach Fall, mit ihnen zu verbinden. Die Sprecher des franc-comtois sind zumeist Bauern oder Winzer und damit auch, abgesehen von ihrer räumlichen Zuordnung zur Franche-Comté, sozial einzuordnen. Ohne Frage sind die räumlichen Unterschiede primär. Die Dialekte selbst sind in Frankreich, weniger in anderen französischsprachigen Ländern, Ausdruck eines untergeordneten sozialen Status. Daher werden die Dialekte neben dem neutraleren parler (‚Mundart‘) mit patois bezeichnet. Dies ist keine vorrangig regional, sondern eine sozial motivierte Benennung. Patois steht im Gegensatz zur französischen Standardsprache. In der Selbst- oder Fremdeinschätzung der Sprecher kann man dann hören: “Ce n’est pas français” – ‚Das ist kein Französisch‘ – oder “du français écorché”, “du français déformé” und ähnliche Ausdrücke, mit denen das jeweilige Französisch als entstellt und schlecht beschrieben wird. Diese negative Bedingung ist gleichermaßen erfüllt, wenn andere historische Sprachen wie das Okzitanische, das Bretonische oder das Deutsche in Gestalt ihrer Dialekte dem Französischen untergeordnet sind. Die ausgeprägteren Formen des Regionalfranzösischen werden zugleich sozial abgewertet und damit synstratisch eingeordnet. Es gibt wohl keine bessere Veranschaulichung des Begriffs der historischen Sprache als die Zuordnung des Elsässischen und des Moselfränkischen in Ostlothringen. Das Elsässische wird von einem Deutschen als deutscher Dialekt angesehen, ohne dass damit eine politische Parteinahme zu verbinden ist. Mit „deutscher Dialekt“ ist gemeint, dass das Elsässische eine Außenmundart des Deutschen ist, dass er also nicht, oder wenn, dann nur kulturell, von der deutschen Standardsprache überdacht wird; denn er wird politisch von einer anderen historischen Sprache, dem Französischen, überdacht. Ein Ausdruck wie dialecte allemand wird aber von Franzosen abgelehnt. Wird dialecte noch akzeptiert, weil das Elsässische auch geschrieben wird, so ist allemand in dieser Verbindung zu eindeutig politisch. Der Ersatzausdruck ist dialecte germanique. Es ist ein Ersatzausdruck für allemand und für ein sprachpolitisch tabuisiertes Problem, weil das Elsässische begrifflich auf dieselbe Ebene gestellt wird wie die Dialekte aller germanischer Sprachen und dabei ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen historischen Sprachen ignoriert wird. Eine analoge Argumentation lässt sich auf das Moselfränkische anwenden: Der rheinische Fächer der deutschen Dialekte setzt sich in Ostlothringen fort und die Sprecher beiderseits der Grenze wissen, dass sie denselben Dialekt sprechen. Dennoch betrachten die französischen Sprecher ihn als patois.
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Diese Einstellung zum eigenen Dialekt wirkt sich negativ aus, wenn in der Schule die deutsche Standardsprache gelernt wird. In einem deutschen Kontext würde man sagen, ein Dialektsprecher könne schon Deutsch, er müsse eben nur die Unterschiede zur Standardsprache lernen. Im französischen Kontext geht man aber vom Französischen aus, um zur deutschen Hochsprache zu gelangen. Um sich die Erlernung zu erleichtern, müssten Dialektsprecher des Deutschen in Frankreich zuerst ihren Dialekt der historischen Sprache Deutsch zuzuordnen lernen, um keinen Umweg über das Französische zu machen. An solchen Konfliktfällen lässt sich zeigen, dass die Zuordnung einer Varietät zu einer historischen Sprache oder das Unterlassen einer Zuordnung etwas sehr Reales ist, das auch ganz praktische Konsequenzen hat. Das français populaire ist das eindeutigste Beispiel für ein Sprachniveau in der Romania. Im Gegensatz zum Patois ist es in ganz Frankreich verbreitet, jedoch lassen sich räumliche Unterschiede darin feststellen. Das français populaire wird heute nur aufgrund seiner Herkunft mit diesem Terminus benannt. Was synstratisch betrachtet einmal volkstümlich war, wird heute diaphasisch eingesetzt. Es ist angemessen, die Variationsunterschiede im Französischen eher diaphasisch zu beschreiben. Beschreibt man zuerst die Sprachstile, ist es einfacher, im Anschluss daran ihre Ausnutzung bei verschiedenen Sprechergruppen anzugehen. Symphasisch betrachtet, werden wir in Frankreich schwerlich Sprechergruppen finden, deren Sprachstil mit einer bestimmten sozialen Schicht korreliert. Als Sprachstile kommen die folgenden in Betracht (Müller 1975: 184):
français cultivé norme français courant français familier français populaire français vulgaire
Die Grenzen zwischen diesen Sprachstilen sind nicht scharf. Das liegt daran, dass die Abstufungen zwischen einem geschriebenen und einem gesprochenen, einem öffentlichen und einem privaten sowie einem formellen und einem informellen Sprachgebrauch in höchst unterschiedlicher Weise wahrgenommen und bewertet werden. Nehmen wir dazu einige Beispiele. Die Verwendung des passé simple wird in einem öffentlichen, schriftsprachlich geprägten Vortrag erwartet, in einem persönlichen Gespräch unter Freunden und Bekannten aber als deplatziert empfunden. Umgekehrt kann der Gebrauch eines Elements aus einem symphasisch niedrig markierten Sprachstil in einer formellen Situation schockieren oder gar Entrüstung hervorrufen, z. B. gosse ‚Göre‘ für enfant ‚Kind‘. Die größten Unterschiede in der Zuordnung der Sprachstile ergeben sich zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch. Im Allgemeinen darf man behaupten, dass die genannten Sprachstile im schriftlichen Gebrauch um eine Stufe niedriger markiert bewertet werden. Was mündlich dem français familier angehört, wird schriftlich als populaire bewertet. Dies mag etwa der Fall
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2 Die Einzelsprache
sein bei t’es fou ‚du spinnst‘, t’as raison ‚du hast recht‘ statt tu es fou und tu as raison. Dabei hilft es auch nicht, dass man zitiert oder zu zitieren vorgibt. Die allgemeine Einstellung der Franzosen zu formellen Sprachverwendungssituation gegenüber möglicher Variation ist: “On reste formel” (,Wir bleiben beim formellen Sprachgebrauch‘). Wie die Bemerkungen zeigen, ist das français familier nicht einheitlich. In der Praxis erkennt man dies daran, dass die Markierung eines sprachlichen Phänomens für die Sprecher zwischen courant, familier und populaire schwanken kann. Deshalb sollte man vielleicht nicht fragen, welche Elemente zum français familier gehören, oder an eine Darstellung des français familier nicht zu hohe Erwartungen knüpfen, sondern sich beim praktischen Umgehen mit den französischen Sprachstilen fragen, wie man in bestimmten Redesituationen die größere oder geringere Distanz zum Gesprächspartner aufheben will. Da zwischen den Gesprächspartnern immer eine unterschiedliche Vertrautheit besteht und sie recht verschieden mit sozialer Nähe und Distanz umgehen, wählt man sehr unterschiedliche sprachliche Mittel. Am meisten werden die Unterschiede von der sozialen Selbsteinschätzung abhängen. Das français familier einfach als substandardsprachliches Register zu sehen, greift auf jeden Fall zu kurz. Die Norm des Französischen ist am schriftsprachlichen Gebrauch orientiert und dieser schriftliche Gebrauch wird durch eine lange Tradition präskriptiv gesteuert. Sie liegt in der traditionellen Literatur vor, in der schriftlichen Sprachproduktion der Schule als Leitziel, in den Medien, in der Fachliteratur. Aber nicht alles, was in den genannten Bereichen sprachlich produziert wird, ist Norm. Gerade in der neueren Literatur wird bisweilen eine Sprache verwendet, die nicht der Norm angehört. Damit soll betont werden, dass die Sprachnorm in unterschiedlichen Graden erreicht oder angestrebt wird und dass sie eine gewisse Flexibilität beinhaltet. Der Norm entspricht als gesprochene Sprache das français courant in Alltagssituationen. Das français cultivé ist demgegenüber eine der gängigen präskriptiven Norm, wie sie in Grammatiken und Wörterbüchern kodifiziert worden ist, übergeordnete Norm, eine überhöhte Norm. Zu ihr gehören die phonologischen Distinktionen, die wir bei der Behandlung der französischen Phoneme maximalistisch angenommen haben: /a/ vs. /ɑ/, /ɛ˜/ vs. /œ˜/, /ɛ/ vs. /ɛ:/ (wie in mettre ‚setzen‘ vs. maître ‚Meister‘). Es werden alle Laisons gemacht, die möglich sind, so etwa auch nach mais ‚aber‘ und anderen Konjunktionen, wenn das folgende Wort mit Vokal beginnt, bei auslautendem , , in Fällen wie long hiver ‚langer Winter‘, trop aimable ‚zu liebenswürdig‘. Das français populaire lässt sich eher negativ im Verhältnis zur Sprachnorm als positiv darstellen. Das entspricht auch der Sicht der Puristen und der Sprecher. Man verwendet das e muet oder e instable seltener als in der Norm, Liaisons werden nur noch zwischen Morphem und Lexem realisiert wie in ils ont [izõ] ‚sie haben‘, in der Grammatik die Eliminierung des Personalpronomens wie in “Y a un Arabe qui y [ki] dort” – ‚Ein Araber haust da drin‘ (wie ein Franzose mir vom Bewohner eines Hauses am Rande eines von Hochwasser weggerissenen Hangs erzählte), zusammengesetzte Tempora mit être und avoir, aber in anderer Weise als in der Norm. Beim Partizip
2.4 Sprachvariation und Varietäten
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gibt es keine Übereinstimmung in Genus und Numerus mit dem Subjekt bzw. Objekt: “Elle s’est plaint” statt “plainte” – ‚Sie hat sich beklagt‘, “la lettre que j’ai écrit” statt “écrite” – ‚der Brief, den ich geschrieben habe‘. Der Konjunktiv wird überhaupt seltener gebraucht und der Konjunktiv Imperfekt ganz aufgegeben. Große Unterschiede gibt es auch im Wortschatz. Während in der Sprachnorm parler ‚sprechen‘ in Opposition zu causer ‚plaudern‘ steht, bedeutet causer im français populaire einfach ‚sprechen‘. Für ami ‚Freund, Schulfreund‘ und camarade ‚Kamerad, Mitschüler‘ im französischen Standard hat man copain ‚Kamerad, Freund, Kumpel‘. Sehr gelungen ist die literarische Nachahmung des français populaire im Roman Zazie dans le métro (1959) von Raymond Queneau.
Bibliographischer Kommentar
Für wirklich groß angelegte Darstellungen der französischen Dialekte fehlt nun schon die Grundlage in der sprachlichen Wirklichkeit. Daher gibt es nur einige ältere und eher summarische Werke wie Brun 1946, Guiraud 1968, Chaurand 1972. Eine neuere Gesamtdarstellung aller französischen Mundarten in ihrer Verbreitung und heutigen Vitalität im französischen Sprachgebiet ist ein Desideratum. Stellvertretend dafür können die Beiträge von Holtus, Carton, Horiot, Dubuisson/Simoni-Aurembou, Taverdet, Martin, Schmitt, Schmitt/Inhoffen/Würstle, Bollée und Lafage/Burr im LRL V, 1 (1990) gelesen werden. Den konservativsten Stand der Dialekte des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter Einschluss der Dialekte der auf dem Territorium Frankreichs gesprochenen romanischen Sprachen hält der Atlas linguistique de la France (ALF) von Gilliéron und Edmont (1902–1910) fest. Wie die Dialekte wird das jeweilige Regionalfranzösisch im nationalen Kontext gesehen, jedoch fehlt ebenfalls eine Überblicksdarstellung. Wichtige ältere Werke zum Regionalfranzösischen sind Brun 1931 (Marseille), Séguy 1950 (Toulouse), Baetens Beardsmore 1971 (Brüssel). Taverdet/Straka (éds.) 1977 behandeln das Regionalfranzösisch der Winzer in Frankreich. Wolf 1983 gibt eine kritische Darstellung des regionalfranzösischen Wortschatzes im Elsass, Lefèbvre 1991 der Region von Lille, Blampain/Gosse/Klinkenberg/Wilmet (sous la direction de) 1997 das Französische in Belgien. Einen allgemeinen Überblick über die Varietäten des Französischen außerhalb Frankreichs gibt Valdman (sous la direction de) 1979. Den gesamten franzöischen Sprachraum berücksichtigen Detey et al. (éds.) 2010 und Bertucci (éd.) 2016. Für eine Einführung in das français populaire verweise ich auf Gadet 1992.
2.4.2.10 Disziplinen der Variationslinguistik Man kann nicht genug betonen, wie verschieden die Variation hier und die Varietät dort sind. Die Variation ist ein Phänomen des Diskurses und wird deshalb in Informantendiskursen untersucht. Eine Varietät ist eine Einzelsprache, die vorzugsweise als homogene Sprache untersucht wird. Wenn wir mit Diskursbeispielen operieren, müssen wir uns dessen bewusst sein, ob sie für die abstrakte Ebene der Einzelsprache stehen (was eine Hypostasierung einschließt), oder ob sie als Diskursphänomene gemeint sind. Dieser unterschiedliche Bezug auf die Ebenen der Sprache bringt ein ständiges Beschreibungsdilemma mit sich. Anders dagegen, wenn wir Diskursdaten nur als empirische Daten verstehen und Verallgemeinerungen nur auf dieser Ebene auf dem Wege der Interpretation oder durch eine statistische Auswertung vornehmen.
334
2 Die Einzelsprache
Die Disziplinen, die Varietäten zu ihrem Gegenstand haben, sind die üblichen Disziplinen der synchronisch-deskriptiven und der diachronischen Linguistik, denn die Bestimmung als Varietät oder Einzelsprache ist nur ein Unterschied in der sprachwissenschaftlichen Betrachtung. Was eine Einzelsprache für das Sprechen ist, unterscheidet sich in seinen Merkmalen in nichts von einer Varietät, außer dass eine Varietät im Zusammenhang mit der Architektur einer historischen Sprache gesehen wird. Mit Variation und Varietäten beschäftigen sich insbesondere die Dialektologie, die Soziolinguistik und die Stilistik. In diese Unterdisziplinen konnte man noch relativ problemlos in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Variationslinguistik einteilen (cf. Coseriu 1981: 17). Wissenschaftsgeschichtlich stand die Dialektologie, gefolgt von der Sprachgeographie, immer noch am Anfang. Die räumlichen Unterschiede wurden im Allgemeinen erst von der Zeit an wahrgenommen, als die Standardsprache sich ausgebreitet hatte und infolge der Kontaktsituation von da an mit den Dialekten verglichen wurde. Erste Formen der Beschäftigung mit Dialekten sind die Wortsammlungen in Dialektwörterbüchern. Diese Kodifizierung ist am Anfang aber nicht Selbstzweck, sondern dient der Erleichterung der Erlernung der Standardsprache. So hatten bereits die okzitanischen Wörterbücher des 18. Jahrhunderts die Aufgabe, zur Erlernung des Französischen hinzuführen. Am Ende des 19. Jahrhunderts entsprach in Frankreich das Interesse an den Dialekten oft eher einer nostalgischen Einstellung, denn man wollte sie vor ihrem Untergang wenigstens in dialektologischen Schriften bewahren. Dem Interesse an der Bewahrung, zugleich aber auch an der geschichtlichen Erforschung der Dialekte entsprach der ALF von Gilliéron und Edmont. Am bemerkenswertesten ist die Phase des sprachdidaktischen Interesses an den Dialekten durch die italienischen Dialektwörterbücher des 18. und besonders des 19. Jahrhunderts vertreten. Die Soziolinguistik verdankt ihren Aufstieg, extern und wissenschaftssoziologisch, nicht nur einer Kritik an strukturalistischer und transformationell-generativer Sprachwissenschaft. In ihr lag auch die Möglichkeit, ungeliebten Entwicklungen der Linguistik den Rücken zu kehren und sich ganz anderen, neuen Themen zuzuwenden, denn die Soziolinguistik kann ohne den Rückgriff auf ein bestimmtes Grammatikmodell betrieben werden. Daher rührt auch ein Desinteresse an deskriptiver Adäquatheit. Der Anspruch der Soziolinguistik beschränkt sich nicht mehr auf die Untersuchung der diastratischen Unterschiede bzw. synstratischen Gemeinsamkeiten, wie man wissenschaftsgeschichtlich anachronistisch aus heutiger Sicht sagen könnte. Seitdem William Labov (1970) keinen Gegensatz oder Unterschied zwischen Linguistik und Soziolinguistik gesehen hat, die Soziolinguistik vielmehr einfach die Sprache (oder besser: das Sprechen) in ihrem sozialen Kontext untersucht (“the study of language in its social context”), sind die Grenzziehungen dieser Disziplin immer ungewisser geworden. Wenn, wie heute vielfach angenommen wird, der Untersuchungsrahmen nicht die soziale Schicht, sondern die Sprachgemeinschaft ist, dann ist Soziolinguistik allumfassend.
2.4 Sprachvariation und Varietäten
335
Wenn dann die Soziolinguistik definiert werden soll, stellt man fest, dass dies ein schwieriges Unterfangen ist und dass die Definition von Soziolinguist zu Soziolinguist verschieden ausfällt. Der gemeinsame Nenner bleibt die Bestimmung von Labov. Sie enthält aber auch solche Parameter wie Geschlecht und Altersgruppen, die nur insofern „sozial“ sind, als sie in der Gesellschaft vorkommen. Dann gibt es aber nur noch „Soziales“ und man darf sich fragen, was denn daran spezifisch für die Sprache ist. Entsprechend würde dann „historische Soziolinguistik“ die geschichtliche Erklärung der heutigen Konstellation der Varietäten beinhalten. Dann wäre im Wesentlichen die aktuelle Spracharchitektur der Gegenstand der synchronischen Soziolinguistik heute und das Zustandekommen der Architektur einer historischen Sprache der Gegenstand der historischen, d. h. diachronischen Soziolinguistik. Da nun die Spracharchitektur nicht als Gesamtrahmen der Untersuchung gesehen wird, wie auch die historische Sprache im Allgemeinen nicht als eigentlicher Gegenstand der einzelsprachlichen Linguistik erkannt oder anerkannt worden ist, braucht es nicht zu wundern, wenn weder die synchronische noch die diachronische Soziolinguistik in ihrer ganzen Breite etabliert worden sind. Es wäre eine eigene Aufgabe, aus dieser Perspektive darzustellen, wie sich die Soziolinguistik geschichtlich konstituiert hat. Der Stilistik bleibt weiterhin die Untersuchung der diaphasischen Variation und der Sprachstile. Eine Klärung ihres Gegenstandsbereichs könnte maßgeblich zur Eta blierung der Disziplinen beitragen, die sich mit Variation und Varietäten beschäftigen.
3 Der Diskurs „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen“ (Humboldt 1963d: 418). Sokrates: „Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: Denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als verstünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen. Phaidros: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen.“ (Phaidros 274 c-e = Platon 1990: 179, 181).
3.0 Allgemeines Das zweite Kapitel war der Einzelsprache gewidmet, bei der wir zum einen eine gewisse Einheitlichkeit unterstellt haben, aber nur deshalb, weil die Sprecher selbst dies tun und weil wir daraus zum anderen ein Beschreibungsverfahren ableiten können, das darin besteht, eine Varietät als Einzelsprache zuerst einheitlich und systematisch darzustellen. Wir haben danach die Perspektive gewechselt, um die Einzelsprache als historische Sprache mit der Architektur und Dynamik ihrer Varietäten und ihrer Variation zu betrachten. Die Sprache existiert wirklich nur im Einzelnen als Wissen und im Diskurs des Einzelnen, im „jedesmaligen Sprechen“, wie Humboldt sagt. Daher muss sich letztlich auch im Diskurs des Einzelnen zeigen lassen, was daran universell ist, was einzelsprachlich und was nur seinem jeweiligen Diskurs eigen ist. Im Diskurs ist die Sprache als Sprachvermögen (langage) universell gegeben, das Sprachvermögen kann nur mit Hilfe einer Einzelsprache und mit ihrer Kenntnis (langue) im Diskurs verwirklicht werden und dieser ist ein individueller Akt des Sprechens und Schreibens. Diese Klärungen sind so grundlegend und notwendig, dass man sie sich stets gegenwärtig halten muss. Alles, was bisher zur Einzelsprache gesagt worden ist, muss zugleich auch auf den Diskurs zutreffen und muss ihn erklären. Wenn wir als Gegenstand der Sprachwissenschaft von Vornherein die Sprache https://doi.org/10.1515/9783110476651-003
3.0 Allgemeines
337
in allen ihren Manifestationen anerkennen, brauchen wir keine eigene “linguistique de la parole”, wie Saussure (1916: 36–39) sie vorsieht und viele nach ihm fordern. Wir brauchen Saussure auch darin nicht zu folgen, dass die “linguistique de la parole” der “linguistique de la langue” unterzuordnen sei. In der Tat ist es immer noch nicht selbstverständlich, die Rede, den Diskurs oder, wie immer man diesen Bereich der Sprache nennen mag, in der Sprachwissenschaft eingeschlossen sein zu lassen. Eine Erweiterung der Sprachwissenschaft ist nur dann nötig, wenn man annimmt, dass die Einzelsprache der einzige oder eigentliche Gegenstand der Sprachwissenschaft ist, wie es nach Saussure in einem großen Teil der Sprachwissenschaft üblich geworden ist. Es darf aber nicht verkannt werden, dass der Diskurs, wie er hier verstanden wird, relativ spät als Thema in eine Disziplin Eingang fand, die sich im Wesentlichen als Textlinguistik begreift. Sie nahm im deutschen und im französischen Sprachraum ihren Ausgang in den 1960er Jahren, schließt an Disziplinen wie Rhetorik, Stilistik, Gattungstheorie aus der Vergangenheit an und tritt zugleich in einen Dialog mit anderen Richtungen wie der amerikanischen und europäischen Diskursanalyse, die man sich nicht als ein einheitliches, sondern sehr vielfältiges Forschungsgebiet vorstellen muss, und nicht zuletzt mit der Literaturwissenschaft. Fruchtbar ist ferner die Integration der linguistischen Pragmatik, die den Zusammenhang von Sprechen und Handeln zum Gegenstand hat und sich auf Morris (1938) beruft. Diese sowie weitere Disziplinen und Forschungsrichtungen partialisieren den Diskurs und den Text in je anderer Weise. Denn mehr noch als bei den allgemein-sprachlichen und den einzelsprachlichen Themen ist es beim Diskurs wichtig, die Sprache selbst und nicht die sich mit ihr beschäftigenden Disziplinen in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Die Disziplinen, die den Diskurs zum Gegenstand haben, sind ganz besonders unübersichtlich abgegrenzt. Textlinguistik, Textwissenschaft und Kommunikationswissenschaft, Konversations- und Diskursanalyse, linguistische Pragmatik, Ethno- und Soziolinguistik, von älteren Disziplinen wie Rhetorik und Stilistik ganz zu schweigen, teilen sich den Diskurs mit unterschiedlichen Überschneidungen und Grenzüberschreitungen auf. Da diese Teildisziplinen in der Bearbeitung ihrer Forschungsthemen selbst wieder geschichtlich gewachsen sind, sollte man sich keine Hoffnung machen, ihrer Gesamtheit eine Kohärenz oder Systematik abzugewinnen. Ich halte es für richtiger, in einer ersten Orientierung von den Phänomenen selbst auszugehen. In diesem dritten Teil werden wie in den beiden anderen daher nicht die Disziplinen im Mittelpunkt stehen, sondern die Themen und Inhalte des Diskurses. Mir ist es wichtig festzustellen, dass die Beschäftigung mit Diskurs und Text weder in allen Ländern noch in jeder einzelsprachlichen Linguistik zum festen Kanon des Fachs gehören. Wenn ich nun gerade bei der Untersuchung des Diskurses von einer sprecherbezogenen zu einer hörer- und einer leserbezogenen Perspektive wechsle, erfordert diese grundsätzliche Umorientierung eine Begründung, denn in der Sprachwissenschaft dominiert, wenigstens in den deklarierten Absichten, auch meinen, die Rolle
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3 Der Diskurs
des Sprechers gegenüber dem Hörer. Zwar ist im Diskurs die Realisierung des Sprechens im Allgemeinen und die Realisierung der Einzelsprache durch einen Sprecher oder Schreiber zu sehen, doch ist auf diese Weise die spezifische Semantik der Diskurse und Texte, d. h. ihr Sinn nicht zu erfassen. Der Sinn, den ein Sprecher mit seinen Worten verbindet, ist für ihn klar, aber nicht unbedingt für den Hörer, der vielleicht nicht versteht, was ein Sprecher meint. Das gilt in noch höherem Maße für den Schreiber, dessen Text für eine Vielzahl von Lesern gedacht ist. Der Grund nun liegt in der besonderen Alterität des Textes (cf. 1.2.2.0) und seines Sinns. Ein Ich tritt als Leser einem Text in seiner Andersheit gegenüber. In der Selbstvermittlung zwischen eigener Erfahrung und der Erfahrung beim Umgang mit dem Text muss der Text verstanden und gedeutet werden. Das Ich des Lesers und die Alterität des Textes treten in ein dialektisches Spannungsverhältnis, das eine hermeneutische Erfahrung ist. Es ist diese hermeneutische Erfahrung, die der Textlinguistik die Umkehrung der Perspektive vom Sprecher und Schreiber nicht unmittelbar auf den Hörer und Leser, sondern auf den Text beschert hat und erst mittelbar auf das Ich des Hörers und Lesers. Auf diese Weise kommt die Umkehrung zustande: Durch die Ausblendung des Subjekts. Aber dieses zunächst ausgeblendete Subjekt ist eines, das Textproduzent ist oder sein kann. Der Hörer und Leser ist gleichfalls ein Subjekt, ein verstehendes, ein hermeneutisches Subjekt. Durch diese beiden Gegebenheiten ist eine wissenschaftliche Betrachtung des Textes hinreichend legitimiert, die die Perspektive des Textrezipienten einnimmt. Schließlich lesen wir ohne jeden Vergleich mehr Texte, als wir produzieren. Auch diese Praxis macht die Umkehrung der Perspektive vom Schreiber zum Leser in der Betrachtung des Diskurses adäquat. Die Texte enthalten, wie Platon Sokrates sagen lässt, ‚ein und dasselbe stets‘, wenn man sie befragt. Befragt man sie aber mehrmals, so wandelt sich der Fragende und nimmt den Text immer wieder etwas anders wahr. Diese Erfahrung hat ihre Entsprechung auf der Seite des Textproduzenten, wenn er immer wieder neu ansetzend über dasselbe Thema nachdenkend schreibt. Der Unterschied ist aber offensichtlich: Es entsteht ein veränderter oder ein neuer Text, während der immer wieder neu interpretierte Text sich materiell nicht verändert. Das Grundproblem der Wahrnehmung der semantischen Funktion des Diskurses liegt in der Fragmentierung der Begrifflichkeit, wie sie sich in der Forschung findet. Das beginnt schon bei seiner Zuordnung zur linguistischen Pragmatik oder auch bei einer Einordung in die Kommunikation im Allgemeinen und die kommunikative Funktion im Besonderen. Dabei stelle ich diese Einordnungen nicht einmal an sich in Frage, sondern stelle nur fest, dass ich die Erkenntnis vermisse, dass dies alles Semantik ist. Zur Verdunkelung dieser Zusammenhänge trägt ein linguistischer Fachwortschatz bei, der sich von der Alltagssprache entfernt und zwar auch dann, wenn die Alltagssprache einen treffenden Begriff wie Sinn hat, dieser übereinzelsprachlich und außerdem noch in einer Disziplin wie der philosopischen Hermeneutik, die es neben anderem mit Texten zu tun hat, gut etabliert ist. So wird Sinn aufgrund des
3.0 Allgemeines
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Sprachgebrauchs als Sprecher- und Hörerkategorie eingeführt und zu einem Terminus gemacht. Es werden alternative Termini besprochen, die aber den Nachteil haben, dass sie nicht im Sprachgebrauch der Sprecher verankert sind. Beispiele sind „kommunikative Funktion“, „Textfunktion“, „illokutionäre Kraft“, die auch ich aufgreifen werde, jedoch im Bewusstsein, dass sie die Wahrnehmung des unmittelbaren Sprechens und Schreibens, um die es beim Diskurs in allererster Linie geht, eben leider etwas verdunkelt. Bei der Schriftlichkeit ist die Produktion eines Textes von seinem Vortrag und von seiner Rezeption zu unterscheiden. Der schriftliche Diskurs ist der Akt des Schreibens eines Textes. Er ist nicht spontan, denn im Gegensatz zum Sprechen sind dafür einige Voraussetzungen zu schaffen. Wir brauchen dafür mindestens ein Schreibgerät (vom Bleistift bis zum PC) und einen Datenträger (Papier, Textverarbeitungsprogramm). Wenn unser Schreibdiskurs intermittent ist, weil wir mit seinen Zwischenresultaten nicht zufrieden sind, können wir seine Spuren löschen, spätestens bei der Abschrift. Übrig bleibt als fertiges Produkt der Text. Der Vortrag ist eine der Produktion nachgeordnete Stufe: Die vorher geschriebene Predigt wird vor der Gemeinde gehalten; die für den mündlichen Vortrag konzipierte Rede wird durch das gesprochene Wort vor einem Publikum öffentlich gemacht; das Werk eines Schriftstellers wird durch eine Lesung lebendig. Die Rezeption kann verschiedene Wege nehmen. Eine für den Vortrag bestimmte Rede kann entweder tatsächlich gehört oder lesend rezipiert, kommentiert und interpretiert werden, sie kann paraphrasiert und parodiert werden, sowie vieles andere mehr. Zusätzlich zu den drei allgemeinen Ebenen der Sprache (cf. 1.) können wir Sprache als Tätigkeit, als Wissen und als Produkt betrachten. Sprache sei kein Werk, sondern eine Tätigkeit, hatte Humboldt gemeint (cf. 1.2.1). Diese Tätigkeit des je Einzelnen hat als Ergebnis den jeweiligen Text. Es wird allerdings mehr von Texten die Rede sein als von Diskursen. Das liegt einfach daran, dass wir leichter die Sprech- und Schreibtätigkeit in ihren Ergebnissen analysieren können als die Sprache „als etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes“, ob wir wollen oder nicht. Die Voraussetzung dafür, dass wir im Diskurs Texte produzieren können, ist die Tatsache, dass wir über ein Wissen verfügen, wie denn Texte zu produzieren seien. Dieses Wissen als Wissen davon, wie man einer Sache im Diskurs Ausdruck verleiht, kann man „expressives Wissen“ (Coseriu 21992) nennen. Das expressive Wissen ist verschieden, je nachdem ob wir sprechen oder schreiben (1.1.2; Coseriu 21992: 181–185; 21992: 181–185; Brown/Yule 1983: 1–26). Zu den allgemeinen Bestimmungen, die mit jedem Diskurs gegeben sind, gehören die Tatsache, dass er als Tätigkeit oder als Produkt betrachtet werden kann (3.1), dass er sich als gesprochene und geschriebene Sprache manifestiert (3.2), und dass er Diskurstraditionen folgt (3.3). Diese greifen auf Umfelder zurück (3.4), die elementar durch die Deixis (3.5) gestaltet sind. Diskurse und Texte greifen ineinander, hier vertreten durch Polyphonie, Redewiedergabe und Intertextualität (3.6), gefolgt vom
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3 Der Diskurs
Thema (3.7). Die Diskurstraditionen treten als Textkonstitution (3.8) auf, bei der nach nicht-einzelsprachlicher und einzelsprachlicher Textkonstitution zu unterscheiden sein wird. Es folgen die Sprechakte (3.9), die verschiedenen Textsorten, Texttypen, Text- und Diskursgattungen (3.10). Letztlich aber führt alles hin zum Diskurs und Text, dessen Sinn betrachtet wird. Den Sinn (3.11) konstituieren alle Elemente, die in den vorausgehenden Abschnitten behandelt werden. Zum Sinn trägt alles bei, was analytisch aus der Sicht des Sprechens im Allgemeinen, der Einzelsprache und des Diskurses betrachtet worden ist. Zu diesen semiotischen Beziehungen gehören die Bezeichnungsrelationen mit dem dazu gehörigen Wissen, besonders dem Sachwissen, und die Bedeutungsrelationen mit ihren Zeichen, die insgesamt signifiants für den Sinn sind. Ich werde auf die Suche nach Gemeinsamkeiten in den Forschungsrichtungen gehen, die sich, unabhängig von den Terminologien, mit Diskurs und Text beschäftigen, um mich der Bedeutung zu nähern, die beim Sprechen und Schreiben in Erscheinung tritt.
Bibliographischer Kommentar
Für ein umfassendes Verständnis der Zusammenhänge, in denen der Diskurs und der Text stehen, empfiehlt es sich, mit Werken zu beginnen, die sich dem Thema in einer globalen Diskussion nähern. In diesem Sinne ist die Textlinguistik von Coseriu (42007, 2007a) relevant, die allerdings gerade deshalb von vielen Linguisten beiseitegelassen wird, weil sie zwar eine grundsätzliche Erörterung enthält, sich aber nicht auf die Standardthemen einlässt; eine Operationalisierung bzw. Umsetzung in Forschung muss man selbst leisten. Nahe an der Forschung ist dagegen die Einführung in die Textlinguistik von de Beaugrande/Dressler (1981). Die Werke der Folgezeit versuchen sich umfassend zu informieren, doch bleiben sie vorzugsweise in den Traditionen der Einzelsprachen, obwohl die Themen des Diskurses im Wesentlichen übereinzelsprachlich sind. Beispiele für den deutschen Sprachraum sind Heinemann/ Viehweger 1991, Heinemann/Heinemann 2002, Adamzik 22016, für den französischen Sprachraum Roulet/Auchlin/Moeschler/Rubattel/Schelling 31991 und Roulet/Filliettaz/Grobet 2001, für den italienischen Conte 1988 und im Anschluss an frühere Darstellungen des französischsprachigen Modells der Genfer Schule Fuentes Rodríguez 2000 am Beispiel des Spanischen. Zur italienischen Textlin guistik Andorno 2003, Palermo 2013 und Ferrari 2014, zur katalanischen Payrató 2003, zur (wenig entwickelten) portugiesischen Endruschat/Schmidt-Radefeldt 32014 (in den Kapiteln „Pragmalinguistik“ sowie „Dialoganalyse und Textlinguistik“), zur spanischen Bustos Gisbert 1996. Diese bibliographischen Angaben ließen sich leicht um die zahlreichen Übersetzungen der hier angeführten Originaltexte vermehren. Diese ergänzen vor allem die Textlinguistik von Sprachen wie Katalanisch, Portugiesisch und Rumänisch, in denen sie weniger entwickelt ist. Die Gemeinsamkeiten von Diskurs und Text sollten die Übertragung der Ergebnisse der Forschung auf andere Sprachen erleichtern. Die Textlinguistik steht in einem engen Zusammenhang mit der Pragmatik. Die Themen, die in den Einführungen behandelt werden, überschneiden sich. Es ist hinzuweisen auf die Werke in französischer Sprache von Luscher 2002, Garric/Calas 2007 und Costǎchescu 2014, in italienischer Sprache von Bertuccelli Papi 22000, Bianchi 32005, Bazzanella 22009 sowie den einführenden Artikel von Held (2010) und in spanischer Sprache auf die Werke von Portolés 2004 und Escandell Vidal 22006. Für eine umfassendere Information wird auf das von Allan/Jaszczolt 2012 herausgegebene Handbuch verwiesen.
3.1 Diskurs und Text
341
3.1 Diskurs und Text In den Erörterungen zur gesprochenen und geschriebenen Sprache haben wir auf begriffliche Unterscheidungen vorausgegriffen, die wir nun nach und nach einzuführen haben. Die erste betrifft Diskurs und Text. Wir wollen sie nicht am Beispiel dieses Wortpaars einführen, sondern mit dem üblichen Ausdruck Rede. Betrachten wir das Wort Rede im Deutschen, um die Unterscheidung zwischen „Tätigkeit“ und „Werk“ in der Sprache zu erläutern. Rede ist doppeldeutig. Damit kann das jeweilige Sprechen als Vorgang gemeint sein, aber auch das Ergebnis, das Produkt dieses Sprechens. Im Ausdruck „eine Rede halten“ ist der zweite Aspekt von Rede gemeint, d. h. nicht das Reden als Vorgang, sondern ein Text als ganzer. Im Ausdruck „jemandem in die Rede fallen“ ist dagegen gewöhnlich nicht die Rede als Text gemeint, sondern die Rede als Vorgang des Sprechens. Da man in der Wissenschaft mit eindeutigen Termini arbeiten muss, verwende ich für Rede als Tätigkeit „Diskurs“ und für Rede als Ergebnis oder Produkt dieser Tätigkeit „Text“. „Diskurs“ soll keine der vielen Festlegungen enthalten, wie sie zum Beispiel in „Diskursanalyse“, einer der vielen Methoden zur Untersuchung von Texten, vorkommt, die bereits mit einem spezifischen Diskursbegriff operiert. Der Terminus „Diskurs“ stammt vom französischen discours und dieses Wort von spätlat. discursus her, das leider in der derselben Weise doppeldeutig ist wie das deutsche Wort Rede. Discurso im Spanischen und discorso im Italienischen sind etwas weniger üblich als discours, aber ebenfalls doppeldeutig. Wir machen, wie in der Linguistik in diesem Fall schon recht eingebürgert, Diskurs also zu einem Terminus mit der Bedeutung „Rede oder Sprechen als Tätigkeit des Einzelnen“. Für die Rede als Ergebnis oder Produkt der Tätigkeit des Sprechens des Einzelnen werden wir Text verwenden. Dieser Terminus soll ebenfalls nur konventionell gemeint sein und bezeichnet nicht nur schriftliche Texte, sondern auch mündliche. Diese Auffassung wird durch das alltägliche Sprachverhalten gestützt. Wie oft erzählt jemand etwas einem anderen, der mitten im Gespräch weggehen will und gesagt bekommt: „Lass mich zuerst meine Geschichte zuende erzählen!“ Der Text ist im konkreten Fall also eine Geschichte, wie in solchen Sprecherkommentaren deutlich werden kann. Texte in diesem Sinne sind nicht an die Schrift gebunden, sie erscheinen auch in Gesellschaften ohne Schriftkultur. Halten wir fest, dass „Diskurs“ und „Text“ Termini für Betrachtungsweisen desselben Gegenstands sind. Als Sprechereignis, das in seinem Verlauf betrachtet wird, ist Sprache Diskurs. Aber ein Sprecher kann sich vornehmen, etwas thematisch relativ Geschlossenes zu äußern und im Hinblick auf dieses sprachliche Planungsziel zu sprechen wie im Fall der soeben erwähnten Geschichte. Ein solcher Diskurs zielt von vornherein auf ein Ergebnis ab. Weil es im Folgenden immer um die Perspektive der Tätigkeit und ihres Produkts geht, müsste man immer von Diskurs und Text sprechen. Aus praktischen Gründen dominiert aber das Produkt, wie der Name Textlinguistik zeigt, denn aus dieser Perspektive lässt sich der Diskurs leichter verstehen.
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3 Der Diskurs
Nachdem wir „Diskurs“ und „Text“ in mündlicher Rede eingeführt haben, ist diese Unterscheidung in der Schriftlichkeit zu erörtern. Beim Schreiben ist die Ausrichtung auf ein Produkt als Regelfall gegeben: Beim Beginn des Schreibvorgangs wissen wir, wie das Ergebnis in allgemeiner Hinsicht beschaffen sein soll. Es scheint aber auch ein „diskursives“ Schreiben zu geben. Das rein diskursive Schreiben ist von den Surrealisten in der écriture automatique angestrebt worden (Scheerer 1974), für die allerdings etliche Vorbereitungen nötig waren, damit der Schreibende gerade nicht seine übliche Textkontrolle ausübt. Ein Einzelner kann am ehesten unkontrolliert schreiben, wenn er isoliert ist. Es ist auch möglich, dass manche derart spontan schreiben, dass sie an ein diskursives Schreiben nahe herankommen oder es unter bestimmten Umständen realisieren. Wenn wir aber sonst schreiben, produzieren wir intentional einen Text, z. B. einen Brief, eine Notiz, einen Bericht, einen Aufsatz, ein Buch usw. Die schlichteste Form der Niederschrift ist die Liste, übrigens der wichtigste Anlass zur Erfindung der Schrift. In der Regel planen wir die Abfassung eines Textes (Ochs 1979). Der Planungsaufwand kann sehr verschieden sein und unterschiedliche Elemente betreffen. Darunter bezieht sich die Planung ganz besonders auf die thematische Gestaltung. Die in der Formulierung und in Korrekturen sich äußernde sprachliche Planung folgt der thematischen Planung. Zu trennen ist beides in der Sache jedoch nicht. Bereits die Äußerungen selbst können in der gesprochenen Sprache einer gewissen grammatischen Kontrolle unterworfen werden. Diese ist auf jeden Fall erforderlich, wenn man Sätze mit zahlreichen Subordinationen äußert. Es herrschen aber in spontan gesprochener Sprache naturgemäß diejenigen Satztypen und Satzbaupläne vor, die als Verbkonstruktionen mit ihren üblichen Aktanten im Sprecherwissen gespeichert sind und deshalb den geringsten Planungsaufwand erfordern. Kontrolle und Planung äußern sich in der geschriebenen Sprache in Korrekturen, deren Spuren man aber durch eine Abschrift oder in der Textverarbeitung restlos beseitigen kann. Die gleiche Betonung des Resultatcharakters des Textes zeigt sich in der Wortwahl, die ja bekanntlich einer gesonderten Kontrolle unterliegt. Allein schon wegen des hohen Planungsgrads beim Abfassen geschriebener Texte ist es höchst problematisch, Texte, und das sind in der Praxis eher geschriebene Texte, als den Regelfall des Vorkommens von Sprache anzunehmen. Bei der Textgestaltung im eigentlichen Sinne kommt aber noch die Orientierung an einem Thema hinzu mit seiner inhaltlichen Disposition und Ausgestaltung. Man empfindet deshalb auch in gesprochener Sprache die Notwendigkeit, „seine Gedanken zu ordnen“, wenn man sich ein gewissermaßen textuell geplantes Sprechen vornimmt, wie es schon in einem Diskussionsbeitrag oder in einer Stegreifrede vorkommt. Diese Planung hebt den Redebeitrag aus dem Diskurs heraus und gibt ihr Textcharakter. Diese Eigenschaft lässt sich innerhalb des Diskurses in Weg- und Personenbeschreibungen erkennen. Aber auch der ungeplanten oder relativ ungeplanten Rede kann man Textcharakter abgewinnen, wenn man von einem Stück Diskurs sagt, es sei ein Gespräch, vor allem dann, wenn dieses Gespräch in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben wird. Ob
3.1 Diskurs und Text
343
ein Stück Diskurs die Funktion eines Textes hat, können die Gesprächspartner aushandeln: Sie können sich zu einem Gespräch treffen, durchaus aber im Nachhinein feststellen, dass dieses Gespräch zu einem Streit ausgeartet ist. Geschriebene Texte sollen sorgfältig formuliert werden. Diese Forderung leitet sich aus der Tatsache ab, dass, wie wir im Motto aus Platon gesehen haben, der Verfasser dem Leser nicht deutend zu Hilfe kommen kann. Während Mängel in der Formulierung im gesprochenen und auch noch im geschriebenen Diskurs leicht behoben werden können, ist dies im geschriebenen Text, wenn sein Verfasser ihn einmal als fertig aus der Hand gibt, nicht mehr möglich. Besonders im Recht, in der Verwaltung, in der Wissenschaft und in den Fachsprachen von Handwerk und Technik müssen Wortwahl und Ausdruck so präzise und klar sein, dass die Interpretation nach Möglichkeit eindeutig ist. So eindeutig wird der Ausdruck allerdings nie sein können, dass er für jeden Leser zu jeder Zeit eindeutig ist. Nicht nur sprechen wir mit der Kenntnis der Umfelder, wir schreiben auch mit ihnen. Ein Autor kann niemals seinen Text für alle Arten von Lesern mit ihren ganz verschiedenen Wissensbeständen schreiben. Aber nicht nur die Art und Weise, wie man seine Gedanken sprachlich ausdrückt, die man in der lateinischen Rhetorik elocutio genannt hat, sind beim schriftlichen Text von besonderer Relevanz. Aus dem geschriebenen Text ergeben sich auch Anforderungen an die soziale Reichweite der Sprache, die in einem Text verwendet wird. Sie muss von möglichst vielen Menschen verstanden werden, und daher haben sich alle Sprachgemeinschaften mit schriftsprachlichen Traditionen eine Standardsprache geschaffen, die ebenfalls in einzelsprachlicher Hinsicht eine allgemeine Verständlichkeit und Akzeptanz gewährleistet. Wenn eine andere Varietät als die Standardsprache verwendet wird, müssen spezifische Gründe dafür vorliegen (cf. 3.3). Was über die Universalien gesagt wurde, trifft im Hinblick auf den Diskurs vollkommen auf literarische Texte zu, in denen sich die diskursiven Erscheinungen in hervorragender Weise manifestieren. Im Diskurs also und, genauer, im Text treffen sich Literatur- und Sprachwissenschaft zur Untersuchung des gleichen wissenschaftlichen Gegenstands aus unterschiedlicher Sicht. Insofern sich aber Sprach- und Literaturwissenschaft beide in der Erweiterung ihrer Domänen voneinander entfernt haben, haben sie sich beide von diesem gemeinsamen Gegenstand entfernt. Diskurs und Text bleiben jedoch unabdingbare Voraussetzung und Grundlage sprach- wie literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Sie sind mit dem Sprechen schlechthin und mit der Einzelsprache einer der drei zentralen Gegenstände der Sprachwissenschaft, auch wenn dies durch die übliche sprachwissenschaftliche Praxis nicht immer sinnfällig wird. Sprach- und Literaturwissenschaft müssen nicht auf Gemeinsamkeiten verzichten. Literatur und Sprache stehen in analogen interdisziplinären Bezügen, die sich allerdings nur erschließen lassen, wenn wir von den respektiven Bezügen der untersuchten Gegenstände ausgehen, nicht von den Teildisziplinen. So gibt es ebenso einen Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft wie zwischen Sprache und Gesellschaft, Literatur sowie Kultur eines Landes, wie Sprache und Kultur, Literatur
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3 Der Diskurs
sowie nationale Identität, wie Sprache und nationale Identität und vieles andere mehr. Es kommt darauf an, diese Gemeinsamkeiten wahrnehmen zu wollen. Allerdings sind die Quellen für die Untersuchung dieser gemeinsamen Bereiche in Literatur- und Sprachwissenschaft, zum Teil wenigstens, jeweils andere. Eine gegenseitige Annäherung der Sprach- und der Literaturwissenschaft ist auch im Begriff des Diskurses enthalten, wie er in der Diskursanalyse angewandt wird. Die Diskursanalyse geht jedoch weit über diesen traditionellen Rahmen hinaus und untersucht jede Art von sich geschichtlich konstituierenden Diskursen. Die französische Diskursanalyse hat ihren Ausgang in der Unterscheidung von Émile Benveniste (1966b) zwischen histoire und discours genommen; in der histoire werden vergangene Ereignisse erzählt, im discours äußert sich ein Sprecher gegenüber einem Hörer, den er beeinflussen will. Wegen der Vielseitigkeit der Begriffe von „Diskurs“ stellt sich die Frage, ob sie nicht doch zu einer einheitlichen Gegenstandsauffassung aus verschiedenen Perspektiven beitragen. Die Diskursanalyse französischer Provenienz beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Diskursen oder Texten im oben eingeführten Sinne. Genauer gesagt werden solche Beziehungen untersucht, ohne dass man die Unterscheidung zwischen Prozess und Ergebnis des Prozesses trifft. Da meist Texte untersucht werden, ist die Beschränkung auf eine resultative Perspektive in der Diskursanalyse klar. So könnte man in dieser Hinsicht sagen, dass die Diskursanalyse sich mit der Herstellung von Relationen zwischen Texten beschäftigt, die jedoch „Diskurse“ genannt werden. Im Übrigen sind Diskurse und Texte auch die Grundlage einer jeden sprachwissenschaftlichen Untersuchung, die sich nicht allein auf die sprachliche Intuition des Linguisten als Sprecher stützt. Die Datenerhebung muss, wenn sie formalen Anforderungen genügen soll, streng kontrolliert vorgenommen werden. Die Erhebung von mündlichen Daten erfolgt unter anderen Bedingungen und mit anderen Zielsetzungen als die Erhebung von schriftlichen Daten. Das Ergebnis ist stets ein Korpus. Bei der Auswertung wird nicht immer deutlich, dass Korpora zunächst Diskurse bzw. Texte sind, also Vorkommen von Rede. Wenn sie für eine einzelsprachliche oder eine soziolinguistische Untersuchung ausgewertet werden, extrapoliert man aus den Diskursund Textvorkommen die zu konstruierende Einzelsprache bzw. die Varietäten, die sich auf der Ebene des einzelsprachlichen Wissens befinden.
3.2 Gesprochene und geschriebene Sprache Wenn ich den Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zum Gegenstand dieses Abschnitts mache, dann deshalb, weil die gesprochene Sprache immer wieder neu zu entdecken ist. Als Linguisten sprechen wir heute über Sprache, als würden wir den Unterschied stets mitbedenken, unsere Ausdrucksweise ist aber oft trügerisch. Wir sind alle, Sprecher und Sprachwissenschaftler, so sehr an den Umgang mit der Schrift gewöhnt, dass sich unsere sprachliche und unsere sprachwis-
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senschaftliche Reflexivität vorzugsweise auf die geschriebene Sprache bezieht. Sogar diejenigen, die die gesprochene Sprache untersuchen, reduzieren sie für gewöhnlich auf eine schriftliche Form, bevor sie eine Analyse unternehmen. Dabei kann die gesprochene Sprache in der üblichen Orthographie oder in einer Lautumschrift mit Angabe von Intonation, Sprechtempo usw. und mit Angabe von Begleitumständen des Sprechens wie Geräuschen, Lachen usw. wiedergegeben werden. Erst wenn diese Arbeit geleistet worden ist, die bereits eine Interpretation des Gesprochenen für bestimmte Analyseaspekte darstellt, geht man in der Regel an die eigentliche sprachwissenschaftliche Auswertung. Die Aufzeichnung auf Tonträgern dient eher der nochmaligen nachträglichen Kontrolle einer Untersuchung, die zuvor am verschrifteten Material vorgenommen worden ist. Dass die Gegenüberstellung von gesprochener und geschriebener Sprache ein einfacher Unterschied sei, ist inzwischen mehrfach mit guten Gründen zurückgewiesen worden. In der romanischen Sprachwissenschaft ist er in seiner Komplexität von Söll (31985) wesentlich besser beschrieben worden als zuvor. Von ihm geht deshalb die Diskussion in der deutschsprachigen Romanistik aus. Sie wurde von Koch und Oesterreicher (22011) im Rückgriff auf einen Beitrag von Coseriu (1955–1956) weitergeführt. An die erste Auflage ihres Werks (11990) schloss sich eine meist zustimmende, in Teilen aber auch kritische Diskussion an. Ich werde im Folgenden die eingeführten Gesichtspunkte mit der Unterscheidung der drei sprachlichen Ebenen und den Universalien verbinden. Bei der Darstellung der Universalien hatte ich stillschweigend so getan, als würden wir es mit gesprochener Sprache zu tun haben. Jetzt wollen wir diesen Sachverhalt differenzierter betrachten. Die beiden Autoren fügen den drei Coseriuschen Dimensionen der Variation (von ihnen „Sprachvarietät“ genannt), als erste und grundlegende Dimension „gesprochen/geschrieben“ (22011: 16) hinzu und projizieren damit einen Unterschied, der auf der Diskursebene existiert, etwas rasch auf die Ebene der Einzelsprache. Sie führen das, was sie „Nähesprechen“ und „Distanzsprechen“ im Rahmen von Kommunikationsbedingungen nennen, unter Bezug auf den Diskurs bzw. Text ein (22011: 7–11). Der Übergang vom „Nähesprechen“ und „Distanzsprechen“ zur „Nähesprache/Distanzsprache“ „auf der historischen Ebene der Einzelsprache“ (22011: 14), d. h. der Übergang von der Ebene des Diskurses zur derjenigen der Einzelsprache, wird aber nur gesetzt, nicht erklärt. Wenn man den Unterschied zwischen Nähe und Distanz, der unter Verweis auf Coserius Aufsatz “Determinación y entorno” (1955–1956) eingeführt wird, ernst nimmt, dann werden die Kontexte des Sprechens und Schreibens in die Einzelsprache projiziert. Es geschieht also Folgendes: Im Unterschied zur Einzelsprache müssen beim Sprechen verschiedene „Arten von Kontexten“ berücksichtigt werden. Die Kontexte werden als universelle Phänomene des Sprechens (und Schreibens) identifiziert und aufgrund verschiedener „Kommunikationsbedingungen“ und „Versprachlichungsstrategien“ in ein Kontinuum des „Nähe-“ und „Distanzsprechens“ geschieden. Danach wird auf der historischen Ebene parallel dazu eine „Nähe-“ und eine „Distanzsprache“ gesetzt. Die von den Autoren angestrebte sprach-
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3 Der Diskurs
theoretische Fundierung, die doch für das Verständnis elementar wichtig ist, wird in diesem Zusammenhang nicht gegeben. Sodann wird auf der historischen Ebene (aber nicht mehr nur auf derjenigen der Einzelsprache) angenommen, dass es eine „Nähediskurstradition“ und eine „Distanzdiskurstradition“ gibt. Dazu ist zu kommentieren, wie auch die beiden Autoren sehen, dass die Diskurstraditionen ihre Geschichte haben, die jedoch von der Geschichte der Einzelsprachen zu trennen ist (3.3). Auf der individuellen oder aktuellen Ebene existiert schließlich der „Nähediskurs“ bzw. der „Distanzdiskurs“, in dem wieder die universellen Phänomene des Sprechens und Schreibens feststellbar sind. Halten wir fest, dass die Begründung von „Nähesprache“ und „Distanzsprache“ problematisch ist. Ich behandle diese Erscheinungen beim Diskurs, denn Nähe und Distanz gibt es eben nur beim Sprechen und Schreiben, nicht aber in der Einzelsprache. Grundlegend wird weiterhin die Unterscheidung zwischen Sprechen im Allgemeinen, Einzelsprache und Diskurs sein. Ich werde jeweils darauf verweisen, auf welcher Ebene eine Erscheinung betrachtet wird. Bei der Besprechung von geschriebener und gesprochener Sprache wird gerne mit der lautlichen (phonischen) und der schriftlichen (graphischen) Realisierung von Sprache begonnen. Ich nehme mir dagegen vor, den Zusammenhang so zu erläutern, wie er sich mir unter Berücksichtigung der Universalien darstellt. Die Grundlage für das Weitere ist die sprachliche Identität und Alterität. Bei der Darstellung der Alterität hatten wir uns den oder die Anderen anwesend gedacht. Dies ist der Fall beim Gespräch, in gewisser Weise auch noch beim Telefongespräch. Beim Gespräch haben wir eine räumliche und zeitliche Nähe, beim Telefongespräch eine zeitliche, aber keine räumliche Nähe. Diese Bedingungen des Sprechens und Schreibens werden im Allgemeinen Situation und Kontext, mit unterschiedlichen Abgrenzungen, genannt (3.4). Für das Sprechen ist das situationelle Umfeld besonders relevant. Die Grade der Öffentlichkeit reichen etwa vom Zwiegespräch bis zur Kundgebung und zu der an die Stadt Rom und die ganze Welt gerichtete päpstliche Ansprache („urbi et orbi“). Die Sprechenden stehen in unmittelbarem Kontakt und verteilen die Gesprächsrollen. Das Schreiben steht zwar auch in einem situationellen Umfeld, dieses ist aber für die Kommunikation meist wenig relevant. Beim Schreiben liegt ein Diskurskontext mit mittelbarer räumlicher und zeitlicher Orientierung vor. Die zum Verständnis notwendigen Umfelder müssen daher versprachlicht werden. Man darf aus dem Universale der Alterität eine Priorität der Untersuchung von gesprochener Sprache ableiten, da der Andere im Gespräch unmittelbar und in Texten nur mittelbar gegeben ist. Ebenfalls aus der Alterität lässt sich ableiten, dass ich und der Andere in einen Gesprächszusammenhang eingebettet sind. Dieser wird zumeist im Rahmen der Pragmatik behandelt. Es liegt in der Natur der Sache, dass die pragmatischen Zusammenhänge – neben vielen Konstanten – offen sind. Deshalb muss der Bereich dessen, was zur Pragmatik gehören soll, ebenfalls in vielem offenbleiben. Jedoch bleibt der Horizont der Pragmatik durch die Umfelder bestimmt.
3.2 Gesprochene und geschriebene Sprache
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Aus der räumlichen und zeitlichen Nähe oder Distanz des oder der Anderen ergibt sich ein je anderer Umgang mit der Referentialisierung, d. h. mit der Bezeichnung der Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit mit den Mitteln einer Einzelsprache. Universell liegt dem Sprechen wie dem Schreiben die Origo des Ich, Hier und Jetzt (Bühler 21965: 107) zugrunde. Während aber diese deiktischen Elemente in der Situation im engeren Sinne unmittelbar gegeben sind, müssen sie beim Schreiben explizit gemacht werden. Der Sinn eines Diskurses bzw. Textes wird demnach mündlich und schriftlich anders geschaffen. Im geschriebenen Text muss all das ausdrücklich versprachlicht werden, was beim Sprechen als unmittelbares Umfeld implizit bleiben kann. In universeller Hinsicht kann Sprache phonisch oder graphisch realisiert werden. Das Medium der Realisierung von Sprache verbindet sich mit der Alterität. Ist das Umfeld unmittelbar, wird eher gesprochen; ist es mittelbar, wird eher geschrieben. Der Übergang vom graphischen zum phonischen Code ist mit einem gewissen konzeptionellen Aufwand verbunden: Der Vortragende muss den geschriebenen Text hinreichend (und dabei gibt es Grade) verstanden haben, um ihn so vorlesen zu können, dass auch seine Zuhörer den Text verstehen. Es ist sinnvoll, gleich hier einen allgemeinen Kommentar über die Behandlung von Laut und Schrift in der Linguistik anzuschließen. Wir sind daran gewöhnt, die geschriebene Sprache als Wiedergabe der gesprochenen Sprache aufzufassen. Diesem Gedanken verleiht Saussure mit den folgenden Worten Ausdruck: ‚Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Zeichensysteme. Die einzige Daseinsberechtigung des ersten Systems ist es, das zweite darzustellen. Der sprachliche Gegenstand wird nicht durch die Verbindung eines geschriebenen mit einem gesprochenen Wort definiert, sondern das letztere stellt für sich allein schon diesen Gegenstand dar. Aber das geschriebene Wort ist so eng mit dem gesprochenen Wort, dessen Bild es ist, verbunden, dass es schließlich die Hauptrolle übernimmt. Man misst dann der Darstellung des Lautzeichens eine so große Bedeutung bei wie diesem Zeichen selbst oder eine sogar noch größere. Es ist, als ob man glaubte, es sei besser, jemandes Fotografie zu betrachten, um ihn kennenzulernen, als sein Gesicht‘ (Saussure 1916: 45; meine Übersetzung; cf. Wunderli 2013: 97).
Wenn wir jedoch andere Zeiten und andere Schriftsysteme, nämlich Piktogramme betrachten (cf. Martin 1988: 96–98), erweist sich auch das Verhältnis zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort als eine von mehreren geschichtlich gewordenen einzelsprachlichen Möglichkeiten, die deshalb keine Universalität beanspruchen darf. Die geschriebene Sprache enthält zudem so viel Traditionelles gerade in einer Sprache wie dem Französischen, in dem viele präskriptive Grammatikregeln nur Schreibregeln sind, so dass man eine geschriebene Sprache nicht ohne weiteres als Wiedergabe von gesprochener Sprache betrachten darf. Die damit zusammenhängenden Probleme werden in allgemeiner Weise mit den Termini Mündlichkeit und Schriftlichkeit benannt und typischerweise von vornherein auf eine Einzelsprache eingegrenzt wie im Falle von français écrit/français parlé oder allgemeiner code écrit
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3 Der Diskurs
und code parlé in der französischen Standardsprache. Wie aus diesen Ausdrücken hervorgeht, wurden diese Erscheinungen zuerst im Französischen behandelt, dann im Italienischen und später auch in weiteren Sprachen. Im Allgemeinen werden die Erscheinungen verkürzt dargestellt. So fragt man sich selten, was an diesem Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit universell sein kann, welche einzelsprachlichen Gestaltungen dieser Unterschied mit sich bringt (darauf wurde dieser Unterschied meist reduziert) und in welcher spezifischen Weise mündliche und schriftliche Diskurse gestaltet und produziert werden, ganz abgesehen vom Sprechen und Schreiben an sich. Als Beispiel für einen einzelsprachlichen Varietätenunterschied zwischen Sprechen und Schreiben sei angeführt, dass man im Französischen zwar im Allgemeinen il a fait sagt, aber il fit ‚er hat gemacht, er machte‘ schreibt, im Katalanischen vaig anar sagt, aber aní für ‚ich ging‘ schreibt. Auf universeller Ebene gibt es eine jeweils eigene Geschichtlichkeit der Mündlichkeit oder der Schriftlichkeit. Angenommen, man will sich für etwas entschuldigen. Man kann dies mündlich oder schriftlich tun, je nach Erfordernis, Konvention oder persönlicher Präferenz; tut man es mündlich, hat man die Wahl zwischen einem Gespräch unter vier Augen oder einem Telefonat – was je nach Gesprächspartner eine akzeptable oder inakzeptable Lösung sein kann. Eine historische Sprache ist durch ihre diatopischen Unterschiede und ihre syntopischen Gemeinsamkeiten, ihre diastratischen Unterschiede und ihre synstratischen Gemeinsamkeiten sowie ihre diaphasischen Unterschiede und symphasischen Gemeinsamkeiten zu charakterisieren (2.4.2.3). Kinder lernen in ihrer Sozialisierung gewöhnlich mehrere Varietäten sprechen, besonders deutlich ist dies in Sprachkontaktsituationen. Die Schulkinder werden jedoch in der Regel nur – selbst in Sprachkontaktsituationen – in einer einzigen Standardsprache sozialisiert. Und wenn sie zwei Sprachen schreiben lernen, sind diese beiden nur ein Ausschnitt aus dem Varietätenspektrum, das ihnen mündlich zur Verfügung steht. Aus einzelsprachlicher Sicht ist also zu beachten, welche Varietäten in einer Sprachgemeinschaft mündlich und welche schriftlich zur Verfügung stehen. Die Verteilung der Varietäten für die mündliche und die schriftliche Verwendung ist das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses. Die geschichtlich gewordene Vielfalt zeigt sich besonders deutlich in mehrsprachigen Regionen wie dem Elsass mit seinem Wechsel zwischen den elsässischen Dialekten, soweit sie noch gesprochen werden, und dem Französischen und gelegentlich dem Hochdeutschen, in den katalanischen Ländern mit dem Wechsel zwischen Katalanisch und Spanisch. Wenn auch diese Situationen der Zweisprachigkeit besonders deutlich die geschichtliche Vielfalt bezeugen, so sind doch ansonsten einzelsprachliche Diskurse mehr oder weniger uneinheitlich, da in ihnen gewöhnlich mehrere Sprachstile vorkommen. Die Diskurse bilden Traditionen. Diese kommen dadurch zustande, dass jemand sich beim Sprechen oder Schreiben den Diskurs eines Anderen zum Vorbild nimmt. In diesen Diskurstraditionen besteht recht eigentlich die Historizität von Sprache als Diskurs. Wenn jemand spricht oder schreibt, erfindet er seinen Diskurs nicht neu. Er
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greift Diskurse, die als Ergebnisse des Sprechens und Schreibens, eben als Texte vorliegen, auf und arbeitet mit ihnen weiter. Dies können wir in unserer eigenen Erfahrung feststellen, wenn wir die eigene Sprache oder eine Fremdsprache zwar sprechen und schreiben können, im Falle eines konkreten Diskurses aber nicht wissen, wie man ihn bewältigt: Das Telefonieren in einer Fremdsprache, wenn man noch kein Telefonat in dieser Sprache gehört hat; das Halten einer Ansprache; das Schreiben der ersten Hausarbeit in der Schule oder im Studium. Wollte man einen Diskurs ganz neu und ohne Vorbild erfinden, wäre man sicher von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies fängt schon mit der Legitimation für den Diskurs an. Wenn ich keinen Anlass für ein Telefonat habe, wird das Gespräch von selbst scheitern. Wenn jemand eine Hausarbeit schreibt, ohne in die Schule zu gehen oder zu studieren, wird sie schwerlich von einem Lehrer oder Dozenten gelesen. Und wer eine Ansprache halten will, muss dazu als Person ganz besonders für den Anlass legitimiert sein, sonst wird seine Rolle von den Zuhörern nicht anerkannt. Jeder, der solche Schritte hinter sich gebracht hat, kann sich, wenn sie nicht in der fernen Kindheit liegen, gut daran erinnern, an ihr Gelingen oder ihr Misslingen. Damit jemand für seine Worte zu Gehör kommt oder jemand anders sie liest, muss die den Diskurs produzierende Person also in der Gesellschaft dafür legitimiert und anerkannt sein. Dies ist aber nur die Voraussetzung für die Geschichtlichkeit des Diskurses. Wir werden uns, damit unser Diskurs gelingt, informieren, wie andere vor uns verfahren sind. Wir werden uns also vertraut machen mit der Tradition, nach der man einen bestimmten Diskurs hält. Es ist dann unsere Sache, ob wir uns eng an sie als Vorbild halten oder mit einer größeren Freiheit verfahren. Oft ist es auch nur eine Frage der zu Schau gestellten Originalität, wenn man den Zusammenhang des eigenen Diskurses mit denen anderer verdunkelt. Unter dem Gesichtspunkt der Reflexivität kann das Sprechen spontan oder reflexiv vor sich gehen. Ein wirklich spontanes Schreiben ist dagegen nur mit Einschränkungen vorstellbar. Beim Schreiben sind mindestens einige praktische Vorbereitungen zu treffen, die das Schreiben nicht spontan machen. Der schriftliche Diskurs, das Schreiben, wird konzipiert, der mündliche Diskurs in der Regel nicht. Zu konzipieren ist jedoch die Nachahmung der Mündlichkeit eines Anderen und die Nachahmung der gesprochenen Sprache in der geschriebenen Sprache. Diese Reflexivität der Texte kann metasprachlich explizit gemacht werden. Ein reflexiver Sprachgebrauch geht immer mit einem höheren Planungsaufwand einher: Die Syntax wird komplexer, der Wortgebrauch differenzierter, der Textaufbau kohärenter, die Informationsdichte größer. Hier ergeben sich besonders große Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Man hat angenommen (Koch/Oesterreicher 22011: 3–4), dass sowohl Schriftlichkeit als auch Mündlichkeit konzipiert werden. Von spontaner Rede grundsätzlich anzunehmen, sie sei konzipiert, erscheint abwegig. Bei spontan gesprochener Sprache sollten wir nicht unterstellen, dass die Sprecher ihre Spontaneität „konzipieren“, es sei denn, sie wollen in ihrem Sprechen den Eindruck vermitteln, als sei es ungeplant.
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3 Der Diskurs
Anders verhält es sich mit derjenigen Mündlichkeit, die mit den Mitteln geschriebener Sprache nachgeahmt wird. Sie kann weiterhin „konzeptionell“ genannt werden (wie auch die geplante „ungeplante Sprache“). Es ist stets möglich, in geschriebenen Texten die Eigenschaften gesprochener Sprache nachzugestalten. Dies geht nun aber für gewöhnlich nicht spontan vonstatten, auch nicht, wenn ein Diskurs wie ein geschriebener Text konzipiert wird. Die Kreativität wird sonst eigentlich nicht im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache behandelt. Sie ist aber von besonderer Wichtigkeit. Die vermutete „unsichtbare Hand“ des Sprachwandels (Keller 1 1990) waltet eher in der gesprochenen Sprache. In der geschriebenen Sprache ist die sprachliche Kreativität dagegen ein reflexiver Akt. In literarischer, in dichterischer Sprache versucht der Autor in viel deutlicherer Weise als beim Sprechen, sich entweder an die Tradition zu halten oder über sie hinauszugehen. Begriffliche Unterscheidungen, die in geschriebener Sprache, z. B. im Bereich der Wissenschaften, bewusst getroffen werden, erhalten vorzugsweise einen sprachlichen Ausdruck, einen besonderen eigenen Terminus. Sind solche oder andere reflexive Intentionen nicht am Werk, bleiben Schreiber gewöhnlich bei der Tradition, die sie mit dem Schreiben zusammen gelernt haben, und verändern sie nicht bewusst.
Bibliographischer Kommentar
Die Forschung zur geschriebenen und gesprochenen Sprache entwickelt sich überall kräftig, aber je nach Sprachgemeinschaft in sehr unterschiedlicher Weise. Einen Zugang zum Französischen vermittelt Blanche-Benveniste 2000, zum Italienischen Sornicola 1981, Cresti 2000 (im ersten Band) und Dardano/Pelo/Stefinlongo (a cura di) 2001 sowie zum Spanischen Briz 22001.
3.3 Diskurstraditionen Das Sprechen hat seine Traditionen, die wir in 1.2.5.3 als Diskurstraditionen eingeführt haben (cf. die Texttraditionen bei Schlieben-Lange 1983: 138–140, und die Diskurstraditionen bei Koch/Oesterreicher 22011: 5). In ihnen zeigt sich, dass wir nie voraussetzungslos sprechen und schreiben. Man stelle sich nur einmal eine Kontaktaufnahme ohne Gruß in bestimmten Situationen vor oder den Ausdruck von Beileid, wenn man noch nie in dieser Situation war. Zahlreiche informelle Situationen bewältigt man mit Interjektionen, informelle dagegen mit Sprechakten, Gebeten, Beschwörungsformeln und dergleichen mehr. Wenn man sich nicht auskennt, bleibt man im Zweifelsfall sprachlos. Was bei Alltagsriten wie dem Grüßen oder Riten nach dem Ende eines Lebens noch relativ einfach erscheinen mag, wird im Gespräch oder im monologischen Redefluss, mehr noch im schriftlichen Ausdruck sehr komplex. Der Schreiber dieser Zeilen erinnert sich an seine Nöte, als er zum ersten Mal in seinem Leben einen Aufsatz
3.3 Diskurstraditionen
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genannten Text als Hausaufgabe schreiben sollte, ohne dass er jemanden hätte fragen können, was das ist und wie man ihn schreibt, denn die Lehrerin der zweiten Klasse hatte das nach seiner Erinnerung nicht erklärt. Und so schrieb er in möglichst großen Buchstaben einen Satz, der sich über zwei Seiten hinzog, weil die Länge zur Aufgabe gehörte. Nachdem Koch und Oesterreicher die Geschichtlichkeit der Einzelsprachen und der Diskurstraditionen unterschieden haben und sie diese Unterscheidung sehr dezidiert vertreten, erscheint es mir notwendig, dazu kurz Stellung zu nehmen. Ich hatte bei der Besprechung der Historizität als Universale angenommen, dass Sprache überhaupt geschichtlich ist, also auch die Sprache gerade in universeller Hinsicht. Koch und Oesterreicher (22011: 5) unterscheiden mit Coseriu eine universelle, eine historische und eine individuelle Ebene der Sprache. Aus der universellen Ebene schließen sie die Geschichte aus: Das universelle Sprechen umfasse „die allgemeinen, nicht historisch spezifizierten Vollzüge sprechender Subjekte“ (22011: 5). Die individuelle bzw. aktuelle Ebene dagegen wird auf den Diskurs „als einzelne, einmalige Äußerung im hic et nunc“ reduziert (ebenda). In die historische Ebene werden dann zu den Einzelsprachen „als historische Normgefüge“ „auch die von Einzelsprachen unabhängigen Diskurstraditionen“ hineingenommen. Diese Zweiteilung der historischen Ebene bekräftigen beide Autoren (z. B. Koch 1997: 45 und Oesterreicher 1997) später noch einmal. Alles aber, was in der Zeit ist, hat Geschichte, auch die Sprache in allen ihren Manifestationen. Das Sprechen überhaupt, universell gesehen, ist nicht denkbar, ohne dass es in der Zeit stattfindet. Das individuelle Sprechen ist nicht auf den jeweiligen Augenblick und den jeweiligen Raum des Sprechens reduzierbar, denn es findet in einem ganzen Zeitgefüge mit Rückschau und Vorausschau statt. Aus der Anerkennung der Geschichtlichkeit von Sprache in jeder Erscheinungsform, in der sie auftritt, ergibt sich, dass wir sie im Sprechen im Allgemeinen, in der historischen Einzelsprache und im Diskurs anerkennen müssen. Wenn der Terminus gut gewählt ist, ist der Ort der Diskurstraditionen eben der Diskurs. Der Diskurs entwickelt sich in der Zeit während des Sprechens oder Schreibens und folgt eigenen geschichtlich gewordenen Regelmäßigkeiten. Ein wichtiger universeller und geschichtlicher Unterschied ist die Kommunikation in einer schriftlosen Gesellschaft und in einer Gesellschaft, die die Schrift kennt; zwischen beiden liegt ein qualitativer Sprung. Ein weiteres geschichtliches Faktum des Sprechens im Allgemeinen ist die Einführung des Telefons. Wir sprechen anders über die außersprachliche Wirklichkeit in einer unmittelbaren Situation und in einer Situation des Telefonierens. Das Telefon, und mehr noch das Mobiltelefon, verändert das Sprechen über die Wirklichkeit, aber nicht grundsätzlich die Einzelsprache, von einigen kommunikativen und lexikalischen Neuerungen abgesehen. In der Diskussion um die Diskurstraditionen wird eine elementare Vorbedingung vorausgesetzt, die durchaus nicht selbstverständlich ist: Die verwendete Einzelsprache. Dass wir bestimmte Varietäten einer historischen Sprache verwenden,
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3 Der Diskurs
in manchen Fällen sogar eine andere historische Sprache als die eigene, ist nicht ursprünglich gegeben, sondern geschichtlich geworden. In relativ homogenen Sprachgemeinschaften, die eine eigene Standardsprache kennen, fällt diese Grundvoraussetzung nicht auf. Wenn aber eine Sprachgemeinschaft durch den Kontakt von zwei oder mehr historischen Sprachen oder von mehreren Varietäten ein und derselben historischen Sprache geprägt ist, entspricht die Verwendung einer bestimmten Varietät für bestimmte Zwecke in einem Diskurs einer Tradition. Wir müssen diese Art von Traditionen vor denjenigen Traditionen berücksichtigen, die die Verwendung einer bestimmten Varietät bereits voraussetzen. In einer von den Einzeldisziplinen her konzipierten Sprachwissenchaft führt dies zur „soziolinguistischen“ Frage: „Wer spricht was mit wem und wozu?“ Je nach Intention der Untersuchung wird diese Frage präzisiert oder erweitert. Wir sollten zu diesen Elementen hinzufügen: „In welcher Sprache oder Varietät spricht jemand und in welcher Sprache oder Varietät schreibt jemand?“ Da bei den sich daran anschließenden empirischen Untersuchungen Diskursvorkommen produziert und analysiert werden, ist der Ort solcher soziolinguistischer Untersuchungen der Diskurs in seiner geschichtlichen Gewordenheit, auch wenn die Untersuchung die Zeit betrifft, zu welcher der Diskurs eines Sprechers auf Tonträger aufgezeichnet worden ist. Bei der Verwendung von Sprache muss man sich stets für eine bestimmte Diskurstradition entscheiden. Wir stellen hierbei mehrere Dimensionen fest, die beim konkreten Sprechen und Schreiben gegeben sind und von denen nur einige Beispiele genannt werden sollen. 1. Die erste Dimension ist diejenige der Varietät (oder, bei Coseriu, die funktionelle Sprache, d. h. diejenige Sprache, die im jeweiligen Augenblick funktioniert), die man wählt, um sich auszudrücken. In einsprachigen Gemeinschaften mag diese Dimension unerheblich erscheinen. Sie wird aber in den Sprachgemeinschaften zu einem Problem, in denen Sprecher andere historische Sprachen als ihre üblicherweise gesprochene Sprache im schriftlichen Ausdruck verwenden. Elsässer, soweit sie mit ihren Angehörigen immer noch ihren deutschen Dialekt sprechen, verwenden in der Regel das Französische, wenn sie denselben Angehörigen schreiben. Dieses Sprachverhalten ergibt sich aus der Überdachung des Elsässischen durch die französische Standardsprache. Code-Switching ist je nach Sprachgemeinschaft verschieden. In Galicien liegen das Sprechen des Galicischen und das Schreiben des Spanischen in der Vergangenheit ähnlich weit auseinander; seit der Einführung des Galicischen in den Schulunterricht lernen die Schüler beide Sprachen schreiben. Ein solcher Unterschied wird ebenfalls in den Gemeinschaften als normal angesehen, in denen Dialektsprecher einen Standard ihrer historischen Sprache schriftlich verwenden. Interessant ist die Entwicklung, die die Verwendung des Katalanischen und des Spanischen in Katalonien vor und nach der Wende in Spanien (1975) genommen hat. Die neuere Entwicklung im Sprachverhalten kann man am Beispiel der Verwendung des Katalanischen und des Spanischen unter Jugendlichen feststellen (Boix 1993).
3.4 Umfelder: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum
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2. Innerhalb ein und derselben historischen Sprache gibt es auch im schriftsprachlichen Register noch Varietätenunterschiede. Auch dies sind Diskurstraditionen. Sie sind seit der Antike besonders oft diskutiert und dargestellt worden: Die genera dicendi. Dies sind Stilarten, die die verschiedenen Funktionen der Rede besitzen. In der Antike wurde die niedere schmucklose Rede, das genus humile oder subtile, für alltägliche Gegenstände und die Belehrung verwendet, der mittlere Stil, das genus medium oder mediocre, für die Darstellung der angenehmen Unterhaltung und das Erzählen, der hohe Stil schließlich, das genus grande oder sublime, für Leidenschaft und Pathos (Ueding/Steinbrink 52011: 231– 234). Im Mittelalter, der Renaissance und dem Barock wurde diese Stillehre, dem gesellschaftlichen Wandel folgend, ständisch umgedeutet. Analoge Stilebenen bestehen bis heute fort, wenn sie auch nicht in traditioneller Weise kodifiziert sind. 3. Will man verständlich sprechen und schreiben, wird man sich an die Gepflogenheiten der Textkonstitution halten (3.8). 4. Ein häufig diskutierter Fall sind die Sprechakte, bei denen die Form der Äußerung, die Legitimation des Sprechers und die Situation zu den Bedingungen ihres Gelingens als Diskurstraditionen gehören (3.9). 5. Diskurstraditionen sind die Textgattungen oder Textsorten und gleichfalls die Diskursgattungen, zwischen denen man sich an jeder Stelle eines Diskurses entscheidet, z. B. dem Erzählen, dem Beschreiben, dem Argumentieren (3.10). 6. Eine sehr allgemeine Erscheinungsform der Diskurstraditionen zeigt sich in der Intertextualität, sei es als Bezug auf eine Gattung oder Textsorte mit ihrer Benennung oder jede andere Form des Bezugs eines Textes auf einen anderen (3.6.3). Die Intertextualität wird durch die Ausgestaltungen der Textkonstitution in einen Text integriert. Eng verbunden mit den Diskurstraditionen sind die Traditionen der Sachverhaltsdarstellung, die mit den Ausdruckstraditionen des Diskurses zusammen auftreten.
3.4 Umfelder: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum Die Umfelder, die ich an dieser Stelle einordne, sind ein übergreifendes Thema, das ebenso beim Sprechen im Allgemeinen wie beim Diskurs verortet werden kann. Wenn ich den Diskurs als Rahmen wähle, so leiten mich dabei ihr Beitrag zur Konstitution des Sinns und die Verankerung in der unmittelbaren Situation, wie sogleich zu besprechen sein wird. Wir sprechen mit dem Wissen von der Welt, die uns unmittelbar umgibt, und mit dem Wissen von der uns bekannten Welt im Allgemeinen. Mit diesem Wissen gehen wir unterschiedlich um, je nachdem ob wir sprechen oder schreiben. Im eigentlichen
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3 Der Diskurs
Sinne beziehen wir uns unmittelbar nur beim Sprechen auf die Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit. Wenn wir schreiben, müssen wir alle relevanten Situationen und Kontexte in unserem Text zur Sprache bringen. Tun wir dies nicht, können einem Leser notwendige Informationen fehlen. Sprecher realisieren daher gegenüber Hörern ein anderes Wissen als Schreiber gegenüber Lesern, da die Sprecher und Hörer, die Schreiber und Leser sich in jeweils anderen Situationen befinden und andere sprachliche Kontexte produzieren. Betrachten wir einige Begriffe, mit denen man in der Fachliteratur die Bedingungen des Sprechens erfassen will. Den zentralen Bereich der Welt, die uns umgibt, kann man sicher Alltag nennen. Wenn er aber „definiert“ werden soll, ergeben sich große Schwierigkeiten: Er tritt uns entgegen als Situation, als Gespräch, als Kommunikation (Radtke 1994). Ferner können wir aus unserem sprachlichen Alltag heraustreten und uns eine Welt erfinden oder uns in eine andere Welt hineinversetzen. Die Diskussion konzentriert sich seit geraumer Zeit auf den Begriff des Kontextes, der allerdings nicht scharf von der Situation getrennt wird. Dabei hat sich gezeigt, dass ein engerer und ein weiterer Begriff notwendig sind. Catford (1965: 31) hat die Unterscheidung zwischen einem situationellen Kontext, von ihm context genannt, und einem sprachlichen Kontext, bei ihm co-text, eingeführt. Eine weitere Komplikation betrifft die bereits genannte Situation. Die Situation könnten wir von unseren Kategorien des Bezeichneten her als Sachverhalt (1.4.3) betrachten. Wir tun aber gut daran, zwischen Situation und Sachverhalt zu unterscheiden. Sachverhalt wollen wir weiterhin als universelle oder allgemein-sprachliche Kategorie beibehalten; sie dient der Benennung der außersprachlichen Gegebenheiten. Eine Situation ist eine Umgebung, in der sich ein Sprecher befindet und an der er selbst teilhat. In der angelsächsischen Tradition wird fachsprachlich nicht, wie im Deutschen üblicherweise, zwischen Sachverhalt und Situation unterschieden, weil state of affairs, die englische Entsprechung zu Sachverhalt, eine eingeschränkte Verwendung hat. So verwendet ein Linguist wie Lyons (1977: 483) engl. situation in dem Sinne, in dem ich hier Sachverhalt gebrauche. Diese beiden Begriffe des englischen Terminus situation, der durch Übersetzungen oft in andere Sprachen übernommen wird, machen die Verwendung auch von dt. Situation uneindeutig, wenn keine Definition mitgegeben wird. Im Übrigen kann das, was für uns eine Situation ist, wie wir bei Catford gesehen haben, für zahlreiche Linguisten auch noch ein Kontext sein. Eine terminologische Differenzierung ist deshalb der begrifflichen Klarkeit halber unbedingt erforderlich. Alle diese terminologischen Klärungsversuche zeigen, dass man auf der Suche nach einer Gesamtsicht ist, dass diese aber nicht zu einem allgemein anerkannten fachsprachlichen Gebrauch geführt hat. Die kohärenteste Systematisierung von Situation und Kontext aus einer solchen Perspektive hat Coseriu (1955–1956) vorgelegt. Sie ist zu wenig rezipiert worden, weil sie in spanischer Sprache und vor der Zeit der dynamischen Entwicklung der Pragmatik und der Textlinguistik vorgelegt wurde. Wir greifen daher aus der Diskussion zu Situation und Kontext die Entwicklungslinie heraus, die zu dieser Systematisie-
3.4 Umfelder: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum
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rung hinführt und die sich als besonders fruchtbar erwiesen hat. Die erste umfassende Theorie dieses Bereichs liegt in der Theorie der Umfelder vor, die Bühler (21965) aufgestellt hat und die von Coseriu weiterentwickelt wurde (1955–1956, 42007). Heidi Aschenberg (1999) hat sie weitergeführt, auf ihre wesentlichen Züge reduziert und exemplarisch auf literarische Texte angewendet. Die Theorie der Umfelder lässt sich sehr wohl mit denjenigen Positionen vereinbaren, die Situation und Kontext bzw. Kontext und Kotext unterscheiden. Das Problem dabei ist nur, dass diese Positionen nur partielle Bereiche des Forschungsgebiets zum Thema einer theoretischen Diskussion machen, das hier als Theorie der Umfelder in einem umfassenden Zusammenhang dargestellt wird. Es geht also nicht um eine sprachwissenschaftliche Außenseiterposition, sondern um einen zentralen Beitrag, der an andere Auffassungen gut anschließbar ist (z. B. Adam 2004: 34–42). Wenn diese Anschließbarkeit nicht unmittelbar deutlich wird, liegt dies an den verschiedenen Konzeptualisierungen der sprachwissenschaftlichen Diskurse und auch daran, dass diese Theorie noch nicht hinreichend ausgebaut und angewendet worden ist. Ein Umfeld (frz. entour, it. intorno, sp. entorno, engl. field) besteht in den Umständen des Sprechens und Schreibens. In den Umständen sollen alle Begriffe enthalten sein, die der Situation, dem Kontext, dem Kotext und dem Diskursuniversum entsprechen. Gleichzeitig wird eine Neufassung dieser Begriffe in einem systematischen Zusammenhang vorgenommen, für die ich auf Coseriu (42007: 127) und Aschenberg (1999: 75) zurückgreife. Im Einzelnen sind als Typen von Umfeldern festzustellen 1. die Situation, 2. der Diskurskontext, 3. das Wissen und 4. das Diskursuniversum. Die Intention dieser Typisierung besteht darin, eine größere Homogeneität und Kohärenz der Typen zu erreichen. Wir werden bei ihrer Besprechung aber sehen, dass diese Homogenität und Kohärenz doch nur begrenzt erreichbar sind. Die genannten Haupttypen von Umfeldern könnten wir im Einzelnen weiter spezifizieren. Dabei wird die Eindeutschung der Terminologie gelegentlich neu zu überdenken sein. Die bislang verwendete Terminologie ist zum Teil unzulänglich aus dem Spanischen adaptiert worden. 1. Die Situation ist ein Umfeld, das (a) die unmittelbare räumliche und zeitliche Orientierung des Sprechers und des Angesprochenen beinhaltet, die man Situation im engeren Sinne nennen kann, und (b) das praktische bzw. okkasionelle situationelle Umfeld. Während die unmittelbare Situation (a) mit den Deiktika sprachliche Elemente enthält, ist das andere Umfeld dieses Typs auch nicht-sprachlich. Beginnen wir die Darstellung mit dem unmittelbaren Umfeld des Sprechens, der (a) unmittelbaren Situation: „Die unmittelbare Situation wird durch die tatsächlichen räumlichen und zeitlichen Verhältnisse konstituiert, die durch den Redeakt selbst entstehen, für die er der Bezugspunkt ist. Eine unmittelbare Situation ist gegeben, wenn ich als Sprecher am Ort und zum Zeitpunkt des Sprechens ich, hier und jetzt sage“ (Coseriu 42007: 128). Bühler hatte diese Situation „Origo des Zeigfelds“ genannt (21965: 102, 107–110). „Redeakt“ ist hier in sehr allgemeiner Weise als Akt des diskursi-
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3 Der Diskurs
ven Sprechens zu verstehen. Die französischen Linguisten nennen diese unmittelbare Situation üblicherweise „Äußerungssituation“ (situation d’énonciation) und beschreiben aus dieser Perspektive Personen, Raum und Zeit. Dabei wird der Ausdruck der Person besonders hervorgehoben in der Gestalt des „Äußernden“ (énonciateur), des „Mit-Äußernden“ (co-énonciateur) und der „Nicht-Person“ (non-personne). Angesichts der möglichen terminologischen Verwirrung sollte man mit Äußerungssituation die unmittelbare Situation meinen. (b) Den praktischen oder okkasionellen Kontext nennen wir in spezifischerer Weise praktischer oder okkasioneller Situationskontext, da diese Situation eine unmittelbare Situation in einen weiteren Zusammenhang einbettet. ‚Der praktische oder okkasionelle Kontext ist die ‚Gelegenheit‘ des Sprechens: die besonderen subjektiven oder objektiven Umstände, unter denen der Diskurs stattfindet; z. B. das Sprechen mit einem betagten Menschen oder einem Kind, mit einem Freund oder einem Feind, eine Bitte um einen Gefallen oder die Einforderung eines Rechts; das Stattfinden des Diskurses auf der Straße oder bei einem Familientreffen, in der Schule oder auf dem Markt, bei Tage oder bei Nacht, im Winter oder im Sommer usw. Eine ganze Reihe von grammatischen, semantischen und stilistischen Funktionen hängt von der ‚Gelegenheit‘ des Diskurses ab oder wird implizit von diesem Kontext gesteuert‘ (Coseriu 21967: 316; meine Übersetzung; cf. Coseriu 1975: 283).
Der praktische Situationskontext trifft sich mit den symphasisch markierten Varietäten (2.4.2.3), ohne mit ihnen identisch zu sein. Bei diesen geht es um die je nach Gelegenheit des Sprechens verwendeten Varietäten, bei dem praktischen Situationskontext hingegen um das Sprechen mit dem Anlass, unter dem der Diskurs stattfindet und der auch zur Interpretation des Sinns beiträgt (3.11). 2. Der Diskurskontext ist eine Präzisierung innerhalb des Kontextes. Das Sprechen produziert einen Kontext, der (a) die mittelbare räumliche und zeitliche Orientierung beinhaltet, die man Situation im weiteren Sinne nennen kann, und den Kontext, der (b) unmittelbar und mittelbar und (c) positiv oder negativ sein kann. Mit dem Kontext, bei Aschenberg „Rede- bzw. Diskurskontext“, wird die Sprachlichkeit des Umfeldtyps in den Vordergrund gestellt. Es ist unbedingt zu vermeiden, dass man sich bei diesem Umfeld Elemente hinzudenkt, die nicht sprachlich sind. Während der Sprecher sich auf die unmittelbare Situation neben Gesten mit sprachlichen Mitteln, z. B. Deiktika, bezieht, müssen diese in geschriebenen Texten ausschließlich durch Diskurskontexte aufgebaut werden. Als Erstes ist die (a) mittelbare Situation als Diskurskontext zu nennen, in der die Elemente der Situation im Diskurs sprachlich aufgebaut werden und die in der unmittelbaren Situation zum Teil auch unbenannt bleiben können: „Bei der mittelbaren Situation ist dieser Bezugspunkt ‚nach außen hin‘ verschoben. Ich bin nicht ich, sondern ich i s t ein Erzähler-Ich; hier ist nicht hier, sondern hier ist das Hier der Dinge und Ereignisse, von denen berichtet wird, Ereignisse, die ebenfalls ihr eigenes Jetzt haben können, das nicht mit dem Jetzt des konkreten Redeakts zusammenzufallen braucht“ (Coseriu 42007: 128). Während bei Bühler die Origo das unmittel-
3.4 Umfelder: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum
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bare Zeigfeld ist, kann sich der Sprecher ein Zeigfeld bzw. eine Situation in der Phantasie vergegenwärtigen, von ihm „Deixis am Phantasma“ genannt (21965: 121– 140). Der Unterschied besteht in der Verschiebung von der Origo zu einer Origo in der Phantasie. Diese Verschiebung von der unmittelbaren zur mittelbaren Origo wird durch Wörter geleistet, die wegen dieser Leistung Shifters (frz. embrayeurs; Jakobson 1963) genannt werden. Wenn es in manchen Situationen bewusste Verschiebungen gibt wie bei der erlebten Rede in Erzählwerken, bei Briefen, Zitaten in Zeitungsartikeln und sonstigen Verschiebungen, muss die Rezeptionssituation eben berücksichtigt werden. Was ein Textproduzent tut und was ein Leser versteht, muss dabei nicht zusammenfallen. Dieses Problem ist besonders im Falle eines Ich-Erzählers wichtig, bei dem auf jeden Fall zwischen Erzähler und Autor unterschieden werden muss. (b) Verbaler Diskurskontext wählen wir als Terminus, da wir Diskurskontext als Oberbegriff gewählt haben. Zu beachten ist, dass im folgenden und in den weiteren Zitaten „bedeuten“ absolut verwendet wird. Damit wird terminologisch zum Ausdruck gebracht, dass dieses „Bedeuten“ einzelsprachlich gemeint ist: ‚Der verbale Kontext [scil. der verbale Diskurskontext] ist der Diskurs selbst als ‚Umfeld‘ eines jeden seiner Teile. Für jedes Zeichen und jeden Teil eines Diskurses (der ein Dialog sein kann) bildet den ‚verbalen Kontext‘ nicht nur das vorher Gesagte (…), sondern auch das in demselben Diskurs danach Gesagte. Das wird außerdem sogar aus so trivialen Beispielen wie das Haus von Hans und das Haus Österreich deutlich, in denen die nachgestellten Determinatoren zugleich als Kontextelemente funktionieren und damit die Bedeutung des Zeichens Haus zu erkennen geben. Der sprachliche Kontext kann unmittelbar sein – wenn er aus den unmittelbar vor oder nach dem betrachteten Zeichen stehenden Zeichen gebildet wird – oder mittelbar, und er kann sogar den gesamten Diskurs umfassen; dann kann er Themakontext genannt werden. In einem Werk bedeuten jedes Kapitel und bis zu einem gewissen Grade jedes einzelne Wort in Beziehung zu dem in den vorangehenden Kapiteln Gesagten und sie erhalten einen neuen Sinn mit jedem nachfolgenden Kapitel bis zum letzten. Von einem anderen Gesichtspunkt her kann der verbale Kontext positiv oder negativ sein: Einen Kontext bildet das tatsächlich Gesagte wie auch das ungesagt Gebliebene. Wenn dieser Kontext etwas nicht sagt, geschieht es absichtlich; wir haben es dann, je nach der dem Sprecher unterstellten Absicht, mit einer Andeutung, einer Anspielung oder einer Anregung zu tun. Die ‚suggestive’ Dichtung gründet sich in einem beträchtlichen Maße auf einem angemessenen intentionalen Gebrauch der negativen verbalen Kontexte‘ (Coseriu 21967: 314–315; meine Übersetzung).
Vor, neben und nach der Einführung dieser Diskurskontexte bildete sich die Untersuchung der negativen Kontexte unter völlig anderen Begriffen heraus. Die negativen Diskurskontexte erscheinen in der Fachliteratur als Vorwissen (1.0), besonders wenn es um ein Vorwissen geht, das implizit bleibt, als Präsuppositionen bzw. Voraussetzungen, als Implikaturen oder Andeutungen, wenn die Diskontexte mit Absicht unvollständig angegeben werden, Themen, die hier ihren Ort haben. Der dritte Typ von Umfeldern ist 3. das Wissen oder sind die Wissensbestände, auf die ein Sprecher zurückgreifen kann. Dieses kann (a) sprachlich sein, wobei man im Sinne der drei Ebenen der Sprache zwischen allgemein-sprachlichem bzw. elo-
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3 Der Diskurs
kutionellem, einzelsprachlichem und expressiven Wissen unterscheidet (1.1.2), und (b) lebensweltlichem bzw. extraverbalem (empirischem, natürlichem, praktischem, historischem, kulturellem) Wissen. Das Wissen oder die Wissensbestände sind nicht homogen. Die drei Typen von Wissen sind zwar alle ein Wissen von etwas, das sprachliche Wissen aber ist dazu noch ein Wissen, wie man etwas tut, ein Tunkönnen, in unserem Fall ein Sprechenkönnen. Es besteht in der allgemeinen menschlichen Fähigkeit, die wir immer wieder enérgeia genannt haben. Das Sprechenkönnen schließt das Sprechenkönnen mit den verschiedenen Wissensumfeldern ein. In dieser Hinsicht ist das sprachliche Wissen den übrigen Wissensumfeldern vorgeordnet. Das einzelsprachliche Wissen war Gegenstand des 2. Kapitels und braucht deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal ausgeführt zu werden. Das expressive Wissen ist „Das Wissen, das dem individuellen Sprechen entspricht und das sich darauf bezieht, wie man Texte in bestimmten Situationen konstruiert, bezeichnen wir als ‚expressives Wissen‘ oder als ‚Textkompetenz‘“ (Coseriu 2 1992: 74). Zum expressiven Wissen gehört auch das Wissen darum, wie man einen Text im Bereich der Literatur, der Politik, der Religion, der verschiedenen Wissenschaften abfasst. In einer weitergehenden Spezifizierung haben wir mit einem Wissen von Gattungen zu rechnen, das beim Roman, beim Drama, beim Gedicht, in einer Predigt, in einem Leitartikel unterschiedlich gegeben ist. Das expressive Wissen ist heterogen; es bezieht sich auf den Autor im Verhältnis zu seinem Publikum, die Umstände der Produktion und Rezeption, die Textorganisation, den Sprachgebrauch und anderes mehr. Seit der ursprünglichen Konzeption hat sich die Untersuchung des expressiven Wissens als eigenes Forschungsgebiet etabliert und wird den Diskurstraditionen zugeordnet, wenn es um die dem Diskurs eigene Geschichtlichkeit geht, wie wir oben (3.3) gesehen haben. Im Unterschied zum sprachlichen Wissen ist das lebensweltliche Wissen kein Tunkönnen, sondern ein reines Hintergrundwissen, auf das man beim Sprechen zurückgreift und mit dessen Kenntnis man spricht und schreibt. 4. Aschenberg hatte das „Redeuniversum“ beim Wissen eingeordnet. Ein Diskursuniversum ist zwar ein Bestandteil seines Wissens für denjenigen, der Diskurse und Texte rezipiert und interpretiert. Wer aber gerade spricht oder schreibt, verwirklicht ein bestimmtes Diskursuniversum oder lässt zwei oder mehr Diskursuniversen in der Praxis des Sprechens und Schreibens aufeinandertreffen. Ein Diskursuniversum wird gesamtheitlich und alternativ realisiert. Es ist nicht einfach ein Wissensbestand neben anderen, sondern ein Sprechen oder Schreiben mit einem bestimmten Wissensbestand, den wir Diskursuniversum nennen. Dieses Diskursuniversum kann die Welt, in der wir leben, sein, d. h. das „empirische Diskursuniversum“, oder ein anderes.
3.5 Deixis
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‚Unter Diskursuniversum verstehen wir das universelle Bedeutungssystem, dem ein Diskurs (oder eine Äußerung) angehört und das seine Gültigkeit und seinen Sinn bestimmt. Die Literatur, die Mythologie, die Wissenschaften, die Mathematik, das empirische Universum als ‚Themen‘ oder ‚Bezugswelten‘ des Sprechens bilden ‚Diskursuniversen‘. Ein Ausdruck wie die Zurückführung des Objekts auf das Subjekt hat einen Sinn in der Philosophie, er hat aber keinen Sinn in der Grammatik; Wendungen wie die Fahrt von Kolumbus, wie Parmenides sagte und wie Hamlet sagte gehören zu verschiedenen Diskursuniversen‘ (Coseriu 21967: 318; meine Übersetzung).
Bibliographischer Kommentar
Die Umfeldtheorie wurde neben den genannten Schriften von Kirstein 1997 auf die spanische Tageszeitung El País angewandt, von Hartnagel 2013 auf die Gestalt der Malinche bei Bernal Díaz del Castillo und von Perna 2015 auf den Sprachkontakt in der Pampa mit den Varietäten, die daraus entstanden.
3.5 Deixis Die Welt, über die wir sprechen, gestaltet sich in den einfachsten Bezügen als wo? oder den Raum, als wann? oder die Zeit, als wer? oder die Person, als wie? oder die Art und Weise. Es gibt noch weitere Grundbestimmungen allgemeinster Art wie welcher? oder die Qualität und wie viel(e) oder die Quantität. Mit diesen Bezügen haben wir den Begriff des Worts vorausgesetzt. Die Deiktika, Bühlers Zeigwörter, sind zentral für die Ausgestaltung der unmittelbaren und der mittelbaren Situation. Außerdem lässt sich gut am Beispiel der Deiktika zeigen, was mit dem Bezeichneten gemeint ist (1.4.1). Der Bezug, den ich soeben hergestellt habe, stellt klar, dass die Deiktika sowohl zum Sprechen im Allgemeinen gehören als auch zum Diskurs. Ich wähle den Zusammenhang mit dem Diskurs, weil die Deiktika hier verständlicher darstellbar sind. Das Sprechen nimmt seinen Ausgang vom Ich, vom Hier und vom Jetzt des Sprechens. Weil man auf diese Gegebenheiten des Sprechens zeigen kann, nennt man sie deiktisch. Dieses Wort hängt zusammen mit grch. deíknymi ‚zeigen‘; davon wird deĩxis, für das Zeigen auf ein Bezeichnetes abgeleitet; deĩxis wiederum liegt dem Adjektiv deiktikós zugrunde, ‚zum Zeigen gehörig‘. Ich, jetzt, hier und so stehen im Mittelpunkt des Sprechens über die außersprachliche Wirklichkeit. Alle Bezeichnungsakte nehmen von diesen Koordinaten ihren Ausgang. Ich ist derjenige, der gerade spricht und von dem aus gesehen andere Personen als Gesprächsteilnehmer gelten oder auch nicht, denn jemand ist dann kein Gesprächspartner, wenn man über ihn und nicht mit ihm spricht, selbst dann nicht wenn er anwesend ist. Hier ist immer der Ort, an dem ich mich beim Sprechen befinde. Nur von hier aus ist klar, was mit da und mit dort gemeint ist. Jetzt ist immer der Augenblick, in dem ich jetzt sage, und von dem aus die Zeit in ein danach, davor, in drei Tagen usw. eingeteilt wird. Und so ist die Art und Weise dessen, was ein Sprecher
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3 Der Diskurs
gerade tut. Von diesen Gegebenheiten nimmt das Sprechen und Schreiben überhaupt seinen Ausgang. Zusammen mit dem Angesprochenen stellen sie in einem sehr präzisen Sinn eine unmittelbare Situation dar. Unter den im Folgenden genannten sprachlichen Formen sind also nur diejenigen deiktisch, die mit dieser Situation unmittelbar in Beziehung stehen.
Bibliographischer Hinweis
Jede Grammatik sollte eine Behandlung der Deiktika enthalten, was aber durchaus nicht der Fall ist. Ich verweise auf die Kapitel zu den Einzelsprachen in Jungbluth/da Milano (eds.) 2016. Daneben ist die Deixis Thema von Monographien und Aufsätzen. Hier nur eine kleine Auswahl aus einer umfangreichen Literatur: Bühler 21965: 79–148, Benveniste 1966a und 1966c, Levinson 1983: 54–96, Jeandillou 1997: 54–64, Kerbrat-Orecchioni 31997: 34–70, García Negroni/Tordesillas Colado 2001: 60–91, Maingueneau 42003: 3–43, Maaß 2010 (zur Diskursdeixis im Französischen).
3.5.1 Personaldeixis Bei der Personaldeixis geht die Bezeichnung zu anderen am Sprechen beteiligten Personen vom sprechenden Ich aus, wie wir bei der Einführung des Universale der Alterität gesehen haben: In meinem Sprechen richte ich mich an ein Du, an ein mehrfaches Du oder ein Ihr. Nur die Person, die spricht, und die Person, die angesprochen wird, sind dabei relevant. Deshalb wird bei ich und du kein Genus ausgedrückt; das ist in der Sprechsituation ganz offensichtlich mitgegeben. Von den Gesprächspartnern hebt sich alles ab, was weder spricht noch angesprochen wird. Deshalb gehören zur Personaldeixis streng genommen nur Sprecher und Angesprochener. Die so genannte „dritte Person“ kann als Bezeichnetes zwar eine Person sein, also jemand, der potentiell spricht. Ansonsten kann aber die „dritte Person“ ein Gegenstand oder ein Sachverhalt sein, eben all das, was wir unter die verschiedenen Ordnungen von Entitäten gefasst haben, also auch ein Gegenstand oder ein Sachverhalt (1.4.3). Die sprachlichen Formen der Personaldeixis sind die Personalpronomina. Darunter nenne ich die „dritte Person“ – die ja als solche weder spricht noch angesprochen wird – mit Benveniste „Nicht-Person“ (1966a und 1966c). Dass wir es nicht notwendigerweise mit einer Person zu tun haben, wird noch deutlicher, wenn wir das spanische Neutrum ello ‚das‘ hinzufügen. Eine Übersicht über die Personalpronomina in den sechs berücksichtigten romanischen Standardsprachen ergibt unter Vernachlässigung der Frage, ob sie obligatorisch beim Verb vorkommen oder nicht, folgende Listen, in denen nur die Subjektfunktion berücksichtigt wird:
3.5 Deixis
361
Abb. 3.1: Personalpronomina
Legt man den Verwendungen der Personalpronomina das von ihnen Bezeichnete zugrunde, dann sind der Sprecher und der Angesprochene am klarsten differenziert. Die förmliche Anrede korreliert entweder mit sozialen Unterschieden oder mit Graden der Vertrautheit. Der Unterschied besteht meist nur in informell vs. formell wie in dt. du/Sie. Im Französischen steht vous für die förmlich angesprochene Person im Singular und Plural, die mit der 2. Person Plural des Verbs kombiniert wird. Wir können einerseits auch noch on ‚man‘ als 3. Person und andererseits als angesprochene Personen im Plural ingesamt (‚wir, ihr‘, ‚die Leute‘) anführen, die im Schema nicht aufgeführt sind. Für die förmliche Anrede hat das Spanische usted im Singular und ustedes im Plural, die jeweils mit der 3. Person Singular bzw. Plural des Verbs verbunden werden. Das Portugiesische kennt analog zum Spanischen você und vocês, aber nur für einen geringeren Grad an Vertrautheit als bei tu, während für die formellere Anrede z. B. o senhor, a senhora ‚der Herr, die Dame‘ und Statusbezeichnungen verwendet werden, die sehr differenziert sein können. Im Katalanischen nimmt das vertraulichere vós, das mit dem Verb in der 2. Person Plural verbunden wird, eine Zwischenstellung gegenüber dem förmlicheren vostè und vostès ein, kombiniert mit Verformen wie sp. usted, -es und pt. você, -s. Man verwendet hom ‚man‘, aber nicht so üblich wie im Französischen. Das italienische Lei, Pl. Loro, ist die allgemeine förmliche Anrede, Ella entspricht einem höheren Grad an Förmlichkeit, während regionales voi eine Distanz gegenüber tu ausdrückt, im Schema nicht verzeichnet ist, aber auch als Plural zu Lei verwendet wird. Eine Ausnahmestellung hat das Rumänische mit seiner Gliederung nach drei Formalitätsstufen in tu, dum-
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3 Der Diskurs
neata und dumneavoastră. Dumneavoastră ist Singular und Plural. In analoger Weise verbindet man die dritte Person mit Graden der Förmlichkeit. El, ea, ei, ele sind die allgemeinen Formen, dânsul, dânsă, dânşii, dânsele sind die Personalpronomina für Belebtes, besonders Personen, und dumnealui (mask. Singular), dumneaei (fem. Sg.) und dumnealor (mask. und fem. Pl.) sind Personalpronomina nur für Personen, wenn über sie sowohl in ihrer Anwesenheit als auch in ihrer Abwesenheit gesprochen wird. Die Nicht-Person kann sich auf den beziehen, der potentiell ein Sprecher ist, oder sie kann irgendetwas meinen, über das man spricht. Es liegt deshalb nahe, dass die dritte Person einen Genusunterschied enthält, der ja in den Pronomina für den Sprecher und den Angesprochenen nicht enthalten ist. Das Genus ist gleichwohl keine allgemeine Kategorie, wie so verschiedene Sprachen wie das Türkische oder das in den südamerikanischen Anden gesprochene Quechua zeigen. Da das, worüber man spricht, meist nominal ausgedrückt wird, werden die Personalpronomina der dritten Person wegen der Herstellung der Kongruenz ebenfalls nach Genus und Numerus (Singular und Plural) markiert (frz. le livre – il, les livres – ils; sp. el niño – él, los niños – ellos usw.). Eine größere Bezeichnungskomplexität haben dagegen die so genannte erste und die zweite Person Plural. Ein ihr kann ein du + du sein, aber auch ein du + er, du + sie usw. Im Schema wird dies mit „+ x“ ausgedrückt. Dabei tolerieren die Einzelsprachen solche Plurale in ganz unterschiedlicher Weise. Kein Problem gibt es, wenn tatsächlich Personen bezeichnet werden. Dagegen liegt eine eingeschränkte Akzeptabilität vor, wenn ein Angesprochener in Begleitung eines nicht-menschlichen Lebewesens angesprochen werden soll; bei Tieren wie Hund oder Pferd, die in der Gemeinschaft mit Menschen leben, mag das gelegentlich noch angehen, nicht aber bei den Tieren, die dem Menschen ferner stehen. Und ausgeschlossen werden in unseren Sprachgemeinschaften Kombinationen von einem Angesprochenen mit einer Sache.
3.5.2 Lokaldeixis Am Hier orientiert sich das Zeigen im Raum, die Lokaldeixis. Ich wähle unter den Ausdrucksmöglichkeiten dieses Typs nur die Adverbien aus. In den romanischen Sprachen vorkommende mögliche Gliederungen betreffen den Raum des Sprechers und des Angesprochenen – oder den des Sprechers und des Angesprochenen zusammengenommen – gegenüber dem Raum desjenigen Bezeichneten, über das man spricht. Betrachten wir wieder die Formen in sechs romanischen Sprachen:
3.5 Deixis
363
Abb. 3.2: Lokaldeixis
Es sind noch einige Kommentare nötig zu den Unterschieden, die nicht aus dem Schema hervorgehen. Frz. là-bas ist weiter entfernt vom Sprecher als là. Sp. acá kann insbesondere in Hispanoamerika an die Stelle von aquí und allí treten, wenn der nähere oder fernere Raum der Gesprächsteilnehmer im Gegensatz zu Europa gesehen wird; allá ist dann die Entsprechung zu acá für den Raum außerhalb von Sprecher und Angesprochenem und bezieht sich auf Europa oder ein anderes fernes Gebiet. Wir haben also einerseits ein kleines System aquí – allí – ahí, andererseits acá – allá. Pt. aqui – aí – ali und cá – lá verhalten sich ähnlich wie die spanischen Entsprechungen. Neben it. qui, qua/lì, là, die sich jeweils durch die größere oder geringere Entfernung unterscheiden, gibt es für den Raum des Angesprochenen im Toskanischen und im literarischen Italienisch costì und costà sowie für den Raum außerhalb vom Sprecher und Angesprochenen colà. Alle diese Ortsadverbien bilden Periphrasen mit Präpositionen, z. B. sp. de aquí, por aquí, die als Periphrasen gewöhnlich nicht auffallen und daher in den Grammatiken in der Regel nicht verzeichnet werden. Wir werden darauf bei der Behandlung des romanischen Sprachtyps zurückkommen (4.5.2.4). Dieser Einteilung liegen ausschließlich die Bezeichnungsrelationen zugrunde. Das sieht man daran, dass bestimmte Formen in mehreren Bezeichnungsfunktionen vorkommen. Wollte man dagegen eine einzelsprachliche Beschreibung anstreben, müsste man die Frage stellen, in welchem Verhältnis Inhalte und Formen zueinander stehen. Es ist interessant festzustellen, dass die Beziehungen zwischen der Lokaldeixis und der Personaldeixis in den Einzelsprachen sehr verschieden sind. Während sich im Spanischen und Portugiesischen der Raum des Sprechers und der Sprecher (aquí – yo, aqui – eu), der Raum des Angesprochenen und der Angesprochene (allí – tú, aí – tu) sowie der Raum außerhalb der Gesprächspartner und die Nicht-Person (ahí – él/ella/ello, ali – ele/ela) genau entsprechen, unterscheiden die anderen Sprachen nur den Raum der Gesprächspartner vom Raum außerhalb der Gesprächspartner. Allerdings sollte man diese Feststellung nicht so kategorisch nehmen, wie sie scheinen mag. Für eine Nuancierung sind Grammatiken zu konsultieren.
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3 Der Diskurs
3.5.3 Demonstrativpronomina Die Demonstrativpronomina lassen sich am besten unter Bezug auf die Teilnehmer an der unmittelbaren Situation gegenüber denen beschreiben, die nicht unmittelbar an ihr beteiligt sind, sowie aufgrund des Abstands zu diesen Personen. Orientiert man sich am Abstand zwischen den Gesprächsteilnehmern allein und denen, die außerhalb der unmittelbaren Situation stehen, dann besteht das System dieser Pronomina aus zwei Elementen. Diesen Fall finden wir unter den in Betracht gezogenen Sprachen im Französischen, Standarditalienischen und Rumänischen. Ich nehme zur Exemplifizierung nur die substantivischen Pronomina.
Abb. 3.3: Französische, italienische und rumänische Demonstrativa
Man sieht, dass im Französischen die Differenzierung zwischen Nähe und Ferne sekundär durch -ci und -là ausgedrückt wird. Wenn aber celui usw. auf andere Weise bestimmt wird, z. B. durch einen Relativsatz, dann entfallen -ci bzw. -là. Ein analoger Unterschied wird beim Neutrum ce und ça vs. ceci, cela gemacht. Berücksichtigt man regionale Besonderheiten, dann finden wir im Toskanischen ein dreistufiges System vor, das dem Spanischen und Portugiesischen ähnlich ist. Das Italienische kennt ferner mit questi und quegli (sowie einigen anderen Pronomina) eigene nominale Formen, die eher literarisch verwendet werden. Das Rumänische weist darüber hinaus Formen auf, die für bestimmte syntaktische Konstruktionen verwendet werden oder nicht-standardsprachlichen Varietäten angehören. Anstelle eines im Rumänischen zu erwartenden Neutrums wird das Femininum im Singular, z. B. aceasta, und Plural, z. B. acestea, verwendet. Ein dreigliedriges System existiert im Spanischen, Portugiesischen und Katalanischen. Diese Sprachen weisen außerdem mit sp. esto, eso, aquello und pt. isto, isso, aquilo und kat. (açò, veraltet und regional), això, allò ein Neutrum bzw. eine invariable Form auf:
3.5 Deixis
sp. este, -a, esto, -os, -as ese, -a, eso, -os, -as aquel, aquella, aquello, aquellos, -as
pt. este, -a, isto, estes, -as esse, essa, isso, esses, -as aquele, -a, aquilo, aqueles, -as
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kat. aquest, -a, això, aquests, -es aqueix, -a, això, aqueixos, -es aquell, -a, allò, aquells, -es
Abb. 3.4: Spanische, portugiesische und katalanische Demonstrativpronomina
Dabei stehen pt. sp. este für den Raum des Sprechers, sp. ese und pt. esse für den Raum des Angesprochenen und sp. aquel und pt. aquele für den Raum außerhalb der Gesprächspartner. Das Katalanische ist nicht genau mit dem Spanischen und Portugiesischen vergleichbar, das dreistufige System ist eher literarisch. Wo es aber auch der gesprochenen Sprache angehört, also im Katalanischen von València, treten an die Stelle des Raums des Sprechers est, esta, estos, estes und an die Stelle des Raums des Angesprochenen eix, eixa, eixos, eixes.
3.5.4 Temporaldeixis Als vierte Art von Deixis gehen wir kurz auf die Temporaldeixis ein. Im Gegensatz zu den Tempora gliedern die adverbialen Pronomina der Temporaldeixis Zeitrelationen. Diese Relationen gehen aus vom Zeitpunkt, an dem ich spreche. Davon unterscheidet sich alles, was vor oder nach diesem Zeitpunkt liegt. Interessanterweise wird zwischen davor und danach bei der Temporaldeixis nicht unterschieden (man vergleiche: „Was hast du dann gemacht?“ „Was wirst du dann machen?“). Die romanischen Sprachen verhalten sich analog: frz. maintenant
sp. ahora
pt. agora
kat. ara
it. ora, adesso
rum. acum
vor dem Zeitpunkt des Sprechens
alors
entonces
então
aleshores
allora
atunci
nach dem Zeitpunkt des Sprechens
alors
entonces
então
aleshores
allora
atunci
Zeitpunkt des Sprechens
Abb. 3.5: Romanische Temporaldeixis I
Die adverbial ausgedrückte Temporaldeixis ist sehr rudimentär. Neben den genannten Ausdrücken gehören die Adverbien dt. vorvorgestern – vorgestern – gestern – heute – morgen – übermorgen – überübermorgen teils zu den einfachen, teils zu den komplexen Wörtern. So auch in den romanischen Sprachen:
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frz. sp. pt. kat. it. rum.
3 Der Diskurs
avant-avant-hier hace tres días trasanteontem abans-d’ahir l’altre tre giorni fa răsalaltăieri
avant-hier anteayer anteontem abans-d’ahir l’altro ieri alaltăieri
hier ayer ontem ahir ieri ieri
aujourd’hui hoy hoje avui oggi azi
demain mañana amanhã demà domani mâine
après demain pasado mañana depois de amanhã demà passat dopodomani poimâine
Abb. 3.6: Romanische Temporaldeixis II
Noch nicht einmal die heute, gestern und morgen entsprechenden Adverbien sind in den romanischen Sprachen einfach. Im Französischen ist aujourd’hui ein noch erkennbarer phraseologischer Ausdruck, obwohl er wie ein einfaches Wort funktioniert, so auch pt. amanhã. Die anderen Ausdrücke sind phraseologisch gebildet, funktionieren aber gleichwohl wie einfache Wörter. Weitere Ausdrücke sind phraseologische Einheiten, die sich nicht von regelmäßigen grammatischen Kombinationen unterscheiden, z. B. frz. dans trois jours, daneben après-après-demain, sp. hace tres días, pt. há três dias, kat. fa tres dies, it. tre giorni fa. Wird die Perspektive vom Heute auf einen anderen Tag verschoben, lauten die Ausdrücke an diesem/jenem Tag – am Tag davor – am Tag danach/am folgenden Tag, z. B. frz. ce jour-là, la veille, le lendemain. Für ein differenzierteres Verweisen auf die Zeit brauchen wir Wortgruppen, die zusammen mit den Tempora Zeitpunkte und Zeiträume sehr genau bestimmen können. Wenn man mit dem Wechsel der Sprecherperspektive von der ersten Person zur zweiten oder dritten, von der Gegenwart zu einem anderen Zeitraum und von dem Ort, an dem der Sprechende oder Schreibende sich befindet, zu einem anderen Ort übergeht, wechseln damit auch die sprachlichen Ausdrücke. Diese Perspektivenverschiebungen haben übrigens nichts mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit an sich zu tun, sondern sind diesen beiden medialen Ausdrucksweisen gemeinsam. Sie werden von Jakobson Shifters genannt (1963, frz. embrayeurs).
3.5.5 Modaldeixis Der situative Bezug auf die Art und Weise wird im Allgemeinen in den Darstellungen der Deixis vernachlässigt, aber auch dafür gibt es Deiktika, die wir deshalb ebenfalls unterscheiden müssen und Modaldeiktika nennen. Wenn jemand, ein Kind etwa, heftig zappelt, kann man darauf im Deutschen mit Zappel nicht so! oder im Französischen mit Ne t’agite pas ainsi! verweisen. Für diesen unmittelbaren Bezug auf die Art und Weise sagt man sp. así, pt. assim, kat. així, it. così und rum. aşa. Daneben gibt es die Möglichkeit, eine bestimmte Art und Weise mit einer anderen zu vergleichen. Im Deutschen haben wir dafür ebenso, in den romanischen Sprachen verwendet man gleichfalls das Wort für die situationsgebundene Modaldeixis, wenn man nicht wie
3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität
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frz. de même und besonders pt. outrossim sagt. Sonst muss man sich mit Periphrasen mit frz. manière, façon, sp. modo, manera, pt. modo, maneira, kat. manera, it. modo, rum. fel behelfen, z. B. frz. de la même façon, sp. del mismo modo, pt. da mesma maneira, kat. de la mateixa manera, it. allo stesso modo, rum. la fel oder tot aşa. Im Gegensatz dazu steht die andere Art und Weise, d. h. dt. anders wie frz. autrement, kat. altrament, it. altrimenti, rum. altfel und periphrastisch im Spanischen, de otro modo, de otra manera, im Portugiesischen de modo diferente, de outra forma und im Katalanischen auch d’altra manera. Außer für dt. so gibt es also für die romanische Modaldeixis keine einheitliche übereinzelsprachliche Gestaltung. Wir haben die Deixis am Beispiel der unmittelbar situationsgebundenen Deixis aufgezeigt. Es gibt nun einen weiteren Typ, der die unmittelbare Deixis zwar zur Voraussetzung hat, aber über diese hinausgeht. Man kann ebenso wie auf das in der Situation Gegenwärtige auf etwas in der Phantasie Vergegenwärtigtes zeigen. Dies ist ein Zeigfeld (wie Bühler es ausdrückt) oder ein Umfeld, das im Diskurs ähnlich lebhaft wirkt wie die den Sprecher tatsächlich umgebende unmittelbare Situation. Bühler nennt dieses Zeigen „Deixis am Phantasma“ (21965: 123). Es ist ein Zeigen an einer erinnerten, vorgestellten oder vorweggenommenen Situation. Dies ist bei der Personal-, Lokal-, Temporal- und Modaldeixis möglich. Dieses Umfeld haben wir mit dem Terminus mittelbare Situation als Diskurskontext und als Wissenskontext eingeführt. Es gibt noch eine weitere Verwendung der Deiktika, die allerdings nicht bei allen Deiktika möglich ist. Diese beinhaltet den Rückverweis und den Vorausverweis im Diskurs. Diese anaphorische oder kataphorische Verwendung ist dem Diskurs eigen. Als Oberbegriff zu anaphorisch und kataphorisch wird textphorisch verwendet.
3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität Ohne das Alter der Fragen der Polyphonie und Intertextualität verkennen zu wollen, ist es doch unzweifelhaft, dass die heutige Diskussion auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895–1975) zurückgeht, der zugleich viel von Linguistik verstand. Das traditionelle Thema der Redewiedergabe fügt sich bruchlos in diesen Rahmen ein. Ich werde hier nur die Weichenstellung der Diskussion aufzeigen, von der die späteren Entwicklungslinien ausgingen, mich sodann der intratextuellen Polyphonie (3.6.1) zuwenden und im Anschluss daran die Redewiedergabe behandeln (3.6.2), die als intra- und intertextuelle Polyphonie betrachtet werden kann. Die sich daran anschließenden intertextuellen Bezüge, oder die Intertextualität (3.6.3), sind z. T. der intratextuellen Polyphonie analog, sie entsprechen aber einer anderen Perspektive. In der Behandlung dieses Themas werde ich mich auf einige Texte beschränken, die ich als Referenztexte ansehe und zu denen einige frühe Systematisierungen gehören (Beaugrande/Dressler 1981: 188–215, Genette 1982: 7–9, Pfister 1985).
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Allerdings setzt Bachtin (1971: 9–52) nicht bei diesem Begriff an, sondern bei dem der Dialogizität, wie er ihn in den Romanen Dostojewskis verwirklicht sieht. Bei diesem Autor wird der Gegensatz einer offenen Auseinandersetzung divergierender Standpunkte, die Bachtin „Dialog“ nennt, und „einer ‚monologischen‘ Bekräftigung von Tradition und Autorität“ (Pfister 1985: 2) wie etwa im Roman des 18. Jahrhunderts, in dem die These eines Autors durch die literarischen Figuren verhandelt wird, als literarische Innovation eingeführt. Der „Dialog“ erscheint dabei in der Figurenrede, die in die Erzählerrede eingebettet ist. Die Dialogizität besteht im „Dialog der Stimmen innerhalb eines einzelnen Texts oder einer einzelnen Äußerung“, die im polyphonen Roman Dostojewskis gebündelt erscheint und intratextuell, nicht intertextuell ist (Pfister 1985: 4–5). Diese Grundideen Bachtins werden bei Kristeva mit knappen Worten (1969: 145–146) zur Intertextualität umakzentuiert, wenn ein Text als Mosaik von Zitaten und in Bezug auf Prätexte gesehen wird. Diese Bemerkung soll reichen, die literaturwissenschaftliche Diskussion in diesem Hauptpunkt zu markieren, denn ich übernehme zwar den Ausdruck Intertextualität von Kristeva, nicht aber ihren Begriff. In etwa diesem Sinne wird er auch von Pfister verwendet als „Oberbegriff für die verschiedenen Formen konkreter Bezüge zwischen Einzeltexten, wie sie die Literaturwissenschaft immer schon untersucht hatte (z. B. Parodie, Travestie, Zitat, Anspielung, Übersetzung, Adaption)“ (Pfister 1985: 10). Diese Umdeutung soll aber nicht daran hindern, immer dann auf die literaturwissenschaftliche Debatte zurückzukommen, wenn sich linguistische Konvergenzen eröffnen. Und so weist der Literaturwissenschaftler Pfister auf die beiden Dimensionen der Intertextualität hin, also einerseits auf die „Dimension, in de[r] der Text auf das Subjekt der Schreibweise und den Adressaten bezogen ist“, was bei Ducrot von anderen Voraussetzungen ausgehend als Polyphonie diskutiert wird (3.6.1), und andererseits die Dimension, „in der sich der Text am vorangehenden oder synchronen literarischen Korpus orientiert“ (1985: 11), wobei die linguistische Frage zwangsläufig um die Bezüge auf jede Art von Diskursen und Texten zu erweitern ist (3.6.3).
3.6.1 Polyphonie Die Idee der „Vielstimmigkeit“ eines Textes wurde in Frankreich besonders von Oswald Ducrot in Le dire et le dit (1984) aufgegriffen, doch wird die Vielfalt der „Stimmen“ in der Fachliteratur ganz unterschiedlich dargestellt. Man kann dies ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die „Stimmen“ in ihrer Herkunft aus verschiedenen Umfeldern vernehmen lassen und dass die Umfelder, wie sie weiter oben behandelt wurden, von anderen Linguisten in sehr verschiedener Weise konzeptualisiert werden. Es ist auch möglich, den Akzent von den Diskurs- oder Textproduzenten zu den Texten zu verlagern und die „Vielstimmigkeit“ von der Intertextualität her anzugehen. Polyphonie und Intertextualität sind aber nicht identisch.
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Ein Diskurs bzw. ein Text hat nicht immer nur einen „Sprecher“ oder einen „Urheber“. Wir können in dieser Hinsicht mit Ducrot (1984: 193–210) dreierlei unterscheiden: – eine Person, die in einer unmittelbaren Situation spricht oder schreibt; – den Textproduzenten, d. h. denjenigen, der einen Diskurs oder Text äußert (frz. énonciateur; die Entsprechungen in den anderen romanischen Sprachen sind nicht allgemein üblich) (Ducrot 1984, Kerbrat-Orecchioni 31997, Maingueneau 4 2003); – denjenigen, der für den Sprechakt verantwortlich ist. In einfachen Alltagssituationen fallen diese drei Gesichtspunkte zusammen. Das Verhältnis des Umfelds der unmittelbaren Situation zu einem anderen Umfeld kann aber selbst komplex sein. Es wird in der Literatur als mittelbare Situation in einem Diskurskontext (3.4) dargestellt und macht dann die angeführte Unterscheidung erforderlich. Generell unterscheiden wir zwischen dem Autor eines Erzählwerks und dem Erzähler. Schließlich könnte man noch beim Autor den Menschen vom Schriftsteller unterscheiden, der eine ästhetische Position vertritt oder auch nacheinander in verschiedenen Werken verschiedene Positionen. Es ist nicht leicht, Ducrots Unterscheidung von sujet parlant und locuteur im Deutschen angemessen wiederzugeben, weil er Wörter des Französischen zu Termini macht, die gemeinhin als Synonyme betrachtet werden. Nennen wir sujet parlant den Redenden, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass es ein Einzelner ist, der aktuell und konkret in einer unmittelbaren Situation spricht. Der Sprecher hingegen übernimmt die Verantwortung für das Gesagte. Zur Verdeutlichung des Unterschieds setze ich im Folgenden beide Termini in Anführungszeichen. Dazu einige Beispiele. In Gesprächen führt der „Redende“ andere „Sprecher“ ein. Eine Person, über die berichtet wird, erscheint dann als Ich der wiedergegebenen Rede. Mit diesem Unterschied zwischen dem „Redenden“ und dem „Sprecher“ spielt Carlo Collodi am Anfang von Le avventure di Pinocchio, wenn er Pinocchio reden und Maestro Ciliegia glauben lässt, er hätte sich die gehörten Worte eingebildet. Denn auf Pinocchios Klage “– Non mi picchiar tanto forte!–” reagiert er schließlich mit “– Ho capito; … si vede che quella vocina me la sono figurata io.” Collodi lässt den „Redenden“ und den „Sprecher“ fälschlicherweise mit sich selbst zusammenfallen. Erst bei der dritten Intervention von Pinocchio erfasst ihn eine große Angst deswegen, weil „Redender“ und „Sprecher“ verschieden sind, obwohl Maestro Ciliegia weit und breit keinen „Redenden“ sieht (cf. 3.8.1). Ducrot unterscheidet innerhalb der Kategorie des locuteur weiterhin den „Sprecher als solchen“ (locuteur-L) und den „Sprecher in seiner Lebenswelt“ (locuteur-λ). Diesen Unterschied gebe ich im Deutschen analog mit „S-Sprecher“ und „σ-Sprecher“ wieder. Dieser nur scheinbar spitzfindige Unterschied vermag die Darstellung des jungen Priesters Pierre Froment, der eine Erneuerung der Kirche in einem sozialen Katholizismus sucht und sich deswegen im Vatikan verteidigen muss, in den folgenden Zeilen von Émile Zolas Roman Rome zu begründen:
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“Et Pierre, déjà, regardait de toute sa vue, de toute son âme, debout contre le parapet, dans son étroite soutane noire, les mains nues et serrées nerveusement, brûlantes de sa fièvre. Rome, Rome! la ville des Césars, la Ville des Papes, la Ville éternelle qui deux fois a conquis le monde, la Ville prédestinée du rêve ardent qu’il faisait depuis des mois! elle était là enfin, il la voyait! Des orages, les jours précédents, avaient abattu les grandes chaleurs d’août” (Zola 1999: 53; mein Kursivdruck). „Pierre aber in seiner engen schwarzen Soutane bereits an der Brüstung, hatte die bloßen, fieberheißen Hände nervös zusammengepreßt und nahm mit seinem Blick, mit seiner Seele alles in sich auf. Rom, Rom! Die Stadt der Cäsaren, die Stadt der Päpste, die Ewige Stadt, die zweimal die ganze Welt erobert hatte, die auserwählte Stadt des inbrünstigen Traums, den er seit Monaten träumte! Endlich war sie da, endlich sah er sie! Stürme hatten in den Tagen zuvor die große Augusthitze weggeblasen“ (Zola 1991: 10).
Hier wird Pierre als „S-Sprecher“ von erlebter Rede (dazu kommen wir gleich) dargestellt, der ansonsten vorher und nachher mit seiner Lebenswelt geschildert wird. Eine interessante Polyphonie trittt in der Erwähnung in Erscheinung. Sie besteht im Gegensatz zur üblichen Verwendung eines Ausdrucks in seinem autonymischen bzw. selbstreflexiven Gebrauch. Mit der Erwähnung eines Diskursstücks sagt der „Sprecher“ absichtlich etwas Unangebrachtes. Ein typischer Fall ist die Ironie: Dabei inszeniert jemand, der sich äußert, kontrafaktisch etwas Unangemessenes, von dem der „Sprecher“ sich distanziert. Ich nehme dafür ein Beispiel aus der Brevísima relación de la destruición de las Indias (1542) von Bartolomé de las Casas. Damit das Textstück verständlich wird, muss ich es ganz zitieren. Für das Verständnis ist es notwendig zu wissen, dass Hatuey, der Protagonist, von der Insel Hispaniola (heute die Staaten Haiti und Dominikanische Repulik) nach Kuba geflohen war. “Este cacique y señor [es decir, Hatuey] anduvo siempre huyendo de los cristianos desde que llegaron a aquella isla de Cuba, como quien los conocía, y defendíase cuando los topaba, y al fin lo prendieron. Y sólo porque huía de gente tan inicua y cruel, y se defendía de quien lo quería matar, y oprimir hasta la muerte a sí y a toda su gente y generación, lo hobieron vivo de quemar. Atado al palo decíale un religioso de Sant Francisco, santo varón que allí estaba, algunas cosas de Dios y de nuestra fe, el cual nunca las había jamás oído, lo que podía bastar aquel poquillo tiempo que los verdugos le daban, y que si quería creer aquello que le decía, que iría al cielo, donde había gloria y eterno descanso, y si no, que había de ir al infierno a padecer perpetuos tormentos y penas. Él, pensando un poco, preguntó al religioso si iban cristianos al cielo. El religioso le respondió que sí, pero que iban los que eran buenos. Dijo luego el cacique sin más pensar, que no quería ir allá sino al infierno, por no estar donde estuviesen y por no ver tan cruel gente. Esta es la fama y honra que Dios y nuestra fe ha ganado con los cristianos que han ido a las Indias” (Las Casas 2001: 92; mein Kursivdruck). ‚Dieser Kazike [d. h. Hatuey] war, seit die Christen zu jener Insel Cuba gekommen waren, immerzu auf der Flucht vor ihnen als einer, der sie kannte, und er verteidigte sich, wenn er auf sie stieß, und schließlich nahmen sie ihn gefangen. Und nur weil er vor so niederträchtigen und grausamen Menschen floh und sich gegen die verteidigte, die ihn umbringen und ihn mit allen seinen Leuten und seinem ganzen Volk auf den Tod unterdrücken wollten, fassten sie ihn, um ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Als er an den Pfahl gebunden war, sagte ein Mönch
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vom Orden des heiligen Franziskus, ein heiliger Mann, der sich dort befand, ihm, der es noch nie gehört hatte, einiges von Gott und unserem Glauben, was eben ging in jener so kurzen Zeit, die die Henker ihm gaben, und dass er, wenn er das, was er ihm sage, glauben wolle, in den Himmel kommen würde, wo Gloria und ewige Ruhe wäre, dass er aber andernfalls in die Hölle komme, um immerwährende Qualen und Strafen zu erleiden. Er fragte den Mönch nach kurzem Nachdenken, ob Christen in den Himmel kämen. Der Mönch antwortete ja, dass aber die, die dorthin kämen, gut seien. Sofort sagte der Kazike ohne weiteres Nachdenken, dass er nicht dorthin gehen wolle, sondern in die Hölle, um nicht dort zu sein, wo sich so grausame Menschen befänden, und um sie nicht zu sehen. Dies ist der Ruhm und die Ehre, die die Christen, die nach Indien gegangen sind, Gott eingebracht haben.‘
Die Ironie wird in diesem Textstück bis zum Sarkasmus getrieben. Las Casas ist der „Sprecher“, der die Kommentare ‚ein heiliger Mann‘ und ‚Dies ist der Ruhm und die Ehre, die die Christen, die nach Indien gegangen sind, Gott eingebracht haben‘ inszeniert, als sei er von jemand anders geäußert worden, aber auch Las Casas übernimmt dafür Verantwortung. In dieser Äußerung spricht weder Hatueys Stimme noch diejenige des Franziskaners, sondern diejenige einer Person, die eine Bewertung des Christentums der Spanier in den Augen der Indianer darstellt und somit einer indianischen Perspektive entspräche, aber von einem spanischen Beobachter geäußert würde, die von Las Casas vorgeschoben wird. Dieses Verfahren ist in diesem polemischen Text von Las Casas rekurrent. Wegen der Indirektheit des Urhebers der Ironie macht sich der Autor weniger angreifbar.
3.6.2 Redewiedergabe Die Redewiedergabe ist eine Form der Polyphonie, wenn man sie als eine andere in den Diskurs eingeführte Stimme betrachtet; sie ist gleichzeitig ein Phänomen der Intertextualität, da sie ein Segment eines eigenen oder fremden Textes aufgreift. An der Redewiedergabe (frz. discours rapporté, it. discorso riportato, sp. discurso reproducido oder discurso referido; die portugiesische Grammatik von Cunha/Cintra 1984: 629 behilft sich mit dem Ausdruck “estruturas de reprodução de enunciações”) lässt sich ferner gut zeigen, in welcher Weise man in seinen Diskurs verschiedene Umfelder integrieren kann. Ich behalte in diesem Fall Rede als Terminus bei, da die deutschsprachige Fachliteratur diesen so gut wie ausschließlich verwendet. Es gilt aber hier wie sonst auch der Unterschied zwischen Diskurs als sprachlicher Aktivität und Text als seinem Resultat. Dabei wird die Rede als Resultat, also als Text aufgefasst, denn sie wird bei der Wiedergabe nicht entwickelt, sondern eben als Fertiges und Ganzes weiterverwendet. Es scheint, dass der Unterschied zwischen der unmittelbaren Situation und dem Diskurskontext der entsprechenden Wiedergabe in der Form der direkten Rede sehr gering ist. Damit dem Hörer oder Leser der Diskurskontext einer mittelbaren Situation klar ist, muss die Distanz explizit gemacht werden.
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Wir müssen wieder zwischen der Redewiedergabe in der gesprochenen Sprache und in der geschriebenen Sprache unterscheiden. In der gesprochenen Sprache wird die Rede direkt von der unmittelbaren Situation aus wiedergegeben. In der geschriebenen Sprache kann das Umfeld der unmittelbaren Situation in der Regel in Texten unausgedrückt bleiben oder die mittelbare Situation wird sprachlich aufgebaut. Im Text kann sie als direkte, als indirekte und als erlebte Rede erscheinen, wie diese Arten von Rede traditionell genannt werden, sowie als erzählte Rede. Dies sind Formen der Polyphonie im Text. Sie besteht in den Arten und Weisen, wie eine Äußerung innerhalb einer anderen Äußerung dargestellt wird. In der direkten Rede überträgt der Schreiber oder Sprecher die Verantwortung für den Text einem zweiten „Sprecher“. Dadurch wird keine Objektivität hergestellt, denn der Schreiber setzt den Text in eine bestimmte Perspektive und kann den wiedergegebenen Text inszenieren. Dieses Verfahren zeigen wir an einem Zitat aus Simone de Beauvoir, das von Albert Memmi in seiner Kommentierung in andere Zusammenhänge gestellt und uminterpretiert wird. Die im Textstück genannte M. ist eine Freundin von Sartre. Ihr Verhältnis zu Sartre wird von der Autorin aus verschiedenen Stellen zusammengetragen: “« Je me demandais soudain s’il [Sartre] ne tenait pas à M. plus qu’à moi … D’après ses récits, M. partageait exactement ses réactions, ses émotions, ses désirs … Peut-être cela marquait-il entre eux un accord en profondeur – aux sources mêmes de la vie, dans son jaillissement et son rythme – que Sartre n’avait pas avec moi et qui lui était plus précieux que notre entente. »” (Memmi 1968: 160). ‚Ich fragte mich plötzlich, ob sie ihm [Sartre] nicht wichtiger sei als ich … Nach seinen Erzählungen teilte M. genau seine Reaktionen, seine Gefühlsregungen, seine Wünsche … Vielleicht zeigte das – an den Quellen des Lebens selbst in seinem Sprudeln und seinem Rhythmus – eine tiefgehende Übereinstimmung zwischen ihnen, die Sartre nicht mit mir hatte und der er einen größeren Wert beimaß als unserem Einverständnis.‘
In diesem Zitat geht Memmi als interpretierender „Sprecher“ der Frage nach der Sexualität bei und von Simone de Beauvoir nach. Sein Interpretationszusammenhang ist die Erörterung des Problems, wie die Frau sich von der Unterdrückung durch den Mann befreien kann. Dieses Problem hatte sich die Autorin in Le deuxième sexe gestellt. Memmi vermisst in den Memoiren, die die Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann exemplarisch darstellt, die Klärung der Frage nach der Sexualität im Leben von Simone de Beauvoir und von Sartre sowie nach ihrer Gemeinschaft ohne Zusammenleben und ohne Kind. Zwar hat Simone de Beauvoir den von Albert Memmi aufgedeckten Zusammenhang gewiss nicht herstellen wollen, aber seine Interpretation ergibt sich aus den Erkenntnissen, die man als Präsupposition aus der Lektüre von Le deuxième sexe und La force de l’âge gewinnen kann. Die indirekte Rede gibt den Inhalt der direkten Rede sinngemäß wieder, sie ahmt die direkte Rede also nicht genau nach. Es gibt nur einen Schreiber oder Sprecher,
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keinen zweiten wie bei der direkten Rede. Die Äußerungskategorien (1.4.5.2) werden in assertive Sätze aufgelöst. Dabei wird die unmittelbare Situation der ursprünglichen Rede in eine mittelbare umgewandelt. Die Deiktika werden dabei in einen Diskurskontext verschoben: je, tu → il, elle; die aktuellen Tempora Präsens, Präteritum, Futur werden zu den inaktuellen Tempora Imperfekt, Plusquamperfekt, Konditional. Für den Leser bleibt offen, ob die Wortwahl von demjenigen abhängt, der die Rede wiedergibt, oder ob sie durch denjenigen verbürgt bleibt, der sie geäußert hat. Wir kommen auf diese Verschiebungen noch einmal bei der Besprechung der erlebten Rede zurück. In der indirekten Rede ist eine Redeeinführung notwendig. Das redeeinführende Verb interpretiert, wenn es nicht einfach frz. it. dire, sp. decir usw. entspricht, die indirekte Rede (Lüdtke 1984a; Kerbrat-Orecchioni 31997). In unserem Textauszug aus Las Casas werden die Worte des Franziskaners mit “decía” sowie “respondió” und diejenigen des Kaziken mit “Dijo” und “preguntó” eingeführt. Die Rede ist wiederum von Hatuey: “Atado al palo decíale un religioso de Sant Francisco, santo varón que allí estaba, algunas cosas de Dios y de nuestra fe, el cual nunca las había jamás oído, lo que podía bastar aquel poquillo tiempo que los verdugos le daban, y que si quería creer aquello que le decía, que iría al cielo, donde había gloria y eterno descanso, y si no, que había de ir al infierno a padecer perpetuos tormentos y penas. Él, pensando un poco, preguntó al religioso si iban cristianos al cielo. El religioso le respondió que sí, pero que iban los que eran buenos. Dijo luego el cacique sin más pensar, que no quería ir allá sino al infierno, por no estar donde estuviesen y por no ver tan cruel gente” (Las Casas 2001: 92).
Wenn man die indirekte Rede in direkte umformt, stellt sich heraus, dass man sie nicht wörtlich nehmen darf: El religioso: “¿Queréis creer lo que os digo, que iréis al cielo donde habréis gloria y eterno descanso, y si no, que habéis de ir al infierno a padecer perpetuos tormentos y penas?” Hatuey: “¿Van los cristianos al cielo?” El religioso: “Sí, pero van los que son buenos.” Hatuey: “No quiero ir allá sino al infierno, por no estar donde estarán y por no ver a tan cruel gente.”
Dieser Dialog wurde mit Sicherheit über einen Dolmetscher vermittelt, dessen Anwesenheit wir vermuten dürfen und über dessen Sprachkompetenz wir nichts wissen. Das alles fällt natürlich weniger bei indirekter Rede als bei direkter auf. Die indirekte Rede ist von der erzählten Rede (frz. discours narrativisé) zu unterscheiden, die zwar komplexer ist, als es den Anschein hat, was hier aber nicht ausgeführt wird. Als Beispiel nehme ich zuerst das Textstück aus Las Casas, in dem der Verfasser mit “decíale [a Hatuey] un religioso de Sant Francisco […] algunas cosas de Dios y nuestra fe” (2001: 92), eine knappe Zusammenfassung, die in anderen Berichten zur Heilsgeschichte ausgebaut wird. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Zitat Memmis aus Simone de Beauvoir, wenn sie schreibt: “D’après ses récits, M. partageait
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exactement ses réactions, ses émotions, ses désirs …” (Memmi 1968: 160). Es bleibt der Fantasie des Lesers überlassen, wie er sich diese Erzählungen vorstellt. Die Art der Redewiedergabe ist oft nur am Wechsel vom Präteritum zum Imperfekt erkennbar, und dies auch nur teilweise. Die erlebte Rede (frz. discours indirect libre, it. discorso indiretto libero, sp. discurso indirecto libre) ist ebenfalls eine Form des Erzählens; sie wird nicht subordiniert, dennoch wird die unmittelbare Situation zur mittelbaren verschoben. “Et Pierre, déjà, regardait de toute sa vue, de toute son âme, debout contre le parapet, dans son étroite soutane noire, les mains nues et serrées nerveusement, brûlantes de sa fièvre. Rome, Rome! la ville des Césars, la Ville des Papes, la Ville éternelle qui deux fois a conquis le monde, la Ville prédestinée du rêve ardent qu’il faisait depuis des mois! elle était là enfin, il la voyait! Des orages, les jours précédents, avaient abattu les grandes chaleurs d’août. Cette admirable matinée de septembre fraîchissait dans le bleu léger du ciel sans tache, infini. Et c’était une Rome noyée de douceur, une Rome du songe, qui semblait s’évaporer au clair soleil matinal. Une fine brume flottait sur les toits des bas quartiers, mais à peine sensible, d’une délicatesse de gaze; tandisque la Campagne immense, les monts lointains se perdaient dans du rose pâle. Il ne distingua rien d’abord, il ne voulait s’arrêter à aucun détail, il se donnait à Rome entière, au colosse vivant, couché là devant lui, sur ce sol fait de la poussière des générations. Chaque siècle en avait renouvelé la gloire, comme sous la sève d’une immortelle jeunesse. Et ce qui le saisissait, ce qui faisait battre son cœur plus fort, à grands coups, dans cette première rencontre, c’était qu’il trouvait Rome telle qu’il la désirait, matinale et rajeunie, d’une gaieté envolée, immatérielle presque, toute souriante de l’espoir d’une vie nouvelle, à cette aube si pure d’un beau jour” (Zola 1999: 53–54). „Pierre aber stand in seiner engen schwarzen Soutane bereits an der Brüstung, hatte die bloßen, fieberheißen Hände nervös zusammengepreßt und nahm mit seinem Blick, mit seiner Seele alles in sich auf. Rom, Rom! Die Stadt der Cäsaren, die Stadt der Päpste, die Ewige Stadt, die zweimal die ganze Welt erobert hatte, die auserwählte Stadt des inbrünstigen Traums, den er seit Monaten träumte! Endlich war sie da, endlich sah er sie! Stürme hatten in den Tagen zuvor die große Augusthitze weggeblasen. In kühlem, makellosem Blau wölbte sich der unendliche Himmel über dem herrlichen Septembermorgen. Es war ein Rom voller Lieblichkeit, ein traumhaftes Rom, das sich in der hellen Morgensonne zu verflüchtigen schien. Ein feiner bläulicher Nebel, kaum sichtbar und zart wie ein Schleier, schwebte über den Dächern der tiefer gelegenen Stadtviertel, während die weite Campagna und die fernen Berge sich in blassem Rosa verloren. Zuerst konnte er nichts unterscheiden, auch wollte er sich nicht bei Einzelheiten aufhalten, sondern Rom als Ganzes erfassen, diesen lebendigen Riesen, der da vor ihm lag auf einem aus dem Staub der Generationen entstandenen Boden. Jedes Jahrhundert hatte gleichsam durch die Kraft unsterblicher Jugend seinen Ruhm erneuert. Bei dieser ersten Begegnung ergriff es ihn und ließ sein Herz stärker schlagen, daß er Rom so fand, wie er es ersehnt hatte: Morgendlich und verjüngt, in beschwingter Heiterkeit, fast körperlos lächelte es in der reinen Frühe eines schönen Tages einem neuen Leben entgegen“ (Zola 1991: 10).
In dieser Szene liegt eine eigene Dynamik: Der Erzähler verlässt nach und nach die Perspektive Pierres und sieht ihn von außen als von Rom begeisterten Priester. Fielen die Stimmen von Erzähler und Person in der erlebten Rede zusammen, so trennen sich sich kurz davor und danach, bis Pierre wieder ganz vom Erzähler her gesehen wird.
3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität
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Ähnlich können in der erlebten Rede gegenüber der direkten Rede alle deiktischen Elemente des Diskurskontextes in einen anderen transponiert werden. Als Beispiel nehme ich eine Stelle aus dem Roman Os Maias von Eça de Queirós, den Martin Hummel für seine Interpretation der erlebten Rede (1999: 1636) verwendet hat. Die transponierten deiktischen Elemente des ursprünglichen und des rekonstruierten Textes gebe ich in Fettdruck wieder: “E não esperou a resposta, contou ele logo a sua história [Alencar]. Tivera um dos seus ataques de garganta, com una ponta de febre, e o Melo, o bom Melo, recomendera-lhe mudança de ares. Ora ele, bons ares, só compreendia os de Sintra: porque ali não eram só os pulmões que lhe respiravam bem, mas também o coração, rapazes! … De sorte que viera na véspera, no ónibus“ (Eça de Queirós, Os Maias, 1888: 235). “– Tive um dos meus ataques de garganta, com uma ponta de febre, e o Melo, o bom Melo recomendou-me mudança de ares. Ora eu, bons ares, só compreendo os de Sintra: porque aqui não são só os pulmões que me respiram bem, mas também o coração, rapazes! … De sorte que vim ontem, no ónibus.“ ‚Und er wartete nicht auf die Antwort, er [Alencar] erzählte gleich seine Geschichte. Er habe einen seiner Hustenanfälle gehabt mit einem Anflug von Fieber, und Melo, der gute Melo habe ihm Luftveränderung empfohlen. Er aber verstehe unter Luft nur die von Sintra: Denn dort, Jungens!, atme nicht nur die Lunge frei, sondern auch das Herz … So dass er am Vorabend im Omnibus gekommen sei.‘ ‚Ich hatte einen meiner Hustenanfälle mit einem Anflug von Fieber, und Melo, der gute Melo empfahl mir Luftveränderung. Ich aber verstehe unter Luft nur die von Sintra: Denn hier, Jungens!, atmet nicht nur meine Lunge frei, sondern auch das Herz … So dass ich gestern im Omnibus herkam.‘
Diese Rücktransposition in direkte Rede führt nicht zu einer in plausibler Weise anzunehmenden sprachlichen Wirklichkeit, denn die in direkter Rede angeführten Sätze werden niemals in dieser Weise gesprochen. Sie dient nur dazu, das technische Verfahren zu erläutern. Die oft subtile Distanz zwischen dem fiktionalen Diskurskontext der erlebten Rede und dem Text des Erzählers – man denke an die Anklage, die gegen Flaubert wegen der angeblichen Unsittlichkeit von Madame Bovary erhoben wurde – muss durch eine einführende Präsentierung hergestellt werden. Unterbleibt sie, schwankt der Leser zwischen der Unsicherheit, ob der Erzähler oder eine Romanperson spricht, hin und her. Erlebte Rede liegt dann vor, wenn die unmittelbare Situation in den Diskurskontext einer mittelbaren Situation umgesetzt wird. Die hier zitierte mittelbare Situation stellt die Rede des Dichters Alencar dar, die der Erzähler wiedergibt. Er bettet daher die Rede Alencars in den neuen Diskurskontext seiner Erzählung ein. Dieser Wechsel der Perspektive erfordert einige systematische Adaptationen, die das Ich, das Jetzt und das Hier der unmittelbaren Situation betreffen. Das Ich wird in eine der Personen der dargestellten Welt umgesetzt, die in der Regel außerhalb der Welt des Sprechers und des Angesprochenen liegt, die dritte Person (eu → ele), die zeitliche
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Perspektive des Jetzt wird in die Perspektive eines Zeitpunkts umgewandelt, von dem aus die Sachverhalte zeitlich angeordnet werden (ontem → na véspera), die räumliche Perspektive des Hier wird in die Perspektive eines Raums umgewandelt, in dem die erzählten Sachverhalte lokalisiert sind (aqui → ali). Die auffälligste systembedingte Umsetzung in den romanischen Sprachen aber ist, vom Deutschen her betrachtet, der Wechsel von den Tempora der aktuellen Zeitebene zu den Tempora der inaktuellen Zeitebene. Dem Präsens der aktuellen Ebene (compreendo, são, respiram) entspricht genau das Imperfekt der inaktuellen Ebene (compreendia, eram, respiravam) und in gleicher Weise das Perfekt (tive, vim) dem Plusquamperfekt (tivera, viera). Nicht belegt ist in diesem Beispiel der Übergang vom Futur zum Konditional. Es liegt bei der erlebten Rede eine intentionale Form der Nachahmung von Mündlichkeit vor, bei der aber solche typischen Merkmale wie Gliederungssignale, Anakoluthe, Versprecher, Korrekturen und überhaupt sprachliche Fehlleistungen eliminiert werden, es sei denn, sie gehören ebenfalls zur Diskursnachahmung. Es ist somit gewiss angemessen, wenn Hummel hierin keinen ‘gleichzeitigen Klang zweier Stimmen’ (1999: 1641) sehen will, sondern gerade Imitation fremder Rede durch einen Erzähler. Damit diese Nachahmung verstanden werden kann, ist der Leser oder Hörer auf distanzmarkierende Signale angewiesen. Diese Funktion hat der einleitende Satz des Zitats aus Eça de Queirós. Aus dem darin vorkommenden Tempus der aktuellen Zeitebene, dem Perfekt (esperou, contou), können wir noch ein weiteres Merkmal der Diskurskontexte im Vergleich ableiten: Zur aktuellen Erzählung gehört die Perspektivierung durch den Autor. Das perspektivisch Wiedergegebene gehört jedoch nicht zur unmittelbaren Erzählsituation des Autors und wird deshalb mit den Tempora der inaktuellen Zeitebene wiedergegeben. Es ist ein Umfeld im Umfeld. Die mittelbare Situation wird von der unmittelbaren Situation des Erzählens des Protagonisten her perspektiviert. Die erlebte Rede ist häufig in der Literatur des Realismus und Naturalismus verwendet worden. Die wissenschaftlichen Beschreibungen setzen aber erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Wegweisend war Ballys (1912) Begriff des “style indirect libre”. Er wurde genau analog in die anderen romanischen Sprachen übersetzt, nur style wurde durch discours ersetzt, z. B. in sp. discurso indirecto libre. Die weitere Diskussion schloss sich an Lips (1926) an. Von hier aus gehen wir zur Intertextualität über. Wenn wir einen Unterschied zwischen Redewiedergabe und Intertextualität machen, so hat dies etwas mit dem Status der wiedergegebenen Diskurse zu tun. Bei der Redewiedergabe ist die Verantwortung für einen Diskurs in jedem Einzelfall gegeben, bei der Intertextualität nicht.
3.6.3 Intertextualität Intertextualität ist die Beziehung eines Textes zu einem anderen Text oder zu mehreren anderen Texten. Es gehört zu den geschichtlichen Bedingungen des Produzierens von Texten, dass sie auf der Grundlage von Gattungskompetenz geschaffen werden.
3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität
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Damit soll nicht gesagt werden, dass sie den einzelnen Text immer entscheidend prägt, denn ein Autor kann seine Gattungskompetenz auch dazu verwenden, einen Text gegen die Tradition zu produzieren. Auf der anderen Seite haben die Leser ebenfalls eine Gattungskompetenz, die in unterschiedlichem Maße mit derjenigen des Autors übereinstimmen kann und das Textverständnis steuert. Diese weiten intertextuellen Bezüge sind vorzugsweise in einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung herzustellen (Kristeva 1969, Genette 1982, zusammenfassend über verschiedene Autoren Gignoux 2005). Für eine textlinguistische Betrachtung sind kritische Umdeutungen notwendig (cf. z. B. Beaugrande/Dressler 1981: 188–215, Heinemann/Heinemann 2002: 105–107). Textlinguistisch sind diejenigen Ausprägungen der Intertextualität relevant, bei denen die intertextuellen Bezüge sprachlich konkret gegeben sind. Dies ist in einer Sprachgemeinschaft dann der Fall, wenn bestimmte Texte bekannt sind, z. B. literarische Texte, die Bibel, Märchen, Geschichten, die in Kurzform erzählt werden wie Witze, Sprichwörter und Redewendungen, Lebensweisheiten, Klischees oder Sätze, die für wahr gehalten werden. Diese Texte kann man direkt anführen, man kann auf sie anspielen, man kann sie in die eigene Rede oder in den eigenen Text einbauen. Das Textwissen, das intertextuell verwendet werden kann, ist also sehr flexibel und dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Es gibt relativ konstante Wiederverwendungen des Literaturkanons, soweit er durch die Schule vermittelt wird, der Sprichwörter, die eine gewisse, heute allerdings abnehmende Stabilität haben, und von Texten, die aktuell sind, aber bald wieder aus dem Bewusstsein verschwinden wie Schlager und Hits, Filmtitel, prägnante Sätze von Politikern oder anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Werbung und Internet. Das Beispiel, das der Erläuterung der Intertextualität dienen soll, ist der Politik entnommen und sollte, so ist meine Erwartung, eine längerfristig bestehende oder wiederkehrende Problemlage beschreiben, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Aktualität als allgemeines europäisches Problem hat. Die Diskurse der Politiker erwecken den Eindruck, als seien ihre Worte Taten oder als sollten ihre Worte Taten sein. Wenn man aber die Berichterstattung hierüber in Augenschein nimmt, zeigt es sich, dass diese aus einem Gefüge von Intertexten (I) besteht, in denen die ursprünglichen Texte nicht explizit angeführt oder resümiert werden, sondern es wird auf sie metadiskursiv angespielt. Der Nachklang dieser Anspielungen kann so verschwommen sein, dass nicht jedem Leser unmittelbar offensichtlich sein wird, dass am Anfang der jeweiligen Erwähnung oder Anspielung ein Text steht. Ich nehme ein charakteristisches Beispiel, einen Leitartikel aus Le Monde zum Problem eines europäischen Verfassungsentwurfs anlässlich des europäischen Gipfeltreffens in Brüssel vom 15. und 16. Juni 2006, an dem man verschiedene intertextuelle Verfahren zeigen kann. Diese würden bei einem Text zum Brexit, zu den jeweiligen aktuellen Wahlen, zur Nato, zur Bedrohung Europas durch Donald Trump und anderen möglichen Krisen prinzipiell nicht anders ausfallen, zumal es sich bei diesem Text um eine zeitliche Projektion handelt, die immer noch nicht verwirklicht worden ist.
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3 Der Diskurs
“Europe 2009 [I1] L’Europe commence à entrevoir la possibilité de sortir de la crise dans laquelle l’a plongée, il y a un an, [I2] le double non de la France et des Pays-Bas [I3] au projet de Constitution. [I4] Les chefs d’État et de gouvernement ont réussi à s’entendre [I5] sur une procédure qui devait permettre, si elle est menée à bien, [I6] l’adoption [I7] d’un nouveau traité à l’horizon 2009. Certes, [I8] rien n’a été dit [I7] sur le contenu de ce futur texte, destiné à se substituer [I3] au traité mort-né, et [I9] les divergences restent fortes entre ceux [I10] qui ne souhaitent pas renoncer [I3] au projet actuel, [I11] après l’avoir fait ratifier par leur Parlement ou [I12] par leur peuple, et ceux [I13] qui ne veulent plus en entendre parler. [I1] Mais chacun est désormais conscient de la nécessité d’avancer [I6,7] pour tenter de trouver une issue. [I1] Cette [I14] conviction se fonde [I15] sur un double constat. [I16] Le premier est qu’il est impossible d’espérer que les électeurs français et néerlandais reviendront [I17] sur leur vote [I18] si une nouvelle version du texte ne leur est pas présentée. [I19] Le second est qu’une réforme des institutions européennes demeure nécessaire pour permettre le fonctionnement d’une Europe élargie. [I20] «Le traité de Nice ne suffira pas », a répété le président de la Commission, José Manuel Barroso. [I21] « Cette réforme est indispensable si l’on veut une Europe plus forte et mieux organisée », a affirmé Jacques Chirac. Il appartiendra à la présidence allemande, au cours du premier semestre 2007, [I22] d’explorer les évolutions possibles, [I23] selon la prudente formule des Vingt-Cinq, et à la présidence française, au second semestre 2008, [I24] de conduire la renégociation” (Le Monde, 19. Juni 2006). ‚Europa 2009 [I1] Europa beginnt Anzeichen für die Möglichkeit zu sehen, aus der Krise herauszukommen, in die es vor einem Jahr [I2] das Nein sowohl Frankreichs als auch der Niederlande [I3] zum Verfassungsentwurf gestürzt hat. [I4] Die Staats- und Regierungschefs haben sich mit Erfolg [I5] auf ein Verfahren verständigt, das, wenn es zu einem guten Ende gebracht wird, [I6] die Annahme [I7] eines neuen Vertrags um das Jahr 2009 erlauben dürfte. [I7] Über den Inhalt dieses künftigen Textes, [I3] der an die Stelle des totgeborenen Vertrags treten soll, [I8] ist gewiss noch nichts entschieden, und [I9] die Meinungsverschiedenheiten zwischen denen, [I10] die [I3] den vorliegenden Entwurf nicht aufgeben möchten, nachdem [I11] sie ihn von ihrem Parlament oder [I12] ihrem Volk haben billigen lassen, und denen, [I13] die nichts mehr davon wissen wollen, bleiben groß. [I1] Jeder hat aber nunmehr ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, [I6,7] auf der Suche nach einer Lösung voranzukommen. [I1] Diese [I14] Überzeugung beruht auf [I15] zwei Tatsachen, von denen man auszugehen hat. [I16] Die eine ist die unerfüllbare Hoffnung, dass [I17] die französischen und die niederländischen Wähler eine andere Wahlentscheidung treffen, wenn [I18] ihnen keine neue Version des Textes vorgelegt wird. [I19] Die andere ist die fortbestehende Notwendigkeit der Reform der europäischen Institutionen, um ihr Funktionieren in einem erweiterten Europa zu erlauben. [I20] ‚Der Vertrag von Nizza wird nicht ausreichen‘, hat der Präsident der Kommission, José Manuel Barroso, ein weiteres Mal betont. [I21] ‚Diese Reform ist unumgänglich, wenn man ein stärkeres und besser organisiertes Europa will‘, hat Jacques Chirac dazu geäußert. Nach [I23] der vorsichtigen Formel der Fünfundzwanzig wird es die Aufgabe der deutschen Präsidentschaft im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 2007 sein, [I22] die möglichen Entwicklungen auszuloten, und die Aufgabe der französischen Präsidentschaft im zweiten Quartal des Jahres 2008, [I24] die Neuverhandlung zu führen.‘
3.6 Polyphonie, Redewiedergabe, Intertextualität
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Es wird hilfreich sein, vor der Diskussion von Einzelheiten die Typen von Intertexten zu benennen, die in diesem Leitartikel vorkommen. Der offensichtlichste Typ ist das Zitat (I20, I21). Da es um eine neue europäische Verfassung geht, kann diese natürlich nicht im Wortlaut angeführt werden, sondern sie wird wie immer in diesen Fällen mit einem Substantiv benannt, das den abgelehnten Entwurf (I3) oder irgendeine neue Fassung des Textes (I7) charakterisiert. Je nach Perspektive ist die Benennung des Entwurfs oder eines möglichen neuen Textes eine andere. Ähnlich wie der Verweis auf Texte funktionieren die Substantive, die den Sinn von Texten oder von Textsegmenten benennen (Lüdtke 1984a: 23–66). Dazu gehören conviction (I14), constat (I15) und formule (I23). Eine weitere Reihe von Intertexten besteht in Diskussionen und Beschlüssen, die sehr allgemein ausgedrückt werden, so in I4, I8, I11, I13. Diese Intertexte sind Diskussionen und Beschlüsse, die stattgefunden haben, und solche, die nur anvisiert werden oder wünschenswert sind. Was die Intertexte aus den übrigen Formen der Textgestaltung heraushebt, ist die Tatsache, dass sie in Sprech- und Schreibhandlungen, den Ergebnissen dieser Schreib- und Sprechhandlungen und in Verweisen auf sie auf einer Metaebene bestehen. Kommen wir nach diesen einleitenden Bemerkungen zu den Intertexten im Einzelnen. I1 fasst die Ergebnisse des Gipfels in einem kommentierenden Satz zusammen, der am Ende des ersten Abschnitts noch einmal umformuliert wird. Der Anlass des Gipfels und des Kommentars, die Ablehnung (I2) des Verfassungsentwurfs durch die Franzosen und Niederländer, sind genaugenommen zwei Intertexte. I4 könnte man als Umformulierung von I1 betrachten, er ist aber konkreter, da er ein Verfahren (I5) vorsieht – übrigens eine Wiederaufnahme eines Worts des damaligen österreichischen Bundeskanzlers Schüssel aus der Berichterstattung durch Le Monde –, mit dem die Annahme (I6) eines neuen Vertrags (I7) gesichert werden soll, auch wenn noch keine Diskussion (I8) darüber (I7) stattgefunden hat. Die in I9 ausgedrückten Meinungsverschiedenheiten bündeln vielfältige Diskussionen unter denjenigen, die den in I3 vorliegenden Verfassungsentwurf [I10] nicht aufgeben wollen. I11 ist wieder ein zweifacher anvisierter Intertext, denn er zielt entweder [I11] auf die Ratifizierung durch ein Parlament oder [I12] durch eine Volksabstimmung ab und steht im Gegensatz zu denjenigen, die [I13] ihr Desinteresse an einem neuen Verfassungsentwurf bekunden. Die Bewertung wird in I14 als “conviction” dargestellt, was als interpretierende Zusammenfassung eines Intertexts zu verstehen ist wie ebenso I15, ein anvisierter interpretierter Intertext, der in zwei Perspektiven aufgespalten wird. Der ersten in I16 zufolge besteht keine Hoffnung, dass die Franzosen und die Niederländer sich in einem erneuten Referendum anders (I17) entscheiden würden, wenn ihnen kein neuer Verfassungsentwurf (I18) vorgelegt wird. Die zweite Perspektive (I19) besteht darin, dass die Reform der europäischen Institutionen angesichts der Erweiterung der EU auf der Tagesordnung bleibt und durch ein Zitat von Barroso (I20) in einfachere Worte gefasst und von Chirac (I21) bekräftigt wird. I22 bezieht sich auf ein Bündel von Sprech- und Schreibhandlungen, die sich im Einzelnen nur diejenigen vorstellen können, die mit
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3 Der Diskurs
dieser Art von Vorgängen befasst sind, was in I23 auf eine vorsichtige (interpretierende) Formel gebracht wird, die in I24 als Neuverhandlung bezeichnet wird. Die Besonderheit der Intertextualität geht aus diesem Text recht klar hervor. Wir finden in diesem politischen Bereich Intertexte als Zitate und als Angaben von Text sorten. An den Rändern der Thematik des Leitartikels werden die Konturen der eventuellen Intertexte undeutlich, weil der Leser zwar auf Intertexte in allgemeiner Weise verwiesen wird, er aber nicht erfährt, um welche es sich handeln könnte, weil sie in der Zukunft liegen und der Verfasser des Artikels ebenso wenig wie die Akteure wissen kann, in welche Richtung die Verhandlungen gehen werden.
3.7 Thema Das Thema, als Textthema verstanden, gehört nicht zum festen Bestandteil der Themen, die man in der Textlinguistik und den benachbarten Disziplinen regelmäßig behandelt (cf. aber z. B. Eco 1979: 87–92, Brown/Yule 1983: 27–124; Heinemann/ Heinemann 2002: 79–81; Fernández Lorences 2010). Dabei erschließt sich der Zusammenhang eines Textes nur über das Thema und es gehört zur Gestalt, in der die Sachverhaltsebene, d.h das Sprechen im Allgemeinen, im Diskurs auftritt. Relevanz und Kohärenz eines Textes hängen vom Thema ab (Brown/Yule 1983: 68), und daher behandeln wir es an dieser Stelle. Obwohl behauptet wird, dass das Thema schwer zu definieren sei, ist es im Sprachgebrauch fest etabliert, auch wenn man es nicht mit diesem Wort benennt. Man fragt etwa: Worüber habt ihr gesprochen? Worum ging das Gespräch? Es geht dabei immer um das Was des Inhalts eines Gesprächs, eines Diskurses, eines Textes. Wenn man die Lexeme für ‚Thema‘ in verschiedenen Sprachen betrachtet, ist es den Sprechern ebenfalls wohlbekannt: frz. sujet, thème, it. tema, argomento, kat. tema, assumpte, pt. tema, assunto, rum. tema, sp. tema, asunto. Bei Verben bleibt die Nennung des Themas implizit, es ist klar, dass bei dt. sprechen über oder von, frz. parler de, it. parlare di, kat. parlar de, pt. falar de, em, acerca de oder sobre, rum. a vorbi despre, sp. hablar de oder sobre der Gegenstand des Diskurses, eben ein Thema gemeint ist. Wenn man ein Thema ausgiebig in einem gewöhnlich fachlichen Zusammenhang bespricht, verwendet man dt. behandeln, abhandeln, frz. traiter, traiter de, it. trattare, discutere, trattare di, kat. tractar de, pt. sp. tratar, tratar de, rum. a trata. Ebenso gibt es Ausdrücke, mit denen man ein Thema einführt (frz. aborder une question), beendet (pt. concluir), davon abschweift (sp. salirse del tema) oder etwas als nicht zum Thema gehörig zurückweist (it. non c’entra). Je geplanter ein Text ist, umso notwendiger ist es, dass man sich an das Thema hält. Die lexikalischen Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Sie wären als Wortfelder zu behandeln. Das Thema kann man als Wort, Wortgruppe oder als Satz formulieren. Wenn man es als Wort(gruppe) formuliert, typischerweise als Titel, der einen Personennamen oder eine Personenbenennung enthält wie Nana von Émile Zola oder I promessi sposi
3.7 Thema
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(,Die Verlobten‘) von Alessandro Manzoni, so sind die Sachverhalte, in deren Mittelpunkt die Protagonisten stehen, immer mitgemeint. Ein Titel kann aber auch wie in Cristo si è fermato a Eboli (,Christus kam nur bis Eboli‘) von Carlo Levi gelegentlich ein Satz sein. Da Themen Sachverhalte sind, ist ihre Nennung immer unterspezifiziert. El general en su laberinto verweist durch diesen Titel auf eine Person, die sich in einem Labyrinth befindet oder etwas in einem Labyrinth tut. Um das herauszubekommen, müssen wir den Roman von Gabriel García Márquez lesen. La force de l’âge ist der Titel des zweiten Teils der Memoiren von Simone de Beauvoir, in dem es um das Zusammenleben mit Jean-Paul Sartre in ihren besten Jahren geht (in einer Form, über die erst die Lektüre Auskunft gibt). Durch die Angabe des Lebensalters deutet der Titel auf die Personen hin und auf ihre Leistungen; das alles wird über den Titel nur präsupponiert. Le avventure di Pinocchio. Storia di un burattino ist dagegen ein traditioneller Titel. Wir erfahren, dass das Buch von einer Holzpuppe namens Pinocchio handelt, dass das Ganze als Gattung eine Geschichte ist, die in einer Reihe von Abenteuer genannten Episoden dargeboten wird. Ob der Titel nun einen Protagonisten (general, Pinocchio), einen Umstand (en su laberinto, La force de l’âge) oder Sachverhalte nennt, und sei es in einer allgemeinen Charakterisierung (avventure, storia), so sind doch Elemente dieser Art mitgemeint und wir suchen bei der Lektüre nach ihnen. Ob das Thema mit einem einzigen Ausdruck oder mit mehreren, etwa in einem Titel, genannt wird, ist nicht entscheidend. Wir werden im Text, nicht nur im literarischen, nach einer Vervollständigung suchen, weil wir sie für das Verständnis brauchen. Da es nicht nur eine einzige Formulierung eines Themas gibt, gehen Brown/Yule (1983: 75) von einem Themenrahmen aus. Eigentlich aber lässt das Thema deshalb verschiedene Formulierungen zu, weil seine Formulierung am Anfang seiner Behandlung und am Anfang eines Gesprächs der Beginn eines hermeneutischen Prozesses ist, der den Diskurs begleitet. Je länger ein Diskurs dauert, vor allem wenn er dialogisch ist, umso eher ist er Umorientierungen ausgesetzt. Gerade bei einer Unterhaltung dürfen wir nicht annehmen, dass ein Thema konstant bleibt. Auch konzentriert man sich in sehr verschiedener Weise auf eine Sache, wie man an sich selbst feststellt, wenn man nach einem Weg fragt oder selbst eine Wegauskunft gibt. Man gibt und erhält je nach Aufmerksamkeit und zur Verfügung stehenden Zeit eben eine genaue oder ungenaue Auskunft. Nachdem die Kontaktaufnahme zwischen den Sprechern erfolgt ist, wählt man ein Thema. Man kann dies explizit tun, tut es aber meist implizit, indem man einfach ein Thema in den Raum stellt, denn nicht in vielen Sprachgemeinschaften hat man ein so allgemein akzeptiertes Anknüpfungs- oder Überbrückungsthema wie in Großbritannien das Wetter. Auch die Frage nach dem Befinden wird als Anknüpfungsthema je nach Sprachgemeinschaft flüchtig oder ausführlicher behandelt. Bei Interviews wird ein Thema vorgegeben, sonst käme kein sinnvolles Gespräch zustande. Das Thema, über das man spricht oder schreibt, gibt dem Diskurs oder dem Text Einheit. Spricht man über ein Thema, erwartet der Gesprächspartner, dass man sich darin auskennt
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3 Der Diskurs
und etwas Sinnvolles zu sagen hat, sonst muss man Sanktionen gewärtigen wie mit der Abnahme des Interesses, die eine gemäßigte Form der Ablehnung ist; der Vorwurf der Dummheit oder des Unsinnredens sind schärfere Formen davon. Denn das Thema soll strukturiert dargeboten und die Informationen zum Thema sollen angemessen linearisiert werden; sie stellen entsprechende Anforderungen an die Beschreibung, die Argumentation oder die Erklärung, um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Diskursinhalt (“discourse content”, Brown/Yule 1983: 100–106) besteht aus einer Hierarchie von Inhalten. An ihrer Spitze steht das Diskursthema mit seinen Komponenten. Die Komponenten eines Themas implizieren Übergänge von einer Komponente zur anderen und auch von einem Thema zum anderen. Bei einem geschriebenen Text entsprechen die Komponenten einem Absatz (Brown/Yule 1983: 94–100). Wie aber werden die Übergänge markiert? Ich verstehe den Absatz als Teil eines Layouts nicht rein formal, sondern auch inhaltlich. Aber die Absatzeinteilung erfolgt nach Regelmäßigkeiten, die innerhalb von Textgattungen verschieden sind (Brown/Yule 1983: 100). Die Entsprechung zum schriftlichen Absatz ist für Brown/Yule in der gesprochenen Sprache der Paraton (engl. paratone). Er wird durch die Intonation markiert, daraus erhält der Terminus seine Motivation. Der ein Thema einführende Ausdruck wird durch die Intonation hervorgehoben, das Ende ebenfalls.
3.8 Textkonstitution Unter Textkonstitution verstehe ich nicht so sehr das statisch gegebene Produkt eines Diskurses als vielmehr und zuallererst den Prozess der Bildung und Schaffung eines Textes. Es wird gerne die Frage diskutiert, welche Eigenschaften einen Text zu einem Text machen (z. B. Brown/Yule 1983: 190–199). Auch in diesem Fall muss der Einzelanalyse die Feststellung vorausgehen, dass ein sprachliches Produkt zunächst fraglos als Text wahrgenommen wird. Erst bei einer Frustration der Erwartungen bekommt der Hörer/ Leser oder der Untersuchende Zweifel am Textcharakter. Texte sind auf Inhalts- und Ausdrucksseite strukturierbar. Zu den Ausdruckselementen gehören die Prosodie, die Intonation und die Betonung, ferner in den literarischen Texten die Metrik, der Reim und die Alliteration. Die lautliche Ausgestaltung des Diskurses wird bis zu einem gewissen Grad in Gesprächsanalysen behandelt (z. B. Briz Gómez 22001 für das Spanische). Der üblichste Ort der aussdrucksseitigen Untersuchung von Texten, besonders von Versen, ist die Literaturwissenschaft. Mit dieser Disziplin werden wir uns hier nicht beschäftigen, wir werden jedoch auf die parallele Gestaltung von Texten in signifiants und signifiés eingehen, wenn dies notwendig ist. Die inhaltliche Textkonstitution geschieht mit denselben Elementen, die in der Grammatik behandelt werden. Man ordnet diese Elemente aber in der Einzelsprache und im Diskurs jeweils anders zu, weil sie anderen Bereichen des sprachlichen
3.8 Textkonstitution
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Wissens entsprechen und dort jeweils andere Funktionen haben. In der Einzelsprache ist die Strukturierung relevant, im Diskurs der Beitrag der Strukturen zur Konstitution des Sinns. So unterscheidet man in der einzelsprachlichen Grammatik beispielsweise koordinierende Konjunktionen wie frz. et, ou, ni, mais, car, or, donc und subordinierende Konjunktionen wie si, parce que, puisque, Adverbien oder adverbiale Ausdrücke. Im Diskurs können hingegen die zu verschiedenen Bereichen gehörenden Einheiten eine analoge Funktion haben. Die soeben genannten Einheiten habe ich nur deshalb zusammengestellt, weil eine Reihe von ihnen eine ähnliche Funktion in einem Text haben kann, diejenige von Diskursmarkern, mit denen argumentiert wird. So kann mais dem Kontrast dienen, donc eine Schlussfolgerung einleiten, car, puisque, parce que eine Begründung signalisieren usw. In der einzelsprachlichen Grammatik unterscheiden wir Typen von Pronomina wie Personalpronomen, Possessiva, Demonstrativa, Indefinita usw., im Diskurs können diese grammatischen Wörter als Anaphern oder Kataphern fungieren (cf. Adam 2004: 44). Textinhalte drückt man mit Hilfe der einzelsprachlichen Inhalte aus. Ob man nun bestimmte dieser Inhalte im Text im Hinblick auf seine einzelsprachliche Gestaltung zuordnet und diese dann in einer transphrastischen Grammatik bzw. Textgrammatik darstellt oder ob man den Text als höchste einzelsprachliche Strukturierungsebene annimmt (1.4.5), hängt letztlich davon ab, ob man diese Phänomene angemessener dem einzelsprachlichen oder dem expressiven Wissen zuschreibt. Hier folge ich zunächst der Konvention, der zufolge bestimmte satzübergreifende Erscheinungen und im Besonderen die Verknüpfung von Sätzen zur transphrastischen Grammatik gehören (Coseriu 42007: 16–29, 205–236; 21992: 189). In jedem Fall umfasst die Textkonstitution aber mehr als die transphrastische Grammatik. Wir stellen fest, dass es Texte mit ausdrücklicher Realisierung der Beziehungen zwischen Sätzen gibt (Brown/Yule 1983: 195) und solche ohne ausdrückliche Realisierung. Was in einem Text alles bezeichnet wird, kann sich in seinem Verlauf ändern; in diesem Fall haben wir es bei den Textbeziehungen nicht mit einer einfachen Substitution zu tun (Brown/Yule 1983: 201–204). Ein typisches Beispiel dafür sind Kochrezepte, denn die bezeichneten Zutaten erfahren durch Zerschneiden, Kochen, Braten oder Backen einen Wandel im Bezeichneten. Für den Hörer oder Leser gilt die Annahme, dass ein Text, den er liest, aus inhaltlich miteinander verbundenen Informationseinheiten besteht (Brown/Yule 1983: 224). Dies gilt für formal nicht miteinander verbundene Äußerungen ebenso wie für miteinander verbundene.
3.8.1 Proposition Man konstitutiert einen Text, indem man Konstituenten kombiniert. Die kleinste Textkonstituente ist die Proposition. Mit diesem Begriff wird in sehr verschiedenen Bereichen der Spachwissenschaft gearbeitet. Einen audrücklichen Zusammenhang zum Text stellt Daneš in einem einflussreichen Artikel her. Dieser Vertreter der Prager
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Schule fährt darin im Hinblick auf die Erkenntnis, dass die dargestellten Sachverhalte nicht so sehr statisch als vielmehr dynamisch sind und dass dem Verb daher eine mindestens ebenso bedeutende Rolle zukommt wie dem Substantiv, folgendermaßen fort: „Aus diesen Erwägungen wird deutlich, daß die elementare semantische Grundeinheit die sprachspezifische Ausprägung eines bestimmten Sachverhalts darstellt, der im Bewußtsein der Mitglieder einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft abgebildet wird. Für diese Einheit wähle ich den Terminus Proposition (oder ‚propositionale Bedeutung‘, oder ‚propositionale Denomination‘ […]). In diesem Sinne ist die Proposition eine semantische Prädikatstruktur, die aus einem Prädikat und aus einem oder mehreren Argumenten (Partizipanten) besteht. (Meistens handelt es sich um relationale Prädikate; es gibt nicht nur prozessuale, sondern auch nichtprozessuale Prädikate). Die propositionalen Strukturen können verallgemeinert und in der Form einer semantischen Formel (SF) repräsentiert werden; die SF besteht aus Symbolen für Relatoren (oder anderen Funktoren) und aus Symbolen für Partizipantenvariablen. Zum Beispiel: xLy; E(x). Anders ausgedrückt: eine PROP stellt eine semantisch belegte (spezifizierte) SF dar. Den primären sprachlichen Ausdruck (die primäre sprachliche Form) einer PROP stellt der Satz als eine spezifische Systemform einer Äußerung (als kommunikative Grundeinheit) dar. Eine PROP kann aber auch sekundär, d. h. nicht durch Satzformen (also nicht kommunikativ) ausgedrückt werden. In solchen Fällen handelt es sich um verschiedene nominative Ausdrücke (Nominalisationen im weiteren Sinn), die keine Äußerungsfunktion ausüben, sondern nur als Komponenten einer Satzäußerung zur Geltung kommen. Man könnte zwischen aktualisierten und nicht aktualisierten PROP unterscheiden. Daraus geht hervor, daß die Grenzen von Propositionen sich nicht mit den Grenzen von einzelnen Aktualisationen (Satzäußerungen) decken müssen: in einer Satzäußerung (in einem einfachen Satz oder Satzgefüge) können mehrere Propositionen ‚kondensiert‘ werden“ (Daneš 1976: 29–30).
Diesen Begriff finde ich gleichfalls in der “proposition énoncée” von Adam (32011: 35–43; 2004: 47). Jedoch werden dort nicht die Propositionen mit Äußerungscharakter von den Nominalisierungen ohne Äußerungscharakter unterschieden, was eine unverzichtbare Unterscheidung ist. Adam verbindet die Propositionen als Textkonstituenten zu Perioden und Sequenzen, die ihrerseits zur Produktion eines Textes führen. Auf der anderen Seite wird der Text bei der Rezeption nach diesen drei Gesichtspunkten gegliedert (Adam 2004: 48). Die Proposition ist demnach unsere einen Text bildende Basiseinheit (cf. Adam 2004: 50–53) und enthält eine minimale Sachverhaltsdarstellung. Bei einer konkreten Anwendung dieses Begriffs müssen wir aber noch Weiteres bedenken. Das zeigen wir am Beipiel des Anfangs von Le avventure di Pinocchio: “[P1] C’era una volta … − [P2] Un re! – [P3] diranno subito i miei piccoli lettori. [P4] No, [P5] ragazzi, [P6] avete sbagliato. [P1] C’era una volta un pezzo di legno. [P7] Non era un legno di lusso, [P8] ma un semplice pezzo da catasta [P9] che d’inverno si mettono nelle stufe e nei caminetti [P10] per accendere il fuoco [P11] e per riscaldare le stanze” (Collodi 1968: 3).
3.8 Textkonstitution
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„Es war einmal … »Ein König!« werden sofort meine kleinen Leser ausrufen. Nein, Kinder, da irrt ihr euch. Es war einmal ein Stück Holz. Kein Edelholz, sondern ein ganz gewöhnliches Brennholz, wie man es im Winter für die Öfen und Kamine braucht, um Feuer anzumachen und die Stuben zu heizen“ (Collodi 1990: 7).
P1 ist eine unvollständige Proposition des Erzählers, die von der ebenfalls unvollständigen Proposition P2 der in der Vorstellung des Erzählers evozierten kleinen Leser aufgegriffen wird. P3 ist mit P2 verschränkt, denn P2 ist zusätzlich das direkte Objekt oder der Zweitaktant von P3. P4 ist als Pro-Form eines Satzes das Äquivalent einer Proposition, die im vorliegenden Fall die Form hätte: “Non c’era una volta un re.” P5 ist gleichfalls satzwertig, aber aus anderen Gründen als P4. Mit “ragazzi” werden die evozierten kleinen Leser in einer Anredeform ohne Satzzusammenhang direkt angesprochen. Die nächste Proposition ist nur eine nach der Unterbrechung vervollständigte P1. Das Verb von P7 gilt weiter in P8, erweitert durch die Beschreibung in P9. P10 und P11 enthalten Zweckrelationen im Verhältnis zu P9 und bestehen aus Nominalisierungen, d. h. in diesen Fällen aus Infinitiven. Die Propositionen müssen als Äußerungen gelten, auch P5, denn diese Verwendung eines Personen benennenden Substantivs aktualisiert es in einer Äußerung als Anrede. Der Bezug von P10 und P11 zu einer Äußerung ist dagegen nur über das Verb in P9 gewährleistet. Die Verbindung zwischen den Propositionen wird über das Bezeichnen und Beschreiben des Stücks Holz hergestellt, dessen Geschichte im Folgenden erzählt wird.
3.8.2 Thema und Rhema In einem Text werden zum einen neue Elemente eingeführt, zum anderen wiederholen sie sich. Ein Hörer oder Leser braucht die Wiederholungen, um den Textzusammenhang zu verstehen, die Progression der neuen Informationen schafft eine Dynamik, die das Interesse lebendig erhält. Propositionen enthalten somit ungeachtet ihrer grammatischen Struktur diese beiden Arten von Informationen. Das Thema einer Proposition und das Thema eines Diskurses oder Textes hängen miteinander zusammen, aber nicht unmittelbar. Eine Proposition hat ein Thema und ein Rhema (engl. topic, comment, frz. thème, propos, it. sp. tema, rema, port. tema oder tópico, rema oder comentário). Ein komplexer Satz besteht dementsprechend aus einer komplexen Hierarchie von Thema-Rhema-Strukturen. Diese Fragestellung wurde mit dem Terminus funktionale Satzperspektive durch Vilém Mathesius im Rahmen der Prager Schule eingeführt und von dieser Schule weiterentwickelt (Daneš (Hrsg.) 1974). Jede vollständige Proposition hat also ein Thema, das den Ausgangspunkt der Äußerung bildet, und ein Rhema, das in dem besteht, was ein Sprecher über das Thema sagt. Wir können das Thema identifizieren, indem wir eine Frage formulieren,
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3 Der Diskurs
auf die der Satz eine Antwort gibt. Wir können eine Frage zur fiktiven Erzählsituation von Le avventure di Pinocchio stellen: “Che c’era una volta?” Als Rhema dieses Themas erfragen wir “un pezzo di legno”. Die Proposition “C’era una volta un pezzo di legno” enthält zugleich in der darauffolgenden Proposition eine Progression, denn es werden neue rhematische Informationen eingeführt, die hier kursiv erscheinen: “Non era un legno di lusso, ma un semplice legno da catasta che d’inverno si mettono nelle stufe e nei caminetti per accendere il fuoco e per riscaldare le stanze.” Die gegebenen Elemente werden mehrmals wiederholt, womit Eigenschaften gesprochener Sprache fiktional nachgeahmt werden. Im Rahmen der Informationsstruktur kann man auch der Frage nachgehen, welche Diskursfunktion die Stellung am Anfang der Proposition und die anderen Stellungen haben. Generell stehen Themaelemente am Anfang, Rhemaelemente folgen. Es wird zuerst eine Information als „gegeben“ gesetzt, die „neue“ Information folgt darauf. Diese Informationsstruktur gehört zur inhaltlichen Gliederung und ist am plausibelsten als Thema-Rhema-Gliederung in der einfachen Proposition dar stellbar. Eine Thema-Rhema-Gliederung ist der traditionellen Analyse eines Satzes in Subjekt und Prädikat ähnlich. Sie unterscheidet sich von einer solchen Analyse aber darin, dass sie nicht durch die grammatische Struktur motiviert ist, sondern sich auf die Informationsstruktur bezieht. Nehmen wir dazu den ersten Satz aus El general en su laberinto von Gabriel García Márquez: “José Palacios, su servidor más antiguo, lo encontró flotando en las aguas depurativas de la bañera, desnudo y con los ojos abiertos, y creyó que se había ahogado” (1989: 11) – „José Palacios, sein ältester Diener, fand ihn in der Badewanne, nackt und mit offenen Augen im Heilwasser treibend, und glaubte, er sei ertrunken“ (García Márquez 1989a: 11). Auf diese Weise wird Simón Bolívar eingeführt, das Thema des Romans. Natürlich können alle anderen Satzglieder auch Thema sein, wenn sie linksversetzt sind: “La société, sous sa forme actuelle, nous étions contre“ (1960: 19) ˗ „Die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form lehnten wir ab“ (1987: 16) wie in einem Satz aus La force de l’âge von Simone de Beauvoir. Es gibt sogar rein rhematische Sätze. Diese liegen vor, wenn unmittelbare Situationen, Bilder oder Filmszenen eine thematische Funktion (im Sinne von 3.7) haben. Die dazu geäußerten Sätze haben als Rhemen eine kommentierende Funktion. Ein ehemals bekannter französischer satirischer Vers, der als Bildunterschrift verwendet wurde, lautete zum Beispiel: “Le chien est un animal méchant: Si l’on attaque, il se défend” – ‚Der Hund ist ein böses Tier: Wenn man ihn angreift, verteidigt er sich‘. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den Adverbien und Umstandsbestimmungen am Anfang eines Satzes. Dazu gehören nicht nur Angaben des Orts, der Zeit und der Art und Weise, sondern auch solche, die den Argumentationszusammenhang zum Vorgängersatz durch Diskursmarker explizit machen, oder solche, die Kom mentarfunktion haben wie frz. décidément ‚also wirklich‘, franchement ‚mal ganz ehrlich‘.
3.8 Textkonstitution
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Wieder ist an die übergeordnete Funktion der Umfelder zu erinnern. Das für die Thema-Rhema-Gliederung relevanteste Umfeld ist der Diskurskontext. Das Thema verbindet in der Proposition das vorher Gesagte mit dem noch zu Sagenden. Die thematische Anknüpfung an die vorausgehende Proposition schafft Kohärenz; im Hinblick auf das Folgende ist das Thema der Ausgangspunkt für seine weitere Entfaltung. Zwar erscheint die Thematisierung auf der Propositionsebene, ihr eigentlicher Bereich ist aber der Diskurs. Dabei lenkt die Thematisierung das Verstehen des Hörers oder Lesers. So stehen das Thema einer Proposition und das Thema eines Diskurses in enger Verbindung, ohne jedoch zusammenzufallen. In dieser Hinsicht ist die formale Identität des Terminus Thema, der sich sowohl auf einen ganzen Diskurs oder Text bezieht als auch auf eine Proposition, durchaus störend. Daher ist ein Terminus wie Text-Thema angebracht (Heinemann/Heinemann 2002: 79–81), wenn im Diskurskontext differenziert werden soll. Auch ein anderer wichtiger Zusammenhang zwischen einem Text und seinen Umfeldern wird bei dem Unterschied zwischen gegeben und neu in der Fachliteratur nicht hergestellt. Es gibt Texte, in denen bestimmte Wissenskontexte einfach gegeben sind. In solchen Fällen werden dann Umfelder global aktualisiert und die thematische Progression besteht in der Reihung der Propositionen (cf. Brown/Yule 1983: 181 zur Erläuterung von scenario). Bis zu einem gewissen Punkt ist so für hispanoamerikanische Leser von El general en su laberinto die Lebensgeschichte von Simón Bolívar und die Geschichte der Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Staaten als gegeben anzusehen. Auf jeden Fall werden diese beiden Wissenskontexte vom Erzähler in dieser Weise präsentiert und vorausgesetzt. Ebenso wird von Simone de Beauvoir der zeitgeschichtliche Wissenskontext im Wesentlichen als gegeben vorausgesetzt, auch wenn sie ihre spezifische Sicht der Zeit dann darstellt. Als Beispiel kann der Paragraph dienen, in dem Informationen über den zeitgeschichtlichen Wissenskontext nur thematisiert, aber nicht ausgeführt werden: “les affaires publiques nous assommaient; mais nous escomptions que les événements se dérouleraient selon nos désirs sans que nous ayons à nous en mêler; sur ce point, en cet automne 1929, nous partagions l’euphorie de toute la gauche française. La paix semblait définitivement assurée; l’expansion du parti nazi en Allemagne ne représentait qu’un épiphénomène sans gravité. Le colonialisme serait liquidé dans un bref délai : la campagne déclenchée par Gandhi aux Indes, l’agitation communiste en Indochine, le garantissaient. Et la crise, d’une exceptionnelle virulence, qui secouait le monde capitaliste laissait présager que cette société ne tiendrait pas le coup longtemps” (1960: 19). „Die öffentlichen Angelegenheiten waren uns zuwider. Wir erwarteten, daß die Entwicklung nach unseren Wünschen verlaufen würde, ohne daß wir uns einzumischen brauchten. Darin teilten wir in jenem Herbst des Jahres 1929 die Hochstimmung der gesamten französischen Linken. Der Friede schien endgültig gesichert. Die Ausbreitung der Nazipartei in Deutschland war nichts als eine belanglose Randerscheinung. Binnen kurzem würde der Kolonialismus ausgespielt haben: Gandhis aufrüttelnder Feldzug in Indien, die kommunistische Bewegung in Indochina garan-
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3 Der Diskurs
tierten dafür. Und die ungewöhnlich heftige Krise, die die kapitalistische Welt erschütterte, ließ voraussehen, daß diese Gesellschaft sich nicht mehr lange halten würde“ (1987: 16–17).
Die “affaires publiques” führen das geschichtliche Umfeld ein, in dem Simone de Beauvoir und Sartre lebten, die Wissenskontexte des Jahres 1929 aus der Sicht der französischen Linken. Dieser Kontext wird mitverstanden, wenn “la paix”, “l’expansion du parti nazi”, “le colonialisme”, “la campagne déclenchée par Gandhi”, “l’agitation communiste” und “la crise” erwähnt werden. Verallgemeinernd ist festzustellen, dass das, was im Rahmen von Umfeldern gegeben ist, auch thematisch gegeben ist. Die Umfelder gehen dem Sprechen oder Schreiben voraus oder sie sind im Sprechen und Schreiben mitgegeben. Diese Tatsache macht zugleich die Interpretation des Sinns komplex, denn ein Leser wird indirekt aufgefordert, sich alle angedeuteten Wissenskontexte aus der Perspektive der französischen Linken als Folgerungen zu vergegenwärtigen. Nach diesen allgemeinen Vorklärungen komme ich zu den Beziehungen zwischen Thema und Rhema im Einzelnen. Daneš (1976) hat einige allgemeine Typen von thematischer Progression aufgezeigt, von denen wir drei besprechen: die lineare Progression, die Progression mit durchlaufendem Thema und die Progression mit gespaltenem Thema. Die lineare Progression (frz. progression linéaire, it. tematizzazione lineare, sp. progresión lineal) besteht darin, dass ein erstes Thema ein erstes Rhema hat, das das Thema der zweiten Proposition wird. Das zweite Rhema wird zum dritten Thema der dritten Proposition und so fort. Eine solche lineare Progression leitet den Zeitungsartikel Ériger Bruxelles en capitale de l’Europe des belgischen Malers Antoine Wiertz (1806–1865) ein. “[Th1] On sait [Rh1] ce que c’est qu’un effet de boule de neige : [Th2 (=Rh1] grosse d’abord comme le poing, [Rh2] la boule grossit, à mesure qu’on la roule. [Th3 (=Rh2)] Ainsi naissent et grandissent [Rh3] les villes. [Th4 (=Rh3] Une maison a [Rh4] une sorte d’attraction qui en appelle une autre” (1997: 77). ‚Wir alle kennen den Schneeballeffekt: Zuerst faustgroß, wird der Schneeball beim Rollen immer größer. So entstehen und wachsen Städte. Ein Haus hat eine Art Anziehungskraft, die ein anderes nach sich zieht.‘
Die lineare Progression dieses Textanfangs ist völlig unauffällig. Alle Propositionen sind Variationen über dasselbe Thema, was es dem Autor erlaubt, auf seinem Punkt zu insistieren. Dennoch tritt er nicht auf der Stelle. Die Information der ersten Proposition verweist mit dem ersten Thema “On sait” allgemein auf ein Vorwissen, das sich auf “ce que c’est qu’un effet de boule de neige”, das erste Rhema, bezieht. Es ließe sich auch die Meinung vertreten, die ganze Proposition als thematisch zu betrachten. Jedoch kann man sich mit “On sait” auf viele beliebige Arten von Vorwissen beziehen, daher ist die Annahme einer Zweigliedrigkeit angemessener. Die zweite Proposition greift
3.8 Textkonstitution
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das erste Rhema als zweites Thema auf und erklärt, wie ein Schneeball Th2 zu einem Schneeballeffekt Rh2 wird. Die dritte Proposition enthält einen Vergleich zwischen dem Wachsen eines Schneeballs und dem Wachsen von Städten. Der Vergleich wird durch das zum dritten Thema gewordene zweite Rhema eingeleitet und beinhaltet “les villes” als drittes Rhema. Zwischen dem dritten Rhema, das zum vierten Thema wird, besteht eine spezifische metonymische Beziehung, eine Teil-Ganzes-Beziehung. Das vierte Rhema entwickelt ein weiteres Mal die Idee des Schneeballeffekts. Die lineare Progression wird über diese Propositionen hinaus in derselben Weise fortgeführt. Dieses Beispiel werden wir noch einmal für die Umformulierung verwenden. Eine Progression mit durchlaufendem Thema (frz. progression à thème constant, it. progressione a tema costante, sp. progresión de tema constante) finden wir am Anfang von El general en su laberinto vor: “[Th1] José Palacios, su servidor más antiguo, [Rh1] lo encontró flotando en las aguas depurativas de la bañera, [Rh2] desnudo [Rh3] y con los ojos abiertos, y [Th1=él] creyó [Rh4] que se había ahogado. [Th1] [Rh5] Sabía que ése era uno de sus muchos modos de meditar, pero [Th2=Rh5] el estado de éxtasis en que yacía a la deriva [Rh6] parecía de alguien que ya no era de este mundo. [Th1] [Rh7] No se atrevió a acercarse, [Rh8] sino que lo llamó con voz sorda de acuerdo con la orden de despertarlo antes de las cinco para viajar con las primeras luces. [Th3] El general [Rh9] emergió del hechizo, y [Th3] [Rh10] vio en la penumbra los ojos azules y diáfanos, el cabello encrespado de color de ardilla, [Rh11] la majestad impávida de su mayordomo de todos los días sosteniendo en la mano el pocillo con la infusión de amapolas con goma. [Th3] [Rh2] El general se agarró sin fuerzas de las asas de la bañera, y [Th3] [Rh3] surgió de entre las aguas medicinales con un ímpetu de delfín que no era de esperar en un cuerpo tan desmedrado” (1989: 11). „[Th1] José Palacios, sein ältester Diener, [Rh1] fand ihn in der Badewanne, [Rh2] nackt und [Rh3] mit offenen Augen im Heilwasser treibend, und [Th1=er] glaubte, [Rh4] er sei ertrunken. [Th1 Rh5] Er wußte, dies war für ihn eine von vielen Möglichkeiten zu meditieren, [Th2=Rh5] der Zustand der Verzückung aber, in dem er da trieb, [Rh6] schien nicht mehr von dieser Welt zu sein. [Th1 Rh7] Er wagte nicht, näher heranzutreten, [Rh8] sondern rief ihn mit gedämpfter Stimme, getreu dem Befehl, ihn vor fünf Uhr zu wecken, damit man beim ersten Tageslicht aufbrechen könne. [Th3] Der General [Rh9] löste sich aus dem Bann und [Th3 Rh10] sah in der Dämmerung die blauen durchscheinenden Augen, das krause einhörnchenfarbene Haar und [Rh11] die unbeirrbare Hoheit, mit der sein Leibdiener die Tasse Feldmohntee mit Gummiarabikum trug. [Th3 Rh2] Der General hielt sich kraftlos an den Griffen der Badewanne fest, [Th3 Rh3] tauchte dann wie ein Delphin aus dem Heilwasser, unerwartet schwungvoll für einen derart abgezehrten Körper“ (1989a: 11; die Angaben zu den Themen und Rhemen beziehen sich auch in der Übersetzung auf den spanischen Text).
Der Anfang des Romans wird teils von José Palacios her durchlaufend thematisiert, teils von Simón Bolívar her. Die Grundstruktur der in diesem Abschnitt gegebenen Informationen besteht in einem thematischen José Palacios und einem rhematischen General in der ersten Hälfte, der in der zweiten Hälfte wie bei einer Eieruhr in einen thematischen General und einen rhematischen José Palacios umgewandelt wird. Was ich als zweites Thema gewertet habe, ist zugleich eine Spezifizierung des zweiten Rhemas. Th2 greift Rh5 wieder auf und unterbricht das durchlaufende Thema, das
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3 Der Diskurs
aber sogleich in der nächsten Proposition wiederaufgenommen wird. Genau in der Mitte des Textauszuges wird der General zum durchlaufenden Thema der folgenden Rhemen, denen zum Teil wieder Unterthemen zugeordnet werden können. Ein dritter Typ ist die Progression mit abgeleitetem Thema (it. progressione a temi derivati da un iperrema, sp. progresión de hipertema). Wir exemplifizieren ihn hier mit einem Untertyp, der Progression mit gespaltenem Thema (frz. progression à thème éclaté). Wir betrachten unser Beispiel aus Simone de Beauvoir im Hinblick auf diesen Progressionstyp. Das Thema “les événements” erhält ein Rhema, das in verschiedene Rhemen bzw. Themen aufgespalten wird. “les affaires publiques nous assommaient ; mais nous escomptions que [Th1] les événements [Rh1] se dérouleraient selon nos désirs sans que nous ayons à nous en mêler; [Th2] sur ce point, en cet automne 1929, [Rh2] nous partagions l’euphorie de toute la gauche française. [Th3] La paix [Rh3] semblait définitivement assurée; [Th4] l’expansion du parti nazi en Allemagne [Rh4] ne représentait qu’un épiphénomène sans gravité. [Th5] Le colonialisme [Rh5] serait liquidé dans un bref délai : [Th6] la campagne déclenchée par Gandhi aux Indes, [Th7] l’agitation communiste en Indochine [Rh6] le garantissaient. [Th8] Et la crise, d’une exceptionnelle virulence, qui secouait le monde capitaliste [Rh7] laissait présager que cette société ne tiendrait pas le coup longtemps” (1960: 19).
Th2 greift Th1 wieder auf. Wie Th1 und Th2 Variationen über dasselbe Thema sind, so auch Th3 bis Th8 Subthemen zu demselben Superthema oder übergeordneten Thema Th1=Th2 und Rh3 bis Rh8 Subrhemen zu demselben Superrhema Rh1=Rh2. Das Th5 wiederholt das Progressionsmuster mit gespaltenem Thema, indem Th5 und Rh5 in das sechste und das siebente Thema aufgespalten wird, denen zusammengenommen das sechste Rhema entspricht.
Bibliographischer Kommentar
Zu Thema-Rhema und topic-comment im Französischen Horlacher 2015, eine frühe Behandlung des Themas im Italienischen ist Stammerjohann (ed.) 1986, zum Spanischen mit begrifflichen Klärungen von Thema, Rhema, Fokus, topic und comment Gutiérrez Ordóñez 2000 sowie zum sprecherorientierten tópico-comentario und hörerorientierten tema-rema Padilla García 2005, zu Letzterem im Besonderen Fernández Lorences 2010, zum Rumänischen (und anderen Sprachen) Ulrich 1985.
3.8.3 Verknüpfung von Propositionen: Kohärenz und Kohäsion Die Verknüpfung von Propositionen schafft Kohärenz. Diese kann explizit ausgedrückt werden, dafür haben Halliday/Hasan 1976 den Terminus Kohäsion eingeführt. Die Kohäsion wird gerne als formale Beziehung dargestellt, die einen Text zu einem Gefüge mache und von der Kohärenz zu unterscheiden sei. Kohäsion ist die Herstellung einer allgemeinen Beziehung zwischen einem nachfolgenden und einem vorausgehenden Textsegment. In der Gegenüberstellung von Kohäsion und Kohärenz
3.8 Textkonstitution
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werden formale Aspekte von textinhaltlichen getrennt. Da man in der einzelsprachlichen Linguistik signifiant und signifié miteinander verbindet, sollte man dies ebenfalls auf Diskurs- und Textebene tun. In einer Diskurs- und Textsemantik gehören beide zusammen, jedoch kann man, wie immer in einer Untersuchung, eine partialisierende Perspektive einnehmen. In der begrifflichen Gestalt von Kohärenz und Kohäsion tritt der Diskurskontext in Erscheinung, der durch das vorher Gesagte und durch das im Text Folgende zu bestimmen ist. Durch eine Vorankündigung werden die Erwartungen auf ihre Erfüllung hin gespannt. Dabei unterscheidet sich der Diskurskontext durch seinen endophorischen, d. h. anaphorischen oder kataphorischen, Verweis vom exophorischen oder deiktischen, mit dem der Bezug zur unmittelbaren Situation hergestellt wird (cf. die etwas andere Betrachtung bei Brown/Yule 1983: 190–201; Maingueneau 42003: 175–219). Bei der pronominalen Anapher wird der Textzusammenhang sowohl durch ein signifié als auch durch das mit einem Pronomen Bezeichneten hergestellt. Die Anapher funktioniert nicht nur über Substitute im Text, wie man einmal geglaubt hat – dies könnte am ehesten noch der Fall sein bei unmittelbar aufeinanderfolgenden Propositionen –, sondern über den Aufbau einer mentalen Repräsentation durch das Fortschreiten des Diskurses. Die Leistung der Anapher zeige ich an Le avventure di Pinocchio auf. In typischer Weise werden in diesem Anfang einer traditionellen Erzählung definite Wortgruppen mit dem unbestimmten Artikel eingesetzt. “C’era una volta … – Un re! – diranno subito i miei piccoli lettori. No, ragazzi, avete sbagliato. C’era una volta un pezzo di legno. Non era un legno di lusso, ma un semplice pezzo da catasta che d’inverno si mettono nelle stufe e nei caminetti per accendere il fuoco e per riscaldare le stanze. Non so come andasse, ma il fatto è che un bel giorno questo pezzo di legno capitò nella bottega di un vecchio falegname, il quale aveva nome mastr’Antonio, se non che tutti lo chiamavano maestro Ciliegia, per via della punta del suo naso, che era sempre lustra e paonazza, come una ciliegia matura. Appena maestro Ciliegia ebbe visto quel pezzo di legno, si rallegrò tutto; e dandosi una fregatina di mani per la contentezza, borbottò a mezza voce: – Questo legno è capitato a tempo: voglio servirmene per fare una gamba di tavolino” (Collodi 1968: 3–4).
Mit “una volta” wird eine Zeit eingeführt, die keine weitere Erklärung erfährt und erfordert, so auch nicht “Un re”. Auch “un pezzo di legno” wird in der üblichen Weise mit dem unbestimmten Artikel eingeführt, die substitutiven Negierungen der Eigenschaften dieses Stück Holzes ebenfalls, weshalb “un pezzo di legno” mehrmals wiederholt wird. In der ersten Anapher wird es mit einem Demonstrativpronomen zu “questo pezzo di legno”, in der zweiten Anapher nun mit einem anderen, eine größere Entfernung anzeigenden Demonstrativpronomen mit “quel pezzo di legno” bezeichnet. Davon ist das deiktische “Questo legno” in der direkten Rede von Maestro Ciliegia
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3 Der Diskurs
zu unterscheiden, der in einer fiktionalen unmittelbaren Situation spricht. Im Gegensatz dazu stehen die Personen der Erzählsituation, das Erzähler-Ich und die kleinen Leser. Der Tischler verweist substitutiv mit -ne in servirmene auf das Stück Holz und ein weiteres Mal mit einem lexikalischen Substitut in “una gamba di tavolino”. In einen Kontrast zu dem Anfang von Le avventure di Pinocchio setze ich den in 3.8.2 zitierten Anfang von El general en su laberinto. Da kein Erzähler die Szene einführt, sondern wir als Leser unmittelbar an ihr teilhaben, sind alle Elemente der Situation bestimmt, José Palacios und der General, die Badewanne und der Tee. Nur “uno de sus muchos modos de meditar”, “con voz sorda”, “con un ímpetu de delfín” und einige andere sind nicht definit, sie verweisen gleichwohl auf ein als bekannt vorausgesetztes Diskursuniversum. Letztlich müssen wir die Kohärenz als eine Sache der Textsemantik auffassen, die einen materiellen Audruck in der Kohäsion erhalten kann, aber nicht muss. So kann in einem Diskurs eine Erfahrungswelt über die Darstellung von bezeichneten Gegenständen und Sachverhalten aufgebaut und mit bloßer Linearität zuwege gebracht werden wie in den folgenden Sätzen: “Janine suivait sans répondre. Le vent avait presque cessé. Le ciel se découvrait par endroits. Une lumière froide, brillante, descendait des puits bleus que se creusaient dans l’épaisseur des nuages” (Camus 1966: 22). ‚Janine folgte, ohne zu antworten. Der Wind hatte sich fast gelegt. Der Himmel klarte hie und da auf. Ein kaltes, glänzendes Licht fiel aus den blauen Schächten herab, die sich in die dichten Wolken hineinbohrten.‘
Als formales Mittel der expliziten Herstellung von Kohäsion zwischen den beiden letzten Propositionen dient hier nur qui. Camus reiht einige Sachverhalte aneinander, die durchaus in einer anderen Reihenfolge vorkommen könnten, da man sie sich als parallele Sachverhalte vorstellt. Es reicht aus, dass die Sachverhalte hier bezeichnet werden, die Beziehungen zwischen ihnen müssen nicht notwendigerweise explizit formuliert werden, da sie wie im vorliegenden Fall durch das Sachwissen zusammengehalten werden können. Kohärenz kann also ohne Kohäsion nur über die Bezeichnung hergestellt werden. Im Anschluss kommen wir zu einigen Verfahren, mit denen Kohäsion hergestellt wird. Dazu gehören der Textverweis und besonders die Anapher (3.8.3) und die Isotopie (3.8.6).
Bibliographischer Kommentar
Als Beispiele für Untersuchungen sei auf Ernst 2003 zum Französischen und Bustos Gisbert/Gómez Asencio (eds.) 2014 (mit Diskursmarkern in der geschriebenen Sprache) zum Spanischen hingewiesen.
3.8 Textkonstitution
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3.8.4 Diskursmarker Wohl bei keinem Thema wird der Unterschied zwischen Einzelsprache und Diskurs so sinnfällig wie bei den Diskursmarkern. Der einzelsprachlichen Klassifikation in Grammatiken und Wörterbüchern zufolge handelt es sich um Adverbien, adverbiale Redewendungen, Konjunktionen, Pro-Formen, kurze Sätze oder Interjektionen. In ihrer Funktion als Diskursmarker erschließt sich ihre Verwendung auf Satzebene in grammatischer Hinsicht (1.4.5) aber nicht, sondern vielmehr als Äußerung, als Element der Textverknüpfung, als Steuerung des Verständnisses einer Äußerung zwischen Sprecher und Hörer sowie anderes mehr. Diese Verwendungsvielfalt macht es begreiflich, dass die Erforschung dieses Themas bei mehreren spezifischen Fragestellungen einsetzte, die erst im Nachhinein in ihrem Zusammenhang verstanden wurden. Es ist früh erkannt worden, dass deutsche Abtönungspartikeln wie denn, doch, eben, halt, ja, mal im Französischen keine genauen Entsprechungen haben (Weydt 1969). Umgekehrt wurden im Französischen Wörter und Wortkombinationen wie alors, puis alors, et puis alors, oh, ah, quoi, hein usw. bei der Erforschung der gesprochenen Sprache untersucht, denen nichts Ähnliches im Deutschen entspricht (Gülich 1970); im Diskurskontext markieren sie beim Erzählen und im Dialog die Eröffnung, sie gliedern den Text, markieren Unterbrechungen, die Informationsstruktur oder den Schluss. Die Anregungen aus der französischen Sprachwissenschaft wurden sogleich in der italienischen weiterverarbeitet. Das folgende Beispiel ist dem Mitschnitt eines Rundfunkinterviews von 1981 zwischen dem Moderator Luciano Luciniani und dem Werbefachmann Gianni Baroncelli (B) entnommen. Darin markieren (,) eine sehr kurze und (,,) eine kurze Pause. Die sich anschließende Übersetzung ist absichtlich textnah gehalten, damit die Diskursmarker auch in der Übersetzung identifizierbar bleiben. “B: Sono a Genova. Eh (,) ti dicevo Luciano che (,) eh recentemente attraverso cioè dei grossi mass-media (,,) eh la pubblicità è stata di nuovo chiamata (,) eh come responsabile (,) di avere (,) eh sostenuto la commercializzazione di certi prodotti discutibili. Ora (,) eeeh in effetti (,) in effetti (,) tutto nel mondo progredisce (,,) anche la comunicazione pubblicitaria (,) credo che abbia avuto un certo progresso” (Radtke 1983: 174). ‚B: Ich bin in Genua. Em (,) ich sagte Luciano dass (,) em jüngst durch also starke Massenmedien (,,) em die Werbung wieder (,) em verantwortlich (,) gemacht worden ist (,) em die Vermarktung einiger problematischer Artikel gefördert zu haben. Nun (,) eeem alles in der Welt macht in der Tat (,) in der Tat (,) Fortschritte (,,) auch die Kommunikation in der Werbung (,) glaube ich hat einen Schritt nach vorn gemacht.‘
B verwendet im ganzen Interview mit hoher Frequenz “eh” als Überbrückung (oder „stimmhafte Pause“, Gülich 1970: 267–276), die vor “dei grossi mass-media” durch “cioè” verstärkt wird. Mit “Ora” als Eröffnungssignal wird ein neues Thema eingeführt, der Fortschritt in der Werbung, was einerseits durch die einmal wiederholte
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3 Der Diskurs
Abtönungspartikel “in effetti” verstärkt, andererseits durch “credo che” abgeschwächt wird. Andere Partikeln wurden Konnektoren genannt, weil sie dazu beitragen, Sätze oder Propositionen zu Texten zu verknüpfen. Während der Text von Camus im vorangehenden Kapitel nicht durch Verfahren der Textverknüpfung zusammengehalten wird, sondern nur durch die bezeichneten Sachverhalte, wirken die adversative Konjunktion ma und die finale bzw. kausale Präposition per im Textauszug aus Collodi kohäsiv. Die Konjunktionen, Präpositionen, Adverbien und komplexen Ausdrücke dienen also über ihre grammatischen Funktionen hinaus der Konnexion oder Textverknüpfung und steuern das Sinnverstehen. Diese Funktionsunterschiede in Satz, Diskurs und Text bedingen die unterschiedlichen Abgrenzungen der Konnektoren in der Fachliteratur. Etwas mehr Klarheit könnte wohl dadurch erreicht werden, dass man als Kriterium die Textverknüpfungsrelation und nicht die Wortarten zugrunde legt. Damit sollte klargestellt sein, dass dieselben Partikeln verschiedene Textfunktionen erfüllen können. So erscheint das Adverb pues im folgenden Austausch zwischen zwei Sprechern A und B als pragmatischer Konnektor: “A: si te lo he dicho de broma B: pues no me gustan las bromas” (Briz Gómez 22001: 174). ‚A: hab ich doch nur im Spaß gesagt B: ich mag aber keine Späße.‘
Hier markiert “pues” den ausdrücklichen Bezug auf den Satz von A als Antwort von B, verbunden mit der Zurückweisung der in der Äußerung enthaltenen Abschwächung. Am meisten hat sich für diese Funktion Diskursmarker durchgesetzt, ein von Schiffrin (1987) propagierter Terminus, der sich wegen seiner Allgemeinheit empfiehlt. Die besondere Relevanz eines Kapitels über Diskursmarker im Rahmen einer Analyse des Diskurses ist darin zu sehen, dass sie in gesprochener Sprache Interpretationshinweise des Sprechers für den Hörer liefern. Dies geschieht zwar auch in der geschriebenen Sprache, aber in anderer Weise und im Allgemeinen seltener. So erfordern geschriebene Texte eher Interpretationshilfen, wenn sie schwierig sind oder wenn man dem Verständnis nicht mit parasprachlichen Mitteln nachhelfen kann. In gesprochener Sprache kann man aber die höhere Dichte der Diskursmarker der Diskursivität zuschreiben, denn die Zeitlichkeit, in der das Sprechen steht, verlangt eine stärkere Steuerung. Einen geschriebenen Text kann man hingegen so oft lesen, bis man ihn verstanden hat, wenn es einem unbedingt darauf ankommt. Mit anderen Worten: das Verstehen des Sinns des Diskurses und des Textes wird auf je eigene Weise durch die Diskursmarker erleichtert.
3.8 Textkonstitution
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Bibliographischer Kommentar
Auf den Ursprung der Untersuchung der Diskursmarker in der einzelsprachlichen Verschiedenheit wurde mit Weydt 1969 und Gülich 1970 hingewiesen. Die kontrastive und gerade auch übersetzungswissenschaftliche Perspektive – vertreten durch Hölker 1988 zum Französischen, Weydt (Hrsg.) 1989 (darin u. a. vergleichende Beiträge zum Französischen, Portugiesischen und Rumänischen) und Métrich/Faucher 2009 zu den französischen Äquivalenten deutscher Partikeln – ist bei diesem Forschungsthema dominant geblieben, es fehlen aber auch einzelsprachliche Untersuchungen und Bestandsaufnahmen nicht. Der Terminus Diskursmarker wurde durch Schiffrin 1987 verbreitet. Theoretische Überlegungen, Problematisierungen und Forschungsbericht dominieren z. B. in Bieber 1988 (mit Französisch), Cambourian (Hrsg.) 2001, Waltereit 2006 (romanische Sprachen) und Kallen-Tatarova 2013 (Französisch). Die von romanischen Adverbien ausgehende Grammatikalisierung stellen Gil 1995 (Spanisch, Französisch, Italienisch), Sonntag 2005 (Französisch und Spanisch) und Garcés Gómez (ed.) 2013 (Spanisch) in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. In Drescher/Frank-Job (eds.) 2006 finden sich Einzeluntersuchungen zum Französischen und anderen romanischen Sprachen. Ferner zum Italienischen Bazzanella 22001, zum Katalanischen Gorǎscu 1983, Marín Jordà 2005 und Cuenca 2006, zum Spanischen (und kontrastiv) Pons Bordería 1998 (informelles Register), Martín Zorraquino/ Portolés Lázaro 1999, Montolío 2001 (Schriftsprache), Fuentes Rodríguez 2009 (Wörterbuch), Landone 2009 (Höflichkeit), Loureda Lamas/Acín Villa (coords.) 2010, Aschenberg/Loureda Lamas (eds.) 2011, Hummel 2012. Diese bibliographischen Beispiele mögen die Vielseitigkeit der Perspektiven verdeutlichen, aus denen die Diskursmarker, mit diesem oder einem anderen Terminus, untersucht worden sind.
3.8.5 Textverweis An dieser Stelle rekapituliere ich mehr oder weniger ein Thema, das bereits am Beispiel von einigen Textauszügen angesprochen worden ist. In schwach geplanter mündlicher Rede werden Wörter und grammatische Formen häufig wiederholt. Es kann dabei wichtig sein, ob der Sprecher oder der Angesprochene etwas wiederholt, weil der Sinn der Wiederholung in beiden Fällen verschieden ist. Ein typischer Fall von insistenter Wiederholung besteht darin, dass ein Sprecher etwas wiederholt, weil er unterbrochen worden ist. In geschriebenen Texten, die mehr oder weniger stark geplant sind, werden Wiederholungen weniger toleriert und daher ist die einfache Wiederholung (Rekurrenz), die folglich nicht zum Textverweis führt, hier nicht zu behandeln, sondern die teilweise Wiederholung (partielle Rekurrenz), die Wortersetzung (Substitution), die Pronominalisierung und die Auslassung (Ellipse), denn wenn wir es mit bloßer Wiederholung zu tun haben, liegen weder Anapher noch Katapher vor. Die Personal-, Possessiv- und Demonstrativpronomina werden in diesem Zusammenhang nur in ihrer textphorischen Funktion betrachtet, nicht in ihrer deiktischen. In semantischer Hinsicht können die Textverweise über das Bezeichnete bzw. den Referenten verbunden sein oder die einzelsprachliche lexikalische Bedeutung (Maingueneau 42003: 196–199). Dabei kann ein getreuer Textverweis von einem nicht getreuen unterschieden werden, wie er bei der Hypero- und Hyponymie sowie bei assoziativen Relationen wie der metonymischen vorliegt.
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3 Der Diskurs
Im Hinblick auf die grammatische Strukturierung (1.4.5) kann sich ein Textverweis auf ein Textsegment, eine Proposition, eine Wortgruppe, d. h. eine nominale, verbale oder adjektivische Wortgruppe oder ein minimales Element beziehen. Der nominale Textverweis, bei der Substantive oder substantivische Wortgruppen wiederaufgenommen werden, stellt die größte Gruppe dar. Diese Beziehung kann aber daneben auch gerafft über ein interpretierendes Element hergestellt werden, also auf einer reflexiven Ebene.
3.8.6 Isotopie Die Idee der Isotopie, die das Textthema und den Textverweis impliziert, führte Greimas (1966: 69–101) in die Linguistik vor der Konstitution der Textlinguistik ein. Bei ihm stand die Terminologie der Chemie Pate. Isotopie ist dort die Eigenschaft von Isotopen, die Abarten eines chemischen Elements mit gleicher Ordnungszahl, aber verschiedener Massenzahl sind. Mit dieser Aussage werden wohl Laien dieses Fachs nicht viel anfangen können. Wir sehen jedoch, dass die Analogie zur Sprache nur sehr entfernt gegeben ist. Oder, besser gesagt, die Tatsache, dass der „gleiche Ort“ sich durch etwas hinzieht, wie es der Terminus im Allgemeinen besagt, ist erhellender als seine spezifische Anwendung auf die Chemie. So besteht die Isotopie eines Diskurses in der Wiederholung von morphologischen Strukturen (Greimas 1966: 69–70), was von Rastier dahingehend präzisiert wird, dass sie als ‚Wiederholung einer beliebigen sprachlichen Einheit‘ (“itération d’une unité linguistique quelconque”, 1972: 80) zu definieren ist. Sie ist auf syntagmatischer Ebene gegeben, jedoch an keine bestimmte syntaktische Strukturierung wie Wort, Wortgruppe oder Satz gebunden (cf. 1.4.5). Man kann sie auf phonologischer Ebene als Assonanz, Alliteration oder Reim, auf syntaktischer Ebene als Konkordanz, die durch redundante Markierungen (Morpheme) ausgedrückt wird, und auf semantischer Ebene als Äquivalenz feststellen. Von diesen Möglichkeiten wird in textsemantischer Hinsicht hier nur die dritte in Betracht gezogen (cf. Eco 1979: 92–101). Daher schließt die Darstellung der Isotopie an die Kapitel zum Wortinhalt in 2.3.3 und zum allgemein-sprachlichen Inhalt in 1.4.2 an. Die semantische Äquivalenz wird mit allgemeinen Bedeutungen wie denen der Klasseme oder, spezifischer, wie der Seme oder unterscheidenden Züge (2.3.3) über das Bezeichnete hergestellt. Dabei offenbart sich im Diskurs oder Text, dass nicht die Klasseme oder Seme einer abstrakten Merkmalssemantik relevant sind, sondern diese Inhalte, wie sie konkret im Diskurs oder Text in Erscheinung treten. Um diese Inhalte zu zeigen, greifen wir auf das Beispiel aus Zolas Roman Rome zurück, das für die Veranschaulichung der erlebten Rede verwendet wurde (3.6.2). Wir stehen wieder mit der Hauptgestalt des Romans auf dem Gianicolo rechts des Tibers, haben San Pietro in Montorio hinter uns und schauen auf die sieben Hügel Roms.
3.9 Sprechakte
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Eine Isotopie besteht zwischen dem jungen Priester Pierre, den Possessivpronomina (sa, son) und den Formen des Persononalpronomens der dritten Person il, lui und le. Diese Isotopie wird mit einer anderen zusammengeführt, einer gleichfalls durch einen Eigennamen vertretenen Isotopie, Rome, die bei der Einführung einmal wiederholt wird. Klassematisch betrachtet werden also ‚Person‘ und ‚Sache‘ kontras tiert, wobei Rome als Ziel der begeisterten Begegnung des Priesters mit der vor ihm liegenden Stadt in einer Steigerung syntagmatisch amplifiziert wird. Chronologisch nimmt er die Stadt als “la ville des Césars” und als “la Ville des Papes” wahr, Wortgruppen, die in “la Ville éternelle qui deux fois a conquis le monde” die nominalen Bestimmungen “des Césars” und “des Papes” inferentiell wiederholen, um zu erklären, warum die Stadt “éternelle” genannt wird. Diese beiden Isotopien werden in “la Ville prédestinée du rêve ardent qu’il faisait depuis des mois” zusammengefasst, verbunden durch eine Partizip-Perfekt-Konstruktion, die durch einen Relativsatz näher bestimmt wird. Nach der Beschreibung des frischen Septembermorgens verstehen wir, dass auch dieser mit “noyée de douceur” in der Wortgruppe “une Rome noyée de douceur” wiederholt wird, wie auch “du songe” in “une Rome du songe” Pierres Romträume aufgreift. Die Stadt wird metaphorisch zum “colosse vivant” und metonymisch zu “ce sol”, dessen Bestimmung “fait de la poussière des générations” in “Chaque siècle en a renouvelé la gloire” variierend wiederaufgenommen wird, was eine Wiederholung durch einen Vergleich findet in “comme sous la sève d’une immortelle jeunesse”. “Et ce qui le saisissait” wird erneut in “ce qui faisait battre son cœur plus fort, à grands coups” umschrieben und nimmt den Sachverhalt, auch er ein Klassem, von “regardait de toute sa vue, de toute son âme” in der ersten Zeile des Textauszugs wieder auf, wie auch die präpositionale Wortgruppe “dans cette première rencontre” mit dem Folgenden die ganze Szene mit ihren Implikationen noch einmal zusammenfasst. Man könnte mit den Isotopien dieses Textbeispiels fortfahren, denn sie werden ständig zusammengeführt und überschneiden sich deshalb. Hierbei sind die semantischen Beziehungen zwischen “ville” und “Rome” ebenfalls funktionell wie die über das Weltwissen gesteuerten zwischen “la Ville éternelle” und “la ville des Césars”, “la Ville des Papes”, die Metapher “colosse vivant” (die die Klasseme ‚Sache‘ und ‚Lebewesen‘ verbindet), von den folgenden Sätzen ganz zu schweigen. Weiteres über den Zusammenhang von Bezeichnung und Bedeutung wird noch einmal in 3.11 ausgeführt. Wer die analogen isotopischen Beziehungen im Italienischen untersuchen möchte, kann dies am Beispiel aus Collodi (3.8.3) und im Fall des Spanischen am Beispiel von Las Casas (3.10.2) tun.
3.9 Sprechakte Die Sprechakttheorie wurde nicht im Rahmen der Untersuchung von Diskurstraditionen entwickelt, sondern in der Philosophie der Alltagssprache und erst später in die unterschiedlichsten Sprachauffassungen integriert. Daher ist kurz auf ihre Ent-
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stehung einzugehen, um sie danach im Zusammenhang einer der drei Ebenen des Sprachlichen zu behandeln. Das Problem der Sprechakte (engl. speech act, frz. acte de langage, kat. acte de parla, pt. acto locutório, sp. acto de habla, it. atto linguistico, rum. act de vorbire, die nicht die einzigen Termini sind) ist in der Philosophie der Alltagssprache bzw. der sprachanalytischen Philosophie aufgekommen. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung, wenn auch nicht der erste, ist Ludwig Wittgenstein (1889–1951), besonders in seinen Philosophischen Untersuchungen (1971). Er untersucht nicht die Wirklichkeit oder die Welt an sich, sondern die Bedeutungen und Aussagen, mit denen wir in der natürlichen oder Alltagssprache über die Sachverhalte sprechen. In dieser Tradition steht J. L. Austin mit seinen 1955 an der Harvard University gehaltenen Vorlesungen, die unter dem Titel How to do things with words 1962 postum veröffentlicht worden sind. Auch bei ihm ist der Ausgangspunkt ein logisches Problem: Sätze seien Aussagen (“statements”), die einen Sachverhalt darstellten und wahr oder falsch seien. Im Sinne der sprachanalytischen Philosophie verlagert nun Austin das Problem von den Sätzen auf die Äußerung von Sätzen, die Handlungen sind, z. B. “I name this ship the Queen Elizabeth”, “I give and bequeath my watch to my brother” (21976: 5). Die Tatsache, dass es solche Sätze gibt, führt Austin zu einer wichtigen Unterscheidung: Sätze oder Äußerungen, mit denen man nicht nur etwas sagt, sondern eine Handlung ausführt, sind performative Sätze bzw. Äußerungen; Aussagen, die diese Eigenschaft nicht haben, sind konstative Sätze. Performative Sätze sind nicht wahr oder falsch, denn mit ihnen werden Handlungen vollzogen und nicht Sachverhalte festgestellt. Deshalb müssen solche Sätze nach anderen Kriterien beurteilt werden: Eine Sprechhandlung ist nicht wahr oder falsch, sondern sie glückt oder misslingt. Austins Argumentation möchte ich nicht weiterverfolgen. Einen Hinweis verdient aber doch die Verdeutlichung des Sinns eines Sprechakts. Es ist einleuchtend, dass das eigentlich interessante Problem die Tatsache ist, dass Äußerungen performativ sein können, sie können implizit oder explizit performativ sein. Von Belang für die Explikation des Sinnes sind die explizit performativen Äußerungen. Was er darunter versteht, erläutert er folgendermaßen: “they (all) begin with or include some highly significant and unambiguous expression such as ‘I bet’, ‘I promise’, ‘I bequeath’ –an expression very commonly also used in naming the act which, in making such an utterance, I am performing– for example betting, promising, bequeathing, &c.” (21976: 32). Diese Ausdrücke interpretieren die entsprechenden sprachlichen Handlungen. Sie interpretieren immer, in ganz bestimmten Verwendungen vollzieht man zugleich eine Handlung. Der entscheidende Anstoß in der Frage der Sprechhandlungen ging zwar von Austin aus. Allgemein bekannt wurde dieses Problem gerade bei den Sprachwissenschaftlern aber erst durch John Searles Werk Speech acts (1969), das inzwischen in alle wichtigeren Sprachen übersetzt worden ist. In seiner Folge werden die Äußerungen, mit denen Handlungen vollzogen werden, „Sprechakte“ genannt. Was er darunter versteht, formuliert er in der folgenden Grundannahme: “speaking a language is per-
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forming speech acts, acts such as making statements, giving commands, asking questions, making promises, and so on; and more abstractly, acts such as referring and predicating; and, secondly, that these acts are in general made possible by and are performed in accordance with certain rules for the use of linguistic elements” (1969: 16). Seine Untersuchungsmethode ist ebenfalls sprachanalytisch. Folglich versteht er sein Werk als Beitrag zur Sprachphilosophie, nicht zur Sprachwissenschaft. Tatsächlich geht es nicht um eine eigentlich sprachwissenschaftliche Frage, d. h. nicht sprachliche Zeichen mit Form und Bedeutung stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern das Sprechen im Allgemeinen als regelgeleitete Form des Verhaltens ohne eine eigene Untersuchung der Beziehung zu einer Einzelsprache. Eine linguistische Beschäftigung mit den Sprechakten verbindet jedoch die Searlesche Sicht auf das Sprechen im Allgemeinen mit der einzelsprachlichen Untersuchung der ihnen dienenden sprachlichen Zeichen und Strukturen sowie ihrer Realisierung im Diskurs. So wird eine eigentlich linguistische Analyse erst nach Searle geleistet (z. B. Levinson 1983: 226–283). Später hat Searle noch zwischen direkten und indirekten Sprechakten unterschieden. So sind Sprechakte “cases in which one illocutionary act is performed indirectly by way of performing another” (1975: 60). Als Beispiel gibt er eine Frage, die als freundliche Aufforderung gemeint ist. Diese Fälle kann man vielleicht besser als Sprechaktpotentiale von Äußerungskategorien beschreiben (1.4.5.2); diese sind nicht distinkt, sondern überlappen sich (Kerbrat-Orecchioni 2001: 33–52). Sprechakte funktionieren in einer unmittelbaren Situation. Die an ihr Teilhabenden, Ich und Du, sind unmittelbar betroffen und werden typischerweise beide genannt. Der reflexive Bezug auf die Äußerung kann ausdrücklich mit dt. „hiermit“, frz. “par la présente” usw. vorgenommen werden. Alle anderen Verwendungen von Sprechaktverben gelten als deskriptive Verwendungen. Es ist angemessener, diese nicht deskriptiv zu nennen, sondern von einer expliziten Sinndeutung zu sprechen. In einem solchen Fall wird eine Sprechhandlung interpretiert, aber nicht vollzogen. Dagegen wird ein Sprechakt bei einer performativen Verwendung eines Sprechaktverbs sowohl vollzogen als auch interpretiert. Die von Austin und Searle gegebenen Beispiele sind idealisiert. Es ist nicht klar, wie diese in eine unmittelbare konkrete Situation eingebettet werden. Daher wähle und beschreibe ich kurz ein erlebtes, d. h. nicht idealisiertes Beispiel für einen Sprechakt. Zur unmittelbaren Situation gehört der Ort in einem Hochgeschwindigkeitszug von Paris nach Bordeaux, in dem ein Ehepaar reist. Für die Benutzung eines TGV ist eine Reservierung in Frankreich obligatorisch. Die Zugbegleiterin stellt nun bei der Kontrolle fest, dass das Ehepaar sich zwar auf den richtigen Sitzplätzen niedergelassen hat, aber am falschen Tag, denn die Reservierung galt für den nächsten Tag. Da in dieser Situation die Sitzplätze nicht reserviert waren, löste die Zugbegleiterin das Problem ad hoc durch einen Sprechakt, indem sie sagte: “Je vous accepte dans mon train” (‚Ich akzeptiere Sie in meinem Zug‘). Mir ist nicht bekannt, ob dieser Sprechakt eine offizielle Formulierung ist. Letztlich ist das aber nicht wichtig, denn es kommt
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darauf an, dass man ein in einer Situation entstandenes Problem durch performatives Sprechen, eben durch einen Sprechakt beheben kann und dass dieses performative Sprechen tatsächlich unmittelbar wirksam wird. In diesem Beispiel finden wir die Grundelemente eines Sprechakts. Damit er gelingt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Die Zugbegleiterin ist dafür legitimiert und sogar dazu verpflichtet, dass die Ordnung in ihrem Zug eingehalten wird. Diese stellt sie durch ihren Sprechakt wieder her, der sich auf die beiden Reisenden bezieht, die zusammen ihre Gesprächpartner sind, auf den Ort, d. h. den Zug, und impliziert während der Äußerung des Sprechakts den Zeitpunkt, zu dem und von dem an ihr Sprechakt gilt.
3.10 Textsorten, Texttypen, Textgattungen, Diskursgattungen „Text“ kann man mindestens in zweierlei Weise verstehen. Wir hatten jedes Produkt des Sprechens und Schreibens Text genannt. Wenn man aber einen Text produziert, wendet man keine Verfahren an, die nur für diesen bestimmten Text gelten, der gerade geschrieben wird, sondern grundsätzlich für alle diejenigen Texte, die dem aktuellen vergleichbar sind. Schreibt jemand zum Beispiel einen Roman, wendet er Erzähltechniken an, die in anderen Romanen bereits vorher erprobt wurden. Für „Text“ in dieser Hinsicht gebraucht man den Terminus Gattung oder literarische Gattung. Dazu gehören etwa Erzählung, Novelle, Kurzgeschichte, Essay, Tragödie, Sonett einschließlich der volkstümlichen Gattungen Märchen, Volkslied und Rätsel. Hierzu verweise ich allgemein auf Einführungen in die Literaturwissenschaft und insbesondere in die Gattungstheorien. Trotz der Vielfalt der literarischen Gattungen erschöpfen sie sich aber damit nicht als Gattungen überhaupt. So finden sich unter den schriftlichen Textgattungen auch Brief, Bericht, Gesetz, Annonce, Gebrauchsanweisung und Regelung etwa in der Verwaltung. Im Falle der Gebrauchsanweisung oder der Annonce sind wir so weit von den literarischen Textgattungen entfernt, dass viele sich scheuen, in diesen sehr verschiedenen Arten von Texten Gemeinsamkeiten zu sehen, die unter die Textgattungen gefasst werden könnten. Man hat deshalb einen weiteren sehr allgemeinen Oberbegriff geprägt, den der Textsorte oder des Texttyps, der vorzugsweise nicht-literarische schriftliche und mündliche Arten von Texten umfasst. Zu den mündlichen Textsorten gehört das Gespräch oder die Unterhaltung, das Telefongespräch, das Verkaufsgespräch, das Beichtgespräch, das Interview, die Diskussion oder die Wegauskunft. Bei allen diesen Textsorten muss man die Verfahren kennen, nach denen sie angemessen zu realisieren sind. Auch die Interjektionen wie z. B. die Schmerzensschreie können eine übereinzelsprachliche Form haben: frz. Aïe!, it. Ahi!, kat. pt. Ai!, sp. ¿Ay! Neben den genannten schriftlich oder mündlich vorkommenden Texten gibt es Formen des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit oder umgekehrt. Ein Verhör ist eine mündliche Textsorte, der jedoch ein schriftliches Konzept vorausgehen
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oder von der eine schriftliche Fassung in der Form eines Protokolls angefertigt werden kann. Wesentlich häufiger ist wohl der Fall der schriftlichen Konzeption eines Textes, der mündlich in einer Vielfalt von Formen vorgetragen wird als Vorlesung, Referat, Präsentation, Ansprache, Predigt, Rundfunk- oder Fernsehnachricht. Die Verfahren der Gestaltung von Textsorten sind meist unabhängig von den Einzelsprachen und müssen daher gesondert gelernt werden. Beherrscht man eine in einer Einzelsprache gelernte Textsorte, kann man dieses Wissen mehr der weniger direkt auf die Produktion einer Textsorte in einer anderen Sprache übertragen. Textsorten entstehen zwar in einer einzelsprachlichen Gemeinschaft, sie können aber leicht in andere Sprachgemeinschaften eingeführt werden. Die lateinischen Textsorten waren die wichtigsten Textmodelle in der Frühzeit der romanischen Sprachen, auch die lateinischen Rhetoriken dienten von der Renaissance an dem Ausbau von Textgattungen. Aber Vorbilder waren sich die romanischen Sprachen auch gegenseitig. Man denke an das Sonett und die Novelle in der italienischen Renaissance, das Drama des Siglo de Oro in Spanien, die Literatur der englischen und französischen Aufklärung. Nicht unerwähnt soll die den Alltag prägende Rechts- und Verwaltungssprache bleiben, die ihre Wurzeln in der lateinischen Sprache des Mittelalters hat und maßgeblich für die frühen Textvorbilder in den romanischen Sprachen und darüber hinaus wurden. Deshalb sind die einzelsprachlichen Rechts- und Verwaltungssprachen untereinander relativ ähnlich geblieben. Textgattungen haben also eine von der Geschichte der Einzelprachen sehr verschiedene eigene Geschichte und eine nach Sprachgemeinschaften unterschiedliche Verbreitung. Dass mehrere Sprachgemeinschaften dieselbe Textsorte kennen, lässt sich gut an besonders kurzen Texten zeigen, wie mit dem Schmerzensschrei angedeutet wurde. Legt man die Einzelsprache zugrunde, so kann man die Textgattungen oder Textsorten als Wortfeld untersuchen (Loureda Lamas 2003 zum Spanischen). Unabhängig von der Art der Benennung von Textsorten stellt sich für Texttypologen das Problem der Klassifikation von Texten. Dabei geriet in den Vordergrund der Betrachtung, dass Texte weder stets eindeutig einer einzigen Gattung noch einer Textsorte zugeordnet werden. Daraus hat man den etwas zu voreiligen Schluss gezogen, die Texttypologien aufzugeben und sie durch Diskursgattungen zu ersetzen (Adam 2004: 81–84). Dieser gewiss richtige Gedanke geht darin zu weit, dass mit der Ablehnung der Texttypologie, wie sie betrieben wurde, auch die Textgattungen abgelehnt werden, denn diese existieren nun einmal im Wissen der Sprecher und deshalb müssen wir dieser Tatsache Rechnung tragen (zu den Anfängen dieser Fragestellung Gülich/Raible (Hrsg.) 1975, Werlich 21979 sowie als Beispiele für jüngere Überblicksdarstellungen Fix 22011 und Gansel 2011, zum Spanischen Loureda Lamas 22009 und als exemplarische Behandlung einer Textsorte die französischen Brieftraditionen und -normen in Große 2017). Andererseits sind die Texte in sich und die Textgattungen in ihren Realisierungen tatsächlich heterogen. Um eine gewisse Ordnung in die Darlegung zu bringen, können wir bei der linguistischen Interpretation vom Ganzen zu den einzelnen Textsorten und
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vom Text zu den Einheiten gehen, die einen Text konstituieren, oder den umgekehrten Weg einschlagen. Diesen zweiten Weg werde ich hier beschreiten. Für die Darbietung eines Themas gibt es mehrere Möglichkeiten. Ein Thema kann zum Beispiel erzählend, beschreibend oder argumentativ behandelt werden. Erzählen, Beschreiben und Argumentieren kann man mit Adam Diskursgattungen nennen. In diesen Diskursgattungen äußert sich etwa Las Casas in Brevísima relación de la destruición de las Indias über den Untergang der Indianer auf den Antillen. Wenn er erzählt, gibt er Beispiele von Geschichten, die er persönlich erlebt hat oder die ihm von anderen berichtet worden sind. Er beschreibt aber auch die Übergriffe der Spanier in Amerika und er stellt sie in anderen Fällen argumentierend dar, wenn er Vorschläge für die Abstellung von Fehlentwicklungen macht. Die Sequenztypen sind von begrenzter Zahl und konstitutiv für Diskursgattungen. Adam zufolge kann man das Erzählen, das Beschreiben, das Argumentieren, das Erklären und den Dialog unterscheiden. Jedoch konstituieren sich Texte nicht nach einem einzigen Sequenztyp, denn ihre interne Heterogenität ist in erheblichem Maße das Ergebnis der Integration verschiedener Sequenztypen in einen Text. Dabei kann man zwei Grundarten im Gefüge von Sequenztypen annehmen, die Sequenzeinschaltung (“insertion séquentielle”) und die Sequenzdominante (“dominante séquentielle”). Die Sequenzeinschaltung besteht darin, dass in einen bestimmten Sequenztyp ein anderer Sequenztyp eingefügt wird, z. B. eine Erzählung in eine Argumentation oder eine Beschreibung in eine Erzählung. Ein Beispiel für die Einschaltung einer Erzählung in eine Argumentation ist die Geschichte vom Tode Hatueys in der Brevísima relación von Las Casas. In ähnlicher Weise fügt Émile Zola im Roman Rome häufig Beschreibungen dieser Stadt ein, die sich aus der Perspektive Pierres ergeben, der Rom nach und nach kennenlernt (3.6.2). Bei diesen Sequenzen ist zu untersuchen, wie der Übergang von einer Sequenz zur anderen gestaltet wird. Eine Sequenzdominante besteht in einer Mischung von Sequenztypen, bei der ein Sequenztyp dominiert. Um das zu zeigen, kommen wir auf den Text Ériger Bruxelles en capitale de l’Europe von Antoine Wiertz zurück: “On sait ce que c’est qu’un effet de boule de neige: grosse d’abord comme le poing, la boule grossit, à mesure qu’on la roule. Ainsi naissent et grandissent les villes. Une maison a une sorte d’attraction qui en appelle une autre” (1997: 77). ‚Wir alle kennen den Schneeballeffekt: Zuerst faustgroß, wird der Schneeball beim Rollen immer größer. So entstehen und wachsen Städte. Ein Haus hat eine Art Anziehungskraft, die ein anderes nach sich zieht.‘
In dieser Weise wird der Text fortgesetzt. Man könnte dieses Verfahren für eine Erzählung halten, doch wird am Beispiel des Brüssels der Zukunft eine allgemeine Art und Weise des Wachsens von Städten beschrieben, daher das Präsens, und diese Beschrei-
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bung wird in einen argumentativen Zusammenhang eingefügt. Letztendlich geht es um eine Instruktion: Was muss man tun, damit Brüssel wächst? (Adam 32011 und 2004, Amossy 2000, Jeandillou 1997: 107–175). Für dieses Thema muss man erst sensibilisiert werden. Wer mit den Diskursgattungen und Textsequenzen noch nicht vertraut ist, dem wird die Unterscheidung der folgenden Grundtypen nicht unbedingt offensichtlich sein. Deshalb schlage ich als Methode der Annäherung vor, dass man sich zuerst in die Analyse der im Folgenden vorgestellten Beispiele hineinversetzt. Manche davon werden aus der Perspektive verschiedener Diskursgattungen analysiert, weil diese Lesarten in der Produktion der Texte selbst enthalten sind. Es kann aber auch sein, dass jemand schlichtweg eine Präferenz für das Erzählen, das Argumentieren oder eine andere Diskursgattung hat und diese dann gleichsam dem Text bei der Interpretation auferlegt. Dem Erzählen kommt eine besondere Stellung zu, wenn man der Presse glauben darf, die schreibt, dass wir in der Zukunft ein neues „Narrativ“ oder eine neue „Erzählung“ brauchen. Es müsste sich erst noch erweisen, ob es dabei wirklich um eine Art des Erzählens geht. Im Falle einer solchen Präferenz empfiehlt es sich umso mehr, dass man sich mit den Grundtypen bekanntmacht und danach zu verstehen versucht, welche Diskursgattung für die jeweilige Textsequenz leitend gewesen ist. Da diese Erkenntnis eng mit dem Verstehen des Sinns zusammenhängt (cf. 3.11), nähern wir uns einer Lösung am besten über den hermeneutischen Zirkel (1.0). Ein praktikabler Weg ist die Lektüre der Abschnitte 3.10.1–3.10.5, die erweiterte Einführung in dieses Thema findet sich bei Adam (32011, zur Sequenztypologie insbesondere 19–59) oder Brinker et al. (82014: 60–80) und schließlich die Vertiefung durch die monographische Behandlung der einzelnen Diskursgattungen, für die in den einzelnen Abschnitten Literaturhinweise gegeben werden, denn es ist wichtiger, für den Anfang die einzelnen Typen auseinanderzuhalten, statt sich darüber ausführlich oder gar erschöpfend zu informieren. Es ist damit zu rechnen, dass die Untersuchungen sich nicht nahtlos aneinander anschließen. Und zu bedenken ist auch, dass die Sequenztypen keinesfalls alle eindeutig identifiziert worden sind. Es bleiben also offene Fragen.
3.10.1 Dialog- oder Gesprächssequenz Der Dialog wird von Adam als Vertextungsequenz auf die gleiche Ebene gestellt wie die Erzählung und die anderen Sequenztypen, da sie genauso zusammengesetzt seien wie diese; für ihn ist diese Heterogenität ein entscheidendes Kriterium. Dennoch gibt es einen großen Unterschied, der bei dieser Sicht der Dinge nicht angemessen gewichtet wird: Die Verantwortung für die anderen Textsequenzen liegt normalerweise bei einem einzigen Sprecher oder Schreiber. In einem Dialog verteilt sie sich auf die Dialogpartner. Immer wieder wurde hier die Alterität der Sprache betont, die im Sprechen und Schreiben eines Einzelnen gegenwärtig ist. Doch lässt sich mit diesem Hinweis nicht die Tatsache beseitigen, dass die unmittelbare Situation grundsätzlich eine
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andere ist, wenn entweder ein Austausch zwischen Gesprächspartnern stattfindet oder nur einer spricht oder schreibt. Dass ein Sprecher oder Schreiber die Stimme des oder der Anderen verarbeitet oder die Anderen mit einbezieht, bedeutet gewiss noch nicht, dass die Stimmen eines Gesprächs mit den polyphon integrierten Stimmen eines Diskurses oder Textes identisch sind, für den nur einer die Verantwortung trägt. Da das Gespräch die Erscheinungsform von Sprache schlechthin ist, beginnen wir mit ihm als erstem Typ. Um die einführende Betrachtung einzugrenzen, wird die Vertextung auf eine Folge von Sprecherwechseln zwischen zwei Dialogpartnern beschränkt. Da der Dialog in einer Origo oder unmittelbaren Situation verankert ist, stellt sie die Kohärenz und Kohäsion der Redebeiträge sowohl im eigenen Redebeitrag als auch über eine Reihe von Redebeiträgen hinweg in der Interaktion zwischen den Gesprächspartnern her. Das Ausmaß von Kohärenz und Kohäsion variiert erheblich, aber ein Minimum muss gegeben sein, sonst unterbleibt irgendwann der Sprecherwechsel eines Dialogteilnehmers. Die kleinste Einheit des Dialogs ist der Sprecherwechsel oder Turn als Interaktionseinheit, nicht der Redebeitrag. Eine Dialogsequenz beginnt typischerweise mit der gegenseitigen Kontaktaufnahme bei ihrer Eröffnung und endet in der Regel ebenfalls im gegenseitigen Einvernehmen. Was einen Sprecherwechsel konstituiert, kann man allgemein Initiative und Reaktion nennen, insofern ist die Interaktionseinheit des Gesprächs grundsätzlich binär angelegt. Sie kann aber auch tertiär strukturiert sein, wenn auf die Reaktion eine Bewertung folgt. Wird das Gespräch nach der Bewertung nicht beendet, so ist diese das erste Element einer neuen Interaktionseinheit. Betrachten wir dazu, um die Komplexität des Themas elementar zu halten, ein Beispiel aus einer französischen Sammlung von Alltagsgesprächen für didaktische Zwecke. Diese Sammlung hat immerhin den Vorteil, nicht für eine textlinguistische Untersuchung konzipiert zu sein, sondern ihre Intention besteht darin, Musterdialoge für die Bewältigung von Alltagssituationen zu liefern. (Der Alltag sah vor ein paar Jahrzehnten noch anders aus, wie bald festzustellen sein wird.) Weiterhin ist es ein Vorteil, dass typisch sprechsprachliche Phänomene wie geringe Planung, gleichzeitiges Sprechen, Wiederholungen, Anakoluthe und dergleichen, die eine eigene Untersuchung erfordern, darin nicht vorkommen. Diese Phänomene gehören zwar fraglos zu einem typischen Gespräch, führen aber nicht zu dem spezifischen Thema hin, dem wir uns zuwenden wollen. Die Situation ist eine Begrüßung nach einer Bahnreise: “A1 – Bonjour Claudia, nous sommes contents de vous voir, vous avez fait bon voyage? B1 – Oui, merci, tout s’est bien passé. A2 – Vous devez être bien fatiguée!” (Gebhardt-Bernot 1988: 6). ‚A1 –Guten Tag, Claudia, wir freuen uns, Sie zu sehen. Haben Sie eine angenehme Reise gehabt? B2 – Ja, danke, es ist alles gut gelaufen. A2 – Sie sind sicher sehr müde!‘
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Nach der Bewertung “Vous devez être bien fatiguée!” könnte man ein Gespräch grundsätzlich beenden, wenn man will. Bei einer Begrüßung nach einer langen Bahnreise wird darauf aber eine Reaktion erfolgen und damit zu einer neuen Interaktionseineit übergeleitet. Es werden also weiterhin binäre Einheiten aneinandergereiht: “B2 – Non, ça va, mais il y avait beaucoup de monde dans le train, les compartiments et les couloirs étaient pleins.“ ‚B2 – Nein, es geht, aber es waren viele Leute im Zug. Die Abteile und die Gänge waren voll.‘
Im Dialog gibt es konventionelle Interaktionseinheiten und solche, die freier gestaltet sind. Auf Gegenseitigkeit abgestellte konventionelle Einheiten sind etwa Gruß und Gegengruß, Glückwunsch und Dank, Frage und Antwort. Die konventionellen Interaktionen werden kulturabhängig höchst verschieden ausgestaltet, oft sogar in derselben Sprachgemeinschaft. In Italien wird die Eröffnung und die Beendigung eines Gesprächs im Rahmen einer Begegnung so stark ausgebaut, dass man dafür ein eigenes Wort, convenevoli, hat. Mit „Höflichkeiten“, die man austauscht, werden der Beginn oder das Ende einer italienischen Kontaktaufnahme und -beendigung nur sehr unzulänglich wiedergegeben. Für die Einheiten, mit denen gegrüßt oder ein Gespräch beendet wird, nehmen manche Linguisten eine eigene Funktion an, die sie mit Jakobson „phatisch“ (1963: 217) nennen. Es handelt sich dabei aber nicht um eigene Dialogfunktionen, sondern um Phasen eines Dialogs. Zu diesen die Kontaktaufnahme betreffenden Phasen gehören gegebenenfalls die Beibehaltung des Kontakts und die Überprüfung der Gesprächsbereitschaft des Dialogpartners. In der folgenden unmittelbaren Situation in einem Alltagsgespräch aus der soeben verwendeten Sammlung sind Claudia und eine Bekannte oder Freundin auf dem Bahnsteig angekommen. Die Grenzen der Szene liegen zwischen der Ankunft auf dem Bahnsteig der beiden und Claudias Fahrkartenkauf. “Sur le quai de la gare A1 – [1] Tu as ton billet? B1 – [2] Oui, j’en ai déjà un, [3] j’ai même pensé à réserver ma place. A2 – [4] Moi, il faut que j’aille en acheter un. [5] Tu m’attends? B2 – Claudia, [6] j’ai une idée, [7] je vais déjà aller occuper ma place [8] et voir si je peux te prendre une place à côté de moi, [9] comme ça nous serons l’une à côté de l’autre. A3 – [10] C’est une bonne idée, [11] avec tout ce monde qui attends au guichet, j’en ai pour un moment. B3 – [12] Je suis dans le wagon 92 en tête de train, [13] j’ai la place 37. [14] Alors à tout de suite [15] et n’oublie pas de composter ton billet. A4 – [16] Dis donc, [17] tu as pris une place dans un compartiment non-fumeurs? B4 – [18] Oui, [19] pourquoi? A5 – [20] Tu sais pourtant que j’aime fumer …
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B5 – [21] Tant pis, [22] pour une fois tu t’en passeras [23] ou tu iras fumer au mini-bar. A6 – [24] Bon d’accord, [25] tu veux que je prenne des journaux? B6 – [26] Oui, tu peux m’acheter Sciences et Vie et Paris-Match, [27] je te rembourserai tout à l’heure. A7 – [28] À tout de suite!” (Gebhardt-Bernot 1988: 66). ‚Auf dem Bahnsteig A1 – [1] Hast du deine Fahrkarte? B1 – [2] Ja, ich habe schon eine, [3] ich habe sogar daran gedacht, meinen Sitzplatz zu reservieren. A2 – [4] Ich muss mir noch eine kaufen gehen. [5] Wartest du auf mich? B2 – Claudia, [6] ich habe eine Idee, [7] ich gehe schon einmal meinen Platz besetzen [8] und schaue, ob ich einen Platz neben mir belegen kann, [9] dann können wir nebeneinander sitzen. A3 – [10] Das ist eine gute Idee. [11] Bei den vielen Leuten, die am Schalter warten, brauche ich eine Weile. B3 – [12] Ich bin im Wagen 92 am Anfang des Zuges, [13] ich habe den Platz 37. [14] Also dann bis gleich, [15] und vergiss nicht, deine Fahrkarte zu entwerten. A4 – [16] Sag mal, [17] hast du etwa einen Platz in einem Nichtraucherabteil? B4 – [18] Ja, [19] wieso? A5 – [20] Aber du weißt doch, dass ich gerne rauche … B5 – [21] Ist doch nicht so schlimm, [22] dann verzichtest du eben einmal darauf [23] oder du gehst in die Minibar rauchen. A6 – [24] O. k., mach ich. [25] Soll ich ein paar Zeitungen mitbringen? B6 – [26] Du kannst mir Sciences et Vie und Paris-Match kaufen. [27] Das Geld gebe ich dir nachher wieder. A7 – [28] Bis gleich!‘
Adam äußert die Annahme, dass ein Dialog eine hierarchisierte Abfolge von einander abwechselnden Sequenzen ist. Bei dieser Sequenz haben wir es mit einem einbet tenden und einem eingebetteten Sprecherwechsel zu tun. In der Hierarchie steht das Thema der einbettenden Sequenz, der Kauf einer Fahrkarte, mit [1] und [4] an oberster Stelle. In das Thema der gekauften oder noch zu kaufenden Fahrkarte ist die Platzreservierung von B in [3] eingebettet, die Vergewisserung von A, dass B auf A (Claudia) wartet ([5]). B führt mit [6] bis [9] einen neuen Gedanken ein, die Belegung von Plätzen für beide, während A ihre Fahrkarte kauft. Diese Einbettung wird mit [10] abgeschlossen, während [11] die Handlung des Fahrkartenkaufs vorwegnimmt. B führt die in [3] angesprochene Platzreservierung mit [12] und [13] fort. Mit [14] will sie die Dialogsequenz abschließen und gibt mit [15] einen letzten Rat. Da fällt A ein ([17]), dass sie im Zug rauchen möchte. Sie leitet dazu mit [16] über. Es folgt eine eingebettete Sequenz über das Rauchen in [20] bis [24] und das mit [25] eingebettete und mit [26] angenommene Angebot, Zeitschriften zu kaufen. Erst danach beendet auch A die Sequenz mit [28]. Im Hinblick auf Interaktionen und Sprecherwechsel greifen in [1] und [2] Frage von A und Antwort von B ineinander. [4] klärt den Hintergrund der Frage [1] von A, die mit [5] eine weitere Frage stellt. B beantwortet die Frage nicht direkt, sondern reagiert
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darauf mit dem in [7] bis [9] ausgedrückten Vorschlag, der von A in [10] angenommen wird, weil sie [11] zufolge ohnehin warten muss. B gibt in [12] und [13] den Ort an, an dem sie wartet, was eine nachträgliche Antwort auf [15] ist. Ihr kurzer Abschied in demselben Redebeitrag wird noch nicht gleich angenommen, sondern durch die Frage [17] aufgeschoben. Die Antwort von B mit [18] wird durch die Rückfrage [19] in demselben Redebeitrag fortgeführt. Der Einwand [20] wird von B in [21] bis [23] eingeräumt, und Bs Erklärungen werden von A mit [24] angenommen. In demselben Turn bietet sie in [25] einen Dienst an, den B mit [26] annimmt. Ein mögliches kleines finanzielles Problem wird in [27] geklärt. Erst danach verabschiedet auch A sich kurz in [28] mit derselben Formel wie B. Es zeigt sich in dieser Dialogsequenz, dass der Redebeitrag nicht mit der Interaktionseinheit zusammenfällt. Der Dialog kennt eine Reihe von Typen wie die Konversation, die Unterhaltung, das Telefongespräch, das Beratungsgespräch, das Interview, das Streitgespräch usw. Sie unterscheiden sich in den Themen und den Rahmenbedingungen; die Art der Vertextung, auf die es hier ankommt, ist ihnen aber gemeinsam. In literarischen Dialogen ist die Vertextung meist fragmentarisch verdichtet, sie entspricht aber demselben Grundprinzip.
Bibliographischer Kommentar
Über das Gespräch aus der Sicht des Deutschen informieren Heinemann/Viehweger 1991: 176–208. Adam 32011: 185–224 behandelt die Dialogsequenz im Französischen, Bazzanella 2005 den Dialog und seine Interaktionskontexte, Bassols/Torrent 32012: 133–166 das Gespräch im Spanischen, Briz Gómez 2 2001 das Gespräch in der spanischen Umgangsprache. In einem weiteren Rahmen stellen sich die Probleme der Dialogsequenz in der Gesprächsanalyse, dazu knapp Linke/Nussbaumer/Portmann 5 2004: 293–334, ausführlicher Henne/Rehbock 42001, die auch die für dieses Thema elementar wichtige Aufzeichnung von Gesprächen behandeln, und das HSK 16, 1 und 2. Von der Gesprächsanalyse ist die Konversationsanalyse zu unterscheiden, die als streng datenbezogene soziologische Forschungsrichtung in der Linguistik rezipiert wurde; dazu einführend Gülich/Mondada 2008.
3.10.2 Erzählsequenz Die Erzählung befindet sich im Zentrum der Beschäftigung mit Texten seit der Antike, und dieses Interesse ist unabhängig von der Ausrichtung der Forschung im Einzelnen. Eine Erzählung besteht aus miteinander verbundenen Propositionen, die man Makropropositionen nennen kann und die eine Sequenz konstituieren. Ein minimaler erzählender Text liegt vor, wenn jemand zum Zeitpunkt t und danach zum Zeitpunkt t + n ein Geschehnis ausdrückt. Die minimalen Elemente sind also ein Jemand oder ein Subjekt, die Zeit und die Abfolgen von prädikativ ausgedrückten Sachverhalten. Die Abfolge von Sachverhalten schließt ein, dass diese zu ein und derselben Handlung gehören. Darin ist enthalten, dass Vergangenes erzählt wird. Aber auch Zukünftiges kann nur so erzählt werden, als wäre es vergangen, wie
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in George Orwells Roman 1984. Mit „Sachverhalt“ können sehr verschiedene Typen gemeint sein, da der Begriff komplex ist (1.4.3). Für die Charakterisierung der Diskursgattungen eignen sich die Sachverhaltsdarstellungen mit ihren Relationen in unterschiedlicher Weise. Es scheint intuitiv klar zu sein, dass die Darstellung von Zuständen zur Beschreibung hinführt, die Darstellung von Geschehnissen und Handlungen dient dem Erzählen und diejenigen von Sprechhandungen unter anderem dem Argumentieren. Das Erzählen ist durch eine Abfolge von Handlungen strukturiert, die in der Zeit aufeinanderfolgen. Man sagt seit Aristoteles, dass die Erzählung auf ein Ende, auf einen Schluss hin ausgerichtet sei. Das kann man auch etwas anders deuten, denn am Anfang des Erzählens steht sein Sinn. Dieser Sinn muss eingelöst werden, was infolge der notwendigen Informationsverteilung erst am Höhepunkt, dem Ende, geschehen kann. Adam fasst die Kriterien für eine Erzählung in sechs Konstituenten zusammen (32011: 46–59). Erstens. Eine Erzählung beinhaltet eine minimale Abfolge von Geschehnissen oder Handlungen, die zum Zeitpunkt t und dann zum Zeitpunkt t + n eintreten. Die Zeitlichkeit ist für die erzählten Ereignisse und den Vorgang des Erzählens zentral. Diese Zeitlichkeit ist auf ein Ende ausgerichtet. Zweitens. Das Erzählen hat eine thematische Einheit, die aus mindestens einem Handelnden besteht. Ihm können die zeitlich aufeinander folgenden Ereignisse widerfahren, er kann sie aber auch aktiv gestalten. Drittens. Man hat allzu sehr die Umkehrung der Situationen zwischen Anfang und Ende betont. Mit Adam (32011: 48) sollten wir uns damit begnügen, am Anfang der Sequenz ein Subjekt in einer Situation zum Zeitpunkt t anzunehmen. Damit eine Erzählung vorliegt, müssen die entsprechenden Prädikate miteinander verbunden sein. Viertens. Für die Idee der Einheit der Handlung steht seit der Antike Aristoteles, weshalb wir seine Bemerkungen dazu aus der Poetik zitieren. Die Einheit der Handlung kommt nicht durch einen einzigen Helden zustande: „Die Fabel des Stückes ist nicht schon dann – wie einige meinen – eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus keinerlei Einheit hervorgeht. So führt der eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich daraus eine einheitliche Handlung ergibt“ (2008: 27). Seit Aristoteles wird auch festgestellt, dass eine Handlung einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle
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einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten“ (2008: 25).
Die Einheit wird noch einmal in einen Gegensatz zur Darstellung lediglich gleichzeitiger Ereignisse gestellt, die in keinem Handlungszusammenhang stehen: „Was die erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen. Denn wie die Seeschlacht bei Salamis und die Schlacht der Karthager auf Sizilien um dieselbe Zeit stattfanden, ohne doch auf dasselbe Ziel gerichtet zu sein, so folgt auch in unmittelbar aneinander anschließenden Zeitabschnitten oft genug ein Ereignis auf das andere, ohne daß sich ein einheitliches Ziel daraus ergäbe. Und beinahe die Mehrzahl der Dichter geht in dieser Weise vor“ (2008: 77).
Eine Handlung besteht nicht aus einer bloßen zeitlichen Abfolge von Geschehnissen, sondern sie schließt den Wandel von Aussagen im Laufe eines Vorgangs ein. Dieser Umwandlungsprozess strebt auf ein Ende zu. In mündlichen Erzählungen gipfelt er gerne in einer Pointe. Die von Aristoteles Anfang, Mitte und Ende genannten Phasen einer Handlung erscheinen in der Neuzeit als Exposition, als Knoten oder Verwicklung und als Auflösung. Die Exposition kann dadurch verzögert werden, dass sie etwa, wie der Anfang von El general en su laberinto zeigt, schrittweise in Rückblenden nachgeholt wird. Dennoch bleibt in diesem Roman der Anfang von untergeordneter Bedeutung, weil er ganz auf das Ende des Lebens von Simón Bolívar ausgerichtet ist. Bis zu seinem Tode verfolgt er seine Vision eines Amerikas spanischer Sprache trotz Krankheit und Gemütsschwankungen sowie durch alle zeitgeschichtlichen Wechselfälle hindurch. Fünftens. Das zeitlich Gleichzeitige wie die Seeschlacht bei Salamis gegen die Perser und der Kampf gegen die Karthager in Sizilien im Beispiel von Aristoteles und das bloße zeitliche Nacheinander der Geschehnisse machen Propositionen nicht zu einer Erzählung. Die Sachverhalte werden dadurch zu einem Plot, dass ein Folgesachverhalt aus dem Vorgängersachverhalt hervorgeht und durch ihn erklärt wird. E. M. Forster hat in Aspects of the novel diese narrative Grundbeziehung in der folgenden Weise bestimmt: “We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality” (1949: 82). Ich zitiere Forster, weil er das Kausalitätsprinzip früh identifiziert hat (wenn er auch nicht der Erste war) und sehr einflussreich geworden ist. Ansonsten verweise ich generell auf die umfangreiche Literatur, die das Erzählen thematisiert.
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Sechstens. Eine Erzählung kann eine abschließende Bewertung enthalten. Der Erzähler macht sie explizit oder lässt sie implizit. Es ist möglich, dem Text damit eine stärkere Einheit und größere Geschlossenheit zu verleihen. Wenn dieses Prinzip beim Abfassen eines umfangreichen narrativen Werks angewandt wird, ist es für die Strukturierung zentral. In einem solchen Fall wird der Plan vom Ende her gestaltet und die Erzählung kann in einer Moral bewertet werden. Als Leser sind wir gerade in einem längeren Erzählwerk darauf angewiesen, seine Gestaltung klar zu erkennen. Die Grundelemente einer Erzählung hatten wir narrative Makroprositionen (nP) genannt. Diese reihen sich in einer prototypischen Weise aneinander. Auf eine Ausgangsposition oder Orientierung (nP1) folgt eine Verwicklung, die durch jemanden ausgelöst wird (nP2), auf die Handlungen, Reaktionen oder eine Bewertung folgen (nP3), woran sich eine Auflösung durch einen Auslöser (nP4), eine Endsituation (nP5) und eine Moral (nPΩ) anschließen können. Ein Roman eignet sich wegen seiner Länge nicht für die Erörterung der Erzählsequenz. Um die Kommentare überschaubar zu halten, begnügen wir uns mit der eingeschalteten Sequenz, die wir bereits bei der Behandlung der Polyphonie kennengelernt haben, der Geschichte des Kaziken Hatuey aus der Brevísima relación de la destruición de las Indias, da sie die relevanten Elemente einer Erzählung enthält. Das Kapitel ist mit De la isla de Cuba (‚Über die Insel Kuba‘) überschrieben: “[nP0] El año de mil y quinientos y once [scil. los españoles] pasaron a la isla de Cuba, que es como dije tan luenga como de Valladolid a Roma (donde había grandes provincias de gentes), comenzaron y acabaron de las maneras susodichas y mucho más y más cruelmente. Aquí acaecieron cosas muy señaladas. [nP1] Un cacique y señor muy principal, que por nombre tenía Hatuey, que se había pasado de la isla Española a Cuba con mucha de su gente, por huir de las calamidades e inhumanas obras de los cristianos, y estando en aquella isla de Cuba, [nP2] y dándole nuevas ciertos indios que pasaban a ella los cristianos, [nP3] ayuntó mucha o toda su gente y díjoles: «Ya sabéis cómo se dice que los cristianos pasan acá, y tenéis experiencia cuáles han parado a los señores fulano y fulano y fulano; y aquellas gentes de Haití (ques la Española) lo mesmo vienen a hacer acá. ¿Sabéis quizá por qué lo hacen?» Dijeron: «No, sino porque son de su naturaleza crueles y malos.» Dice él: «No lo hacen por sólo eso, sino porque tienen un dios a quien ellos adoran y quieren mucho, y por habello de nosotros para lo adorar, nos trabajon de sojuzgar y nos matan.» Tenía cabe sí una cestilla llena de oro en joyas y dijo: «Ves [sic] aquí el dios de los cristianos: hagámosle si os parece areitos (que son bailes y danzas) y quizá le agradaremos y les mandará que no nos haga mal.» Dijeron todos a voces: «Bien es, bien es.» Bailaronle delante hasta que todos se cansaron, y después dice el señor Hatuey: «Mirad, comoquiera que sea, si lo guardamos, para sarcárnoslo al fin nos han de matar: echémoslo en este río.» Todos votaron que así se hiciese, y así lo echaron, en un río grande que allí estaba. Este cacique y señor anduvo siempre huyendo de los cristianos desde que llegaron a aquella isla de Cuba, como quien los conocía, y defendíase cuando los topaba, [nP4] y al fin lo prendieron. Y sólo porque huía de gente tan inicua y cruel, y se defendía de quien lo quería matar, y oprimir hasta la muerte a sí y a toda su gente y generación, [nP5] lo hobieron vivo de quemar. Atado al palo decíale un religioso de Sant Francisco, santo varón que allí estaba, algunas cosas de Dios y de nuestra fe, el cual nunca las había jamás oído, lo que podía bastar aquel poquillo tiempo que los verdugos le daban, y que si quería creer aquello que le decía, que iría al cielo, donde había gloria y eterno descanso, y si no, que había de ir al infierno a padecer perpetuos tormen-
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tos y penas. Él, pensando un poco, preguntó al religioso si iban cristianos al cielo. El religioso le respondió que sí, pero que iban los que eran buenos. Dijo luego el cacique sin más pensar, que no quería ir allá sino al infierno, por no estar donde estuviesen y por no ver tan cruel gente. [nPΩ] Esta es la fama y honra que Dios y nuestra fe ha ganado con los cristianos que han ido a las Indias” (Las Casas 2001: 92). ‚[nP0] Im Jahre 1511 kamen sie [d. h. die Spanier] zur Insel Kuba, die, wie ich sagte, so lang ist wie von Valladolid nach Rom (und wo es dicht besiedelte Provinzen gab). Sie gingen auf die oben geschilderten Arten und Weisen vom Anfang bis zum Ende zu Werke, nur heftiger und grausamer. Hier geschahen ganz ungeheuerliche Dinge. [nP1] Ein Kazike, ein sehr bedeutender Herrscher, der Hatuey hieß und der mit vielen seiner Leute von der Insel Hispaniola nach Kuba übergewechselt war, um vor den Verfolgungen und den unmenschlichen Taten der Christen zu fliehen, versammelte, als er auf der Insel Kuba war und [nP2] von einigen Indianern die Nachricht erhielt, dass die Christen zu ihr übersetzten, [nP3] viele seiner Leute oder alle und sagte zu ihnen: ‚Ihr wisst ja, dass man sagt, die Christen kämen hierher, und ihr wisst aus Erfahrung, wie einige Kaziken, die ihr mit ihrem Namen kennt, geendet sind. Und jene Leute von Haiti (das heißt von Hispaniola) kommen her, um hier dasselbe zu tun. Wisst ihr, warum sie das tun?‘ Sie sagten darauf: ‚Nein, außer dass sie von Natur aus grausam und böse sind.‘ Darauf er: ‚Nicht nur deshalb tun sie es, sondern weil sie einen Gott haben, den sie sehr verehren und lieben; und um von uns etwas zu bekommen, um ihn zu verehren, setzen sie alles daran, uns zu unterjochen, und dann töten sie uns.‘ Er hatte ein mit Goldschmuck gefülltes Körbchen dabei und sagte: ‚Hier seht ihr den Gott der Christen: Führen wir, wenn ihr damit einverstanden seid, Areítos (das sind Tänze) für ihn auf, und vielleicht tun wir es ihm recht und er befiehlt ihnen, nichts Böses zu tun.‘ Laut schreiend riefen sie: ‚Recht so, recht so.‘ Sie tanzten alle vor ihm, bis sie müde wurden, und danach sagte der Kazike Hatuey: ‚Überlegt doch einmal, wir mögen es drehen und wenden, wie wir wollen, wenn wir ihn behalten, werden sie uns töten müssen, um ihn uns wegzunehmen. Werfen wir ihn also hier in den Fluss.‘ Alle waren dafür, so zu verfahren, und so warfen sie ihn dort in einen großen Fluss. Dieser Kazike war, seit die Christen zu jener Insel Cuba gekommen waren, immerzu auf der Flucht vor ihnen als einer, der sie kannte, und er verteidigte sich, wenn er auf sie stieß, [nP4] doch schließlich nahmen sie ihn gefangen. Und nur, weil er vor so niederträchtigen und grausamen Menschen floh und sich gegen die verteidigte, die ihn umbringen und ihn mit allen seinen Leuten und seinem ganzen Volk auf den Tod unterdrücken wollten, fassten sie ihn, [nP5] um ihn bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Als er an den Pfahl gebunden war, sagte ein Mönch vom Orden des heiligen Franziskus, ein heiliger Mann, der sich dort befand, ihm, der das noch nie gehört hatte, einiges von Gott und unserem Glauben, was eben ging in jener so kurzen Zeit, die die Henker ihm gaben, und dass er, wenn er das, was er ihm sage, glauben wolle, in den Himmel kommen würde, wo Gloria und ewige Ruhe wäre, dass er aber andernfalls in die Hölle komme, um immerwährende Qualen und Strafen zu erleiden. Er fragte den Mönch nach kurzem Nachdenken, ob Christen in den Himmel kämen. Der Mönch antwortete ja, dass aber die, die dorthin kämen, gut seien. Sofort sagte der Kazike ohne weiteres Nachdenken, dass er nicht dorthin gehen wolle, sondern in die Hölle, um nicht dort zu sein, wo sich so grausame Menschen befänden und um sie nicht zu sehen. [nPΩ] Dies ist der Ruhm und die Ehre, die die Christen, die nach Indien gegangen sind, Gott eingebracht haben.‘
Der erste Gesichtspunkt besteht in der Abfolge der Geschehnisse, die uns den Kaziken Hatuey nach der Flucht von Hispaniola zeigen, den Zeitpunkt des Übersetzens der Spanier nach Kuba, Hatueys Gefangennahme und Tod. Die Handelnden, das ist der
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zweite Gesichtspunkt, sind Hatuey mit seinem Stamm und die Spanier mit dem Franziskaner als zentraler Gestalt. Hatuey ist teils aktiv in seinem Widerstand, teils erleidet er die Ereignisse durch die Flucht und seinen letztendlichen Tod durch Verbrennung. Die dritte Konstituente ist die Umkehrung der Situation zwischen Anfang und Ende, wie sie hier tatsächlich vorliegt. Im Hinblick auf die Einheit der Handlung mit ihrer klassischen Phaseneinteilung in Anfang, Mitte und Ende, dem Zustreben der Handlung auf das Ende und der Moral werden wir etwas ausführlicher sein. Die Moral der Geschichte ist der Grund dafür, dass Las Casas sie aus seiner Historia general de las Indias ausgewählt und in seine Anklageschrift eingefügt hat. Dies ist die Motivation für die narrative Ausgestaltung des Textes im Ganzen und so auch für die Entscheidung, diese wahrhaft exemplarische Geschichte in die Brevísima relación aufzunehmen. Sie wird durch eine allgemein gehaltene Anklage eingeleitet (nP0), die zum einen die narrative Sequenz im Gesamtwerk verankert, zum anderen auf die Moral (nPΩ) vorausweist. Die Ausgangslage besteht in der Flucht des Kaziken Hatuey von Hispaniola nach Kuba, um den Spaniern zu entkommen. Die Verwicklung wird von der Nachricht ausgelöst, dass die Spanier auch nach Kuba kämen. Darauf reagiert der Kazike unverzüglich mit einer Versammlung seines Stammes und einer Bewertung der Handlung der Spanier, die mit der Einschätzung durch den Stamm und den Kaziken kontrastiert wird (nP3). Die Beschwörung des Gottes der Christen, also des Goldes, findet ihren Abschluss in der Versenkung des Körbchens mit dem Goldschatz in einem Fluss. Die Spanier sind zum zweiten Mal Auslöser der Auflösung, indem sie Hatuey gefangennehmen (nP4), um ihn an einem Pfahl zu verbrennen. Die Verbrennung ist die Endszene der Erzählsequenz (nP5). Da sie der Grund für die Verwendung dieses Exempels in der Anklageschrift ist, führt Las Casas sie weiter aus und gestaltet die Szene als erzählten Dialog, jedoch werden die zentralen Sätze des Franziskaners in indirekter Rede wiedergegeben. Der Höhepunkt, auf den die Schlussszene zustrebt, ist die Weigerung Hatueys, in einem Leben nach dem Tode den Himmel mit den Spaniern zu teilen. Diese Moral (nPΩ), die die Christen bloßstellt, hatte schon vorher in der Erzählung auf die Reaktionen Hatueys in der Makroproposition nP3 zurückgewirkt: Der Gott der Christen ist das Gold. Auf diese Weise verbindet die Moral die Reaktionen des Kaziken in nP3 mit seinem Ende in nP5.
Bibliographischer Kommentar
Zur Erzählsequenz Adam 32011: 101–127 und zum Erzählen im Französischen (und allgemein) Bremond 1973, Adam 1994, Adam 51996; zum Erzählen im Italienischen Eco 1979 und im Spanischen Bassols/ Torrent 32012: 167–216.
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3.10.3 Beschreibungssequenz Die Beschreibung hat in der Literatur eine schlechte Reputation. Ein Echo davon finden wir unter vielen anderen Stimmen im Dictionnaire de la langue française von Émile Littré unter descriptif: ‚Dieses Wort wird meistens negativ aufgefasst, weil die Beschreibung ein ornatus der Rede ist und nicht das Wesentliche an einem Werk sein kann‘ (1874: 1097). Die Wertschätzung wird dadurch nicht besser, dass die Reihenfolge der Propositionen einer Beschreibung nicht festgelegt ist und daher den Eindruck der Beliebigkeit erweckt. Das ist der Grund, weshalb man bei einer schulmäßigen Beschreibung irgendeine Reihenfolge vorschreibt wie etwa in der Ausbildung der Rekruten in der deutschen Bundeswehr. Dort ist die folgende Beschreibungssituation typisch: Eine Gruppe liegt im Schützengraben, der angenommene Feind befindet sich irgendwo im Gelände. Damit sich nicht alle der Gefahr aussetzen, gesehen zu werden, nimmt ein Ausschau haltender Rekrut zur Orientierung eine Beschreibung für seine Kameraden vor. Er beschreibt das Sichtfeld nach Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund von links nach rechts. Täte er dies in einer nicht festgelegten Weise, müssten sich die anderen, die das Gelände nicht vor Augen haben, beim Verlassen des Schützengrabens noch einmal orientieren und könnten nicht sofort zum Angriff übergehen. Ein anderes schulmäßiges Beispiel ist die Bildbeschreibung als Schulübung. Wer beschreibt, muss den Sachverhalten folglich eine Linearität auferlegen, die keiner vorgegebenen Ordnung folgt. Eine Beschreibung ist ferner keine selbständige Textsequenz, die einen ganzen Text konstituiert, sondern sie wird in eine andere Sequenz, zum Beispiel in eine Erzählung oder eine Argumentation eingeschaltet. Dafür ist ein Textplan zu erstellen, der Markierungen vorsieht, an welchen Stellen die Beschreibungen von Gegenständen, von Sachverhalten oder Personen bzw. Porträts in eine Sequenzdominante eingeordnet werden sollen. Für diesen Prototyp unterscheidet Adam (32011: 61–99) vier Beschreibungsverfahren oder Makrooperationen. Wie in den anderen Fällen werde ich seine Auffassungen an die hier vertretene globale Perspektive anpassen. Das erste Verfahren ist die Verankerung der Beschreibung in den Umfeldern des Textes durch ein Substantiv oder einen Eigennamen als Titelthema a) am Anfang der Beschreibungssequenz als eigentliche Verankerung, b) an deren Ende, womit nachträglich ihre Verwendung oder Zweckbestimmung geklärt wird, und c) ein Titelthema am Anfang der Sequenz mit einer Umformulierung an deren Ende. Ich belege den Fall c) mit Thema und Umformulierung. In unserem Beispiel für erlebte Rede aus Zolas Roman Rome steht der Priester Pierre an der Brüstung der Piazza San Pietro in Montorio auf dem Gianicolo und ist voller Bewunderung für die Ewige Stadt. Die Bewunderung wird durch den Ortsnamen “Rome, Rome!ˮ eingeleitet. “Et Pierre, déjà, regardait de toute sa vue, de toute son âme, debout contre le parapet, dans son étroite soutane noire, les mains nues et serrées nerveusement, brûlantes de sa fièvre. Rome,
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Rome! la ville des Césars, la Ville des Papes, la Ville éternelle qui deux fois a conquis le monde, la Ville prédestinée du rêve ardent qu’il faisait depuis des mois! elle était là enfin, il la voyait! Des orages, les jours précédents, avaient abattu les grandes chaleurs d’août. Cette admirable matinée de septembre fraîchissait dans le bleu léger du ciel sans tache, infini. Et c’était une Rome noyée de douceur, une Rome du songe, qui semblait s’évaporer au clair soleil matinal. Une fine brume flottait sur les toits des bas quartiers, mais à peine sensible, d’une délicatesse de gaze; tandisque la Campagne immense, les monts lointains se perdaient dans du rose pâle. Il ne distingua rien d’abord, il ne voulait s’arrêter à aucun détail, il se donnait à Rome entière, au colosse vivant, couché là devant lui, sur ce sol fait de la poussière des générations. Chaque siècle en avait renouvelé la gloire, comme sous la sève d’une immortelle jeunesse. Et ce qui le saisissait, ce qui faisait battre son cœur plus fort, à grands coups, dans cette première rencontre, c’était qu’il trouvait Rome telle qu’il la désirait, matinale et rajeunie, d’une gaieté envolée, immatérielle presque, toute souriante de l’espoir d’une vie nouvelle, à cette aube si pure d’un beau jour” (Zola 1999: 53–54).
Nach der Einführung des Themas Rom in der erlebten Rede mit seinen Umformulierungen wird in der Beschreibungssequenz ein morgendliches Rom im September geschildert, das nach Stürmen im klaren Licht und mit Sicht in die weite Ferne vor ihm liegt. Die nachfolgenden inneren Erlebnisse und Reflexionen werden durch die Imperfekte eher beschrieben als erzählt, sie sind eine Analyse, die der Autor von der globalen Wahrnehmung Pierres gibt, auch dies eine Umformulierung des Themas Rom, bei der die äußere Beschreibung des Morgens in der Stadt auf einer inneren Ebene fortgeführt wird. Die anschließende Erzählung der erhofften “vie nouvelleˮ leitet über zu einer Rückblende, die wiederum erzählt wird. Zolas Beschreibungen von Rom schließen einerseits an bekannte Romschilderungen an, andererseits aber musste ein Leser zur Zeit der Veröffentlichung des Romans sein Rombild revidieren, da Zola den rapiden urbanistischen Wandel der neuen Hauptstadt Italiens wie kein anderer Autor darstellt. Auch der Text Ériger Bruxelles en capitale de l’Europe von Antoine Wiertz zeigt eine Verankerung dieses Typs, da “un effet de boule de neigeˮ durch vielfache Umformulierungen wieder aufgegriffen wird. Das zweite Verfahren nennt Adam “aspectualisationˮ, weil man Sachverhalte unter verschiedenen Aspekten betrachten kann. Ich ziehe hierfür auf Deutsch Gesichtspunkte oder Perspektiven und dementsprechend Perspektivierung vor. Diese finden wir bereits im Textausschnitt aus Zola im Wechsel vom äußerem zum inneren Blick auf die Stadt Rom vor. Noch vielfältiger sind die Perspektiven, die Alberto Moravia in seinem Roman La Romana (1947) gibt, denn gleich in den ersten Zeilen führt sich Adriana, eine Ich-Erzählerin, mit einem berühmten Selbstporträt im Alter von sechzehn Jahren ein, das zeigt, wie sie sich in der Rückschau selbst und wie ihre Mutter sie sah. “A sedici anni ero una vera bellezza. Avevo il viso di un ovale perfetto, stretto alle tempie e un po’ largo in basso, gli occhi lunghi, grandi e dolci, il naso dritto in una sola linea con la fronte, la bocca grande, con le labbra belle, rosse e carnose e, se ridevo, mostravo denti regolari e molto bianchi. La mamma diceva che sembravo una madonna. Io mi accorsi che rassomigliavo a un’at-
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trice del cinema in voga in quei tempi, e presi a pettinarmi come lei. La mamma diceva che, se il mio viso era bello, il mio corpo era cento volte più bello; un corpo come il mio, diceva, non si trovava in tutta Roma. Allora non mi curavo del mio corpo, mi pareva che la bellezza fosse tutta nel viso, ma oggi posso dire che la mamma aveva ragione. Avevo le gambe dritte e forti, i fianchi tondi, il dorso lungo, stretto alla vite e largo alle spalle. Avevo il ventre, come l’ho sempre avuto, un po’ forte, con l’ombelico che quasi non si vedeva tanto era sprofondato nella carne; ma la mamma diceva che questa era una bellezza di più, perché il ventre deve essere prominente e non piatto come si usa oggi. Anche il petto l’avevo forte ma sodo e alto, che stava su senza bisogno di reggipetto: anche del mio petto quando mi lamentavo che fosse troppo forte, la mamma diceva che era una vera bellezza, e che il petto delle donne, oggidí, non valeva nulla. Nuda, come mi fu fatto notare più tardi, ero grande e piena, formata come una statua, ma vestita parevo invece una ragazzina minuta e nessuno avrebbe potuto pensare che fossi fatta a quel modo. Ciò dipendeva, come mi disse il pittore per il quale incominciai a posare, dalla proporzione delle partiˮ (Moravia 1947 : 7–8). „Mit sechzehn Jahren war ich wirklich eine Schönheit. Mein Gesicht bildete ein vollkommenes Oval, mit schmalen Schläfen und ein wenig breiterer Kinnpartie; ich hatte große, sanfte Augen, eine gerade Nase und einen großen Mund, dessen volle, rote Lippen beim Lächeln regelmäßige, sehr weiße Zähne entblößten. Mutter sagte immer, ich ähnele einer Madonna. Ich verglich mich lieber mit einer der damals beliebten Filmschauspielerinnen und fing an, mich wie sie zu frisieren. Mutter sagte, mein Gesicht sei schön, aber mein Körper unvergleichlich schöner; solch ein Körper finde sich in ganz Rom nicht wieder. Damals kümmerte ich mich noch nicht um meinen Körper, es gab für mich nur die Schönheit des Gesichtes, aber heute muß ich Mutter recht geben. Ich hatte kräftige, gerade Beine, runde Flanken, einen langen Rücken mit schmaler Taille und breite Schultern. Mein Leib war schon immer etwas stark und der Nabel kaum sichtbar ins Fleisch eingebettet, aber Mutter behauptete, dies sei besonders schön, der Leib müsse hervortreten und nicht flach sein, wie es heute üblich sei. Auch meine Brüste waren voll, aber hoch und fest, so daß sich eine Stütze erübrigte. Sooft ich auch über meinen üppigen Busen jammerte, erklärte Mutter mir immer wieder, er sei wirklich schön, damit könnten die Figuren der modernen Frauen sich gar nicht vergleichen. Nackt wirkte ich groß und voll wie eine Statue – das sagte man mir erst später –, aber bekleidet schien ich ein kleines Mädchen zu sein, und niemand hätte ahnen können, wie ich darunter beschaffen war. Das hänge mit meinen Proportionen zusammen, erklärte mir der Maler, für den ich anfing Modell zu stehen“ (Moravia 1980: 7).
Adriana gibt ihr Selbstporträt aus fünf Perspektiven. Zwei davon sind ihre eigenen, eine entspricht der Sicht der Mutter, eine weitere bleibt anonym. Am Schluss wird der Gesichtspunkt eines Malers angeführt. In der ersten Perspektive sieht Adriana sich im Alter von sechzehn Jahren. Ihre Wahrnehmung von sich selbst ist aber nicht unabhängig von der Perspektive ihrer Mutter zu dieser Zeit, daher fällt das Bild, das sie von sich hat, zusammen mit dem Bild der Mutter von ihr. Nur wenn die Perspektive der Mutter mit der eigenen in Kontrast tritt, trennt sie die eigene Wahrnehmung von der mit der Mutter gemeinsamen: Für die Mutter glich sie einer Madonna, sie selbst sah an sich eine Ähnlichkeit mit einer Filmschauspielerin. Dieser knappe Vergleich wird in einer Erzählsequenz wiedergegeben, während sie sich selbst meist im Imperfekt beschreibt. Zur Zeit des Erzählens stimmt Adriana jedoch mit der Meinung ihrer Mutter überein. Sie gibt eine weitere Meinung zum unterschiedlichen Aussehen ihres Körpers wieder,
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wenn er nackt und wenn er bekleidet ist. Im unmittelbaren Anschluss daran folgt die Erklärung eines Malers zu ihren Proportionen. Es ist keine Frage, dass dieses Porträt bestens am Anfang des Romans verankert ist, um die Erwartungen des Lesers zu wecken, zumal die Erzählung mit dem Maler und der Anpreisung durch die Mutter beginnt. Und Adriana wird das gleiche Interesse an den Körpern ihrer Männer haben, die auf ihr unergründliche Geheimnisse verweisen. Ihr erster Gatte war Gino. Seine Beschreibung nimmt Adriana vom zweiten Kapitel an schrittweise vor, das Verfahren entspricht ihrem Selbstporträt. Die Reihenfolge der beschriebenen Körperteile wird ein Leser als natürlich empfinden, da Adriana selbst ihre Schönheit im Gesicht fand und ihren übrigen Körper erst allmählich für ihre Selbstwahrnehmung entdeckte. Man stelle sich einmal eine umgekehrte Abfolge vor; sie hätte, gerade in der Zeit der Veröffentlichung, noch skandalöser gewirkt, als sie es ohnehin schon war. Das dritte Verfahren der Herstellung der Beziehung eines Gegenstandes oder Sachverhalts zu einem anderen besteht in einer Gleichsetzung durch einen direkten Vergleich oder eine Metapher, auch eine Metonymie ist möglich. Solche Vergleiche haben wir soeben am Anfang von La Romana feststellen können. Adrianas Mutter vergleicht ihre Tochter mit einer Madonna, die Tochter sich selbst aber mit einer Filmschauspielerin, die sie deshalb in der Frisur nachahmt. Den Körper der Tochter hält die Mutter für derart unvergleichlich, dass es so etwas Schönes in ganz Rom sonst nicht mehr gebe. Auch vergleicht Adriana die Meinung der Mutter über ihren Körper mit der eigenen. Adrianas fülliger Bauch wird mit den flachen Bäuchen der Frauen heutzutage kontrastiert wie ebenfalls ihr Busen. Diese Einzelvergleiche werden alle zusammengefasst in ihrem einer Statue ähnlichen Erscheinungsbild, wenn sie nackt, und ihrer Ähnlichkeit mit einem kleinen Mädchen, wenn sie angezogen ist. Eine Beschreibung in Vergleichen ist besonders naheliegend, wenn man etwas noch nie gesehen hat und daher für die Beschreibung auf Analogien angewiesen ist. Wir werden in der Weltgeschichte kaum eine unerwartetere Situation entdecken, als Kolumbus sie auf Guanahaní, einer Insel der Bahamas, vorfand und die er im Eintrag vom 13. Oktober 1492 in seinem Bordbuch folgendermaßen festhielt: “Luego que amanceció vinieron a la playa muchos d’estos hombres, todos mancebos, como dicho tengo. Y todos de buena estatura, gente muy fermosa. Los cabellos no crespos, salvo corredíos y gruesos, como sedas de caballo. Y todos de la frente y cabeça muy ancha, más que otra generación que fasta aquí haya visto. Y los ojos muy fermosos y no pequeños. Y ellos ninguno prieto, salvo de la color de los canarios. Ni se debe esperar otra cosa, pues está lestegüeste con la isla del Fierro, en Canaria, so una línea. Las piernas muy derechas, todos a una mano, y no barriga, salvo muy bien hecha. Ellos vinieron a la nao con almadías, que son hechas del pie de un árbol, como un barco luengo, y todo de un pedazo, y labrado muy a maravilla según la tierra, y grandes en que en algunos venían 40 y 45 hombres. Y otras más pequeñas, fasta haber d’ellas en que venía un solo hombre. Remaban con un pala como de fornero, y anda a maravilla. Y si se le trastorna, luego se echan todos a nadar y la endereçan y vazían con calabazas que traen ellosˮ (Colón II: 1976: 53–55).
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‚Sowie es Morgen wurde, kamen viele dieser Männer zum Strand, alles junge Männer, wie ich gesagt habe, und alle von guter Gestalt, sehr schöne Leute; das Haar nicht kraus, sondern glatt und dick wie Rosshaar, und alle mit einer breiteren Stirn und einem breiteren Kopf als bei den Völkern, die ich bisher gesehen habe; und die Augen sehr schön und nicht klein; und darunter keiner schwarz, sondern von der Hautfarbe der Kanarier; man kann auch nichts anderes erwarten, denn sie [die Insel Guanahaní] liegt auf Ost-West-Kurs wie die Insel El Hierro, eine der Kanaren, auf einer Linie; und die Beine ganz gerade, alle gleich, und ohne Bauch, sondern sehr wohlgestaltet. Sie kamen in Almadias, die aus einem Baumstamm wie ein langes Boot gemacht sind, zum Kapitänsschiff, und alles aus einem Stück und wunderbar nach der Art des Landes gearbeitet, und groß, so dass in manchen 40 oder 45 Mann kamen, und andere kleiner, es gab sogar einige, in denen nur ein einziger Mann kam. Sie ruderten mit etwas wie Backschaufeln, und es fährt wunderbar, und wenn es ihm kentert, schwimmen sie alle sogleich los und richten es auf und leeren es mit Kalebassen, die sie dabeihaben.‘
Die Übersetzung habe ich absichtlich textnah gehalten, denn diese zum Teil unzusammenhängenden Zeilen hat Christoph Kolumbus unter höchster Belastung geschrieben. Er nimmt in seiner Beschreibung implizite und explizite Vergleiche vor. Sie kann mit Adrianas Selbstporträt verglichen werden, denn die Luyacos, die Bewohner der Bahamas, werden sozusagen, dem Blick folgend, ebenfalls von Kopf bis Fuß ins Bild gesetzt. Kolumbus stellt Vergleiche zu den Bewohnern von Guanahaní und ihren Booten an. Offenbar hat er auf dem Breitenkreis dieser Insel schwarze Menschen erwartet, denn die Beteuerung, dass sie kein Kraushaar hätten und nicht schwarz seien, schließt diese implizite Annahme ein. Explizit vergleicht er diese Menschen, die er von Anfang an indios, d. h. ‚Inder‘ bzw. Asiaten nennt, weil er ja nach Asien aufgebrochen war, mit den Altkanariern, den Ureinwohnern der Kanarischen Inseln, die zur Zeit der Entdeckung Amerikas noch nicht vollständig erobert waren. Wenn er ihre ansehnliche Gestalt und Schönheit preist, dann wird wohl kein Vergleich mit Schwarzafrikanern vorliegen, sondern der Grund dafür wird die zu Kolumbusʼ Zeit allgemein verbreitete Meinung sein, dass die heiße Zone unbewohnbar sei. Die dort zu vermutenden Menschen stellte man sich offenbar monströs vor, denn Kolumbus setzt seine Beschreibung gegen dieses konventionelle Bild. Die Kanus benennt Kolumbus selbst am 13. Oktober 1492 noch nicht allgemein mit dem Wort der Antillenbewohner, mit canoa, sondern mit almadía. Dies war das Wort der Portugiesen und Spanier für die Rindenboote der Schwarzafrikaner an der west afrikanischen Küste, ein weiterer impliziter Vergleich. Ausdrücklich wird verdeutlicht, dass eine almadía ein langes Boot ist, und auch “según la tierraˮ enthält eine Veranschaulichung, denn im Unterschied zu anderen Artefakten der Indianer müssen ihre Boote sehr kunstvoll gearbeitet gewesen sein. Bei den Rudern wird ihre Ähnlichkeit mit Backschaufeln gesehen. Vergleiche wie die hier genannten kommen im Bordbuch von Kolumbus als rekurrentes Verfahren vor. Daher stellt die ausgewählte Stelle keinen Sonderfall dar. Aber keine Beschreibung ist so detailliert wie die zitierte, die nicht vollständig wiedergegeben ist, steht sie doch ganz am Anfang der Entdeckung der Neuen Welt.
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3 Der Diskurs
Das vierte Verfahren ist die Einbettung, die darin besteht, dass eine deskriptive Proposition in eine übergeordnete deskriptive Proposition eingefügt wird. Beispiele dafür wurden bereits mit dem Selbstporträt Adrianas und der Schilderung des Aussehens der Bewohner von Guanahaní gegeben, ohne dass darauf eigens hingewiesen wurde. Ein deskriptives Thema kann in Unterthemen analysiert werden wie das Gesicht und den Körper. Den untergeordneten thematischen Elementen oder Teilen können wiederum Eigenschaften zugeordnet werden. Das Verfahren der Einbettung lässt Rekursivität zu. Der übergeordnete Zusammenhang und die Verankerung der Beschreibung Adrianas ist durch “una vera bellezzaˮ gegeben. Sie schildert sich, indem sie ihr Aussehen nach Gesicht und Körper getrennt darstellt. Diese beiden Teile werden in untergeordnete Teile gegliedert, das Gesicht zunächst als Ganzes und dann nach oberem und unterem Teil, darauf die Augen, der Mund mit den Lippen, darauf der Körper mit den Beinen und dem Rücken, der Bauch mit dem Nabel, dem Busen und schließlich die Proportionen der Teile. Allen Teilen des Gesichts werden Eigenschaften zugeschrieben, z. B. sind “le labbra belle, rosse e carnoseˮ, gelegentlich werden die Teile noch einmal unterteilt und diesen Teilen dann wiederum Eigenschaften zugeschrieben wie beim Mund und den Lippen. Die Reihenfolge, in der die Teile des Gesichts und des Körpers beschrieben werden, entspricht der Reihenfolge der Blicke der Mutter, sie wird aber von Adriana übernommen. Eine Gegenüberstellung mit der knappen Skizze der Männer durch Kolumbus bietet sich an. Der vergleichende Blick beginnt beim Gesamteindruck und geht zum Kopf mit Haar, Stirn, Schädel und Augen über zu den Beinen und kehrt zum Bauch zurück. Auf die Teile folgen ebenfalls die Eigenschaften, um derentwillen sie eingeführt wurden. Wir finden bei ihm ferner eine Sachbeschreibung in der Skizze der almadías.
Bibliographischer Kommentar
Auf die Behandlung der Beschreibungssequenz bei Adam 32011: 61–99 wurde bereits hingewiesen; zum Spanischen ferner Bassols/Torrent 32012: 97–131.
3.10.4 Argumentationssequenz Die beiden Beispiele für Argumentationssequenzen kennen wir bereits als Erzähl- und Beschreibungssequenz. Eine Argumentation bedarf der Einbettung, die den Hintergrund liefert. Im ersten Beispiel handelt es sich wiederum um die Geschichte, mit der Bartolomé de las Casas, der „Beschützer der Indianer“, die Niederwerfung und „Bekehrung“ der Antillenindianer erzählt:
3.10 Textsorten, Texttypen, Textgattungen, Diskursgattungen
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“Atado al palo decíale un religioso de Sant Francisco, santo varón que allí estaba, algunas cosas de Dios y de nuestra fe, el cual nunca las había jamás oído, lo que podía bastar aquel poquillo tiempo que los verdugos le daban, y que si quería creer aquello que le decía, que iría al cielo, donde había gloria y eterno descanso, y si no, que había de ir al infierno a padecer perpetuos tormentos y penas. Él, pensando un poco, preguntó al religioso si iban cristianos al cielo. El religioso le respondió que sí, pero que iban los que eran buenos. Dijo luego el cacique sin más pensar, que no quería ir allá sino al infierno, por no estar donde estuviesen y por no ver tan cruel gente” (Las Casas (2001): 92).
Mit der Marterpfahlszene wird die Sequenz in eine Situation eingebettet, die einen in indirekter Rede wiedergegebenen Dialog darstellt (3.6.2). Der Franziskaner und der Kazike verfolgen darin gegenläufige Gedankengänge. Der Franziskaner stellt Hatuey vor die Alternative, durch die Annahme des christlichen Glaubens in den Himmel oder andernfalls in die Hölle zu kommen. Sie werden als zwei Bedingungen mit ihren Folgen vorgeführt. Eine Argumentation macht daraus erst der Kazike. Für ihn stellt die Alternative zwei Prämissen dar, deren Folgen für sich er abwägt. Die eine Folge beinhaltet: „Ich komme in den Himmel, wenn ich den christlichen Glauben annehme.“ Die Erfüllung dieser Bedingung wäre das Argument für die Annahme des neuen Glaubens. Nachdem er sich aber kurz besonnen hat, fällt ihm ein Gegenargument ein: „Kommen Christen in den Himmel?“ Dieses Gegenargument versucht der Franziskaner mit seinem Gegenargument zu entkräften: „Ja, aber nur die guten.“ Diese Information führt zur augenblicklichen Entscheidung, die in dieser Sequenz durch “por” eingeleitet wird und in einer Konklusion besteht: „Ich will nicht da sein, wo Christen und so grausame Menschen sind.“ Zu einer Argumentation gehört eine Begründung (denn, weil), die in Alltagsargumentationen durchaus implizit bleiben kann. Eine solche Argumentation ist eine minimale Argumentation (Atayan 2006). Sie kann durch Argumente gestützt oder durch Gegenargumente eingeschränkt werden, was im Falle einer expliziten Argumentation mit aber ausgedrückt werden kann: „Aber was geschieht, wenn ich im Himmel bin und Christen sehe?“ Diese zweite Art von Makrostruktur stellt Toulmin (1958) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die Alltäglichkeit der Argumentation soll uns weiterhin im Selbstporträt Adrianas beschäftigen, das wir als Beschreibungssequenz betrachtet haben. Der erste Satz, “A sedici anni ero una vera bellezza“ (3.10.3), kann zugleich als vorweggenommene Konklusion angesehen werden, die wiederholt wird und durch eine Reihe von Einzelargumenten gestützt wird. Das geschieht durch die eingehende Beschreibung des Gesichts, die von der Mutter als Ähnlichkeit mit einer Madonna zusammengefasst wird, während die Tochter eine bessere Stützung durch ihre Ähnlichkeit mit einer Filmschauspielerin sah. Die Fortsetzung der Argumentation in der Beschreibung ihres fülligen Körpers mit tiefliegendem Nabel, kräftigem Bauch und hohem Busen führt zur Entkräftung der Gegenargumente, der Einschränkungen der Konklusion also, die ihr modernes Schönheitsideal in einem flachen Bauch und einem ebensolchen Busen sehen. Was wir bei der Beschreibung als Perspektiven kennengelernt haben, stellt ebenso viele Einbettungen in den eigenen Blick, demjenigen der Mutter sowie
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3 Der Diskurs
demjenigen des Malers dar, der mit den aus anderen Schönheitsidealen herrührenden Gegenargumenten kontrastiert wird. Der Vergleich führt ebenfalls im Bordbuch von Kolumbus zu einer impliziten Argumentation. Wir haben gesehen, dass er eigentlich mit dunkelhäutigen, kraushaarigen Menschen gerechnet hat. Gegen dieses aus Schlussfolgerungen (Inferenzen) deduzierte Bild setzt Kolumbus seine Gegenargumente, die Stützungen einer impliziten Annahme vom Aussehen der Indianer darstellen. Wie wir gesehen haben, stützen sich Argumentationen auf Argumente. Es ist interessant, dass die Typen von Argumenten mit Interpretatoren benannt werden, die aus der Logik, der Philosophie, der Jurisprudenz, der Theologie u. a. herrühren wie im Französischen argument, axiome, convention, critère, croyance, dogme, exception, exemple, fait, hypothèse, idée, lieu commun, maxime, opinion, pensée, phénomène, point, pétition de principe, principe, raison, règle, thèse, valeur, vérité gehören (Lüdtke 1984a: 230), die, da sie aus dem Griechischen und Lateinischen entlehnt sind, in den romanischen Sprachen ziemlich genaue Entsprechungen haben. Manche davon existieren nur nominal und, wenn sie von Verben abgeleitet sind wie croyance und pensée, dann bedeuten sie nicht ‘le fait de croire’ und ‘le fait de penser’, sondern ‘ce que l’on croit’ und ‘ce que l’on pense’.
Bibliographischer Kommentar
Zur Argumentation Brinker et al. 82014: 73–80, ferner Aristoteles 1984, Toulmin 1958. Als Sequenz behandelt sie Adam 32011: 129–155 im Französischen; zu dieser Sprache außerdem Perelman/Olbrechts-Tyteca 31970, Anscombre/Ducrot 1983, Eggs 1994, Amossy 2000; zum Deutschen, Französischen und Italienischen Atayan 2006, zum Spanischen Fuentes Rodríguez/Alcaide Lara 2002, Bassols/ Torrent 32012: 29–67 und zum mexikanischen Spanisch Gimate-Welsh/Haidar (coord.) 2013.
3.10.5 Erklärungssequenz Die Erklärungs- oder explikative Sequenz ist erst spät als eigene Sequenz identifiziert worden (Adam 32011: 127–132). „Erklärung“ oder „Explikation“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch, mehrdeutig, nicht nur im Deutschen. Adam nähert sich dieser Sequenz über die Frage nach dem Warum von etwas, die durch die Frage nach dem Wie überlagert werden kann. Wenn wir der Erklärung angemessen Rechnung tragen, sollten wir eine Erklärung von Ursache und Wirkung von einer Erklärung unterscheiden, die sich auf eine Ursache und ihre Wirkung bezieht. In beiden Fällen können wir nach dem Warum fragen: Warum fällt eine Feder langsamer zu Boden als ein Apfel? Und: Warum hast du Peter beleidigt? Die erste Frage bezieht sich auf die Erklärung eines Sachverhalts durch die Gravitation; dabei kann es sich um Sachverhalte handeln, die vorliegen, oder um Sachverhalte, die erst noch zu untersuchen oder festzustellen sind. Bei Letzteren stellt man sich die Frage: Wie geht man
3.10 Textsorten, Texttypen, Textgattungen, Diskursgattungen
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vor, um etwas zu untersuchen. Die zweite Frage soll keine Ursache, sondern einen Grund klären. Ein Grund hat immer einen „Sinn“ (3.11), und er hat Aussagen über Sachverhalte zum Gegenstand oder über ein Verhalten, das ebenfalls sinnbedingt ist. Jemand kann Peter etwa einen Angeber genannt oder ihm die Vorfahrt genommen haben. In diesem Fall spricht man über die Begründung von Aussagen (frz. justification, und so auch in den anderen romanischen Sprachen). Für diese beiden Arten von Erklärungssequenz gebe ich je ein Beispiel. Ich nehme an, dass die Erklärung eines Sachverhalts einem Wie und die Begründung einer Aussage einem Warum entsprechen. Für die Erklärung eines Sachverhalts greife ich auf den Text Ériger Bruxelles en capitale de l’Europe von Antoine Wiertz zurück. “Bruxelles capitale et Paris province. On sait ce que c’est qu’un effet de boule de neige: grosse d’abord comme le poing, la boule grossit, à mesure qu’on la roule. Ainsi naissent et grandissent les villes. Une maison a une sorte d’attraction qui en appelle une autre, deux maisons en appellent quatre, quatre en appellent huit; l’attraction qui existe entre les habitations, c’est la nécessité, ce sont les besoins de la vie qui en sont cause; plus le nombre d’habitations aura grandi, plus les besoins seront nombreux, plus grande sera l’atttraction” (1997: 77). ‚Brüssel als Hauptstadt und Paris als Provinz. Wir alle kennen den Schneeballeffekt: Zuerst faustgroß, wird der Schneeball beim Rollen immer größer. So entstehen und wachsen Städte. Ein Haus hat eine Art Anziehungskraft, die ein anderes nach sich zieht, zwei Häuser ziehen vier nach sich, vier ziehen acht nach sich. Die Anziehungskraft, die zwischen den Häusern besteht, ist der Bedarf, die Alltagsbedürfnisse sind ihre Ursache. Je mehr die Zahl der Wohnungen wächst, desto größer sind die Bedürfnisse, desto größer ist die Anziehungskraft.‘
In dieser Weise will Wiertz seine Leser für das Wachsen Brüssels mit damals 300.000 Einwohnern auf 4 Millionen begeistern, die die Stadt auch als tatsächliche Hauptstadt Europas noch nicht erreicht hat. Gewiss entwickelt der Text im Folgenden nicht nur eine Sachverhaltsebene, denn es werden fiktive Einwände erhoben, also Aussagen, die sich auf die Sachverhaltsdarstellungen beziehen. Dennoch wird die Schneeballmetapher bis zum Ende durchgehalten, wenn es um das Wachsen der Stadt, der Industrie, des Handels und der Kultur geht. In diesem Sinne wäre er ein schönes Beispiel für die Entfaltung von Isotopien, wenn er nicht zu lang wäre. Der Vergleich zwischen einem Schneeball und Brüssel wird durch “Ainsi” verbunden. Die implizite Frage, die beantwortet wird, lautet also „Wie“, die Erklärung für das Wachsen einer Stadt besteht in Sachverhaltsdarstellungen, die sich alle aus gleichsam naturwissenschaftlichen Gegebenheiten wie “attraction”, “nécessité” und “besoins de la vie” resultieren. Das Wie ist die Klammer von Beschreibung und Erklärung, je
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3 Der Diskurs
nach Lesart können wir diesen Text als Beschreibung des Wachsens von Städten verstehen oder eben als Erklärung, wie das normalerweise geschieht. Nun zum zweiten Fall, der Erklärung des Titels eines Romans, Il nome della rosa von Umberto Eco, die eine Begründung und ein Schlüssel zum Verständnis dieses Werks und somit ein Ansatz zu seiner Interpretation ist. Diese Erklärung ist in den Postille a Il nome della rosa dieses Autors enthalten. Dazu gebe ich den Anfang wieder, der mit Il titolo e il senso („Titel und Sinn“) überschrieben ist: “Da quando ho scritto Il nome della rosa mi arrivano molte lettere di lettori che mi chiedono cosa significa l’esametro latino finale, e perché questo esametro ha dato origine al titolo. Rispondo che si tratta di un verso da De contemptu mundi di Bernardo Morliacense, un benedettino del XII secolo, il quale varia sul tema dell’ubi sunt (da cui poi il mais où sont les neiges d’antan di Villon), salvo che Bernardo aggiunge al topos corrente (i grandi di un tempo, le città famose, le belle principesse, tutto svanisce nel nulla) l’idea che di tutte queste cose scomparse ci rimangono puri nomi. Ricordo che Abelardo usava l’esempio dell’enunciato nulla rosa est per mostrare come il linguaggio potesse parlare sia delle cose scomparse che di quelle inesistenti. Dopodiché lascio che il lettore tragga le sue conseguenze” (Eco 1984: 7). „Seit ich den Namen der Rose geschrieben habe, bekomme ich häufig Briefe von Lesern, die wissen möchten, was der lateinische Schlußsatz bedeute und warum das Buch gerade ihm seinen Titel verdanke. Ich antworte hiermit: Es handelt sich um einen Hexameter aus De con temptu mundi von Bernardus Morlanensis, einem Benediktiner des 12. Jahrhunderts, der über das Thema »Ubi sunt« variiert, wobei er den geläufigen Topos – »Wo sind sie, die Großen von einst, die ruhmreichen Städte, die schönen Damen? Alles schwindet dahin …« (oder wie es später Villon formulierte: »Mais où sont les neiges d’antan?«) – lediglich um den Gedanken erweitert, daß uns von all den verflossenen Herrlichkeiten nur nackte Namen bleiben. Ich erinnere daran, dass Abaelard den Satz »Nulla rosa est« als Beispiel benutzte, um zu zeigen, wie die Sprache sowohl von vergangenen Dingen als auch von inexistenten sprechen kann. Damit überlasse ich es dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen“ (Eco 91987: 9).
Eco wehrt sich gegen die Zumutung, eine Interpretation geben zu sollen, tatsächlich gibt er auch keine. Er will sich nur darauf einlassen, welche Probleme sich ihm beim Schreiben gestellt haben. Was zu Titel und Sinn von Eco etwas mystifizierend gesagt wird, mag zum Abschnitt über den Sinn überleiten und zur Intertextualität (3.6.3) zurückführen, aus der er reichlich für seinen Roman geschöpft hat. Er gibt aber nur Erklärungen auf die ihm gestellten Fragen ab, also zu “cosa significa l’esametro latino finale, e perché questo esametro ha dato origine al titolo”. Die Frage nach Herkunft des Hexameters (den ich nicht zitiere, weil das zur Interpretation des Titels des Romans führen würde) erklärt er mit einer Literaturangabe, die den Topos „Wo sind sie geblieben?“ enthält, der dann mit verschiedenen Hinweisen weiter ausgeführt wird. In der Übersetzung werden diese Detailerläuterungen noch präzisiert, das erwartet man wohl von einem Übersetzer. Damit nicht genug, wird der Topos durch den “enunciato nulla rosa est” auf eine Metaebene, eine Aussage über eine Aussage, gehoben, wie sie bereits im interpretierenden Ausdruck “topos corrente” gegeben wurde.
3.11 Sinn
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Bibliographischer Kommentar
Zur Erklärungssequenz im Französischen Adam 32011: 157–13, zur Erklärung im Spanischen Bassols/ Torrent 32012: 69–95.
3.11 Sinn „Verstehst du auch, was du liest?“, fragte der Apostel Philippus den Kämmerer aus Äthiopien, als er ihn auf dem Rückweg von Jerusalem in sein Land, auf seinem Wagen sitzend, aus dem Propheten Jesaja lesen hörte. „Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.“ Diese Verse aus der Apostelgeschichte (8, 30–31) zeigen uns, dass der Kämmerer laut las. Wie hätte der Apostel sonst hören können, was der Kämmerer las? Das Problem des Verstehens hatte er ferner, weil er sich mit dem Propheten nicht direkt unterhalten und Fragen an ihn richten konnte. Der Umgang mit dem Sinn ist also sehr verschieden, wenn man einen mündlichen Diskurs mit einem geschriebenen Text vergleicht. Der auf den Text ausgerichtete schriftliche Diskurs schafft eine ganz andere Sinnverdichtung als der mündliche Diskurs. Platon lässt Sokrates in unserem Motto zum Kapitel über den Diskurs eine radikale Schriftkritik üben, eine Kritik an der Schriftlichkeit des Diskurses, denn die schriftlichen Texte schweigen ebenso wie die Bilder oder sie sagen immer dasselbe. Das Verständnis ergibt sich aus der Beziehung zwischen ihrem Verfasser und denen, an die der Text gerichtet ist. Kann der Verfasser dem Verständnis nicht beihelfen oder lesen ihn andere als die, für den er geschrieben wurde, verfehlt der Text gleichsam seinen ursprünglichen Sinn. Sogar der in geschriebener Sprache in Grenzen mögliche Dialog ist aufgehoben. Somit entsteht die Notwendigkeit, einen unveränderlichen Text zu verstehen. Zum Verstehen selbst kommt die Interpretation hinzu, die Deutung eines Textes durch seinen Verfasser oder durch einen Interpreten. Die Interpretation wird mündlich gegeben wie im Falle des Apostels, aber sie kann ebenfalls wieder schriftlich vermittelt werden. Jedoch immer ist sie auf das Medium der Sprache angewiesen. Dabei hat der Interpret die Möglichkeit, den Text ausschließlich erschöpfend verstehen zu wollen oder aber ihn weiterzudenken und im Dialog mit ihm über ihn hinauszugehen. Dies tut Philippus, wenn er dem Kämmerer im Anschluss an Jesaja von Jesus predigt und den Kämmerer tauft. Bevor wir jedoch einen Text für etwas anderes verwenden, als seine ursprüngliche Bestimmung vorsah – Jesaja schrieb für das Volk Israel und nicht für den äthiopischen Kämmerer –, müssen wir ihn in allen seinen Elementen verstehen. Das schließt ein, dass wir die Schrift (die Buchstaben oder Schriftzeichen) lesen können, in der er geschrieben ist, dass der Text in zuverlässiger Gestalt überliefert ist, dass wir die Bedeutungen (signifiés) der Einzelsprache, in der er verfasst ist, kennen und verstehen und dass wir alles, was mit der Einzelsprache bezeichnet wird, begreifen. Erst danach können wir erwarten, dass uns der individuelle Sinn eines Textes zugänglich wird.
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3 Der Diskurs
Es ist naheliegend, dass sich die Hermeneutik als die Lehre von der Textdeutung mit ihrer Stützung auf Einzelsprache und Sprechen im Allgemeinen besonders in der Theologie entwickelt hat. Das „wörtliche“ Verstehen der Heiligen Schrift ist die Voraussetzung für andere Arten und Weisen des Verstehens. In diesem Sinne beginnt Friedrich Schleiermachers Hermeneutik mit der „grammatischen Auslegung“ (1977: 101–166). Die literarische und die philosophische Hermeneutik gehen in dieser Richtung vergleichsweise weniger weit. Dennoch muss betont werden, dass die Interpretation des Sinns die Klammer ist, die Literaturwissenschaft und eine diskursiv ausgerichtete Sprachwissenschaft verbindet. Eine textsemantische Hermeneutik dient der Interpretation von Texten jeder Art, auch der nicht-literarischen wie der Alltagstexte. Der Diskurscharakter der gesprochenen Sprache erfordert jedoch eine eigene Reflexion. An resultathaft geschriebenen Texten erprobte Interpretationsmodelle sind nicht völlig tauglich für die Erhellung des Sinns eines sich dynamisch entwickelnden, meist dialogischen Diskurses. Der Sinn ist die zentrale semantische Kategorie des Diskurses, er steht aber nicht mit diesem Terminus im Vordergrund der wissenschaftlichen Betrachtung von Diskurs und Text, er wird überhaupt zu selten in Erwägung gezogen. Und doch ist er allgegenwärtig, wenn von der Bedeutung und vom Verstehen eines Diskurses oder Textes geschrieben wird. Man lese nur die folgende Bemerkung aus dem einflussreichen Werk Discourse analysis von Brown und Yule: “Computing the intended meaning of a speaker / writer depends, as we have already argued, on knowledge of many details over and above those to be found in the textual record of the speaker’s / writer’s production. If we use this knowledge in the process of ‘understanding’ pieces of language, then any analysis which makes claims about ‘understanding’ must include that knowledge in its representation” (1983: 116).
“The intended meaning” ist der Sinn, den ein Sprecher oder Verfasser dem von ihm produzierten Text gibt und zu dem, wie wir festgestellt haben, das Gesagte wie das Nicht-Gesagte (3.4) gehören. Dieser Sinn muss nicht mit dem Sinn übereinstimmen, den ein Leser demselben Text beimisst. Es ist aber wichtig, dass derselbe Sinn, wenn auch in begrenzter Weise und unter anderen Namen, immer wieder in der wissenschaftichen Diskussion aufscheint (cf. auch “intended referent” bei Brown/Yule 1983: 205–208). Die Sache selbst ist also alt. Das Verstehen ist in so unterschiedlichen Bereichen wie Theologie, Recht, Philosophie, Literaturwissenschaft methodisch abgesichert worden unter dem Namen Exegese, Auslegung, Deutung, Interpretation oder eben Hermeneutik. Was verstanden werden soll, ist im Falle der Sprache die Bedeutung eines Textes, der Sinn. Die vielen Einzelhinweise darauf zeigen unmissverständlich die zentrale Stellung der Textbedeutung und ihres Verstehens auf, die wissenschaftliche Wahrnehmung des Problems bleibt aber meist fragmentarisch. Die Vielfalt der Ansätze in Disziplinen, die sich mit Texten beschäftigen, hätten eigentlich früh zu einer sprachwissenschaftlichen Hermeneutik führen können. In Deutschland hätte
3.11 Sinn
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die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (72010, 11960) ein solcher Ansatz werden können, denn sie stellt beim Verstehen von Texten die Sprachlichkeit des Textes und die Sprachlichkeit der Auslegung in den Mittelpunkt. Einen zugleich philosophischen und linguistischen Hintergrund hat die Textlinguistik als Hermeneutik des Sinns, die Coseriu in der Bearbeitung durch Jörn Albrecht seit 1980 vorgelegt hat. Obwohl diese Textlinguistik verlegerisch erfolgreich ist (42007) und ins Italienische (1997) wie auch ins Spanische (2007a) übersetzt wurde, blieb sie ein großer Entwurf, der in der Forschung über Diskurs und Text, von Ausnahmen abgesehen (Aschenberg 1999), nicht oft aufgegriffen wurde. Die bloße Tatsache, dass diese Textlinguistik Entwurf und nicht zugleich Ausführung ist, spricht für viele Linguisten unerklärlicherweise gegen sie. Ich habe seit Langem versucht (Lüdtke 1984a: 24–26, 30, 49–61), mit der Kategorie des Sinns zu arbeiten, und verfolge mit dem vorliegenden Kapitel zum Diskurs zu zeigen, dass diese Textlinguistik problemlos an die aktuelle Diskussion anschließbar ist. Jede Äußerung ist eine Sprech- oder Schreibhandlung, nur wird ihr Sprech-und Schreibhandlungscharakter meist nicht explizit gemacht. Als Sprechhandlung hat jede Äußerung einen Sinn als Funktion des Diskurses und des Textes, denn wir hatten festgestellt, dass alles in der Sprache funktionell ist, aber auf jeder sprachlichen Ebene etwas anderes. Auf der Ebene des Sprechens im Allgemeinen ist die Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit funktionell, auf der Ebene der Einzelsprache sind es die einzelsprachlichen Bedeutungen und im Diskurs oder Text ist es der Sinn einer Äußerung. Dieser wird Textfunktion genannt (Coseriu 42007: 143– 146, Lüdtke 1984a: 57, 226–231). (Darunter versteht allerdings nicht jeder Linguist das gleiche; cf. z. B. Heinemann/Viehweger 1991). Folglich sind im Sinn einer Äußerung bzw. in einer Textfunktion die Bezeichnungsfunktion und die einzelsprachlichen Bedeutungen immer mitenthalten, denn damit Sinn geschaffen werden kann, muss ein Sprecher einen Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit herstellen. In welch vielfältiger Weise dieser Bezug realisiert werden kann, haben wir bei der Besprechung der Umfelder gesehen. Umgekehrt kann ein Hörer den Sinn einer Äußerung nicht verstehen, wenn er die einzelsprachlichen Bedeutungen nicht versteht und keinen Bezug zu den Gegenständen und Sachverhalten der außersprachlichen Wirklichkeit erkennt. Somit gibt es neben der universellen Bezeichnung und der einzelsprachlichen Bedeutung, die man im Diskurs als Diskursbedeutungstyp und noch spezifischer als Diskursbedeutung feststellen kann, eben einen dritten Typ von Bedeutung, der nur im Diskurs oder im Text geschaffen wird und für Diskurs oder Text konstitutiv ist. Semiotisch bzw. zeichentheoretisch betrachtet haben wir es mit zwei Ebenen zu tun. Die erste Ebene besteht im sprachlichen Zeichen, dessen signifié in Opposition zu einem signifié eines anderen sprachlichen Zeichens stehen kann. Jedes sprachliche Zeichen bezeichnet einen Ausschnitt aus der sprachlichen Wirklichkeit (2.1.4). Diese erste sprachliche Ebene ist sodann im Diskurs bzw. Text das signifiant für den Sinn, die beide zusammen genommen die zweite semiotische Ebene konstituieren (Coseriu
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3 Der Diskurs
2007: 92–176, 2016: 59–66, bes. 64). Dabei geht es in erster Linie um die Schaffung des Sinns durch den Sprecher oder Schreiber. Erst in zweiter Linie ist die Frage zu stellen, wie der Hörer oder Leser den Sinn versteht und durch welche Elemente dieses Verstehen gesteuert wird. Daraus ergibt sich die komplexe Aufgabe, alle diejenigen Elemente zu berücksichtigen, die zur Schaffung des Sinns beitragen. Dazu gehören zunächst die einzelsprachlichen Bedeutungen (2.) und die Beziehungen der sprachlichen Zeichen zur außersprachlichen Wirklichkeit (1.). Wenn man daraus eine Methode für die Textlinguistik ableiten will, so dürfte es klar sein, dass ein Interpret nicht von Vornherein wissen kann, welche Beziehungen einem Sprecher oder Schreiber in den Sinn gekommen sind. Je mehr Relationen ein Interpret aber erfahren hat, desto mehr kann er anwenden, weil er eben darauf vorbereitet ist. In diesem dritten Teil der Sprachbeschreibung wurden daher Themen behandelt, die im Einzelfall relevant sein können. Es macht einen Unterschied, ob wir mündliche oder schriftliche Äußerungen (3.2) als Tätigkeit oder von ihrem Ergebnis her betrachten (3.1), in ihrer eigenen Geschichtlichkeit (3.3) sehen oder nicht, auf welche Umfelder zurückgegriffen wird (3.4), wie das Sprechen oder Schreiben in der unmittelbaren Situation verankert ist (3.5, 3.9), ob jemand sich monologisch äußert oder nicht (3.6), wie ein Thema entwickelt wird (3.7), wie ein Text als Gefüge aufgebaut wird (3.8) und welche Gattungen von Diskurssequenzen verkettet werden, die als Ganzes einen Diskurs oder Text bilden, der je nach Zugehörigkeit zu einer Textgattung oder Textsorte anders gemeint und daher anders zu verstehen ist (3.10). Die wohl unauffälligste Steuerung des Sinnverstehens leisten die Diskursmarker, die aus diesem Grund lange der Aufmerksamkeit der Linguisten entgangen sind, sie haben aber gleichwohl eine reflexive Funktion. Mit Hilfe dieser Gesichtspunkte wird sicher eine große Zahl von Relationen eines Diskurses oder Textes interpretiert werden können. Wir müssen aber offen dafür bleiben, dass ein Text Anforderungen an unsere Interpretationskunst stellt, die wir noch nicht erfahren haben und die uns daher zu einer schöpferischen Lösung herausfordern. Die minimalen Sinneinheiten stellt man bei Äußerungen fest, die in einer bestimmten Situation vorkommen. Sie sind einerseits in allgemeine Kategorien zu fassen, wie sie in den Äußerungskategorien Assertiv, Exklamativ, Interrogativ, Imperativ und Optativ beim Sprechen im Allgemeinen unterschieden wurden (1.4.5.2). Sie haben jedoch situationsbedingt eine sehr viel spezifischere Textfunktion. Zu ihr tragen maßgeblich die Umfelder bei, zu denen neben der unmittelbaren Situation selbst der Diskurskontext, das Wissen und das Diskursuniversum gehören (3.4). In expliziter Weise treten die Textfunktionen als Sprechakte in Erscheinung (3.9). Aber auch in diesem Fall kommt es, wie bei den Äußerungskategorien, nicht auf die allgemeine Klassifikation an, wie sie Austin und Searle in unterschiedlicher Weise mit teils einzelsprachlich gemeinten, teils auf englischen Verben beruhenden Benennungen klassifiziert haben. Vielmehr kommt der individuelle Sinn eines Sprechakts durch ein spezifisches Verb zustande, unbeschadet der allgemeinen Überlegungen, die die Interpretation bereichern können. Nebenbei bemerkt darf man eine Illokution als Sinn auffassen, um 4
3.11 Sinn
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damit zu betonen, dass es dabei immer um dasselbe textsemantische Problem geht, das nur von Fall zu Fall anders genannt wird und somit das verdunkelt, was alle diese Textphänomene gemeinsam haben. Die Sinnnsteuerung durch den Sprecher und die Sinndeutung durch den Hörer sind in unterschiedlichen Graden explizit. In jedem Fall aber sind sie reflexiv (1.2.6). Nur durch die Sprachlichkeit der Auslegung, und damit durch ihre Reflexivität, wird der Sinn zugänglich gemacht. Da die Sinndeutung auf eine Einzelsprache angewiesen ist, brauchen wir dafür den Wortschatz, der sie thematisiert, und die sprachlichen Strukturen, mit denen sie in den Diskurs oder Text eingebettet werden. Allenfalls bei ganz einfachen Sinneinheiten wie dem Gruß und Gegengruß kann von einer reflexiven Einordnung abgesehen werden, wenn sie als Texte fester Bestandteil des einzelsprachlichen Wissens sind: Frz. Salut!, Bonjour, Ça va?, it. Ciao!, Buongiorno!, Salve!, rum. Bunǎ ziua, Ce mai faci?, sp. Hola, Buenos días, ¿Qué tal? usw. können einzeln und kumulativ als Gruß verwendet werden, und diese Ausdrücke werden ganz eindeutig in diesem Sinne verstanden. Dabei wird natürlich nicht nur der Sinn des Diskurses ausgedrückt, sondern auch die Beziehung der sich grüßenden Personen zueinander. Andere Kurztexte sind Gebote oder Verbote, die im öffentlichen Raum angebracht werden, militärische Kommandos, Hinweisschilder. Auf einer mexikanischen Autobahn kann sich ein Europäer über das Schild “Conserve su derecha” (‚Rechts bleiben‘) oder “No rebase por el acotamiento carril” (‚Nicht auf dem Fahrbahnstreifen überholen‘) wundern. Alle diese Textfunktionen kann man textbildend nennen. Viele Textfunktionen treten binär auf wie die Grüße, so auch Frage und Antwort, Einladung und Annahme oder Ablehnung einer Einladung, Bitte um Entschuldigung und die Reaktion darauf usw. Von den einfachen Textfunktionen gehen wir über die binären hinaus zu den komplexen über. Längere Diskurse oder Texte entstehen als Sequenzen von Äußerungen, die derselben Diskursgattung oder verschiedenen angehören (3.10.1–3.10.5). Der komplexe Sinn eines Textes entsteht in der Weise, dass die einzelnen Textfunktionen innerhalb einer Sequenz größere Sinneinheiten bilden, die je nach Dominanz der eingebetteten Sequenzen ein Gespräch, eine Erzählung, eine Beschreibung, eine Argumentation usw. bilden, die wiederum ineinander eingebettet sein können. Eindeutig reflexiv sind die Interpretatoren, die ich mit diesem Terminus benannt habe, weil sie zur Sinndeutung in sprachlich expliziter Weise beitragen. Der Sprecher/ Schreiber setzt sie selbstreflexiv ein, wenn er sich nicht ganz sicher ist, dass er richtig verstanden wird. Bei der Begrüßung nach einer Bahnreise (3.10.1) ist der Sinn der einzelnen Äußerung so evident, dass er nicht interpretiert zu werden braucht. Damit es eine freundliche Begrüßung wird, dürfen die Anrede, der Ausdruck der Freude über das Kommen sowie die Frage nach dem Verlauf der Reise nicht fehlen. Darauf folgt eine kurze Antwort mit einem Ja, einem Dank und einer Bestätigung des guten Verlaufs der Reise. Die Reaktion darauf ist ein Exklamativ, der eine Anteilnahme an der Ermüdung durch die Reise beinhaltet. Diese Sinndeutungen sind so alltäglich, dass ihr expliziter Ausdruck stören würde.
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3 Der Diskurs
Etwas anderes ist es, wenn jemand sich auf Texte und Textsegmente eines anderen bezieht, die damit zugleich sinndeutend eingeordnet werden. Dafür brauchen wir Intertextualitätsmarker. Ganz besonders unverzichtbar sind deshalb Interpretatoren dann, wenn ein Text ein Gefüge von Sachverhalten und Äußerungen unterschiedlicher Provenienz ist, wie wir im Text Europe 2009 (3.6.3) erfahren haben. Im Folgenden werden die Sinnzuweisungen auf Deutsch kursiv wiedergegeben, die französischen Interpretatoren mit ihren Bestimmungen hingegen in Anführungszeichen gesetzt. Dieser Leitartikel ist das genaue Gegenteil der Begrüßung am Bahnhof, denn der Sinn des gesamten Leitartikels kumuliert die – sogar mehrfachen – Sinnzuweisungen der Einzelsätze, die auf das Ziel ausgerichtet sind, bis 2009 eine europäische Verfassung zuwege zu bringen. Der Gedankengang beginnt mit der “crise”, in die das “non”, also die Ablehnung des Verfassungsentwurfs (“projet de Constitution”) durch die Franzosen und Niederländer die Europäische Union gestürzt hat und die Europa überwinden will, was durch “commence à entrevoir la possibilité” modalisiert wird. Sowohl die Benennung “Constitution” als auch “projet de Constitution” interpretieren den Sinn einer Textsorte. Die Staats- und Regierungschefs haben sich verständigt (“s’entendre”), modalisiert durch “ont réussi à”, auf ein Verfahren (“procédure”), die Annahme (“adoption”) eines neuen Vertrags (“traité”), der erlauben dürfte (“devait permettre”), wiederum ein modalisierter verbaler Interpretator, wie gleichfalls die Bewertung “si elle est menée à bien”, bis 2009. “Certes”, ein Diskursmarker auch für geschriebene Texte, der einen Vorbehalt zur folgenden negierten Sprechhandlung “rien n’a été dit” ausdrückt in Bezug auf den Inhalt (“contenu”) dieses künftigen Textes (“texte”). Ich darf annehmen, dass hinreichend beschrieben worden ist, wie die erwähnten Sinnzuweisungen in diesem Textstück funktionieren. Diese Sinnzuweisungen können nur als solche, eben als Sinnzuweisungen, verstanden werden, weil wir nichts über die genauen Sachverhalte, die thematische Ausgestaltung der Besprechungen und Verhandlungen und noch viel weniger über Inhalt und Wortlaut der Texte erfahren, auf die interpretierend angespielt wird. Kommen wir zu den Äußerungskategorien und ihren Sinneinheiten zurück. Ein Assertiv ist im Französischen konkret eine affirmation, ein aveu, eine accusation, décision, constatation, discrimination, promesse, réponse usw. zu nennen, ein Imperativ als ordre, souhait, désir, défi, exhortation, admonestation, recommendation usw. zu verstehen. Dabei gilt umgekehrt keinesfalls, dass die genannten Textfunktionen ausgedrückt werden müssen. Zwischen ihnen und diesen Textfunktionen besteht ein „irrationales“ Verhältnis. An dieser Stelle angekommen, können wir uns der Interpretation von Texten jeder Art, darunter besonders der literarischen, widmen und eine Verbindung zur Literaturwissenschaft herstellen, wir können die Grundzüge der Sprachbeschreibung vertiefen oder die Sprachen und ihre Texte von ihrer Geschichte her zu begreifen suchen, was im folgenden II. Teil geschehen soll.
Teil II: Die Einzelsprachen in ihrer Geschichte
4 Die lateinische Sprache 4.0.1 Grundlagen der philologischen Forschung In welcher Weise sich die linguistische Forschung auf Diskurse und Texte stützt, haben wir in 2. und 3. gesehen, in 3.2 wurden auch Hinweise darauf gegeben, dass selbst mündliche Quellen ediert werden müssen, um sie einer Auswertung zugänglich zu machen, so paradox das scheinen mag. Den Gegenwartsquellen ist aber gemeinsam, dass wir die Sprecher, und die Linguisten sich als Sprecher, befragen und hinterfragen können. Das ändert sich in der Sprachgeschichte grundsätzlich. In diesem Sinne knüpfe ich an die Bemerkungen in 1.2.4.4 zur Philologie an. Der Umgang mit den Quellen und ihre Edition sind so sehr in den Hintergrund der gegenwärtigen Interessen der romanischen Sprachwissenschaft gerückt, dass in Einführungen kaum die Voraussetzungen für die sprachgeschichtliche Forschung erklärt werden, was zu einem oft naiven Umgang mit den Quellen führt. Daher ist eine elementare Hinführung zu den Quellen und ihrer Edition erforderlich. Wenn wir die Sprache der Vergangenheit untersuchen, kann uns das Vorwissen nicht mehr in dem Maße leiten, wie es in der Gegenwartssprache möglich ist. Zwar ist jede Sprache ein Tor zu jeder anderen, für diesen Zugang brauchen wir aber Texte. Über Quellen verfügen wir erst, wenn eine Sprache verschriftet ist. Erst damit treten wir überhaupt in die Geschichte ein. Wir werden in 5.1–5.16 sehen, dass selbst die romanischen Sprachen gelegentlich spät verschriftet worden sind oder eine prekäre Verschriftungstradition haben. Ferner muss die materielle Gestalt der Texte gesichert sein. Und schließlich müssen wir sie verstehen: Sie müssen entziffert und sprachlich sowie inhaltlich interpretiert werden. Ohne die Erfüllung dieser Bedingungen kann keine sprachgeschichtliche Forschung betrieben werden. Gleichwohl haben wir selbst nach der Erfüllung dieser Bedingungen nur einen bedingten Zugang zum Vorwissen, weil wir die Quellen erst noch einem Autor zuordnen müssen, der der Träger dieses Wissens sein könnte. Ein erster wichtiger Unterschied liegt darin, ob wir es mit einer gedruckten Quelle zu tun haben, die in der Regel in einer Standardsprache abgefasst ist, oder ob sie in einer Handschrift vorliegt. Die Manuskripte unterscheiden sich von den Druckwerken durch ihre nicht-standardisierte, variantenreiche Sprache. Neben der Drucktradition bleibt aber die Manuskripttradition bis nahe an die Gegenwart bestehen, besonders in den Rechtsurkunden. Für gewöhnlich ist der Autor umso weniger zu fassen, je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen. Wer ist der Autor einer antiken Steininschrift? Der Auftraggeber, der Steinmetz oder noch ein anderer? Ist es bei den Texten der Antike oder des Mittel alters die Person, die als Autor überliefert ist oder der Abschreiber, der selbst wieder in einer Tradition steht? Ähnliche Probleme haben wir mit der Quelle selbst, denn eine Steininschrift verbleibt meist nicht an dem Ort, für den sie geschaffen wurde, ein Text wird fehlerhaft oder unvollständig abgeschrieben, und steht im Zusammenhang mit anderen, die untergegangen sind, um einige wenige Probleme der älteren https://doi.org/10.1515/9783110476651-004
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Überlieferung zu nennen. Alle diese Voraussetzungen sind zu klären, wenn ein Text ediert wird. Schon aus den wenigen bisherigen Bemerkungen wird deutlich geworden sein, dass die Editionsprinzipien von Fall zu Fall anders sind. Sie müssen explizit sein, damit der Leser die Eingriffe und die Leistung des Editors nachvollziehen kann. Dennoch bleiben die Ergebnisse der Textkonstruktion in vielfältiger Weise hypothetisch, eine Tatsache, die ein Philologe akzeptieren muss. Die Befassung mit Textphilologie ist nicht für jeden Linguisten eine Selbstverständlichkeit. Und wer eine romanische Einzelsprachwissenschaft studiert, wird einen Abschluss erwerben können, ohne jemals etwas von Textedition und Textkritik gehört zu haben. Gerechtfertigt ist diese Abwesenheit oder Unterrepräsentation nicht, denn wir alle benutzen Texteditionen und Korpora, die wiederum auf Texteditionen beruhen, und stützen uns auf edierte Texte, wenn wir synchronisches oder diachronisches Sprachmaterial suchen. Daher ist es unerlässlich, die Relevanz der philologischen Textarbeit zu erkennen und anzuerkennen. In Misskredit ist sie geraten, weil sie ohne die sorgfältige Detailarbeit nicht auskommt, was viele Linguisten als Theorieferne wahrnehmen. Aber ohne Kenntnis dieses Handwerkszeugs bleibt man bereits in der synchronischen Sprachwissenschaft wissenschaftlich naiv und unweigerlich in der diachronischen. Eine theoretische Arbeit zum Sprachwandel oder zur Grammatikalisierung weist Mängel auf, wenn sie sich nicht auf gesicherte Quellen stützt. Ich darf daran erinnern, dass Fortschritte in der Sprachgeschichte immer erst dann gemacht wurden, wenn man neue Quellen erschloss. In Frankreich beflügelte die Kenntnis der Straßburger Eide (4.6.4, 5.8.1.2) die Sprachgeschichte, in Italien verbreiteten Celso Cittadini (1601) die Kenntnis lateinischer Inschriften und Ludovico Antonio Muratori das Studium mittelalterlicher Quellen (Marazzini 32002: 14–16), bis man dann, wiederum in Frankreich, die Literatur des französischen und okzitanischen Mittelalters entdeckte und die nunmehr besseren Texteditionen zur Grundlage der Entstehung der Hochschulromanistik machen konnte (Lüdtke 2001: 15–20). Zu der Zeit, als das romanistische Innovationspotential noch besonders hoch war, erschien eine ausführliche Einführung in die philologische Forschung unverzichtbar, wie die Behandlung dieses Themas durch Gröber und andere (21904–1906: 203–368) in seinem Grundriss zeigt. An der Relevanz der Fragestellung hat sich im Wesentlichen nicht viel geändert, wohl aber an der praktischen Realisierung. Bei einer derart alten Disziplin wir der Textphilologie, die bereits von den ale xandrinischen Gelehrten des 3. und 2. vorchristlichen Jahrhunderts betrieben wurde, um Textkritik an den homerischen Epen zu üben und möglichst authentische Texte zu edieren, kommt es nicht darauf an, dass ich an dieser Stelle das Neueste vom Neuesten präsentiere. Mir genügt es letzten Endes, wenn meine Leser für dieses Thema sensibilisiert werden. Ist man es nicht, begeht man leicht Interpretationsfehler in der Auswertung der Quellen, gegen die niemand, selbst mit einer solchen Sensibilisierung, gefeit ist. Nach welchen Kriterien man edieren sollte, resultiert auch aus dem Sprachbegriff, den man vertritt. Ich habe mich bemüht, davon im ersten Teil dieses Werks eine Vorstellung zu geben.
4.0.1 Grundlagen der philologischen Forschung
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Zwischen dem tatsächlich gesprochenen und geschriebenen und dem dokumentierten Lateinisch klafft eine unüberbrückbare Lücke. Daher müssen schriftliche Belege für die geschriebene und die gesprochene Sprache insgesamt stehen (cf. Vàrvaro 1998: 71). Die Variation in den Texten, die wir vor allem bei weniger gebildeten Verfassern feststellen, ist im Hinblick auf die Unterschiede im Lateinischen als historischer Sprache zu interpretieren. Nicht zuletzt wegen dieser Dokumentationsschwierigkeiten gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen von Vulgärlatein. Nennt man die nicht-klassischen Quellen vulgärlateinisch, dann trennt man gewöhnlich die vulgärlateinischen Quellen von den übrigen, also den klassischen, den mittelalterlichen und den modernen Quellen. Dafür gibt es aber keine Notwendigkeit. Noch nicht einmal für eine Unterscheidung zwischen diachronischen und synchronischen Untersuchungen besteht sie, denn dieselben Quellen können für eine vergangene Synchronie oder diachronisch ausgewertet werden. Dennoch ist es sinnvoll, die ausschließlich schriftlichen Quellen der Vergangenheit von den mündlichen seit der Erfindung von Tonträgern gesondert zu behandeln. Selten sind die Texte der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in ihrer ursprünglichen Gestalt auf uns gekommen, in welcher Sprache sie auch geschrieben sein mögen. Je mehr wir uns aber dem 21. Jahrhundert nähern, desto häufiger werden Originale überliefert. In diesem 4. Kapitel konzentriere ich mich auf die nicht-standardsprachlichen Quellen des Lateinischen, da die romanischen Sprachen letztlich nicht auf die lateinische Standardsprache, das klassische Latein, zurückgehen. Zwar werden die Texte der klassischen Antike, deren Autoren bekannt sind, kaum zu den Quellen der romanischen Sprachen gerechnet, doch ist uns aus der römischen Literatur ein einziger Text überliefert, in dem verschiedene Varietäten gesprochener Sprache karikierend nachgeahmt werden, die „Cena Trimalchionis“ (‚Gastmahl des Trimalchio‘) im Satyricon von Petronius (Arbiter), der zur Zeit Neros lebte. Den Typ von Sprachmischung wie in diesem Text haben wir bei Flydal als „Extrastrukturalismen“ kennengelernt (2.4.2.1). Von den genannten Einschränkungen abgesehen sind die literarischen Texte immer dann für uns von Interesse, wenn sie metasprachliche Äußerungen enthalten. Eine besondere Gruppe stellen sprachpuristische Schriften dar. In diskursiver Form schreiben über Sprachfehler Consentius (5. Jh. n. Chr.) in De barbarismis et metaplasmis und Victorinus in De soloecismo et barbarismo. Die schwer zu datierende, vielleicht aus dem 6. Jahrhundert stammende Appendix Probi, ein Anhang eines anonymen Verfassers des 3. Jahrhunderts zu Werken des römischen Philologen Probus, schlägt Fehlerkorrekturen vor, die sich ebenso auf die gesprochene wie auf die geschriebene Sprache beziehen (cf. Neto 31956, Quirk 2006, Lo Monaco/Molinelli (a cura di) 2007, Asperti/Passalacqua (a cura di) 2014). Daneben gibt es Texte, die von weniger gebildeten Autoren verfasst wurden und überhaupt der klassischen Tradition fernstanden. Dazu gehören namentlich Abhandlungen der Fachliteratur, Geschichtswerke, Gesetzessammlungen, Urkunden und Formularbücher. Diese Texte können nur dann eine gute Grundlage für die Untersu-
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chung sein, wenn sie in ihrer ursprünglichen Gestalt oder einer sehr alten Abschrift überliefert sind. Sie gelten als „vulgärlateinische“ Texte (cf. die Anthologie von Díaz y Díaz 1962). Ein Tierarzt verfasste über die Krankheiten von Pferden und Maultieren die Mulomedicina Chironis irgendwann vor dem Ende des 3. Jahrhunderts. Die Fachsprache der Pferde- und Maultiermedizin war von großer allgemeiner Bedeutung, weil Last- und Reittiere über das Straßennetz die Verbindung bis in die entferntesten Regionen des Reichs ermöglichten. Nach dem römischen Feinschmecker M. Gavius Apicius (1974), der zur Zeit von Kaiser Tiberius lebte, wurde das Kochbuch De re coquinaria aus dem 4. Jahrhundert, das eine Kompilation aus mehreren Quellen ist, benannt. Christliche Schriftsteller sind für die Syntax und den Wortschatz von großem Interesse. Sie stehen zwar auch in der klassischen Tradition, müssen sich aber in höherem Maße um Verständlichkeit bemühen. Für die Syntax ist die Vulgata zukunftsweisend. Unter den christlichen Texten verdient die Peregrinatio ad loca sancta, ein Bericht der Reise der Pilgerin Egeria (oder Aetheria, Etheria, Eucheria), die größte Beachtung. Die Autorin hat die Reise gegen Ende des 4. Jahrhunderts ins Heilige Land unternommen. Sie könnte aus Galicien oder aus Südfrankreich stammen (Egeria 22000). Für diese Texte wie für alle anderen auch gilt, dass sie kritisch ediert sein müssen, bevor sie sprachgeschichtlich interpretiert werden (zu den lateinischen Quellen und ältesten romanischen Sprachzeugnissen Monteverdi 1952: 32–44; Väänänen 31981: 14–20). Die Texte der Antike sind höchst selten im Original auf uns gekommen. Das liegt meist am Schreibmaterial. Welches Beschreibmaterial überhaupt existierte, entnehmen wir einer Stelle über die Stoffe, auf denen Testamentsurkunden geschrieben sein konnten, wie wir aus einer Schrift des Juristen Ulpian erfahren, der um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert lebte: „Als Testamentsurkunden müssen wir jede Art von Material gelten lassen, ob es sich um Urkunden auf Holz oder auf irgendwelchem anderen Material handelt, ob auf Papyrus, auf Pergament oder der Haut eines Tieres: Sie alle werden zu Recht als Urkunden bezeichnet“ (zitiert nach Fuhrmann 1999: 61). Entgegen der traditionellen Annahme, dass man in der Antike auf Papyrus oder Wachstafeln geschrieben hat, wird Holz an erster Stelle erwähnt. Unter den anderen Materialien sind Stein und Metall archäologisch bezeugt. Die Art des Beschreibmaterials ist wichtig, weil es Hinweise auf die möglichen Autoren und ihren sozialen Status gibt. Ich beschreibe das Material, weil das preisgünstigere von Schreibern mit geringerer Bildung benutzt worden sein könnte, die die Standardsprache weniger gut beherrschten. Man könnte bei der Nennung von Holz zuerst an die mit Bienenwachs beschichteten Holztafeln denken, die mit einem an seinem einen Ende spitzen und seinem anderen Ende abgeflachten Stilus beschrieben wurden. Das spitze Ende diente zum Schreiben, das breite zum Auslöschen der Schrift oder der Fehlerkorrektur. Nördlich der Alpen wurden Darstellungen von Wachsholztafeln aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. auf Trierer Grabmälern gefunden, die im nahen Neumagen für eine Stadtmauer verbaut worden waren. Berühmt ist die Schulszene, die sowohl Papyrusrollen als auch Wachstafeln zeigt. Von derselben Art ist die zusammengeklappte Schreibtafel, die ein Soldat auf einem Mainzer Grabstein des 1. Jahr-
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hunderts n. Chr. in der linken Hand trägt (Selzer 1988: 148), während ein Träger des Kaiserbilds, der Soldat Genialis auf einem Mainzer Grabstein aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr., eine Papyrusrolle in der Linken hält, womit er sicher die Übermittlung von schriftlichen Befehlen andeutet. Solche Darstellungen sind keine Seltenheit, wir finden weitere z. B. in Hessen (Baatz/Hermann 22002: 168, 169). Sie bezeugen, dass Schreibarbeiten bestimmten Soldaten oblagen. In Trier werden Schreibkundige mit ihren Codices dargestellt. Es gab auch geweißte Holztafeln, die mit Tinte beschrieben und für öffentliche Bekanntmachungen verwendet wurden. Die Existenz von Tintenfässern, die man etwa in Gallien und Germanien gefunden hat, in zahlreichen Musseen macht es übrigens sehr wahrscheinlich, dass man nicht nur auf Wachs, sondern auch auf Holz – hier käme allerdings auch geweißtes Holz in Frage – oder auf Papyrus geschrieben hat. Dass aber Holz ohne Wachsbeschichtung und ungeweißt ein übliches Schreibmaterial war, ist nicht allgemein bekannt. Holz kostet nichts und ist leicht verfügbar, aber leicht verderblich und wurde daher bei archäologischen Ausgrabungen kaum gefunden. Aufsehen erregend und immer noch viel zu wenig gewürdigt sind die Holztäfelchen, die von 1973 an in Vindolanda (heute Chesterholm) südlich des Hadrianswalls zu Hunderten entdeckt und geborgen wurden. Sie wurden zwischen 90 und 120 n. Chr. geschrieben. Davor waren unbeschichtete beschriebene Holztäfelchen nur in Vindonissa, dem heutigen Windisch in der Schweiz, entdeckt worden. Diese Funde legen die Schlussfolgerung nahe, dass in weiten Teilen des Römischen Reichs Holz auch ohne Beschichtung als Beschreibmaterial benutzt wurde. Während Papyrus sich unter trockenen Witterungsbedingungen erhält, wird Holz eher bei Feuchtigkeit und unter anärobischen Bedingungen, d. h. wenn es vor Sauerstoff geschützt ist, konserviert. Dass so wenige Holztäfelchen gefunden wurden, liegt wohl an der einfachen Tatsache, dass man bis vor Kurzem nichts von ihrer Existenz wusste, weil man sie ohne Vorkenntnisse nicht von Abfall unterscheiden kann. Jedenfalls hat man nach den Funden von Vindolanda weitere Holztäfelchen in England entdeckt (Bowman 1983: 17). Man kann nunmehr den Behälter, den der optio oder Stellvertreter des Zenturio Caecilius Avitus von der 20. Legion in Chester auf einem Grabstein in der linken Hand hält, als einen Behälter für Holztäfelchen deuten (Abbildung in Bowman 1983: 8). Als Stellvertreter eines Zenturios oder Hauptmanns hätte er dann die Aufgabe gehabt, die Schreibarbeiten einer Zenturie zu erledigen. Die Funde von Vindolanda legen nahe, dass sehr dünne Holztäfelchen der üblichste Beschreibstoff waren. Die Täfelchen von Vindolanda sind zwischen 16 und 20 cm lang und zwischen 6 und 9 cm breit. Sie sind 1–2 mm, manchmal 3 mm dick. Es gibt aber einige, die nur 0,25 mm oder weniger dick sind (Bowman 1983: 18). Im Übrigen hat Herodian, ein griechischer Historiker des 3. nachchristlichen Jahrhunderts, solche Täfelchen aus Lindenholz beschrieben. In Vindolanda sind sie aus Birke und Erle. Sie wurden in zwei Kolumnen beschrieben und dann von rechts nach links als Leporello so zusammengefaltet, dass die beschriebenen Flächen aufeinander zu liegen kamen. Auf die Rückseite der rechten Hälfte wurde die Adresse geschrieben
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und das zusammengefaltete Täfelchen wurde zusammengebunden. Dafür wurden sie eingekerbt. Erstellte man längere Listen, dann konnten mehrere gefaltete Täfelchen zusammengebunden werden. Dabei wurde die Schmalseite oben und unten mit zwei Löchern durchbohrt. Die auf diesen Täfelchen verwendete Schrift ist eine Kursivschrift. Die „altrömische Kursivschrift“ des 1.–2. Jahrhunderts kann an den Täfelchen von Vindolanda am besten untersucht werden. Sie ist in kleinen Buchstaben geschrieben, während für die Literatur Großbuchstaben verwendet wurden, wie wir sie aus Inschriften kennen. Als Beschreibstoff verwendete man im Römischen Reich ferner Papyrus, der mit aus Ruß hergestellter Tinte und einem gespaltenen Rohrhalm oder mit einer bronzenen Feder beschrieben wurde. Die Parpyrusrolle hatte eine begrenzte Länge, die Seiten waren unpaginiert und ungegliedert und man brauchte zum Lesen beide Hände. Zwar wurden in mehreren Sprachen geschriebene Papyri gefunden, doch sind lateinische Papyri Raritäten. Die eine Gruppe der Papyrifunde befand sich in Ägypten und stammt aus dem 1.–3. Jahrhundert, die andere wurde in Dura-Europos, einem in Syrien am Euphrat gelegenen Ort, entdeckt und umfasst Texte von der Mitte des 2. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts. Beide Gruppen von Sprachzeugnissen stammen aus Archiven der römischen Heeresverwaltung, über die wir durch Vegetius (4. Jahrhundert) infomiert werden. In Dura-Europos handelt es sich um das Archiv der 20. Kohorte der Bogenschützen von Palmyra. An den beiden Fundstellen wurde das Lateinische als Sprache des Heeres in einer griechischsprachigen Umgebung verwendet. Der Papyrus ist durch das Pergament abgelöst worden, das anfangs in der Form eines Hefts, dann eines Codex gebunden wurde. Der Codex hatte viele Vorteile: Er war haltbarer als die Papyrusrolle, die Blätter konnten beidseitig beschrieben werden, so dass man Material sparte, er konnte aufgeschlagen und mit einer Hand geblättert werden. Vom 3. Jahrhundert n. Chr. an wurden Texte von Papyrusrollen auf Pergamentbücher, Codices, umgeschrieben. Diesem haltbaren Material haben wir es zu verdanken, dass so zahlreiche Werke der Antike auf uns gekommen sind. Es entsteht letzten Endes die Seite mit ihrer Paginierung, Kapiteleinteilung, mit Illustrationen, Inhaltsverzeichnis, Index und Bibliographie im Laufe einer Jahrhunderte währenden Geschichte des Buchs. Neben den genannten üblichen Beschreibmaterialien gab es noch andere für bestimmte Zwecke. So wurden Fluchtäfelchen (defixionum tabellae), die privaten Charakter hatten und in der Nähe von Tempeln und ähnlichen Orten gefunden wurden, gerne aus Blei hergestellt. Unter den Quellen haben die Inschriften von öffentlicher Bedeutung am häufigsten den Charakter von Originalen. Für die Antike und das frühe Mittelalter sind sie oftmals die einzigen gesicherten Sprachzeugnisse. Für eine sprachwissenschaftliche Untersuchung sind an die Epigraphik, d. h. die Lehre von den Inschriften, höhere Anforderungen als für andere Arten von Untersuchungen zu stellen. Um sie genau zu interpretieren, kommt man nicht ohne Augenschein des Gebäudes aus, in das sie gemeißelt sind, oder der Wand und der Scherbe, auf die sie gekritzelt wurden. Es ist
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also besser, einige wenige Inschriften in ihrer ursprünglichen Gestalt zu deuten, als viele in ihrer nur edierten Form. Bemerkenswert sind die Graffiti von Pompeji, jener Stadt, die im Jahre 79 von einem Ausbruch des Vesuvs verschüttet wurde. Oft aber sind die Steine, auf denen die Inschriften angebracht waren, nicht an Ort und Stelle erhalten geblieben, sondern sie sind für andere Gebäude wiederverwendet worden. Auf Metalltafeln, besonders Bronze, oder Tongefäßen aufgezeichnet werden sie an einen anderen Ort gebracht, so dass dieses wichtige Deutungselement verloren geht. Ort und Zeit der Abfassung sind daher sehr oft ungewiss, sie müssen aufgrund anderer geschichtlicher Gegebenheiten erschlossen werden. Die Autoren bleiben, wenn sie nicht gelegentlich ihr Werk im Falle von Tongefäßen signieren, anonym. So bekommen wir über die drei wichtigsten Elemente eines jeden Textes, den Autor sowie den Ort und die Zeit seiner Abfassung, die bei den Inschriften von Fall zu Fall sehr variieren, keine Gewissheit. Die Inschriften der Antike sind nach Sprachen getrennt gesammelt worden. Diese Trennung hat für heutige Sprachwissenschaftler, die nicht nur eine einzige Sprache untersuchen wollen, sondern auch Sprachkontakte, gewisse Nachteile, denn in zahlreichen Regionen des Römischen Reichs gab es zweisprachige Inschriften, die jedoch nicht als solche gesammelt worden sind. Für die Untersuchung des Sprachkontakts sind aber alle Inschriften einer zwei- oder mehrsprachigen Region von Interesse. Aus der chronologischen Untersuchung der Zunahme und Abnahme von Inschriften in bestimmten Sprachen kann man Rückschlüsse auf die Entwicklung des Sprachkontakts ziehen. Zu den lateinischen Texten kommen die frühesten und frühen schriftlichen romanischen Sprachzeugnisse hinzu. Sie sind zahlreicher als die antiken Texte in zeitgenössischen Abschriften überliefert. Während uns aus der Antike aber eher literarische Texte überliefert sind, kommen im lateinischen und romanischen Mittelalter Urkunden hinzu. Diese Texte dienen der Rekonstruktion des Vulgärlateins mit Hilfe der vergleichenden Methode. Schließlich sind lateinische Elemente in nicht-romanischen Sprachen zu berücksichtigen. Sie sind aufschlussreich für die regional unterschiedlichen Prozesse der Romanisierung, die nicht überall zu einer vollständigen Ersetzung der latinisierten Sprache geführt haben (4.3, 4.4). Die Disziplin, die sich mit den Texten beschäftigt, ist die Philologie im engeren Sinne. Sie untersucht kritisch Texte, Urkunden und sonstige Sprachzeugnisse mit dem Ziel, einen Text sprachlich und inhaltlich genau und erschöpfend in seinem kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen. Für die diachronische Sprachwissenschaft sind die kritischen Editionen in zweierlei Hinsicht von Belang. Erstens geben nur philologische Editionen von Texten eine gesicherte Grundlage für die vergleichende Methode, wenn man ältere Sprachzeugnisse verwenden will. Daher ging der Entwicklung der vergleichenden Methode die Philologie voraus, wenn auch die Editionen des 18. und des 19. Jahrhunderts heutigen kritischen Ansprüchen nicht mehr genügen. Zweitens liegen die kritischen Editionen indirekt neben anderen Quellen
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den geschichtlichen Darstellungen einer Sprache zugrunde. Eines der Ziele der philologischen Texteditionen ist es also, die Materialbasis für die Sprachgeschichte zu liefern. Die Textphilologie ist daher eine der wichtigsten Grundlagen der diachronischen Sprachwissenschaft. Nicht zuletzt ist die Untersuchung der Lautentwicklungen und der Sprachentwicklung schlechthin an die Dokumentation gebunden. Erst von der Zeit an, da man über zuverlässig edierte Editionen verfügte, konnte man überhaupt an diachronische Untersuchungen herangehen. Die Grundlage der diachronischen Sprachwissenschaft sind daher zuverlässige Editionen von Texten, wenn man nicht auf das sehr zeitraubende Arbeiten in Archiven angewiesen sein will. Immer wieder sind Rekonstruktionen der Sprache der Vergangenheit gescheitert, wenn sie auf fehlerhaften Quellen beruhten. Die Edition von Texten ist nicht ohne Hilfswissenschaften zu leisten. Die Paläographie, die Lehre von den älteren Schriften, ist eine Voraussetzung für jede Art von Umgang mit älteren Texten, seien sie als Inschrift überliefert oder als Text auf Pergament und später auf Papier. Für die Untersuchung von Urkunden braucht man Kenntnisse in Diplomatik (abgeleitet von grch.-lat. diploma, dem mittellateinischen Wort für ‚Urkunde‘). Die Handschriften und die Editionen der Handschriften waren mit den Druckschriften die einzigen Quellen philologischer Forschung, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Junggrammatiker die gesprochene Sprache in Gestalt der Dialekte entdeckten und untersuchten. In allgemein theoretischer Hinsicht führte die Untersuchung der Dialekte zur Entdeckung der Variation. Als Quelle für die Geschichte der romanischen Sprachen belegen sie sprachliche Erscheinungen, vor allem Wörter, die schriftlich nicht dokumentiert sind. Es ist üblich, lateinische Etymologien in Kapitälchen zu zitieren. Diesem Usus werde ich folgen, wenn das Fortbestehen einer Form besprochen wird. Sofern aber nicht die Etymologien selbst, sondern die Bedeutungen behandelt und diese durch materiell andere Formen als im Lateinischen ausgedrückt werden, z. B. bei den Entsprechungen der lateinischen Ortsadverbien in den romanischen Sprachen (4.5.2.4), zitiere ich sie wie die Formen aus allen anderen hier verwendeten Sprachen.
Bibliographischer Kommentar
Texte und ihre Edition haben die Entwicklung des Sprachdenkens und der Sprachwissenschaft belebt. Als eine erste Einführung in die Textphilologie kann Cerquiglini (1989) gelesen werden. Textphilologische Kenntnisse sind wichtig für die Einschätzung der Selektionen von Handschriften, die zum edierten Text führen und einer literatur- und sprachwissenschaftlichen Untersuchung vorausgehen. Auf einer Selektion des Editors beruht der Text selbst, wenn er in verschiedenen Handschriften, Versionen oder Drucken existiert, aber auch die Textgestalt in ihren unterschiedlichen Graden von Modernisierung. Die Selektion der sprachlichen Varianten und ihre eventuelle Vereinheitlichung wird durch die Sprachauffassung des Editors gesteuert, wie Cerquiglini sehr schön verdeutlicht, jedoch ohne die traditionsbildenden Auffassungen von Karl Lachmann, Gaston Paris und Joseph Bédier explizit zu the-
4.0.2 Klassisches Latein und Vulgärlatein
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matisieren. In die Vielfalt der Fragestellungen der Textphilologie gibt der von Gleßgen und Lebsanft herausgegebene Band (1997) Einblicke. Der lange Artikel zu „Philologie“ im DNP 9 (2000) und im DNP 15, 2 (2002) enthält eine Geschichte dieser Disziplin von altgriechischen Anfängen bis zur Gegenwart. Gleßgen (2007: 387–424) empfiehlt sich als knappe Einführung in die Textphilologie für Romanisten. Mit dem Handbuch von Iliescu/Roegiest (éds.) (2015) verfügen wir über ein Arbeitsinstrument, das mit der Beschreibung von Anthologien und Korpora einen breiten Zugang zu den romanischen Sprachen erschließt, die ich deshalb nicht einzeln nenne. In die lateinische Textkritik und Editionstechnik, in das Schriftwesen und die Epigraphik führen drei Beiträge in Graf (Hrsg.) 1997 ein. Die Quellen des Lateinischen erschließen die Artikel in Clackson (ed.) 2011. Beispiele für die Beschreibung der Sprache der Inschriften sind Pirson 1901 über Gallien, Carnoy 21906 über Spanien, Mihăescu 1978 über Südosteuropa, Väänänen 31966 über die pompeianischen Inschriften.
4.0.2 Klassisches Latein und Vulgärlatein Sprachennamen benennen und stiften Identitäten. Ein neuer Name betont einen Wandel in der sprachlichen Identität. In 5. werden wir reichlich Gelegenheit haben, über die Konstruktion von Identität in den romanischen Sprachen nachzudenken. Wenn wir heute Latein oder eine romanische Sprache wie etwa das Französische lernen, wird in diesen Namen ein Bruch in der Entwicklung vom Latein zum Französischen als Beispiel offenkundig. Diesen Vorgang hat Ferdinand Lot 1931 als Frage formuliert: ‚Wann hat man aufgehört, Lateinisch zu sprechen?‘ (“À quelle époque a-t-on cessé de parler latin?”). Das Merkwürdige an dieser Frage zeigt sich, wenn man sie mit der Frage vergleicht: „Wann hat man aufgehört, Griechisch zu sprechen? Wann hat man aufgehört, Arabisch zu sprechen?“ Diese beiden Sprachen existieren seit vielen Jahrhunderten und werden bis heute mit denselben Sprachennamen benannt, die lateinische Sprache dagegen nicht. Was in der Romanistik seit langer Zeit eine Selbstverständlichkeit war, erweist sich also im Vergleich mit anderen Sprachen als höchst problematisch. Nichts liegt eigentlich näher, als die Meinung zu vertreten, dass man in gewisser Weise bis heute Latein spricht und sogar auch schreibt. Da das Latein bis heute gepflegt wird, wenn man es auch nicht mehr muttersprachlich lernt, kann man also in einem gewissen Sinn auf die von Lot gestellte Frage, wann man aufgehört habe, Lateinisch zu sprechen, antworten: Nie. Man stellt keinen eigentlichen Bruch in der zu den heutigen romanischen Sprachen hinführenden Art und Weise zu sprechen fest. Die sprachlichen Erscheinungen selbst haben von Fall zu Fall eine Kontinuität von indogermanischer, lateinischer oder romanischer Zeit an. Im Vorgriff auf die Jahrhunderte später eintretenden Entwicklungen sagen wir, dass die romanischen Sprachen als solche von der Zeit an existieren, als das vorgelesene Latein nicht mehr verstanden wurde, und als man deshalb begann, die gesprochene Sprache ebenfalls zu verschriften. Wenn man einen Traditionsbruch annehmen will, dann liegt er in der Kluft, die sich zwischen der von Generation zu Generation direkt tradierten mündlichen lateinischen Sprache und der geschriebenen
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lateinischen Sprache auftut, die die Sprecher erst wieder in der Schule lernen mussten. Eine Kluft entsteht zwar in der frühen Kaiserzeit, was den zunehmenden sprachlichen Abstand zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angeht; das Bewusstsein vom sprachlichen Abstand entwickelte sich graduell, bis es zu einem Bruch in der Kommunikation kam. In Frankreich geschah dies im 7./8. Jahrhundert und in Hispanien möglicherweise im frühen 9. oder im 10. Jahrhundert (Herman 2006: 195–213). Das erste eindeutig italienische (genauer: kampanische) Sprachzeugnis, die Formel in den placiti capuani von 960 bis 963, den Urteilssprüchen von Capua, mit denen sich die Abtei Montecassino ihre Besitzansprüche in einigen von ihr abhängigen Klöstern sicherte, verweist mit seiner gut etablierten Orthographie auf einen Übergang zur romanischen Schriftlichkeit im späten 9. oder im 10. Jahrhundert (5.1.1). Die komplementäre Frage der Romanisten, wann man denn angefangen habe, Romanisch zu sprechen, lässt sich ebenso wenig leicht beantworten wie die Frage nach dem Ende des Lateins. Man projizierte das Romanische gleichsam als eine andere Sprache – oder die romanischen Sprachen als ein Bündel von anderen Sprachen – so weit in die lateinische Vergangenheit hinein, wie man Erscheinungen feststellte, die sich im Romanischen fortgesetzt haben, die aber nicht in der lateinischen Standardsprache usuell waren. Im deutschen Sprachraum haben sich dabei die Antworten der klassischen Philologen am meisten von denen der Romanisten unterschieden, denn die klassischen Philologen befassen sich eben mit dem klassischen Latein, die Romanisten hingegen mit dem Latein, das in den romanischen Sprachen weiterlebt. Einen solchen Unterschied und Gegensatz zwischen zwei Arten von Latein sollten wir aber nicht annehmen, denn er ist nur durch zwei verschiedene Forschungstraditionen bedingt. Legt man die Sicht der klassischen Philologen zugrunde, so bedeutet dies, dass ein Bruch zwischen dem Latein und den romanischen Sprachen angenommen wird. Dieser wurde aber von den klassischen Philologen als solchen nicht wissenschaftlich untersucht, weil die klassischen Philologen sich in der Regel als Literaturwissenschaftler verstehen. Im Übrigen setzt sich, um auf die Frage nach dem Ende des Lateins zurückzukommen, auch das klassische Latein im Grunde bis heute fort, in besonders offensichtlicher Weise als Sprache der katholischen Kirche. Es lebt aber auch als antikes Erbe in den Einflüssen auf die europäischen Sprachen und auf die europäischen Literaturen, Wissenschaften sowie die Philosophie weiter (dazu Poccetti/Poli/Santini 2005: 9–31). Aber es ist eben ein Lateinisch, das von der Spätantike an über die Schultradition als Sprache der Gebildeten gelernt werden musste. Anders gesagt: Es wurde nicht als Mutter- oder Erstsprache von Generation zu Generation weitergegeben. Die gesprochene lateinische Gemeinsprache des Römischen Reichs wird seit dem italienischen Humanismus und Vulgärhumanismus „Vulgärlatein“ genannt und wurde von Celso Cittadini (1601) in Trattato della vera origine, e del processo, e nome della nostra Lingua in eine erste Synthese gebracht. Immer wieder wurden von da an das klassische Latein und das Vulgärlatein miteinander kontrastiert. Die Benennung Vulgärlatein wird bis heute ebenfalls in Einführungen in die romanische Philologie
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oder in das Vulgärlatein verwendet, wenn auch problematisiert und manchmal in Anführungszeichen gesetzt (cf. z. B. Herman 31975, Väänänen 31981). Von Friedrich Diez mit „Volkslatein“ übersetzt, sollte man übrigens vermeiden, bei „Vulgärlatein“ eine Konnotation des Vulgären mitzudenken. Nun mag die traditionelle Kontrastierung in gewisser Hinsicht richtig sein, ist doch das überlieferte klassische Latein nichts anderes als eine geschriebene Standardsprache. Obwohl auch die lateinische Standardsprache gesprochen wurde, stellt man sich unter dem klassischen Latein nur eine geschriebene Sprache vor. Aus latinistischer Perspektive beinhaltet daher das „Vulgärlatein“ eine zweifache Reduktion: Es ist einerseits eine gesprochene Sprache, aber diese wird andererseits auf die belegten schriftsprachlichen Elemente reduziert, die nicht klassisch sind. Würde man diese Betrachtungsweise auf die heutigen Sprachen übertragen, hieße dies, dass wir nur die geschriebene Standardsprache in Erwägung zögen, alles davon Abweichende jedoch, auch die Umgangssprache, als nicht Französisch, Italienisch, Spanisch usw. abqualifizieren würden, weil es nicht in die Schriftsprache Eingang gefunden hat. Auf diesem Wege können wir nicht zu einem Verständnis des von der Bevölkerungsmehrheit gesprochenen Lateins gelangen.
4.1 Das Lateinische als historische Sprache Die Identifikation des Lateinischen, das die romanischen Sprachen in direkter Tradition fortsetzen, bleibt eine der Hauptfragen der romanischen Sprachwissenschaft. Wir versuchen es mit einem Neuansatz und wenden die Gesichtspunkte, unter denen man eine moderne Sprache betrachtet, auch auf das Lateinische an (2.1, besonders 2.1.2). Aus dem Verständnis des Gegensatzes von spontan sich entwickelnder gesprochener Sprache und konservativer Schriftsprache ergeben sich andere Fragestellungen als die älteren, bei denen man mündliches Romanisch und durch Schriftlichkeit geprägtes Latein trennte. Als „frühromanisch“ oder „romanisch“ wurden dabei alle Elemente betrachtet, die gegenüber dem klassischen Latein neu waren und sich in den romanischen Sprachen fortsetzen. Statt sich zu fragen, bis wann Latein oder Vulgärlatein gesprochen wurden und wann die romanischen Sprachen entstanden sind, sollte man das Lateinische als historische Sprache rekonstruieren und untersuchen, wie lange es als historische Sprache mit seinen Varietäten bestanden hat und von wann an das geschriebene Lateinisch und das Lateinisch der Literatur bloße Sprachstile innerhalb einer romanischen Sprache geworden sind, Sprachstile, die im Laufe der Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung verloren haben und durch die entsprechenden romanischen Sprachstile abgelöst worden sind. Der Ausbau der romanischen Sprachen und der Abbau der lateinischen Sprachstile im Mittelalter und in der Neuzeit greifen als Entwicklungen ineinander. Der Leser wird wahrgenommen haben, dass ich „Latein“ als traditionellen Ausdruck verwende und es vorziehe, in der neuen Perspektive vom Lateinischen zu spre-
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chen. Es soll aber das traditionelle Wissen integriert werden, was darin zum Ausdruck kommt, dass die Ausdrücke Vulgär-, Spät-, Mittel-, Kirchen- und Neulatein beibehalten werden. Betrachten wir das Lateinische daher wie jede Sprache und setzen wir die Unterscheidung zwischen Sprechen im Allgemeinen, Einzelsprache und Diskurs sowie insbesondere seine Betrachtung als historische Sprache, d. h. als Einzelsprache mit allen ihren Varietäten voraus. Die Einzelsprache umfasst nicht nur eine einzige Varietät, wie sie etwa in Saussures Begriff der langue enthalten war, sondern sie existiert in ihrer geschichtlichen Gegebenheit als eine Vielzahl von miteinander zusammenhängenden Varietäten, als ein Gefüge von Varietäten (cf. 2.4.2). Eine Einzelsprache in diesem umfassenden Sinne hatten wir „historische Sprache“ (cf. 2.1.2) genannt. Erst wenn man einen integralen Sprachbegriff anerkennt, lässt sich ermessen, dass „Vulgärlatein“ ein reduktionistischer Begriff ist. Es ist eine Evidenz, dass eine von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochene Sprache nicht einfach aus einem Bündel von Unterschieden gegenüber einer anderen bestehen kann. Die Tatsache, dass die Linguisten die Standardsprache auf die Sprache der römischen Oberschicht bei formellen Redeanlässen beschränken, die sich im Sprachennamen lingua Latina ausdrückt, bringt es mit sich, dass kein fester Ausdruck für das Lateinische als historische Sprache existiert, es sei denn ebenfalls lingua Latina und später lingua Romana. So ist der Sprachenname Vulgärlatein auch als Lösung für eine Benennungslücke zu verstehen. Das klassische Latein ist innerhalb der historischen Sprache Lateinisch eine geschriebene und gesprochene urbane Sprache. Wenn nun wenig Schreibgeübte und wenig Gebildete aus anderen Schichten als der Oberschicht in Rom und in romfernen Regionen des Imperiums schreiben, gelten die Abweichungen von der urbanen Tradition als Vulgärlatein. Weil nicht-urbane Sprache auch geschrieben wurde, etwa von den Soldaten in allen Provinzen des Imperiums, können wir nicht schlichtweg behaupten, dass das Vulgärlatein einem mündlichen, das klassische Latein dagegen einem schriftlichen Gebrauch entspricht. Und daher ist es nicht richtig, das Vulgärlatein als gesprochenes Latein dem klassischen Latein als geschriebenem Latein gegenüberstellen. Betrachten wir den Ort des klassischen Lateins im Varietätengefüge. Es ist syntopisch betrachtet die Sprache Roms, nicht etwa Latiums, wie der Sprachenname in Latinum, lingua Latina, Latine loqui suggeriert. Hierzu stellt der Grammatiker Varro ausdrücklich fest: „Latinitas est incorrupte loquendi observatio secundum Romanam linguam“ (zitiert nach Müller 2001: 250; ‚Die Latinität ist die Einhaltung des reinen Sprechens gemäß der Sprache Roms‘). Es liegt zeitlich zwischen dem Ende der Republik und der frühen Kaiserzeit. Es ist aber nicht die Sprache aller Römer, sondern synstratisch betrachtet ist es die Sprache der Oberschichten, der honestiores, wie man seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. sagte, der Gehobenen, zu denen der Stand der Senatoren, der Ritter und der Dekurionen – das sind die Senatoren von Munizipien und Kolonien – gehörte (dazu Alföldy 31984: 94). Auch für dieses Sprachniveau verwendete man lingua Latina, so Cicero, oder Latine loqui und lässt das räumliche Kri-
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terium mit dem sozialen konvergieren. Die Oberschichten sprachen nicht immer in demselben hohen Sprachstil wie in der von den Römern sehr gepflegten und normativ maßgebenden öffentlichen Rede, sondern dieses Lateinisch kannte diaphasische Unterschiede. Unter den beiden genannten Charakterisierungen ist die syntopische aber die wichtigere, denn das Lateinische war in erster Linie die Sprache Roms. Die symphasische Charakterisierung als urban kommt in zweiter Linie hinzu. Urban war namentlich die Sprache der literarischen Prosa und der öffentlichen Rede. Für Gespräche unter Vertrauten gebrauchte man weniger strenge Sprachstile. Eine Systematisierung der Varietäten aus der Sicht der historischen Sprache wurde nach dem Zeugnis der Kommentare von Autoren erst in jüngerer Zeit vorgenommen: Müller (2001: 259–286) hat das lateinische Varietätensystem aus der auch hier vertretenen Sicht dargestellt, jedoch als Nebeneinander von „diatopischen“, „diastratischen“ und „diaphasischen Varietäten“. Wir können an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingehen (cf. 2.4.2). Nur so viel sei gesagt, dass eine Varietät eine Sprache ist, die Gemeinsamkeiten im Raum und in der sozialen Schicht mit Gemeinsamkeiten der Sprachverwendung in einer bestimmten Sprech- oder Schreibsituation verbindet, denn sie wird in einem bestimmten Raum von einer bestimmten sozialen Schicht in einer bestimmten Situation gesprochen. Im Normdiskurs der frühen Kaiserzeit sind die Provinzen abwesend, die Diskussion um die Sprachnorm findet nur in Rom statt. Wenn die Sprache mancher Autoren eine gewisse Fremdheit aufweist wie im Falle der patavinitas von Livius (Quintilian 1, 5, 56), der aus Padua stammte, wird diese aus der Sicht Roms sehr unterschiedlich bewertet. So kennen wir zwar aus den Provinzen stammende Schriftzeugnisse; aus der Zeit der Standardisierung des Lateinischen und in der silbernen Latinität besitzen wir darüber aber keine metasprachlichen Kommentare. Wenden wir den Begriff der historischen Sprache in einem zweiten Schritt auf das Vulgärlatein an. Was wir mit diesem Sprachennamen benennen, ist die von Generation zu Generation weitergegebene gesprochene Sprache. Es ist in räumlicher Hinsicht die Gemeinsprache oder lateinische Koine des Römischen Reichs in seiner westlichen Hälfte und im Osten mindestens in der Verwaltung, in der Rechtsprechung und im Heer. Sie wurde nicht nur gesprochen, sondern auch geschrieben, wenn auch nicht in der Literatur. Gewiss wies sie zahlreiche diatopische Unterschiede auf, auch wenn der Befund der Inschriften in der Kaiserzeit im Allgemeinen diese Behauptung nicht belegt. Die Schreibkundigen kannten eben, so dürfen wir annehmen, in unterschiedlichem Maße, die Schultradition. Allein schon wegen der riesigen räumlichen Dimensionen des Sprachgebiets und wegen der Kontakte mit anderen Sprachen war die syntopische Einheitlichkeit also von Anfang an sehr viel geringer als beim klassischen Latein. Die diatopischen Unterschiede zwischen den Provinzen nahmen ferner im Laufe der Zeit zu. Die lateinische Gemeinsprache der Provinzen war sicher stark synstratisch differenziert. Wir dürfen dennoch annehmen, dass die verschiedenen sozioökonomischen Gruppen problemlos miteinander kommunizierten. Je nach Bildungsgrad werden verschiedene Sprachstile existiert haben, obwohl sie kaum doku-
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mentiert sind. Im Wesentlichen sind die Sprachstile der Inschriften, des Heers und der Fachliteratur belegt. Die soeben gegebene Skizze entspricht den allgemeinen Merkmalen, die man in einer modernen Sprache feststellt. Das Problem ist aber die stets fragmentarische Dokumentation des von der Mehrheit der Bevölkerung im Römischen Reich gesprochenen Lateinisch. Von allen sprachlichen Unterschieden ist nur das überliefert, was als Fehler in Schriftzeugnisse gelangt ist oder woran Sprachkritik geübt worden ist. Ferner gibt es Kommentare über die lateinische Sprache, aus denen man bis zu einem gewissen Grade die Sprachsituation rekonstruieren kann. Dies gelingt aber, wie wir sagten, nur für Rom und einen Teil Italiens, da das Schrifttum meist aus diesem Raum stammt. Über das Reich als Ganzes sind wir weitaus weniger gut oder überhaupt nicht informiert (cf. jedoch Adams 2003). In diesem Fall sind wir auf die Rekonstruktion angewiesen. Der Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache ist universell. Wenn wir aber die gesprochene Sprache der Vergangenheit untersuchen wollen, können wir im Gegensatz zur heutigen Sprache die Phasen vor dem Beginn von Tonaufzeichnungen nur von der Schriftsprache her erschließen. Das ist zwar eine Evidenz, aber wichtig daran ist, dass eine Schriftsprache, die man untersucht, ein Gefüge von zahlreichen Varietäten überdacht, dessen Beschaffenheit in der Vergangenheit man nicht oder doch nur sehr unvollkommen kennt. Das Varietätengefüge, das am Ende einer sprachgeschichtlichen Untersuchung steht, ist immer eine Rekonstruktion, die auf der Interpretation der Quellen aufbaut und mit neuen Quellen und neuen Interpretationen zu neuen Rekonstruktionen führt. Einige nicht-klassische Erscheinungen des Varietätengefüges gelangen punktuell in die Schriftsprache. Vom Standpunkt des klassischen Lateins sind das die genannten Fehler, aber wie immer bei Fehlern werden damit Streiflichter auf die nicht-normativ gesprochene Sprache geworfen. Mit der Vergrößerung des Abstands nehmen die Fehler zu. Die Schere zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache wird von der klassischen Periode je nach Region zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert immer größer. Keine der beiden Traditionen hört aber je auf zu existieren. Da wir es im Folgenden mit einem Zeitraum von etwa tausend Jahren zu tun haben, empfiehlt sich eine Gliederung in Form einer Periodisierung.
Bibliographischer Kommentar
Dass die Latinisten den Terminus historische Sprache kennen, darf man nicht voraussetzen, aber mit Clackson (ed.) 2011 verfügen wir nun über ein Werk, das ohne diesen Terminus einen klaren Begriff von der historischen Sprache Lateinisch vermittelt, wie man es im Falle einer modernen Sprache erwarten würde. Nur müssen wir unsere Erwartungen auf das beschränken, was dokumentiert ist. So finden wir neben Sprachbeschreibung und -geschichte eine Behandlung der literarischen Register, der sozialen und sogar der regionalen Variation. Das Verständnis der Latinistik in Deutschland schließt die wissenschaftliche Sprachbeschreibung nicht als Selbstverständlichkeit ein; man bedenke z. B., dass die Einführung in die Latinistik von Riemer/Weißenberger/Zimmermann 32013 außer einigen
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Bemerkungen zur lateinischen Sprachgeschichte die Sprachwissenschaft nicht berücksichtigt. Dazu verweise ich auf die Einführung in die lateinische Sprache durch Touratier 2013.
4.1.1 Perioden der lateinischen Sprachgeschichte Ich gebe eine übliche Periodisierung des Lateinischen wieder (Väänänen 31981: 11–13), die sich hauptsächlich an der Literatursprache orientiert. Die archaische Zeit ist die Zeit der Verschriftung, sie dauert von den Anfängen bis zum Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. und ist vor allem durch Inschriften und durch Zitate in späteren Texten bekannt. Die vorklassische Zeit, in der die Verschriftlichung von Texten nach griechischen Vorbildern beginnt, reicht vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zur Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. In dieser Periode fanden noch wichtige Lautveränderungen in der Schriftsprache statt wie die Monophthongierung von ei > i (inceido > incido ‚ich schneide ein‘), ou > u (*excloudo > excludo ‚ich schließe aus‘), der Wandel von -s- > -r(man vergleiche melius und meliorem ‚besser‘), um nur einige Beispiele zu geben. Der Sprachwandel bedingte Varianten, die in die Schriftsprache eingingen. Von etwa der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts bis 14 n. Chr., dem Todesjahr von Augustus, wird das Lateinische standardisiert. Es wird zur exemplarischen Sprache und daher später klassisch genannt. Die Standardisierung ist eine puristische Reaktion auf das hellenisierte Lateinisch. Daher können wir, wenn ein Phänomen nur im Griechischen, im vorklassischen Lateinisch, im Spätlatein oder in den romanischen Sprachen belegt ist, dies als Indiz dafür nehmen, dass es sich dabei möglicherweise um einen Hellenismus handelt, der nicht in den lateinischen Standard aufgenommen worden ist. Bei den klassischen Autoren finden wir noch keine scharfe Abgrenzung der Umgangssprache von der Literatursprache. Ein Beispiel: Die Position des auslautenden -s war schwach, aber seine Aussprache gehörte zur urbanitas. Dieses -s verstummt der Meinung Meillets zufolge (1928: 211–212) in der späteren Geschichte des Lateinischen, außer im Galloromanischen. Dagegen vertritt Herman (31975: 47–48) die Auffassung, dass man es in der Volkssprache der frühen Kaiserzeit noch aussprochen habe und sein Verstummen in den meisten italienischen Dialekten und im Römischen eine spätere räumlich begrenzte Innovation widerspiegele. Wir kommen auf dieses wichtige Thema zurück (4.5.1.3). /h/ verstummt in dieser Zeit, wie die Metrik zeigt. Caesar (100–44 v. Chr.) und Cicero (106–43 v. Chr.) erhalten das Phonem jedoch meist in traditioneller Weise. Seit der Zeit vor dem 3. Jahrhundert v. Chr. bleiben die alten Lokative domī ‚zu Hause‘, rūrī ‚auf dem Land‘ als nur noch adverbiale Formen erhalten, so auch der Genitiv Plural auf -um für die Substantive auf -a und -us: Lukrez (ca. 97–55 v. Chr.) schreibt agricolum (‚der Bauern‘) statt agricolārum, fabrum (‚der Handwerker‘, Genitiv Plural) für fabrōrum. Sallust (86–35/34 v. Chr.) konnte noch optumus für optimus (‚bester‘) verwenden. Nach Caesar ist die Variation verschwunden. Vergil (der von
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70–19 v. Chr. lebte), wie schon vorher Terenz – seine Lebensdaten sind 185/195 (?)–159 v. Chr.) – verwendet noch cuius, cuia, cuium ‚dessen, deren‘, das sich in sp. cuyo, cuya, pt. cujo, cuja fortsetzt. Schon beim vorklassischen Dichter Catull (84–54 v. Chr.) findet man non credas statt ne credas ‚glaube nicht‘ oder ne credideris, auscultare statt audire ‚hören‘ (auch bei Horaz; 65–8 v. Chr.), voster statt vester ‚euer‘, custodibant und scibant statt custodiebant ‚sie überwachten‘ und sciebant ‚sie wussten‘. Caesar und Cicero verwenden übereinstimmend -ĕrunt statt -ēre (dixĕrunt ‚sie sagten‘). Der Infinitiv Passiv variierte zwischen dīcī und dīcier, ‚gesagt werden‘. Die Kontraktion amassem für amavissem (‚ich hätte geliebt‘) kann noch in die Literatursprache eindringen. Horaz, um ein lexikalisches Beispiel zu geben, verwendet percontari ‚(aus)fragen‘ als Konservation, darin mit der Volkssprache übereinstimmend. Bei der Standardisierung des Lateinischen werden, wie die Beispiele zeigen, Varianten eliminiert. In Aussprache, Grammatik und Wortschatz setzte ein Selektionsprozess ein, der eine Sprache schuf, die in der Literatur und in der gesprochenen Sprache Modellcharakter erhielt. Deshalb wird die klassische Zeit „goldenes Zeitalter“ genannt. Zusammenfassend charakterisiert Meillet diese Zeit mit den Worten: ‚Die urbanitas brauchte man eher nur festzustellen, als sie zu schaffen; man brauchte sich ihrer nur bewusst zu werden‘ (1928: 211; meine Übersetzung). Nach dieser Zeit gelangten die Neuerungen der Umgangssprache nicht mehr in die klassische Sprache. Wenn sie in Erscheinung traten, wurden sie vielmehr als Fehler, Barbarismen und dergleichen betrachtet und kritisiert. Es sind diese Elemente, die aus der Sicht der Latinisten als Vulgärlatein gelten, weil diese das Lateinische als Sprache meist nicht in seiner Gesamtheit in Betracht ziehen. Nach dem klassischen Zeitalter wandelte sich die exemplarische Sprache nicht mehr wesentlich. Es begann die Kodifizierung durch die Grammatiker, und die Puristen wachten über den richtigen Sprachgebrauch. Die Fixierung und Unveränderlichkeit der Sprache galten nun als Werte, die bewahrt werden mussten. Allenfalls gab es in der Literatursprache diaphasische Unterschiede, die als Lehre von den drei Stilen kodifiziert wurde und Korrelationen zu den literarischen Gattungen herstellte, den genera dicendi, d. h. dem genus humile, dem ‚niederen Stil‘, dem genus medium oder mediocre, dem ‚mittleren Stil‘, und dem genus grandiloquium oder grave, dem ‚gehobenen Stil‘. In der Dichtung wurden Konservationen bevorzugt. Von da an gingen die schriftliche Tradition und der mündliche Gebrauch, sofern er der schriftlichen Tradition entsprach, und die allgemeine Tradition der Sprechsprache getrennte Wege. „Klassisch“ hat daher zwei Bedeutungen. Das Adjektiv bezieht sich sowohl auf das klassische Zeitalter, in dem das Lateinische standardisiert wurde, als auch auf die in dieser Weise standardisierte Sprache selbst. Das gesprochene Lateinisch setzt sich im Unterschied zum klassischen in ununterbrochener Folge von dieser Zeit bis zu den heute gesprochenen romanischen Sprachen fort, es wird aber von der Schriftsprache ständig beeinflusst. Wenn die nachklassische Zeit zu einem „silbernen Zeitalter“ (14–ca. 200) wird, weil Konservationen, Provinzialismen, Vulgarismen und Gräzismen in die Standard-
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sprache eindringen, dann ist dieser Wandel wohl am ehesten dadurch zu erklären, dass das klassische Latein neue Funktionen im Imperium Romanum übernimmt, d. h. über seinen ursprünglichen Geltungsbereich weit hinausgeht und sich deshalb wandelt. Aber dieser Wandel vollzieht sich im Wortschatz, sonst ist der innersprachliche Wandel nach der klassischen Periode gering und besteht am ehesten in stilistischen Präferenzen. Im Hinblick auf die vorausgehende klassische Periode ist es wichtig zu betonen, dass die Normierung des klassischen Lateins zu ihrem Abschluss und die literarische Produktion gegen Ende des Zeitraums zum Erliegen kommen. Bis zu dieser Zeit reichen folglich die Sprachgeschichten, für die die Sprachgeschichte die Geschichte der Sprache in der Literatur ist (z. B. Meillet 1928). Man unterscheidet fernerhin eine spätlateinische Periode, für die man eine Zeit von ca. 200 n. Chr. bis zu der Phase annehmen kann, in der den Ungebildeten das vorgelesene Lateinisch unverständlich wird. In diesem Zeitraum wird das lateinische Schrifttum fast nur noch als Fachliteratur fortgeführt. Unter Caracalla erhielten 212 alle freien Reichsbewohner das römische Bürgerrecht. Es ist anzunehmen, dass die Latinisierung dieser Bürger die Voraussetzung für die Verleihung des Bürgerrechts war. Aus der Verleihung dieses Rechts ist aber nicht abzuleiten, dass die Latinisierung überhaupt abgeschlossen war. Dagegen sprechen zahlreiche Zeugnisse. Die Einheit des Lateinischen bricht in der Spätantike auf. Diese Entwicklung vollzieht sich parallel zur Geschichte des Römischen Reichs bis zu seinem Untergang. Von großen Kommunikationsräumen geht man allmählich zu kleineren und kleinen über, besonders im weströmischen Reich. Die Verkleinerung der Räume wird eingeleitet durch die Verwaltungseinteilung Diokletians (ab 293). Sie wird durch die den Untergang des Römischen Reichs überdauernde kirchliche Diözeseneinteilung fortgesetzt. Byzanz wird die neue Hauptstadt des Reichs unter Konstantin: Der Schwerpunkt verlagert sich ins griechische Sprachgebiet, das Reich wird neu gegliedert. Die Germanen und die Sassaniden bedrohten das Römische Reich, das einen wirtschaftlichen Niedergang erlebte. Der Fernhandel nahm ab. Das Straßennetz verfiel. Die antike Sklavengesellschaft wurde durch das Feudalsystem abgelöst. Viele Schulen wurden geschlossen und damit sank das Bildungsniveau. Das Heer riss die Macht an sich. Eine Akzeleration der Entwicklung darf man um 400 annehmen. In diese Zeit fallen das Ende des Römischen Reichs und die Etablierung des christlichen Lateins, wie es als Schriftspache von den Kirchenvätern gepflegt wurde (Mohrmann 1961–1965, Devoto 1968: 262–287). Das Hauptproblem dieser Periode besteht darin, dass die Tradition des klassisch gewordenen Lateinisch in einen immer größeren Abstand zu dem in all seiner Varietätenvielfalt gesprochenen Lateinisch kommt. Die Züge, welche es vom klassischen Latein unterscheiden und die den romanischen Sprachen eigen sind, entstanden während der Zeit der silbernen Latinität und nehmen bis zum Bruch in der mündlichen Kommunikation zu. Er setzt je nach Region zu verschiedenen Zeiten ein. Aus der Tatsache, dass es in spätlateinischer Zeit zwei sehr voneinander verschiedene Grammatiken gibt, sind Konsequenzen zu ziehen, wenn man die Entwicklung zu
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den romanischen Sprachen hin darstellen will. Im Allgemeinen lässt man die romanischen Sprachen aus dem Sprechlatein entstehen, also aus einer späten Phase der Entwicklung. Es ist aber auch sinnvoll, das Lateinische der klassischen Zeit zugrunde zu legen, da sich ja erst von dieser Zeit an die Wege von klassischem und Sprechlatein trennen. Seit dieser Zeit könnte in räumlicher Hinsicht eine grundlegende Einteilung in zwei Sprachräume entstehen: Die Romania wird nach Wartburg (1950: 20–34) in eine Ost- und eine Westromania eingeteilt. Die Westromania reicht von Oberitalien über die Alpen nach Frankreich bis zur Iberischen Halbinsel, die Ostromania umfasst Italien südlich der Linie La Spezia-Rimini, Sizilien, Dalmatien und die Gebiete der rumänischen Sprache. Sardinien und das südliche Korsika bleiben außerhalb dieser beiden Gebiete. Zwei Erscheinungen führt Wartburg für seine These an. Die eine ist die Konservation von -s, die andere die Lenisierung, die hier als Sonorisierung behandelt wird. Beide werden mit einem diastratisch markierten Lateinisch in Verbindung gebracht. Diese Einteilung wollen wir nicht für eine aktuelle Einteilung halten, denn sie spiegelt die sprachlichen Verhältnisse der Zeit um 400 wider (21951: 65–67), obwohl die für diese Zeit festgestellten Phänomene sich später fortsetzen. Besonders das grammatisch relevante -s wird angeführt, das in der Westromania der Pluralmarkierung bei Substantiven und dem Ausdruck der 2. Person in den meisten Verbparadigmen dient. Die räumliche Verteilung ist heute aber nicht mehr – besonders nicht in Oberitalien – identisch mit der ursprünglichen. Diese räumliche Gliederung ist in eine Chronologie der Romanisierung einzuordnen. Da die Romanisierung Oberitaliens mit dem Beginn der Herrschaft Roms über diese Region einsetzt, muss man mit der Entstehung der Grenze La Spezia-Rimini anfangen, die sich gewiss nicht erst in der Spätantike herausbildet. Die westromanischen Gemeinsamkeiten kann man mit dem Kontakt mit den keltischen Sprachen in Oberitalien, Gallien, Britannien und Hispanien begründen (4.2.3). Die Zeiten der Zweisprachigkeit von Lateinisch und vorrömischen Sprachen in diglossischen Situationen dauerten wohl bis zum Ende des 6. Jahrhunderts an. Zu völlig einsprachigen Situationen entwickelten sich bekanntlich auch diese nicht, da der Sprachkontakt im spanischen und französischen Baskenland, heute zwischen dem Baskischen und dem Spanischen sowie dem Französischen, bis in die Gegenwart andauert. Die Zeit zwischen 200 und 600 n. Chr. ist nach übereinstimmender Forschungsmeinung die Zeit der Regionalisierung des Lateinischen, von manchen Gelehrten auch Dialektalisierung genannt. Da die direkten Belege für diese sprachliche Differenzierung dürftig sind, verbindet man den lateinischen Befund mit dem Zeugnis der romanischen Sprachen (z. B. Adams 2007, Wright 2011). Bis zum Spätlatein gehören alle Varietäten, die geschriebenen wie die gesprochenen, trotz typologischer Unterschiede (4.5.2) zwischen einer klassischen und einer sprechsprachlichen Grammatik einer einzigen historischen Sprache an. Durch die Vergrößerung des sprachlichen Abstands entstehen in einem langen Ausgliederungs-
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prozess neue historische Sprachen. Diese haben anfangs noch unklare Konturen: Darin, dass den Sprechern das vorgelesene Lateinisch unverständlich wird, zeigt sich, dass ihnen der sprachliche Abstand bewusst wird. In Frankreich liegt diese Entwicklung vor der karolingischen Renaissance (Banniard 1992). Am Anfang dieses Kapitels habe ich behauptet, dass sich auch das geschriebene Lateinisch fortsetzt, und ich habe nun wenigstens skizzenhaft im Rahmen einer Periodisierung zu zeigen, in welche neue Phase das Lateinische mit der karolingischen Reform eintritt. Ein Bruch in der Schultradition wurde dadurch herbeigeführt, dass man die Schriften der Kirchenväter für exemplarisch erklärte und somit höhere Anforderungen an die Sprachnorm stellte. In der Geschichte der modernen europäischen Sprachen hat dieser Normwandel keine Parallele, denn der Wandel der Schriftsprache folgt heute dem Wandel der gesprochenen Sprache, wenn auch mit einem zeitlichen Abstand. Dies stellen wir bis zu einem gewissen Grade ebenfalls in der schriftsprachlichen lateinischen Tradition fest. In der karolingischen Reform wird nun aber das geschriebene Lateinisch nach der Norm der Kirchenväter reformiert. Diese korrektere Sprache, die die Einheit der lateinischen Schriftsprache im karolingischen Reich schaffen sollte, hatte eine Kehrseite: Sie wurde nicht mehr von denjenigen Sprechern verstanden, die in der Tradition eines mündlich weitergegebenen Lateinisch standen. Von dieser Zeit an wurde das klassische Latein das nur geschriebene Register einer je nach Region neuen historischen Sprache, die man schon deswegen nicht mehr einfach Lateinisch nennen konnte, weil man diesen Namen nur noch dem neuen Lateinisch als sprachlichem Register gab. So wurde nunmehr die allgemein im Frankenreich gesprochene Sprache auf dem Konzil von Tours (813) lingua rustica romana genannt. Das Lateinische dagegen, das man neben dieser neuen historischen Sprache als Register schrieb, nennt man heute im Deutschen „Mittellatein“, in den romanischen Sprachen „mittelalterliches Latein“. Es wurde ausgehend von der Schriftsprache auch mündlich umgesetzt und war somit keine Erstsprache mehr. Die zeitlichen Grenzen des Mittellateins kann man mit der Geltung des Kriteriums zusammenfallen lassen, das in der primären Schriftlichkeit dieser Sprache besteht. Da es zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße gilt, ist der Zeitraum des Mittellateins in den romanischen Ländern unterschiedlich lang anzusetzen. Auf das Mittellatein folgte das Neulatein. In Italien wurde das Mittellatein früher durch das Neulatein abgelöst als in anderen Ländern, im 14. Jahrhundert. Der Unterschied zwischen diesen beiden Perioden ist durch ein neues Verhältnis der lateinischen Sprache zur Tradition und zu den Volkssprachen bedingt. Das Neulatein orientiert sich streng am ciceronianischen Latein, und nach dem Vorbild des Humanismus werden die Volkssprachen fast vollständig im Vulgärhumanismus ausgebaut, so dass die Funktion des Neulateins als Register innerhalb der romanischen und der anderen europäischen Sprachen noch weiter eingeschränkt wird. Für das Schreiben auf Neulatein bedürfen die Autoren nunmehr einer größeren Sprachpflege und Sprachkultur, die nur noch hochgebildeten Gelehrten zu Gebote steht.
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In den folgenden Abschnitten kehren wir zum Varietätengefüge der klassischen Zeit zurück, wie es sich von der Ideologie der Sprachnormierer her darstellt (4.1.2). Dieses durch zeitgenössische Kommentare erschlossene Varietätengefüge werden wir mit einem lexikalischen und einem grammatischen Beispiel belegen und zeigen. Es folgt ein Blick auf das christliche Latein, das das Nadelöhr darstellt, durch das die ununterbrochene lateinische Tradition geht (4.1.3). Die Entstehung des sprachlichen Abstands zwischen dem klassischen Latein und der Gemeinsprache ist der Gegenstand von 4.1.4. Mit der Kolonisierung, ihren Phasen und den regional verschiedenen Koinisierungen kommt ein neues Element in unsere sprachgeschichtlichen Überlegungen, der Kontakt des Lateinischen mit den Sprachen der Provinzen (4.2). Die Erforschung des Provinzlateins hat keine kontinuierliche Beachtung in der Forschung gefunden, in jüngerer Zeit hat das Interesse daran aber zugenommen.
4.1.2 Lateinisches Varietätengefüge der klassischen Zeit: urbanitas, rusticitas, peregrinitas Wir müssen nun auf die Schwierigkeit eingehen, wie sprachliche Unterschiede dokumentiert werden können, wenn sie aus einer höchst normierten Standardsprache ausgeschlossen sind. Bei allem, was wir über die Variation und die Varietäten des Lateinischen erfahren können, ist diese normsprachliche Barriere bei den Schreibkundigen mitzubedenken. Alle diese Unterschiede sind in jeder Phase der Entwicklung des Lateinischen anders gegeben. So kann man mindestens eine Periode bis zur klassischen Zeit unterscheiden, die Kaiserzeit und die Zeit nach dem Verfall des weströmischen Reichs. Im Lateinischen sind, wie in jeder Sprache, diatopische, diastratische und diaphasische Unterschiede anzunehmen. Die sprachliche Vielfalt des Lateinischen ist in Grenzen zugänglich über direkte Belege nicht-klassischer Sprache und über das Sprecherwissen. Einige häufigere lateinische Namen dafür werden in der Überschrift dieses Abschnitts erwähnt (zu rusticus und urbanus Müller 2001: 29–78, 219–230). Weil die Literatur in Rom geschrieben und weil die dort geschriebene Literatur erhalten wurde, ist nur die Betrachtung der lateinischen Sprache aus der Sicht der urbs und somit der urbanitas überliefert. Daher kommentieren die Grammatiker und Rhetoriker das Sprachwissen von kritikwürdigen Sprechern im Vergleich mit puristisch geläuterter Sprache. Den zu befolgenden Sprachgebrauch nennt Cicero einfach bona consuetudo (Brut. 74, 258; consuetudo […] bene loquendi, De orat. III, 150). Gut oder richtig in diesem Sinne war die Selektion einmal der diphthongierten, ein andermal der nicht diphthongierten Form eines Worts oder die jeweils verschiedene Aussprache von -s. Wenn der Rhetoriklehrer Quintilian (30–96 n. Chr.) das gesprochene klassische Latein durch seine urbanitas bestimmt, wird diese nur negativ charakterisiert, so dass man über ihre eigenen Bestimmungen nichts erfährt: „Denn – wenigstens meiner Meinung nach – handelt es sich da um Urbanitas, wo nichts Mißtönendes, nichts Bäurisches,
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nichts Unordentliches, nichts Fremdklingendes sich im Sinn, in den Worten oder in der Aussprache oder Gebärde fassen läßt“ (21988: I: 757; meine Hervorhebungen). Der Autor wertet ein Sprechen ab, das, wenn es agrestis (‚bäurisch‘) genannt wird, wenn es mit dem Umland, also mit Latium, und daher mit einem diatopischen und einem diastratischen Unterschied verbunden wird, während die urbanitas auf die urbs, Rom, begrenzt ist. Peregrinus (‚fremd‘) kann sich auf das Lateinische der peregrini beziehen, eine Benennung der Anderssprachigen, in der die italischen Verbündeten eingeschlossen waren. Bereits Cicero (De orat. III, 44) hatte die Adjektive rusticus (‚ländlich‘) und peregrinus abgewertet und mochte damit ebenfalls einen räumlichen Unterschied zwischen Rom, dem Latium und den sonstigen Sprechern der Provinzen gemeint haben. Die starke Präsenz des Griechischen in Rom und im Reich macht es wahrscheinlich, dass peregrinus sich am häufigsten auf Interferenzen aus dem Griechischen im Lateinischen bezieht. Auch eine griechisch beeinflusste Aussprache und Ausdrucksweise von römischen Schulkindern konnte „fremd“ sein, ein diaphasischer Bildungsunterschied, von dem wir aus Quintilian (1, 1, 13) erfahren. Auch hierin war Cicero in seiner negativen Bewertung einer vielleicht griechisch klingenden Aussprache des Lateinischen in Rom etwa ein Jahrhundert zuvor Quintilian im Brutus (258) als barbaries domestica, als Mangel an Bildung in der eigenen Sprache, noch weiter gegangen. Mochten die Gebildeten die Sprache des Umlands von Rom negativ oder zwiespältig (als immerhin authentisch lateinisch) einschätzen, so breitete sich im Römischen Reich doch die Sprache der rustici aus. Darunter sind die Landleute aus Latium zu verstehen, die Zuwanderer aus Latium und aus den italischen Gebieten nach Rom und schließlich eben die sich von Rom ausbreitende Bevölkerung des Reichs, deren Sprache Aulus Gellius (ca. 130–170 n. Chr.) zufolge in völlig unrichtiger Weise rustice loqui genannt wurde, wo doch barbare loqui angemessener gewesen wäre (Müller 2001: 55–56). Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen können die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. Aus der Rückschau nun schon einiger Jahrhunderte lateinischer Sprachgeschichte schreibt Hieronymus über die regionalen Unterschiede des Lateins: „Et ipsa latinitas e regionibus quotidie mutatur et tempore“ (‚Die Latinität selbst wandelt sich nach Gegenden und Zeit‘; Commentaria in epistulam ad Galatas II, Prol.; zitiert nach Banniard 1992: 24, Anmerkung 52). Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck díglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charakterisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. Wollte man diese Ausdrücke vielleicht – aus Mangel an eindeutigeren Kommentaren – etwas zu präzise als Hinweise auf Diatopisches nehmen, ließen sich andere diastratisch deuten. Cicero verwendet plebeius sermo ‚(diastratisch) niedrige Ausdrucksweise‘, sermo vulgaris ‚übliche Ausdrucksweise‘ und sermo familiaris ‚Sprechweise
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unter Vertrauten‘ (cf. Müller 2001: 85–88, 117–165, 179–182), wobei der sermo familiaris diastratisch und diaphasisch interpretierbar ist. Die damit benannten Varietäten charakterisieren offensichtlich Soziolekte innerhalb der Sprache Roms zur klassischen Zeit und werden von Cicero als Möglichkeiten des diaphasischen Ausdrucks erwähnt. Wenn man sich eine gewisse Vorstellung davon machen wollte, könnte man Belege dafür in Ciceros Briefen an Vertraute finden, in denen sonst aus der feierlichen Rede ausgeschlossene Diminutivbildungen, frequentative Verben und griechische Wörter erscheinen. Darunter war seine Adaptation von grch. mesótes ‚Mitte‘ als medietas sogar so erfolgreich, dass sie über das klassische Latein in die romanischen Sprachen gelangt ist (cf. Meillet 1928: 212–215; zum Code-switching bei Cicero Adams 2003: 308–347). Von einem innersprachlichen Abstand sprechen wir erst von der Zeit an, als bestimmte Varietäten aus dem Standard herausgehalten werden und dem mündlichen Gebrauch vorbehalten bleiben. Das geschah in der klassischen Zeit. Für die Geschichte des Lateinischen schlechthin heißt das, dass ältere Erscheinungen nun deshalb volkssprachlich werden, weil sie nicht in den Standard gelangen, und dass neue Unterschiede in der gesprochenen Volks- und Umgangssprache nach der klassischen Zeit entstehen und Kontinuität haben. Der Sachverhalt lässt sich auch umgekehrt formulieren: All das, was aus der Umgangssprache ausgeschlossen ist, wird Standardsprache. Die Entstehung des klassischen Lateins und der Abstand zur Gemeinsprache bedingen sich also gegenseitig. Das klassische Latein bildet sich dadurch heraus, dass es sich bestimmten Elementen gegenüber verschließt. Dadurch werden sie zu niedriger markierten Elementen und in den Substandard abgedrängt. Das für die Geschichte der romanischen Sprachen relevante Varietätengefüge entstand also erst mit der Standardisierung des Lateinischen in seiner klassischen Epoche. Die neuen Beziehungen der Varietäten zueinander lassen sich durch ein lexikalisches Beispiel erklären. Für ‚schön‘ kannte das klassische Latein pulcher, daneben die synonymen Adjektive formosus, von forma abgeleitet und dem griechischen eúmorphos nachgestaltet, das die Bedeutung ‚wohlgestaltet‘ hat, und bellus ‚hübsch‘, ursprünglich eine Diminutivbildung zu bonus. Dieses Wort gehörte, wie die Diminutivbildung überhaupt, der Umgangssprache an. Wurde pulcher ursprünglich auch gesprochen, so blieben volkssprachlich von den drei Adjektiven nur formosus und bellus. Da sich pulcher in den romanischen Sprachen nicht erbwörtlich fortsetzt, können wir aufgrund des romanischen Befunds eine relative Chronologie rekonstruieren. Das klassische Adjektiv pulcher wird deshalb von den Puristen favorisiert, weil es nicht dem Griechischen nachgebildet ist; als klassisch gehobenes Wort blieb es ohne romanische Fortsetzung. Formosus dagegen war offenbar das allgemein verwendete Wort. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass formosus sich an den Rändern der Romania bis heute gehalten hat: rum. frumos im Osten, sp. hermoso, pt. formoso im Westen. Im Zentrum der Romania wurde formosus später durch bellus ersetzt, das eine diastratisch-diaphasische Umwertung erfahren haben muss, denn im Italienischen sagt man dafür bello, im Französischen beau, im Okzi-
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tanischen belh, im Surselvischen bi/bials, im Katalanischen bell. Die chronologische Erklärung dieser romanischen Unterschiede ist nicht die einzig mögliche. Man kann zwischen diesen Adjektiven auch von vornherein diastratische Unterschiede annehmen. Den soeben beschriebenen Vorgang können wir auch mit einem Beispiel aus der Grammatik belegen. Der klassische Komparativ von altus ‚hoch‘ ist altior. Nur wenn der Kasusendung ein Vokal vorausging, wurde der paradigmatische Ausdruck durch einen syntagmatischen mit magis ersetzt, z. B. in magis idoneus ‚geeigneter‘. Der syntagmatische Ausdruck wird in einer ersten Phase überhaupt verallgemeinert, so dass altior durch magis altus ersetzt wird. Hiermit haben wir ein Beispiel für die Herausbildung von zwei Grammatiken, von denen bei der Periodisierung die Rede war. Der volkstümliche Entwicklungsstand setzt sich in den Randgebieten der Romania fort in rum. mai înalt im Osten und in sp. más alto, pt. máis alto, kat. més alt im Westen. Dieser Komparationstyp bleibt zwar im Allgemeinen überall erhalten, jedoch wird im Zentrum, in Italien und in Gallien, magis durch plus ersetzt: it. più alto, frz. plus haut, okz. plus alt, surs. pli ault.
4.1.3 Christliches Latein In der Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der romanischen Sprachen gehen die Meinungen der Gelehrten auseinander. Die Mehrzahl ist bereit, einen bedeutenden Einfluss auf den Wortschatz anzuerkennen, sie halten ihn aber nicht für tiefgreifend. Andere, darunter Schrijnen (1978: 34), sehen im Lateinisch der Christen ein kohärentes System, das Differenzierungen im Bereich des Wortschatzes, der Morphologie und der Syntax aufweist. Als Schriftsprache wurde das Lateinische in ununterbrochener Folge über das Lateinisch der Christen und ihrer Schriften über liefert, das in einer allgemeinen Charakterisierung „christliches Latein“ genannt wird. Dagegen wurden die heidnischen Autoren nicht alle tradiert. Der Entstehung des christlichen Lateins geht ein Prozess voraus, der gewisse Gemeinsamkeiten mit einer Kolonisierung aufweist. Die erste Phase der Ausbreitung des Christentums bestand in der Missionierung der Juden zunächst in Palästina. Diese frühen Christen, die Aramäisch sprachen und sich taufen ließen, waren also Judenchristen. Sie missionierten die hellenisierten Juden sowie die Griechen in Kleinasien, Griechenland und Nordafrika. Und die hellenisierten Judenchristen und die Christen griechischer Sprache missionierten im weströmischen Reich. Diese sprachen und schrieben, auch im weströmischen Reich, zuerst Griechisch und gingen erst später zum Lateinischen über. Ist die lateinische Kultur ohnehin schon in der republikanischen Zeit bis zur Klassik hellenisiert worden, so findet nunmehr eine zweite Hellenisierung über die Religion statt. Die Migrationen zeigen, dass sich zuerst Christen, die Griechisch und wohl auch Aramäisch sprachen, ausbreiteten. Das Christentum drang auf verschiedenen Wegen
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vom Vorderen Orient Richtung Westen vor. Von Ägypten und der Kyrenaika aus erreichte es die Provinz Afrika, wo Karthago ein Zentrum der christlichen Latinität wurde. Eine christliche Gemeinschaft ist in der Provinz Afrika um 180 nachzuweisen. Eine weitere Gruppe waren Christen griechischer Sprache in Gallien, genauer in Lyon und Vienne. Im Rom bestand eine Gemeinde schon seit dem 1. Jahrhundert. Um 180–200 n. Chr. gingen sie unter dem aus Afrika stammenden Papst Viktor I. (um 189–198) vom Griechischen zum Lateinischen als Liturgiesprache über. Unterschiedliche Traditionen des frühen christlichen Lateins drückten sich in verschiedenen Übersetzungen der Bibel aus dem Griechischen aus, der Itala oder Vetus Latina. Es könnte sich eine Tradition des Bibellateins früh herausgebildet haben, während das christliche Latein hingegen erst noch im Entstehen begriffen war (Devoto 1968: 263). Erst die Übersetzung des Neuen Testaments durch den lateinischen Kirchenvater Hieronymus (um 347–419 oder 420) wurde allgemein; er hat sie zwischen 383 und 385 angefertigt. Wegen ihrer allgemeinen Anerkennung wurde sie vom 13. Jahrhundert an Vulgata genannt. Die Christen mussten wegen der Weigerung, am Kaiserkult teilzunehmen, was ihre Verfolgung nach sich zog, im Verborgenen leben. Daher können wir mit Schrijnen (1978: 33) das christliche Latein anfangs als eine Sondersprache begreifen, wie sie Juristen, Soldaten, Landwirte und andere Gruppen kennen, nur war sie deutlich ausgeprägter. Nach bescheidenen Anfängen wurde das Christentum durch das Edikt Konstantins des Großen 313 gleichberechtigte Staatsreligion und unter Theodosius I. dem Großen (379–395) alleinige Staatsreligion. Daher kann sich von da an niemand mehr im Römischen Reich der religiösen, kulturellen, sozialen und literarischen Bedeutung des Christentums entziehen. Die christlichen Texte verbreiten eine allgemeine Sprachnorm und geben der lateinischen Sprache über die gesprochene Sprache hinaus eine neue schriftsprachliche Einheit, die das Ende des Römischen Reichs überdauert. Das christliche Latein ist damit zur Gemeinsprache der Romania geworden. Es ist volkstümlicher geworden, als es das klassische Latein war, da die Christen meist aus den unteren Schichten kamen und die frühen Gemeinden keine sozialen Unterschiede kannten. Die Gebildeten passten sich der Sprache der weniger Gebildeten an. Augustinus war der Meinung, dass es besser sei, man lasse sich von den Grammatikern tadeln, als dass man nicht verstanden werde („Melius est reprehendant nos grammatici quam non intelligant populi“, Augustinus, In Psalm. 138, 20; zitiert nach Väänänen 31981: 17). Als gesprochene Sprache ist dieses Lateinisch so wenig dokumentiert wie die anderen gesprochenen lateinischen Varietäten. Dokumentiert sind dagegen die schriftlichen Verwendungen des Lateinischen der Christen. Dazu gehören das Lateinische als Kultsprache in Gebeten und Kirchenliedern einschließlich der Schriftlesung, das patristische Latein, wie es in den Schriften der Kirchenväter vorliegt, und das Kirchenlatein als Sprache der kirchlichen Gesetzgebung und Verwaltung. Das hohe Alter des Christentums in den Provinzen beweist das Rumänische, das teilweise eine christliche Terminologie bewahrt, die auf eine Christianisierung in lateinischer Sprache wahrscheinlich im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. zurückgeht:
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domine deum > dumnezeu ‚Gott‘, draco > drac ‚Teufel‘, sanctum > sânt ‚heilig, Heiliger‘ (neben altkirchenslavisch sfânt), christianum > creştin ‚Christ‘, paganum ‚Dorfbewohner‘ > păgân ‚Heide‘, angelum > ânger ‚Engel‘, presbyterum > preot ‚Priester‘, credere + -(e)ntiam > credinţă ‚Glaube‘, quadragesimae > păresimi ‚Fastenzeit‘, creationem > Crăciun ‚Weihnachten‘, rogare und rogationem > a ruga ‚beten‘ und rugăciune ‚Gebet‘, baptizare > a boteza ‚taufen‘, communicare > a cumineca ‚zum Abendmahl gehen‘, basilicam > biserică ‚Kirche‘, crucem > cruce ‚Kreuz‘, peccatum > păcat ‚Sünde‘, diem dominicam > duminică ‚Sonntag‘. Dass Rusalii ‚Pfingsten‘ im Rumänischen aus dem Slavischen kommt, kann man als Anzeichen dafür werten, dass die Rumänen bis zum 4. Jahrhundert christianisiert wurden, danach aber nicht mehr in Verbindung mit der römischen Kirche standen, da sie die im 4. Jahrhundert aufkommende Neuerung im Kirchenjahr, die Feier des 50. Tages nach Ostern als Pfingsten, nicht mit einer Fortsetzung des griechischen Worts pentecoste benannten, sondern eben mit Rusalii. Die Feiertage, die Egeria im ausgehenden 4. Jahrhundert kannte (22000: 84–104), waren Epiphanie am 6. Januar, an dem die Geburt Jesu gefeiert wurde, der 40. Tag nach Epiphanie als Darstellung im Tempel am 14. Februar, die Fastenzeit, die damals 40 Tage dauerte und deshalb Quadragesima genannt wurde, und Pascha als Passahoder Osterfest. Später kam ein weiterer Feiertag hinzu, der zuerst am 40. Tag, dann am 50. Tag nach Ostern als Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes über die Jünger, als ‚Pfingsten‘ begangen wurde. Die Christen versuchten, die Namen der römisch-heidnischen Planetenwoche durch christliche Namen zu ersetzen. Saturni dies ‚Saturntag‘ wurde bei Egeria durch sabbato abgelöst (22000: 76–77). Darauf folgte der ‚Tag des Herrn‘, dies dominica, der erste Tag nach dem Sabbat. Die folgenden Tage hießen dementsprechend feria secunda, tertia, quarta, quinta, sexta für Montag bis Freitag. Diese Namen haben sich aber außer im Portugiesischen nicht erhalten. Das auch in dieser Hinsicht aufschlussreiche Rumänisch hat als Namen der Wochentage duminică, luni, marţi, miercuri, joi, vineri und sâmbătă < sambati dies, in denen sich die jüdisch-christliche Tradition mit der heidnisch-römischen verbinden. Die Christianisierung hat zur Folge, dass zahlreiche neue Gräzismen ins Lateinische eingeführt werden und dass lateinische Wörter eine griechische oder auch aramäische Bedeutung erhalten. Zu den christlichen Gräzismen gehören angelus, apostolus, diabolus, episcopus, martyr, presbyter, propheta, eucharistia, evangelium, baptisma, baptizare, catechizare usw., die wir soeben zu einem Teil im Rumänischen sich haben fortsetzen sehen, zu den aramäischen Entlehnungen gehenna ‚Hölle‘, Pascha ‚Passahfest‘, manna. Auf der anderen Seite übersetzt man griechische Wörter ins Lateinische, verwendet sie aber in ihrer christlichen Bedeutung, so z. B. caro im Sinne von sárx, das im Gegensatz zu spiritus steht, ein Wort, das seinerseits pneûma wiedergibt. deus benennt in der jüdischen Tradition den alleinigen Gott. Die Ersetzung von Bedeutungen findet sich so auch bei gentes ‚fremde Völker‘ → ‚Heiden‘, fides (‚Treue‘ → ‚Glauben‘), bei collecta (‚Geldbeitrag‘ → ‚Ver-
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sammlung‘), missa (‚Entlassung‘ → ‚Messe‘), memoria (‚Erinnerung‘ → ‚Gedenkstätte‘), humilitas (‚Niedrigkeit‘ → ‚Demut‘), confessio (‚Geständnis‘ → ‚Beichte‘ und confessio fidei ‚Glaubensbekenntnis‘), ieiunium (‚Hunger‘ → ‚Fasten‘), orare ‚bitten‘ → ‚beten‘. Auch die Ableitungen von diesen Grundwörtern folgen griechischen Modellen. Relationsadjektive wie diese werden statt des Genitivs verwendet, z. B. in apostolica verba ‚Worte des Apostels‘, passio dominica ‚das Leiden des Herrn‘. Nach dem Modell von sarkikós leitet man zu caro das Adjektiv carnalis ab, das Muster pneûma → pneumatikós zieht das Ableitungsverhältnis spiritus → spiritualis nach sich. Nach sotér erhält salvator die Lehnbedeutung ‚Erlöser‘, apokálipsis wird zu revelatio ‚Offenbarung‘ und paliggenesía zu regeneratio ‚Wiedergeburt‘. Solche Gräzismen können zu sehr verschiedenen Zeiten an das Lateinische adaptiert werden. Beispiele für Adaptationen an das schon bestehende lateinische Modell der Verben auf -ific-are sind makarízo – beatificare ‚glücklich preisen‘, doxázo – glorificare ‚preisen‘, thanatóo – mortificare ‚töten‘. Eine Vorstellung vom christlichen Latein um 400 kann man sich am Beispiel der Peregrinatio Egeriae ad loca sancta machen (Egeria 22000). In diesem Reisebericht einer vornehmen Dame ins Heilige Land erhält man einen guten Einblick in den Wortschatz und die Syntax, so die mit quod statt des AcI eingeleiteten Ergänzungssätze (Löftedt 1962). Spätlatein und christliches Latein gehen ineinander über. Das Lateinische wird als Schriftsprache unter bewusster Vermeidung des Sprachwandels tradiert. Wer schreibt, will sich an das Lateinisch der Tradition halten. Dieses Schullatein hält sich in Gallien bis zum 6. Jahrhundert, in Hispanien bis zum Einfall der Araber am Anfang des 8. Jahrhunderts und in Italien bis zum 8. oder 9. Jahrhundert. Wegen der Schultradition ist nicht anzunehmen, dass die Schreiber das System ihrer gesprochenen Sprache verschrifteten, sondern umgekehrt ein in dem Maße besseres Lateinisch sprachen, wie sie es besser schrieben. Man überträgt also die Kenntnis des in der Schule gelernten Lateinisch auf seine Sprechkenntnis. Diese Umsetzung von schriftlich gelernter Sprache in mündliche Sprache trifft zum Beispiel auf Gregor von Tours zu (Mohrmann 1961–1965). Wenn umgekehrt die Texte romanischen Texten ähnlich sind, setzen die Autoren zwar ihre mündliche Sprache in Schriftlichkeit um, ihr Ziel ist aber immer noch, klassisch zu schreiben, auch wenn sie es nicht richtig können. Durch die Reichsteilung von 395 wird eine orthodoxe Kirche griechischer Sprache und eine römisch-katholische mit ihren Folgen angelegt. Beide Kirchen missionieren unabhängig voneinander. Die spätantike Latinisierung war daher mit der Christianisierung und diese mit der Verbreitung des christlichen Lateins verbunden. Um 600 darf das Gebiet des vormaligen Imperium Romanum als christianisiert gelten. Die Unterschiede zwischen den Regionen vertiefen sich zwischen dem Beginn des 6. und dem Ende des 8. Jahrhunderts. Aber auch für sie sind die direkten Zeugnisse spärlich. Man muss auf die Rekonstruktion durch die vergleichende Grammatik der romanischen Sprachen zurückgreifen.
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Bibliographischer Kommentar
Zum Spätlatein Löfstedt 1959. Das christliche Latein wird in einer längeren Tradition seit Rönsch 21875 behandelt. Für eine Einführung in die Untersuchung des Wortschatzes ist Schrijnen 1978 zu verwenden. Andere wichtige Autoren sind Blaise 1955 und Mohrmann 1961–1965.
4.1.4 Die Entstehung des Abstands zwischen klassischem Latein und Gemeinsprache Ist das Vulgärlatein eine Sprache, die zu allen Zeiten seiner Geschichte neben dem Schriftlatein existiert hat, oder ist es die lateinische Sprache einer bestimmten Zeit? Gröber (1978/1884), Mohl (1899) und Muller (1929) haben den ersten Standpunkt vertreten, um die Entstehung der romanischen Sprachen chronologisch zu erklären. So hätten sich aus diesem Vulgärlatein zuerst das Sardische und das Korsische, dann die Sprachen der Iberischen Halbinsel und danach Galliens und schließlich das Dakoromanische entwickelt. Für eine durchgehend seit dem Beginn der römischen Herrschaft existierende Sprache wird mit Wörtern argumentiert wie percontari ‚sich erkundigen‘ und fabulari ‚plaudern‘, die sich in sp. preguntar ‚fragen‘, hablar ‚sprechen‘, pt. perguntar, falar fortsetzen. Die Chronologie ist ein wichtiger Gesichtspunkt für die Erklärung der Unterschiede zwischen den romanischen Sprachen. Sie erklärt die Entstehung neuer Sprachen allerdings immer noch mit dem Stammbaum, wie es Schleicher (21866) getan hat, obwohl bereits Schmidt (1872) daran Kritik geübt hatte. Die sprachlichen Phänomene haben aber einen anderen Status je nachdem, zu welcher Zeit sie verwendet werden. Die berücksichtigte Zeitspanne reicht von der Epoche des archaischen Lateinisch bei der Ausbreitung in Italien und auf Korsika und Sardinien bis zur Zeit der silbernen Latinität in der Kaiserzeit, als Dakien Teil des Römischen Reichs wurde. Die differentiellen Elemente des Lateinisch der römischen Provinzen können somit sehr verschiedener Herkunft sein. Sie können durch innersprachlichen Wandel erklärt werden, durch römische und italische Kolonisierung und mit sprachlichen Einflüssen aus den Provinzen selbst. Wenn die Unterschiede in den romanischen Sprachen bis heute existieren, ist die Annahme plausibel, dass sie sich von den ältesten Zeiten an erhalten haben. Im Laufe der Geschichte des Lateinischen hat sich aber ihre Stellung im Varietätengefüge gewandelt. Waren sie vor der Herausbildung des klassischen Lateins Erscheinungen des Lateinischen schlechthin, so sinken sie danach zu volkssprachlichen oder umgangssprachlichen Elementen ab, da sie nicht ins klassische Latein Eingang fanden. Denn es ist nicht sinnvoll, von „Volkssprache“ zu einer Zeit zu sprechen, zu der es diese Differenzierung gegenüber der Schriftsprache entweder nicht gab oder wir diasystematische Unterschiede nicht zweifelsfrei identifizieren können. Spricht man von vulgärlateinischen Elementen zum Beispiel bei Plautus (um 250–um 180 v. Chr.), so projiziert man eine später eingeführte Unterscheidung in eine Zeit, in der
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es sie in dieser Form nicht gab. Abgesehen aber vom Wandel des Varietätengefüges stehen die Provinzen des Römischen Reichs im Kontakt miteinander. Sie bleiben nicht bei dem Entwicklungsstand der Sprache stehen, der sich zu Beginn der Kolonisierung in den Provinzen zu verschiedenen Zeiten der Latinisierung gebildet hat, sondern sie nehmen Neuerungen aus späterer Zeit auf. Garanten für die Verbreitung von Innovationen können Beamte, Händler, Soldaten und Sklaven gewesen sein, um nur einige gut dokumentierte Gruppen zu nennen, die eine hohe regionale Mobilität kannten. Die Sprachkontakte, die das regionale Lateinisch beeinflussen konnten, fanden in höchst verschiedenen Epochen statt. Die größte Relevanz für die Einschätzung der Bedeutung der Sprachkontakte hat die Zeit vor oder nach der Herausbildung des klassischen Lateins. Es ist auf die Feststellung Wert zu legen, dass die Integration anderssprachiger Elemente teilweise im archaischen und vorklassischen Lateinisch stattgefunden hat, denn manche Sprachkontakte hatten zur Zeit der Standardisierung schon ein bis zwei Jahrhunderte angedauert wie in Hispanien und Afrika, andere fanden parallel zur Herausbildung des klassischen Lateins statt wie in den Sprachsituationen Galliens, Britanniens und Germaniens, wiederum andere standen noch bevor wie in Dakien. Während einige Sprachkontakte zu bereits damals residualen Elementen im gesprochenen Lateinisch geführt haben können, sind andere Kontaktsituationen noch äußerst lebendig und aktuell. Die Beziehungen zum Griechischen waren seit der hellenistischen Epoche und während der ganzen Geschichte des Lateinischen so bedeutend, dass man die Hellenisierung zu den Grundtatsachen der lateinischen Sprachgeschichte zählen muss. Die zur Zeit des Hellenismus auf der Grundlage des Attischen entstandene Gemeinsprache, die Koine, ging der Entstehung eines relativ einheitlich im Römischen Reich gesprochenen Lateinisch lange voraus. Das Lateinische als historische Sprache bei der Untersuchung der Entstehung der romanischen Sprachen zugrunde zu legen, ist eher ein Leitbild, um keine relevanten Aspekte unberücksichtigt zu lassen. Die Dokumentation lässt dagegen eine praktische Verwirklichung nur von Fall zu Fall zu. Da die neuen Sprachräume durch Kolonisierung und regional verschiedene Koinisierungen zustande gekommen sind, sind diese Vorgänge die übergeordneten Gesichtspunkte, nach denen man mindestens die folgenden Bedingungen der Regionalisierung gliedern kann. Nun ist die römische Kolonisierung weniger untersucht worden als die Kolonisierungen im Medium der romanischen Sprachen. Daher lassen sich romanistische Erkenntnisse besser auf das Lateinische übertragen als umgekehrt (Lüdtke 2006; 2014: 33–114). Zu den Bedingungen der Regionalisierung des Lateinischen gehören folgende: 1. Die Sprecher als Träger der Kolonisierung und ihre Sprachen sind die erste Bedingung für die Entstehung von Sekundär- oder Kolonialdialekten (2.4.2.3). Diese Kolonialdialekte entstehen in einer Gemeinsprache (Koine) und bilden selbst wieder Gemeinsprachen. Der Sprachwandel, der bereits im Lateinischen als Gemeinsprache eingeleitet wird, ist der Gegenstand eines eigenen Kapitels (4.5), in dem insbesondere der Wandel des lateinischen Sprachtyps hin zum Typ des Lateinischen als Gemeinsprache und der romanischen Sprachen betrachtet wird.
4.2 Die Ausbreitung des Lateinischen und Kontakte mit vorrömischen Sprachen
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2. An zweiter Stelle sind die kolonisierten Regionen mit ihren Sprechern und Sprachen zu nennen. Zuerst behandle ich die Sprachen und ihre Sprecher (4.2), danach die Sprachkontakträume (4.3). 3. Die dritte Bedingung ist der Kulturwandel, der zum Sprachwandel im Bereich des Wortschatzes führt. Der Wandel, der sich nur in der Bezeichnungsinnovation ausdrückt, fällt nicht auf, ist aber gleichwohl am wichtigsten. Das oppidum, der vicus oder die aedificia privata, die Caesar in Gallien vorfindet (4.3.8, 4.3.9), sind mit Sicherheit andere Siedlungsformen als die italischen, auch wenn sie mit lateinischen Wörtern bezeichnet werden. Anders verhält es sich mit den neuen Dingen und Phänomenen, die mit Lehnwörtern benannt oder durch lateinische Neubildungen ausgedrückt werden. Zu diesen Kulturwandelphänomenen gehören die Gesellschaftstruktur der Bewohner der Regionen und ihre Kultur, der toponymische Wortschatz, der grundsätzlich regional ist (Trapero 1999), die Siedlungsformen, der Ackerbau und die Viehzucht, die Artefakte, Nahrungsmittel, Flora und Fauna. Diese Bereiche identifiziere ich aufgrund der Untersuchung der spanischen Kolonisierung Amerikas, sie konvergieren jedoch mit der Quellenauswertung von Adams (2007, besonders 37–187 nach dem Befund der Regionalisierung zur Zeit der Republik und 188–230 in der Kaiserzeit), der sich seinerseits von den Analysen Trudgills (2004) zur Entstehung der kolonialen Varietäten des Englischen hat leiten lassen. Und da es hierbei um Bezeichnungsrelationen geht, ist dieser diachronische Bereich ein fruchtbares Gebiet für die kognitive Linguistik. Stets zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass die Innovationen von Rom ausgehen können und nicht alle Provinzen erreichen und dass umgekehrt die Innovationen einzelner Regionen nicht in alle Provinzen ausstrahlen. Auf die Bedingungen, die die Völkerwanderung herbeiführte und eine neue Ordnung schuf (4.6), komme ich nach der Darstellung des lateinischen Sprachwandels zu sprechen.
4.2 Die Ausbreitung des Lateinischen und Kontakte mit vor römischen Sprachen Plinius der Ältere (III: 1988: 36–38; Nat. hist. III, 39) entschuldigt sich beim Leser dafür, dass er in seinem Buch über die Geographie „nur beiläufig“ über Latium spreche, welches „die Ernährerin und zugleich auch Mutter aller Länder“ sei. Die römische Kultur und die lateinische Sprache führten alle Menschen zu einem gemeinsamen Vaterland mit einer allen gemeinsamen Sprache zusammen, die die Trennungen zwischen unentwickelten Sprachen überwinde. Lateinische Sprache und römische Kultur seien universell. Was sich in diesen Worten als römisches Sendungsbewusstsein ausdrückt, wollen wir in der Sprache unserer Zeit darzustellen versuchen und kommen zur Verbreitung der lateinischen Sprache.
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Zwar greifen die Verallgemeinerung der Übernahme einer Neuerung bei den einzelnen Sprechern und in den sprachlichen Erscheinungen selbst ineinander – was wir extensive und intensive Verallgemeinerung nennen (1.2.1.4) –, doch auch in der Gegenwart ist es aus praktischen Gründen unmöglich, diese Prozesse in der sprachlichen Wirklichkeit genau zu beobachten. Es ist für die Klarheit der Darstellung daher empfehlenswert, die internen und von den externen Gesichtspunkten zu trennen. Wir beginnen mit den äußeren Bedingungen der Sprachgeschichte, stellen also die Ausbreitung der Sprache Roms dar und kommen dann zu den Sprachkontakten und den daraus entstehenden möglichen Varietäten. Die externen Bedingungen der Ausbreitung der Sprache Roms wollen wir nach den allgemeinen kulturellen und den sprachlich relevanten Bedingungen trennen. Wir verwenden dafür zwei Termini, die in unterschiedlichem Maße eingeführt sind: Latinisierung und Romanisierung. Historiker und Sprachhistoriker verwenden gleichermaßen eher Romanisierung, um den Prozess der Transkulturation der Bewohner des Römischen Reichs zu benennen, der auch die letztendliche Übernahme des Lateinischen einschloss. Die schrittweise Erlernung dieser Sprache wollen wir dagegen Latinisierung nennen. Es hat sich herausgestellt, dass manche Regionen des Römischen Reichs zwar bis zu einem gewissen Grade kulturell romanisiert waren, aber die Bevölkerung das Lateinische noch nicht mehrheitlich angenommen hatte. Die Romanisierung implizierte eine Förderung städtischer Kultur, ja sogar überhaupt die Entstehung von Städten. Es verwundert daher nicht, dass auch der Grad der Urbanisierung mit der Herausbildung der romanischen Sprachräume in Beziehung gesetzt wurde (Alonso 1951; Raupach 1996). Wir fassen zusammen: Die Latinisierung ist die Übernahme der lateinischen Sprache, die Romanisierung die Übernahme der römischen Kultur. Das Lateinische ist in sehr einheitlicher schriftlicher Gestalt überliefert. Wie aber kommt es zur heutigen romanischen Vielfalt? Aus der Begrenztheit der Quellen zum nicht-standardsprachlichen Lateinisch ergibt sich das Problem, wie man die Differenzierung der in den Provinzen des Römischen Reichs gesprochenen lateinischen Sprache erklären kann. Wie immer in der Geschichte einer Sprache erklärt man die Entstehung der Differenzierung durch Evolution, durch den Kontakt der Kolonialsprache mit den durch die Ausbreitung dominierten Sprachen, durch Kontakt der Kolonialsprache mit später hinzugekommenen Sprachen oder durch eine Verbindung zweier oder aller dieser Gesichtspunkte. In der romanischen Sprachwissenschaft nennt man die durch die Kolonialsprache dominierten Sprachen meist Substratsprachen, die später hinzugekommenen Superstratsprachen. Wenn der Sprach- bzw. Kulturkontakt zu einer bestimmten Zeit aktuell besteht, spricht man auch von Adstrat (Kontzi (Hrsg.) 1982). Das Problem der Substrat- und Superstratsprachen ist eine der Hauptfragen der diachronischen romanischen Sprachwissenschaft. Es wurde bereits im 15. Jahrhundert vom italienischen Humanisten Flavio Biondo aufgeworfen und ist danach zu einer kontinuierlich behandelten Frage geworden (Lüdtke 2001). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sie intensiver diskutiert.
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Einigen Gelehrten zufolge sind die Substratsprachen determinierend für die Entstehung der romanischen Sprachen gewesen (Ascoli 1887, Křepinský 1978/1958), für andere die Superstratsprachen (Wartburg 1978/1936). Substrat- und Superstratsprache entsprechen sich nicht genau. Gemeinsam ist beiden zwar die Beziehung zu einem Stratum, wobei im Falle des Substrats die Sprache zeitlich dem Stratum vorausgeht und im Falle des Superstrats ihm zeitlich nachfolgt. Die Ungleichheit besteht darin, dass eine Substratsprache in der Regel nicht oder in geringem Maße, eine Superstratsprache dagegen meist besser dokumentiert ist. Demnach ist der problematischere Begriff derjenige der Substratsprache. Man muss sich allerdings fragen, ob man wirklich von einer Sprache sprechen darf, wo man doch von ihr fast immer nur das kennt, was als Relikt in einer anderen aufgegangen ist. Das Problem ist zugleich theoretischer Art. Es besteht darin, dass die Beschreibung des Sprachkontakts überhaupt auf die Relikte reduziert wird, die in einer diachronisch untersuchten Sprache überlebt haben. Von zentraler Bedeutung ist, dass man dagegen den Sprachkontakt selbst untersucht. Grundsätzlich hat man immer Berechtigung zu der Annahme, dass im Sprachkontakt jeweils zwei neue Kontaktvarietäten entstehen. Bei einer Sprache, die man für eine Substratsprache hält, wäre es aber wichtig zu wissen, wer wessen Sprache gelernt oder Elemente einer anderen übernommen hat. Im Falle eines Kontakts zwischen Keltisch und Lateinisch zum Beispiel ist es relevant zu wissen, ob ein Sprecher des Lateinischen ein keltisches Wort in seine Sprache entlehnt wie z. B. carrus ‚vierrädriger Wagen‘ oder camisia ‚Hemd‘ oder ob ein keltischer Sprecher ein Wort seiner Sprache beim Lateinischsprechen beibehalten hat, wie wir z. B. in rusca ‚Rinde, Bienenkorb‘ annehmen müssen. Dies ist entweder ein Fall von Interferenz oder aber eine Entlehnung aus der Erstsprache in die Zweitsprache. Hierbei liegen ganz verschiedene Beziehungen und Vorgänge zugrunde. Im ersten Fall geht ein Römer, und sei es auch nur bei einem einzigen Wort, zum Keltischen, im anderen dagegen geht ein Kelte zum Lateinischen über. Beide latinisieren das jeweilige Wort zwar, aber der Römer verhält sich bei der Entlehnung sprachlich innovativ, der Kelte dagegen konservativ. Dieser Unterschied zwischen Innovation durch Entlehnung und Konservation durch Interferenz ist besonders für die Latinisierung Galliens wichtig, daher das Beispiel rusca, das zu frz. ruche wird. Beide Beziehungen setzen eine Situation der Zweisprachigkeit voraus. Wenn man nur die in dieser Situation erhaltenen Relikte berücksichtigt, versäumt man es, sich die Frage nach der Zweisprachigkeit als einem gesellschaftlichen Phänomen oder nach dem Bilinguismus als einem individuellen Problem zu stellen. Meillet hat früh das Phänomen als gesellschaftlichen Bilinguismus im Lateinischen erkannt (1978: 63–66; zuerst 1933). Es ist aber auch möglich – das ist ein dritter Fall –, dass das Relikt auf allgemeinen Kulturkontakt zurückgeht und damit keine individuell oder sozial intensive Spracherlernung impliziert. Alle diese Unterschiede des Sprachkontakts werden durch eine Reduktion auf den Begriff der Substratsprache eingeebnet. Ich halte seine Verwendung für nicht sehr tauglich, wenn wir über die Kontaktsituation
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informiert sind. Wir haben heute eine gut entwickelte Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung, deren Erkenntnisse unbedingt für die Untersuchung der älteren Sprachkontaktsituationen genutzt werden sollten. Durch Bilingualism and the Latin language von Adams (2003) verfügen wir über ein Werk, das einen bedeutenden Teil der Quellen zum Sprachkontakt im Römischen Reich interpretiert. Sprachen in Kontakt werden üblicherweise in der gesprochenen Sprache betrachtet. Zweisprachigkeit erscheint aber auch in schriftlicher Form. Was die Originalsprachzeugnisse angeht, ist die Zweisprachigkeit in Inschriften belegt. Ihre Manifestationen sind aber komplexer als beim (mutmaßlichen) mündlichen Gebrauch. Wir haben es beim schriftlichen Gebrauch ausnahmslos mit einem situationsentbundenen Gebrauch zu tun. Unter Situation verstehe ich hier die „unmittelbare Situation“ des Sprachgebrauchs (3.4). Diese kann allenfalls durch Kommentare in Texten rekonstruiert werden. Das Modell der in Kontaktsituationen entstehenden Varietäten (2.4.2.4) muss folglich erheblich modifiziert werden. Die mit dem Schreiben einhergehende Reflexivität macht eine Sprachverwendung weniger vorhersehbar. Der Sprachgebrauch ist formell durch Textgattungen und ihre Traditionen mit ihren Formeln geprägt (3.10). Zweifache Identität drückt sich in zwei Sprachen aus. Was aber die Identität prägt und ausmacht, ist jeweils verschieden. Mit der römischen Herrschaft verbreitete sich die Sprache Roms. Der Aufstieg Roms begann auf der Apenninhalbinsel in den Gebieten der Falisker, Samniten, Osker und Umbrer, die Bundesgenossen wurden. Die Römer und Latiner waren demographisch zu unbedeutend, um die Latinisierung allein herbeizuführen. Diese war in entscheidender Weise auch das Werk der zuvor latinisierten Bevölkerung in Italien und später in den Provinzen des Reichs. Das Lateinische Roms war als Kolonialsprache in die Regionen Italiens gebracht worden, bevor es selbst wieder als Kolonialsprache außerhalb Italiens Verbreitung fand. Aber auch durch die Kolonisierung im engeren Sinne, die von römischen, latinischen oder italischen Kolonien ihren Ausgang in Gestalt von Migrationen genommen hätten, ist die römische Volkssprache sicherlich weniger verbreitet worden als durch die Ansiedlung von Veteranen und den Übergang der ortsansässigen Bevölkerung von einer Sprache zur anderen. Zwei- oder Mehrsprachigkeit war also die Bedingung für die letztendliche Übernahme des Lateinischen (Herman 1990: 52–53). Nach der Unterwerfung Hispaniens im zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) breitete Rom seinen Machtbereich konzentrisch aus. Die Herrschaft griff nicht nach geschlossenen geographischen Räumen aus wie auf der italischen Halbinsel, sondern sie verlief in den einzelnen Regionen parallel. Aber dennoch stellen wir fest, dass die Romanisierung je nach Region zu verschiedenen Zeiten einsetzt. Wir besprechen deshalb die Romanisierung und Latinisierung in der folgenden Reihenfolge: Apennin halbinsel; das karthagische Erbe mit Sizilien, Korsika, Sardinien, Hispanien und Afrika im mittleren und westlichen Mittelmeer; die griechischen Provinzen im Osten des Reiches; die keltischen Regionen Galliens bis zum Niederrhein und Britannien;
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die südlich der Donau liegenden Provinzen und schließlich Dakien. Dadurch entstanden sicherlich räumlich und sozial geprägte Varietäten des gesprochenen Lateinisch wie allgemein in Sprachkontaktsituationen. Ihre Ausgestaltung ist jedoch im Wesentlichen nur erschlossen. Die Situationen, die sich ergeben, sind sehr verschieden. Das Lateinische breitete sich im gesamten Römischen Reich zwar als dominierende Sprache aus, diese Feststellung ist jedoch sehr zu nuancieren. Sein Status variierte erheblich je nach dem, ob es mit einer Hochkultur in Kontakt kam, die durch eine starke schriftsprachliche Tradition geprägt war. Auf der Apenninhalbinsel gehörten dazu die Etrusker, die Umbrer, die Samniten und die Osker, namentlich aber die Griechen, deren Kolonien mit Cumae bis nahe an die Tore Roms reichten, und die Punier in den von Karthago beherrschten Gebieten. Die Informationen zu diesen zahlreichen Sprachkontakten wären eigentlich im Rahmen einer sprachenübergreifenden Soziolinguistik zu untersuchen. Die übliche Methode folgt jedoch eher der Trennung nach Einzelsprachen, was eine zusammenhängende Untersuchung erschwert. So finden zweisprachige Inschriften oder das Nebeneinander von lateinischen und anderssprachigen Quellen bisweilen nicht die nötige Beachtung (cf. aber Adams 2003). Solche gibt es auf der Iberischen Halbinsel zum Beispiel und in recht hoher Zahl an markanten Stellen wie, unübersehbar, etwa an Stadttoren in den griechischen Städten des Römischen Reichs in Kleinasien. Auf jeden Fall trugen die Sprachkontakte zur Regionalisierung des Lateinischen bei. Es gilt deshalb zu zeigen, dass die sprachlichen Unterschiede in einer langen Entwicklung seit den ältesten Kontakten zwischen dem Lateinischen und den vorrömischen Sprachen angelegt sind. Wenn wir das sich ausbreitende Lateinisch so betrachten wie die Ausbreitung der romanischen Standardsprachen, die Dialekte und andere Sprachen überlagerten, dürfen wir im Römischen Reich gleichermaßen eine Regionalisierung des Lateins annehmen, d. h. die Entstehung eines Regional lateinischen in Gestalt von regionalen Varietäten des gesprochenen Lateinisch (Adams 2007). Romanisten sprechen meist von einer Dialektalisierung des Lateins, obwohl wir den Status der diatopischen Unterschiede nicht kennen, denn wir wissen nicht, in welchem Maße sie auf Unterschiede im Lateinischen selbst zurückgingen oder ob sie durch den Kontakt mit anderen Sprachen bedingt waren. Für die angenommene Dialektalisierung, d. h. die Unterordnung dieser Varietäten unter die lateinische Standardsprache, gibt es keine direkten Belege. Noch das Konzil von Tours (813) nannte die Sprache, die die Ungebildeten sprachen, lingua. Es wurde nicht zwischen Sprache schlechthin und dem, was wir heute Dialekt nennen, unterschieden. Gleichwohl wird die Dialektalisierung als ein Vorgang beschrieben, der zur Ausprägung der diatopischen Unterschiede führt. Über ihre Wahrnehmung haben wir keine Zeugnisse, es sei denn, wir nehmen die nicht weiter differenzierte peregrinitas oder barbaries dafür. Wenn wir unter einem Dialekt eine Sprache verstehen, die einer anderen untergeordnet ist, gehen wir nicht fehl, dieses Verhältnis vom Beginn der Entstehung diatopischer Unterschiede anzunehmen. Was man als Dialektalisierung
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erfassen will, ist daher die Vergrößerung der Distanz der immer heterogener werdenden gesprochenen Sprache zum klassischen Latein. In diesem Sinne unterscheidet Herman (1996) drei „Dialektalisierungsphasen“, die wohl man besser „Regionalisierungsphasen“ nennen sollte: Die Varietäten, die bis zur klassischen Zeit in Italien dadurch entstanden, dass das Lateinische die italischen Sprachen, das Griechische und die nicht-indogermanischen Sprachen (darunter vor allem das Etruskische) überdachten; die im übrigen Römischen Reich zur Kaiserzeit entstandenen Varietäten und schließlich diejenigen, die sich nach dem Ende des weströmischen Reichs durch die Vertiefung bestehender Unterschiede entwickelten. Diese Phasen lassen sich mit einem großen Abstand zur sprachlichen Wirklichkeit in den Inschriften verfolgen. Die Inschriften der Kaiserzeit zeigen zwar phonetische und morphologische Unterschiede zum klassischen Latein, sie können aber meist nicht mit denjenigen romanischen Sprachen in den Regionen in Verbindung gebracht werden, in denen sie aufgefunden wurden (Herman 1990: 35–49). Was die diastratische Einschätzung der sprachlichen Unterschiede angeht, ist es sicher wichtig, ob sie vor oder nach der Herausbildung des klassischen Lateins entstanden sind. Nach der Selektion und Etablierung der Sprachnorm können auch die diastratischen Unterschiede in ein neues Verhältnis zueinander kommen. Die Autoren achten jedenfalls eher auf diastratische und auch diaphasische Unterschiede als auf diatopische. Nehmen wir die Einordnung von fabulari, loqui und narrare ins Varietätengefüge des archaischen Lateins. Die Unterschiede sind dort diastratisch, im klassischen Latein werden sie dagegen zu diaphasischen bzw. stilistischen Unterschieden. In der lateinischen Gemeinsprache wiederum verteilen sich fabulari ‚schwätzen, plaudern, in einer Fabel erzählen‘ und narrare ‚eine Nachricht geben, erzählen‘ neu im Raum. Aus den ursprünglich diastratischen und diaphasischen Unterschieden werden diatopische, auch bedingt durch die Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen: Man vergleiche sp. hablar, pt. falar mit sard. nárrere. Die neue Verteilung im Raum ist durch das Aufkommen des christlichen Hellenismus parabolare ‚(in Gleichnissen) sprechen‘ entstanden, einer Neuerung, die vom zentralen Italien und Gallien ausging und loqui verdrängte: it. parlare, frz. parler, kt. parlar. Die diastratischen Unterschiede korrelieren mit sozialen Schichten. An der Spitze der Gesellschaft standen zur Zeit der Republik in Rom die Patrizier, es folgten das Volk und die Sklaven, alle wieder mit internen Differenzierungen. Wir dürfen ein Lateinisch des Volks, der Sklaven, der Landbewohner, der Italiker, der Zweisprachigen – zu diesen gehören die Griechen ebenso wie die des Griechischen kundigen Römer – annehmen. Die römische Hierarchie überlagerte in den Provinzen die jeweiligen Gesellschaften, deren ethnische Gruppen lange Zeit verschiedene Sprachen verwendeten. Zwei- und Mehrsprachigkeit war im Römischen Reich die Regel. Ein Teil der Gesellschaft zeichnete sich durch eine hohe regionale Mobilität aus: Beamte, Siedler und Legionäre aus Italien und dem gesamten Imperium, Händler, Handwerker, Künstler. Diese können als Sprecher der lateinischen Sprache gelten, wenn auch nicht immer als muttersprachliche Sprecher. Sie mögen zu einer zur Ver-
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Abb. 4.1: Das Römische Reich im Jahr 235 (Quelle: Johne et al. 2008: Karte am Ende des Werks)
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einheitlichung tendierenden Sprache hingeführt haben, die sich nach der Art einer Koine herauskristallisiert hat. Auf die Verkehrswege, die die regionale Mobilität ermöglichen, führt H. Lüdtke (1978) die Ausgliederung der Sprachräume zurück. In diesen Sprachräumen entstehen ihm zufolge geradezu die romanischen Dialekte. Hingegen haben wir einige Anhaltspunkte dafür, in welchem Verhältnis der die Romanisierung und Latinisierung voranbringende Teil der Bevölkerung in den Provinzen zur anderssprachigen autochthonen Bevölkerung stand. Diese soziolinguistische Frage kann mit den notwendigen Vorbehalten an den auf Steinen erhaltenen Inschriften untersucht werden. Wenn man bei vorsichtigen Schätzungen zum Verhältnis zwischen bekannten und verlorenen Steinen annimmt, dass die bekannt gewordenen Steine mit epigraphischem Material etwa 12 % derjenigen Bevölkerung repräsentieren, die überhaupt durch Steininschriften bekannt geworden sind, und diese epigraphische Population zur geschätzten Gesamtbevölkerung einer Provinz ins Verhältnis setzt, dann stellt die epigraphische Population in den meisten Provinzen wohl weniger als 4–5 % dar. Durch die Inschriften werden nicht alle Schichten der Gesellschaft dokumentiert. Die an der Spitze der Hierarchie einer Provinz stehenden Personen sind besonders gut vertreten und daneben auch die städtische Mittelschicht. Andere soziale Schichten wie Sklaven, Freigelassene, Landbevölkerung usw. erscheinen nur ausnahmsweise auf Inschriften. Unter den auf Inschriften vertretenen Personen sind die Sprecher des Lateinischen von den zweisprachigen zu unterscheiden (Herman 1990: 42–46). Es ist gelungen, mit den Mitteln der Sprachgeographie Sprachräume abzugrenzen. Sie beruhen auf lexikalischen Isoglossen, die, sicher mit späteren Verschiebungen, auf die Zeit der römischen Kolonisierung zurückgeführt werden (cf. Schmitt 1998). Unter den Sprachkontaktsprachen behandeln wir nur die weit verbreiteten. Am wenigsten wichtig ist darunter das Punische, während das Griechische und das Keltische allgegenwärtig waren. Diese gehörten zu den von den Römern nicht als barbarisch angesehenen Sprachen.
4.2.1 Das Phönizische oder Punische Phönizisch oder Phönikisch ist der griechische Sprachenname, Punisch der lateinische. Man kann zwischen Phönizisch und Punisch einen Unterschied machen. Phönizisch ist dann die semitische Sprache des Mutterlands in Vorderasien, Punisch die Sprache, die sich in Karthago und von Karthago aus als Kolonialsprache ausgebreitet hat. Dass keine historischen Quellen in punischer Sprache über Karthago erhalten sind, darf uns nicht dazu verleiten, diese Sprache für völlig unwichtig zu halten. Weil lediglich Inschriften auf Stein und Metall überliefert sind, kann das Punische auch nur innerhalb der engen Grenzen dieses Sprachmaterials rekonstruiert werden. Die Römer stießen auf die Karthager und ihre Sprache vom Anfang ihrer Expansion an und sie erkämpften sich die Gebiete Karthagos nach den drei gegen diese Stadt geführ-
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ten Kriegen: Sizilien, Sardinien, Korsika, Hispanien, westliches Nordafrika. Immerhin sind punische Namen in latinisierter Form überliefert: Carthago, poenus ‚Punier‘, Gades > sp. Cádiz, Ebusus > kat. Eivissa. Eine isolierte Imperativform wird übernommen, ave ‚er, sie lebe, sei gegrüßt‘ wie später in Ave Maria. Fassbarer als ein eventueller sprachlicher Einfluss ist die geopolitische Bedeutung Karthagos. Dass Rom das Erbe der punischen Metropole antrat, bedeutet für das Lateinische, dass es in die Räume expandiert, die in ihrem Einflussbereich gelegen hatten. Diese Tatsache ist weitaus wichtiger als alle Belege von Entlehnungen oder Sprachkontakten. Das Punische erhielt sich im afrikanischen Einflussbereich Karthagos bis in das 4. Jahrhundert n. Chr. hinein.
4.2.2 Das Griechische „Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latio“ (Horaz, Epistulae III, 2,1) „Griechenland wurde erobert; es eroberte seinerseits den rohen Sieger und brachte die Künste und Wissenschaften ins bäurische Latium“ (Fuhrmann 1999: 43).
Man hat die Entwicklung des klassischen Lateins, aber auch des Lateinischen schlechthin auf die Transkulturation durch das Griechische als Kultursprache und als gesprochene Sprache zurückgeführt. Rom wurde seit der vom ionischen Chalkis auf der Insel Euböa ausgehenden Gründung von Cumae (grch. Kyme) im 8. Jahrhundert v. Chr. von den Griechen beeinflusst, obwohl es nicht möglich ist, mit dieser Kolonie in Kampanien direkte Entlehnungen und direkte kulturelle Einflüsse zu verbinden. Während machina ‚Maschine, Belagerungsmaschine‘ nicht-ionischen Ursprungs ist, könnte die ionische Form mechanicus ‚Mechaniker‘ auf Cumae verweisen. Früh wird der Kult griechischer Götter eingeführt. Wie in der Interpretatio Graeca die Griechen Entsprechungen zu Göttern anderer Völker herstellten, übernahm die Interpretatio Romana mit der Hellenisierung griechische Götter in das römische Pantheon: Die Dioskuren Castor und Pollux wurden von 484 v. Chr. an mit einem Tempel verehrt, Demeter wurde zu Ceres, Dionysos zu Bacchus, Hermes zu Mercurius (495); Apollo wurde übernommen (495), erst viel später kam Asklepios als Aesculapius hinzu (293). Das lateinische Alphabet leitet sich, sei es auf direktem Wege, sei es über das Etruskische, vom griechischen Alphabet von Cumae ab. Die Übernahme des Vokals o, des Konsonanten d, des r, die Verwendung von x für /ks/ und die Entwicklung des Digammas (d. h. nach einer Form ‚Doppelgamma‘ genannt, für /v/) zu f sprechen für eine eigenständige Adaptation des griechischen Alphabets, c auch für g, p statt b dagegen für eine vorherige etruskische Adaptation. Das Griechische wurde durch die Gründung von Kolonien verbreitet, die bisweilen weit voneinander entfernt lagen. Zentren der Hellenisierung im westli-
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chen Mittelmeerraum waren um 300 v. Chr. Großgriechenland (lat. Magna Graecia) mit Tarent, das östliche Sizilien mit Syrakus und Massalia mit seinem Einflussbereich die Rhône hinauf und bis ins Languedoc. Die Massalioten haben aber keine Hellenisierung bewirkt, die derjenigen in Großgriechenland vergleichbar gewesen wäre. Griechische Kolonien erreichten die Ostküste der Iberischen Halbinsel. Die römische Aristokratie spürte im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. die Notwendigkeit, sich zu bilden, da ihre literarische und philosophische Kultur unzulänglich war. Sie schafften die Anhebung ihres kulturellen Niveaus nicht aus eigener Kraft, sondern erst durch die Übernahme der griechischen Kultur. Der erste Literaturlehrer war ein Grieche aus Tarent, Livius Andronicus (um 280–nach 207 v. Chr.), ein Gefangener, der sich in jungen Jahren in Rom niederließ, die Odyssee übersetzte und Tragödien dichtete. So ist der erste römische Dichter, dessen Namen man kennt, ein Grieche. Der römische Dichter Naevius (um 270–um 201 v. Chr.) schrieb Theaterstücke, aber auch er ahmte die Griechen nach. Ennius (239–169 v. Chr.) verstärkte den großgriechischen Einfluss weiter. Als Kalabrier sprach er Griechisch und Oskisch, das Lateinische wurde seine Dichtungssprache, obwohl es nicht seine Muttersprache war. Er adaptierte den Hexameter Homers und entlehnte Wörter wie musa ‚Muse‘, aer ‚Luft‘, astrologus ‚Sternkundiger, Sterndeuter‘, draco ‚Drache‘ aus dem Griechischen. Er gab dem lateinischen sapientia ‚Einsicht‘ die Bedeutung von sophía ‚Weisheit‘ im Sinne der Philosophie wie auch entsprechend dem Adjektiv sapiens die Bedeutung von sophós ‚weise‘. Dieses Verfahren der Bedeutungsentlehnung, das die Fremdwörter nicht in einer auffälligen fremden Form in Erscheinung treten lässt, wurde gerade auch in der Klassik angewandt. Ohne Kenntnis des Griechischen fällt daher dieser Einfluss nicht auf. In gleicher Weise hatte zuvor Ennius griechische Kompositionsverfahren mit lateinischen Elementen nachgeahmt: suaviloquens ‚lieblich redend‘, omnipotens ‚allmächtig‘, flammifer ‚flammend‘, altisonus ‚donnernd‘. Die Partizipialkonstruktion ist eine syntaktische Entlehnung aus dem Griechischen, denn dem Lateinischen standen nur wenige Verfahren der Satzunterordnung zu Gebote. Diese Entlehnungstypen weisen auf eine bessere Beherrschung des Griechischen hin, als sie für eine auch formal griechische Entlehnung notwendig ist wie machina. Der lateinischen Sprache fehlte noch eine literarische Prosa. Sie wurde im 3. Jahrhundert v. Chr. vorbereitet, kann aber nicht in ihren Quellen untersucht werden, da sie nur in Zitaten späterer Werke überliefert ist. Die lateinische Prosa entstand im 1. Jahrhundert v. Chr. mit den Werken von Caesar, Cicero, Sallust und anderen durch die Hellenisierung der römischen Kultur. Als ihren bedeutendsten Vertreter kann man Cicero nehmen. Er hat Griechenland bereist und beim Rhetoriklehrer Molon von Rhodos studiert. Die Rede, die in Griechenland nur noch eine Kunstform war, erhielt durch Cicero in der Anwendung vor Gericht, auf dem Forum und im Senat wieder ihre wahre Funktion zurück. Cicero und die Römer haben die griechische Kultur zu einer universellen humanistischen Kultur gemacht.
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Die frühen Hellenismen unterscheiden sich in der lautlichen Adaptation von den späteren. Der Vokal /y/ wurde zu /u/, die aspirierten Konsonanten /ph/, /th/, /kh/ zu /p/, /t/, /k/: míntha > menta > frz. mente, it. sp. menta, rum. mintă ‚Minze‘, thýmos > *tumum > sp. tomillo ‚Thymian‘, pórphyra > purpura > frz. pourpre, it. porpora ‚Purpur‘. Der Konsonant /k/ wird eher zu /g/ statt /k/: kybernân > gubernare ‚steuern‘ > it. governare, frz. gouverner, sp. gobernar ‚steuern, regieren‘. Mit der Verbesserung der Griechischkenntnisse unter den Gebildeten wurden die Hellenismen mit ihrer griechischen Aussprache entlehnt als y, ph, th, ch. Dies fand in der klassischen Zeit allgemein statt und wurde auch in die gesprochene Sprache übernommen, jedoch mit einigen phonetischen Adaptationen, so y als i: kŷma > cyma > sp. cima ‚Gipfel‘, gýpsos‘ > gypsum > gĭpsum > sp. yeso ‚Gips‘; ph als f: kóphinos > cophĭnus > sp. cuévano ‚Kiepe‘, orphanós > orphănus > sp. huérfano ‚Waise‘ (cf. zum griechischen Einfluss auf das Lateinische Meillet 1928: 106–117, 191–226, Coseriu 1978, Adrados 2001: 200–212). In späterer Zeit entwickelte sich das lange e zu /i/: apothéke > apotheca > sp. bodega ‚Weinkeller‘, gal. pt. adega ‚Weinkeller‘, aber auch sp. botica ‚Apotheke‘, frz. boutique ‚Laden‘, kat. botiga ‚Laden‘. Nach Nasalkonsonant werden /p, t, k/ stimmhaft: kampé wurde, neben campa, zu camba oder gamba adaptiert als asp. kat. cama, it. gamba, frz. jambe ‚Bein‘. Aus sántalon wurde sándalon > sp. sándalo ‚Sandelholz‘. Die Voraussetzung für den Aufstieg des Griechischen zur Gemeinsprache des späteren oströmischen Reichs war die politische Neugestaltung des östlichen Mittelmeerraums. In der Folge der Eroberung des persischen Großreichs von Dareios III. (lat. Darius) durch Alexander den Großen von Makedonien (356–323 v. Chr.) entwickelte sich die Kultur des griechischen Festlands, der Inseln der Ägäis und der Städte des westlichen Kleinasiens zum Hellenismus. Bis aber Caesar das Erbe Alexanders antreten konnte, musste der eroberte Raum unter den Generälen Alexanders, den Diadochen (323–280 v. Chr.), zu einer neuen Ordnung finden. Persien und Mesopotamien waren nicht zu halten. In der griechischen Welt verblieben neben den Kernländern mit Thessalien, Makedonien und Epeiros (lat. Epirus) Kleinasien, der Vordere Orient bis zum Euphrat und Ägypten mit der Kyrenaika. Die griechische Kultur war entstanden, indem sie im Denken, im Handel und in den Künsten Anregungen aus Kleinasien, Syrien und sogar Ägypten verarbeitet hatte. Das Ausgreifen in den Vorderen Orient breitete sie noch weiter aus und verwandelte sie ein weiteres Mal. Das Zentrum dieser Kultur war die Polis mit ihren Tempeln, Theatern, Gymnasien und der Agora, dem Platz des öffentlichen Lebens. Sie erzog die Menschen zur Selbstständigkeit. Griechen waren die besten Söldner, Architekten, Bildhauer, Dichter, Philosophen, Gesetzgeber, Händler. Das Griechische breitete sich im ganzen Vorderen Orient auch unter Nichtgriechen aus. Diese Verbreitung wurde durch den griechischen Handel und die griechischen Pflanzstädte besonders gefördert. Das Griechisch des Hellenismus ist die Koine, die auf attischer Grundlage entstandene griechische Gemeinsprache (cf. Adrados 2001: 167–218). Sie bleibt die Sprache der Elite des Ostens bis zum Ende des Römischen Reichs und darüber hinaus bis zur arabischen Eroberung.
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Als Rom im Krieg mit Pyrrhos, dem König von Epeiros lag, war es schon eine hellenisierte Macht. Mit Caesars Herrschaft über den östlichen Mittelmeerraum wird das Reich Alexanders des Großen im Römischen Reich „aufgehoben“. Auf eine unterschiedliche Präsenz der beiden großen Sprachen im Imperium Romanum lassen die Inschriften schließen. Sind sie an Stadttoren, Tempeln, Denkmälern und allgemein auf den Hauptstraßen der Städte angebracht, so sind sie als Hinweise auf die öffentliche Relevanz der jeweiligen Sprachen zu deuten. Sind sie auf Votivtafeln und dergleichen geschrieben, mag der Status der Sprache eventuell nicht mit dem einer Amtssprache vergleichbar sein. In den kleinasiatischen Städten erscheint das Latein oft an erster Stelle mit dem Griechischen zusammen: Es war auch in jenen Provinzen Amtssprache. Das Lateinische und das Griechische standen also im ganzen Reich im Kontakt miteinander. Im oströmischen Reich war die lateinische Sprache aber minoritär, wenn auch dominant; die griechische Sprache war minoritär im weströmischen Reich verbreitet. In Rom als Hauptstadt trafen Lateinisch und Griechisch direkt zusammen. Ein interessantes Zeugnis dafür, dass Griechen aus Kleinasien in Süditalien lateinisch sprachen, ist das Satyricon, ein satirischer Roman, der dem im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebenden Petronius (41995) zugeschrieben wird. Die Personen aus Großgriechenland, die in diesem Roman auftreten, sind gleichsam Sprecher einer Minderheitensprache im weströmischen Reich. Wir haben es hier also mit einer kolonialsprachlichen Situation zu tun. Sie ist mit heutigen Situationen nicht vollkommen vergleichbar, es gibt jedoch Ähnlichkeiten mit Verhältnissen, wie wir sie in den Vereinigten Staaten im Kontakt zwischen dem Englischen und dem Spanischen oder dem Englischen und dem Französischen in Kanada finden. Nicht zuletzt war die Koine die Sprache von hellenisierten Juden wie dem Apostel Paulus, die eher das Christentum annahmen als die anderen Juden. In griechischer Gestalt wurde das Christentum mit seinen Schriften in die weströmischen Provinzen gebracht. Von ungeheurer Bedeutung sind die Übersetzungen, nicht nur des Neuen Testaments, ins Lateinische. Rönsch (21875) gibt zahlreiche Beispiele für die wortwörtliche Wiedergabe des griechischen Originals. Diese schülerhafte Technik finden wir zu allen Zeiten in der schriftsprachlichen Transkulturation einer Sprache durch eine andere. Für die lateinischen Übersetzungen aus dem Griechischen ist es wichtig zu wissen, ob die lateinische Zielsprache auch die Muttersprache des Übersetzers war.
4.2.3 Die keltischen Sprachen Die andere bedeutende Sprachengruppe, mit der die lateinische Sprache in einen frühen und anhaltenden Kontakt kam, sind die keltischen Sprachen, die zu den indogermanischen bzw. indoeuropäischen Sprachen gehören und mit den italischen Sprachen nahe verwandt sind. Sie waren so weit verbreitet, dass frühe Gelehrte die romanischen Sprachen von ihnen herleiten wollten. Die so genannte Keltenthese wurde
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besonders in Frankreich vertreten und erreichte ihren Höhepunkt in der „Keltomanie“ des 18. Jahrhunderts. Die Ethnogenese der Kelten kann nur durch den Vergleich archäologischer Funde, griechischer und römischer Textquellen sowie keltischer Sprachzeugnisse erschlossen werden. Archäologisch werden die Hallstatt- und die Latènezeit mit den Kelten in Verbindung gebracht, obgleich das Gebiet dieser Kulturen nicht genau mit dem Siedlungsgebiet der Kelten übereinstimmt. Die Kelten hatten ihr Kernland im Osten des heutigen Frankreichs und dem Gebiet nördlich der Alpen in Frankreich und in der Schweiz, im Westen und Süden Deutschlands und breiteten sich von dort auf der Iberischen Halbinsel, den Britischen Inseln, in Gallien, in Nord- und Mittelitalien, die Donau abwärts bis Griechenland und nach Kleinasien aus. Sie wurden von den Griechen Kéltai oder Keltoí genannt, von den Römern Celtae. Ein Teil davon, die Gallier, sind durch den Eroberungsbericht De bello Gallico von Caesar am besten bekannt; sie bewohnten einen Raum, der kein einheitliches Herrschaftsgebiet war und in etwa dem heutigen Frankreich, Belgien und Oberitalien entsprach. Die Ausbreitung der Gallier nach Mittelitalien verhinderten die Römer 387/386 v. Chr. Die Invasoren siedelten sich in der Poebene an, die nach ihnen Gallia Cisalpina genannt wurde. Die Kelten in Kleinasien waren die Galatae, die den Bibellesern aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater vertraut sind. Der Name dieser Völker hat seine Grundlage in ihren Sprachen, er hatte in der Antike aber eine unterschiedliche Reichweite, und auch heute meinen nicht alle Forscher dasselbe, wenn sie von „Kelten“ und „keltisch“ sprechen (Fries-Knoblach 2002: 9–22). Man unterscheidet inselkeltische und festlandkeltische Sprachen. Die inselkeltischen Sprachen wurden auf der Iberischen Halbinsel und auf den Britischen Inseln gesprochen. Das auf der Iberischen Halbinsel verbreitete Keltiberisch wird deshalb inselkeltisch genannt, weil es mit den keltischen Sprachen der Britischen Inseln näher verwandt ist als mit den sonstigen Sprachen des keltischen Festlands. Die Sprachen der Britischen Inseln teilt man in die goidelischen Sprachen und die britannischen Sprachen ein. Zum Goidelischen gehören das Irische, das Schottisch-Gälische und das Manx (auf der Isle of Man), zum Britannischen das Kymrische oder Walisische, das Kornische (das ehemals in Cornwall gesprochen wurde) und das Bretonische in der Bretagne. Unter den festlandkeltischen Sprachen sind insbesondere das Gallische und das Lepontische im Gebiet der oberitalienischen Seen und nördlich davon zu nennen. Sie alle sind nur aus Inschriften, Namen, Glossen und Konservationen in romanischen Sprachen bekannt. Die Kelten haben zwar keine eigene Schrift geschaffen, aber sie adaptierten die Schriften anderer Kulturen. Die Keltiberer übernahmen die iberische Schrift und später die lateinische. Das Gallische wurde zuerst in griechischer und danach in lateinischer Schrift geschrieben. Das Lepontische ist in etruskischer und lateinischer Schrift überliefert. Insgesamt ist das Gebiet der frühen keltischen Verschriftungen klein: Es umfasst das Umland der oberitalienischen Seen, das Rhônetal und angrenzende Regionen sowie den östlichen Teil der Meseta.
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Das Lateinische kam mit dem Keltischen nacheinander in Kontakt in Oberitalien, auf der Meseta und im Westen Hispaniens, in Gallien, im Voralpen- und im Alpenraum. Dadurch gelangten keltische Wörter in das Lateinische schlechthin und in das Regionallateinisch Oberitaliens, Hispaniens, Galliens bis an den Rhein und in die zwischen der Donau und den Alpen liegenden Provinzen. In diesen Kontaktsituationen sind zwei Typen von Situationen zu unterscheiden. Ein Teil der keltischen Entlehnungen kam durch den allgemeinen Sprach- und Kulturkontakt ins Lateinische. Auf die älteren Kontakte in Oberitalien, wohl im Sinne eines solchen allgemeinen Kulturkontakts, gehen einige lateinische Wörter zurück: ambactus ‚Sklave, Dienstmann‘, ein schon Ennius zugeschriebenes und bei Caesar belegtes Lehnwort (vgl. dt. Amt), das über die Ableitung okz. ambaisada ‚Botschaft‘ direkt erhalten blieb und als it. ambasciata, frz. ambassade, rum. ambasadă, sp. embajada, pt. ambaixada innerromanisch entlehnt wurde; carpentum ‚zweirädriger Wagen, Gerüst‘ > frz. charpente ‚Dachgebälk‘; carrus ‚vierrädriger Wagenʻ > frz. char, it. kat. pt. sp. carro, rum. car; lancea ‚Lanzeʻ > frz. lance, it. lancia, kat. llança, pt. lança, sp. lanza; braca, bracas ‚Hosenʻ > rum. bracă, frz. braie ‚Windelʻ, pt. braga ‚Kniehoseʻ, kat. sp. braga ‚Windel, Schlüpferʻ; sagum ‚Umhangʻ > frz. saie ‚Mantel aus grobem Stoffʻ, it. saio ‚Kutteʻ, pt. saia ‚(Frauen-)Rockʻ, sp. saya ‚Unterrockʻ; *lausa > frz. lauze ‚Steinplatte (auf Dächern)ʻ, sp. losa ‚Steinplatte, Flieseʻ, pt. lousa, kat. llosa; bulga ‚Ledertascheʻ > frz. bouge ‚Felleisen, Drecklochʻ (man vergleiche engl. bulge ‚Wölbung, Wulst‘), it. bolgia ‚große Tasche‘, surs. bulscha; betulla ‚Birke‘ > frz. bouleau, sp. abedul (über das Arabische), kat. bedoll, gal. bidueiro und bido.
Diesem Sprachkontakt können wir vielleicht auch zuschreiben: caballus ‚Pferd‘ > frz. cheval, it. cavallo, pt. cavalo, sp. caballo, rum. cal; camisia ‚Hemd‘ > frz. chemise, it. camicia, kat. pt. sp. camisa, rum. cămaşă; camminus ‚Weg‘ > frz. chemin, it. cammino, gal. camiño, kat. camí, pt. caminho, sp. camino; gladius ‚Schwert‘ > frz. glaive
Der andere Typ ist ein regional begrenzter, dafür aber direkt nachweisbarer Sprachkontakt, der auf der Verwendung von zwei Sprachen in einer Gemeinschaft beruhte, in der zweisprachige Sprecher lebten. In diesem Fall lernten Sprecher einer keltischen Sprache Lateinisch, behielten aber einen Teil ihres Wortschatzes als Interferenzen bei. Dieses Lateinisch wurde durch die nachfolgenden Generationen tradiert und auch dann noch beibehalten, als man das Keltische nicht mehr sprach. Die keltische Herkunft dieser Wörter ist aber nur dann wirklich gesichert, wenn sie mit den in den inselkeltischen Sprachen belegten Wörtern lautlich verwandt sind. Die eher regionalen Entlehnungen aus den keltischen Sprachen werden in den Abschnitten zu Hispanien, Gallien, Britannien und dem Dekumatland behandelt.
4.3 Sprachkontakträume
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Die inselkeltischen Sprachen, von denen sich das Irische, das Schottisch-Gälische und das Kymrische bis heute gehalten haben, werden herangezogen, um den Einfluss auf das lateinische Phonemsystem in Gallien und Hispanien zu diskutieren. In der Phonologie beeinflusste das Keltische nach Martinet (31970: 257–296) und Tovar (z. B. 1977: 111–112) die Verschlusslaute des Lateinischen. Dieses „Lenition“ genannte Phänomen führte zur Sonorisierung der stimmlosen intervokalischen Verschlusslaute, z. B. in sapere ‚wissen‘, vita ‚Leben‘, focus ‚Feuerstätte‘ > kat. pt. sp. saber, vida, (kat. foc), pt. fogo, sp. fuego, frz. savoir, vie, feu. Zuerst sei eine Reduktion der Geminaten eingetreten (z. B. vacca ‚Kuh‘ > kat. pt. sp. vaca), die eine Sonorisierung von einfachem -p-, -t-, -k- nach sich gezogen hätte. In das Gebiet des späteren Kastilisch wird die Lenition über den vor der Romanisierung stattgefundenen Kontakt des Lateinischen mit dem Keltiberischen und anderen keltischen Sprachen Hispaniens gelangt sein. Ein keltischer Einfluss wird fast allgemein angenommen für die Entwicklung ct > χt > it > [tʃ] wie in factum ‚getan‘ > frz. fait, pt. feito, sp. hecho, kat. fet (< feyt); noctem ‚Nacht‘ > frz. nuit, pt. noite, sp. noche, kat. nit; ebenso cs wie in laxare ‚schlaff machen‘ > frz. laisser ‚lassen‘, apt. deixar, asp. lexar; sex ‚sechs‘ > pt. sp. seis, frz. kat. sis. In lateinischen Inschriften aus Gallien ist anscheinend sogar der mit oder geschriebene Laut [χ] in Ambaxtus und ohtuberes belegt (Adams 2003: 439). Alle diese Erscheinungen sind in der Westromania fast allgemein verbreitet. Gerade deswegen wird aber ein keltischer Einfluss von manchen Gelehrten in Abrede gestellt (z. B. von Lambert 22003: 48–49). Die Metaphonie, oder der Umlaut, wird ebenfalls auf keltischen Einfluss zurückgeführt. Sie hat sich gehalten in Formen wie feci ‚ich habe gemacht‘ > frz. je fis, pt. fiz, sp. hice (Tovar 1977: 112). Ihr Wirken besteht in der Schließung des betonten Vokals, die durch das geschlossene -i der Auslautsilbe bedingt ist. Dass die Metaphonie auch im Lateinischen selbst eingetreten sein kann, muss nicht im Widerspruch zu einem keltischen Einflusse stehen; es kann sich um ein Konvergenzphänomen handeln.
4.3 Sprachkontakträume Macht und Sprache Roms breiteten sich konzentrisch und in chronologisch abgestufter Weise aus. In diesem Sinne behandeln wir zunächst Italien mit Sizilien, Korsika und Sardinien. Es folgen Hispanien, Afrika, Griechenland, Gallien, Nieder- und Obergermanien sowie Rätien, Britannien, die Germanen, Illyrien und Dakien.
4.3.1 Italien Das ursprüngliche lateinische Sprachgebiet war klein: 30 mal 30 Kilometer, im Norden durch den Tiber und im Westen durch das Mittelmeer begrenzt. Am nächsten verwandt mit der lateinischen Sprache war die Sprache von Falerii, das Faliskische. Das
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etwas entfernter mit dem Lateinisch-Faliskischen verwandte Osko-Umbrische sprach man vom nordöstlichen Mittelitalien bis zum westlichen Süditalien. Das Umbrische – hier stimmen der Sprachenname und der Volksname der Umbrer überein – ist vor allem durch die Iguvinischen Tafeln bekannt. Das Oskische war dagegen die Sprache der Samniten. Diese italischen Sprachen standen sich untereinander nicht sehr nahe, denn die Römer und Falerier konnten sich mit Umbrern und Samniten nur durch Dolmetscher verständigen. Eine weitere indogermanische Sprache ist das Vene tische, dessen Zentrum Patavium (Padua) war. Das im heutigen Apulien verbreitete Messapisch war mit dem an der östlichen Adria gesprochenen Illyrisch verwandt. Die griechischen Kolonien in Süditalien und auf Sizilien sprachen entweder Ionisch oder Dorisch und beeinflussten von Anfang an sprachlich und kulturell die anderen Regionen der Apenninhalbinsel. Das Etruskische war im Raum zwischen Tiber und Arno, zum Teil sogar bis zum Po, sowie in Kampanien verbreitet. Es ist keine indogermanische Sprache und seine Verwandtschaft mit anderen Sprachen ist nicht gesichert (Bonfante/Bonfante 22002). Die lateinische Sprache überdachte anfangs also keine eigenen Dialekte. Sie breitete sich im kleinen faliskischen Gebiet und unter den Samniten und Umbrern in sprachlich näherstehenden Sprachgemeinschaften aus und verdrängte die italischen Sprachen bis um die augusteische Zeit. Die anderen Kontaktsprachen in Italien sind entweder als indogermanische Sprachen mit dem Lateinischen entfernter verwandt wie das Venetische, das Messapische, das Griechische sowie das Keltische, oder nicht verwandt wie das Etruskische, um nur die wichtigeren Sprachen zu nennen. Den Grad der Verwandtschaft oder des sprachlichen Abstands könnte man als bestimmend für die Interferenzen in den Regionen Italiens ansehen. Die Sprachverwandtschaft erleichterte die Erlernung der Sprache Roms, sie erhielt aber durch Interferenzen stark regionale Züge, die in den italienischen Dialekten noch zu erkennen sind. Der sprachliche Abstand des Etruskischen zum Lateinischen kann die gute Erlernung dieser Sprache durch die Etrusker erklären, wie sie immer noch im gegenüber den anderen italienischen Dialekten geringeren Abstand des Toskanischen zum Lateinischen festzustellen ist. Ähnlich müssen wir im Falle des Venetischen argumentieren; denn das Toskanische und das heutige Venetisch stehen weiterhin dem Lateinischen am nächsten. Die Zeitrechnung der Römer begann mit dem Jahr 753 v. Chr. Dass Rom schon ungefähr um diese Zeit existierte, wird durch archäologische Funde bestätigt. Es wurde unter der etruskischen Herrschaft und durch sie ein Stadtstaat. Nach der Vertreibung des letzten etruskischen Königs, Tarquinius Superbus, möglicherweise um das von römischen Historikern errechnete Jahr 509 oder 508 v. Chr., setzten sich die Römer gegen die Latiner durch. Rom wurde 387 v. Chr. durch die Gallier zerstört. Die Gallier selbst siedelten sich in Oberitalien an, wo sie die Etrusker verdrängten. Durch ein Bündnis mit den nach Süden expandierenden Samniten sicherten sich die Römer in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Herrschaft über Mittelitalien.
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Die Intervention des von Tarent zu Hilfe gerufenen Königs Pyrrhos von Epeiros (280 v. Chr.) hatte zur Folge, dass die Städte Großgriechenlands auf dem italienischen Festland nach den „Pyrrhussiegen“ in Abhängigkeit von Rom gerieten. Nach dem Frieden mit Tarent (272) herrschte Rom über Unteritalien. Es expandierte auf der Halbinsel bis zum nördlichen Apennin. Die Großgriechen wurden zweisprachig. Aus den Quellen kennen wir die Entwicklung jedoch erst seit dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. Die frühe Verleihung des römischen Bürgerrechts an die Italiker und durch Caesar an die Bewohner Oberitaliens nördlich des Pos ist als Romanisierung bzw. Latinisierung zu werten. Inschriften in verschiedenen Sprachen und zweisprachige Inschriften weisen bis um Christi Geburt auf Zweisprachigkeit in Italien hin. Danach sind die Inschriften lateinisch. Aus der Latinisierung Italiens ist abzuleiten, dass die Mehrheit der Bewohner Italiens kein nur römisch geprägtes, sondern ein italisches Lateinisch sprach. Die ursprünglich auf einen kleinen Raum beschränkte lateinische Sprache hatte somit zur frühen Kaiserzeit in Italien alle anderen Sprachen außer der griechischen verdrängt. Zwar wurden auch in Italien Kolonien gegründet, die meisten Italiker waren aber socii, Bundesgenossen. Sie waren in municipia organisiert, in denen die eigenen Rechtstraditionen erhalten blieben. Die socii waren frei von Abgaben, aber zur Militärhilfe verpflichtet. Das bedeutet, dass Rom mit den Italikern ein schier unerschöpfliches militärisches Potential besaß und nicht auf die Anwerbung von Söldnern angewiesen war. Dazu gehört, dass die Legionen unter anderem in Verbänden von bestimmten Städten ausgehoben wurden. Daraus ergibt sich wiederum als sprachliche Folge, dass sich die Veteranen, die sich in den Provinzen niederließen, in regional spezifischer Weise zusammensetzten. Allerdings wissen wir dies in den Einzelheiten nur, wenn Inschriften auf Grabsteinen überliefert sind. Die Kelten waren den Römern schon von Alters her keine Unbekannten, da sie Rom 387 v. Chr. auf einer ihrer Einwanderungswellen durch die Zerstörung der Stadt in seiner Existenz bedroht und sich in Oberitalien niedergelassen hatten. Dieses Gebiet wurde bis 120 v. Chr. erobert und als erste gallische Region latinisiert. Die schon zuvor gebaute, von Rom nach Ariminum (it. Rimini) führende Via Flaminia wurde um die Via Aemilia erweitert, die unter anderem die Kolonien Mutina (it. Modena), Bononia (it. Bologna) und Placentia (it. Piacenza) verband. Aus dem Gallischen der Gallia Cisalpina können die Entlehnungen raeda ‚vierrädriger Reisewagen‘, essedum ‚Streitwagen‘ und carrus ‚vierrädriger Wagen‘ stammen. Auch mit dem Transportwesen wie der Reitkunst in Verbindung stehende Wörter wie benna ‚Art Wagen‘, covinnus ‚Sichelwagen, Reisewagen‘, carpentum ‚zweirädriger Wagen‘, petorritum ‚offener vierrädriger Wagen‘, veredus ‚leichtes Jagdpferd‘ können auf ältere Sprachkontakte zurückgehen (cf. zur Regionalisierung des Lateinischen in Italien Adams 2007: 432–515).
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4.3.2 Sizilien Die ersten nachweisbaren Bewohner Siziliens sind die Sikaner im Westen und die italischen Sikuler in der Mitte und im Osten der Insel, die dort die Sikaner verdrängt hatten. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. gelangten phönizische und griechische Kolonisten an die Küsten Siziliens. Erst um die Mitte des 6. Jahrhunderts begannen die Griechen die Punier Richtung Westen abzudrängen. Vor dem ersten Punischen Krieg (264–241 v. Chr.) war der größere Teil der Insel im Osten griechisch und wurde von Syrakus beherrscht, der kleinere Westen war punisch. Nur Messana (it. Messina) war zur Zeit der römischen Intervention in der Hand von italischen Meuterern, die dem Volk der Mamertiner angehörten. Die Insel wurde während des ersten Punischen Kriegs planmäßig erobert und somit die erste römische Provinz. Die punische und die griechische Kultur, Sprache und Religion hielten sich mindestens bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. (zur Sprachgeschichte Siziliens bis zur normannischen Eroberung Vàrvaro 1981).
4.3.3 Korsika und Sardinien Auch auf Sardinien lassen archäologische Untersuchungen die Anwesenheit von Phöniziern im 8. Jahrhundert erkennen. Nach Auseinandersetzungen, die dem ersten Punischen Krieg folgten, musste Karthago Sardinien 238/237 v. Chr. auf Drängen des Senats an Rom abtreten. Die Bewohner leisteten gegen die Besetzung Widerstand und die Eroberung zog sich bis zum 1. Jahrhundert v. Chr. hin. Jedoch wurde die Insel, zusammen mit dem ebenfalls durch karthagische Handelsfaktoreien kontrollierten Korsika, 228/227 v. Chr. römische Provinz. Die Romanisierung und Latinisierung Sardiniens hat bis zur Kaiserzeit angedauert, wie die – neben den lateinischen – punischen und griechischen Inschriften bezeugen.
4.3.4 Hispanien Die Iberische Halbinsel wurde von den Griechen „Iberien“ und „Hispanien“ von den Römern genannt, wie wir ausdrücklich aus einem jüngst gefundenen Fragment der Erdbeschreibung von Artemidor von Ephesos um 100 v. Chr. erfahren. Die Namen sind aber um Jahrhunderte älter, vor allem Iberien, womit zunächst nur die iberischen Gebiete benannt wurden. Im Gebiet der Pyrenäen, im Osten und im Süden wurden nicht-indogermanische Sprachen gesprochen, im Westen, im Norden und im Zentrum indogermanische Sprachen. Dazu kommen zwei kolonisierende Völker hinzu, die Phönizier bzw. die Punier und die Griechen, die Handelsniederlassungen an den Küsten gründeten. Einige vorrömische Sprachen sind in der Antike früh durch Sprachzeugnisse belegt, andere werden nur bei antiken Autoren erwähnt. Wir begin-
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nen mit den epigraphisch bekannten vordindogermanischen Sprachen und wenden uns danach den nicht oder später dokumentierten indogermanischen Sprachen zu. Ein Teil der sprachlichen Verhältnisse Hispaniens lässt sich mit den vorrömischen Inschriften auf Steinen, Gefäßen, Tonscherben, Bleitäfelchen, Bronzeplatten und Münzen veranschaulichen. Dabei müssen wir aber Schriften und Sprachen unterscheiden, denn für bestimmte Sprachen geschaffene Schriften werden auch für andere Sprachen verwendet. Die älteste Kultur und Schriftkultur kannte Tartessos im Südwesten der Iberischen Halbinsel. Tartessos wurde zwischen 520 und 509 v. Chr. von den Karthagern zerstört. Die tartessische Schrift ist fast vollständig entziffert, die Sprache aber ist nicht bekannt. Diese ursprünglich aus dem östlichen Mittelmeerraum, wahrscheinlich aus Tyros in Phönizien stammende Silbenschrift integrierte zu späterer Zeit alphabetische Schriftzeichen. Da das Tartessische mit einer Silbenschrift geschrieben wurde, war es mit Sicherheit eine nicht-indogermanische Sprache. In der Flexion der indogermanischen Sprachen sind die Vokale wichtig, daher kann man die grammatischen Morpheme einer solchen Sprache in einer meist auf Konsonanten reduzierten Silbenschrift nicht wiedergeben. Eine Schriftkultur kannten auch die Iberer. Die iberischen Inschriften sind im Südosten und Osten der Halbinsel verbreitet und vom 4. vorchristlichen Jahrhundert an überliefert. Sie sind ebenfalls in einer Silbenschrift phönizischer Herkunft geschrieben, in die für Vokale und Sonanten (z. B. n, m, r, l, s) spezifische Buchstaben eingeführt wurden. Diese Schrift, die in drei regional verschiedenen Typen verbreitet war, ist seit Langem entziffert (Gómez-Moreno 1922), das Iberische selbst aber, eine wie das Tartessische nicht-indogermanische Sprache, ist nicht enträtselt. Es war vielleicht auch eine Verkehrssprache, was die weite Verbreitung der iberischen Schrift erklären könnte (zum Iberischen Untermann 1975, 1980, 1990, 1998; de Hoz 1998). Das Iberische ist in latinisierten Ortsnamen überliefert, in denen einige Elemente mehrfach belegt sind: Ili-, Ilu-, z. B. in Iliberris; -ippo in Olisippo > pt. Lisboa; -uba wie in Corduba > sp. Córdoba; -ici in Ilici > kat. Elx, sp. Elche. Die geographische Streuung dieser Ortsnamen zeigt iberischen Kultureinfluss im Allgemeinen. Die iberischen Ortsnamen sollten nicht unbedingt als Anzeichen für die Ausbreitung der iberischen Sprache genommen werden. Es gibt lexikalische Übereinstimmungen zwischen den iberoromanischen Sprachen und dem Berberischen (das ist eine Sprach- und Dialektgruppe im Nordwesten Afrikas, die vom Arabischen überlagert worden ist) in der Bezeichnung von einigen Eichenarten, von Holunder usw. Diese Übereinstimmungen legen eine Beziehung zwischen dem Iberischen und dem Berberischen nahe, doch ist es ungewiss, ob diese Beziehung eine Sprachverwandtschaft einschließt oder ob sie auf Kulturkontakt zurückgeht. Die Iberer, die ursprünglich für Vorfahren der Basken gehalten wurden, so vom Sprachforscher und Sprachphilosophen Wilhelm von Humboldt in seiner Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der Vaskischen Sprache (1821), dessen Autorität diese Ansicht lange gestützt hat, sind ein eigenes Volk mit
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eigener Sprache. Wegen dieser früher angenommenen Identität mit dem Iberischen wird das Baskische an dieser Stelle behandelt. Die Übereinstimmungen der beiden Sprachen können durch den kulturellen Einfluss bedingt sein, den das Iberische auf das Baskische ausgeübt hat. Das Baskische ist zwar erst in den Glosas de San Millán oder Emilianenses im 11. Jahrhundert direkt belegt und eine baskische Literatur existiert erst vom 16. Jahrhundert an, aber die Basken waren bereits vor den Iberern auf der Halbinsel ansässig. In der Antike wurde ihre Sprache im gesamten Pyrenäenraum gesprochen, im Norden bis zur Garonne und im Süden bis zum Ebro, ohne dass wir aber ihre genaue Verbreitung angeben könnten. Das durch lateinische Quellen nachgewiesene Aquitanisch ist ebenfalls Baskisch und ist im genannten Gebiet nördlich der Pyrenäen enthalten. Das sprachwissenschaftliche Interesse an dieser Sprache ist deshalb besonders groß, weil sie seit vorrömischer Zeit mit zahlreichen Sprachen im Kontakt stand und bis heute fortbesteht. Deshalb ist der Vergleich mit dem Baskischen sehr oft ergiebig. So können die Übereinstimmungen zwischen dem kastilischen und dem baskischen Vokalsystem im Kontakt mit dem Baskischen entstanden sein. Beide Sprachen haben im Gegensatz zu den sie umgebenden Sprachen ein dreistufiges Vokalsystem, das keinen Quantitätenunterschied kennt. Auch im Konsonantensystem haben die beiden Sprachen Gemeinsamkeiten. Die beiden kolonisierenden Völker, die Phönizier und die Griechen, brachten ihre Schriftkultur mit. Die Phönizier gründeten von Karthago aus und vom 9. vorchristlichen Jahrhundert an Kolonien, die hier mit ihren lateinischen Namen genannt werden: Gades (sp. Cádiz), Malaca (sp. Málaga), Carthago Nova (sp. Cartagena), Ebusus (kat. Eivissa, sp. Ibiza), Portus Magonis (kat. Maó, sp. Mahón). Da dies in der Regel Handelsniederlassungen waren, können wir nicht mit einem tiefgreifenden Spracheinfluss rechnen. Auch die Zeit, in der die südlichen Gebiete Hispaniens, die von den karthagischen Feldherren Hamilkar Barkas und Hannibal vor dem zweiten Punischen Krieg unterworfen worden waren, unter karthagischer Herrschaft standen, war zu kurz für eine eventuelle sprachliche Beeinflussung. Die Karthager haben aber in Hispanien den ersten Sprachraum für die Expansion des Lateinischen geschaffen. Mit dem Sieg über Hannibal traten die Römer auch in Hispanien das karthagische Erbe an wie zuvor auf Sizilien, Sardinien und Korsika. Unter den indogermanischen Sprachen ist zuerst das Griechische zu nennen. Die Griechen standen mit dem westlichen Mittelmeer in Verbindung über Taras (lat. Tarentum > it. Taranto), Neapolis > it. Napoli, Massalía (lat. Massilia > frz. Marseille), Agathe > frz. Agde, Emporion, Rhode. Von den griechischen Gründungen an den iberischen Küsten sind nur wenige Ortsnamen geblieben: Rhode > lat. Rhoda bzw. Rhodae > kat. Roses, sp. Rosas, Emporion > lat. Emporiae > kat. Empúries, sp. Ampurias. Die griechische Schrift wurde auch außerhalb der Kolonien und Handelsfaktoreien verwendet. Man nimmt an, dass die Kelten im 7.–6. Jahrhundert v. Chr. auf der Iberischen Halbinsel eingewandert sind. Tovar hat in einer Reihe von Aufsätzen durch Sprachver-
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gleich nachgewiesen, dass ihre Sprache mit dem Inselkeltischen verwandt ist. Neben den Kelten sind andere Indogermanen oder indogermanisierte Völker nach Hispanien gelangt. Diese können ein anderes indogermanisches Volk, die archäologisch als Urnenfelderleute nachweisbar sind, nach Westen und Süden abgedrängt haben. Die Sprache der Urnenfelderleute nennt Joan Coromines „Sorothaptisch“. Soweit die Einwanderer Kelten waren, wurden sie in den antiken Quellen Keltiberer genannt. Ihre Sprache, das Keltiberische, wurde in einer teils silbischen, teils alphabetischen iberischen Schrift geschrieben. Zeugnisse dieser Sprache sind in den heutigen spanischen Provinzen Soria, Burgos, Logroño, Guadalajara, im westlichen Teil der Provinzen Teruel und Zaragoza sowie im Süden von Navarra gefunden worden. Der wichtigste Fundort ist Contrebia Belaisca in der Nähe des heutigen Botorrita (Zaragoza). Die Grenzen der Verbreitung des Keltiberischen nach Westen hin sind ungewiss, da die iberische Schriftkultur nicht dorthin gelangt ist. Die Keltiberer und die nördlich des tartessischen Gebiets lebenden Lusitanier sprachen indogermanische Sprachen. Nicht alle indogermanischen Sprachen im Zentrum und Westen der Iberischen Halbinsel, die man dem Keltischen zuschreiben kann, waren jedoch verschriftet. Doch sind von Keltiberern im Osten der Meseta in nordostiberischer Schrift geschriebene Inschriften überliefert. Im Norden lebten schriftlose Völker, die mit ihren lateinischen Namen Cantabri, Vascones und Astures genannt wurden. Sie sprachen vorindogermanische Sprachen. In die Regionen des Zentrums, des Westens und des Nordens brachten erst die Römer eine Schrift- und Stadtkultur. Nur die Gallaeci im Nordwesten hatten eine Stadtkultur in Form von castra. Das sind Befestigungen und vielleicht befestigte Ortschaften, die aus kreisförmigen oder ovalen Steinbauten mit Erdwällen und Mauern bestanden (zu den vorrömischen Sprachen Hispaniens Tovar 1961 und 1977, Baldinger 21972, Anderson 1988, Villar 2000, Villar/Fernández Álvarez (eds.) 2001, Untermann 2001; Correa Rodríguez 2004: 35–57). Die Romanisierung und Latinisierung begann nach dem zweiten Punischen Krieg, der in Hispanien von 218 bis 206 v. Chr. dauerte. Karthago suchte für die während des ersten Punischen Krieges verloren gegangenen Inseln Sizilien, Sardinien und Korsika einen Ersatz durch seine Expansion in Hispanien und geriet in Konflikt mit Rom. Die karthagische Operationsbasis war das um 227 v. Chr. gegründete Neukarthago, Carthago Nova. Der Konflikt brach aus, als Hannibal 219 v. Chr. das unabhängige Sagunt eroberte. Rom erklärte Karthago den Krieg und Hannibal zog zum Angriff auf Italien über die Alpen. 218 v. Chr. setzte sich Gnaeus Cornelius Scipio und danach auch sein Bruder Publius Cornelius Scipio im Nordosten Hispaniens fest, um Hannibal den Nachschub nach Italien abzuschneiden. Nach der Eroberung Neukarthagos (209 v. Chr.) brachte Publius Cornelius Scipio den von Karthago beherrschten Süden der Iberischen Halbinsel, ein Gebiet, das etwa dem heutigen Andalusien und Südportugal entsprach, in seine Gewalt. Die entscheidende Schlacht bei Ilipa in der Nähe des heutigen Sevilla markiert den Beginn der Romanisierung und Latinisierung Hispaniens, denn in der Nähe des Schlachtorts wurde Italica als erste römische Veteranenko-
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lonie gegründet. Mit der Übergabe von Gades (206 v. Chr.) war die römische Eroberung des karthagischen Hispaniens abgeschlossen. Die Annexion war anscheinend nicht geplant, sondern ein Ergebnis des Siegs über Karthago. Nach der Einverleibung des Ostens und Südens der Halbinsel als Hispania Citerior und Hispania Ulterior (197 v. Chr.) begann eine kontinuierliche Eroberung von Süden nach Norden und von Nordosten nach Nordwesten. In der Folgezeit machten die auf ihre Unabhängigkeit bedachten Völker im Landesinneren unablässig Aufstände, besonders die Lusitanier unter Viriathus und die Keltiberer im Zentrum. Die Befriedung Hispaniens kommt erst mit der Einnahme der am Oberlauf des Duero gelegenen Stadt Numantia (133 v. Chr.) zu einem vorläufigen Ende. Als Letztes wurde das Gebiet der Asturer 22 v. Chr. und das der Kantabrer 19 v. Chr. durch Agrippa erobert. Unter Augustus wurde Hispanien in die Tarraconensis, die Baetica und die Lusitania eingeteilt. Die ersten von den Römern gegründeten Städte waren das bereits erwähnte Italica in der Nähe von Sevilla (206 v. Chr.), Carteia bei Gibraltar, eine Kolonie (171 v. Chr.) mit latinischem Recht, und Valentia (kat. València, sp. Valencia) als Stadt für umgesiedelte lusitanische Krieger (138 v. Chr.). Die meisten Kolonien wurden aber erst unter Augustus gegründet: Caesaraugusta (sp. Zaragoza), Pax Augusta (sp. Badajoz), Lucus Augusti (gal. sp. Lugo), Asturica Augusta (gal. sp. Astorga), Emerita Augusta (sp. Mérida). Plinius der Ältere führt in der Tarraconensis 179 oppida auf: „12 Kolonien, 13 Munizipien mit römischem Bürgerrecht und 18 mit latinischem Recht, eine föderierte und 135 tributäre Städte, ferner 293 von diesen selbständigen Kommunen abhängige kleinere Ortschaften“ (Budinszky 1881: 69). „Baetica zählte im Ganzen 175 Städte, nämlich 9 Kolonien, 8 Munizipien mit römischem und 29 mit latinischem Recht, 6 freie, 3 föderirte und 120 tributäre Städte“ mit Corduba, Gades und Hispalis als den bedeutendsten Städten (Budinszky 1881: 69). „Am dünnsten waren die Ortschaften im entfernten Lusitanien gesät, das deren nur 46 enthielt, worunter 5 Kolonien, ein römisches Munizipium, 3 latinische und 36 tributäre Städte waren“ (Budinszky 1881: 70). Am Beispiel eines Teils dieser Städte wurde die Urbanisierung des Römischen Reichs mustergültig untersucht (Alföldy 1987). Besonders wichtig ist im Hinblick auf die weitere Entwicklung, dass die Kantabrer und Asturer im 6. und 7. Jahrhundert das römisch-westgotische Recht, die christliche Religion und die lateinische Sprache annahmen. Daher zog sich nach der arabischen Eroberung auch die militärische und die Palastaristokratie dorthin zurück und nicht zu den kaum romanisierten Basken. Das frühe Vordringen der Römer ist in den Regionen dokumentiert, in denen die meisten Inschriften gefunden wurden und in denen die Verstädterung und die kulturelle Entwicklung den höchsten Stand erreicht hatten. Die weitere Verstädterung bestand in einer Romanisierung und Latinisierung der vorrömischen Einwohner, die von der Baetica und der Tarraconensis ihren Ausgang genommen hatte. Noch im 5. nachchristlichen Jahrhundert war dagegen die Romanisierung bzw. Latinisierung des Nordens nicht abgeschlossen. Sie ging allgemein in den Städten schneller vonstatten
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als in deren Umland, in den führenden Gesellschaftsschichten früher als unter den Sklaven, um nur einmal die sozialen Gegenpole zu nennen. Der Sprachkontakt zwischen dem Lateinischen und den vorrömischen Sprachen dauerte lange an. Die Präsenz des Iberischen unter ihnen ist besonders gut dokumentiert: Die iberischen Inschriften reichen bis in die ersten Jahrzehnte des 1. Jahrhunderts n. Chr. hinein. Der für den Kontakt mit dem Keltiberischen interessanteste Ort ist Botorrita in der Nähe von Zaragoza, der in der Antike Contrebia Belaisca hieß. Dort wurden vier Bronzetäfelchen gefunden. Drei davon sind auf Keltiberisch geschrieben, und eine lateinische befasst sich mit dem Verkauf eines Grundstücks für den Bau eines Aquädukts oder eines Bewässerungsgrabens. Sie geben zusammen einen Einblick in eine Situation der Zweisprachigkeit im Ebrotal zur republikanischen Zeit: Contrebia Belaisca wurde 70 v. Chr. zerstört. In den Regionen des Zentrums und des Westens setzen die Inschriften meist erst in lateinischer Sprache ein und erlauben daher keine direkten Rückschlüsse auf Sprachkontakte. Fassen wir in einer Zwischenbilanz zusammen: Die Intensität der Romanisierung und Latinisierung wurde durch die folgenden Bedingungen beeinflusst: Durch die Richtung der militärischen und wirtschaftlichen Durchdringung Hispaniens, den Stand der Kultur der einheimischen Völker, die römischen Kolonien, den Grad der Verstädterung, die Zeit der Romanisierung (was besonders für die erst in spätlateinischer und vielleicht erst in westgotischer Zeit romanisierten Asturer und Kantabrer relevant ist) und die Einrichtung von Schulen in der Baetica. Woran man aber nicht denkt, ist die Tatsache, dass in den zuerst latinisierten Gebieten vorindogermanische Sprachen verbreitet waren, in den später latinisierten dagegen indogermanische. Der Einfluss auf die Struktur einer Sprache ist bei einer strukturell nicht verwandten Sprache schwerer als bei einer verwandten. Das heißt also, dass in einer ersten Phase des Kontakts mit dem Iberischen die Kontaktsprachen stärker differenziert blieben als in der späteren, in der die Sprachverwandtschaft die gegenseitige Beeinflussung erleichtern konnte. Wir hatten darauf bei der Expansion der Sprache Roms in Italien hingewiesen. Im Folgenden belegen wir die lexikalischen Unterschiede im hispanischen Lateinisch und beginnen mit der ältesten Sprachschicht. Durch die Latinisierung kam das Lateinische in Kontakt mit den einheimischen Sprachen. Die Folge davon war, dass viele Sprecher dieser vorrömischen Sprachen auch Lateinisch lernten und somit zweisprachig wurden. Zur ältesten Schicht gehört eine Sprache, die wir nicht näher benennen können. Aus ihr wurden wohl gal. pt. sp. cama ‚Bett‘; gal. pt. sp. balsa ‚Tümpel‘, kat. bassa ‚Teich‘; gal. pt. sp. it. barro ‚Lehm, Ton‘ entlehnt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden die Iberer am frühesten zweisprachig. Sie hatten aber bereits vor dem Kontakt mit dem Lateinischen andere Elemente entlehnen können: Durch die Einwanderung von Kelten oder anderen Indogermanen waren die vorrömischen Sprachen, darunter Gebiete des Baskischen und des Iberischen, indogermanisiert worden. Daher ist die Zuordnung zu einer bestimmten vorrömischen Sprache schwierig. Unter den ältesten Wörtern hielten sich in den iberoromanischen
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Sprachen einige Wörter, für die von einigen Gelehrten auch eine iberische Herkunft in Erwägung gezogen wird, darunter befinden sich gal. pt. manteiga ‚Butter‘, sp. manteca ‚Schmalz‘, kat. mantega; sp. perro ‚Hund‘; cuniculus ‚Kaninchen‘ > gal. coello, coenllo, pt. coelho, sp. conejo, kat. conill, okz. conilh (> it. coniglio), afrz. conil/conin; paramus ‚Feld, Ebene‘ > pt. páramo, sp. páramo ‚Ödland, kahle Hochfläche‘, das in einer lateinischen Inschrift aus León belegt ist (Adams 2003: 450); pt. asp. nava ‚Senke‘; gurdus > gal. pt. gordo, sp. gordo ‚dick‘.
Um die mutmaßliche Herkunft genauer einzugrenzen, müsste man sie ausgiebig diskutieren, wofür hier nicht der Ort ist. Auf das Iberische direkt könnten zurückgehen das schon genannte cuniculus sowie barrancus > gal. (auch -a) pt. (auch -a) sp. barranco ‚Schlucht‘, kat. barranc; cusculium ‚Scharlachbeere‘ > kat. coscull(a), sp. coscoja ‚Kermeseiche‘; plumbum ‚Blei‘ > gal. pt. chumbo, kat. plom, sp. plomo, frz. plomb, it. piombo, rum. plumb; carvaculus, eine lateinische oder romanische Ableitung, > gal. carballo (-a), pt. carvalho (-a), sp. carvajo ‚Eiche‘.
Aber diese Zuordnungen sind nicht gesichert. Wörter, die in Hispanien ins Lateinische gelangten, wurden auch überregional verbreitet, so die genannten Entlehnungen cuniculus, cusculium oder plumbum, deren Fortsetzungen ich nicht vollständig wiedergegeben habe. Aufgrund der Verteilung der Siedlungsgebiete der Keltiberer sind keltische Entlehnungen im Kastilischen, Leonesischen, Galicischen und Portugiesischen häufiger als im Aragonesischen und Katalanischen (cf. die Einträge zu den zitierten und anderen keltischen Wörtern im DCECH). Das spezifische iberische Keltisch setzt sich in den folgenden Wörtern fort: *vroicos ‚Dornenstrauch‘ > sp. brezo ‚Heidekraut‘; senara ‚Stück Land‘ > gal. pt. seara ‚Feld‘, sp. serna ‚(kleines) Feld‘; binza ‚Faser‘ > sp. brizna ‚Splitter, Faser‘, brinça, pt. vinça (diese Herkunft wird aber im DCECH, s. v. brizna, angezweifelt); brisca ‚Honigwabeʻ > sp. kat. okz. bresca, afrz. bresche, romagn. emil. bresca; gauta, das der DCECH für ein „sorothaptisches“ Wort hält, > kat. galta ‚Wange‘; grenn- > gal. sp. greña ‚Haarschopf‘, pt. grenha ‚zerzaustes Haar‘, okz. gren.
Aufgrund iberoromanischer Relationsadjektive (sp. -iego, pt. -ego) kann man das Relationsadjektivsuffix -ecu rekonstruieren, das auch im Personennamen Pentouiecus ‚Sohn des Pentous‘ belegt ist (Tovar 1977: 111): sp. pasiego ‚aus dem Tal des Flusses Pas bei Santander‘, borrego ‚Lamm‘, labriego ‚Landwirt‘.
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Unter den iberoromanischen Ortsnamen sind auf das Keltiberische zurückzuführen: -briga: Conímbriga > Coimbra, Sesímbriga > Sesimbra; -antia: Palantia > Palencia, Bergantia > Berganza, Bragança (cf. Bregenz am Bodensee); -ac, -aco: Lauriacum > Llorach (Katalonien); Zusammensetzungen mit sego- und segi-: Segovia; Zusammensetzungen mit -dunum im katalanischen und aragonesischen Sprachgebiet: Virodunum > Berdún (Huesca), Verdú (Lleida), Bisuldunum/Bisaldunum > Besalú (Girona). In der Region, in der das Kastilische entstand, befand sich das Lateinische in seiner Spätphase im Kontakt mit dem Baskischen (und davor mit dem Kantabrischen). Dabei muss das genaue Verhältnis zwischen dem Kantabrischen und dem Baskischen oder anderen Sprachen offenbleiben. Einen kleinen Einblick in die sprachlichen Verhältnisse gibt Plinius der Ältere in seiner Naturkunde möglicherweise aufgrund eigener Anschauung. Im Buch 33, 66–78, stellt er die Goldgewinnung im Römischen Reich dar. Zwar erwähnt er mehrere Flüsse und Regionen, aber interessanterweise sind einige Fachwörter vor allem in den heutigen Sprachen und Dialekten der Iberischen Halbinsel belegt. Dort wurde im Kantabrischen Gebirge ein besonders intensiver Bergbau betrieben. Mit diesen Informationen stimmt überein, dass Plinius, der zwischen 72 und 74 procurator (Oberverwalter der kaiserlichen Einkünfte) der Tarraconensis war, direkt oder indirekt wohl den Bergbau auf der Iberischen Halbinsel am besten kennengelernt hat. Folgende Wörter, die wir bei ihm neben Wörtern aus dem Griechischen und Lateinischen finden, verweisen vorzugsweise auf die Iberische Halbinsel: segutilum ‚Kennzeichen für das Vorhandensein von Gold‘, sp. segullo ‚die in Goldgruben zuerst gefundene Erde‘; tasconium ‚weiße Tonerde‘, bask. tosca ‚weißer Ton‘; arrugia ‚künstlicher Wasserriss, Stollen‘, bask. arroil, gal. pt. arroio, sp. arroyo ‚Bach‘ und in Dialekten Oberitaliens; gangadia ‚Konglomerat aus Ton und Kiesel‘; corrugus ‚Wasserstollen‘, pt. córrego, sp. cuérrago ‚Bach, Kanal‘; urium ‚Schlamm der Gebirgsbäche‘, bask. ura ‚Wasser‘; palaga, palacurna und balux ‚Goldkorn‘, sp. baluz ‚Goldkorn‘.
Ein alter Zusammenhang zwischen talutium ‚an der Oberfläche der Erde gefundenes Gold‘ und sp. talud ‚Böschung‘ ist wohl anzuzweifeln, da dieses Wort wie auch pt. talude aus frz. talus kommt und spät belegt ist, aber dennoch scheint das Vorkommen bei Plinius auch seine Verwendung auf der Iberischen Halbinsel zu bezeugen (Plinius d. Ä. (vol. 33, 1984: 54–61, 146–151; Adams 2003: 450–454). Möglicherweise baskische oder auch baskische Wörter wie baika > gal. pt. veiga, sp. vega ‚Flussebene‘, sard. bega; gal. sp. sobaco ‚Achselhöhle‘; sp. pizarra ‚Schiefer‘, kat. pissarra; bask. ezker > gal. pt. esquerda, sp. izquierda, kat. esquerra ‚linke (Hand)‘; bask. zatar, diminutiviert tzatar und mit dem Artikel txatarra > gal. sp. chatarra ‚Schrott‘
können im Lateinischen Lehnwörter gewesen sein.
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Auf den Sprachkontakt werden Erscheinungen zurückgeführt wie die Palatalisierung von lat. pl-, kl-, fl-: pluvia ‚Regenʻ > gal. chuvia, pt. chuva, sp. lluvia; clavem ‚Schlüsselʻ > gal. pt. chave, sp. llave; flamma ‚Flammeʻ > gal. pt. chama, sp. llama; der Zusammenfall von /b/ und /v/ wie in lat. videre ‚sehenʻ > gal. sp. ver, kat. veure; der epenthetische (im Anlaut eingefügte) Vokal vor [r] wie in asp. repentirse ‚bereuenʻ > sp. arrepentirse; die Auflösung des Nexus Konsonant + Liquida wie in Clunia > Culunia, sp. crónica > corónica; die Ersetzung von labiodentalem [f] durch bilabiales [ɸ] und [h] wie in lat. filium ‚Sohn‘ > asp. fijo [ˈfiʒo] oder [ˈɸiʒo] > sp. hijo [ˈhiʒo] > [ˈiχo].
Abschließend soll das hispanische Lateinisch allgemein charakterisiert werden. Die Latinisierung fand von der Zeit vor der Herausbildung des klassischen Lateins vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. statt, d. h. vom vorklassischen Lateinisch zur Zeit der silbernen Latinität. Es ist daher verständlich, dass das hispanische Lateinisch Merkmale einer Grammatik und eines Wortschatzes bewahrte, die in die Standardisierung des Lateinischen, das klassische Latein, keinen Eingang fanden. Das hispanische Lateinisch gilt somit als konservativer als das Lateinisch später latinisierter Regionen. Ein anderer Typ von Unterschieden beruht darauf, dass Neuerungen des Zentrums der Romania meist nicht in die Regionen der Iberischen Halbinsel vordrangen: Das hispanische Lateinisch wird in einer Randzone gesprochen. Obwohl seine Unterschiede nur in Ausnahmefällen direkt dokumentiert sind (Tovar 1968), lassen sie sich bis zu einem gewissen Grade aufgrund des Befunds der heutigen romanischen Sprachen nachweisen. Die Latinisierungsrichtungen auf der Iberischen Halbinsel hat, nach Vorarbeiten von Griera (1922) und von Menéndez Pidal (31950/11926), Meier (1941) rekonstruiert. Auf das Lateinisch der Tarraconensis gehen demnach zurück: ei, ai > e wie in -arius, -aria > -ero, -era vs. -eiro, -eira z. B. in riparia > kat. sp. ribera ‚Ufer‘ vs. gal. pt. ribeira, au > o wie aurum ‚Gold‘ > kat. or, sp. oro vs. gal. pt. ouro; mb > m wie in plumbum ‚Blei‘ > kat. plom, sp. plomo vs. gal. pt. chumbo, columba ‚Taube‘ > sp. paloma vs. gal. pt. pomba
und die Erhaltung von -o vs. -u. Diesen letzten Fall kann man an der Vokalharmonie bzw. Metaphonie nachweisen. Während in pt. novo ‚neu, jung‘ ein betontes [o] erhalten bleibt, das durch die Wirkung eines ursprünglich auslautenden -u bedingt ist, bleibt [ɔ] in nova erhalten, da hier dem betonten o ein -a in der auslautenden Silbe folgt und aus diesem Grund keine Metaphonie eintritt. In sp. nuevo gibt es dagegen keine Grundlage für eine Metaphonie; man nimmt an, dass dieses Wort auf lat. -o ausgelautet habe. Es soll nicht unterschlagen werden, dass alle genannten Erscheinungen erst spät belegt sind.
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Auf Unterschiede im Lateinischen selbst werden zurückgeführt: cova ‚Höhleʻ > gal. pt. kat. cova, sp. cueva; fabulare (-i) > gal. pt. falar, sp. hablar; fartus ‚vollgestopftʻ > gal. pt. farto, sp. harto ‚(über)satt‘, kat. fart; callum (n./m.) ‚Schwieleʻ > gal. pt. calo, sp. callo, kat. call, frz. cal, it. callo; percunctari/percontari ‚(aus)fragenʻ > gal. sp. preguntar, pt. perguntar; praeconari ‚verkündenʻ > gal. pregoar, pt. apregoar, sp. pregonar; de magis > gal. pt. demais, sp. demás ‚übrigʻ; triticum ‚Weizenʻ > gal. pt. sp. trigo gegenüber kat. blat, frz. blé < fränk. *blath.
Da sich die Sprache Roms nach der Latinisierung Hispaniens gewandelt hat, sind die angeführten Erscheinungen Konservationen gegenüber den Innovationen des Mutterlands. So ist etwa cova eine Konservation gegenüber caverna/spelunca, fabulari gegenüber loqui/parabolare, percunctari gegenüber demandare, triticum statt frumentum sowie die schon in 4.1.2 erwähnte Komparation mit magis statt mit plus. Ein anderes Problem ist es, ob die sprachlichen Unterschiede mit der unterschiedlichen regionalen Herkunft der Kolonisatoren aus Italien oder anderen Regionen erklärt werden können. Das volkstümlichere Lateinisch der Tarraconensis könnte durch Sprecher des Oskischen und Umbrer dorthin gebracht worden sein. Das Lateinische der Baetica würde hingegen eine urbanere Sprache repräsentieren. Die Frage der oskisch-umbrischen Herkunft der tarraconensischen Kolonisatoren ist jedoch leider nicht geklärt (cf. zur Regionalisierung des Lateinischen in Hispanien nach dem Zeugnis der römischen Literatur Adams 2007: 231–240 und aufgrund der Zeugnisse aus der Region 370–431).
4.3.5 Afrika Das antike Afrika, das etwa dem heutigen Gebiet Tunesiens mit westlich daran angrenzenden Gebieten Algeriens entspricht, wurde nach der Zerstörung Karthagos (146 v. Chr.) römische Provinz mit Utica als Hauptstadt. Das große Königreich Numidien im Nordwesten des afrikanischen Kontinents blieb zunächst unabhängig. Der Krieg gegen Jugurtha (111–105 v. Chr.) brachte die Region der beiden Syrten an Rom. Nach der Annexion des von König Juba I. beherrschten Gebiets durch Caesar (46 v. Chr.) wurde Afrika in eine Provinz Africa nova und eine Provinz Africa vetus eingeteilt. Unter Caligula kamen Numidien (39 n. Chr.) und unter Claudius schließlich Mauretanien (42 n. Chr.) hinzu. Nach Konstantin dem Großen (um 280–337) hatte Afrika sechs Provinzen. Die damalige Fruchtbarkeit und der Reichtum des Landes zogen Einwanderer aus dem nahe gelegenen Italien an. Die Region gilt als eine der besonders früh und stark romanisierten, besonders das Gebiet um Karthago. Obwohl zwei- oder mehrsprachig, war Afrika so weit latinisiert, dass der 354 im numidischen Thagaste geborene Kirchen-
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lehrer Augustinus von sich sagen konnte, er habe Latein gelernt „non a docentibus sed a loquentibus“ (‚nicht im Unterricht, sondern von Leuten, die mit mir plauderten‘; Confessiones I, 23). Die Schulen und die geistige Kultur waren so hoch entwickelt, dass zahlreiche Autoren und Gelehrte daraus hervorgehen konnten. Die Romanisierung ist westlich des zentralen Gebiets und östlich von Tripolitanien schwächer gewesen. Das Punische hielt sich noch lange bis in die Kaiserzeit. Die Berbersprachen haben, obwohl lateinisch beeinflusst, alle dominanten Sprachen überdauert (cf. Budinszky 1881: 249–267; Adams 2007: 259–270, 516–576).
4.3.6 Griechenland und die hellenisierten Länder Nach dem Tode Alexanders des Großen (323 v. Chr.) begann die hellenistische Periode. Die Nachfolger Alexanders, die Diadochen, rivalisierten miteinander, ebenso die auf sie folgende Generation. Die Intervention von Pyrrhos in Italien führte dazu, dass Rom seinen Machtbereich ausdehnte. 272 v. Chr. kam Tarent unter seine Herrschaft. Griechenland verlor schrittweise seine Unabhängigkeit und wurde 146 v. Chr. eine römische Provinz. Rom trat nach und nach das Erbe Alexanders an, indem es die hellenisierten Länder unter seine Herrschaft brachte. 133 v. Chr. fiel Pergamon durch Erbschaft an Rom und wurde zur Provinz Asien. Das Gebiet griechischer Sprache werden wir nicht weiter betrachten. Dennoch sei entgegen einer weit verbreiteten Meinung betont, dass auch Griechen verschiedener Schichten, also nicht nur die Oberschicht, das Lateinische lernten (Adams 2003: 437).
4.3.7 Gallien, Nieder- und Obergermanien, die Alpen- und Donauprovinzen Die griechischen Städte an der Küste Galliens, allen voran das um 600 v. Chr. gegründete Massalía (Massilia, frz. Marseille), leiteten eine kulturelle Hellenisierung ein, die bis tief ins Landesinnere zu spüren war. Kontakt mit dem Gallischen liegt vor in der Verwendung der griechischen Schrift im Einflussgebiet von Massalia. Die Intervention der Römer in der südlichen Gallia Transalpina, die möglicherweise von den Massalioten betrieben worden war, führte zu einer frühen Latinisierung dieses Gebiets. Der südlichste Teil Galliens wurde 125–118 v. Chr. erobert. Der erste römische Stützpunkt war das 124 gegründete Kastell Aquae Sextiae (frz. Aix-en-Provence). Hauptstadt wurde die Kolonie Narbo Martius (frz. Narbonne), die der Provincia Narbonensis den Namen gab. Genf (Genava) wurde 121 v. Chr. der nördlichste Vorposten. In dieser Provinz wurde die römische Plebs für die Verluste ihrer Anteile am ager publicus entschädigt, dem Land, das Eigentum des römischen Volks war. Die Kolonien zogen eine relativ rasche Romanisierung und Latinisierung nach sich. Die lateinische Schrift wurde für keltische Inschriften verwendet. Der Ort, an dem sie in besonders großer Zahl gefunden wurden, ist La Graufesenque. Dieser Töpferort lag 2 km von Millau
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entfernt im heutigen französischen Département Aveyron. Seine wichtigste Zeit waren etwa die Jahre zwischen 20–120 n. Chr. In dieser Zeit sind Keltisch und Lateinisch nebeneinander bezeugt. Die Zweisprachigkeit war aber schon wenige Jahrzehnte nach der Eroberung der Provincia so weit fortgeschritten, dass die dortigen Gallier Caesar bei der Eroberung der Gallia comata als Dolmetscher zur Verfügung stehen konnten. Plinius der Ältere konnte schon sagen: „Italia verius quam provincia“ (‚eher Italien als eine Provinz‘; Nat. hist. III, 31; 1988: 32). So gab es gleichzeitig drei oder vier Stadien der Latinisierung von Galliern zu Beginn von Caesars Eroberung des restlichen Galliens: Die Gallia togata in Oberitalien, die zur Zeit der Eroberung Galliens durch Caesar bereits völlig romanisiert und latinisiert war, die in einem Übergangsstadium befindliche Gallia nostra oder bracata oder Provinvia Narbonensis und die Gallia comata, in der man das Haar auffällig lang trug. Die im äußersten Norden lebenden Belger waren dagegen für die Römer fast so barbarisch wie die Germanen. Die Chronologie der Romanisierung spiegelt sich wider im Namen Gallia togata für das gallische Oberitalien, weil die Gallier dort schon die römische Toga übernommen hatten. Der Name der Gallia bracata wandelte sich nach der römischen Besetzung in Provincia Narbonensis und wird wohl bald zur Ablegung der gallischen Hosen geführt haben, während die Gallier in der nördlich davon gelegenen Gallia comata noch weiterhin lange Haare trugen. Caesar eroberte 58–51 v. Chr. den verbleibenden größeren Teil Galliens in einem blutigen Krieg. Wenn Caesar Gallien in das Gebiet der Aquitani, der Belgae und der Galli einteilt, greift er damit eine Gliederung der Kelten selbst auf. Unter den Völkern Galliens bewohnen „den dritten [scil. Teil] das in der Landessprache Kelten, bei uns Gallier genannte Volk“ („tertiam [scil. partem] qui ipsorum lingua Celtae, nostra Galli appellantur“, De bello Gallico I, 1). Gallien war stark bevölkert: Schätzungen gehen von 15 Millionen zum Zeitpunkt der Eroberung aus (Grenier 1959). Auch wenn es etwa 10 Millionen gewesen sein sollten (Herman 1983: 1048–1049), wäre Gallien immer noch als ein dicht besiedeltes Land zu betrachten. In Britannien hätten dagegen Collingwood (1959) zufolge eine halbe bis eine Million Menschen gelebt.
4.3.8 Eine Fallgeschichte zum beginnenden Sprachkontakt: Die Eroberung Galliens durch Caesar Die Berichte der spanischen Eroberer Amerikas zeigen, wie wichtig Dolmetscher zu Beginn des Sprachkontakts sind. Über die römischen Eroberungen existieren zwar keine Berichte von Feldherrn aus erster Hand, die erhalten geblieben wären, doch gibt Caesars Bericht in De bello Gallico über die Eroberung Galliens außerordentliche Einblicke in die Kommunikation zwischen Römern und Galliern, zwischen den Römern untereinander sowie den Galliern untereinander.
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Wenden wir uns zuerst den Galliern, ihrer Schriftkultur und den Trägern ihrer Schriftkultur zu. In Gallien gab es zwei privilegierte Klassen, die Druiden und die Ritter. Alle übrigen wurden wie Sklaven behandelt und von Caesar nicht weiter in Betracht bezogen. Die Druiden waren die Hüter der Religion und unterwiesen die jungen Männer (VI, 13). Die Literatur wurde in Versform nur mündlich tradiert. „Es ist nämlich streng verboten, ihre Lehre aufzuschreiben, während sie in fast allen übrigen Dingen, im öffentlichen und privaten Verkehr, die griechische Schrift verwenden“ (VI, 14). Dennoch wurde das Gallische geschrieben, wenigstens in den Regionen, die im Kontakt mit den Massalioten standen. Die griechische Schrift hat sich von Massalia und den anderen griechischen Kolonien an der Mittelmeerküste Galliens ausgebreitet. Die Verwendung der griechischen Schrift für Verwaltungszwecke konnte Caesar nach dem Sieg über die Helvetier kennenlernen. Über die Logistik der Vorbereitung der Auswanderung haben die Helvetier genau Buch geführt: „Im Lager der Helvetier fand man Tafeln in griechischer Schrift, die man Caesar überbrachte“ (I, 29). Zu den Helvetiern summierten sich darauf noch die Zahlen der Stämme der Tulinger, Latobriger, Rauraker und Boier. Alle zusammen beliefen sich auf 368.000 Menschen. Die Kenntnis der griechischen Sprache wird dagegen nicht sehr weit verbreitet gewesen sein, denn Caesar schrieb einen Brief an den belagerten Quintus, den Bruder Ciceros, auf Griechisch, damit die Gallier ihn nicht lesen könnten, wenn er abgefangen würde. Es gab also Gallier, die Lateinisch lesen und sicher auch schreiben konnten wie diejenigen Lingonen, denen Caesar einen Brief schrieb (I, 26), aber nicht Griechisch. Dieser Brief wurde übrigens von einem gallischen Reiter ins Lager von Quintus mit einem Wurfspieß geschleudert, er blieb aber an einem Turm stecken und wurde erst am dritten Tage entdeckt. Diese Art, den Brief letztendlich ins Lager zu befördern, kann man in der Weise verstehen, dass er mit Sicherheit nicht auf einem Wachstäfelchen geschrieben war. Im Umkreis der erwähnten Kriegshandlungen schickte ein übergelaufener Nervier an Caesar einen Brief, der wohl in den ausgehöhlten Teil eines Wurfspießes hineingesteckt und dann wieder zugebunden worden war („litteras […] iaculo inligatas“, V, 45). Daher können auf diese Weise beförderte tabulae nur flexible Holztäfelchen gewesen sein, wie sie in Vindolanda am Hadrianswall gefunden wurden. Briefe wie diese zeigen ferner, dass die Römer ihre Truppenbewegungen durch schriftliche Kommunikation koordiniert haben. Die Briefe wurden archiviert, wie der Hinweis auf „litteras publicas“ zeigt (V, 47), ein anlässlich des genannten Feldzugs erwähntes Truppenarchiv. Caesar eroberte Gallien mit Truppen aus der römischen Provinz Galliens, der Narbonensis (I, 7), und aus der Gallia citerior (I, 10, 24; II, 2). Es gab numidische und kretische Bogenschützen sowie balearische Schleuderer (II, 7). Es ist auch von hispanischen Reitern die Rede (V, 26). Zweisprachigkeit war bei zahlreichen Soldaten sicher die Regel, an potentiellen Dolmetschern wird es keinen Mangel gegeben haben. Ihre Zuverlässigkeit als Dolmetscher kann aber gelegentlich zweifelhaft gewesen sein. Zu Beginn des Feldzugs gegen die Helvetier sprach Liscus, der höchste Beamte der Häduer, mit Caesar unter vier Augen („ex solo“, I, 18). Da der Römer immer Dolmet-
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scher braucht, spricht der Häduer Liscus also Lateinisch. Dass die Verhandlungen stets mit Dolmetschern geführt wurden, erfahren wir, als Caesar den Häduer und Römerfreund Diviacus in einem Gespräch hart bedrängt, um alles über die Umtriebe seines Bruders Dumnorix zu erfahren. In dieser heiklen Situation werden die üblichen Dolmetscher hinausgeschickt („cotidianis interpretibus remotis“, I, 19) und der Feldherr „sprach zu ihm mit Hilfe von Gaius Valerius Troucillus, einem hochangesehenen Mann aus der gallischen Provinz, der sein Vertrauen besaß und auf den er sich in jeder Hinsicht völlig verließ“ (I, 19). Der Name dieses Galliers ist bereits latinisiert, das Cognomen ist aber keltisch geblieben. Die Fortsetzung des dramatischen und hoch emotionalen Gesprächs mit Diviacus müssen wir uns also in Anwesenheit dieses Vertrauensmanns vorstellen. Diese Situation hätte Gelegenheit geben können, von Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Römern und den Galliern zu schreiben. Davon ist aber nicht die Rede. Auch die zwischen dem Germanen Ariovist und Caesar hin und her wechselnden Gesandtschaften scheinen keine sprachlichen Probleme mit sich zu bringen. Selbst die in I, 43–46, ausführlich behandelte Unterredung mit Ariovist erwähnt die Verhandlungssprache mit keinem Wort. Nach der abgebrochenen ersten Unterredung schickte Caesar Procillus an seiner Stelle: „Er hielt es für das beste, Gaius Valerius Procillus zu schicken, den Sohn des Gaius Valerius Caburus (der Vater hatte von Gaius Valerius Flaccus das Bürgerrecht erhalten), und zwar wegen seiner Zuverlässigkeit und Kenntnis der gallischen Sprache, die Ariovist aus langer Gewohnheit geläufig sprach“ (I, 47). Hier wurde die Kommunikation durch einen zweisprachigen römischen Bürger und einen zweisprachigen Germanen hergestellt. Nun wissen wir zwar nicht, wie diese Männer die jeweils andere Sprache gelernt haben. Die allgemeinen Wege der Sprachvermittlung werden aber im gallischen Krieg indirekt angesprochen. Die Kontakte mit der größten Reichweite werden wohl über Händler hergestellt worden sein. Es sind solche Völker zu unterscheiden, die die Händler hereinlassen, von denen, die jeden Warenverkehr ablehnen. Bei den Ambianern erfuhr der Konsul einiges über die Nervier: „Kaufleute hätten bei ihnen keinen Zutritt; sie ließen auch weder Wein noch andere Luxuswaren einführen, weil sie meinten, dadurch würden sie schlaff und ihre Tapferkeit lasse nach“ (II, 15). Die Förderung des Handels war aber römische Politik. Zu diesem Zweck schickte Caesar den Legaten Galba in die Hochalpen. „Grund für diesen Auftrag war die Absicht, den Weg durch die Alpen, den die Kaufleute bisher nur mit großer Gefahr und hohen Wegzöllen benützen konnten, freizumachen“ (III, 1). Dieser Auftrag schlug im Winter 57 bis 56 v. Chr. zunächst fehl. Das ferne Britannien ist nur Kaufleuten bekannt (IV, 20). Diese Berufsgruppe müssen wir uns immer dann anwesend vorstellen, wenn vom Verkauf von Sklaven die Rede ist. Mit Versklavung wurden die überlebenden Veneter bestraft: „Daher [damit die Barbaren in Zukunft das Gesandtenrecht besser beachteten] ließ er den ganzen Ältestenrat hinrichten und die übrigen als Sklaven verkaufen“ (III, 16). Es erübrigt sich fast darauf hinzuweisen, dass die Sklaven für den Aufbau einer Situation der Zweisprachigkeit verloren gingen.
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Den üblicheren Weg in die Zweisprachigkeit dürfen wir uns durch das Stellen von Geiseln denken. Nach dem römischen Sieg über die Helvetier mussten diese ihre Geiseln und die Überläufer ausliefern (I, 28). Die Geiseln, junge Männer, lernten in der neuen Umgebung vielleicht auch Lateinisch. Von den Suessionen erhielt Caesar die Vornehmsten des Stammes und zwei Söhne des Königs Galba als Geiseln (II, 13). Damit wird die gesellschaftliche Schicht genannt, aus der die Geiseln stammten. Der Adel sollte auch nach der Eroberung das größte Interesse an der Erlernung der lateinischen Sprache haben, denn die jungen Adligen wurden auf römische Schulen zum Beispiel nach Augustodunum (Autun) geschickt. Von den Bellovakern, Nachbarn der Suessionen, werden 600 Geiseln gefordert (II, 15). Der Legat Crassus erhielt nach einer entscheidenden Schlacht gegen Stämme des Südwesten Galliens freiwillig Geiseln von ihnen (III, 27). Nach dem Bau der Rheinbrücke verbündeten sich die rechtsrheinischen Ubier mit den Römern durch die Übergabe von Geiseln (IV, 16). Nach dem Marsch über die Rheinbrücke kamen Geiseln von weiteren Germanenstämmen hinzu. Als die Britannier von einer Invasion der Insel erfuhren, boten sie freiwillig Geiseln an (IV, 21). Von den auf dem der Insel gegenüberliegenden Festland sitzenden Morinern forderte Caesar Geiseln, um den Rücken frei zu haben (IV, 22). Nach Kampfhandlungen in Britannien kamen wiederum neue Geiseln hinzu (IV, 27). Cassivellaunus, Anführer der Britannier, besiegelte einen prekären Frieden durch die Übergabe von Geiseln (V, 22–23). Das Stillhalten der unruhigen Treverer während des Britannienfeldzugs wurde gesichert durch 200 Geiseln, unter denen sich auch der Sohn und die ganze Verwandtschaft des Treverer-Fürsten Indutiomarus befand (V, 4). Den Überlebenden der germanischen Usipeter und Tenktherer überließ Caesar die Entscheidung, bei ihm zu bleiben oder nicht. Diese trauten eher Caesar als den Galliern und blieben bei den Römern (IV, 15). Je weiter die Eroberung Galliens fortschritt, desto weniger Mangel an Zweisprachigen wird es also wohl gegeben haben. Nicht die Sprachkenntnisse waren das Problem, sondern wie immer die Loyalität der Dolmetscher, denn es waren in der Regel Gallier, die Lateinisch gelernt hatten. Auch wenn die Dolmetscher einen lateinischen Namen tragen, werden sie latinisierte Kelten, keine Römer gewesen sein wie etwa der namentlich erwähnte Gnaeus Pompeius (V, 36). Die Rede von Galliern und Römern wird durch den ganzen Eroberungsbericht hindurch wiedergegeben, am Anfang als indirekte Rede, als Caesar mit den Häduern und mit Ariovist verhandelte, während die direkte Rede von Römern eher die Lage bei der römischen Truppe und ihre gute Kampfmoral charakterisiert (V, 30, 44; VI, 8; VII, 50). Die direkte Rede eines Galliers ist aber mehr als ein stilistisches Mittel. Wenn ein eburonischer Gefangener den germanischen Sugambrern den Rat gibt, die in Atuatuca aufgehäuften Reichtümer des römischen Heeres zu erbeuten, statt nur gelegentlicher Beute nachzujagen, wird damit auch suggeriert, dass der römische Feldherr über die Vorgänge beim Feind so genau aufgeklärt ist (VI, 35), dass er eine fiktive, an einen Germanen gerichtete Rede eines Galliers wiedergeben kann. So wird auch eine dramatische Rede von Vercingetorix berichtet, in der dieser aus dem römischen Herr gefangen genommene Sklaven als römische
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Soldaten auftreten lässt (VII, 20). Auch in diesem Fall wird wohl der Dialog so selbstverständlich über Dolmetscher vermittelt worden sein, dass die Verständigung wiederum nicht thematisiert wird. Der Häduer Litaviccus wiegelt in direkter Rede seine Stammesgenossen vor Gergovia gegen das römische Heer auf (VII, 38). Der Höhepunkt ist schließlich die Rede des arvernischen Adligen Critognatus zu den in Alesia eingeschlossenen Galliern (VII, 77). Neben der sprachlichen Kommunikation kommt die Kommunikation mit Gesten kaum vor. Die älteren Männer von Bratuspandium, einer Festung der Bellovaker, kamen 57 v. Chr. mit erhobenen Händen und rufend entgegen. Von dieser Stadt herunter baten Kinder und Frauen mit ausgestreckten Händen um Frieden (II, 13). Wie bei einem über ein Land fremder Sprache geschriebenen Werk zu erwarten, verwendet Caesar einige gallische Wörter. Der höchste Beamte der Häduer wird vergobretus genannt (I, 16); dieses Wort wird eingeführt durch „quem vergobretum appellant Haedui“. Die „Wurfspieße und Speere“, „mataras ac tragulas“ (I, 26) werden dagegen nicht ausdrücklich eingeführt. Diese werden wir daher als Entlehnungen ansehen können. Die gallischen Dienstleute sind ambacti (VI, 15). Sonst wird die Kultur der Gallier mit lateinischen Wörtern benannt, so die aus Holz gebauten Siedlungen: oppidum allenthalben für die Stadt oder den befestigten Ort, vicus für das Dorf oder die Kleinstadt und aedificia für die Einzelhöfe, weswegen noch privata hinzugefügt wird (I, 5). Überraschend ist es dann, wenn es heißt: „XX urbes Biturigum incenduntur“, als 20 Städte der Biturigen verbrannt wurden (VII, 15), denn urbs bleibt gewöhnlich nur Rom vorbehalten. Caesar betont mit diesem Wort ausdrücklich, dass diese Städte mit einer Ringmauer umgeben waren. Die gallischen Götter behalten nicht ihre eigenen Namen, es wird die Interpretatio Romana angewandt: Mercurius, Apollo, Mars, Iuppiter, Minerva (VI, 17) und Dis pater (VI, 18). Diese Götternamen werden zu späterer Zeit, wenn sie in Stein gehauen oder Metall gegossen sind, ausschließlich verwendet.
4.3.9 Zur Romanisierung und Latinisierung Galliens, Nieder- und Obergermaniens sowie der Alpen- und Donauprovinzen Kehren wir nach diesem Exkurs zu allgemeineren Fragen der Romanisierung und Latinisierung zurück. Zur Latinisierung Galliens trugen früh die Händler, die Geiseln und die gallischen Hilfstruppen bei. Die Verwaltungszentren mit dem rasch transkulturierten gallischen Adel, die römischen Kolonien und Kastelle sind von denjenigen Orten zu unterscheiden, die einen nur sporadischen Kontakt mit Sprechern des Lateinischen hatten. Wenn eine Inschrift es an einem Ort belegt, können wir zwar nichts über die soziale Tiefe seiner Präsenz aussagen, aber sie ist in jedem Fall ein Zeugnis dafür, dass die lateinische Sprache in schriftlicher Form und überhaupt die Schrift an diesem Ort angekommen ist, denn das Keltische wurde außerhalb der hellenisierten und latinisierten Gebiete und deren Ausstrahlungszonen nicht geschrieben.
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Es ist wichtig zu betonen, dass die Romanisierung im Innern Galliens nicht von den Legionen ausging: Diese waren am Rande des Reichs den Rhein entlang und südlich davon an der Ostgrenze Galliens stationiert. Kolonien und Legionslager wurden an dieser Grenze besonders früh gegründet: Lugdunum (Lyon, 43 v. Chr.), Colonia Iulia Equestris (Nyon am Genfer See, 50–44), Colonia Raurica (Augst bei Basel, 44/43); nur diese Städte werden unter Augustus im von Caesar eroberten Gallien als Kolonien gegründet. Weitere wichtige Orte sind in Niedergermanien Colonia Claudia Ara Agrippinensium (Köln, 50), Bonna (Bonn, 30–20 als Ort der Ubier, 16/12 als Legionslager), in Obergermanien Mogontiacum (Mainz, 13), Castra Vetera (Xanten, Legionslager, 12, später Kolonie), Argentorate (Straßburg, 9 n. Chr. als Legionslager). Rätien kam 15 v. Chr. unter römische Herrschaft. Die Räter sprachen vermutlich eine nicht-indogermanische Sprache. Ihr Gebiet wurde mit dem Gebiet der keltischen Vindeliker zur bis an die Donau reichenden Provinz Raetia et Vindelicia mit der Hauptstadt Augusta Vindelicum (Augsburg). Ebenfalls 15 v. Chr. wurden die Noriker unterworfen. Das Dekumatland, das ist das Land zwischen dem rechten Ufer des Rheins und dem Oberlauf der Donau, wurde dem Römischen Reich unter Domitian eingegliedert und durch den Limes geschützt. Man benannte es nach dem Zehnten, der decuma, den die Siedler dieses Gebiets, „gallisches Gesindel“, entrichten mussten, wie wir aus der Germania von Tacitus (cap. 29) erfahren. Viele Gallier hatten in den bundesgenössischen Truppen gedient und waren deshalb zweisprachig. Die eigentliche Romanisierung und Latinisierung Galliens beginnt aber erst ab 19 v. Chr. unter Augustus. Er teilte Gallien 17 v. Chr. ein in Aquitania, die Provincia Lugdunensis und die Provincia Belgica. Damit setzte er die eigene territoriale Gliederung der Gallier in seine Verwaltungseinteilung um. Das römische Aquitanien ist jedoch weitaus größer als das gallische. Durch Agrippa ließ Augustus von Lugdunum (Lyon) aus ein Straßensystem ausbauen. Von diesem Zentrum Galliens führte eine Straße nach Andemantun(n)um (Langres). Dort teilte sie sich in eine westliche Straße über Durocortorum (Reims) nach Gesoriacum (Boulogne-sur-Mer) und eine östliche über Tullum (Toul) nach Augusta Treverorum (Trier) und von dort über Bitburg nach Colonia Agrippinensium (Köln). Augusta Treverorum wurde übrigens als Ergebnis dieses Straßenbaus 17 v. Chr. an einer Holzbrücke über die Mosel an der Stelle der heutigen Römerbrücke als Siedlung der keltischen Treverer gegründet. Eine weitere Straße verband Gesoriacum, die Hafenstadt der Moriner am Ärmelkanal, mit Colonia Agrippinensium am Rhein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die gallischen Stämme (civitates) der römischen Abgrenzung der gallischen Stammesgebiete zugrunde lagen und diese wiederum den späteren Bistümern. Es gab aber auch kleinere Stämme, die bei der Gliederung der Stammesgebiete den größeren Stämmen zugeordnet wurden. Die keltische Führungsschicht konzentrierte sich zur Wahrnehmung ihrer administrativen, fiskalischen und jurisdiktionellen Aufgaben in den Hauptorten der Stammesgebiete. Da die Adligen ihre Söhne früh auf Rhetorenschulen schickten, ist davon
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auszugehen, dass diese Schicht früh latinisiert wurde. So schickten die Vornehmen von Augusta Treverorum ihre Kinder nach Augustodunum (Autun, zwischen 16 und 13 v. Chr. von Bibracte aus gegründet) in die Rhetorenschulen. Über diese Praxis erfahren wir beiläufig etwas aus den Annalen von Tacitus: „Augustodunum, die Hauptstadt des Stammes (d. h. der Äduer, bei Caesar Häduer), war von Sacrovir mit bewaffneten Kohorten besetzt worden. Er wollte die adlige Jugend Galliens, die auf der dortigen Schule den Studien oblag, und durch sie auch ihre Eltern und Verwandten auf seine Seite ziehen“ (1964: 172; Ann. III, 43, 1). Der Äduerführer Iulius Sacrovir hatte das römische Bürgerrecht. Wir müssen ihn uns deswegen und als Aufrührer seines Stammes zweisprachig vorstellen. Auch die jungen gallischen Adligen mussten bereits die lateinische Sprache beherrschen, um die Rhetorenschule in Augustodunum besuchen zu können. Frühe lateinische Sprachzeugnisse sind die für Kaiser Tiberius im Vicus auf dem Herapel zwischen Forbach und St. Avold (bis 37 n. Chr.) und die von den vicani Marosallenses, den Einwohnern des Vicus Marsal im heutigen Lothringen, 44 zu Ehren des Kaisers Claudius errichteten Ehreninschriften, als er von seinem Britannienfeldzug zurückkam. Betrachten wir den kulturellen Wandel, den die Romanisierung mit sich brachte. Ich beziehe mich dabei bewusst auf die östlichen Randgebiete Galliens, die nicht immer im Zusammenhang mit dem übrigen Gallien gesehen werden. Unter Claudius wurden in Nordgallien die ersten mit Mörtel errichteten und mit ‚Ziegeln‘ (< tegula) gedeckten Steinhäuser gebaut. Damit wandelten sich die Bauten der oppida und der vici sowie die aedificia privata, der drei Siedlungstypen, die von Caesar genannt werden, indem die vormaligen Holzlehmbauten durch Stein- und Fachwerkhäuser ersetzt wurden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Säulenkeller in Homburg-Schwarzen acker. Die Adligen errichteten ihre Häuser neu als villae rusticae. Diese neuen Hausbautechniken verbreiteten sich zuerst von den Standorten der Legionen aus, in denen die Soldaten aus Oberitalien, aus Gallien und anderen Regionen des Reichs miteinander in Kontakt kamen; diese verbreiteten sie in den Kleinstädten (vici, in niederländischen Ortsnamen auf -wijk und norddeutschen auf -wick erhalten) und auf dem Land. Erst in den aus Stein gebauten Städtchen und Landsitzen (villae) mit ihren gepflasterten ‚Straßen‘ (< strata) wurde durch archäologische Funde die römische Transkulturation nachgewiesen. Dazu gehört etwa die Terra Sigillata, die zuerst aus Südgallien in den Norden gebracht wurde. So betrieben südgallische Töpfer aus La Graufesenque unter ihrem Meister Saturninus zu flavischer Zeit (70–96) eine Manufaktur östlich von Divodurum (Metz). Eine weitere Produktionsstätte eröffnete Satto um 125 in Blickweiler bei Blieskastel. Man kennt also sogar die Namen einiger Töpfer und die Verbreitung ihrer Produkte (Freis 21999: 56). Wir dürfen diese Funde von römischem Tafelgeschirr auch für die Verbreitung römischer Esskultur nehmen, für die bis heute die Wörter für Pfeffer (< piper, frz. poivre), Kohl (< caulis, frz. chou), Rettich (< radix, frz. radis) und Radieschen stehen. Wenn der ‚Speicher‘ unter dem Dach im Westen des deutschen Sprachgebiets immer noch diesen Namen trägt, wird er auf spicarium zurückgehen.
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Die Einführung der römischen Badekultur bis hinein in die Landstädte und Villen ist gleichfalls nicht denkbar ohne die Übernahme mindestens des Wortschatzes für diese Einrichtung. Das Bad hatte eine Randregion Galliens wie das Gebiet der Mediomatriker um Divodurum (Metz) spätestens um 100 erreicht. Dies alles sind Zeugnisse der Romanisierung, die mit Sicherheit zur Übernahme des Wortschatzes der neuen Kultur führte. Die germanischen Sprachen, die in der Antike im Kontakt mit dem Lateinischen oder wenigstens mit den romanisierten Galliern standen, bewahren einen Teil dieses Wortschatzes bis heute. Der gallisch-lateinische Kontakt hat sich über mehrere Jahrhunderte hingezogen, er entwickelte sich aber anders als in anderen Regionen. Im Unterschied zu vielen Gebieten des Römischen Reichs sind Kolonien und Legionslager meist nur in den östlichen Randgebieten Galliens gegründet worden. Die Mehrheit der Bevölkerung lernte die lateinische Sprache spät. Die bis zur Aufgabe des Gallischen gehende Latinisierung hat ungefähr 400 Jahre gedauert (Schmidt 1983: 1009–1011). Noch am Ende des 2. Jahrhunderts hatte sich der heilige Irenäus in Lyon genötigt gesehen, in gallischer Sprache zu predigen und zu evangelisieren (Lambert 22003: 10). Daher muss die Romanisierung und Latinisierung zum größten Teil in situ stattgefunden haben. Dieser Umstand ist wichtig, weil er geeignet ist, die divergente Entwicklung des Lateinischen in Gallien zu erklären, die dazu beigetragen haben kann, dass das Französische typologisch ganz anders ist als die übrigen romanischen Sprachen. So haben viele Gelehrte die Auffassung vertreten, dass der Kontakt mit dem Gallischen die ersten großen Unterschiede angelegt habe. Welcher Einfluss den keltischen Sprachen generell zugeschrieben wird, haben wir beim Überblick über die keltischen Sprachen betrachtet. An dieser Stelle verweise ich auf die Entlehnungen aus dem Gallischen. Wie wir schon einmal festgestellt haben, entsprechen die Wortschatzbereiche der Entlehnungen eher einer Beibehaltung des Gallischen in Gestalt von Interferenzen. Es sind Sachbereiche, die spezifisch gallisch sind und für welche die latinisierten Sprecher keine lateinische Entsprechung kannten: Nahrungsmittel, Kleidung, Fahrzeuge, Namen von Tieren, Vögeln, Fischen und Pflanzen, Landwirtschaft, Bodenarten, Geräte (Lambert 22003: 187–207). Wegen der sich häufenden Germaneneinfälle wurde Augusta Treverorum 293 eine der vier Reichshauptstädte und Residenz von Constantius I. (293–306). Die Verteidigungsanstrengungen führten dazu, dass sich der Mittelpunkt Galliens von Lyon in den Norden verschob. Dass Trier dabei Hauptstadt wurde, war aber nur ein Zwischenstadium. Die Provincia Belgica wurde aufgeteilt in die Belgica Prima, die die Mosellande umfasste, und die Belgica Secunda mit Sitz in Durocortorum, der bedeutend größere Teil der alten Belgica. Die Zugehörigkeit zur ehemaligen Belgica Prima war auch der Grund dafür, dass Metz, Toul und Verdun nach der Einführung des Christentums Suffraganbistümer von Trier blieben. Die romanisierte gallische Bevölkerung hielt sich an der mittleren Mosel, im unteren Saartal, im Hunsrückvorland bei Prims, Nahe, Blies und Nied. Das Fränkische
4.3 Sprachkontakträume
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hat sich wohl erst im 9. Jahrhundert – nach dem Zeugnis der romanischen Ortsnamen, die die romanische Lautentwicklung bis zu dieser Zeit mitgemacht haben, – an der Saar durchgesetzt, an der Mosel wohl zum Teil erst im Hochmittelalter. Die Franken gründeten Siedlungen meist an anderen Orten als die Romanen.
Bibliographischer Kommentar
Die sprachliche Gliederung Galliens ist gut untersucht worden. Das Problem, das Müller 1971 und Schmitt 1974 klärten, war die Gliederung Galliens in verschiedene Sprachräume, die man zu einem wesentlichen Teil auf die Chronologie der Romanisierung zurückführen möchte. Die Regionalisierung des gallischen Lateinisch behandelt Adams 2007: 240–259 nach römischen literarischen Quellen und 276–369 durch die Auswertung von Sprachzeugnissen aus der Region.
4.3.10 Britannien Die Romanisierung Britanniens (cf. Potter/Johns 2002; Adams 2007: 577–623) ging ebenfalls von den früher romanisierten gallischen Regionen aus und nicht von Italien. Die Gouverneure von Britannien kamen zuerst aus Italien, dann aus Gallien und schließlich aus Britannien selbst. Zwar schienen die Adligen die lateinische Sprache abgelehnt zu haben, sie ließen sich dann aber doch herbei, diese wegen der Ausbildung in der Rednerkunst zu akzeptieren, denn Tacitus schreibt in der Biographie Agricolas, der 77–84 Statthalter in Britannien gewesen war: „Außerdem ließ er den Söhnen der Häuptlinge wissenschaftlichen Unterricht geben und erkannte dem Talente der Britannier den Vorzug vor dem Fleiße der Gallier zu, so daß sie, die eben noch von der Sprache Roms nichts wissen wollten, jetzt nach dessen Redekunst Verlangen trugen“ (Tacitus s.a: 116; Agricola 21, 2). Die Information ist eingebettet in eine knappe Beschreibung der Romanisierung der Britannier, die Agricola mit Eifer betrieben hatte. Die Hilfstruppen in Britannien rekrutierte man in der Belgica, so die achte Bataverkohorte oder die erste Tungrerkohorte von Vindolanda am Hadrianswall. Vor kurzem noch keltisch und nun wohl zweisprachig, bringen sie das Lateinische in den Norden Britanniens. In Vindolanda sind Holztäfelchen als Zeugnisse der Latinisierung dieser belgischen Hilfstruppen überliefert; dort werden gelegentlich keltische Wörter verwendet (Adams 2003: 455–457). Diese Zusammenhänge lassen es als geboten erscheinen, die dem Lateinischen in Britannien, in der Germania Inferior, Germania Superior und in Rätien verloren gegangenen Gebiete in die Betrachtung einzubeziehen. Die nationalen Traditionen der Forschung in Frankreich, Großbritannien, den Beneluxstaaten und Deutschland sollten zu einer Gesamtsicht zusammengeführt werden, die vielversprechend wäre.
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4.3.11 Illyrien Illyrien forderte Rom durch seine Seeräuber heraus. Nach zwei Kriegen, 229–228 und 220 und 219, musste das Land die römische Oberhoheit anerkennen. Endgültig wurde es nach langen Kämpfen gegen die Dalmater und die Liburner 33 v. Chr. unterworfen und 27 v. Chr. zu einer großen Provinz gemacht, die von Istrien bis Makedonien und zur Donau reichte. Die dalmatisch-pannonischen Erhebungen von 6–9 n. Chr. veranlassten Augustus dazu, aus dem Illyricum die beiden Provinzen Pannonien und Dalmatien herauszulösen. Illyricum war von da an der Name für die Dalmatien, Mösien und Pannonien umfassende Region.
4.3.12 Dakien Die Kontakte Roms mit den Dakern begannen bereits im 1. vorchristlichen Jahrhundert und setzten sich bis zur Eroberung ihres Landes durch Trajan fort. Nach dem Nachweis der Inschriften muss in Dakien (Mihăescu 1978: 157–168) die Romanisierung und Latinisierung in der Folge der Eroberung durch den Kaiser Trajan (101–102 und 105–106) stärker gewesen sein als in den Nachbarprovinzen. Andererseits aber gehörte Dakien wegen des Rückzugs der römischen Legionen unter Kaiser Aurelian (271) nur wenig mehr als eineinhalb Jahrhunderte zum Römischen Reich. Während dieser Zeit (106–271) war die Romanisierung jedoch besonders intensiv. Man nimmt an, dass die Siedler aus den beiden Mösien, aus Thrakien, Pannonien, Dalmatien, von weiter östlich und sogar aus dem Westen kamen (Niculescu 1990: 24). Wichtig war, dass römisches Heer in Apulum (Alba Iulia) stationiert war, denn die römischen Militärlager waren Zentren der Latinisierung. Die Provinzen an der unteren Donau wurden in geringerem Maße urbanisiert. Es lassen sich aber dennoch in Dakien mindestens drei coloniae und acht municipia nachweisen. Als städtische Kultur beeinflusste die römische Kultur stark die Dobrudscha (rum. Dobrogea) und die Donauregion (Mihăescu 1978). Stärker war die Romanisierung auch im Westen Siebenbürgens, im östlichen Banat, in Oltenien und im Westen Munteniens (Niculescu 1990: 27). Von der zweifellos vorhandenen römischen Schriftkultur sind Inschriften überliefert, nicht aber literarische Quellen oder sonstige Texte, wenn man von dem lange vor der Eroberung Dakiens nach Tomis verbannten Dichter Ovid absieht. Das Lateinische wurde in Dakien von der thrakisch-dakischen und der getischen Bevölkerung gelernt. Das Thrakische und das Dakische waren indogermanische Sprachen, die mit dem Illyrischen sowie dem Phrygischen in Kleinasien verwandt waren. Die südlich der unteren Donau lebenden Geter waren ebenfalls thrakische Stämme. Ihre Romanisierung bewirkten Händler, Legionäre, Veteranen, Verwaltungsbeamte und Kolonisten. Als die Geter und Daker Lateinisch lernten, behielten sie Merkmale ihrer Sprache bei. Dies taten auch die Albaner, deren Sprache bis
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heute zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem Rumänischen aufweist. Das Albanische hat aber wohl nur eine geographisch benachbarte, aber nicht dieselbe sprachliche Grundlage wie das Rumänische. Aus der Entstehung des späteren Rumänisch in dieser Kontaktsituation des Lateinischen mit dem Dakischen, Getischen und dem Thrakischen darf man nicht folgern, dass die Sprecher des Lateinischen in der Überzahl waren; das ist eher unwahrscheinlich. Auf das Thrakische führt man den nachgestellten Artikel zurück, der überhaupt ein balkanisches Merkmal ist, und so auch die Nachstellung des Adjektivs (Niculescu 1990: 22), das Thrakisch-Dakische lebt fort in einigen Wörtern (Niculescu 1990: 18–19; zum dakisch-mösischen Lateinisch Fischer 1985). In Dakien wurde die Bevölkerung sicher nicht, wie manche Historiker behaupteten, ausgerottet. Sogar „freie“ Daker, d. h. solche, die noch nicht unter römischer Herrschaft standen, zogen in das Römische Reich. Beweise für die rumänische Kontinuität sind archäologische Funde, die auf die Zeit zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert datiert werden, Orts- und Gewässernamen und vor allem Inschriften. Unter den Ortsund Gewässernamen sind zu nennen: Alutus > Olt, Maryssus > Mureş, Samus (?) > Someş und andere. Manche davon wurden auch ins Slavische übersetzt. Die Bewohner Dakiens haben die landwirtschaftliche Terminologie der Römer übernommen: agru ‚Acker‘, câmp ‚Feld‘, falce ‚Morgen (Land)‘, a ara ‚pflügen‘, a săpa ‚graben‘, a semăna ‚säen‘, a secera ‚(Getreide) schneiden, ernten‘, a culege ‚ernten‘, a înjuga ‚ins Joch spannen‘, a dejuga ‚ausspannen, entjochen‘, păcurar ‚Schafhirte‘ sowie einige andere (Niculescu 1990: 35). Die Kontinuität dieses Wortschatzes und das Fehlen des lateinischen Wortschatzes der Stadtkultur begründen die Annahme, dass das Rumänische als Sprache einer Hirten- und Bauernkultur überlebt hat. Wenn man Argumente dafür sucht, dass sich in diesem Sprachgebiet die Tradition des Lateinischen als Schriftsprache in einem bescheidenen Umfang erhalten haben könnte, wäre sie mit einer Christianisierung vor dem Ende des 6. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen, der Zeit, zu der die Slaven in Dakien einwanderten. Das Lateinische Dakiens blieb zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert auch nach dem Abrücken der römischen Truppen mit latinisierten Gebieten in Verbindung, unter anderem auch mit Byzanz als oströmischem Verwaltungszentrum lateinischer Sprache (cf. zu den christlichen Latinismen den Abschnitt 4.1.3). Das Rumänische bildete sich in Dakien, Moesia Superior und Moesia Inferior und möglicherweise weiteren angrenzenden Gebieten aus. Es ist aber interessant, dass die relativ große Einheitlichkeit der rumänischen Dialekte nicht ursprünglich ist, sondern auf die Kommunikation zwischen den Regionen zurückgeht. Man hat Rumänisch gesprochen, weil keine andere überregionale Sprache zur Verfügung stand. Eine Konsequenz dieser Annahme wäre, in den rumänischen Dialekten Koinai zu sehen. Die Rumänen nehmen an, dass das Rumänische sich auch außerhalb der ursprünglich romanisierten Gebiete südlich der Donau ausgebreitet habe.
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4.4 Romania submersa In weite Gebiete des Römischen Reichs sind Völker eingedrungen, die das gesprochene Lateinisch überlagert haben. Dakien ist früh aufgegeben worden, Alemannen und andere Germanen haben den germanischen Limes Richtung Süden und Westen überschritten, die Angelsachsen fielen in Britannien ein, die Ostgoten eroberten Italien, die Westgoten den Süden Galliens und die Iberische Halbinsel, die Araber Afrika und die Iberische Halbinsel, Slaven wanderten auf dem Balkan ein. Die Folge davon war, dass Britannien, die linksrheinischen Regionen des Römischen Reichs, das Dekumatland und die Provinzen südlich der Donau, Afrika und nicht zuletzt das oströmische Reich, in dem das Lateinische Amtssprache war, der Romania verloren gingen.
4.4.1 Die Germanen Die Römer hatten ihre ersten kriegerischen Begegnungen mit den Germanen in Gestalt des Stammes der Teutonen, die 102 v. Chr. bei Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) aufgerieben wurden. Ihr Name hat sich dennoch für die Germanen und die Deutschen hartnäckig gehalten. Um Christi Geburt lebten die Germanen zwischen dem Niederrhein und der Weichsel, im Norden bis zum Mälarsee in Schweden und im Süden bis zum Thüringer Wald. Sie waren dabei, nach Süden zu expandieren, aber Caesars Eroberung Galliens hielt mit der Vertreibung Ariovists ihre Wanderbewegung für fast drei Jahrhunderte auf. Zwar hatte Augustus sich noch die Elbe als Grenze des Römischen Reichs zum Ziel gesetzt, seine Legionen wurden aber in der so genannten Schlacht am Teutoburger Wald 9 n. Chr. geschlagen. Der Limes wurde gebaut, um das Vordringen der Germanen einzudämmen. Dennoch ließen die Römer zu, dass sich Germanen beiderseits des Limes ansiedeln konnten. Es gelang den Stämmen, sich in größeren Verbänden zusammenzuschließen, bis die Alemannen im 3. Jahrhundert genügend Kraft hatten, das Dekumatland zu besetzen und über den Rhein vorzustoßen. Den Franken gelang es, Richtung Nordgallien vorzudringen und dort 486 unter Chlodwig den letzten römischen Herrscher zu besiegen. Diese neuen Völker schaffen neue Sprachkontakte und neue Varietäten. Das Römische Reich – für die romanischen Sprachen ist es, abgesehen vom Rumänischen, das weströmische Reich – zerfällt durch die germanische Völkerwanderung in kleinere Räume. Dadurch werden die lateinischen Gebiete zunehmend voneinander isoliert. Diese aus romanischer Sicht durch die „Barbareneinfälle“ zustande gekommene kleinräumigere Gliederung ist das wichtigste Ergebnis der germanischen Herrschaft über die Regionen des Römischen Reichs. Die Romania Germanica (Gamillscheg 21970, 1935, 1936) ist eine Romania, die ihre politische und sprachliche Einheit verloren hat. Dagegen ist, verglichen mit dieser die Sprachräume neugestaltenden Wirkung der Germanen, ihr direkter sprachlicher Einfluss auf die romanischen Sprachen im Allge-
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meinen relativ gering. Italien wird zu einem gesonderten Herrschaftsraum durch die Ostgoten, Hispanien durch die Westgoten, das nördliche Gallien durch die Franken, die unter den germanischen Völkern den stärksten Einfluss auf die von ihnen beherrschten Romanen ausübten. Für die Sprachkontakte nach der Latinisierung ergibt sich eine andere Situation als für die Sprachkontakte vor der Latinisierung. Das Lateinische war fest als dominante Sprache etabliert. Auch für Sprecher einer in einem Raum neu hinzukommenden Sprache gilt die Erkenntnis, dass die Elemente ihrer Kontaktvarietät, die sie beibehalten, Konservationen sind, während die Sprecher derjenigen Kontaktvarietät, die die neue Sprache lernen, sich mit ihren Entlehnungen innovativ verhalten. Walther von Wartburg hat dem Einfluss der germanischen Sprachen ein großes Gewicht beigemessen: Für die sprachliche Gliederung Galliens machte er hauptsächlich die Germanen verantwortlich. Die Franken besetzten den Norden Galliens, die Burgunder ließen sich im Südosten nieder und die Franken besiegten 507 die Westgoten, die schließlich aus Gallien vertrieben wurden (Wartburg 21951: 107–146). Die Annahme eines starken germanischen Einflusses auf das Französische blieb bis in die jüngste Zeit nicht unwidersprochen. Der so ganz andere französische Sprachtyp verlangt geradezu nach einer historischen Erklärung; dafür ist allerdings die Annahme einer nur internen Entwicklung nicht plausibel genug. In der Zeit der Völkerwanderung besetzen Alanen und Wandalen Hispanien. Die Sveven lassen sich in der Gallaecia nieder. 416–417 schlägt der westgotische König Walia die Alanen. Das Westgotenreich hat seine größte Ausdehnung von der Loire und der Rhône bis Spanien in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Durch die Ausdehnung des Frankenreichs unter Chlodwig (der 496 zum Christentum übertritt) werden die Westgoten fast völlig auf die Iberische Halbinsel abgedrängt, nur noch die Septimania bleibt ihnen nördlich der Pyrenäen. Da die Westgoten Arianer waren, lebten die Hispanoromanen und die Westgoten zunächst in getrennten Gemeinschaften. Erst als Recaredo 587 zum Katholizismus übertrat, verschmolzen die Romanen und die Westgoten. Die Iberische Halbinsel bildete nun als Raum eine Einheit. Die aus der Zeit des Römischen Reichs herrührende Ausgliederung wird verfestigt. Das ist die hauptsächliche, sprachgeschichtlich relevante Leistung der Westgoten. Sprachlich betrachtet bleiben vor allem Personennamen aus dieser Zeit wie sp. Álvaro, Fernando, Rodrigo, Elvira, Gonzalo, Gonzalvo, Alfonso, Ramiro und einige andere. Das Suffix sp. -engo, kat. -enc ist westgotischen Ursprungs und setzt sich zur Bildung von Adjektiven wie in sp. abadengo ‚Abts-‘, realengo ‚zur Krone gehörig‘ und kat. -enc wie in blavenc ‚bläulich‘, eivissenc ‚von Eivissa‘ (sp. Ibiza) fort. Aus dem Germanischen, das man lautlich selten im Einzelfall genau differenzieren kann, gelangen unter anderem folgende Wörter in die romanischen Sprachen, die ich nicht alle einzeln aufführe: saipo > sapone > frz. savon, it. sapone, sp. jabón ‚Seife‘; thahsu > taxo > it. tasso, sp. tejón ‚Dachs‘; werra > guerra > it. sp. kt. pt. guerra, frz. guerre ‚Krieg‘; wardōn > frz. garder, it. guardare, kat. pt. sp. guardar ‚bewachen‘; raubōn > it. rubare, kat. sp. robar, pt. roubar ‚rauben‘; hĕlm
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> frz. heaume, sp. yelmo ‚Helm‘; *haribairgo > frz. auberge > it. albergo ‚Hotel‘, sp. albergue ‚Herberge‘; *spaura, sporo > sp. espuela ‚Sporn‘; hŏsa > asp. huesa ‚Stiefel‘; falda ‚Falte usw.‘ > kat. falda ‚Schoß‘, ‚Abhang‘, pt. falda ‚Abhang‘, sp. falda ‚Rock‘; cofea > kat. còfia, sp. cofia ‚Haube‘; sal > frz. salle, it. kat. pt. sp. sala ‚Saal‘; harpa > frz. harpe, pt. sp. harpa ‚Harfe‘; *fehu ‚Vieh‘ > pt. sp. feudo (gekreuzt mit allodium) ‚Lehen‘; andbahti ‚Amt‘, ‚Dienst‘ > aokz. ambaissada, frz. ambassade, it. ambasciata, kat. ambaixada, pt. embaixada, rum. ambasadǎ, sp. embajada ‚Botschaft‘; orgōli > frz. orgueil, it. orgoglio, kat. orgull, pt. orgulho, sp. orgullo ‚Stolz‘; wisa > frz. guise, it. kat. pt. sp. guisa ‚Weise‘. Adjektive wurden seltener entlehnt: riks > frz. riche, it. ricco, kat. ric, pt. sp. rico ‚reich‘; frisk > frz. frais, kat. fresc, it. pt. sp. fresco ‚frisch‘; blank ‚glänzend‘ > frz. kat. blanc, it. sp. blanco, pt. branco ‚weiß‘.
4.4.2 Das oströmische Reich und Byzanz Byzanz wurde von Griechen aus Megara (bei Athen) im 7. Jahrhundert v. Chr. am südlichen Ufer des Bosporus an der Stelle des heutigen Istanbuls gegründet. Die große Zeit der Stadt beginnt aber nach Zerstörungen und Verwüstungen als Neugründung durch Konstantin I. den Großen (306–337) im Jahre 330, der die Stadt in Konstantinopolis umbenennt. Dieser Kaiser hatte 312 den christlichen Glauben seiner Mutter Helena angenommen. Er bereitete damit den Bruch zwischen dem westlichen und dem östlichen Römischen Reich vor, der sich zwischen 395 und 410 nach dem Tode von Theodosios I. endgültig vollzog. Was wir zum christlichen Latein gesagt haben, wird im Laufe des 4. Jahrhunderts dadurch verbindlich, dass das Christentum neben dem Glauben an die antiken Götter Staatsreligion und unter Theodosios I. 380 alleinige Staatsreligion wird. Trotz der Neugründung der Stadt mit dem Namen Konstantinopel nennt man das Reich, das Ostrom fortsetzt, Byzanz. Die zeitliche Grenze kann man mit der Neugründung ansetzen oder zu einer späteren Zeit. Der Wandel der Mentalität wird wohl auch hier allmählich stattgefunden haben. Das Lateinische blieb eine der beiden großen Sprachen im oströmischen Reich bis zum 6. Jahrhundert. Sogar ein Analphabet wie Kaiser Justinus (518–527) musste seine Verfügungen in lateinischer Sprache unterzeichnen. Dafür fertigte man ihm ein Brettchen mit vier darin eingeschnittenen Buchstaben an (Prokop 1961: 54–55; Anekdota VI, 10–16). Justinus stammte aus einem Ort in der antiken Provinz Moesia Superior. Die dortige Bevölkerung waren nicht völlig romanisierte Illyrer oder Thraker, die außerdem nicht weit entfernt von der lateinisch-griechischen Sprachgrenze lebten. Hieran zeigt sich, dass Konstantinopel auch die Hauptstadt des romanisierten Balkans war. Somit war diese vielsprachige Stadt vor der Einwanderung der Slaven und der türkischen Eroberung auch ein lateinisches Zentrum. Dass das Lateinische die Fachsprache der Juristen war, belegt das Corpus Iustinianum, die größte Gesetzessammlung der römischen Antike, die 529 als Codex Iustinianus in Kraft trat und nach
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dem Kaiser Justinian (527–565) benannt wird. Die justinianischen Gesetze blieben bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken geltendes Recht in Ostrom und somit das Lateinische die Fachsprache des Rechtswesens. Die Stellung des Lateinischen war zu jener Zeit immerhin so stark, dass der Quästor Junilos aus Libyen, d. h. Nordafrika und insbesondere aus der Region um Karthago, sich sieben Jahre im Amt halten konnte, obwohl er das Griechische nicht als Standardsprache beherrschte und keine Reden nach den Regeln der Rhetoren auf Griechisch halten konnte (Prokop 1961: 172–173; Anekdota XX, 17–19). Die osmanischen Sultane betrachteten sich als Erben des oströmischen Reichs. Dass sie als solche von den Romanen des Balkans, den Rumänen, anerkannt wurden, zeigt das rumänische Wort împărat < imperator, mit dem sowohl der deutsche oder österreichische Kaiser als auch der osmanische Sultan benannt wurden. Im oströmischen Reich hatte man das Bewusstsein, die Traditionen des Römischen Reichs fortzuführen. Die anderen Völker blieben für die Byzantiner Barbaren. Man nannte sich selbst weiterhin „Römer“ und das Reich „Romanía“. Unter den oströmischen Traditionen waren das Christentum wichtig, das zuerst in griechischer und danach auch in lateinischer Sprache verkündet wurde, das römische Recht und das römische Staatswesen sowie die griechische Kultur. Eine Zeitlang versuchte das oströmische Reich die Einheit des Imperium Romanum wiederherzustellen. Dies gelang nur eine kurze Zeit, vor allem unter Justinian. Zu späterer Zeit wurde seine Macht auf den Balkan und in Kleinasien eingeschränkt, dennoch blieb die Kontinuität der griechischen Sprache und Kultur trotz dieser territorialen Reduktion ungebrochen, sie wurde vielmehr sogar gestärkt. Auch im Osmanischen Reich behielten die Griechen ihre Kultur bei und sie blieben an der Herrschaft beteiligt. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die vielfältigen kulturellen, religiösen, politischen, kunstgeschichtlichen und allgemeinen geschichtlichen Beziehungen zwischen Byzanz und dem lateinischen Abendland zu würdigen. Der griechische Einfluss auf das Rumänische ist eine Konstante, die wir außer Betracht lassen (Mihăescu 1966). Eine Konstante, wenn auch in anderer Weise, ist der griechische Einfluss auf die anderen romanischen Sprachen. Einige Hinweise auf Entlehnungen aus dem Griechischen der byzantischen Zeit mögen genügen. Grch. theîos, theía wird zu spätlat. thius, thia adaptiert und ersetzt avunculus ‚Onkel (mütterlicherseits)‘ und patruus ‚Onkel (väterlicherseits)‘ sowie matertera ‚Schwester der Mutter, Tante‘ und amita ‚Schwester des Vaters, Tante‘: it. zio, zia, pt. tio, tia, sp. tío, tía. Weitere Beispiele sind galéa > asp. galea, später galera, nach kat. galera, pt. galé, mit zahlreichen Ableitungen in den romanischen Sprachen; kaûma ‚Verbrennung‘ > sp. calma ‚Schwüle‘ > ‚Windstille‘, kat. pt. calma; kéleusma ‚Befehl‘ > ‚Gesang, der die Ruderbewegung einer Galeere begleitete‘ > altgenues. ciüsma > sp. chusma, kat. xurma ‚Galeerensträflinge‘, pt. chusma ‚Besatzung‘; tapétion > afrz. tapiz > kat. tapís, sp. tapiz ‚Wand teppich‘. Von anderen griechisch-lateinischen Form leiten sich it. tappeto ‚Teppich‘ und pt. tapete her.
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4.4.3 Die Araber Die westgotische Einheit Hispaniens war nicht stark genug, sich gegenüber den Arabern zu behaupten. 610 hatte Mohammed eine neue Religion, den Islam, gestiftet. Bis 710 wurde Nordafrika erobert. Eine einzige Schlacht (711) genügte, um den Arabern die Herrschaft über den größten Teil der Iberischen Halbinsel zu sichern, auch wenn sich die Eroberung bis 718 hinzog. Sie wurden erst 732 durch Karl Martell bei Poitiers aufgehalten. Die Araber hatten eine völlig andere Auswirkung auf die Romania als die Germanen. Sie traten ihre Herrschaft in den romanischen Gebieten an, nachdem die römische Einheit bereits durch die Germanen zerschlagen worden war. Während sich die Germanen als Sieger an die Besiegten assimilierten und schließlich deren christlichen Glauben übernahmen, arabisierten und islamisierten die Araber und ihre neuen Verbündeten die eroberten Gebiete, die dadurch der Romania zu einem großen Teil verloren gingen. Die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel war anfangs am erfolgreichsten unter den Franken. Sie eroberten die Marca Hispanica, 801 kamen sie bis Barcinona (Barcelona). Der Rest der romanisch-westgotischen Aristokratie zog sich in das kantabrische Gebirge zurück und drang unter seinem ersten König Pelayo wieder gegen Süden vor. 1085 war unter Alfons VI. Toledo erobert worden. Zur Romania Arabica gehören diejenigen Gebiete, die später im Kampf gegen die Araber wieder zurückerobert worden sind, also Sizilien und die Iberische Halbinsel. Das sind Gebiete, die so weit arabisiert worden waren, dass sie die romanischen Sprachen arabisch beeinflussen konnten. Romania Arabica: Das heißt auch, dass die heutige Verteilung des sizilianischen Dialekts auf Sizilien und die der romanischen Sprachen auf der Iberischen Halbinsel das Ergebnis der arabischen Herrschaft und der christlichen Rückeroberung sind. Der Bereich, um den es uns hier geht, wird in den romanistischen Handbüchern eher nur am Rande dargestellt. Ohne dass ich den arabischen Einfluss über Gebühr in den Vordergrund stellen will, ist doch zu betonen, dass er entschieden unterbewertet wird. Aus der Sicht der externen Linguistik ist der Romania durch die arabische Eroberung der Norden Afrikas verloren gegangen. Auf der Iberischen Halbinsel in erster Linie und auf Sizilien in zweiter Linie hat das Arabische dauerhafte Spuren hinterlassen. Als Kultursprache hat darüber hinaus das Arabische auf die europäischen Sprachen gewirkt (zu einer Gesamtsicht Pellegrini 1972, Kontzi 1982, Lüdtke (Hrsg.) 1996). Die arabische Entwicklungsphase und die nachfolgende normannische auf Sizilien sowie die kastilische, katalanische und portugiesische auf der Iberischen Halbinsel sind unter folgenden Gesichtspunkten besonders relevant: Das Romanische, Mozarabisch genannt, wird nunmehr vom Arabischen und vom Lateinischen überdacht. Das Lateinische ist aber aus dem öffentlichen Leben verbannt und bleibt beschränkt auf die Religionsausübung der Christen. Sie dürfen nicht missionieren. Auf Sizilien entsteht eine Sprache, die aus der Sicht der später sich herausbildenden Literatursprache als primär zu gelten hat. Als primär gelten die Dialekte, die
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syntopischen romanischen Varietäten, die Entwicklungen des Lateinischen in situ gewesen sind. Belegen wir den arabischen Einfluss im Spanischen mit Wortentlehnungen. Bereits die Mozaraber brachten Elemente wie aldea ‚Dorf‘, alfóndega ‚Herberge‘, alcor ‚Hügel‘ in den Norden. Nach 1085 kamen verstärkt mudéjares, das sind Araber oder arabisierte Romanen, unter christliche Herrschaft, besonders nach der Eroberung so wichtiger Kulturzentren wie Toledo, Zaragoza, Tudela und Guadalajara im heutigen spanischen Sprachgebiet. Die Araber in València förderten dagegen Kontakte mit dem Katalanischen, aber auch mit dem Spanischen, in Lissabon mit dem Portugiesischen. Ein besonders wichtiger Kulturkontakt fand in Toledo zwischen Christen, Muslimen und Juden in der toledanischen Übersetzerschule statt. Es wurden Arabismen über die Rezeption der von den Arabern gepflegten Wissenschaften ins Spanische gebracht. Zu diesen arabischen Fachwörtern gehören in der Mathematik algoritmo, guarismo ‚Zahl, Ziffer‘, álgebra, cifra ‚Ziffer‘, cero ‚Null‘ (über das Arabische in Italien). Durch mudéjares wurde der Fachwortschatz der Architektur und Anverwandtes ins Spanische gebracht, z. B. albañil ‚Maurer‘. Die dritte Schicht von Arabern sind die Morisken (moriscos oder cristianos nuevos), die im Bereich der kastilischen Krone vor die Wahl gestellt, auszuwandern oder sich zum Christentum zu bekehren, 1501 Letzteres wählten. Im Bereich der aragonesischen Krone wurden die Morisken 1609–1614 vertrieben. Diese Morisken sprachen ein arabisiertes archaisches Spanisch, also eine Varietät des Spanischen, das aljamiado. Es ist in Texten erhalten, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in ständig größerer Zahl gefunden worden sind. Davon sind erst ca. 5 % veröffentlicht. Unter den sprachlichen Einflüssen ist keine Veränderung im Phoneminventar festzustellen. Es gibt aber Veränderungen in der regelmäßigen Lautentwicklung, z. B. sapone ‚Seife‘ > xabon > jabón, da anlautendes /s-/ im Arabischen durch /ʃ/ ersetzt wurde; so auch sepia ‚Tintenfisch‘ > jibia, syringa > jeringa ‚Spritze‘. Das im arabischen Phoneminventar nicht vorkommende /p/ wurde durch /b/ ersetzt, z. B. praecoquum ‚Aprikose‘ > albaricoque. Der Nexus -st- wurde durch ç ersetzt, das sich zu /θ/ weiterentwickelte, z. B. in usţuwān > zaguán ,Diele‘ und in Ortsnamen wie Caesaraugusta > Zaragoza, Castra > Cáceres. In der Morphologie hat das Suffix -í eine gewisse Produktivität erlangt, z. B. alfonsí, ceutí, marroquí, tetuaní, tunecí. Über die Syntax lassen sich keine gesicherten Aussagen machen. Der größte Beitrag des Arabischen zum Spanischen liegt im Wortschatz. Es werden Beispiele nach onomasiologischen Bereichen gegeben. Verwaltung und Verwaltungsbezirke: alcalde ‚Richter, Bürgermeister‘, alguacil ‚Büttel‘, arrabal ‚Vorstadt‘; Bewässerung: acequia ‚Bewässerungsgraben‘, aceña ‚Wasserschöpfrad‘, noria ‚Wasserschöpfrad‘, azud ‚Wasserpumpe, Flusswehr‘, alberca ‚Sammelbrunnen, Zisterne‘; landwirtschaftliche Erzeugnisse: algarroba ‚Johannisbrot‘, alcachofa ‚Artischocke‘, aceite ‚Olivenöl‘, azúcar ‚Zucker‘, algodón ‚Baumwolle‘; Verarbeitung der Produkte: almazara ‚Ölmühle‘; Handwerk: alfarero ‚Töpfer‘, jarra ‚Krug‘, taza ‚Tasse‘, tarea ‚Aufgabe, Arbeit‘; Handel und Verkehr: almacén ‚Lager‘, tarifa, aduana ‚Zoll‘, alhón-
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diga ‚Getreidespeicher‘, quintal ‚Zentner‘; Häuser, Gebäude: alcázar ‚Burg‘, alcazaba ‚Zitadelle‘, atalaya ‚Wachtturm‘, aldaba ‚Türklopfer‘, alcoba ‚Alkoven‘, azotea ‚Flachdach‘, adobe ‚Lehmziegel‘, almohada ‚Kissen‘, ajuar ‚Hausrat, Aussteuer‘. Adjektive werden selten entlehnt, darunter mezquino ,geizig, gemein‘. Unter den Verben sind arabische Entlehnungen halagar ‚schmeicheln‘, achacar ‚zuschreiben‘. Als Pro-Eigenname fungiert fulano ‚ein beliebiger‘. Die Präposition hasta ‚bis‘ ist zu erwähnen, die Interjektion he in heme aquí ‚hier bin ich‘, ojalá ,hoffentlich‘, olé. Zu den besonders interessanten Arabismen gehören die semantischen Arabismen, die Lehnübersetzungen. Eine Fülle von Ortsnamen und gerade auch von Flussnamen ist auf uns gekommen, davon erwähne ich nur das Element Guad- in Guadiana und Guadalquivir. Die Unterschiede, die wir im Lateinisch der Iberischen Halbinsel dokumentiert haben, sind heutige Fortsetzungen alter Unterschiede. Sie haben sich fortgesetzt, weil sie in den Norden der Halbinsel gelangt sind und bei der Rückeroberung entweder in den Süden gebracht wurden oder mit den sprachlichen Erscheinungen im südlich anschließenden Land konvergierten. Es sind aber auch Mozaraber aus Al-Andalus in den Norden ausgewandert, besonders in Zeiten größerer religiöser Intoleranz auf islamischer oder christlicher Seite. Die Geschichte der romanischen Sprachen auf der Iberischen Halbinsel hat viele Gemeinsamkeiten: Sie entstanden aus der römischen Kolonisierung, die von Süden nach Norden und von Osten nach Westen fortschritt. In etwa derselben Richtung haben die Araber die Halbinsel erobert. Und in umgekehrter Richtung haben die Volkssprachen sich von Norden nach Süden ausgebreitet. Daher ist die Sprachgeschichte des äußersten Nordens der Halbinsel zentral für das Verständnis der alten Entwicklung. Drei Sprachen, das Galicische mit dem Portugiesischen, das Spanische und das Katalanische, waren auch Kolonialsprachen, am wenigsten allerdings das Katalanische. An der sprachlichen Kolonisierung der Halbinsel hatten darüber hinaus noch das Asturianische und das Aragonesische ihren Anteil. Die Entwicklung dieser Sprachen wurde aber vom Spanischen eingeschränkt.
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache Die Existenz des Vulgärlateins ist, wenn man darunter eine Gemeinsprache wie die griechische Koine versteht (Dietrich 1995), nach der Herausbildung des klassischen Lateins anzusetzen. Dadurch vermeidet man, eine Identität anzunehmen zwischen sprachlichen Phänomenen in archaischer und vorklassischer Zeit auf der einen Seite, in nachklassischer Zeit auf der anderen. Die materielle Identität impliziert nicht, dass der Status einer Erscheinung in der Spracharchitektur zu verschiedenen Zeiten identisch ist, im Gegenteil. Wichtig ist ferner die Geschichte des Lateinischen als historischer Sprache nach dem Zustandekommen der Standardsprache.
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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Entscheidend ist, ob man sich unter dem Vulgärlatein eine einheitliche Koine vorstellt oder eine sich von der klassischen Zeit an in zunehmendem Maße differenzierende Sprache. Die Koinethese würde die Schleichersche Stammbaumhypothese (1977) stützen: Die romanischen Sprachen hätten sich aus einer vulgärlateinischen Einheit heraus entwickelt. Diese Annahme hat aber vieles gegen sich, denn der Befund der heutigen romanischen Sprachen stützt sie nicht. Es ist ein System von Systemen wie jede Sprache. Es weist diatopische Unterschiede auf, diastratische und diaphasische. Diatopische Unterschiede bestanden auf der Apenninhalbinsel zwischen Rom und Latium, wo man ein ländliches Lateinisch sprach (sermo rusticus), im Lateinisch der Italiker, darunter besonders dem der Osko-Umbrer, und vor allem zwischen der Westund der Ostromania. In diastratischer und diaphasischer Hinsicht ist ein Lateinisch der mittleren sozialen Schichten einschließlich der Sprachverwendungssituationen zu unterscheiden und schließlich, als sozial und kulturell dominierende Sprache, die Standardsprache mit ihren mündlichen und schriftlichen Verwendungssituationen. Das Vulgärlatein kann alle Erscheinungen umfassen, die in diesen Varietäten und auch im Standard vorkommen, und schließt unter den klassischen Elementen nur diejenigen aus, die nur der Standardsprache allein eigen sind.
Bibliographischer Kommentar
Eine knappe Einführung ins Vulgärlatein ist Herman 31975. Die ausführlicheren Einführungen konstruieren die Sprache nach dem jeweiligen Stand der Erkenntnisse ihrer Autoren, die teilhaben an der sprachwissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung. Wegweisend war Schuchardt 1866, 1867, 1868 zum Vokalismus. Grandgent 1907 stellt die Sprache so einheitlich dar, als könnte man gleichsam die Grammatik eines Sprachsystems schreiben. Neben einer allgemeinen Einführung gibt Battisti 1949 im Wesentlichen eine Beschreibung, so auch Maurer 1959 und Väänänen 31981. Vossler 1954 betont den Zusammenhang von Sprache und Kultur. Die Appendix Probi wurde als besonders wichtige Quelle des Vulgärlateins kommentiert von Baehrens 1967/11922, Neto 31956, Quirk 2006 und Lo Monaco/Molinelli (a cura di) 2007 sowie kritisch ediert von Asperti/Passalacqua (a cura di) 2014.
4.5.0 Interne Rekonstruktion Es ist elementar wichtig, spekulative geschichtliche Fragestellungen durch eine interne Rekonstruktion zu ersetzen, die auf einer sorgfältig erstellten Dokumentation beruht. Diese muss in einem getrennten Untersuchungsschritt interpretiert werden. Das Vulgärlatein wurde in der frühen Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft auf diese Weise rekonstruiert und die historische Grammatik der romanischen Sprachen insgesamt sowie der einzelnen romanischen Sprachen erforscht. Die ständig verbesserte Dokumentationslage machte eine Untersuchung von Fragestellungen möglich, die im 19. Jahrhundert noch außerhalb der Reichweite der Philologen lag. Heute sind für manche Epochen der Entwicklung und für manche Sprachräume Rekonstruktio-
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nen einzelner romanischer Sprachen sowie von Varietäten innerhalb der romanischen Sprachen möglich. Es gibt Sprachkontaktsituationen, die aufgrund interner Rekonstruktion erschließbar sind. Ein gutes Beispiel dafür ist der slavisch-rumänische Sprachkontakt, der nur nach einem Vergleich der rumänischen Mundarten mit Kontakt mit slavischen Sprachen und der rumänischen Mundarten ohne einen solchen Kontakt festgestellt werden kann. Die Untersuchung des Rumänischen führt zu der theoretisch interessanten Frage, ob man im Falle eines Sprachkontakts stets von Innovationen sprechen kann oder ob es sich dabei nicht doch oft um Konservationen handelt.
4.5.1 Die Phonemsysteme Man ging meist von einem einheitlichen den romanischen Sprachen zugrundeliegenden Phonemsystem aus. Der Eindruck der Einheitlichkeit entsteht dadurch, dass das Italienische, das Französische, das Okzitanische, das Katalanische, das Spanische und das Portugiesische, um nur die am weitesten verbreiteten Sprachen zu nennen, auf phonologische Gemeinsamkeiten zurückgehen. Wie im Wortschatz lässt sich in der Phonetik und Phonologie aber zeigen, dass das Vulgärlatein keine Einheit hat. Die lateinische Sprache hat sich in den Provinzen des Römischen Reichs relativ rasch ausgebreitet. Wir müssen die Ausbreitung in Italien von derjenigen außerhalb der Halbinsel trennen, da andere Bedingungen vorlagen: In Italien begann die Latinisierung nicht nur früher, sie fand auch in räumlicher Nähe zu Rom statt. Außerhalb Italiens wurden auffallend viele Städte in der späten republikanischen und der frühen Kaiserzeit gegründet. Einen Höhepunkt stellte die Zeit von Augustus dar, wie die zahlreichen Gründungen zeigen, die seinen Namen tragen. Der Unterschied zwischen Italien mit den Inseln Sardinien, Korsika und Sizilien und den übrigen Provinzen zeigt sich deutlich in den Unterschieden der Vokalsysteme: Während es auf Sardinien und in Südkorsika sowie Sizilien ein je anderes System des betonten Vokalismus gab und in Süditalien sogar mehrere existierten, weisen die außerhalb der Apenninhalbinsel liegenden Provinzen im Allgemeinen eine große Einheitlichkeit auf. Diese räumliche Gliederung ist in eine Chronologie der Romanisierung einzuordnen. Da die Romanisierung Oberitaliens mit dem Beginn der Herrschaft Roms über diese Region einsetzt, muss man mit der Entstehung der Grenze La Spezia-Rimini anfangen, die sich gewiss nicht erst in der Spätantike herausbildete. Die westromanischen Gemeinsamkeiten eines 1. Phonemsystems kann man mit dem Kontakt mit den keltischen Sprachen in Oberitalien, Gallien, Britannien und Hispanien begründen. Daneben lassen sich 2. das sardische, afrikanische und süditalienische (südlukanische), 3. das rumänische, dalmatische und ostlukanische sowie 4. das sizilianische und kalabresische Phonemsystem abgrenzen.
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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Im Rahmen des vorliegenden Werks kann jedoch nicht auf die Entwicklung in ihrer ganzen Breite eingegangen werden, weil dies die Berücksichtigung aller Sprachen und der wichtigsten Dialekte voraussetzen würde, während hingegen dieser Teil zu den romanischen Sprachen als Standardsprachen (5.) hinführen soll. Deshalb stehen die Resultate der Lautentwicklungen im Vordergrund, nicht der Prozess der lautlichen Ausgliederung. 4.5.1.1 Akzent Der Akzent hat sicher früh die unterschiedliche Entwicklung von betonten und unbetonten Vokalen bedingt sowie die Länge der offenen Silben. Man bringt diesen Wandel in Verbindung mit einem Wandel im Typ des Akzents. Der Akzent des klassischen Lateins sei ein musikalischer Akzent gewesen, nach dem 4. Jahrhundert ein Druckakzent. Dies würde sich auch in der Metrik zeigen, die sich infolge des neuen Akzents ändere. Aus Mangel an eindeutigen Beweisen kann man sich nicht für eine Auswirkung des Druckakzents auf die Vokalquantität aussprechen. Auch ein musikalischer Akzent ist manchmal mit einem Druckakzent für eine Funktion wie die Hervorhebung vereinbar, wie das Französische zeigt. Im Übrigen ist der Akzent auf derselben Stelle geblieben. Nur im Falle von muta cum liquida, d. h. von Verschlusslaut + l oder r und von e und i im Hiat ist er von der drittletzten zur vorletzten Silbe gewechselt (ténebrae ‚Finsternis‘ → tenébrae, filíolum ‚Söhnchen‘ → filiólum). 4.5.1.2 Der Vokalismus Das Vulgärlatein hat zwar nicht nur ein einziges Vokalsystem; aber eine Möglichkeit, die verschiedenen Vokalsysteme zu erklären, gibt es nur dann, wenn man das klassische lateinische System zur Grundlage nimmt. Das Standardlateinische unterschied fünf Vokale nach ihren Artikulationsstellen, die nach Länge und Kürze differenziert waren. Es standen somit insgesamt zehn Vokale in Opposition zueinander. Die Quantitätsoppositionen bestanden ebenso zwischen Lexemen, z. B. in mălŭm ‚Übel‘ und mālŭm ‚Apfel‘, wie zwischen Morphemen, z. B. dem Nominativ rŏsă und dem Ablativ rŏsā. In den vulgärlateinischen Vokalsystemen gehen die Quantitäten verloren. Die dem Vulgärlatein gemeinsamen Neuerungen bestehen im Übergang von einem quantitativen zu einem qualitativen System. Unter den Neuerungen sind [ɛ] und [e], [ɔ] und [o] den meisten neuen Systemen gemeinsam. Das System, das die weiteste Verbreitung erlangt, ist das so genannte vulgärlateinische Vokalsystem:
Abb. 4.2: Das „vulgärlateinische“ Vokalsystem
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4 Die lateinische Sprache
Die Phonologie des Vulgärlateins musste aus Mangel an Belegen rekonstruiert werden. Die dabei angewandte vergleichende Methode brachte es mit sich, dass man von einer gegenwartsnahen Dokumentation der romanischen Sprachen und Dialekte ein ganzes Phonemsystem auf einmal rekonstruierte. Ein allmählicher Übergang vom vulgärlateinischen Ausgangssystem zu den romanischen wurde nicht in Betracht gezogen, sondern als allgemeiner Wandel von den lateinischen Vokalquantitäten zu den romanischen Vokalqualitäten aufgefasst (Lausberg 1939, 21963: 144–211). Die Interpretation der Entwicklung des Vokalsystems vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen wurde von Weinrich (1958: 12–42), Lausberg folgend, als „Quantitätenkollaps“ dramatisiert und ist zur herrschenden Lehre geworden. Wir werden uns gleich mit dem Problem auseinandersetzen, ob der Lautwandel im Vokalismus wirklich als Quantitätenkollaps erklärt werden sollte. Betrachten wir jedoch zuerst die Sprachzeugnisse, die Herman (31975: 37–38) zitiert und die den Wandel der Quantitäten belegen. Im dritten Jahrhundert beklagt der Grammatiker Sacerdos die Verkürzung der langen Silben im Auslaut. Es ist interessant, dass zuerst die unbetonten Vokale ihre Quantität verloren haben. Im 5. Jahrhundert meint der Grammatiker Sergius schon: „Syllabas natura longas diffile est scire“ (‚Welche Silben von Natur aus lang sind, ist schwer zu wissen‘). Dieses Zeugnis stellt fest, dass der Unterschied zwischen langen und kurzen Silben generell nicht mehr gemacht wird. Augustinus schreibt über das afrikanische Latein im 4. Jahrhundert: „Afrae aures de correptione vocalium vel productione non iudicant“ (De doctrina christiana IV, 24; ‚afrikanische Ohren vermögen nicht zwischen kurzen und langen Vokalen zu unterscheiden‘). Mit der Entphonologisierung der Vokalquantität geht die Quantität als solche nicht unter. Sie wandelt sich nur von einer distinktiven zu einer redundanten Eigenschaft der Silbe. Dazu eine Äußerung des Grammatikers Consentius aus dem 5. Jahrhundert ebenfalls über einen Aussprachefehler der Afrikaner: „quidam dicunt piper producta priore syllaba, cum sit brevis“ (‚Manche sprechen piper mit einer gelängten ersten Silbe aus, obwohl sie doch eigentlich kurz ist‘; Díaz y Díaz 21962: 92). Wir erfahren, dass offene Silben länger ausgesprochen werden, und man muss sicher hinzufügen: länger als geschlossene Silben. Zu den langen und kurzen Silben des klassischen Lateins kommen Nasalvokale hinzu, z. B. in rosam und filium. Bei Entnasalierung blieb in diesen Fällen eine Ersatzdehnung erhalten. Bei -um ist insbesondere wichtig, dass dieser Vokal erst spät, wenn überhaupt, zu -o wurde (H. Lüdtke 22009: 65–72). Ungeklärt bleibt bei der Interpretation des Übergangs von standardsprachlichen Quantitäten zu gemeinsprachlichen Qualitäten als Quantitätenkollaps, wie der Übergang vom klassischen dreistufigen Vokalsystem zu einem – in den Sprachen der Welt außerordentlich seltenen – angeblich fünfstufigen System zu erklären ist, und warum der Wandel dieses Systems auf einmal eintritt, während doch der sonst feststellbare Sprachwandel immer graduell verläuft. Ein in Form einer Katastrophe stattfindender Wandel würde eine ganz besonders gute Begründung erfordern. Ungeklärt
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bleibt auch, warum die Resultate der Entwicklung in der Romania so verschieden sind. Betrachtet man die schematische Darstellung (1), so ergibt sich daraus die implizite Annahme, dass die Entwicklung der betonten Vokale allein auf der paradigmatischen Achse stattgefunden hätte. Unter den Linguisten, die sich in den letzten Jahrzehnten dem Problem der Metaphonie gewidmet haben (z. B. Maiden 1991, H. Lüdtke 22009: 492–515), greife ich Krefeld heraus. Krefeld hat die Auffassung vom Quantitätenkollaps einer kritischen Revision unterzogen, indem er neben den paradigmatischen die syntagmatischen Beziehungen (cf. 2.1.7) berücksichtigt, in denen die Vokale stehen (Krefeld 1995, 1999). Sie erlauben die Erklärung der heutigen Vokalsysteme als progressive Verallgemeinerung von Erscheinungen des durch syntagmatische Bedingungen herbeigeführten Wandels, der damit die Entstehung verschiedener Arten von Verallgemeinerung in den heutigen romanischen Sprachen begreiflich macht. Die Grundlage der syntagmatisch motivierten Argumentation ist die Metaphonie oder der Umlaut. Wir erläutern sie mit einem Beispiel aus dem Portugiesischen, einer Standardsprache, in der die Metaphonie als Ergebnis eines diachronischen Prozesses immer noch präsent ist. (Krefeld betont dagegen, dass diese Bedingungen in anderen weit verbreiteten romanischen Standardsprachen – dem Französischen, Italienischen und Spanischen – seltener vorkommen als in den romanischen Dialekten, insbesondere den italienischen.) Wenn einem betonten Vokal ein -a, -e oder -o folgt, wird eine eher offene Variante realisiert; wenn -i oder u folgen, wird eine eher geschlossene Variante produziert. Infolgedessen werden die im Portugiesischen als novo ‚neu, jung‘, das auf [u] auslautet, und nova geschriebenen Formen phonetisch als [ˈnovu] und [ˈnɔvɐ] realisiert. Im Portugiesischen ist die Metaphonie heute lexikalisiert. Im Rumänischen dagegen ist die Metaphonie ein synchronisch angewandtes Verfahren (2.2.1.6). Das synchronische Wirken ist daraus zu entnehmen, dass die Metaphonie auf neu gebildete und neu entlehnte Wörter angewandt wird. Betonte Vokale werden mit offenen Vokalen der auslautenden Silbe durch Diphthongierung in Einklang gebracht und geschlossene Vokale mit geschlossenen auslautenden Vokalen, z. B. oa – ă in poartă ‚Tür‘ und porţi ‚Türen‘. Die Metaphonie wird auf der syntagmatischen Achse durch eine Konsonantenkonditionierung verstärkt (t – ă vs. ţ – i) und auch in Entlehnungen verallgemeinert. So lautet die dritte Person Indikativ Präsens von a convoca ‚einberufen‘ nicht convocă, sondern convoacă. Je länger ein Wort im Rumänischen existiert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Metaphonie angewandt wird. Dabei wirkt der Auslautvokal auf den Tonvokal zurück. Zum Vergleich führe ich das Türkische an, in dem die Vokalharmonisierung synchronisch funktioniert. Während aber bei der Metaphonie die geschlossenen Vokale [i] und [u] der Auslautsilbe eine Schließung des vorangehenden betonten Vokals bzw. die offenen Vokale der Auslautsilbe eine Öffnung herbeiführen, wirkt bei der Vokalharmonisierung die vorangehende Silbe auf die nachfolgende fort. Die Vokalharmo-
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nisierung wirkt progressiv. Es harmonisieren die vorderen Vokale e i ö ü und die hinteren Vokale a ı o u miteinander. Das Türkische ist eine agglutinierende Sprache, in der Endungen oder Suffixe mit dem letzten Vokal des Lexems in Harmonie gebracht werden. Zum Beispiel hat das Pluralmorphem nach a im Lexem die Form -lar, nach ü die Form -ler wie in adam ‚Mann‘ → adamlar ‚Männer‘, Türk‚ Türke, Türkin‘ → Türkler ‚Türken, Türkinnen‘. Kommen wir zum lateinischen Vokalsystem zurück. Dieses System, von dem die weitere Entwicklung ausgeht, verbindet quantitative mit redundanten qualitativen Unterschieden. Das klassische Latein kannte also nicht identische Vokale, die sich nur durch die Quantität unterschieden, das heißt, es hatte nicht
Abb. 4.3: Die quantitativen Unterschiede der lateinischen Vokale
sondern kombinierte sehr wahrscheinlich die quantitativen Unterschiede mit qualitativen:
Abb. 4.4: Die qualitativen Unterschiede der lateinischen Vokale
Nur waren die qualitativen Unterschiede redundant. Ich stelle zuerst in allgemeiner Weise und in groben Umrissen die Grundlinien des betonten Vokalismus im Lateinischen dar. Es ergibt sich daraus ein Vokalsystem, das in regional sehr differenzierter Weise verallgemeinert wird. Die am weitesten verbreitete Verallgemeinerung erfährt das so genannte vulgärlateinische Vokalsystem, das unter anderem der italienischen, französischen und spanischen Standardsprache zugrunde liegt. Das sardische Vokalsystem dagegen hat sich als ältestes vor der Konstituierung des allgemeinen (vulgär)lateinischen Vokalsystems gebildet, so auch das sizilianische Vokalsystem sowie süditalienische. Im Anschluss daran gebe ich Belege für die Lautentwicklungen in einer zusammenfassenden Tabelle. Nun zu den Grundlinien der rekonstruierten Entwicklung. Da klat. /i:/ und /u:/ überall erhalten bleiben, setzen wir nicht bei diesen Phonemen an, sondern bei den Phonemen, die sich gewandelt haben. Es ist anzunehmen und nach dem Befund der heutigen romanischen Sprachen und besonders der Dialekte plausibel, dass die Oppositionen zwischen /e:/ und /ɛ/ sowie zwischen /o:/ und /ɔ/ besonders wichtig waren (Krefeld 1999: 48). Die Entwicklung dieser vier Phoneme hatte, je nachdem ob -a, -e oder -o bzw. -i oder -u der Tonsilbe folgten, verschiedene Ergebnisse. Zugleich wird die Zahl der Vokalphoneme reduziert. Das Ergebnis der Kollision (d. h. des Zusammenfalls) ist das Aufgehen eines Phonems in einem anderen, das sich verallgemeinert, nicht jedoch die Schaffung eines neuen Phonems, das zwischen den beiden Phonemen läge. Die Kollisionen gehen in zwei Richtungen: In der einen werden die Vokale
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geöffnet, in der anderen geschlossen. Nehmen wir den Fall von /ı/ und /e:/. In einem System, das das geöffnete Phonem verallgemeinert, kollidieren /ı/ und /e:/ in /e/; in einem System, das die Vokale schließt, kollidieren sie in /i/ (Krefeld 1999: 41). Etwas Neues entsteht dabei also doch: Ein Phonem ohne distinktiven Quantitätenunterschied. Im folgenden Schema, das ich gegenüber Krefeld etwas verändere, entspricht die mittlere Zeile dem klassischen Latein, während die obere und die untere Zeile demselben vulgärlateinischen Zeitraum und Entwicklungsstand, der Phasenverschiebungen zulässt, entsprechen sollen:
Abb. 4.5: Die erste Entwicklungsphase des Vokalsystems
Diese erste Phase der Entwicklung eines neuen Vokalsystems beim Übergang vom Lateinischen zum Romanischen ist ein Mischsystem aus Quantitäten und Qualitäten. Der Quantitätenunterschied blieb bei /i:/ vs. /ɩ/ und bei /u:/ vs. /ʊ/ erhalten. Dagegen unterschieden sich /e/ und /ɛ/, /o/ und /ɔ/ nur noch durch den Öffnungsgrad. Bei /a/ wird der Unterschied der Quantität früh aufgegeben. Geben wir für die angenommene Entwicklung drei Belege. Es ist eine wichtige Gemeinsamkeit der Entwicklung, dass die Vokalqualität überall aufgegeben wird. Diese Entwicklung haben wir oben durch Kommentare belegt. Kommen wir aber zu Indizien für die Metaphonie im klassischen Latein selbst und in den Inschriften. Die lateinische Schrift gibt eventuelle Metaphoniephänomene nicht wieder (cf. H. Lüdtke 1988: 63). Sie erscheinen jedoch in manchen Verfahren der lateinischen Wortbildung. Zu consul ‚Konsul‘, → consulere ‚Rat halten‘ wird mit einer durch -i-um bewirkten regressiven Harmonisierung das Prädikatnomen (2.3.2.1) consilium ‚Plan, Überlegung‘ gebildet. Während zu incolere ‚bewohnen‘ das Nomen agentis incola ‚Bewohner‘ mit unverändertem Vokal gebildet wird, weist das ebenfalls von incolere ausgehende inquilinus ‚Insasse‘ eine regressive Vokalharmonisierung bzw. Metaphonie auf. Das nach demselben Verfahren wie consilium von tegere ‚decken‘ gebildete tugurium ‚Hütte‘ harmonisiert den Vokal zu -u- unter dem Einfluss des auslautenden -i- und -u- (cf. die etwas anderen Erläuterungen von Krefeld 1999: 73). Die Entwicklung geht weiter als die durch die übliche Metaphonie bedingten. Nach diesem ersten Indiz geben wir das zweite, das auf die Auswertung von Inschriften zurückgeht. Diese sind meist in einer sehr einheitlichen und standardnahen Orthographie geschrieben. Die Abweichungen, die man feststellt, sind nicht für eine bestimmte Region spezifisch. Was den Vokalismus angeht, steht des Öfteren ein e für ein standardsprachliches i oder eher ein i dort, wo man aufgrund
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der romanischen Entwicklung eher ein e erwarten würde. Die Schreibung variiert also in beide Richtungen. Da die auf diese Weise belegten Vokale im Widerspruch zu den rekonstruierten standen, hat man sie in der romanischen Lautgeschichte unberücksichtigt gelassen. Wer aber mit Quellen aus verschiedenen romanischen Epochen umgegangen ist, weiß, dass gerade selten gemachte Fehler ganz besonders aufschlussreich sind, wenn man schlichte Schreibfehler (lapsus calami) einmal ausklammert. Die seltenen Fehler zeigen, dass ein hohes Normbewusstsein besteht. Wenn aber dennoch nicht normgemäß geschrieben wird, ist dies entweder mangelnder Aufmerksamkeit zuzuschreiben, die ein Phänomen der gesprochenen Sprache zur Niederschrift kommen lässt, oder der Schreiber kennt die Norm im konkreten Fall nicht. Die Variation i ~ e verliert oft dann ihr Geheimnis, wenn sie als Ausdruck der Metaphonie interpretiert wird. Für eine Gesamtinterpretation der Vokalvariation in Inschriften wären noch weitere Kriterien zu diskutieren. Hier beschränke ich mich nur auf den Fall einer eventuellen Metaphonie. Für ē ist i belegt z. B. in Aurilius, ecclisia (cf. frz. église), ficit (cf. frz. il fit) (Mihăescu 1978: 172). Hier kann das -i- der Auslautsilbe schließend gewirkt haben. In anderen Fällen wird ĭ zu e geöffnet wie in infelicessime, verginae (für virgini) (Mihăescu 1978: 175). Statt ō findet sich u in defensuri, sarturi, urnat, ustium (cf. it. uscio, frz. huis; für ostium ‚Tür‘) (Mihăescu 1978: 178–179). Die Belege für o statt ŭ überraschen weniger, da sie sich in das übliche Bild einfügen: alonnus für alumnus, avonculus, secondo (Mihăescu 1978: 180; cf. Krefeld 1999: 77–95). Sie entsprechen einer Verallgemeinerung der Vokalöffnung. In pompejanischen Wandinschriften wird der Öffnungsgrad mit den griechischen Buchstaben ε und ω wiedergegeben. Dies ist durch den Kontakt mit dem Griechischen zu erklären. Das dritte Beispiel ist ein dialektales Fossil, auf das hier nur verwiesen wird. Um das rekonstruierte Vokalsystem plausibel zu machen, ist es ein außerordentlicher Glücksfall, dass es Krefeld gelungen ist, ein die betonten Vokale bei auslautendem -a, -e, -o öffnendes und bei auslautendem -i, -u schließendes Vokalsystem tatsächlich dokumentieren zu können. Dies wurde ermöglicht durch die Auswertung von Sprachkarten des Sprach- und Sachatlasses Italiens und der Südschweiz (1928–1940) von Jaberg und Jud. Im südumbrischen Norcia konnte er die Phänomene gleichzeitig feststellen, die an anderen Orten in unterschiedlichen Stufen der Verallgemeinerung existieren (Krefeld 1999: 57) Von dem in (4) dargestellten Stand aus ging die weitere Entwicklung in verschiedene Richtungen. Ältere Verallgemeinerungen von Metaphonien sind im Sardischen und im Rumänischen erhalten, jüngere sind die Schließung von /e:/ und /o:/ zu /e/ und /o/, die durch die geschlossenen Auslautvokale -i und -u bedingt sind:
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Abb. 4.6: Die späteren Entwicklungen des Vokalsystems
„In einem kleineren Teil der Romania, der Sardinien, Süditalien und partiell die Ostromania umfaßte, wurde zunächst die Quantität völlig aufgegeben. Die verbliebenen distinktiven Kürzen ĭ und ŭ […] kollidierten daraufhin mit den langen und extrem geschlossenen Oppositionsgliedern ī und ū in harmonisierungsunabhängigen rom. i bzw. u. Die Harmonisierungsprozesse wurden jedoch auf die anderen ‚mittleren‘ Vokale ausgeweitet; analog zur Schließung von ɛ und ɔ (vor -i/-u) wurden die Vokale e und o vor offenem Auslaut (-a/-e/-o) geöffnet. Distinktivität des Öffnungsgrades im segmentphonologischen Sinn besteht bei den mittleren Vokalen nicht mehr […]. Damit ist der innovative sardische Sonderweg beschrieben […]. Im Rest der Romania blieben die ausschließlich auf der Quantität beruhenden Oppositionen ī : ĭ und ū : ŭ […] zunächst noch bestehen. Die harmonisierende Bindung der Vokale wurde ausgebaut; sie erfaßte nicht mehr nur die im Öffnungsgrad unterschiedenen e : ɛ, o : ɔ, sondern alle Vokale außer a, ī, ū – auch die beiden Vokale mit distinktiver Kürze (ĭ/ŭ). Die beiden ‚problematischen‘ Vokale ĭ und ŭ wurden also nicht grundsätzlich, sondern nur vor offenem Auslaut geöffnet; in Verbindung mit geschlossenen Auslautvokalen blieb die geschlossene Qualität bei distinktiver Kürze von ĭ und ŭ erhalten. Komplementär dazu wurden ē, ō im Rahmen desselben phonologischen Prozesses vor geschlossenem Auslaut zu ĭ, ŭ geschlossen. Es ergibt sich so, in komplementärer Arealdistribution zum Sardischen, ein Vokalsystem, aus dem sich alle anderen romanischen Lösungen beinahe selbstverständlich ergeben“ (Krefeld 1999: 48–49).
Schließlich wird der Quantitätenunterschied von /i:/ vs. /ɩ/ und /u:/ vs. /ʊ/ bei nachfolgendem -i und -u aufgegeben, es werden aber die betonten Vokale vor öffnenden Auslautvokalen verallgemeinert. Dies entspricht der oberen Reihe in (5). Diese Veränderungen führen zu dem vulgärlateinischen Vokalsystem, das den meisten romanischen Standardsprachen zugrunde liegt:
Abb. 4.7: Die Qualitäten des vulgärlateinischen Vokalsystems
Die Metaphonie konnte nur so lange wirken, wie -i und -u in der Auslautsilbe erhalten blieben. Da die Auslautvokale von Gallien bis zur Pyrenäenhalbinsel von den fünf Vokalen i e a o u auf die drei Vokale e a o reduziert wurden, verschwand in diesem Raum die Bedingung für das Wirken der Metaphonie (H. Lüdtke 22009: 510). Es gibt aber auch eine Verallgemeinerung desjenigen Teilsystems, das durch die Wirkung von nachfolgendem -i und -u bedingt ist. Dies geschieht im „siziliani-
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schen“ Vokalsystem. Es entspricht der unteren Reihe der Vokalphoneme im Schema (5). Wichtig für die Bewahrung der sizilianischen Metaphonie ist, dass -i und -u dort erhalten blieben. An dieser Stelle dokumentiere ich die Entwicklungsergebnisse in den romanischen Sprachen. Da wir immer auf Beispiele zurückgreifen müssen, gebe ich eine Liste, die mit dem Rumänischen, Sardischen, Sizilianischen und Portugiesischen leichter die Metaphonien zeigt, als die weit verbreiteten. Die Beispiele enthalten betonte Vokale und nach Möglichkeit den Unterschied zwischen offener und geschlossener Silbe (anders ausgedrückt: zwischen freier und gedeckter Stellung des Vokals) sowie -a, -e und -o oder -i, -u in der auslautenden Silbe:
Abb. 4.8: Beispiele für die Entwicklung der Vokale
Den Entwicklungen dieser Tabelle liegen die folgenden lateinischen Formen und Bedeutungen zugrunde: filum n. ‚Fadenʻ, spinam f. ‚Dornʻ, nigrum m. ‚schwarzʻ, nigram f. ‚schwarzʻ, telam f. ‚Gewebeʻ, velum n. ‚Segelʻ, petram f. ‚Steinʻ, herbam f. ‚Stengel, Krautʻ, ferrum n. ‚Eisenʻ, salem m. oder sal n. ‚Salzʻ, -atum m. als Endung des Partizip Perfekt, caballum m. ‚Pferdʻ, latus n. ‚Seiteʻ, rotam f. ‚Radʻ, potet 3. Pers. Präs. Aktiv ‚kannʻ, novam f. ‚neuʻ, novum m. ‚neuʻ, portam f. ‚Torʻ, porcum m. ‚Schweinʻ, buccam f. ‚Backeʻ, puteum m. ‚Grube, Brunnenʻ, murum m. ‚Mauerʻ. Die Metaphonie charakterisiert die romanische Morphologie in verstärkter Weise in den Sprachen, die das Phänomen heute noch kennen oder früher einmal gekannt haben. Im Nominalsystem wird der Genus- und Numerusunterschied dadurch ein weiteres Mal markiert, im Verbalsystem erhält die Kategorie der Person eine doppelte
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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Markierung. Dieses Verfahren ist in einzelnen Formen auch in den Sprachen erhalten, die die Metaphonie ansonsten nicht mehr kennen: feci > frz. je fis, sp. hice. Für Meyer-Lübke war es eine Hauptaufgabe der historischen romanischen Sprachwissenschaft, „vor allem die Sprachverhältnisse in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung aufzuhellen“ (31920: 64). Bei der Erörterung der Rekonstruktion hatten wir nun hervorgehoben, dass bei der zu diesem Zweck angewandten vergleichenden Methode selbst und der daran anschließenden Interpretation zu unterscheiden ist. Die vergleichende Methode ist unbedingt durch die Auswertung und Interpretation von allen verfügbaren direkten Quellen zu ergänzen. In der Tat sollte man die Rekonstruktion nie auf den Sprachvergleich allein stützen, wenn direkte Zeugnisse verfügbar sind. Das Graphem ae ist höchstwahrscheinlich monophthongisch (Schönberger 2016) und in vulgärlateinischer Zeit als [ɛ] zu interpretieren; dieser Laut ist gemeinromanisch und macht unterschiedslos die Entwicklung von kurzem lateinischen e aus anderer Herkunft mit. Das Graphem au gibt dagegen einen Diphthong wieder, der zum Beispiel im Rumänischen und Okzitanischen erhalten bleibt. So existiert der Diphthong in taurum ‚Stier‘ und aurum ‚Gold‘ in rum. okz. taur, aur weiter. In anderen Sprachen erreicht er die Phase ou, so in gal. pt. ouro, touro. Vom 2. Jahrhundert an sind in Italien und andernorts Formen mit prothetischem i- belegt wie in iscola, isperatus, ispirito (Mihăescu 1978: 193). Beim unbetonten Vokalismus tritt in den Zwischentonsilben früh Synkope ein, z. B. calida von calda ‚warm‘ schon in der Appendix Probi. Die Auslautsilben werden abgeschwächt. Dies drückt sich darin aus, dass die nasalierten Vokale entnasaliert werden und der Quantitätenunterschied bei den Auslautvokalen aufgegeben wird. Das Ergebnis sind die fünf Vokale i e a o u. Diese Vokale wurden weiter reduziert, im Toskanischen bzw. der italienischen Standardsprache und im Rumänischen auf i e a o, in den meisten romanischen Sprachen blieben als Vorstufe einer weiteren Entwicklung drei Vokale übrig, d. h. entweder e a o wie im Portugiesischen und Spanischen oder i a u. 4.5.1.3 Konsonantismus Der Wandel der Konsonanten hat ganz andere Auswirkungen als der Wandel der Vokale. Die Vokale stehen in einer Wechselwirkung zum Kasussystem, da ihre Quantität einige Kasus unterscheidet. Der Abbau der Quantität führt zum Abbau der Kasusunterschiede und zum Ausbau und zur häufigeren Verwendung von Präpositionen. Der Wandel der Konsonanten dagegen schafft, sprachgeographisch betrachtet, Neuerungsareale gegenüber Sprachräumen, die die Neuerungen nicht mitmachen. Ein neuer Sprachraum kann sich also sowohl durch gemeinsame Innovationen im Konsonantismus konstituieren als auch durch gemeinsame Konservationen. Durch beides wird der Abstand zwischen den romanischen Varietäten und Sprachen vertieft, ohne dass damit ein Wandel in der Grammatik verbunden sein muss. Die Phänomene,
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4 Die lateinische Sprache
die ich aus dem Konsonantismus auswähle, sind daher solche, die geeignet sind zu zeigen, wie sich ein neuer Abstand in der Romania herausbildet. Soweit dies zutrifft, werden auch grammatisch relevante Konsonanten betrachtet. Die Konsonanten nehmen eine je andere Entwicklung nach ihrer Position im Wort als einfache Konsonanten im Anlaut, als Konsonantengruppen im Wortanlaut und Wortinlaut sowie als Konsonantengruppen, die durch Synkope entstehen. Dabei bedenke man die allgemeinen Bemerkungen in 1.3 und 2.2, so schematisch sie auch sein mögen. Das Bild wird allein schon dann komplexer, wenn man berücksichtigt, dass der Sprachwandel in Gestalt von intensiven Verallgemeinerungen in der Sprache selbst und extensiven Verallgemeinerungen bei den Sprechern verläuft (1.2.1.4). /h/ ist bereits zu klassischer Zeit sehr instabil, wie die pompejanischen Inschriften zeigen. /w/, geschrieben oder , kann sich zur bilabialen Aussprache [β] entwickelt haben, denn es gibt Schreibungen wie bixit für vixit oder iubenis für iuvenis. Der Unterschied von /k/ und /g/ hat sicher schon lange existiert. Man schrieb aber zunächst beide Phoneme mit wie /g/ in Caius. Früh existierte bereits die Distribution der Varianten von /k/: [k] in caro, [kˈ] in Cicero, später [tʃ] für die zweite Variante (Meillet 1928: 250). Erst als sowohl [k] als auch [tʃ] mit [i] kombiniert werden konnten, war /tʃ/ als Phonem zu betrachten. Dies ist der Fall im Italienischen. Die Aufgabe einer hiatischen Aussprache von -i- führte schon in der Kaiserzeit Palatalisierungen herbei, z. B. in iustitia, medium (Meillet 1928: 250–251). Die anlautenden Konsonanten k- und g- entwickelten sich also verschieden, wenn vordere ([i, e, ɛ], hintere Vokale ([u, o, ɔ]) oder der mittlere Vokal [a] folgten (cf. 1.3.2). Die vorderen oder Vorderzungenvokale, deren Resonanzraum sich unterhalb des harten Gaumens (Palatum) befindet, bewirken, dass sich die Aussprache von [k] und [g] dieser Artikulationsstelle annähert, d. h., vereinfachend gesagt, palatalisiert wird, indem sich die Lösung des Verschlusses verlangsamt und eine Reibung entsteht: [k] > [tç] > [tʃ], das in manchen Sprachen zu [ʃ] wird; in anderen entwickelt sich [tç] zu [ts] > [s]; und analog [g] > [dj] > [dʒ] > [ʒ] bzw. [dj] > [dz] > [z], wie z. B. in caelum ‚Himmel‘: sard. chelu
rum. cer
it. cielo
frz. ciel
kat. cel
sp. cielo
pt. céu
Das Sardische wird erwähnt, weil es diese Entwicklung nicht mitmacht, also [k] bewahrt, das Rumänische und das Italienische entwickeln diesen Laut zu [tʃ] und die übrigen Sprachen zu [ts], ausgenommen das Spanische, das von [ts] zum interdentalen Frikativ [θ] in Spanien gelangt, während das amerikanische Spanisch diesen Frikativ zum Sibilanten [s] wandelt. Wie aber campum ‚Feld‘ und generum ‚Schwiegersohn‘ in sard. campu gheneru
rum. câmp ginere
it. campo genero
frz. champ gendre
kat. camp gendre
sp. campo yerno
pt. campo genro
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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zeigen, werden in frz. champ und gendre [k] und [g] auch dann palatalisiert, wenn ein [a] folgt. Dies geschieht bei [k] ebenfalls in einem Teil des Bündnerromanischen, allerdings nicht im Fall von campum, sondern z. B. in caput ‚Kopf‘ > surs. tgau. Im Spanischen wird der Abstand zum ursprünglichen Laut, ausgehend von der Phase [dj], mit [j] noch vergrößert. Im Französischen wird [g], gefolgt von [a], zu [dʒ] > [ʒ] wie in gaudia (als Plural von gaudium ‚Freude‘) > joie. Weitere Palatalisierungen entstehen im Wortinlaut, die hier im Zusammenhang mit den vorigen behandelt werden, weil diese Lautentwicklung für einige romanische Sprachen charakteristisch ist. Die Voraussetzung dafür ist der Ausfall der Mittelsilben zwischen zwei Konsonanten, die „Synkope“. Sie liegt z. B. schon früh vor bei oculum ‚Auge‘ und vetulum ‚alt‘, in denen -cul- und -tul- zu -c’l- -t’l- werden. (Dies sind nicht die einzigen Fälle von Synkope; es gibt noch weitere, die nicht besprochen werden, z. B. viridem ‚grün‘ > rum. it. sp. pt. verde, frz. vert; calidum ‚warm, heiß‘ > rum. cald, it. caldo, frz. chaud.) Beide Synkopen sind zusammengefallen, ohne dass man entscheiden kann, ob /kl/ von Anfang an oder erst später dominierte. Hier eine kleine Auswahl aus den Entwicklungen in den Sprachen, die wir bevorzugt berücksichtigen:
-cul-tul-
rum. [kˈ] ochi vechi
it. [kkj] occhio vecchio
frz. [j] œil vieil
kat. [ʎ] ull vell
sp. [χ] ojo viejo
pt. [ʎ] olho velho
Als Zwischenstufen nimmt man -c’l-, -g’l-, -l’j- an. Frz. vieil erscheint mit [j] in vieil homme ‚alter Mann‘ und im Femininum vieille; die übliche maskuline Form vieux ist das Ergebnis eines morphologischen Ausgleichsprozesses zwischen Casus rectus und Casus obliquus (cf. zum Kasus 4.5.2.1). Im Spanischen (Kastilischen) geht die Entwicklung weiter bis zu [ʒ] und in der Neuzeit bis zu [χ]. In einigen Sprachen werden ferner die Konsonantengruppen -ct-, -pt- und -gnpalatalisiert. Soweit -ct- und -pt- in -pt- zusammenfallen, setzen sie sich in /pt/, einem langen /tt/ und gebenenfalls in /t/ fort, wie in noctem ‚Nacht‘ (Nominativ nox) und lacte ‚Milch‘ (Nominativ lac) in rum. noapte, lapte, sard. it. notte sowie mit /t/ z. B. in frl. gnot und lat. Palatalisierungen sind hingegen gegeben in /it/ und /tʃ/, z. B. pt. noite, leite, kat. nit, llet, frz. nuit, lait, okz. nuech, liech, sp. noche, leche. Der Nexus -gn-, [ŋn] ausgesprochen (H. Lüdtke 22009: 377), wurde zu /mn/, /nn/, /ɲ:/ oder /ɲ/, wie in cognatum ‚Verwandter‘, später ‚Schwager‘ > rum. cumnat, sard. konnatu, it. cognato und kat. cunyat, sp. cuñado, pt. cunhado. Da das Französische cognatum nicht fortsetzt, wird die Entwicklung zu /ɲ/ mit agnellum ‚Lamm‘ > agneau exemplifiziert. Wie bei den Vokalen kennt das Lateinische auch bei den Konsonanten einen Qualitätsunterschied. Die langen (geminierten) Konsonanten können degeminiert werden und die kurzen erfahren einen qualitativen Wandel, d. h. sie können sonorisiert werden. Zu [β] < -p-, -b- ist zu bemerken, dass in diesem Laut [b] und [w] zusam-
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menfallen können. Den gesamten Prozess kann man schematisch und vereinfachend in drei Phasen darstellen (dazu H. Lüdtke 22009: 338–354, der sich auf die Diskussion in der Fachliteratur stützt). Die erste Phase ist im folgenden Schema die lateinische, die zweite und die dritte stellen zeitlich versetzte romanische Phasen dar. Es kann dabei Konservationen der lateinischen Verhältnisse geben, die sich am stärksten in süditalienischen Dialekten finden oder unterschiedliche Innovationen. Die Wortbeispiele können nur ungefähr die Entwicklungstufen widerspiegeln, von denen auch nicht alle Möglichkeiten belegt werden:
Abb. 4.9: Die Entwicklung der intervokalischen Verschlusslaute
Die zitierten Wörter haben die folgenden Bedeutungen: guttam ‚Tropfen; Gicht‘; rotam ‚Rad‘; videre ‚sehen‘; cippum ‚Grenzstein, Pfahl‘, mit sehr verschieden Entsprechungen in den romanischen Sprachen wie ‚Wurzelstock‘ (it.), ‚Zapfen‘ (rum.), ‚Baumstamm‘ (okz.), ‚Weinstock‘ (kat., frz.), ‚Ast; Klotz‘ (sp.), ‚Stumpf; Klotz‘ (pt.); sapere ‚schmecken; verstehen‘, ‚wissen‘ (rom.); habere ‚haben‘, auch romanisch; vaccam ‚Kuh‘, auch romanisch; securum ‚sorglos‘, ‚sicher‘ (rom.); plagam ‚Hieb; Wunde‘, ‚Wunde‘ (it., frz., kat., sp., pt. ‚Plage‘, rum. ,Plage‘, auch rom.). Ein weiterer langer Konsonant im Wortinlaut, der in einigen romanischen Sprachen palatalisiert wird und zwar im Katalanischen und Spanischen, ist -nn- wie in cannam ‚Rohr‘; er wird mit der Entwicklung von -n- in lanam ‚Wolle‘ verglichen:
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
rum. – –
it. canna lana
frz. canne laine
okz. cana lana
kat. canya llana
sp. caña lana
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pt. cana lã
Für die fehlenden Entsprechungen im Rumänischen lassen sich annum ‚Jahr‘ > an und lunam ‚Mond‘ > lună anführen. Schließlich seien die Entwicklungen von -rr- und -r- sowie -ll- und -l- am Beispiel von terram ‚Erde‘, ceram ‚Wachs‘, bellam f. ‚schön‘ und caelum ‚Himmel‘ in Parallele gesetzt: rum. ţarǎ − − cer
it. terra cera bella cielo
frz. terre cire belle ciel
okz. terra cera bèla cèl
kat. terra cera bella cel
sp. tierra cera bella cielo
pt. terra cera bela céu
Palatalisierungen zu [ʎ] liegen bei -ll- im Katalanischen und Spanischen vor. Da sich im Rumänischen cera und bellus nicht fortgesezt haben, nehmen wir ersatzweise pirum ‚Birne‘ > pira N.Pl. > piram > parǎ und caballum ‚Pferd‘ > cal. Das auslautende -s dient im Lateinischen der Markierung des Plurals im nominalen Bereich und der 2. Person beim Verb, weshalb seiner Erhaltung oder seinem Wandel eine besondere Bedeutung zukommt. Für die Entwicklung des Plurals beim Femininum, die zuerst zu einer Verallgemeinerung der Form des Akkusativs für den Nominativ führt, z. B. portas statt portae, ist vorauszuschicken, dass bereits beim Singular des Femininums nicht mehr zwischen Nominativ und Akkusativ unterschieden werden konnte, weil dieser Unterschied wegen der Entnasalierung von -am unterging, so dass z. B. porta und portam in porta zusammenfielen. Diese formale Identität wurde auf den Plural übertragen, so dass -as für den Nominativ, den Akkusativ und nach Präpositionen stand. Auf Sardinien, in Gallien und auf der Iberischen Halbinsel scheint dies die Entwicklung zu sein, weil -s erhalten bleibt wie in sard. portas, pt. portas, sp. puertas, kat. afrz. portes. In Italien und Rumänien enden heute jedoch die Plurale der femininen Substantive auf -e bzw. -i. Zum einen versucht man den Plural direkt auf -e zurückzuführen, also it. porte und rum. porţi auf portae. Diese Erklärung lässt aber außer Acht, dass die genannten Formen noch nicht einmal im Toskanischen die einzigen sind. Daher wird von vielen Sprachhistorikern der Plural auf -es als Ausgangsform in Erwägung gezogen. Zwei Erklärungen werden für die weitere Entwicklung angegeben, eine morphologische, die von der Ersetzung der Endung -as ausgeht, oder eine phonetische, die einen Lautwandel -a > -e annimmt. Es ist hier nicht der Ort, an dieser Stelle auf die komplexen Hypothesen einzugehen (dazu H. Lüdtke 22009: 181–187). Bei den anderen Deklinationsklassen setzt sich auf Sardinien und der Iberischen Halbinsel die Verallgemeinerung von -s fort, während im Italienischen und Rumänischen -e und -i verallgemeinert werden. Auch in diesem Fall werden phonetische und morphologische Entwicklungen als Erklärungen vorgeschlagen. Nur im Altokzitanischen und im Alt-
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4 Die lateinische Sprache
französischen bleibt -s sowohl im Nominativ Singular (Rectus) als auch im Akkusativ Plural (Obliquus) erhalten, so im Wort für ‚Sohn‘: aokz. lo filhs lo filh
li filh los filhs
afrz. li filz lo fil
li fil les filz
Im Allgemeinen mag die phonetische Lösung des Problems plausibler erscheinen, denn das -s bleibt im Italienischen und Rumänischen nicht nur im Plural nicht erhalten, sondern auch nicht in der 2. Person Singular und Plural der Verbalmorphologie. Man vergleiche cantas ‚du singst‘ > it. canti, rum. cânţi, cantatis ‚ihr singt‘ > it. cantate, rum. cântaţi mit z. B. sp. cantas und cantáis. 4.5.1.4 Wandel der Orthographie Die Kontinuität der Orthographie verdeckt zum Teil die Wahrnehmung einer Variation in der Distribution der Phoneme. Der Wortauslaut war eine schwache Position. Das in die klassische Orthographie aufgenommene -m hatte bereits einen prekären Status und verschwand aus der gesprochenen Sprache. Auch -s, besonders in -us, war bedroht und wurde wiederhergestellt (Herman 1996: 53). Weniger weit ging die Verstummung von -t, belegt in pompejanischen Wandinschriften: vinca, facian (Diehl 2 1930: 63, 78). Es gibt Hinweise darauf, dass die Schreibung mit einem gewissen Abstand dem Wandel der Aussprache folgte. Am bekanntesten sind die Abweichungen von der standardsprachlichen Schreibung in den Inschriften, die sicher als Fehler betrachtet wurden. Usuelle Fehler sind aber auch Hinweise auf einen Wandel in den Schreibgewohnheiten. In der Appendix Probi beziehen sich die Korrekturen auf die geschriebene Sprache. Die Ausdrücke vom Typ A non B meinen nicht, dass man A und nicht B sagen solle, sondern A und nicht B schreiben solle, denn wenn es vacua non vaqua, crista non crysta heißt, sind diese Ausdrücke schwerlich als Korrekturen gesprochener Sprache zu verstehen. Sie beziehen sich auf Fehler, die in älteren Bibelübersetzungen vorkamen (cf. Cabrera 1998: 13). Die der gesprochenen Sprache folgende volkstümliche Tradition bedingte in spätlateinischer Zeit eine regional verschiedene Schreibung. Ohne diese Annahme ist die unterschiedliche Verschriftung der romanischen Sprachen nicht zu erklären. Dabei greifen wohl mehrere Schreibtraditionen besonders vom 12. und mehr noch vom 13. Jahrhundert an ineinander: Die volkstümlichere Schreibung könnte dem Vorlesen gedient haben, das traditionelle Lateinisch hatte dagegen andere Aufgaben. Wir kommen auf die neue Verschriftung zurück (4.6.2–4.6.4).
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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4.5.2 Der Wandel des lateinischen Sprachtyps Die wichtigsten grammatischen Unterschiede zwischen dem Lateinischen und den romanischen Sprachen sind typologischer Art. Diese Aussage ist zunächst einmal unabhängig von den jeweiligen Vorstellungen von Sprachtypologie. In der romanischen Sprachgeschichte dominierten die Diskussion diejenigen Erscheinungsformen der Morphologie, die in der Vergangenheit auf den Kontakt mit anderen Sprachen, meist den germanischen zurückgeführt wurden. Am folgenreichsten war die Charakterisierung von Sprachen wie dem Lateinischen als „synthetisch“ und den romanischen Sprachen als „analytisch“ durch August Wilhelm Schlegel (1971/1818). Interner Wandel des Sprachtyps und Wandel durch Sprachkontakt schließen sich dabei nicht aus. Diese Auffassung wird bis heute vertreten. Es ist aber auch der Versuch unternommen worden, den typologischen Wandel als Entfaltung eines vom Lateinischen ausgehenden und in ähnliche Richtungen sich entwickelnden romanischen Wandels zu begreifen (Coseriu 1988), der über die Opposition synthetisch – analytisch hinausgeht. Die Idee von Sprachtypologie, die diesem Wandel zugrundeliegt, ist die der einzelsprachlichen Typologie. Für die Auswahl der grammatischen Wandlungsprozesse reicht es aus, wenn wir in dieser knappen Darstellung nur die typologisch wichtigen Veränderungen behandeln. Es ist erstaunlich, dass dieser Ansatz in der Literatur selten diskutiert wird. Eine Ausnahme macht Ledgeway (2011, 2015). Trotz seiner positiven Würdigung ersetzt er die Begriffe analytisch/synthetisch dann doch durch das Prinzip der Konfigurationalität, dem zufolge die Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken durch eine feste Satzgliedfolge kodiert werden. Er versteht dabei das Synthetische bzw. Paradigmatische als morphologisch und das Analytische bzw. Syntagmatische als syntaktisch (Ledgeway 2011: 388; 2015: 26–28); der damit verbundene funktionelle Unterschied bleibt dagegen unberücksichtigt. Außerdem vollzieht sich dieser Wandel nicht erst zum Romanischen hin, sondern die Innovationen sind bereits im Vulgärlatein angelegt. Bei diesem typologischen Wandel geht es um Veränderungen in verschiedenen Systembereichen, die einem gemeinsamen Prinzip folgen. Wenn man das synthetische Lateinisch und das analytische Vulgärlatein mit den romanischen Sprachen in dieser neueren Perspektive interpretiert, kann man sie mit der Unterscheidung von paradigmatischen gegenüber syntagmatischen Verfahren verdeutlichen (2.1.7). Auf der paradigmatischen Achse werden die Wörter oder Flexionsmorpheme bestimmt und sie stehen in Opposition zueinander. Sprecher wissen, dass ein Wort wie sp. día ‚Tag‘ in Opposition zu noche ‚Nacht‘ steht. Sie können diese Opposition aber auch als Kontrast auf der syntagmatischen Achse in día y noche in Erscheinung treten lassen. Ebenso impliziert días die Numerusopposition zu día – und umgekehrt. (Wenn im Englischen statt Opposition contrast verwendet wird, bleibt der Unterschied zwischen paradigmatisch und syntagmatisch unausgedrückt.) Während in diesen Beispielen die paradigmatische Bestimmung zum Ausdruck der Bedeutung der genannten Wörter und Formen ausreicht, brauchen wir in vielen anderen Fällen syntagmatische
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Bestimmungen, um dies zu erreichen. Im Französischen sind Singular und Plural in der Regel nur syntagmatisch bestimmt, so durch un, des, le, les in un jour, des jours, le jour, les jours. Die Orthographie, in diesem Fall die Markierung des Plurals mit -s, verdeckt diesen grundlegenden Unterschied gegenüber den anderen romanischen Sprachen, denn in allen diesen Fällen wird /ʒuʁ/ gesprochen. Die Formen des Artikels und der unbetonten Personalpronomina der dritten Person sind in vielen romanischen Sprachen formal identisch. Deshalb hatten wir den Unterschied zwischen der paradigmatischen und der syntagmatischen Achse mit diesen Formen erläutert (in 2.1.7). Die Bedeutungen von sp. los in los días ‚die Tage‘ und in los tomo ‚ich nehme sie‘ (wobei los sich auf ein maskulines Substantiv im Plural bezieht) sind nur syntagmatisch zu differenzieren. Wir haben es also mit zwei Arten von Bestimmungen zu tun, die man als „innere“ und „äußere“ Bestimmung voneinander unterscheiden kann: „Die paradigmatische Bestimmung ist also eine ‚innere‘ Bestimmung, sie erscheint in der Form selbst und gibt an, welchen Platz diese Form in einem Paradigma einnimmt; die syntagmatische Bestimmung dagegen ist eine ‚äußere‘ Bestimmung: Sie tritt nicht in der Form selbst in Erscheinung, sondern außerhalb, irgendwo in der chaîne parlée“ (Coseriu 1988: 210; dort kursiv).
Die inneren Bestimmungen erscheinen in den synthetischen Formen, die äußeren in den analytischen. Wenn man diese Termini beibehalten will, sollte man sie auf die Charakterisierung von Verfahrensweisen in sprachlichen Teilsystemen beschränken, nicht aber auf Sprachen als ganze beziehen, denn Sprachen sind in ganz unterschiedlichem Ausmaß analytisch oder synthetisch. Wir werden weiter unten darauf eingehen, dass ein wichtiger Bereich der romanischen Nominalformen, der Kasus, eher syntagmatisch bestimmt wird, dass die Verbformen dagegen eher paradigmatisch bestimmt werden. Da sich aber die paradigmatischen und die syntagmatischen Verfahren im Vulgärlatein und in den romanischen Sprachen die Waage halten, kann man sich mit Coseriu fragen, ob es im Vulgärlatein, also in der gesprochenen lateinischen Gemeinsprache, und in den romanischen Sprachen eine funktionelle Gemeinsamkeit der inneren, paradigmatisch bzw. synthetisch ausgedrückten Funktionsbestimmungen auf der einen Seite gibt und dem gegenüber eine funktionelle Gemeinsamkeit der syntagmatisch oder periphrastisch bzw. analytisch ausgedrückten Funktionsbestimmungen auf der anderen Seite. Die Antwort auf diese Frage nach einem „funktionell homogenen Gestaltungsprinzip“ gibt dieser Linguist mit der funktionellen Konstrastierung von Numerus und Genus einerseits, Kasus andererseits und kommt zu der Feststellung, die er das vulgärlateinische und romanische Gestaltungsprinzip der romanischen Sprachen genannt hat: „Nun, Singular und Plural, Maskulinum und Femininum sind sozusagen innere, nicht-relationelle, ‚nicht-aktuelle‘ Funktionen: Sie entsprechen der gedachten oder bezeichneten Wirklichkeit oder einer bereits vorhandenen sprachlichen Klassifizierung der Wirklichkeit, aber nicht der jeweiligen Relation, die man in einem Satz herstellt. Es handelt sich nicht um Funktionen
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‚im Satz‘, sondern um Funktionen der ‚Wörter‘ an sich. Ob ein Substantiv Maskulinum oder Femininum ist, ob man an eine Sache oder an mehrere Sachen denkt, ist unabhängig von den aktuellen Relationen, die innerhalb des Satzes hergestellt werden. Daher können Maskulinum und Femininum, Singular und Plural jede Nominalfunktion im Satz übernehmen, wie Subjekt, direktes Objekt, indirektes Objekt, denn sie sind von diesen Funktionen unabhängig. Die Kasusfunktionen hingegen sind ‚aktuelle‘, äußere, relationelle Funktionen, die eine der konkreten Ausdrucksabsicht entsprechende Relation innerhalb des Satzes herstellen. Eine Form wie patris z. B. impliziert einen Bezug auf eine andere Sache. Im Vulgärlateinischen und im Romanischen werden nun diese Funktionen vor allem durch äußere, syntagmatische materielle Bestimmungen ausgedrückt. Das Gestaltungsprinzip des Vulgärlateinischen und Romanischen lautet also in diesem Fall so: innere, paradigmatische materielle Bestimmungen für gleichfalls innere, nicht-relationelle Funktionen und äußere syntagmatische materielle Bestimmungen für gleichfalls äußere, relationelle Funktionen“ (Coseriu 1988: 212–213).
Wenn jemand neue Termini einführt, darf man eine gute Begründung dafür erwarten. Die Unterscheidung von synthetisch und analytisch beruht auf dem Unterschied von materiellen Bestimmungen, die entweder paradigmatisch oder syntagmatisch sind. Das Neue sind die unterschiedlichen Funktionen, die mit diesen verschiedenen Ausdrucksformen verbunden sind: die inneren Funktionen, die nicht-aktuell sind, und die äußeren Funktionen, die aktuell sind. Diese Funktionen sollen im Folgenden verdeutlicht werden. Der Sprachtyp ist eine Gestaltungsebene (1.4.5), die verschiedene Paradigmen der Grammatik zusammenfasst. So stellt man zum Beispiel unterschiedliche Verfahren im Bereich des Substantivs und des Verbs fest. Was man üblicherweise Sprachsystem nennt, folgt nicht genau denselben, sondern komplementären Strukturierungsprinzipien, wie es bei den Paradigmen des Substantivs und des Verbs der Fall ist. Zwar ist beiden grammatischen Bereichen die Flexion gemeinsam, d. h. die Markierung grammatischer Unterschiede durch Endungen, aber diese typologische Strukturierung ist sehr vielen Sprachen gemeinsam. Sie kann daher keinen spezifischen Sprachtyp begründen. Vergleicht man aber die Synchronie des Lateinischen auf der einen Seite und diejenige des Vulgärlateins und der romanischen Sprachen auf der anderen miteinander, stellt man erhebliche Unterschiede zwischen den Sprachzuständen fest. Der Typ des Vulgärlateins und der romanischen Sprachen wird in den Teilsystemen und diese wiederum in den Diskursen realisiert; es ist aber schwer zu erkennen, dass ein Sprecher, wenn er ein Teilsystem in seinem Diskurs realisiert, zugleich ein Prinzip eines Sprachtyps anwendet. Dazu ein Beispiel. Wenn ein Sprecher des Französischen sich gezwungen sieht, eine Prädikatnominalisierung zu sérieux ‚ernst(haft)‘ zu bilden, dann steht ihm nur die Konversion le sérieux ‚Ernst(haftigkeit)‘ zu Gebote. Er kann für sein Problem auch eine syntagmatische Lösung suchen und caractère sérieux sagen. Dieser Ausdruck erweckt den Anschein, ein Notbehelf zu sein. Gleichzeitig entspricht diese Lösung dem französischen Sprachtyp oder, wie man in der französischen Sprachgemeinschaft sagt, dem ‚Geist‘ (génie) des Französischen. Dass der Langzeitwandel in eine bestimmte Richtung gehen kann, hat man schon seit Langem beobachtet. Sapir (1949: 154–156) hatte dies mit dem Terminus drift aus-
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gedrückt. Damit soll nicht gesagt sein, dass darin eine Prognose für die zukünftige Entwicklung einer Sprache enthalten sein muss. Man stellt damit nur fest, dass der Sprachwandel bis zum Beobachtungszeitpunkt über einen sehr langen Zeitraum hinweg eine bestimmte Richtung genommen hat. Wir werden im Folgenden auf das typologische Prinzip in den einzelnen grammatischen Bereichen eingehen. 4.5.2.1 Deklination Die syntagmatische Bestimmung wird stärker bei den nominalen Formen eingeführt als bei den verbalen. Dabei müssen wir die substantivischen und die adjektivischen Lexeme von den Personalpronomina trennen, die als einzelne Formen erhalten bleiben. Das Lateinische kennt eine reiche Deklination bei Substantiven, Adjektiven und Pronomina mit den Kategorien Numerus, Genus und Kasus. Diesem Flexionsreichtum entspricht aber keine funktionelle Vielfalt. Die Kategorien Numerus und Genus sind nicht-relationell, der Kasus relationell. Den Unterschied kann ich wieder mit dem Nennen im Falle von Numerus und Genus und dem Sagen (1.4.5) beim Kasus erläutern. Alle drei Kategorien treten immer zusammen auf. Dennoch sind Numerus und Genus als Kategorien grundsätzlich unabhängig vom Kasus, denn sie implizieren keine Verwendung der Substantive als Subjekt, direktes Objekt, indirektes Objekt usw. Eine relationelle Funktion ist auch die Komparation beim Adjektiv. Im Vulgärlatein wird der Unterschied zwischen Numerus und Genus einerseits, dem Kasus andererseits stärker akzentuiert. Die Zahl der Kasus wird im Vulgärlatein abgebaut und in den romanischen Sprachen weiter reduziert. Im Allgemeinen führt die Entwicklung zum Verlust der Deklination. Nur im Rumänischen bleiben drei Kasus, im Altokzitanischen und Altfranzösischen zwei; in den heutigen romanischen Sprachen existiert der Kasus mit paradigmatischem Ausdruck daher nur noch im Rumänischen, die anderen haben ihn als Kategorie verloren. Wie sich der Ausdruck der drei Kategorien im Allgemeinen gewandelt hat, betrachten wir zuerst in der Reduktion der Deklinationsklassen.
Deklinationsklassen Die nominalen Kategorien Substantiv und Adjektiv erhielten je nach Themavokal ihren materiellen Ausdruck in fünf Deklinationsklassen. Dies sind die 1. oder a-Deklination (aqua, aquae f. ‚Wasser‘), die 2. oder o-Deklination (hortus, hortī m. ‚Garten‘, vinum, vinī ‚Wein‘), die 3. Deklination mit konsonantischen und vokalischen (i-) Stämmen (pater, patris m. ‚Vater‘, tempus, temporis n. ‚Zeit‘; turris, turris f. ‚Turm‘, mare, maris n. ‚Meer‘), die 4. oder u-Deklination (fructus, fructūs m. ‚Frucht‘, cornu, cornūs n. ‚Horn‘) und die 5. oder e-Deklination (diēs, diēi f. ‚Tag‘). Diese fünf Deklinationsklassen korrelieren nicht genau mit den nominalen Kategorien. Betrachten wir sie vom Genus her: Die a-Deklination umfasst Feminina und
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Maskulina, die o-Deklination Maskulina und Neutra, die 3. Deklination mit ihren konsonantischen und vokalischen Stämmen Maskulina, Feminina und Neutra, die u-Deklination Maskulina, Neutra und einige Feminina und schließlich die e-Deklination einige wenige Feminina und Maskulina. Alle drei Genera werden nach Genus, Numerus und Kasus dekliniert. Die fünf Deklinationen (oder 6, siehe die 3. Deklination, die in eine konsonantische und eine i-Deklination aufgespalten werden kann,) werden im Vulgärlatein auf drei reduziert.
Genus Das Lateinische kannte drei Genera beim Substantiv, beim Adjektiv und beim Pronomen: Maskulinum (hortus, pater, fructus), Femininum (aqua, domus, turris, dies, res) und Neutrum (vinum, mare, cornu). Obwohl es gewisse formale Regelmäßigkeiten gab, korrelierten die Genera nicht völlig mit bestimmten Deklinationsmorphemen. Die drei nominalen Genera entsprechen pronominalen Genera, deren Ausdruck von den nominalen Morphemen verschieden ist: hic, haec, hoc ‚dieser, diese, dieses‘, iste, ista, istud ‚der, die, das (bei dir)‘, ille, illa, illud ‚jener, jene, jenes‘, is, ea, id ‚der, die, das (genannte)‘, ipse, ipsa, ipsud ‚er, sie, es selbst‘, idem, eadem, idem ‚der-, die-, dasselbe‘. Das Genus behält seinen paradigmatischen Ausdruck. Diese Kategorie wird sogar noch stärker ausgebaut als im Lateinischen. Wie die Beispiele zeigen, ist das Genus materiell nicht durch spezifische Morpheme gekennzeichnet, vielmehr tritt es in der grammatischen Kongruenz in Erscheinung: „LX naves, quae in Meldis factae erant“ („60 Schiffe, die bei den Meldern gebaut waren“, Caesar, De bello Gallico V, 5). Die Genera waren teilweise durch das natürliche Geschlecht motiviert. Das Genus erfuhr im Vulgärlatein und in den romanischen Sprachen einen tiefgreifenden Wandel. Der wichtigste betraf die Kategorie an sich, denn außer bei den Pronomina wird sie entweder in den romanischen Sprachen aufgegeben oder umgestaltet. Dabei wird im Grundsatz eine Übereinstimmung von Form und Inhalt herbeigeführt, aber eben nur im Grundsatz, denn nirgendwo haben wir eine völlig einheitliche Entwicklung. Die Maskulina der a-Deklination gehen unter und auch die Substantive der u-Deklination wie socrus ‚Schwiegermutter‘ und nurus ‚Schwiegertochter‘ sowie Adjektive der konsonantischen Deklination wie pauper. Sie erhalten eine eindeutigere Genusmarkierung nach dem natürlichen Geschlecht als im Standardlateinischen: socra, nura, paupera (mulier) finden wir schon in der Appendix Probi. Die Korrekturen empfehlen dort auch aper non aprus für ‚Eber‘, was zeigt, dass einzelne Formen der o-Deklination noch zusätzlich nach dem deutlicheren Ausdruck für das Genus vereinheitlicht werden. Das Neutrum geht entweder zum Maskulinum oder zum Femininum über oder sowohl zum Maskulinum als auch zum Femininum zugleich. Formen wie vinum,
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tempus, cornu werden aufgrund der Endung zu Maskulina. Wörter, die als Neutrum Plural lexikalisiert waren, wurden als Femininum Singular nach der Endung uminterpretiert: folium ‚Blatt‘ (Neutrum Singular) → folia ‚Blätter‘ (Neutrum Plural) → ‚Laub‘ (kollektiv) → ‚Blatt‘ (Femininum Singular), gaudia ‚Lust, Wonne‘ (Neutrum Plural) → ‚Freude‘ (Femininum Singular). Die weder durch -o noch durch -a charakterisierte 3. Deklination ging zu den Maskulina oder den Feminina über. Die Appendix Probi hat pecten non pectinis ‚Kamm‘, wohl maskulin wie in den romanischen Sprachen. Nach dem Inhalt hätte die Erhaltung des Neutrums zur Genusmotivation für Sachbezeichnungen führen können wie im Rumänischen (timp ‚Zeit‘ – timpuri, menaj ‚Haushalt‘ – menaje) und marginal im Italienischen (uovo ‚Ei‘ – uova). Die schon im Lateinischen vorhandene kollektive Bedeutung beim Neutrum bleibt insbesondere im Bündnerromanischen und im Italienischen erhalten. Das Surselvische bildet neben dem Plural in bestimmten Fällen systematisch ein Kollektivum: per m. ‚Birne‘, pers Pl., pera ‚Birnen (kollektiv)‘. Eine nicht bis ans Ende gegangene Entwicklung liegt im Italienischen vor. Hier ist gelegentlich ein kollektiver Plural neben dem Maskulinum Plural erhalten geblieben wie osso ‚Knochen‘ – ossa ‚Gebeine‘ vs. ossi ‚(einzelne) Knochen‘. In keiner romanischen Sprache hat bei der Umgestaltung des ehemaligen Neutrums das morphologische Prinzip oder das inhaltliche Prinzip die Oberhand gewonnen. Das Genus ist eine Wortfunktion und als solche eine innere Bestimmung. Diese innere Bestimmung wird im gesprochenen Lateinisch und in den romanischen Sprachen wesentlich stringenter ausgedrückt als im Standardlateinischen, denn in den romanischen Sprachen wird das Genus in wesentlich mehr Fällen durch -a als Femininum und -o als Maskulinum gekennzeichnet. Die Endungen -o und -a werden zu Genusmorphemen dadurch, dass das -o als Maskulinum und das -a als Femininum umgedeutet werden. Die weite Verbreitung der eindeutigeren Genusmarkierung in den romanischen Sprachen als im Lateinischen beweist, dass dieser Wandel bereits im Lateinischen eingetreten ist. In den romanischen Sprachen und Varietäten, die die Metaphonie bewahrt haben, kommt diese noch zu den Genus- und Numerusmorphemen hinzu, so dass diese Kategorien häufig zweimal ausgedrückt werden.
Numerus Auch die Numerusmarkierung war in der lateinischen Standardsprache nicht völlig eindeutig. Sie wird in den romanischen Sprachen klarer. Die Reste eines Duals in ambo ‚beide‘, duo ‚zwei‘ werden aufgegeben. Der Plural scheint sich schon im Vulgärlatein diatopisch differenziert zu haben, denn die Annahme einer einheitlichen Pluralmarkierung mit -s würde die Vokalisierung -s > -i voraussetzen. Die Argumente für die Annahme dieses Lautwandels sind aber nicht überzeugend (4.5.1.3). Ob wir nun eine einheitliche Pluralmarkierung mit -s annehmen und in einem östlichen Teil
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des Imperiums die Vokalisierung -s > -i sowie andere Vokalisierungen voraussetzen oder von der Substitution der Endung ausgehen, so bleibt doch die Tatsache gleich, dass wir heute eine grundsätzlich verschiedene Pluralmarkierung zwischen West und Ost haben. In der Ostromania wird der Plural durch den Wechsel der Vokale ausgedrückt, z. B. it. -o und -e → -i in libro ‚Buch‘ → libri, cane ‚Hund‘ → cani, -a → -e in casa ‚Haus‘ → case. Das Rumänische hat eine komplizierte Pluralmarkierung. Neben der beim Genus erwähnten Pluralisierung von Neutra durch -uri und -e werden die Plurale der Maskulina mit -i, die der Feminina meist mit -e gebildet; Maskulina: pom ‚Baum‘ → pomi, socru ‚Schwiegervater‘ → socri, rege ‚König‘ → regi, tată ‚Vater‘ → taţi; Feminina: nevastă ‚Ehefrau‘ → nevaste, sarcină ‚Last‘ → sarcini, lume ‚Welt‘ → lumi. In der Iberoromania wird der Plural mit -s markiert: sp. lobo ‚Wolf‘ → lobos, casa ‚Haus‘ → casas; und so auch im Sardischen: janna ‚Tür‘ → jannas. Schon früh wird auch der Nominativ mit -s markiert. Die Galloromania nimmt eine Sonderstellung ein. Während die Feminina mit -s pluralisiert wurden (afrz. porte ‚Tür‘ → portes), wurde die Markierung des Plurals beim Maskulinum oft mit dem Kasus verbunden. Ein charakteristisches Beispiel ist afrz. murs ‚Mauer‘ → mur ‚Mauern‘; beides sind Formen des Casus rectus. In typologischer Hinsicht unterscheiden sich die Charakterisierungen von Numerus wie Genus nicht. Der Numerus ist eine innere Bestimmung des Worts. Er wird im Vulgärlatein und in den romanischen Sprachen paradigmatisch ausgedrückt. Es entsteht keine einheitliche Numerusmarkierung in der Romania. In der Ostromania sind bestimmte Vokale Numerusmarkierungen, in der Westromania ist es meist -s.
Kasus Der Kasus ist eine typisch relationelle Funktion. Er bedeutet eine Beziehung zwischen einem determinierten Satzglied und einem oder mehreren weiteren Satzgliedern. Lässt man einmal die im Ablativ aufgegangenen Kasus Lokativ und Instrumentalis beiseite, hat das klassische Latein die Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ und Ablativ. Marginal kommt der Vokativ bei den Maskulina der o-Deklination hinzu: amicus ‚Freund‘ – amice. Dieser Kasus steht außerhalb des Satzes, er ist selbst satzwertig. Formen und Funktionen sind nicht eineindeutig. In der a-Deklination fielen Genitiv Singular, Dativ Singular und Nominativ Plural zusammen (nautae ‚Seemann‘) sowie Dativ und Ablativ Plural (nautis). Ähnlich sind die Übereinstimmungen der Kasusformen von Maskulina und Feminina der o-Deklination (domini, domino, dominis, ‚Herr‘). In der 3. Deklination haben Dativ und Ablativ Plural identische Formen (turribus ‚Türme‘), so auch in der u-Deklination (fructibus ‚Früchte‘). Neben dem Ausdruck grammatischer Beziehungen allein durch den Kasus wird diese Kategorie mit Präpositionen kombiniert. Kaiser Augustus fand die Kasus bei Städtenamen
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allein unklar und hat den Ausdruck mit Präpositionen vorgezogen (Sueton, Aug., 86,1; Geisler 1982, H. Lüdtke 22009: 196–205). Jedoch kann bei -um durch Nasalierung die Vokalqualität von -u länger erhalten bleiben. Die lautlichen Veränderungen des gesprochenen Lateinisch wirken sich auf die Kasusunterschiede aus. Das den Akkusativ Singular markierende -m kann schon in klassischer Zeit verstummen. Der Unterschied in der Vokalquantität in der Auslautsilbe schwindet und damit auch manche Unterschiede in der Vokalqualität. Dadurch fallen im Singular so häufige Formen wie der Nominativ rosa, der Akkusativ rosam und der Ablativ rosā in rosa zusammen, der Akkusativ dominum und der Ablativ dominō in domino und der Akkusativ patrem und der Ablativ patre in patre. Der Plural der a-Deklination auf -ae wird früh durch -as ersetzt und als dialektale Form erklärt, die ihre Herkunft im Oskischen und Umbrischen habe und die durch die Plurale anderer Deklinationen gestützt würde (z. B. Herman 1963: 62–63). Diese Formen sind vom archaischen Lateinisch an belegt und wurden bis zum 5. Jahrhundert schließlich auch in Gallien häufig. Theodosius, Verfasser eines Berichts über eine Fahrt zu den heiligen Stätten, schreibt um 530: „per octo dies ibi missas celebrantur“ (‚acht Tage lang wurden dort Messen gefeiert‘; Díaz y Díaz 1962: 172). Die Markierung des Numerus war in diesem Fall wichtiger als diejenige des Kasus. Diese Feststellung stimmt überein mit der Verwendung der Kasusformen der 2. und 3. Deklination. Diese blieben zwar lange erhalten (domini, dominorum, dominis; patres, patrum, patribus), weil sie lautlich distinkt blieben. Aber bei der Präposition cum korrigiert schon die Appendix Probi (220) noviscum non noscum und vobiscum non voscum, die dem asp. con nusco ‚mit uns‘, con vusco ‚mit euch‘ zugrunde liegen. Dieses Beispiel ist ziemlich typisch. Es zeigt, dass der Akkusativ zum allgemeinen Casus obliquus geworden ist bzw. in Verbindung mit Präpositionen auch an die Stelle des Ablativs tritt. Der Genitiv kann durch de + Substantiv im Ablativ ersetzt werden. Bei Petron ersetzt unus de nobis ‚einer von uns‘ den Ausdruck unus nostrum (zur Kasusentwicklung bei Petron Stefenelli 1962: 84–86). Egeria schreibt: „alia in sinistro, alia in dextro de itinere nobis erant“ („einige davon [scil. von den Orten] lagen links, andere rechts von unserer Strecke“; Egeria 22000: 150/151). Meist wird der Genitiv jedoch durch den Dativ abgelöst. Man stellt jedenfalls fest, dass die lautliche Entwicklung ebenso zum Zusammenfall von Ablativ und Akkusativ führen konnte (rosā, rosam; dominō, dominum) wie auch zur Verallgemeinerung des Dativs statt des Genitivs. Man kann annehmen, dass sich bis zum 5. Jahrhundert ein einziger Obliquus verallgemeinert hat. Diese Verallgemeinerung zweier Kasus hat sich in der Galloromania bis zum Mittelalter gehalten, zum Teil gibt es sie auch im Bündnerromanischen. Dass diese aber nicht die einzige war, beweist das Rumänische, das einen Genitiv-Dativ beim Femininum (lumi ‚Welt‘) gegenüber einem Nominativ-Akkusativ (lume) erhalten hat; beim Maskulinum und beim Neutrum kann dieser Kasus nur durch den Artikel ausgedrückt werden. Darüber hinaus hat das Rumänische auch den Vokativ bewahrt. Die übrigen romanischen Gebiete haben die Kategorie des Kasus früh auf eine einzige einem Obli-
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quus entsprechende Form reduziert. Mit dieser Reduktion geht der Kasus als materiell ausgedrückte Kategorie unter. Wenn einzelne Kasus erhalten blieben, sind dies nur lexikalische Konservationen. Beispiele dafür sind die Tage der römischen Planetenwoche: dies martis, dies mercurii, dies iovis, dies veneris > frz. mardi, mercredi, jeudi, vendredi; it. martedì, mercoledì, giovedì, venerdì; kat. dimarts, dimecres, dijous, divendres; rum. marţi, miercuri, joi, vineri; sp. martes, miércoles, jueves, viernes. Wie die Beispiele zeigen, bleibt entweder nur der Planetenname erhalten oder der Planetenname mit nachgestelltem oder vorangestelltem dies. Im Portugiesischen wurde für die Wochentage die christliche Neuerung mit feira < feria eingeführt, z. B. segundafeira ‚Montag‘ usw. Der Verlust des Kasusparadigmas wurde syntagmatisch kompensiert durch den Ausbau der Verwendung von Präpositionen. Anstelle des adnominalen Genitivs wird de + Ablativ, anstelle des Dativs ad + Akkusativ verwendet. Der polyfunktionale Ablativ wird je nach temporaler, modaler, kausaler usw. Funktion durch in, cum, per, propter usw. explizit gemacht (zu einem knappen Überblick über die Entwicklung des Kasus Herman 1963: 57–69). Greifen wir eine beliebige Stelle aus Egerias Reisebericht heraus, die nur die Besonderheit aufweist, dass sie die Wiedergabe der Worte eines sie führenden Priesters zeigt, der in Wirklichkeit Griechisch gesprochen hat: „‘Ecce ista fundamenta in giro colliculo isto, quae videtis, hae sunt de palatio regis Melchisedech. Nam inde adhuc sic si quis subito iuxta sibi vult facere domum et fundamenta inde continget et de argento et heramento modica frustella ibi invenit.‘“ „‘Schaut euch diese Fundamente rings um den Hügel an, die ihr da seht: Sie stammen vom Palast des Königs Melchisedek. Bis heute ist es so: Wenn jemand hier in der Nähe ein Haus bauen möchte und dabei die Fundamente berührt, so findet er dort manchmal kleine Stücke Silber und Erz‘“ (Egeria 22000: 180/181).
Dieses Textstück soll uns Anlass zu einem kurzen typologischen Kommentar sein. Die Relation zum Ganzen des Satzes wird in einem Zwischenstadium der vulgärlateinischen Entwicklung teils noch paradigmatisch, teils schon syntagmatisch ausgedrückt. Wenn wir die Funktion des direkten Objekts unberücksichtigt lassen, behält regis einen paradigmatischen Ausdruck, aber immerhin in adnominaler Funktion. Syntagmatisch durch Präpositionen bestimmt sind de palatio, iuxta sibi und de argento et heramento sowie durch einen präpositionalen Ausdruck in giro colliculo isto, die mit der Kasusmarkierung zusammen noch eine paradigmatische Bestimmung enthalten. Rein paradigmatisch bleiben inde, adhuc, ibi und sic. Die weitere Entwicklung geht in Richtung zu einer Verallgemeinerung bzw. Grammatikalisierung der syntagmatischen Bestimmung für relationelle Funktionen. Die morphologische Vielfalt hatte keine direkte Entsprechung in den grammatischen Funktionen. Dies hätte dennoch nicht zum Untergang des Kasussystems führen müssen. Wie das Altfranzösische zeigt, wird diese Kategorie durch Anwesenheit oder Abwesenheit von -s erhalten. Wenn schon im dritten Jahrhundert die langen Auslaut-
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vokale kurz werden, wie wir oben gesehen haben (4.5.1.2), können die dadurch ausgedrückten Kasus wie Dativ oder Ablativ nicht mehr von anderen Kasus unterschieden werden. Aber auch der durch das Verstummen von -m und -s phonetisch bedingte Zusammenfall von einzelnen Kasus und die anderen Lautveränderungen führen nicht notwendigerweise zur Aufgabe des Kasus als Kategorie. Typologisch betrachtet wird die Funktion des Kasus in den romanischen Sprachen syntagmatisch ausgedrückt. Es gab einen Kasusunterschied noch im Altokzitanischen und Altfranzösischen, zum Teil auch im Bündnerromanischen. Das Rumänische hat den Kasus bis heute bewahrt, aber in anderer Weise als die soeben genannten Sprachen, denn der eine Kasus entspricht einem Nominativ und Akkusativ, der andere einem Genitiv und Dativ. 4.5.2.2 Adjektiv Der romanische Komparativ erhält einen periphrastischen Ausdruck und verallgemeinert ein Verfahren, das marginal bei lateinischen Adjektiven existierte, deren Lexem auf Vokal auslautete: arduus ‚steil‘ – magis arduus – maxime arduus, idoneus ‚geeignet‘ – magis idoneus – maxime idoneus. Der Elativ wird durch einen periphrastischen Ausdruck abgelöst. Egeria verwendet die alte und die neue Form nebeneinander: Eine „vallem infinitam“ nennt sie auch noch „planissima [sic] et valde pulchram“: „Interea ambulantes pervenimus ad quendam locum, ubi se […] tamen montes illi, inter quos ibamus, aperiebant et faciebant vallem infinitam ingens, planissima et valde pulchram, et trans vallem apparebat mons sanctus Dei Syna“ (1,1). „Als wir weiterwanderten, kamen wir zu einem Ort, wo sich die Berge, zwischen denen wir hindurchwanderten, öffneten und ein endloses Tal bildeten – außerordentlich groß, völlig eben und sehr schön“ (Egeria 22000: 118, 119).
Oder sollte ihr pulcherrimam nicht eingefallen sein? Magis wurde in der Zentralromania durch plus ersetzt (4.1.2). Im Französischen lautet der Komparativ von haut ‚hoch‘ demnach plus haut. Im Altfranzösischen bleiben als Konservationen mieldre/meillour ‚besser‘, moindre ‚geringer‘, pire ‚schlimmer‘, greignour ‚größer‘, z. T. bis zum modernen Französisch und den anderen romanischen Sprachen. Der lateinische Elativ wird eine Zeitlang in den romanischen Sprachen aufgegeben und durch Adverb + Adjektiv ersetzt, z. B. grand ‚groß‘ – très grand ‚sehr groß‘. Auch von diesen Elativen bleiben einige paradigmatische Formen erhalten, z. B. pessimum ‚sehr schlecht‘ > afrz. pesme. Das Verfahren ist als solches untergegangen und erst wieder zwischen dem Spätmittelalter und der Renaissance entlehnt worden, besonders im Italienischen, z. B. it. pessimo, kat. pèssim, pt. péssimo, gal. sp. pésimo. In den romanischen Sprachen, in denen heute der Superlativ und der Elativ nebeneinander bestehen, wirkt sich der Unterschied zwischen innerer und äußerer
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Bestimmung funktionell aus. It. un’ottima memoria ‚ein vorzügliches Gedächtnis‘ impliziert einfach einen hohen Grad von buona memoria ‚gutes Gedächtnis‘, dagegen wird una memoria molto buona in einem äußeren Vergleich zu einer buona memoria gesehen. Der Unterschied wird in der negierten Form noch deutlicher: non ha un’ottima memoria sagt aus, dass jemand doch noch ein recht gutes Gedächtnis hat, während non ha una memoria molto buona ein eher schlechtes Gedächtnis impliziert. 4.5.2.3 Adverbien Die paradigmatische Adverbialisierung des Lateinischen mit -e (firme), -ter (prudenter) oder den Formen des Neutrums (facile) wird mehrheitlich durch syntagmatische Ausdrücke vom Typ devota mente ‚frommen Sinnes, sehr ergeben‘ gebildet, der ein Substantiv enthält, das in den romanischen Sprachen zu einem Suffix grammatikalisiert oder, wie in 2.3.2 eingeführt, paragrammatikalisiert wurde. Dadurch entstand zuerst ein neues periphrastisches Verfahren, das wieder zu einem paradigmatischen Ausdruck führte. Allerdings ist dieser Vorgang nicht völlig abgeschlossen, wie die iberoromanischen Sprachen heute noch bei der Koordinierung von Adverbien zeigen: kat. pobrament i honesta ‚arm und ehrlich‘, pt. pura e simplesmente ‚schlicht und einfach‘, sp. pura y simplemente (Lüdtke 2011: 232–246). 4.5.2.4 Ortsadverbien Man kann nicht einfach die äußeren Bestimmungen der Nominalformen den inneren Bestimmungen der Verbalformen gegenüberstellen, denn es gibt weitere Bereiche, in denen die äußere Bestimmung dominiert wie bei den Ortsadverbien. Die hochdifferenzierten lateinischen Unterschiede bleiben nicht erhalten. Wie es ein Demonstrativpronomen der ersten, der zweiten und der „dritten“ Person gibt, so auch die entsprechenden Ortsadverbien. Materiell gesehen setzt sich keine der lateinischen Formen mit ihren Bedeutungen direkt fort. Inhaltlich entsprechen aber die romanischen Ortsadverbien meist dem Ort der ersten und zweiten Person einerseits und dem Ort der „dritten“ Person andererseits (3.5.2). In diesem Sinne hat die Serie der standardsprachlichen Formen istic ‚da, dort (bei dir/euch)‘, istuc ‚dahin, dorthin‘, istinc ‚daher, dorther‘, istac ‚da entlang‘ keine romanischen Spuren hinterlassen. Textphorisches ibi ‚da‘, inde ‚daher‘, eo ‚dahin‘, ea ‚da entlang‘ ist mit deiktischem illic, illinc, illuc, illac semantisch zusammengefallen, so dass letztere Formen, soweit sie fortbestehen, sowohl deiktisch als auch textphorisch verwendet werden. In der romanischen Adverbbildung stehen paradigmatische und syntagmatische Verfahren nebeneinander. Die Grundform wird nicht-relationell ausgedrückt, die weiteren Funktionen erhalten einen relationellen Ausdruck mit Präposition, wie Egeria ihn schon in de eo loco anwandte. Dieses Verfahren wird auch auf die Interrogativ ortsadverbien übertragen. Damit entsteht ein neues periphrastisches Verfahren. Die paradigmatischen lateinischen Formen sind mit ihren syntagmatischen romanischen Entsprechungen unter anderem folgende:
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Abb. 4.10: Lateinische und romanische Ortsadverbien
Ich habe mich auf die Möglichkeiten beschränkt, die eine romanische Entsprechung zu einem lateinischen Adverb mit paradigmatischer Bestimmung haben. Im Italienischen habe ich darauf verzichtet, literatursprachliche oder veraltete Formen zu nennen. Überhaupt kann es nicht darum gehen, alle üblichen oder möglichen Bedeutungen zu verzeichnen, die neben der Ortsbedeutung vorkommen. Ein Blick in die Grammatiken und Wörterbücher romanischer Sprachen zeigt zudem, dass wir es mit einem wissenschaftlich unzulänglich erfassten Bereich zu tun haben. Was alle romanischen Ortsadverbien zeigen, ist die Tatsache, dass jeweils nur eine einzige Form vorliegt, die dann weiter syntagmatisch bestimmt werden kann. Dabei machen die romanischen Sprachen bei der Grundform zwischen dem SichBefinden an einem Ort und einer Bewegung bis zum Ziel keinen Unterschied. Beide Möglichkeiten werden wie eine einzige innere Bestimmung behandelt. 4.5.2.5 Aktualisatoren: Auf dem Weg zur Funktion des Artikels Die Determinanten dienen im Lateinischen auch dazu, die Substantive zu aktualisieren, dies ist aber nicht ihre einzige Funktion. Meist bleibt die Aktualisierung implizit. Die Determinanten drücken im Falle der adjektivischen Possessivpronomina gleich-
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zeitig mit der Aktualisierung eine Beziehung zum Sprecher, zum Angesprochenen und zu einer Entität aus, wobei es unerheblich ist, ob die Entität eine Person ist oder nicht, oder im Falle der Demonstrativpronomina eine räumliche oder zeitliche Deixis. Somit war die Aktualisierung eine sekundäre Funktion der Determinanten. Diese werden im Laufe der Spätgeschichte des Lateinischen in den Texten, die sich an der gesprochenen Sprache orientieren, immer häufiger. Was ein Artikel in den Sprachen leistet, die ihn kennen, kann man nicht ohne Beziehung zur sprachlichen Kompetenz beschreiben. Die Bedeutungen der Substantive sind als Begriffe vor jeder Aktualisierung abstrakt. Sie beinhalten die Möglichkeit, etwas in der außersprachlichen Wirklichkeit zu bezeichnen. Damit dieser Bezug hergestellt werden kann, ist in den romanischen Sprachen ein Artikel erforderlich. Die Aktualisierung ist auch mit Hilfe anderer Determinanten wie der Possessivpronomina oder der adjektivischen Demonstrativpronomina möglich, aber in solchen Fällen kommen die Person oder die Zeigefunktion als weitere Elemente hinzu. Beim Artikel tritt die Funktion der Aktualisierung allein und ausschließlich auf, sie ist daher als Grundfunktion des Artikels zu betrachten. Dass der Artikel im eigentlichen Sinn im Lateinischen nicht vorkommt, ist sicherlich richtig. So kann man der Feststellung von Herman (die sich an Belege von artikelähnlicher Verwendung von ille und ipse anschließt), dass wir es noch nicht mit grammatikalisierten Artikeln zu tun haben, zustimmen, zumal die anaphorische Funktion noch spürbar bleibt (1963: 88). Die Belege sind häufig und könnten daher beliebig vermehrt werden. Zur substantivischen Verwendung von ipse, z. B. „Ipsum erat oppidum Alesia in colle summo admodum edito loco“ („Die Stadt Alesia selbst lag hoch oben auf einer Hügelkuppe“, Caesar, De bello Gallico, VII, 69), kommt die noch häufigere adjektivische Verwendung hinzu wie in „ex ipsa coacta provincia“ („aus der Provinz selbst aufgeboten“, Caesar, De bello Gallico, VII, 65), wobei von einer Kohorte die Rede ist. Bevor es zu dieser neuen Funktionsverteilung kam, musste ille das textphorische Pronomen is ersetzen. Was den Zeitpunkt der Herausbildung des Artikels angeht, müsste sie vor der Loslösung des Kontakts der außerhalb des Römischen Reichs liegenden Kolonie Dakien eingetreten sein, denn er ist eine allen romanischen Sprachen gemeinsame Innovation (cf. z. B. Schmitt 1987, Selig 1992). Egerias Beschreibungen zeigen sehr gut ihre ständige Bemühung um Identifikation der von ihr um 400 besuchten Stätten mit den Stätten der Heiligen Schrift. Daher ist die Insistenz verständlich, mit der sie die Pronomina verwendet: „Illud autem vos volo scire, dominae venerabiles sorores, quia de eo loco ubi stabamus, id est in giro parietes ecclesiae, id est de summitate montis ipsius mediani, ita infra nos videbantur esse illi montes, quos primitus vix ascenderamus, iuxta istum medianum, in quo stabamus, ac si essent illi colliculi, cum tamen ita infiniti essent, ut non me putarem aliquando altiores vidisse, nisi quod hic medianus eos nimium precedebat.“ „Ich möchte aber, daß ihr folgendes wißt, verehrte Damen Schwestern: Von der Stelle aus, an der wir standen – das heißt außerhalb der Kirchenmauern, also auf dem Gipfel des mittleren
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Berges –, schienen die Berge, die wir zuerst mit Mühe bestiegen hatten, im Vergleich mit dem mittleren, auf dem wir standen, so weit unter uns zu liegen, als wären sie kleine Hügel. Tatsächlich waren sie aber so groß, daß ich meinte, niemals höhere gesehen zu haben; aber dieser mittlere überragte sie alle bei weitem“ (Egeria 22000: 130/131).
Die deutsche Übersetzung ahmt die Vielfalt der Determinanten Egerias nicht nach, sondern aktualisiert nur, dieser ausgenommen. Egeria dagegen veranschaulicht mit „de eo loco“ den Textzusammenhang, insistiert mit „montis ipsius mediani“ auf der Identität des Djebel Musa, deutet mit „illi montes“ auf entfernter liegende Berge des Sinaigebirges, mit „istum medianum“ noch einmal auf den Djebel Musa, den sie mit dem Demonstrativ in eine größere Nähe zu sich bringt, und schließlich ganz in ihre Nähe mit „hic medianus“. Wenn Egeria in ihrem Itinerarium die Pronomina hic, iste, ille, ipse und sogar is zusammen in einer Weise verwendet, wie sie dem romanischen Artikel entspricht, ist man geneigt, eine solche Funktion auch anzunehmen. Das Problem ist jedoch, von der späteren Entwicklung her betrachtet, die nur einen Formtyp für diese Funktion hat, eben gerade die Vielfalt der Formen für eine einheitlich scheinende Funktion. Es ist bei den Formen in den lateinischen Texten doch wohl anzunehmen, dass sie mit der Aktualisierung zusammen eine deiktische oder identifizierende Funktion behalten. Dass die Artikelfunktion ihre Parallele im Griechischen hat, die Nominaldeterminanten aber noch nicht mit der Einheitlichkeit einer Form für diese Funktion verwendet wurden, macht den griechischen Einfluss plausibel und, je nach persönlicher Einschätzung der Konvergenz mit diesem Phänomen, wahrscheinlich, doch ist ein Beweis schwer zu erbringen. Der Artikel muss zwar relativ früh entstanden sein, seine Formen werden aber erst im Merowingerlatein häufig. Der folgende Text aus dem 8. Jahrhundert, den der Metzer Bischof Chrodegang (gest. 766) in einer Situation der fränkisch-romanischen Zweisprachigkeit schrieb, adaptiert den wohl schon mündlich existierenden romanischen Artikel in lateinischer Gestalt mit den Formen von ille und, in einem Fall, von ipse: „Illa media pars cleri, qui seniores fuerint, annis singulis accipiant cappas novas. Et illa alia medietas cleri illas ueteres cappas, quas illis seniores annis singulis reddunt, accipiant. Et illi seniores illas cappas, quas reddere debent non commutent. Et illas cappas et illos sarciles et illa calceamenta, de illos teloneos superius nominatos, quod exinde superat, et de illo calciatico, quod ille episcopus annis singulis ad illum clerum reddere consueuit, et eorum eleemosyna, quod ad ipsum clerum specialiter Deus dederit, sint comparata“ (Chrodegang, Regula canonicorum, par. 29, c. 1113; zitiert nach Banniard 1992: 286, Anm. 117). ‚Die eine Hälfte des Klerus, die aus älteren Mönchen besteht, soll neue Mäntel bekommen. Und die andere Hälfte des Klerus soll die alten Mäntel bekommen, die die Älteren ihnen jedes Jahr abgeben. Und die Älteren sollen die Mäntel, die sie abgeben müssen, nicht austauschen. Und die Mäntel und die Gewänder und die Schuhe sollen gekauft werden aus den weiter oben genannten Zollhäusern, was davon übrigbleibt, und von dem Schuhwerk, das der Bischof jedes Jahr dem Klerus abzugeben pflegt, und ihre Almosen, die Gott dem Klerus insbesondere gibt.‘
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Die beiden Pronomina ille und ipse liegen den romanischen Artikeln zugrunde, ille in der Mehrheit der Sprachen, ipse im Sardischen und im Katalanisch der Balearen. Da die Determinanten Substantive aktualisieren, übernehmen sie die Kategorien der Substantive, mit denen sie kongruieren. In den romanischen Sprachen sind es Genus und Numerus. Solange auch der Kasus ausgedrückt wurde wie namentlich im Altfranzösischen sowie im Altokzitanischen und ausgedrückt wird wie im Rumänischen, übernimmt der Artikel in diesen Sprachen auch dessen Markierung. Daher sieht Schmitt als funktionellen Grund für die Ausbildung des Artikels „eindeutig die Markierung des Kasus, des Genus und des Numerus, die nicht mehr von Endungsmorphemen […] geleistet werden kann“ (1987: 103). Damit stimme überein, dass Numeralia und Indeklinabilia mit lateinischen Demonstrativa determiniert werden würden (Abel 1971: 163). Man darf aber bezweifeln, dass der Artikel bei Indeklinabilia verwendet wurde, nur um deren syntaktische Funktion zu markieren. Die Voraussetzung für die Übernahme dieser Funktion ist die Funktion der Aktualisierung selbst. Sie kann dann bei Namen, z. B. den nicht deklinierbaren hebräischen, hinzugefügt werden, da Namen ohnehin bestimmt, d. h. aktuell sind. Ein Zugang zur weiteren Klärung der Frage nach der Entstehung des Artikels geht über die Betrachtung von Schriftlichkeit und anzunehmender Mündlichkeit zugleich. Artikel sind maßgeblich an der Konstitution des Situationsbezugs und am Aufbau einer Situation im Text beteiligt. Daher müssen die mündlichen Umfelder einer Situation erschlossen werden durch die Verwendung von Aktualisatoren in (geschriebenen) Texten, in denen die in der mündlichen Situation impliziten Umfelder explizit gemacht werden müssen. Man hat also zwar für eine Untersuchung nur die Texte und ihre Diskurstraditionen, man kann aber bis zu einem gewissen Grade die Ausgangssituation erschließen. Das geht nur über eine gesamtsprachliche Betrachtung. Setzt man beim Artikel eine spezifische und eine generische Funktion voraus, so stellt man zuerst eine Verallgemeinerung des Artikels in der spezifischen Funktion bei den Nachfolgern von ille und unus fest. Die generische Funktion entwickelt sich erst in den romanischen Sprachen. 4.5.2.6 Aktualisatoren: Die Entstehung eines Personalpronomens der dritten Person Wichtiger noch als die Feststellung, dass die dritte Person der Personalpronomina erst in den romanischen Sprachen entsteht, scheint mir die lateinische Ausgangslage zu sein: Diese kannte kein solches Pronomen der dritten Person außer den obliquen Reflexivpronomina. Das Paradigma der Personalpronomina umfasste also nur ego, tu, nos, vos. Das Possessivpronomen hängt vom Paradigma der Personalpronomina ab und wird hier nicht weiter behandelt. Pronominal werden nur die Personen, die sprechen, und die Personen, die angesprochen werden, ausgedrückt. Der anaphorische Verweis auf schon Gesagtes oder der kataphorische Verweis auf noch zu Sagendes musste mit Demonstrativ-, Intensiv- und Identitätspronomina geleistet werden.
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Damit aber ist die lateinische Verwendung dieser Pronomina nicht mehr mit der romanischen vergleichbar. Davon aber scheinen diejenigen implizit auszugehen, die die Entstehung des romanischen Artikels diskutieren. Ich gebe einige Beispiele für die anaphorische Verwendung der Pronomina hic, ille und is: „His [scil. den Gesandten der Helvetier] Caesar ita respondit“ (De bello Gallico, I, 14). „Caesar entgegnete ihnen folgendes“ (23). „His copiis Vercassivellaunum Arvernum, unum ex quattuor ducibus, propinquum Vercingetorigis, praeficiunt. ille ex castris prima vigilia egressus prope confecto sub lucem itinere post montem se occultavit militesque ex nocturno labore sese reficere iussit“ (De bello Gallico, VII, 83). „Zum Führer dieser Truppen ernennen sie den Arverner Vercassivellaunus, einen der vier Befehlshaber und Vetter des Vercingetorix. Dieser verließ das Lager um die erste Nachtwache, hatte gegen Tagesanbruch sein Ziel fast erreicht, verbarg sich hinter dem Berg und ließ seine Krieger sich von der nächtlichen Anstrengung erholen“ (415). „Apud Helvetios longe nobilissimus fuit et ditissimus Orgetorix. is M. Messala M. Pisone consulibus regni cupiditate inductus coniurationem nobilitatis fecit“ (De bello Gallico, I, 2). „Bei den Helvetiern war Orgetorix bei weitem der vornehmste und reichste Mann. Dieser zettelte im Konsulatsjahr des Marcus Messala und Marcus Piso aus Gier nach der Königsherrschaft eine Verschwörung des Adels an“ (9).
Durch die Jahrhunderte hindurch nimmt die Markierung der dritten Person zu. Die Innovationen betreffen im Einzelnen die Struktur des Vulgärlateins und der romanischen Sprachen. Damit ist aber keine typologische Neuerung verbunden, denn die Aktualisierung wurde durch alle diese Formen ausgedrückt. Weiteres zur Entwicklung der Deixis vom Lateinischen zum Romanischen siehe Lüdtke 2015. 4.5.2.7 Konjugation: Entwicklung des Verbalsystems Im Gegensatz zur Deklination, die in vielen Bereichen abgebaut wird, bleibt die reiche lateinische Konjugation in den romanischen Sprachen nicht nur im Wesentlichen erhalten, sondern sie wird sogar noch in Teilen ausgebaut. Diese Feststellung trifft auf das periphrastische Futur und den periphrastischen Konditional zu, Tempora, die im Romanischen wieder einen paradigmatischen Ausdruck erhalten. Das lateinische Perfekt bleibt mit seiner Aoristbedeutung paradigmatisch und wird in seiner perfektischen Bedeutung syntagmatisch ausgedrückt, so auch, abgesehen von einigen Konservationen, das Plusquamperfekt. Das Passiv schließlich wird ausschließlich periphrastisch.
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Tempora Die Grundlage der Interpretation der lateinischen Tempora ist die Schrift De lingua Latina von Varro (116–27 v. Chr.). Dabei leitet ihn das morphologische Prinzip der Analogie. Er gibt eine ‚Einteilung‘ („divisio“) in zwei Arten von Zeiten. Mit Bezug auf Varro soll ‚Zeit‘ statt „Tempus“ beibehalten werden, da er keinen Unterschied zwischen den beiden Begriffen macht. Den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Zeiten interpretiert Varro als Aspektunterschied, d. h. als Unterschied zwischen infectum (‚nicht vollendet‘) und perfectum (‚vollendet‘) (cf. Robins 42004: 51): „nam ex eodem genere et ex divisione idem verbum, quod sumptum est, per tempora traduci potest, ut discebam disco discam, et eadem perfecti, ut didiceram didici didicero“ (IX, 96), ‚denn dasselbe Verb, das aus ein und derselben Gattung und Einteilung genommen worden ist, kann durch die Zeiten des Unvollendeten konjugiert werden wie discebam [‚ich lehrte‘], disco [‚ich lehre‘], discam [‚ich werde lehren‘] und durch dieselben des Vollendeten wie didiceram [‚ich hatte gelehrt‘] didici [‚ich habe gelehrt‘], didicero [‚ich werde gelehrt haben‘]‘.
Diese ‚Einteilung‘ bleibt auch beim Passiv gleich: „nam infecta omnia simplicia sunt, et perfecta duplicia inter se paria in omnibus verbis, ut haec amabar amor amabor, amatus ero“ (IX, 97), ‚denn alle einfachen unvollendeten Zeiten sind ähnlich und die aus zwei Elementen bestehenden vollendeten Zeiten sind untereinander in allen Verben gleich wie zum Beispiel die folgenden: amabar [‚ich wurde geliebt‘], amor [‚ich werde geliebt‘], amabor [‚ich werde geliebt werden‘], amatus eram [‚ich war geliebt worden‘], amatus sum [‚ich bin geliebt worden‘], amatus ero [‚ich werde geliebt worden sein‘]‘.
Auch das Präsens und das Futur interpretiert er aspektuell, denn er schreibt: „legi rem perfectam significare, duo reliqua [scil. tempora] lego et legam inchoatam“ (IX, 96), ‚dass legi etwas Vollendetes und die beiden übrigen [scil. Zeiten] lego und legam etwas Begonnenes bedeuten‘.
In VIII, 20 hatte er die drei Zeiten „praeteritum, praesens, futurum“ eingeführt, für die er als Beispiele saluto, salutabam und salutabo gibt. Wenn Varro feststellt, dass infectum und perfectum „dieselben“ Zeiten haben, entspricht der Präsensstamm dem infectum, der Perfektstamm dem perfectum. Diese beiden Gruppen von Formen werden auf die folgenden Zeiten verteilt:
Abb. 4.11: Varros Einteilung der lateinischen Tempora
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Diese Interpretation basiert auf VIII, 20. Dort wird salutabam ganz eindeutig als „prae teritum“ bestimmt. „Praeterita“ sind aber auch pluit und luit: „Quidam reprehendunt, quod pluit et luit dicamus in praeterito et praesenti tempore, cum analogiae sui cuiusque temporis verba debeant discriminare. Falluntur: nam est ac putant aliter, quod in praeteritis U dicimus longum pluit , in praesenti breve pluit luit: ideoque in lege venditionis fundi ‚ruta caesa‘ ita dicimus, ut U producamus“ (IX, 104). ‚Manche tadeln uns, weil wir pluit und luit in der Vergangenheit und in der Gegenwart sagen, obwohl die Analogien die Wörter einer jeden Zeit unterscheiden sollten. Sie irren aber, denn es ist anders, als sie glauben, weil wir in den Vergangenheiten plūit [‚es regnete‘] und lūit [‚er, sie wusch‘] ein langes ū aussprechen, in der Gegenwart pluit, luit aber ein kurzes. Und deshalb sprechen wir ruta caesa [‚das, was auf einem Grundstück ausgegraben und gefällt, aber nicht verarbeitet worden ist‘) im Gesetz über den Verkauf von Grund und Boden so aus, dass wir das ū längen.‘
Wir haben es hier mit der Schwierigkeit zu tun, dass einerseits eine Imperfektform wie salutabam und andererseits Perfektformen wie plūit und lūit als Vergangenheit betrachtet werden. Gleichzeitig bedeutet für Varro die Perfektform legi etwas Vollendetes („rem perfectam significare“; cf. De lingua Latina X, 48). Wenn aber die infecta emo ‚ich kaufe‘ und edo ‚ich esse‘ mit den perfecta emi ‚ich kaufte/habe gekauft‘ und edi ‚ich aß/habe gegessen‘ in Parallele gesetzt werden (De lingua Latina X, 33), dann bleibt doch nur als plausibelste Interpretation, dass das Perfekt als Präsens des perfectum, d. h. als eine Art vollendetes Präsens zu verstehen ist. Gesichert erscheint dagegen die Interpretation des Futurs II als perfectum des Futurs. Auch discebam bezöge sich auf eine Vergangenheit, aber auf eine in aspektueller Hinsicht imperfektiv aufgefasste Vergangenheit. Dies bereitet Probleme, da die Formen vom Typ didici, emi, edi narrativ verwendet werden und innerhalb der narrativen Verwendung faktische, inzeptive oder konklusive Diskursbedeutungstypen aufweisen können. Dieses Tempus wird also gerade nicht perfektiv verwendet. Auch der Unterschied zwischen amabam und amaveram ist nicht aspektuell, d. h. amaveram hat keine perfektive Bedeutung, sondern bedeutet Vorzeitigkeit. Dazu sei eine klare Stelle aus den Res gestae von Augustus angeführt: „Consul fueram terdeciens cum scribebam haec et eram septimum et tricensium tribuniciae potestatis“ (Augustus 2002: 8). In der Übersetzung kann man kein deutsches Plusquamperfekt und kein Präteritum verwenden, da das Imperfekt an dieser Stelle dadurch motiviert ist, dass sich Augustus, wie im Lateinischen üblich, zum Zeitpunkt des Schreibakts in die Perspektive des späteren Lesers versetzt: „Konsul war ich dreizehnmal bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe, und ich habe im 37. Jahr die tribunizische Gewalt inne“ (Augustus 2002: 8). Die Verwendung des Imperfekts in Briefen zeigt, dass es eine Art Präsens ist, denn der Schreiber versetzt sich oft in die Zeit des Empfängers und wandelt die Perspektive vom Zeitpunkt des Schreibens zum Zeitpunkt des Lesens um: „Habes totum rei publicae statum, qui quidem tum erat, cum has litteras dabam“, „Jetzt weißt du über
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die gesamte politische Lage Bescheid – zumindest wie sie jetzt ist, da ich diesen Brief schreibe“ (Cicero, ad Brut. 18,5; Burkard/Schauer 52012: 179; die Zitierweise habe ich angepasst, die Quellenangaben beziehen sich auf Burkard/Schauer 52012, wenn auch festzustellen ist, dass die mit ‚..‘ gekennzeichneten Übersetzungen meine eigenen sind und der Text mit früheren Ausgaben dieses Werks von Hermann Menge identisch ist). Die Umgestaltung der lateinischen Tempora in romanische kann viel angemessener gezeigt werden, wenn man statt eines Aspektunterschieds zwischen amavi und amabam einen Ebenenunterschied annimmt, d. h. einen Unterschied zwischen einer aktuellen und einer inaktuellen Ebene:
Abb. 4.12: Die aktuellen und inaktuellen Tempora des Lateinischen
Das zentrale aktuelle Tempus war auch im Lateinischen das Präsens. Lassen wir die üblichen Diskursbedeutungstypen (Burkard/Schauer 52012: 180–182, mit Beispielen) Revue passieren. – Es wird als „aktuelles“ Präsens verwendet. Der Sachverhalt besteht zum Zeitpunkt des Sprechens und kann danach andauern. Für diesen zweiten Fall finden wir im Lateinischen eher das Futur. – Das „resultative“ Präsens stellt einen Sachverhalt dar, „der in der Vergangenheit begonnen hat“ und zum Zeitpunkt des Sprechens noch andauert: „Iam pridem cupio Alexandriam visere“, „Ich wünsche mir schon lange, Alexandria zu besuchen“ (Cicero, Att. 2,5,1). – Das „iterative“ Präsens: „Cottidie ad te litteras mitto“, ‚Ich schreibe dir täglich‘ (Cicero, Att. 5,7,1). – Das „generelle oder gnomische“ Präsens steht für überzeitlich „gültige Wahrheiten“: „Solet idem Roscius dicere“, ‚Ebendieser Roscius pflegte zu sagen‘ (Cicero, de orat. 1, 254). – Als „historisches“ Präsens neutralisiert das Präsens die Opposition zwischen Präsens und Perfekt: „Ille respondit …“, ‚Da antwortet er …‘. – Auch das so genannte „literatorische“ Präsens ist ein Fall von Neutralisierung; es steht statt des Perfekts und es stellt „die Aktualität eines Autors früherer Zeiten“ dar, „der noch gelesen wird“: „Lucilius narrat“, ‚Lucilius erzählt‘ (Cicero, Tusc. 4,48), „De iuvenum amore scribit Alcaeus“, ‚Über die Liebe der jungen Leute schreibt Alcaeus‘ (Cicero, Tusc. 4,71). Man kann hierin auch eine Realisierung des überzeitlichen Präsens sehen, denn immer wenn jemand einen Autor liest, wird das aktuell, was er geschrieben hat. Das Futur stellt dar (dazu Burkard/Schauer 52012: 183–184):
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– einen lange nach dem Zeitpunkt des Sprechens eintretenden oder noch andauernden Sachverhalt oder einen von der Gegenwart in die Zukunft andauernden Sachverhalt: „Cras aderit“, „Morgen wird er da sein“ (Cicero, fam. 16,17,2), – allgemeine Wahrheiten als „dauerndes generelles oder gnomisches Futur“: „Semper sapiens in aegritudine ut perturbatione animi vacabit“, ‚Der Weise wird bei Kummer und Aufregung immer frei sein‘ (Cicero, Tusc. 3,15), – als prospektives Futur einen in der Vorausschau vorweggenommenen Sachverhalt statt des direkteren Präsens: „Fatebuntur Stoici haec omnia dicta esse praeclare“, ‚Die Stoiker werden sagen, dass dies alles sehr klar gesagt worden ist‘ (Cicero, fin. 4,19), – in der ersten Person eine Absicht des Sprechers, d. h. es enthält eine Modalität, – ebenfalls eine Modalität in der zweiten oder dritten Person zum Ausdruck eines Befehls, eines Wunsches oder einer Bitte: „Valebis meaque negotia videbis meque dis adiuvantibus ante brumam exspectabis“, ‚Lebewohl, du sollst nach meinen Geschäften sehen und mich, so denn die Götter wollen, vor der Wintersonnenwende erwarten‘ (Cicero, fam. 7,20,2). Das Perfekt wird für das Erzählen und die Darstellung allgemeiner Erkenntnisse verwendet. Die lateinischen Diskursbedeutungstypen (Burkard/Schauer 52012: 186–188) konvergieren im Allgemeinen mit den romanischen (2.3.1.2). Das Zentrum der inaktuellen Ebene war im Lateinischen das Imperfekt (Bassols de Climent I: 1963: cap. XV; Burkard/Schauer 52012: 184–186). Das Imperfekt ist das inaktuelle Tempus schlechthin: – Als inaktuelles Tempus stellt das Imperfekt den Hintergrund zu aktuell erzählten Sachverhalten dar: „Cum Caesar in Galliam venit, alterius factionis principes erant Haedui, alterius Sequani“, „Als Caesar nach Gallien kam, waren die Vormacht der einen Partei die Häduer, die der anderen die Sequaner“ (De bello Gallico VI, 12; die Beispiele aus diesem Werk zitiere ich nach dem in der Bibliographie angegebenen Quelle). In diesem Sinne wird die Lage der Helvetier im gallischen Krieg beschrieben (I, 6). In diesem Tempus stellt Caesar dort sein Vorwissen über Diviacus dar (I, 19). Die parallele Perspektive stellt im folgenden Satz intellegebat dar, der Einschub „atque antea senserat“ enthält eine retrospektive Perspektive: „tum Labienus tanta rerum commutatione longe aliud sibi capiendum consilium, atque antea senserat, intellegebat neque iam, ut aliquid adquireret proelioque hostes lacesseret“ (De bello Gallico VII, 59). „Da kam Labienus zur Einsicht, dass er in einer solchen veränderten Lage eine andere Entscheidung treffen müsse – und zwar hatte er das schon vorher eingesehen – und meinte nicht mehr, dass er eine Eroberung machen und durch eine Schlacht die Feinde herausfordern könne“.
– In Abhängigkeit von einem Tempus der Vergangenheit steht eine Hintergrundinformation auch dann im Imperfekt, wenn der Sachverhalt zum Zeitpunkt des
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Sprechens noch besteht: „ipse cum omnibus copiis in Morinos profiscitur, quod inde erat brevissimus in Britanniam traiectus“, „Er selbst [scil. Caesar] zog mit dem ganzen Heer zu den Morinern, weil von dort die Überfahrt nach Britannien am kürzesten ist“ (De bello Gallico 4,21,3). Das ist wieder eine Sache der Perspektive. Caesar wechselt nicht von der Sicht der dargestellten Ereignisse zur Feststellung, dass der Küstenstrich der Moriner der britannischen Küste auch später noch am nächsten liegt, wie es in der deutschen Übersetzung zum Ausdruck kommt. – Mit dem imperfectum iterativum werden „sich öfter wiederholende Handlungen, […] dauernde Zustände, bestehende Sitten, Gewohnheiten, Einrichtungen“ dargestellt: „Sophistae appellantur ii, qui aut ostentationis aut quaestus causa philosophabantur“, ‚Sophisten heißen diejenigen, die entweder aus Angeberei oder aus Gewinnsucht Philosophie betrieben‘ (Cicero, ac. 2,73). – Wenn gesagt wird, dass bei Verba dicendi et sentiendi auch das Perfekt möglich ist (Burkard/Schauer 52012: 185), dann wird der Unterschied zwischen aktuell und inaktuell nicht berücksichtigt: „Dicebat melius quam scripsit Hortensius“, ‚Hortensius sprach besser, als er schrieb‘ (Cicero, orat. 132). Die deutsche Übersetzung ebnet hier einen Tempusunterschied ein: Die Rede von Hortensius liegt nicht mehr vor; was er geschrieben hat, aber sehr wohl. Die Tempora des perfectum sind die Tempora der retrospektiven Perspektive. Damit werden die einheitliche Funktion des Perfektstamms -v- und seine temporale Funktion beschrieben. Retrospektiv vom Imperfekt her gesehen drückt das Plusquamperfekt Vorzeitigkeit aus (Burkard/Schauer 52012: 188–189), das Futur II Vorzeitigkeit gegenüber dem Futur I (Burkard/Schauer 52012: 184). Von allen diesen Formen sind nur das Präsens und das Imperfekt in ihren grundlegenden Verwendungstypen erhalten geblieben. Alle anderen Tempora des Indikativs haben einen Wandel erfahren. Insofern sich die lateinischen Morpheme erhalten haben, werden sie in diesem Abschnitt behandelt. Das lateinische Perfekt setzt sich zu einem Teil fort, zum anderen wird es periphrastisch gebildet, wenn es einen Sachverhalt ausdrücken soll, der resultativ bis an die Gegenwart heranreicht. Das Perfekt drückt von der Trennung der beiden Verwendungsbereiche an die retrospektive Perspektive auf der aktuellen Ebene aus, damit ist es geeignet als Erzähltempus. Das Plusquamperfekt drückte die Vorvergangenheit aus, meist gegenüber dem historischen Perfekt. „ibi nactus recentem equitatum, quem multis ante diebus eo praemiserat, neque diurno neque nocturno itinere intermisso per fines Haeduorum in Lingones contendit“ (De bello Gallico VII, 9). „Hier fand er [scil. Caesar] Reiter mit frischen Kräften, die er schon viele Tage zuvor dorthin vorausgeschickt hatte, und eilte ohne Unterbrechung bei Tag oder bei Nacht durch das Häduerland zu den Lingonen.“
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Da seine Verwendung eine erste Zeitstufe impliziert, die typischerweise im Perfekt, im historischen Präsens oder im Imperfekt steht, wird es eher in Nebensätzen wie in unserem Beispiel als in unabhängigen Sätzen verwendet. Auch im Portugiesischen, Spanischen und im valencianischen Katalanisch drückt es die Vorzeitigkeit aus, aber nicht mehr allgemein, sondern neben dem periphrastischen Ausdruck. Im Portugiesischen ist diese Verwendung noch, im Vergleich gesehen, die relativ üblichste. In dieser Verwendung nimmt das Plusquamperfekt die Stelle der retrospektiven Perspektive auf der inaktuellen Ebene ein. Für eine bestimmte romanische Entwicklung ist die schon im Lateinischen belegte Verwendung des Plusquamperfekts statt des Perfekts relevant; „es handelt sich um eine stilistische Überbietung der Vergangenheit, deren schneller Ablauf ausgedrückt werden soll (Verg. Aen. 12, 430)“ (Lausberg 1962: 207). In dieser Verwendung ist das Plusquamperfekt im frühen Altfranzösisch belegt. Die Eulaliasequenz erhält noch habuerat > avret und fecerat > firet. Die einzigen Tempora, deren Form und Funktion praktisch unverändert bleiben, sind das Präsens und das Imperfekt. Die anderen Formen erhalten einen periphrastischen Ausdruck und sind im folgenden Abschnitt zu besprechen.
Periphrastischer Ausdruck der Tempora Neben dem herkömmlichen paradigmatischen Verbalsystem bilden sich periphrastische Tempora heraus. Dieser Wandel tritt im Futur und im Perfekt ein. Es ist dabei auffällig, dass die Tempora im Griechischen und im Vulgärlatein parallel gestaltet sind. Die periphrastischen Tempora führen an verschiedenen Stellen des Systems eine sekundäre Perspektive ein. Damit werden, typologisch gesehen, die relationellen Tempora weiter ausgebaut, denn es wird ein sekundärer Unterschied innerhalb der an sich inneren, nicht-relationellen Bestimmungen eingeführt, die die Tempora darstellen. Betrachten wir die Entstehung des periphrastischen Perfekts. Ein Tempus kann einen einzigen Zeitraum darstellen wie in cantavi oder eine sekundäre Relation zwischen zwei Zeiträumen beinhalten wie in cantatum habeo. Im klassischen Latein existierte nur der paradigmatische Ausdruck cantavi, der in cantatum habeo enthaltene Unterschied wurde erst im Vulgärlatein eingeführt. Das Perfekt differenziert also seine Diskursbedeutungstypen dadurch, dass für den einen Diskursbedeutungstyp der alte Ausdruck erhalten bleibt und für den anderen ein neuer geschaffen wird. Während sich das historische Perfekt direkt in den romanischen Sprachen fortsetzt, erhalten die Redebedeutungen des resultativen Perfekts, die im Lateinischen zum großen Teil lexikalisiert waren, und diejenigen des komplexiven Perfekts einen periphrastischen Ausdruck: „Munitae sunt palpebrae vallo pilorum“, „Die Augenlider sind von einem Palisadenring von Wimpern geschützt“ (Cicero, nat. deor. 2, 143), „mons, qui sacer appellatus est“, „der Berg, der heilig genannt worden ist“ (Cicero, Brut. 254; Burkard/ Schauer 52012: 182).
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Ein Teil der Diskursbedeutungstypen des lateinischen Perfekts wird folglich durch das zusammengesetzte Perfekt ersetzt. Dadurch entsteht ein Unterschied zwischen Perfekt und Aorist wie z. B. in habeo scriptum. Das Tempus in revelavit aus unserem Textbeispiel entsprach “il révéla” und “il a révélé” (2.3.1.2). Das neue vulgärlateinische Perfekt habeo scriptum drückt eine Relation aus zwischen einem Sachverhalt der Vergangenheit, der gleichzeitig ein Ergebnis in der Gegenwart hat. Damit entsteht ein eigentlich perfektives Tempus. Das periphrastische Plusquamperfekt drückt die Vorvergangenheit in ihren beiden implizierten Zeitstufen formal getrennt aus. Die erste Zeitstufe ist im Partizip enthalten, die zweite in der Imperfektform des Hilfsverbs: habebam cantatum oder cantatum habebam. Es kann aber in narrativen Texten auch erforderlich sein, eine Zeitstufe Perfekt vor einer anderen Zeitstufe Perfekt zu situieren: habui cantatum als Zeitsufe vor cantavi. Dieses Tempus wird frz. passé antérieur, sp. préterito anterior genannt. Das periphrastische Futur ist eine besonders interessante Innovation. Für den Untergang des lateinischen Futurs werden mehrere Gründe angeführt. Das verbale Syntagma, das zum Futur werden sollte, wird ebenfalls überall periphrastisch mit habeo, debeo oder volo + Infinitiv neu gebildet. Die Periphrase mit habeo wie in dicere habeo zeigt, dass diese dem griechischen écho épein entspricht. Die Periphrase dicere habeo beinhaltet einen Sachverhalt in der Zukunft und gleichzeitig eine gegenwärtige Absicht: „Ein zukünftiges Sagen entspricht meiner gegenwärtigen Absicht“ (Coseriu 1988: 214). Das semantische Zwischenglied zur futurischen Bedeutung ist eine modale, wie sie auch beim Futur erscheint: „sex pondo et selibram debet habere“ (Petronius 41995: 132, 133; 67, 7). Die französische und die spanische Übersetzung gestalten diesen Ausdruck genau nach: “Elle [Fortunata, la femme de Trimalcion] doit en avoir pour six livres et demie” (Pétrone 1972: 94); “Todo esto bien debe rondar las seis libras y media de peso” (Petronio 2003: 106). Freilich sind die Formen von habere bereits in den frühesten romanischen Texten zu bloßen Endungen geworden. Damit wird eine syntagmatische Bestimmung wieder zu einer paradigmatischen. Allerdings hat dieser Grammatikalisierungsprozess je nach Sprache unterschiedlich lange gedauert. In manchen älteren Sprachstufen wie dem Altspanischen konnten die unbetonten Personalpronomina noch zwischen der Infinitivform und dem Hilfsverb stehen. Dieses Verfahren hat das Portugiesische bis heute erhalten. Der Konditional kündigt sich mit modalen auf die Zukunft gerichteten Verwendungen bei Egeria an. Nachdem sie das zum Sinai hinführende Tal Wadi er-Raha im Präsens beschrieben hat, gibt sie offenbar die Rede ihrer Führer wieder, wenn sie eine geplante Handlung mit dem Infinitiv und dem Imperfekt von habere darstellt: „Ipsam ergo vallem nos transversare habebamus, ut possimus montem ingredi“ – „Dieses Tal mußten wir also durchqueren, um den Berg [scil. Sinai] besteigen zu können“ (Egeria 2 2000: 120/121). In direkter Rede würde hier transversare habemus stehen müssen, was in eine inaktuelle Form gebracht dann zur zitierten Form wird. Genau parallel zum Hinweg schreibt sie übrigens über den Rückweg vom Sinai:
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„sed non ipsa parte exire habebamus, qua intraveramus, sicut superius dixi, quia necesse nos erat et loca omnia sancta ambulare et monasteria […] videre“, „Wir konnten es [scil. das Tal] aber nicht an derselben Stelle verlassen, an der wir hineingekommen waren, weil – wie ich oben schon sagte – wir zu allen heiligen Orten wandern und alle Einsiedeleien sehen wollten“ (Egeria 22000: 134/135).
Das Zentrum der inaktuellen Zeitstufe wird hier mit „necesse nos erat“, einem Imperfekt, benannt, für die davon ausgehende Retrospektive steht das Plusquamperfekt „intraveramus“ und für die Prospektive „exire habebamus“. Wir können diese periphrastischen Ausdrücke keineswegs Tempora nennen, denn sie stehen noch ganz am Anfang einer Grammatikalisierung. Die vulgärlateinischen Tempora kann man in einem Schema zusammenfassen, das die sekundäre Perspektive darstellt:
Abb. 4.13: Die vulgärlateinischen Tempora
In den romanischen Sprachen wurden diese syntagmatischen Bestimmungen wieder zu paradigmatischen und drücken deshalb nur noch Zukunft aus. Es wurde aber wieder eine neue sekundäre Perspektive durch neue Periphrasen aufgebaut mit Hilfe von Formen des Verbs frz. aller, sp. pt. ir und im Rumänischen *volere: je vais dire, voy a decir, vou dizer, voi zice. Wenn diese Beziehungen äußere Beziehungen genannt werden, dann in dem Sinne, dass die finite Form der Verbalperiphrase den Satz in einen Zeitraum einordnet und die infinite Form sich auf einen anderen Zeitraum, sei es Zukunft oder Vergangenheit, bezieht. Für den Ausdruck der prospektiven Perspektive hat das Lateinische mit der periphrastischen Konjugation auf -turus einen eigenen Ausdruck. Diese Formen setzen sich nicht fort.
Aspekt Wir haben soeben gesehen, dass Varros Aspektunterscheidung von infectum und perfectum temporal umzudeuten ist. Damit soll jedoch nicht der Eindruck erweckt
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werden, dass der Aspekt keine lateinische Kategorie sei, im Gegenteil. Wir finden ihn in der Wortbildung als lexikalischen Aspekt z. B. als Wiederholung (reficere ‚von Neuem machen‘) oder Frequentativität bzw. Intensiverung (lectitare ‚eifrig lesen‘). Die große Innovation besteht jedoch in der Schaffung von Aspektperiphrasen nach dem Vorbild des Griechischen. Ich erwähne einige Aspektphänomene bei den Einzelsprachen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Mittelfranzösischen (5.8.3.5), kann jedoch diese neu ausgebaute Kategorie nicht in der notwendigen Ausführlichkeit behandeln, da ihr Ausdruck einzelsprachlich sehr verschieden ist. Dafür gebe ich einige Beispiele: frz. venir à für den Ausdruck der Eventualität in si les provisions venaient à manquer ‚wenn der Vorrat ausgehen sollte‘, sp. seguir + Gerundium für den kontinuativen Aspekt in sigue hablando ‚er, sie spricht weiter‘, pt. andar + a + Inf./ Gerundium/Adjektiv/Partizip für den komitativen Aspekt in ando triste ‚ich bin die ganze Zeit traurig‘, kat. estar + Gerundium für die „Schau“, d. h. die Betrachtung eines Sachverhalts zwischen zwei Punkten, in estic cantant ‚ich singe gerade‘, it. prendere a + Inf. für den globalen Aspekt in prende e se ne va ‚und dann geht er, sie einfach‘, rum. a (se) apuca de + Supinum für den ingressiven Aspekt in Vecinul se apucă de dres gardul ‚Der Nachbar macht sich daran, den Zaun auszubessern‘. Ich verweise auf die ausführliche Behandlung des Aspekts und seiner Herkunft durch Dietrich (1983).
Diathese oder Genera verbi: Das Passiv Die Diathese besteht in der Art und Weise, wie der im Verb ausgedrückte Sachverhalt dargeboten wird. Dabei sind folgende Möglichkeiten zu unterscheiden: a) Der Sachverhalt wird vom Agens aus betrachtet. Dieser Fall wird Aktiv genannt. b) Der Sachverhalt wird vom Objekt des Verbs her betrachtet. Diese Diathese ist das Passiv. c) Der Agens eines Sachverhalts fällt mit seinem Objekt zusammen. Diese Betrachtungsweise nennt man Medium. d) Der Sachverhalt wird ganz ausdrücklich ohne Agens dargestellt. Behauptet man in Anbetracht dieser vier Genera verbi, dass das zum Teil periphrastische Passiv des Lateins vollständig periphrastisch wird, dann ist das eine Vergröberung, denn dem lateinischen Passiv entsprechen die Fälle b)–d), das romanische Passiv beinhaltet dagegen nur den Fall b). Wir wenden uns im Folgenden nur dem Passiv zu. Dem Aktiv Caesar Gallos vicit ‚Caesar besiegte die Gallier‘ entspricht das Passiv Galli a Caesare victi sunt ‚Die Gallier sind von Caesar besiegt worden‘. Der Ausdruck dieses lateinischen Passivs wird im Vulgärlatein verstärkt, da der paradigmatische Ausdruck des Passivs überall aufgegeben und durch den syntagmatischen oder periphrastischen Ausdruck ersetzt wird. Es ersetzt amatus sum das paradigmatische amor und amatus fui die Form amatus sum. Im folgenden Beispiel aus Petron steht anstelle von dometur schon der periphrastische Ausdruck domata sit: „ita genium meum pro-
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pitium habebam, curabo, domata sit Cassandra caligaria“ („So wahr ich möchte, daß mein Schutzgeist mir gewogen ist: ich will es dahin bringen, daß sie stille ist, die Kommißstiefel-Kassandra“; Petronius 74, 14; 41995: 150–151). Wörtlich sagt er, dass ‚sie gezähmt worden ist/sei‘ (und meint ‚von mir‘), denn eine präsentische Bedeutung entspräche nach curabo nicht dem Sinn. Diese passivische Relation zwischen Agens und Objekt erhält also in Übereinstimmung mit dem typologischen Prinzip einen periphrastischen Ausdruck. Für die folgenden Diskursbedeutungstypen gilt dies nicht. Das lateinische Passiv wird auch für den medialen Fall c) verwendet. Fällt der Agens mit dem Objekt des im Verb ausgedrückten Sachverhalts zusammen, tritt an die Stelle des lateinischen Passivs zum einen eine reflexive Form des Verbs. Diese Verwendung lässt sich im ausgehenden vierten Jahrhundert bei Egeria belegen. Der reflexive Ausdruck erscheint aber in einer modernen französischen Übersetzung: „«Haec est civitas regis Melchisedech, quae dicta est ante Salem, unde nunc, corrupto sermone, Sedima appellatur ipse vicus»“ („Dies ist die Stadt des Königs Melchisedek, die früher Salem genannt wurde. Jetzt wird das Dorf nach einer verdorbenen Redeweise als Sedima bezeichnet“; Egeria 22000: 178, 179). Diese Verwendung entspricht nun einem modernen reflexiven Ausdruck: “C’est la ville du roi Melchisedech, qui s’est appelé autrefois Salem; de là vient que maintenant, ce nom s’étant déformé, ce villa s’appelle Sedima” (Égérie 1982: 185). Die französische Übersetzung zeigt mit “s’est appelé” und “s’appelle”, dass die reflexive Form des Verbs diese mediale Verwendung des lateinischen Passivs fortsetzt. Zu d). Im Lateinischen kann ausdrücklich von einem Agens abgesehen werden wie in dicitur. Auch diesem Diskursbedeutungstyp entspricht typischerweise eine reflexive Form des Verbs, z. B. sp. se dice, it. si dice, rum. se zice und zice (Coseriu 1988: 215). Im französischen on dit wird wie im deutschen man sagt der Agens eines Sachverhalts nicht genannt. Das Lateinische kannte ferner eine Gruppe von Verben mit passivischer Form und aktiver Bedeutung, die Deponentia. Diese werden meist nicht tradiert. Wenn sie später entlehnt werden wie consolari ‚trösten‘, dominari ‚herrschen‘, imitari ‚nachahmen‘ werden sie als aktive Verben in die romanischen Sprachen entlehnt: frz. consoler, dominer, imiter; kat. pt sp. consolar, dominar, imitar; it. consolare, dominare, imitare; rum. a consola, a domina, a imita. 4.5.2.8 Der Satz im Lateinischen und in den romanischen Sprachen In der Anwendung auf den Satz ist das typologische Prinzip nicht so offensichtlich wie in der Morphologie. Im klassischen Latein wird der Satz als Ganzes aktualisiert, denn die Nominalsyntagmen kennen keinen Artikel. Als Aktualisatoren funktionieren die Pronomina und vor allem die finiten Verbalmorpheme. Für eine typologische Betrachtung des Satzes kommt es auf die Stellung der Satzglieder an. Die Grammatiker unterscheiden dabei eine „grammatische“ und eine „rhetorische“ Wort- oder Satzgliedstellung. Die rhetorische Satzgliedstellung entspricht der Verteilung der
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Information im Satz, die heute je nach Ansatz z. B. als funktionale Satzperspektive in der Prager Schule, als Thema-Rhema-Gliederung (3.8.2) oder als Gliederung in Thema und Prädikation konzeptualisiert wird. Die lateinische Satzgliedstellung wird als das realisiert, was man in der deutschen oder der niederländischen Linguistik Satzklammer oder Satzrahmen nennt, nur ist die Satzklammer im Konkreten in der lateinischen Sprache eine andere und sie ist dieselbe für Haupt- und Nebensatz. In einer lateinischen Grammatik lautet sie: „Das Subjekt eröffnet den Satz, das Prädikat beendet ihn“ (Burkard/Schauer 22012: 575). Die zum Subjekt gehörenden Bestimmungen stehen in der Nähe des Subjekts, die das Verb bestimmenden Satzglieder stehen vor dem Verb, die Umstandsbestimmungen dazwischen: „Caesar acceptis litteris hora circiter undecima diei statim nuntium in Bellovacos ad M. Crassum quaestorem mittit“ („Caesar, der den Brief etwa um die elfte Stunde erhielt, schickt sofort einen Boten ins Land der Bellovaker zum Quästor Marcus Crassus“; De bello Gallico V, 46). Wie hier steht bei Caesar das Verb „in einigen Passagen in 80–100 % aller Fälle am Ende des Haupt- oder Gliedsatzes“ (Burkard/Schauer 22012: 575, Anmerkung 207). Fügen wir hinzu, dass diese Aussage für den Assertivsatz gilt, der gemeinhin als Satz schlechthin dargestellt wird. Die lateinischen Äußerungskategorien werden aber jeweils sehr verschieden realisiert, weshalb diese Einschränkung hier besonders angebracht ist (zu den Äußerungskategorien 1.4.5.2). Da es uns hier um funktionelle Phänomene in der lateinischen Sprache und nicht um Unterschiede in der Informationsdarbietung geht, wird die Thema-Rhema-Gliederung außer Acht gelassen. Stellen wir aber dennoch fest, dass das Verb am Anfang des Satzes vorkommt, wenn etwa eine Erklärung gegeben oder ein neues Thema eingeführt wird: „est enim hoc Gallicae consuetudinis, uti et viatores etiam invitos consistere cogant“ („Es ist nämlich gallische Gewohnheit, Wanderer auch gegen ihren Willen aufzuhalten“; De bello Gallico IV, 5). Die Satzklammer interpretiert Coseriu (1988b: 219) nun als Satzkern, der aus Subjekt und Verb besteht. Die weiteren Bestimmungen sind keine Bestimmungen des Verbs, sondern dieses Satzkerns insgesamt. Betrachten wir dazu einige Beispiele aus De bello Gallico. In „Nam omnis civitas Helvetia in quattuor pagos divisa est“ („das ganze helvetische Volk besteht nämlich aus vier Teilen oder Gauen“; I, 12) geht das Determinans omnis dem Substantiv civitas voraus. Das Determinans kann aber ebenfalls dem Substantiv nachgestellt werden wie die folgende Partizipialkonstruktion: „Helvetii omnium rerum inopia adducti legatos de deditione ad eum [id est Caesarem] miserunt“ („Der Mangel an allem zwang die Helvetier, Gesandte wegen ihrer Unterwerfung an Caesar zu schicken“; I, 27). Jedenfalls stehen die Bestimmungen des Subjekts in seiner unmittelbaren Nähe, ob sie ihm nun vorausgehen oder folgen. Wenn ein Verb ein anderes Verb determiniert, stehen die beiden Formen am Ende des Satzes bzw. Nebensatzes. Dies ist bei den eigentlichen Bestimmungen des Verbs, den Modalverben, der Fall: „[Caesar] Dumnorigi custodes ponit, ut, quae agat quibuscum loquatur scire possit“ („Er ließ Dumnorix überwachen, um über seine Handlungen und Gespräche unterrichtet zu sein“; I, 20, 6). Diese Reihenfolge der Satzglieder
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wird ebenfalls verwendet, wenn andere Verben wie etwa Verben in periphrastischen Formen und überhaupt Verben vorkommen, deren Funktion es ist, andere Verben zu determinieren: „Ibi Ceutrones et Graioceli et Caturiges locis superioribus occupatis itinere exercitum prohibere conantur“ („In den Alpen besetzen die Keutronen, Graiokeler und Katurigen beherrschende Punkte und versuchten, dem Heer den Weg zu versperren“; I, 10). Die Ergänzungen des Verbs wie direktes und indirektes Objekt sowie die Umstandsbestimmungen stehen dagegen zwischen dem Subjekt und dem Verb. Dies bedeutet, dass diese Bestimmungen als Bestimmungen des Satzkerns, d. h. des Subjekts und des Verbs zusammen als Satzklammer funktionieren und daher als innere materielle Bestimmungen behandelt werden. Demgegenüber ist das Vulgärlatein durch eine starke Kohäsion zwischen Subjekt und Prädikat gekennzeichnet. Der Wandel der lateinischen synthetisierenden Satzklammer findet schon im gesprochenen Lateinisch der Kaiserzeit statt. Der den Satz erfassende typologische Wandel von der Bevorzugung der Stellung der Satzglieder im Satzkern zur Stellung der Satzglieder außerhalb des Satzkerns ist also früh eingetreten. In seiner radikalsten Form begegnet er uns im Bibellatein der Vetus Latina. War diese Sprache zwar noch durch den Litteralismus der Bibelübersetzung geprägt, so weist das christliche Latein doch typologisch die gleichen Merkmale auf. Ich greife auf zwei Textstücke vom Ende des 4. Jahrhunderts zurück, die López García wortwörtlich übersetzt, den Anfang des Itinerarium Egerias und einen Auszug aus dem Lukasevangelium: „Interea [mientras tanto] ambulantes [andando] pervenimus [llegamos] ad quendam [a cierto] locum [lugar], ubi [donde] se […] tamen [ciertamente] montes illi [los montes aquellos], inter quos [entre los quales] ibamus [íbamos], aperiebant [se abrían] et faciebant [y formaban] vallem [un valle] infinitam [ilimitado] ingens [en grado sumo], planissimam [muy llano] et valde [y considerablemente] pulchram [hermoso], et trans [y detrás del] vallem [valle] apparebat [aparecía] mons [la montaña] sanctus [sagrada] Dei [de Dios] Syna [el Sinaí].“ „Als wir weiterwanderten, kamen wir zu einem Ort, wo sich die Berge, zwischen denen wir hindurchwanderten, öffneten und ein endloses Tal bildeten – außerordentlich groß, völlig eben und sehr schön; und auf der anderen Seite des Tales zeigte sich uns der heilige Gottesberg, der Sinai“ (Egeria 22000: 119) „Factum est [sucedió] autem [pues] in diebus illis [en los días aquellos], [que] exiit [salió] edictum [un edicto] a Caesare Augusto [de César Augusto] ut [para que] describeretur [se registrase] universus [la totalidad] orbis [del mundo]. Haec descriptio [este censo] prima [por primera vez] facta est [se hizo] a praeside [bajo el gobierno] Syriae [de Siria] Cyrino [Cirino]; et ibant [e iban] omnes [todos] ut profiterentur [para censarse] singuli [uno a uno] in suam civitatem [a su ciudad]. Ascendit [subió] autem [pues] et Ioseph [José] a Galilea [desde Galilea] de civitate Nazareth [de la ciudad de Nazaret] in Iudaeam [hasta Judea] in civitatem Dauid [a la ciudad de David], quae [que] vocatur [se llama] Bethlehem [Belén], eo quod [dado que] esset [era] de domo [de la casa] et familia [y de la familia] David [de David], ut profiteretur [para registrarse] cum Maria [con María], desposata [casada] sibi [con él], uxore [mujer] praegnante [embarazada]. Factum est [sucedió] autem [pues],
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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cum essent [cuando estaban] ibi [allí], [que] impleti sunt [se cumplieron] dies [los días] ut [para que] pareret [pariera]. Et peperit [y parió] filium suum [a su hijo] primogenitum [primogénito] et pannis [y con los trapos] eum [lo] involvit [envolvió] et reclinavit [y reclinó] eum [lo] in praesepio [en un pesebre], quia [porque] non erat [no había] eis [para ellos] locus [sitio] in diversorio [en la posada] (Lucas 2, 1–14)“ (López García 2000: 27–28; die Schreibungen und habe ich zu vereinheitlicht). „1. Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. 2. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. 3. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. 4. Da machte sich auf auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war, 5. auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. 6. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. 7. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ (Lukas 2,1–7).
Zum Vergleich eine Übersetzung ins Französische: “Or, il advint, en ces jours-là, que parut un édit de César Auguste, ordonnant le recensement de tout le monde habité. Ce recensement, le premier, eut lieu pendant que Quirinius était gouverneur de Syrie. Et tous allaient se faire recenser, chacun dans sa ville. Joseph aussi monta de Galilée, de la ville de Nazareth, en Judée, à la ville de David, qui s’appelle Bethléem, – parce qu’il était de la maison et de la lignée de David – afin de se faire recenser avec Marie, sa fiancée, qui était enceinte. Or il advint, comme ils étaient là, que les jours furent accomplis où elle devait enfanter. Elle enfanta son fils premier-né, l’enveloppa de langes et le coucha dans une crèche, parce qu’ils manquaient de place dans la salle” (La bible de Jérusalem 1998: 1762–1763).
Die Nominalsyntagmen des Satzes sind relativ unabhängig von einander. Ihre Kasus werden nicht vom Verb regiert, sondern jeder Kasus hatte eine eigene Bedeutung (López García 2000: 61), der ihn für die Kombination mit bestimmten Verben geeignet machte. Der Satz wird nicht in dem Maße in Ergänzungen und Angaben aufgebaut wie in den romanischen Sprachen, er wird als Ganzes gebildet. Die Nominalsyntagmen erhalten ihre Interpretation vor dem Hintergrund des Verbs und als Elemente der Sachverhaltsdarstellung insgesamt. In den romanischen Sprachen wird die Beziehung des Satzes zur Situation durch deiktische Verbmorpheme (z. B. Tempusmorpheme) hergestellt und durch die Determinanten der Nominalphrasen. Es gehen allgemein der Ablativus absolutus und der Accusativus cum infinitivo unter. Der Ablativus absolutus besteht formal aus Substantiv + Partizip im Ablativ oder einem Substantiv und einer anderen nominalen Form (me duce ‚unter meiner Führung‘) und entspricht inhaltlich einer Subjekt-Prädikat-Struktur. Absolut wird er deswegen genannt, weil er vom Satzganzen losgelöst und nicht durch Rektion in den Satz integriert ist. Er entspricht immer einer freien Angabe: Zeit, Grund, Bedingung, Art und Weise. Die zeitliche Beziehung zwischen Ablativus absolutus und Hauptverb
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ist bei Verwendung des Partizip Präsens immer die der Gleichzeitigkeit, bei Verwendung des Partizip Perfekts die der Vorzeitigkeit. Die Wortfolge im Nominalsyntagma und die Gliedfolge im Satz werden regelmäßiger. Man macht dafür die Umstrukturierung des vokalischen Systems von Quantitäten in ein System von Qualitäten verantwortlich, das in der Morphologie eine Reduktion der Morpheme zur Folge gehabt hätte. Die Subordination erfährt eine völlig neue Gestaltung, wie sie ut zunächst leistete, doch verschwindet diese subordinierende Konjunktion. Das romanische System der subordinierenden Konjunktionen wird ausgehend von quod aufgebaut. Dieses Element, das der Nominalisierung eines Satzes dient, wird kombiniert mit Präpositionen allein wie in post quod oder mit Präpositionen und dem Pronomen id wie in per id quod (Herman 1963). 4.5.2.9 Wortschatz Zu den lateinisch-romanischen Gemeinsamkeiten gehören die Verfahren der Wortbildung. Zwar werden die Verfahren der Komposition deutlich reduziert, aber die Ableitung dominiert weiterhin in den romanischen Sprachen. Ich verweise dazu auf 2.3.2. Ansonsten habe ich die Diachronie und Synchronie der romanischen Wortbildung ausführlich dargestellt (Lüdtke 2005 und 2011). Diese Dichotomie ist in der Geschichte des lateinischen Wortschatzes wie immer zu unterscheiden und auf alle weiteren Gesichtspunkte anzuwenden. Beim Sprachkontakt stellen wir zwei interdependente Vorgänge fest, zum einen die Übernahme von Entlehnungen in die lateinische Sprache, zum anderen die Ausstrahlung des lateinischen Wortschatzes auf andere Sprachen. Die Entlehnungen werden regelmäßig in den Geschichten einzelner romanischer Sprachen behandelt. Die Ausstrahlung des lateinischen Wortschatzes in ihren eigenen Zusammenhängen betont dagegen H. Lüdtke (1968). Die Beziehung zwischen dem sprachlichen Zeichen und dem Bezeichneten wird in Gestalt der unterschiedlichsten linguistischen Disziplinen behandelt, deren Gemeinsamkeiten zu wenig gesehen werden. Die alte Forschungsrichtung „Wörter und Sachen“ oder „Sachen und Wörter“ hat im Rahmen der Sprachgeschichte, der etymologischen Forschung und der Sprachgeographie Entscheidendes geleistet. Heute werden Bezeichnungszusammenhänge innerhalb der kognitiven Semantik behandelt und zum Teil auf die Geschichte des romanischen Wortschatzes angewandt (Blank 1997, 2001). Die Untersuchung von Fachsprachen und Terminologien schließt hier ebenfalls an. Ein wichtiger Teil der lateinisch-romanischen Lexikologie ist die Betrachtung der diatopischen, diastratischen und diaphasischen Variation bzw. der syntopischen, synstratischen und symphasischen Varietäten. Dieser Bereich ist am ausgiebigsten untersucht worden. Die Unterschiede zwischen Lateinisch und Vulgärlatein sind zu einem guten Teil diastratische und diaphasische Unterschiede.
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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Es lassen sich die folgenden gemeinsprachlichen Wörter den standardsprachlichen gegenüberstellen. Die im Vulgärlatein bevorzugten sind dabei morphologisch regelmäßiger, sie sind oft auch plastischer. Wie man an den deutschen Wortentsprechungen erkennen kann, sind die Bedeutungen der verglichenen Wörter keineswegs identisch, in einigen Fällen ist aber nur die diasystematische Markierung verschieden. Wir nennen zuerst das Wort, das sich materiell fortsetzt, danach die Wörter des klassischen Lateins. Den Schluss bilden einige Wörter, die in den romanischen Sprachen in uneinheitlicher Weise neu geschaffen oder ersetzt werden. manducare ‚kauen, essen‘ – (com)edere ‚(auf)essen, verzehren‘ plorare ‚laut weinen‘, plangere ‚wehklagen‘ – flere ‚weinen‘ portare ‚tragen, bei sich führen‘ – ferre ‚tragen‘ iocus ‚Scherz, Zeitvertreib‘ – ludus ‚Spiel‘ iocari ‚scherzen‘ – ludere ‚spielen‘ focus ‚Feuerstätte‘ – ignis ‚Feuer‘ casa ‚Hütte‘ – domus ‚Haus‘ ficatum ‚Stopfleber‘ – iecur ‚Leber‘ gladius ‚(kurzes, zweischneidiges) Schwert‘ – spatha ‚(breites, zweischneidiges) Schwert‘ – ensis ‚Schwert‘ chorda ‘(Darm-)Saite’ – funis ‚Seil‘ – restis ‚Seil‘ homo ‚Mensch, Mann‘ – vir ‚Mann‘ bucca ‚Backe‘ – os ‚Mund‘ camba (grch.) ‚Bein‘ – crus ‚Unterschenkel, Schienbein‘ perna ‚Hinterkeule‘ – femur ‚Oberschenkel‘ auricula ‚Öhrchen‘ – auris ‚Ohr‘ terra ‚Erde, Land‘ – tellus ‚Erde‘ mare ‚Meer‘ – aequor ‚Ebene, Meer‘ flumen/fluvius ‚fließendes Wasser, Fluss‘ – amnis ‚Strom‘ petra (grch.) ‚Fels, Stein‘ – lapis ‚Stein‘ pluvia ‚Regen‘ – imber ‚Regen‘ *montanea ‚Gebirge‘ – mons ‚Berg‘ *adripare ‚landen‘ – venire ‚kommen‘ *berbicarius, von vervex ‚Hammel‘, ‚Hirt‘ – pastor ‚Hirt‘ non ‚nicht‘ (allgemein) – haud ‚nicht‘ etiam ‚auch‘ an, Fragepartikel donec ‚solange‘
Darunter befinden sich auch Ableitungen, besonders Diminutiva statt einfacher Wörter wie z. B. auricula, die in der Appendix Probi korrigiert werden. In dieselbe Richtung weisen die romanischen Sprachen mit frz. soleil ‚Sonne‘, it. ginocchio, frz. genou ‚Knie‘ usw. Andere Unterschiede sind diatopisch. Diatopische Unterschiede sind rum. plomb, it. piombo, pt. chumbo auf der einen Seite, sp. plomo, kat. plom auf der anderen. Man vergleiche auch sibilare in sp. silbar vs. sifilare in frz. siffler, sp. chiflar, pater vs. tatta, mater vs. mamma, comedere vs. manducare. In geschichtlicher Perspektive
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wurden sie bevorzugt von den heutigen romanischen Sprachen her betrachtet. Die Regionen, die mit Rom in engerer Verbindung standen, übernahmen Neuerungen leichter. Die entfernteren Regionen wie Hispanien und Dakien waren Randregionen, die manchmal in gemeinsamen Konservationen übereinstimmen, während die mit der Apenninhalbinsel besser verbundene Tarraconensis spätere Neuerungen noch übernahm. Durch solche Unterschiede lassen sich einige weitere Wortverbreitungen erklären. Zwar wird scire im Allgemeinen durch sapere ersetzt, jedoch nicht im Rumänischen, das dafür weiterhin a şti < scire hat. Incipere wird meist durch *cominitiare ersetzt, das Rumänische kennt aber immer noch a începe und das Bünderromanische (Surs.) intschever. Es stehen sich metus und pavor gegenüber wie in sp. miedo, pt. medo und frz. peur, it. paura, arena und sabulum wie in sp. arena, pt. areia und frz. sable, it. sabbia. Ein Teil des iberoromanischen, besonders des spanischen und des portugiesischen Wortschatzes ist in der Regel nicht in anderen romanischen Sprachen dokumentiert. Andererseits zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen Rumänisch, Italienisch, Französisch und oft auch Katalanisch. Man vergleiche die folgenden Wörter, die geographisch angeordnet sind, damit die räumlichen Zusammenhänge erkennbar werden:
Abb. 4.14: Diatopische Unterschiede im lateinischen Wortschatz
Die Wörter sind von links nach rechts zu lesen. Die Bedeutungsangaben beziehen sich dabei auf die romanischen Bedeutungstypen, nicht auf die Bedeutungen der Etyma und letztlich auch nicht auf die heutigen Bedeutungen wie z. B. im Fall
4.5 Das Vulgärlatein oder die lateinische Gemeinsprache
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von saoûl ‚betrunken‘, sondern zur frühen romanischen Zeit: quaerere/*volere ‚wollen‘, curtare/*taliare ‚schneiden‘, fecho + -are/serare/claudere ‚schließen‘, *callare/tacere ‚schweigen‘, tenere/habere ‚haben‘, fartus/satullus ‚satt‘, longus/largus ‚lang‘, germanus/frater ‚Bruder‘, plata/argentum ‚Geld,‘ canis/ perro (ungesicherte Herkunft)/gothicus ‚Hund‘, tarde/sero ‚spät‘, rata (ungesicherte Herkunft)/sorex ‚Maus‘, passer/avicellus ‚Vogel‘, perna/gamba/petiolus ‚Bein‘, cama/lectus ‚Bett‘, metiri/mensurare ‚messen‘, intumescere/inflare/ conflare ‚anschwellen‘, comedere/manducare ‚essen‘. Im Einzelnen müsste man jede Herkunft diskutieren. Es kommt aber nicht auf die Einzelheiten an, sondern auf die Sprachräume, die sich durch diese Wörter charakterisieren lassen. Die iberoromanischen und die rumänischen Wörter der folgenden Tabelle können einer älteren Phase des Lateinischen entsprechen. Die Innovationen, die von Italien und Gallien ausgingen, erreichten nicht mehr die entfernteren Regionen im Osten und Westen des Römischen Reichs.
Abb. 4.15: Konservationen und Innovationen im lateinischen Wortschatz
Die Etyma der zitierten Wörter sind mensa/tabula ‚Tisch‘, formosus/bellus ‚schön‘, *intunce/ad tunc-ce/ad illas horas/ad illam horam ‚dann‘, magis/plus ‚mehr‘, adflare/*tropare ‚finden‘, fervere/bullire ‚kochen‘, caseum/formaticum ‚Käse‘, audire/sentire/intendere ‚hören‘, capitia/caput/testa ‚Kopf‘, fabulari/parabolare ‚sprechen‘, foedus/*laid/brutus ‚hässlich‘, infirmus/male habitus ‚krank‘, ire/ambulari ‚gehen‘, materia/fustis/*bosk/lignum ‚Holz‘, mulier/domina/ femina ‚Frau‘, petere/demandare/quaerere ‚bitten‘, verrere/*excomborare/ balai + -er/spatium + -are ‚fegen‘.
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Diastratisch einzuordnen ist der Fachwortschatz. Der Fachwortschatz der Landwirtschaft und des Rechts ist römischen Ursprungs. Seine tiefe Verwurzelung in der lateinischen Sprachgeschichte zeigen die abstrakten Bedeutungen, die diese Wörter entwickelt haben. Die sonstigen Fachsprachen aber sind stark vom Griechischen beeinflusst. Schließlich ist der Wortschatz im Rahmen der lexikalischen Semantik zu untersuchen. Hierbei geht es um die Beziehungen zwischen den signifiés in der Synchronie und der Diachronie (Coseriu 1964, Geckeler (Hrsg.) 1978, Pottier 1978). Der Gesichtspunkt der lexikalischen Semantik ist wichtig, um zahlreiche Annahmen der älteren Wortgeschichte zurechtzurücken. So nahm man gerne an, dass die lateinische Bedeutung sich erhalten habe, wenn die Fortsetzung des lateinischen signifiant immer noch im Zusammenhang mit dem steht, was das lateinische signifié bezeichnet hatte. Für Darmesteter (1887: 155–161) etwa hat sich die Bedeutung der Substantive carnem, civitatem, crucem, factum, familiam, fidem, plantam, tabulam, der Adjektive iuvenem, novum, veterem, nigrum in frz. chair, cité, croix, fait, famille, foi, plante, table, jeune, neuf, vieux, noir usw. nicht gewandelt. Es ist zwar richtig, dass immer die jeweiligen signifiés in einem Teil des Bezeichneten übereinstimmen, die signifiés aber sind anders gestaltet. Das lässt sich am Beispiel von niger zeigen. Dieses Adjektiv, das ‚glänzend schwarz‘ im Lateinischen bedeutete, stand in Opposition zu ater ‚matt schwarz‘, während es diese Opposition bei noir ‚schwarz‘ im Französischen nicht mehr gibt. Ein klares Beispiel für die Neugestaltung der signifiés mit signifiants von sehr unterschiedlicher Herkunft ist das Wortfeld der Verwandtschaft (2.3.3). Die Verwandtschaftsverhältnisse der römischen Familie werden reduziert auf die kleine christliche Familie. Das römische Wortfeld der Verwandtschaft ist relationell aufgebaut und geht wie in anderen Sprachen von der Person aus, die im Zentrum der Verwandtschaftsbeziehungen steht, dem Ich oder Ego. Im Folgenden werden die Wörter, die in irgendeiner Weise als signifiants in den romanischen Sprachen fortgesetzt werden, in Kapitälchen wiedergegeben, damit graphisch verdeutlicht wird, welche Wörter irgendwo in der Romania weiterleben und welche nicht, auch wenn sie in den weiter unten belegten Sprachen nicht vorkommen. Dieses Darstellungsverfahren soll aber gerade nicht dazu verleiten anzunehmen, dass eine Wortgruppe wie z. B. soror uxoris fortlebt. Es ist auch zu bedenken, dass nur ein Ausschnitt aus den verzweigten Verwandtschaftsverhältnissen zur Sprache kommt, da es an dieser Stelle um die grundsätzliche semantische Neugestaltung geht und nicht um alle Einzelheiten. Vom Ego aus wurde nun der lateinische Wortschatz der Benennung eines Verwandten, cognatus oder cognata, nach dem Kriterium ‚mütterlicherseits‘ und ‚väterlicherseits‘ gestaltet. Dieses galt ‚in aufsteigender Linie‘ nicht nur für pater und mater, sondern auch für die Großeltern und die Geschwister der Eltern, d. h. eine ‚Seiten- oder Nebenlinie‘, sowie ‚in absteigender Linie‘ nicht nur für die eigenen Geschwister, sondern auch für deren Ehepartner, die Geschwister der Großeltern und deren Kinder und Kindeskinder, d. h. ‚leibliche Verwandte ersten und zweiten Grades‘. In diesem Sinne werden in aufsteigender Linie unterschieden:
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– der Vater des Vaters, avus paternus, und die Mutter des Vaters, avia paterna, der Vater der Mutter, avus maternus, und die Mutter der Mutter, avia materna; – die Geschwister der Eltern mit dem Bruder des Vaters, patruus; dem Bruder der Mutter, avunculus; der Schwester des Vaters, amita, der Schwester der Mutter, matertera; – die Geschwister der Großeltern, avus et avia, mit dem Bruder des Großvaters, patruus magnus; der Schwester des Großvaters, amita magna; dem Bruder der Großmutter, avunculus magnus; und der Schwester der Großmutter, matertera magna. Die eigenen Geschwister, frater et soror, fratres sororesque, sind entweder allgemein Blutsverwandte, consanguinei, oder sie stammen von demselben Vater und derselben Mutter oder wenigstens von demselben Vater ab als consanguinei germani. Der Unterschied setzt sich bei den Eheleuten, coniuges, vir et uxor, maritus et uxor, und bei dem durch Heirat Verwandten fort, dem oder der affinis: dem Bruder des Ehemanns, mariti frater; dem Ehemann der Schwester, maritus oder vir sororis; dem Bruder der Ehefrau, uxoris frater; der Schwester der Ehefrau, soror uxoris. In absteigender Linie betrachtet, ist das Ego der Sohn, filius, oder die Tochter, filia, seiner oder ihrer Eltern, parentes oder pater et mater; oder das Ego ist der Enkel, nepos, oder die ihrer Enkelin, neptis, seiner oder ihrer Großeltern. Der Enkel des Ego ist nepos ex filio über die Linie ihres Sohnes oder nepos ex filia über die Linie ihrer Tochter. Und so sind die Kinder der Geschwister sobrinus oder sobrina bzw. consobrinus oder consobrina, wobei dieser zweite Fall ein Verwandtschaftsgrad ist, der zugleich für den Sohn oder die Tochter des Onkels oder der Tante Verwendung findet, dann aber ohne den sonst üblichen Unterschied zwischen mütterlicherund väterlicherseits. Beim Verwandtschaftsgrad wird in der Tradition der christlichen Familie nicht mehr nach ‚mütterlicherseits‘ und ‚väterlicherseits‘ unterschieden (Coseriu 1978: 136), sondern nur noch nach dem Verwandtschaftsgrad in auf- und absteigender Linie. Um nicht alle hier in Betracht gezogenen romanischen Sprachen mit jeweils anderen Kombinationen von Konservationen und Innovationen anzuführen, wähle ich das Französische, das Italienische, das Spanische und das Rumänische aus, die sich deutlich voneinander unterscheiden und eine Vorstellung von den unterschiedlichen Entwicklungsprofilen der romanischen Einzelsprachen vermitteln können. Das Portugiesische stimmt, soweit es um die im Folgenden angeführten Verwandtschaftsbeziehungen geht, in etymologischer Hinsicht bei lautlich völlig anderen Entwicklungen mit dem Spanischen überein, das Katalanische weist teils Gemeinsamkeiten mit dem Spanischen, teils mit dem Französischen und dem Italienischen auf, und kennt einige Neuerungen, die mit dem Okzitanischen übereinstimmen (Colón 1976: 53–61). Die Wörter werden in derselben Reihenfolge angeführt wie die lateinischen Beispiele, jedoch werden ‚Großonkel‘, ‚Großtante‘ und die eigenen
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Enkel nicht berücksichtigt, weil diese Verwandtschaftsgrade überall neugestaltet wurden: – frz. père, mère; grand-père, grand-mère; oncle, tante; frère, sœur; mari, femme < feminam ‚Frau‘; fils, fille; neveu, nièce; cousin, cousine; – it. padre, madre; nonno < christliches Latein nonnum ‚Mönch‘, nonna; fratello, sorella; marito, moglie < mulierem ‚Frau, Ehefrau‘; figlio, figlia; nipote m. f.; cugino, cugina; – sp. padre, madre; abuelo, abuela; tío < spätlat. thius, tía < thia (4.4.2); hermano < (fratrem) germanum ‚leiblicher Bruder‘, hermana; marido, mujer; hijo, hija; nieto, nieta; sobrino, sobrina; primo < (consobrinum) primum ‚Vetter ersten Grades‘, prima; – rum. tatǎ, mamǎ, aus der Kindersprache; bunic, bunicǎ < Diminutive von (tatǎ) bun ‚guter Vater‘ und (mamǎ) bunǎ ‚gute Mutter‘; unchi, mǎtuşǎ < mita statt amita; frate, sorǎ; soţ < socium ‚Gefährte‘, soţie; fiu, fiicǎ; nepot, nepoatǎ; nepot, nepoatǎ de frate, de sorǎ; vǎr < (consobrinum) verum ‚echter Cousin‘, varǎ (cf. Weiteres zum Wortfeld der Verwandtschaft 2.3.3).
4.6 Der Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen Das Römische Reich wurde an seiner nördlichen Grenze durch germanische, slavische und andere Völker während der Völkerwanderungszeit überrannt. Sofern die Zahl der Eroberer gering war, konnten sie in der romanischen Bevölkerung aufgehen. Die Übergangsgebiete zwischen romanischer und germanischer, zwischen einer slavischen und einer anderen Bevölkerung waren Sprachkontaktzonen, in denen Diglossiesituationen Jahrhunderte lang andauerten, bis sich die zweisprachigen Grenzregionen herausbildeten, die zum Teil heute noch bestehen. Die Völkerwanderungszeit schuf kleinräumige Herrschaftsgebiete. Im Karpatenbogen und den angrenzenden Regionen blieben die rumänischen Gebiete vom geschlossenen romanischen Gebiet weiterhin und definitiv getrennt. Die östliche Latinität Illyriens hielt sich bis zum 19. Jahrhundert. In dieser Zeit ging das Dalmatische mit seinem letzten Sprecher unter, mit Antoni Ureba, der 1898 starb (Bartoli 1906). Eine östliche Latinität setzt sich bis heute im Albanischen fort, aber nicht als romanische Sprache, sondern als Kontaktvarietät mit zahlreichen romanischen Residualelementen. An Illyrien schließt sich eine Region an, die auch nach der Völkerwanderungszeit ihre Romanität länger bewahrte und die man wegen ihrer geographischen Gemeinsamkeiten Alpenromania nennen kann (5.4.1). Wenn man in diesem Raum sprachliche Gemeinsamkeiten feststellt, dann sind es eher gemeinsame Konservationen, nicht so sehr gemeinsame Innovationen. Diese mögen zwischen den alpenromanischen Gebieten zum Teil übereinstimmen. Da sie sich aber in Randzonen dieser Romania gehalten haben, deren Romanisierung und Latinisierung von keinem einheitlichen Zentrum
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ausging, ist die Alpenromania kein Sprachraum sui generis. Wenn die Gebiete dieser stark zergliederten Region dennoch zusammen betrachtet werden, liegt der Grund darin, dass sie gegenüber allen ehemals rundherum liegenden romanischen Gebieten Rückzugsgebiet waren. Nachdem sich durch die Völkerwanderung neue Herrschaftsgebiete konstituiert hatten, orientierte sich die Alpenregion politisch und sprachlich um. Diesen Prozess können wir eindringlich am wechselnden Sitz der Diözesen und an der wechselnden Abhängigkeit der Diözesen von Erzdiözesen verfolgen. Salzburg übernimmt die Funktion eines Erzbistums (798), nachdem die Patriarchate Aquileia und Grado schon lange an Bedeutung für den Alpenraum verloren hatten. Chur, das im 6. Jahrhundert unter fränkische Herrschaft gekommen war, wurde 843 aus der Erzdiözese Mailand herausgelöst und dem Erzbistum Mainz unterstellt. Damit wird übrigens auch mit einer politisch bedingten Verspätung die Satzung des Konzils von Tours (813) auf die Diözese Chur angewandt, der zufolge in der Volkssprache zu predigen sei (5.8.2). Der Sprachkontakt mit dem Deutschen löste die alpenromanischen Gemeinschaften aus dem Verbund mit den südlich sich anschließenden romanischen Gemeinschaften heraus, denn diese romanischen Gebiete standen unter deutscher Herrschaft. Die Alemannen kamen im Osten des von ihnen besetzten Landes im Rhein- und Inntal in Kontakt mit dem Romanischen. Der Westen der romanischen Schweiz stand dagegen um 1000 unter burgundischer Herrschaft. Dort waren die Burgunder Nachfolger der Franken. Im nördlichen fränkischen Reich bildete sich die französisch-germanische Sprachgrenze zwischen dem 6. und dem 9. Jahrhundert heraus. Britannien wurde durch die Einfälle der Angeln und Sachsen nach dem Rückzug der römischen Truppen (407) germanisiert und die keltischen Briten wurden nach Cornwall, Wales und Schottland zurückgedrängt. Irland war außerhalb des Römischen Reichs geblieben, es wurde jedoch im Auftrag von Papst Caelestin von 431 an christianisiert. Die Romanen oder romanisierten Kelten wurden entlang der Sprachgrenze von den Germanen Walen, Welsche oder Walachen (rum. vlahi) genannt. Außer diesen Ethnika bezeugen Ortsnamen die ehemalige Präsenz von Romanen in anderssprachiger Umgebung, zuletzt als Sprachinseln. Als Sprachinseln im deutschen Sprachgebiet sind seit Jahrhunderten das Bündnerromanische und das Dolomitenladinische zu begreifen.
4.6.1 Die Ethnogenese der Rumänen und das Rumänische Im oströmischen Reich war das Lateinische Amtssprache. Es konnte das Griechische beeinflussen, eine romanische Sprache entstand aber im Geltungsbereich des Griechischen nicht. Der Balkan war die Region, in der die Grenze zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen als dominanten Sprachen des Römischen Reichs verlief. Unter den zahlreichen auf der Balkanhalbinsel ansässigen Völkern wurden nur die Rumänen und die Dalmater völlig, die Albaner teilweise romanisiert.
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Wir behandeln die Entstehung des Rumänischen als Erstes, weil diese romanische Sprache sich wahrscheinlich vor allen anderen herausgebildet hat. Im Gegensatz zur Sprache anderer Regionen hat das Lateinisch der späteren Rumänen vom 4. Jahrhundert an wohl kaum Kontakt mit der lateinischen Schriftsprache gehabt. Wenn man also annimmt, dass die Kopräsenz des Lateinischen die freie Sprachentwicklung nicht beeinflusste und ferner die vielfältigen Kontakte mit anderen Sprachen hinzunimmt, ist eine sehr frühe Ausgliederung des Rumänischen höchst wahrscheinlich. Die Meinungen dazu schwanken und, da es keine direkten und keine metasprachlichen Zeugnisse gibt, ist ein zurückhaltendes Urteil angebracht. Das Rumänische könnte seine Identität als vom Lateinischen verschiedene Sprache zwischen dem 5. und dem 8. Jahrhundert gefunden haben. Dies ist die Zeit des Gemeinrumänischen (româna comună) oder Urrumänischen (româna primitivă). Als gemeinsamer Sprachraum wird die Region des Banats, Olteniens, Westsiebenbürgens, der Donauebene in Muntenien und der südlichen Moldau sowie das Gebiet südlich der Donau bis zum Balkangebirge angenommen. Die Argumente für die Annahme eines Gemeinrumänischen in diesem Raum beruhen auf den Sprachkontakten, die sich durch Entlehnungen in den verschiedenen rumänischen Sprachen bzw. Dialekten nachweisen lassen, d. h. im Dakorumänischen, Makedorumänischen, Meglenorumänischen und Istrorumänischen (5.7). Unter den Sprachkontakten lasse ich diejenigen mit dem Dakischen und Getischen beiseite, die zur Beibehaltung von Wörtern geführt haben, nicht zu Entlehnungen, denn nur Entlehnungen können zur Klärung der rumänischen Ethnogenese beitragen. Relevant sind dagegen alle nachrömischen Völker. Die Westgoten fallen in die Moldau ein, ins östliche Siebenbürgen, ins östliche Muntenien. Die Wandalen und die Gepiden gelangen an die Theiß. Die Westgoten werden 376 von den Hunnen in Gebiete südlich der Donau abgedrängt. Die Hunnen lassen sich zwischen 376 und 454 zwischen Theiß und mittlerer Donau nieder. In der Kreisch oder Crişana (im nordwestlichen Siebenbürgen) und im westlichen Banat werden die Gepiden 567 oder 568 von den Langobarden und den Awaren besiegt. Alle diese Völker besetzen Gebiete an der Peripherie des ehemaligen Dakiens. Es ist daher nicht erstaunlich, dass nur wenige alte germanische Elemente im Rumänischen nachgewiesen werden konnten. Eine wichtige Rolle für die Ethnogenese der Rumänen spielen dagegen die Slaven. Sie kamen vom Ende des 6. Jahrhunderts aus dem Gebiet der Weichsel und des oberen Dnjestr, sie zogen zum einen die Theiß entlang und durch Pannonien, von wo sie im 7. Jahrhundert nach Siebenbürgen gelangten, und zum anderen durch die Moldau und die muntenischen Ebenen. Sie eroberten die Balkanhalbinsel im 6. und 7. Jahrhundert. Die romanisierte Bevölkerung stand mit den Slaven nördlich und südlich der Donau in Kontakt. Viele Romanen wurden slavisiert, andere zogen sich nördlich der Donau zurück oder in südliche Gebirgsregionen des Balkans. Letztere sind die Makedorumänen oder Aromunen.
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Der wichtigste Sprachkontakt fand mit dem Bulgarischen sowie dem Serbischen und Kroatischen statt. Die Bulgaren waren ein slavisiertes Turkvolk, das das Christentum angenommen hatte und sich Richtung Norden ins rumänische Gebiet ausbreitete. Die Serben und Kroaten gelangten dahin aus dem Westen. Da der Kontakt schon im 7. Jahrhundert stattfand, kann man sich fragen, ob das Rumänische damals als eigene Sprache mit den heute bekannten Charakteristika bestand oder erst durch den Sprachkontakt zu dem geworden ist, was es heute ist. Bei diesem Kontakt ist die Erlernung des Romanischen durch die Slaven von der Erlernung des Slavischen durch die Romanen zu unterscheiden. Die einen behalten slavische Elemente in ihrem Romanisch bei wie z. B. die Jodisierung von ewie in el ‚er‘ als iel oder die Labialisierung von o- in ochi ‚Auge‘ und om ‚Mann, Mensch‘, die uochi und uom gesprochen wurden, die Konservation z. B. von /h/ in hrană ‚Nahrung‘. Die anderen übernehmen romanische Elemente in ihr Slavisch. (Auf diese Weise könnte man im Albanischen, dessen Grundlage man nicht kennt, die romanischen Elemente erklären.) Es hat also sicher eine Übernahme in beiden Richtungen stattgefunden. Zwischen den auf diese Weise entstandenen Kontaktvarietäten wird ein Ausgleich stattgefunden haben, der zur Entstehung einer Koine geführt hat. Die auf 13–21 % geschätzten slavischen Anteile des rumänischen Wortschatzes brauchen wir, um die chronologische und räumliche Ausgliederung der rumänischen Dialekte zu bestimmten. Unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung oder Nichterhaltung slavischer Elemente in den rumänischen Dialekten werden drei chronologische Schichten des slavischen Wortschatzes im Rumänischen unterschieden: 1. das 7.–8. Jahrhundert, 2. das 12.–13. Jahrhundert und 3. die Zeit nach dem 13. Jahrhundert. Dabei handelt es sich nicht immer um dieselben slavischen Einzelsprachen, die das Rumänische beeinflusst haben. Für die Ethnogenese der Rumänen ist nur der frühe Kontakt mit den slavischen Sprachen wichtig. Deshalb beschränken wir unsere Betrachtung auf diese Zeit. Aus der ersten slavischen Schicht stammen Wörter wie şchiau ‚Sklave, Slave‘, jupân ‚Herr‘, stăpân ‚Herr, Wirt‘. Diese Wörter sind dem Dakorumänischen und dem Aromunischen gemeinsam. Wichtig für die Annahme eines gemeinsamen Raums, in dem das Rumänische sich herausgebildet hat, ist die Tatsache, dass sich das Aromunische als romanische Sprache nicht im Bereich der griechischen Kultur herausbilden konnte, in dem es heute gesprochen wird. Die Aromunen müssen sich also vom 9. bis 10. Jahrhundert von den anderen Rumänen losgelöst haben, als sie noch die frühen slavischen Elemente aufnehmen konnten, die sie mit dem Dakorumänischen gemeinsam haben. Andererseits weisen sie einen mit dem Dakorumänischen gemeinsamen Wandel im Bereich der Phonetik und Morphologie auf. Die Trennung muss auch vor dem Einfall der Ungarn im 10. Jahrhundert erfolgt sein, da das Makedorumänische keine ungarischen Elemente kennt. Und es wurden vom 10. Jahrhundert an auch Wörter aus dem Slavischen, die nur dem Dakorumänischen eigen sind, entlehnt (Niculescu 1990: 45–57, mit weiterführender Literatur).
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Die Meglenorumänen, ein Volk von ca. 20.000 Bauern, Hirten und Handwerkern, die in Griechenland nördlich von Saloniki leben, stammen wohl von den Makedorumänen ab. Die in Istrien ansässigen Istrorumänen könnten sich im 10. Jahrhundert von den Dakorumänen getrennt haben, da in ihrer Sprache die ungarischen Elemente fehlen. Die Ungarn fallen im 10. Jahrhundert in Siebenbürgen ein und üben ihre Herrschaft über die Rumänen vom 11. Jahrhundert an aus. Sie vergrößern ihr Herrschaftsgebiet bis zum 13. Jahrhundert. Neben Lexemen bezeugen einen ungarischen Einfluss Verbsuffixe wie -ui wie in a alcătui ‚zusammenstellen‘, -ălui in a preţălui ‚einschätzen, bewerten‘, -ului in a felului ‚antworten‘. Die türkischen und die griechischen Entlehnungen sind für die Frage der Ausgliederung der rumänischen Dialekte ebenfalls relevant, sie gehören aber einer späteren Zeit an (Niculescu 1990: 70–71). Die weitere rumänische Entwicklung wird in 5.7 behandelt.
4.6.2 Der Übergang zu romanischer Schriftlichkeit Dieses Thema ist von grundsätzlicher Bedeutung. Von wann an genau die Romanen ihre Sprache schrieben und sie nicht mehr indirekt im Medium des Lateinischen wiedergaben, ist nicht in gesicherter Weise überliefert. Der Übergang zum geschriebenen Romanisch wird jedoch durch die schriftliche Konzeption von Texten für den Vortrag vor des Lateinischen nicht Kundigen vorbereitet. Die Sprache ist immer noch lateinisch, sie ist aber in der Weise vereinfacht worden, dass es für weniger Gebildete und Ungebildete verständlich bleibt. Wie Banniard (1992) zeigt, sind sich die Kirchenlehrer dieses Verfahrens sehr bewusst. Wechseln wir die Perspektive und suchen wir nach indirekten oder direkten Zeugnissen des Romanischen. Über die Zeit, bis zu der man das Vulgärlatein als eine vom Romanischen verschiedene Sprache gesprochen habe, gibt es sehr divergierende Ansichten. Menéndez Pidal (31950: 454–460) glaubt auf der Iberischen Halbinsel bis zum 11. Jahrhundert noch ein ‚leonesisches Vulgärlatein‘ feststellen zu können. In anderen Regionen der Romania, in Italien, findet Avalle (1970) ein “latinum circa romancium” (‚ein beinahe romanisches Latein‘), so dass Frago Gracia (1998) sich dazu provoziert sieht, fast überall, auf der Iberischen Halbinsel bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, ein solches Lateinisch anzunehmen. Dieses wird nun regelmäßig als „romanisiertes“ Lateinisch dargestellt, das sich auf dem Wege zur romanischen Schriftlichkeit befand. Roger Wright (1982) ist dagegen der Meinung, dass die Annahme eines solchen Lateinisch auf eine Überinterpretation durch Avalle zurückgeht. Traditionell hat man die zeitliche Grenze zwischen Lateinisch und Romanisch aufgrund des sprachlichen Abstands ziehen wollen und hat dabei sogar zum Teil ausschließlich mit dem Abstand argumentiert. Für die Differenzierung der Varietäten zur Zeit der karolingischen Renaissance hat man als weiteres Argument das Sprachbewusstsein in die Diskussion gebracht. Wenn aber die Abstandsprache
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rustica romana lingua genannt und anstelle des älteren Ausdrucks romana lingua nun lingua latina gesagt wird, ist damit noch nicht schlichtweg erwiesen, dass das Lateinische als historische Sprache vom Romanischen abgelöst worden ist. Wahrscheinlicher ist, dass die Satzung des Konzils von Tours (4.6.3) eine vorher schon einsetzende Entwicklung nachträglich feststellt und eine Entwicklung vom Bewusstsein von verschiedenen Sprachen aufgrund der Vergrößerung des Abstands überhaupt erst einleitet. Die Zurückweisung des Abstands als alleinigem Argument sei kurz mit einem innerromanischen Vergleich vertieft. In Italien beanspruchen das Friaulische (5.4), das Ladinische (5.5) und das Sardische (5.3) den Status einer eigenen Sprache. Die anderen regionalen Varietäten in Italien gelten, unabhängig von ihrem Abstand zum Standarditalienischen, der manchmal sehr beträchtlich ist, als Dialekte des Italienischen. In Spanien gilt dagegen sowohl das durch einen geringen Abstand zum Spanischen charakterisierte Galicisch als eigene Sprache als auch das einen größeren Abstand aufweisende Katalanisch. Irgendein Abstand zwischen den Sprachen ist zwar für die Anerkennung ihrer Selbständigkeit nötig, der Grad des Abstands ist aber nicht sehr erheblich. In analoger Weise dürfen wir annehmen, dass zur Grenzziehung zwischen dem Lateinischen und den romanischen Volkssprachen noch mehr hinzukommen muss als der bloße Abstand. Damit er jedoch eine neue Identität konstituieren kann, muss er beträchtlich sein. Die romanistische Forschungsperspektive trägt zu einer gewissen Verzerrung des Bildes von der Sprachsituation vor der Verschriftung der romanischen Sprachen bei. Das Bestreben, die erbwörtliche Entwicklung sprachgeschichtlich zu begründen, führte in der Regel zu einer Suche nach den sprachlichen Erscheinungen, die einen maximalen Abstand des Vulgärlateins zum Schriftlatein aufweisen. Der Status der sprachlichen Elemente innerhalb des lateinischen Varietätengefüges wird dabei nicht bedacht. Es ist vielmehr umgekehrt anzunehmen, dass, wie es auch heute geschieht, mit der Verschriftung des Romanischen die sprachlichen Unterschiede stärker ins reflexive Bewusstsein gerückt werden. Dies drückt sich in Sprachnormen bzw. Schreibnormen aus. Deren Verbreitung wiederum orientiert sich an Herrschaftsgebieten und nicht so sehr an sprachlichen Merkmalen, d. h. nicht so sehr am sprachlichen Abstand. Zur Zeit des Spätlateins wird die Zahl der muttersprachlichen Sprecher der Standardsprache, also des Lateinischen, gering gewesen sein. Wir dürfen uns eine Situation vorstellen, in der Sprecher der lateinischen Volkssprache das Schriftlatein in der Schule sprechen gelernt haben. Will man sich eine Sprachsituation und eine Sprachentwicklung erschließen, die weder beobachtet werden kann noch hinreichend dokumentiert ist, wird es der beste Weg sein, ein Modell zu Hilfe zu nehmen. Dieses muss alle Elemente berücksichtigen, die man dokumentiert findet, und ist in Analogie zu besser bekannten Sprachsituationen und Sprachentwicklungen zu ergänzen. In dieses Modell müssen die bekannten Elemente widerspruchsfrei eingehen.
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Ich habe oben (2.4.2.4) ein Modell der Entstehung von Kontaktvarietäten entworfen. Wie diese Kontaktvarietäten entstehen und von welcher Art sie sind, hängt von den in Kontakt tretenden Varietäten ab. Wir könnten uns rein mündlich realisierte Varietäten (oder Sprachen) vorstellen, die miteinander in Kontakt treten und in einem Konvergenzbereich jeweils eine neue Kontaktvarietät herausbilden. In unseren Gemeinschaften mit verschrifteten Sprachen werden wir solche Situationen des rein oralen Kontakts kaum feststellen. Sie sind im Bereich der romanischen Sprachen immer schon von einer Schriftsprache überlagert, meist dem Lateinischen, in manchen Gebieten des oströmischen Reichs durch das Griechische, im rumänischen Sprachgebiet später durch das Altkirchenslavische, in Nordafrika, auf der Iberischen Halbinsel und auf Sizilien durch das Arabische, im Bündnerromanischen und im Dolomitenladinischen durch das Deutsche. Diese Schriftsprachen sind „Dachsprachen“ (Kloss 21978), seien die durch sie überdachten Sprachen nun mit ihnen verwandt oder nicht. Es ist leicht festzustellen, dass eine Schriftsprache, die nur mündlich tradierte Sprachen überdacht, selbst dann eine dominante Sprache ist, wenn sie nicht von der Mehrheit der Bevölkerung beherrscht wird. Frankreich ist ein klares Beispiel dafür, denn das Französische war ursprünglich die Sprache einer relativ kleinen Region um Paris. Das bedeutet, dass die mit einer nur gesprochenen Sprache in Kontakt kommende Schriftsprache, die ja immer auch eine Entsprechung in einer gesprochenen Sprache hat, sich stärker durchsetzt und, wenn sie von Sprechern einer dominierten Sprache gelernt wird, zu einer ebenfalls dominierten Kontaktvarietät führt. Im Modell habe ich die bis in die Gegenwart hinein feststellbaren Vorgänge der Entstehung von Kontaktvarietäten betrachtet. Wir haben dabei gesehen, dass der Prozess des Ausbaus der einen Sprache und der des Abbaus der anderen nicht symmetrisch verlaufen. Die Asymmetrie ist bedingt durch die Stützung der dominanten Sprache als Amtssprache, als Sprache von Einrichtungen wie Schule, Kirche, Wehrdienst, Buchdruck und sonstigen Medien. Einmal konstituiert, noch dazu als Literatursprache, nimmt sie Neuerungen erst mit einer gewissen Verspätung auf. Als Standardsprache wird ihre Entwicklung bewusst retardiert. Kommen wir nach diesen Vorbemerkungen zur spätantiken lateinischen Schriftund Standardsprache zurück. Sie befindet sich, wenn wir als zeitlichen Bezugsrahmen das symbolisch angesetzte Ende des Römischen Reichs im Jahre 476 nehmen, in einer Phase ihrer Geschichte, der ein Jahrhunderte langer Ausbau zur Amts-, Rechts-, Literatur- und Wissenschaftssprache vorausgegangen war. Sie wurde weiterhin in den Schulen gelehrt und das lateinische Schrifttum wurde in Werken, die einen Kanon von Autoren aus mindestens 500 Jahren umfassten, tradiert. Diese Schriftsprache stand in ihrem Kulturraum, Ostrom ausgenommen, konkurrenzlos da. Lesen und schreiben können bedeutete daher, gleichgültig, welche Sprache man sprach, Lateinisch lesen und schreiben zu können. Das Lateinische zeichnete sich ferner durch einen besonders starken Normierungsgrad aus. Denn wenn wir etwa die Inschriften nach der Kaiserzeit in dem Raum betrachten, der zum Imperium Romanum gehört
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hatte, und sie mit den frühesten romanischen Sprachzeugnissen vergleichen, die in denselben Räumen aufgezeichnet wurden, stellen wir einen so großen sprachlichen Abstand zwischen diesem Lateinisch sowie dem mittelalterlichen Lateinisch und dem frühen Romanisch fest, dass wir ihn nicht durch spontane Sprachentwicklung erklären können. Als Erklärung bleibt nur übrig, dass die geschriebene lateinische Standardsprache eine große Vielfalt von Varietäten überdacht hat und dass das Lateinische als gesprochene Standardsprache in Gestalt von „Regionallateinisch“ mit Unterschieden in der Aussprache, der Grammatik und dem Wortschatz gesprochen und auch von denen verstanden wurde, die die Standardsprache weder schreiben noch selbst sprechen gelernt haben. Für den Nachweis der Verständlichkeit des vorgelesenen Lateinisch bräuchten wir Quellen, in denen zum Beispiel das Vorlesen lateinischer Autoren, das Verkünden von Gesetzen und Verordnungen, das Zitieren von Gesetzen und Verordnungen kommentiert wird. Diese Situationen der Verwendung des Lateinischen sind kaum mehr zugänglich. Die christliche Seelsorge aber und die Verwendung des Lateinischen in der Kirche, das Vorlesen aus der Heiligen Schrift, die Verkündigung und die Predigt in lateinischer Sprache sind seit der Zeit der Kirchenväter dokumentiert. Die dabei vorkommenden Sprachverwendungssituationen sind deshalb besonders interessant, weil sehr gebildete christliche Autoren sich als Bischöfe über die sozialen Unterschiede hinweg auch an Analphabeten wandten und von ihnen, wenn sie Lateinisch sprachen, verstanden werden wollten. Erinnern wir uns noch einmal an die modellhafte Darstellung der Kontaktvarietäten, die durch die Verbreitung einer Standardsprache oder wenigstens einer überregionalen Sprache in einem Jahrhunderte dauernden Prozess geschaffen wurden (cf. 2.4.2.4). In einem umgekehrten Prozess des Abbaus der lateinischen Standardsprache sollten wir uns den langsamen Übergang vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen denken. Die Langsamkeit, mit der neue standardsprachliche Varietäten aufgebaut werden, sollten uns vorsichtig machen in der Annahme einer relativ kurzen Zeit des Übergangs vom Lateinischen zum Romanischen. Die unsystematische Verwendung der lateinischen Morphologie, der mit den späteren romanischen Sprachen übereinstimmende Wortschatz und die romanische Satzgliedfolge weisen darauf hin, dass die spontan gesprochene Sprache der Schreiber der in diesem Lateinisch geschriebenen Urkunden die Volkssprache war. Die Schreiber haben Lateinisch als Schriftsprache gelernt, sie sprachen es wohl auch, vor allem im Verkehr zwischen den Regionen. Ihr Lateinisch aber ist bereits eine schriftsprachliche Umsetzung ihres gesprochenen Lateinisch. Es ist damit eine Varietät des Lateinischen, aber eine auf der Basis der Volkssprache konstruierte Varietät, keine muttersprachlich gelernte. Wenn wir keine anderen Zeugnisse hätten, würde die Existenz dieses neu geschaffenen und nicht von Generation zu Generation tradierten Lateinisch ausreichen, um zu beweisen, dass es keine lebendige Sprache mehr war, wenn man unter einer lebendigen Sprache eine solche versteht, die die Kinder von ihren Eltern in direkter Generationenfolge gelernt haben. Nicht nur das gesprochene Lateinisch kam in ein neues Verhält-
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nis zur schriftsprachlichen Tradition, sondern auch das geschriebene Lateinisch des frühen Mittelalters. So war man sich im Reich der Merowinger dessen bewusst, dass man die sprachlichen Vorbilder bei weitem nicht mehr erreichte. Gregor von Tours (538/539–594) schreibt zu seinen Fehlern im Vorwort zum ersten Buch seiner Historien, bevor er mit seiner Erzählung beginnt: „Sed prius veniam legentibus praecor, si aut in litteris aut in sillabis grammaticam artem excessero, de qua adplene non sum imbutus“ (71990: 6; ‚Aber ich bitte die Leser vorher um Nachsicht, wenn ich bei den Buchstaben oder bei den Silben gegen die Regeln der Grammatik verstoßen habe, in denen ich nicht recht bewandert bin‘; meine Übersetzung). Wie es das immer noch grundlegende Werk von Bonnet (1890) zum Lateinischen Gregors von Tours nahelegt, dürfen wir bei „litteris“ an die nicht normgerechte Wiedergabe der lateinischen Laute und bei „sillabis“ an seine Probleme mit der Morphologie denken. Im 8. Jahrhundert unterscheidet man ein Lateinisch, das beiläufig von Avalle als latinum çirca romancium von einem latinum obscure loqui unterschieden worden ist. Damit muss nicht hauptsächlich und zwangsläufig ein Ausspracheunterschied gemeint sein, auch wenn er impliziert sein wird. Wahrscheinlicher ist, dass es sich dabei um diaphasische Unterschiede im Lateinischen handelt, um eine Sprache, die unter Gebildeten gesprochen wurde, und um ein Lateinisch, das von Gebildeten im Umgang mit Ungebildeten verwendet wurde. Das beste Zeugnis für den Abstand zwischen den zwei Arten von Lateinisch im 8. Jahrhundert sind die Reichenauer Glossen. Sie werden einmal als lateinisch-lateinische Glossen, ein andermal als lateinisch-romanische Glossen interpretiert. Die lateinisch-romanische Interpretation möchte ich aus dem einfachen Grund ausschließen, weil die gesprochene Volkssprache im 8. Jahrhundert noch nicht verschriftet war. Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf. Wenn in den Interpretamenten die lateinischen Wörter verwendet werden, die den volkssprachlichen ähnlich sind, sind sie gleichwohl keine romanischen Wörter. Wir dürfen eher annehmen, dass sie von den Glossatoren auf Lateinisch mit der lateinischen Aussprache der damaligen Zeit verwendet wurden. Sie verwendeten ein Lateinisch, das sich im Kontakt mit der Volkssprache umgestaltete, dennoch aber nicht aufhörte, Lateinisch zu sein. Diese Varietät ist aber untergegangen, weil die Sprecher für dieselbe Kommentarfunktion später zu einer romanischen Sprache übergegangen sind, indem sie die Schriften, die sie vor der Verschriftlichung der Volkssprache glossieren mussten, nun übersetzten und damit das Glossieren überflüssig machten. Es gibt aber auch einen terminus post quem für die Wahrnehmung einer neuen romanischen Sprache. Wir können ihn in Zusammenhang bringen erstens mit der Benennung romanz, romant oder lengua romana für die geschriebene romanische Sprache und zweitens mit der Verwendung rein romanischer Varietäten. Damit wäre aber auch erst die Eigenständigkeit des Romanischen insgesamt erlangt. Die Differenzierung in verschiedene romanische Sprachen erfolgt erst später, wenn man als äußeres Charakteristikum dieses neuen Bewusstseins die Verwendung eines spezifischen Sprachennamens nimmt, ein weiterer terminus post quem.
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4.6.3 Die karolingische Renaissance Das Verhältnis des gesprochenen Lateinisch des Volkes und des Lateinisch der Gebildeten kam in derjenigen Region früher in eine Krise, in der der Abstand im gesamten Sprachgebiet am größten geworden ist, im Frankenreich der Merowinger (481–751). Zwei Wege wären sprachplanerisch angemessen gewesen, um die Diglossiesituation aufzuheben: Eine der Sprachentwicklung Rechnung tragende Reform des Lateinischen oder seine Ersetzung durch die Volkssprache. Die Ersetzung des Lateinischen durch die Volkssprache hätte deren Verschriftung zur Folge haben müssen. Zuerst ging man den Weg der Reform. Chilperich versuchte die Orthographie der Aussprache anzugleichen (H. Lüdtke 1964: 16–18). Das in der 17. Satzung des Konzils von Tours vorkommende Wort theotiscus (oder theodiscus) ist eine Lehnübersetzung von vulgaris und ist seit 786 als Benennung des Deutschen im Gegensatz zur romanisch-lateinischen Volkssprache belegt. So, wie vulgus und theod/deot einander entsprechen, wurde als Äquivalent des von vulgus abgeleiteten Relationsadjektivs vulgaris ein germanisches Adjektiv mit dem Suffix -isk gebildet, das in latinisierter Form theotiscus/theodiscus lautete. Es ist interessant, dass in der Satzung die deutsche und die lateinische Volkssprache genau in Parallele gesetzt wurden. In der Diözese Tours wird es dafür keine Notwendigkeit gegeben haben, da sie sicher einsprachig romanisch war. Die dort versammelten geistlichen Würdenträger machen also kirchliche Sprachpolitik auf Reichsebene: Am Kloster St. Martin de Tours hatte der angelsächsische Reformer Alkuin gewirkt. In der Satzung entspricht dem Sprachennamen theotiscus nicht vulgaris, sondern rusticus. Mit lingua romana rustica muss aber die lateinische Volkssprache gemeint sein, die zusammen mit lingua theotisca der lingua romana gegenübergestellt wird. Wenn die angenommene Interpretation der 17. Satzung des Konzils von Tours richtig ist, wird ein Unterschied im Lateinischen selbst etabliert. Es ist auch wichtig festzustellen, dass die lingua romana rustica nur gesprochen vorkam. Geschrieben wurde nur die lingua romana, das Lateinische. Es ist nun schwer, die Grenze zwischen dem Lateinischen als historischer Sprache und den romanischen Sprachen als historischen Sprachen zu ziehen. Solange die Quellen schweigen, können wir keine weitreichenden Schlüsse ziehen. Die frühen Verschriftungsversuche, so dürfen wir annehmen, die dem Lateinischen noch sehr nahestehen, sind unter dem Dach der historischen Sprache Lateinisch unternommen worden. Dies zeigt sich darin, dass intermediäre Varietäten zwischen Lateinisch und Romanisch nach lateinischer Tradition wie die Reichenauer Glossen geschrieben wurden. Wir suchen bei unserer Beschäftigung mit dem Übergang vom Lateinischen zum Romanischen schriftliche Quellen und stehen so sehr im Bann der Schriftlichkeit, dass wir die Interpretation auf die Suche nach den frühesten Texten ausrichten, die wir romanisch nennen können. Die Entwicklung selbst aber nimmt einen anderen Weg. Die Satzung des Konzils von Tours weist die Geistlichen an, in der ‚römischen
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Sprache der Ungebildeten‘ – im Gegensatz zum Latein als der ‚römischen Sprache‘ der Gebildeten – zu predigen. Es geht also um die Verständlichkeit einer mündlich vorgetragenen Textgattung, der Predigt, die gleichwohl schriftlich konzipiert und geplant wird. Die Satzung behauptet nicht, dass nicht auch schon davor in der ‚römischen Sprache der Ungebildeten‘ gepredigt worden wäre, sondern weist nur an, dass die Predigt von nun an stets in der Sprache des Volks zu erfolgen habe. Ein Auftrag zur Verschriftung der Volkssprache leitet sich daraus nicht mit zwingender Notwendigkeit ab. Ein Geistlicher kann sehr wohl seinen Predigttext weiterhin auf Lateinisch aufschreiben und romanisch vortragen.
4.6.4 Auf dem Weg zu den Straßburger Eiden Dennoch leitet sich die Verschriftung des Romanischen vom Wandel des Sprachbewusstseins ab. Die Verschriftung war nicht notwendig für die des Lateinischen Kundigen, da sie ohnehin die Sprache der Ungebildeten beherrschen mussten, sondern für diejenigen, die sich nur der Volkssprache bedienen konnten. Die Straßburger Eide und die kampanischen Eide, die formuliert wurden, damit das Kloster Montecassini seine Besitzansprüche schriftlich festhalten konnte (5.1), mussten für des Lateinischen nicht kundige Sprecher niedergeschrieben werden. Es waren die lateinisch-romanisch Zweisprachigen, die ein Schriftsystem für die romanisch Einsprachigen konzipieren mussten. In einem parallelen, aber begrifflich genau zu trennenden Vorgang wurde das Romanische mit zunehmend besserer Wiedergabe der Phoneme verschriftet und es wurden mündlich zu realisierende Textsorten wie Eide oder Lieder – man denke an die altfranzösische Eulaliasequenz – für das Volk verschriftlicht oder verfasst. Es ist sicher kein Zufall, dass sich zweisprachige Notizen, wie sie im Jonasfragment vorliegen, erst aus einer sehr viel späteren Zeit, dem 10. Jahrhundert, erhalten haben. Zwar brauchte ein Geistlicher seine Predigtvorbereitung eigentlich nicht in zwei Sprachen aufzuschreiben; nachdem sich neben dem Schreiben auf Lateinisch aber eine romanische Verschriftlichungstradition etabliert hatte, konnten beide Schrifttraditionen wahlweise verwendet werden. Das genau tat der Verfasser des Jonasfragments. Die karolingische Reform hat zur Bewusstwerdung des Unterschieds im Lateinischen geführt, des Unterschieds zwischen der gesprochenen lingua romana der Ungebildeten und demjenigen Lateinisch, das zunehmend unkorrekter gesprochen wurde und sich nunmehr am spätantiken Lateinisch der Kirchenväter ausrichten sollte. Kontrovers wurde die Frage diskutiert, ob es vor der karolingischen Renaissance eine oder zwei Normen des gesprochenen Lateinisch gegeben habe, eine der lateinischen Tradition folgende, die die Gebildeten gesprochen hätten, und eine volkssprachlich beeinflusste bzw. die romanische Volkssprache. Es hätten demnach zwei gesprochene Sprachen koexistiert. Diese Forschungsmeinung wurde z. B. von Menéndez Pidal vertreten. Einig ist man sich darin, dass die karolingische Reform in einer Beseitigung von Orthographie- und Grammatikfehlern in den religiösen Texten
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bestand und dass Texte in einer sorgfältigen Orthographie und Grammatik abgefasst werden sollten. Uneinig ist man sich in der Interpretation des Unterschieds zwischen Orthographie und Aussprache. Hierzu gibt es nur eine uneindeutige Aussage, die das ‚richtige Sprechen‘ („recte loquendo“) betrifft. H. Lüdtke (1964) und Wright (1982) bestreiten die Annahme, dass es zwei Sprechsprachen gegeben habe. Sie vertreten die Auffassung, dass man die lateinische Lesesprache in der karolingischen Reform der Tradition angleichen wollte. Durch diesen Bruch in der Tradition des Lateinischen und die Wiedereinführung der Sprachnorm der christlichen Spätantike sei das „Mittellatein“ entstanden. Die gesprochene Sprache setze dagegen kontinuierlich das Vulgärlatein fort. Man habe das Lateinische davor einfach romanisch ausgesprochen. Es habe ein Kontinuum zwischen der Sprache der Gebildeten in formellem Gebrauch und der Sprache der Ungebildeten gegeben und man habe seinen Sprachgebrauch gegenseitig angepasst. Es sei unwahrscheinlich, dass ein Teil der Bevölkerung weiter das traditionelle Lateinisch gesprochen habe, während sich die volkssprachliche Varietät weiterentwickelt habe. Nach dem Ende des Römischen Reichs habe das Vulgärlatein regionale Eigenentwicklungen genommen und sich schließlich hin zu Einzelsprachen ausdifferenziert. Es sei eine Orthographiereform notwendig geworden, um die romanischen Phoneme zu repräsentieren. Wrights Frage ist nun, zu welchem Zeitpunkt die Unterschiede zwischen Lateinisch und Romanisch tatsächlich wahrgenommen wurden. Hier setzt Wright mit seiner Hypothese an: Das Verhältnis zwischen geschriebenem und vorgelesenem Lateinisch und romanischer Rede sei durch die Reform der Aussprache des geschriebenen Lateinisch in der karolingischen Renaissance gestört worden. Es sei ein neues Lateinisch, das Mittellatein, in der Bildungsreform Karls des Großen eingeführt worden als Methode für das Vorlesen religiöser Texte im Gottesdienst, die ein würdigerer liturgischer Ausdruck gewesen sei als die volkssprachliche Aussprache. Damit verbunden sei die Beibehaltung der lateinischen Endungen gewesen, die wie -m in der Nominal- und Verbalmorphologie und -t in der Verbalmorphologie schon längst nicht mehr gesprochen worden seien. Es kämen noch syntaktische und lexikalische Unterschiede hinzu. Die Vereinheitlichung der Aussprache sei notwendig geworden, um die Einheit des nun größer gewordenen fränkischen Reichs über die Sprache der Kirche zu sichern. Das Lateinische sollte nicht mehr in nach lokalen Traditionen divergierender Weise gesprochen werden, sondern einheitlich und buchstabengetreu (litteratiter). Alkuins Aussprachereform sei aus dem germanischsprachigen England auf Gallien übertragen worden. Durch die Vereinheitlichung der lateinischen Aussprache der Geistlichen sei aber die Kommunikation der Geistlichen mit den Laien in den romanischen Gebieten erschwert worden, wenn die Geistlichen Lateinisch gesprochen hätten. Dadurch seien auch die vorgelesenen Texte unverständlich geworden. Diesen Gedankengang stützt H. Lüdtke durch Analogien mit anderen Sprachen, weil die romanische Dokumentation des Sachverhalts dürftig ist. Lodge (1993: 89–93) kommentiert zu Recht, dass der Unterschied zwischen den beiden Annahmen in erster Linie chronologisch ist.
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Die ganze Argumentation beruht letztlich, das ist zu betonen, auf einer Hypothese. Denn ob es eine karolingische Aussprachereform gegeben hat, bleibt kontrovers. Ganz offensichtlich aber ist der Abstand zwischen der von Ungebildeten gesprochenen Sprache und dem Lateinischen in seiner mündlichen und/oder schriftlichen Gestalt. Als gebildeter Sprecher kann man nicht nur wegen seiner Aussprache unverständlich sein. Es reicht schon, wenn ein solcher Sprecher eine komplexere Syntax oder einen komplexeren Wortschatz verwendet oder über Themen spricht, in denen der Gesprächspartner sich nicht auskennt. Nachdem man das Bewusstsein vom Unterschied zwischen Lateinisch und Romanisch erlangt hatte, weil die Romanen das Lateinische nicht mehr verstanden, mussten die lateinisch geschriebenen Texte wie die Heilige Schrift oder Predigten mündlich in romanischer Sprache vermittelt werden und wurden erst später aufgeschrieben wie im Fall des Jonasfragments. Das setzt aber Orthographietraditionen voraus. Nachdem lateinische Texte romanisch niedergeschrieben worden waren, wurden die Texte in einer weiteren Phase neu konzeptualisiert. Es mag nun auf den ersten Blick überraschen, dass romanische Texte spät verfasst werden. Dies wird aber daran liegen, dass es keine zu verschriftlichenden oral tradierten Texte unter dem Dach der lateinischen Schriftkultur in einem bedeutenden Umfang gegeben haben wird. Nähern wir uns dem Thema auf einem anderen Wege, über eine Betrachtung zur Tradition der Edition mittelalterlicher französischer Texte. Die wissenschaftliche Beschreibung des Altfranzösischen ist einem doppelten Abstraktionsprozess unterworfen worden: Die der Beschreibung zugrundeliegenden Texte wurden von den Philologen in den Editionen vereinheitlicht. In der auf diese Texte sich stützenden Beschreibung eliminierte man vorzugsweise diejenigen Varianten, die sich nicht zum Standardfranzösischen der Gegenwart hin fortsetzten. Diese von der Homogenitätsannahme ausgehende Beschreibung ist das Werk der Philologen des 19. und des Anfangs des 20. Jahrhunderts (2.4.1.2). Als „dialektal“ betrachtet man dabei diejenigen Erscheinungen, die nicht in die an der standardsprachlichen Entwicklung orientierte Beschreibung eingegangen sind. Daher liegen diejenigen Phänomene der Eulaliasequenz, des Alexiusliedes, des Rolandsliedes, die keine Fortsetzung im Standard fanden, der Beschreibung des Altfranzösischen nicht zugrunde. Da die Unterschiede heute dialektal sind, d. h. zum Beispiel im heutigen Normannisch noch erhalten sind bzw. erhalten geblieben waren, wurden (und werden) sie als dialektale Erscheinungen auch schon für die damalige Zeit behandelt. Betrachtet man die ältesten Texte, also die Straßburger Eide, die Eulaliasequenz von 880 und die frühen Sprachzeugnisse bis 1100, so könnte man annehmen, da sie noch eine geringe regionale Differenzierung zeigen, dass die Mehrheit der diatopischen Unterschiede zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert eingetreten sind. Diese Annahme kann sich aber als Fehler in der Perspektive erweisen. Interpretiert man die lingua romana rustica mit Banniard als ‚Latein der Ungebildeten‘, dann finden die Verschriftung und der Ausbau des Altfranzösischen als historischer Sprache erst
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danach statt. Die noch relativ einheitliche sprachliche Gestalt ist dann eher als Fortwirken der lateinischen Einheitlichkeit zu sehen, die romanische und altfranzösische Differenzierung dagegen als immer stärkere Behauptung des Romanischen, dann des Französischen als einer eigenen Einzelsprache, die deswegen mit zunehmender Differenz zum Lateinischen geschrieben wird. Folgt man der Annahme, dass die Franzosen nur differenzierter geschrieben haben, ist damit nicht allein die Herausbildung diatopischer Unterschiede verbunden. Komplementär dazu ist die Annahme plausibel, dass es unter dem Dach des Lateinischen intermediäre Varietäten zwischen dem Lateinischen und dem Romanischen gegeben hat. Unter diesen Voraussetzungen hatte man beim Schreiben der ältesten Texte nicht die Absicht, eine vom Lateinischen weit entfernte Varietät zu schreiben, sondern im Gegenteil eine dem Lateinischen besonders nahestehende. Somit kann die Verschriftung des Altfranzösischen sehr verschiedene Varietäten zum Gegenstand haben. Die Homogenitätshypothese kann man mit der Eulaliasequenz belegen. Die Romanisten haben die frühesten Texte so ausgewertet, als wäre die wirklich gesprochene Sprache zur jeweiligen Zeit durch ein „tiefes Romanisch“ gekennzeichnet gewesen, das allerdings noch latinisierend geschrieben wurde. Sicher ist dies aber durchaus nicht. Man könnte sich auch fragen, wozu denn das Schreiben einer „tiefen“ Sprache von Nutzen gewesen wäre, denn sie hätte eine geringere Reichweite gehabt als eine latinisierende. Es ist interessant, die implizite Argumentation über das Altfranzösische in den Schriften des 19. Jahrhunderts zu betrachten. Koschwitz (1968: 52–120) legt ein allgemeines Altfranzösisch zugrunde, Abweichungen davon sind für ihn „dialektisch“. Implizit bleibt auch die Annahme von Lautgesetzen, die Argumentation stützt sich aber immer auf die Ergebnisse der Entwicklungen, die im Falle der Regelmäßigkeit hätten eintreten müssen. Von dort her wird die Distanz zu den tatsächlichen Entwicklungen ermessen, die weniger weit ging, also näher am Lateinischen blieb. Die Aussprache, die man für die Grapheme der Eulaliasequenz sucht, orientiert sich an der Lautentwicklung, nicht zugleich aber auch an der damaligen lateinischen Aussprache. Diese bleibt ausgeklammert. Das Lateinische wird nicht berücksichtigt, nur die „Dialekte“ des Altfranzösischen. Sowohl das „Altfranzösische“ als auch die „Dialekte“ stellt Koschnitz sich einheitlich vor, eben durch Lautgesetze zustande gekommen. Man kann den Befund nun auch für etwas anderes nehmen, für ein latinisiertes Romanisch. Diejenigen, die im französischen Mittelalter schrieben, strebten stets eine Gemeinsprache an. Die größte Reichweite hatte dabei die literarische Gemeinsprache. Es ist aber nicht begründet, eine genaue Analogie zu einer gesprochenen Varietät anzunehmen, wenn man die zu späterer Zeit und auch heute geschriebenen und gesprochenen Varietäten damit vergleicht. Auch bei „Reflexliteratur“ wird im Übrigen kein „tiefer“ Dialekt geschrieben, sondern einer, der von der dominierenden Sprache beeinflusst worden ist.
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Nimmt man nun keine diatopisch markierten Varietäten an, sondern solche, die durch diaphasische Unterschiede gekennzeichnet sind, d. h. durch ein unterschiedliches Bildungsniveau und eine Sprache, die durch Lateinischkenntnisse geprägt ist und das Romanische so weit dem Lateinischen annähert, wie es noch vom Volk verstanden werden kann – oder auch so viel vom Lateinischen beibehält, wie dem Volk verständlich ist, – und schließlich diastratische Unterschiede, die mit den diaphasischen einhergehen, dann wäre die Eulaliasequenz ein Text, in dem eine schriftsprachliche romanische Varietät verwendet wurde, die sich vom „tiefen“ Romanisch erheblich unterscheidet. Unsere heutigen Kenntnisse von den Unterschieden zwischen geschriebener und gesprochener Sprache machen uns sehr vorsichtig, einen engen Zusammenhang zwischen beiden anzunehmen. Charakteristisch für die frühe romanische Sprachkultur ist die romanische Verschriftlichung lateinischer Texte wie im Alexiuslied und den volgarizzamenti, d. h. den volkssprachlichen Bearbeitungen klassischer Texte. Die Heldendichtung hat gewiss andere Ursprünge. Mag ihr Stoff mehrere Jahrhunderte alt sein, so wurde sie doch für die adlige Gesellschaft ihrer Zeit gedichtet. Ein Blick auf die germanischen Traditionen ist lehrreich. Mit dem Übergang zur Verschriftung wurde die zuvor oral tradierte Dichtung verschriftlicht. Die Romanen dagegen konnten direkt an die Schriftlichkeitstradition des Lateinischen anknüpfen, mussten sich aber auch immer wieder gegen sie durchsetzen. Wer im Mittelalter lesen und schreiben lernte, tat es auf Lateinisch, indem er gleichzeitig Lateinisch sprechen lernte. Die Schreibkundigen waren also zweisprachig. Wenn man von heutigen Sprachkontaktsituationen ausgeht, ist zu vermuten, dass auch in den Anfängen der romanischen Schreibtraditionen die Sprache der Schreibenden eine andere volkssprachliche Varietät darstellte als die Volkssprache der Analphabeten. Diese wird uns nur erreichbar in der durch die Schreiber nachgeahmten Mündlichkeit, mit der sie die Sprache der nicht alphabetisierten Sprecher evozieren. Fahren wir mit Wrights Darstellung des Übergangs vom Lateinischen zum Romanischen nunmehr in Kastilien fort. Auf dem Konzil von Burgos (1080) sei die westgotische Liturgie durch die cluniazensische Reform abgelöst und das Mittellatein eingeführt worden. Deshalb sei ein Unterschied zwischen Lateinisch und Romanisch vor diesem Zeitpunkt nicht anzunehmen. Die Quellenlage spricht eigentlich dagegen, da sich die bis zu jener Zeit auf der Iberischen Halbinsel geschriebenen Texte an die Tradition halten. Wright glaubt aber, dass die Verfasser dieser Schriften Sprecher des Kastilischen und anderer romanischer Volkssprachen gewesen seien. Dass jedoch die Texte vom Ende des 11. Jahrhunderts an in einem korrekteren Lateinisch geschrieben wurden, ist spätestens seit dem Erscheinen von Menéndez Pidals Orígenes del español (11926) bekannt und gesichert; die Entstehung dieses Lateinischen wird nunmehr als Einführung des Mittellateins erklärt. Als Beweise sind sehr verschiedene Quellen heranzuziehen. In Al-Andalus wird latinus verwendet, ein Ausdruck, der mit dem Lateinischen schlechthin gleichgesetzt
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wurde. Wir sollten latinus in seinen geschichtlichen Kontext stellen. Wenn dieser Ausdruck auf die Sprache der Christen bzw. Mozaraber bezogen wird, sollten wir nicht annehmen, dass es daneben noch eine weitere Sprache gegeben hätte, sondern damit wurde einfach das Romanisch der Mozaraber bezeichnet. In einer anderen Region, in León, hatte Menéndez Pidal ein “latín vulgar leonés” identifiziert. Für Menéndez Pidal wurden nicht nur zwei Sprachen nebeneinander gesprochen, sondern sogar drei: Das Lateinisch der Gebildeten, das ‚leonesische Vulgärlatein‘ als Sprache der weniger Gebildeten und das Romanische, die Sprache des Volks. Drei koexistierende Varietäten erscheinen Wright in einer ländlich geprägten Gemeinschaft unplausibel. Vielmehr interpretiert er den dokumentarischen Befund als eine einzige leonesische Sprechsprache, die mit einer archaischen Schreibung ausgedrückt wurde. Wichtig ist für die Interpretation ein auf das 10. Jahrhundert datierter Text, die von Menéndez Pidal gefundene nodicia de kesos, eine Käseliste. Dieser in latinisierender Orthographie geschriebene Text zeigt aber eine romanische Morphologie, eine romanische Syntax und einen romanischen Wortschatz. Man solle daher diese Liste für romanisch halten und daraus ergebe sich auch, dass man in dem Kloster, in dem diese Liste geschrieben wurde, Romanisch und nicht Lateinisch gesprochen habe. Die Sprache der Glossen wird ähnlich gedeutet. Sie seien weniger Laut- als vielmehr Worterklärungen. Dabei habe man bewusst versucht, Romanisch zu schreiben. Sollten die Glosas Emilianenses aus dem Kloster San Millán de la Cogolla nicht um das Jahr 1000, sondern im 11. Jahrhundert geschrieben worden sein, könnte man mit cluniazensischem Einfluss rechnen, denn für Frankreich kann man von einer fest etablierten Schrifttradition ausgehen. Das Romanische befindet sich als Urkundensprache, als Literatursprache und Sprache der Handelskorrespondenz auf einem einzigen Weg der Normalisierung, wie man in der katalanischen Soziolinguistik sagt. Eine umfangreiche Menge von Texten wurde als Urkunden produziert. Die europäische Gemeinsamkeit kam zustande durch die spätantik-lateinischen Traditionen, die sich in den neuen Herrschaftsräumen regional verschieden weiterentwickelten. Zuerst übernahm man dabei volkssprachliche Elemente in die lateinischen Urkunden und verfasste sie schließlich in einer Volkssprache. Als das Lateinische noch alleinige Schriftsprache war, hatte es sämtliche schriftsprachlichen Funktionen zu erfüllen. Die Normalisierung des Romanischen als Urkundensprache brachte eine Neuordnung in der Verwendung der schriftsprachlichen Varietäten mit sich: Diejenigen, die nur lateinische Grundkenntnisse erworben hatten, möglicherweise für bestimmte Tetxsorten wie Urkunden, konnten nun, unter Beibehaltung lateinischer Formeln, zum Romanischen übergehen. Wer eine vertiefte lateinische Bildung erlangt hatte, schrieb nunmehr korrektes Lateinisch. Es verschwand also dasjenige Lateinisch, das nur eine Umsetzung der gesprochenen Volkssprache in verschriftetes Lateinisch war, während es gleichzeitig als Kultursprache weiter gepflegt wurde. Auf der Iberischen Halbinsel fand dieser Wandel, mit großen räumlichen Unterschieden, zwischen 1150 und 1250 statt. Wright hält es für erwiesen,
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dass der Cluniazenser Bischof von Toledo, Raimund (1125–1152), eine maßgebliche Rolle gespielt habe. Zwar sei aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt worden, wobei die Volkssprache eine Mittlerrolle gespielt habe, aber in dieser Tradition stehe ein Text, mit dem die volkssprachliche kastilische Literatur beginne, das Auto de los Reyes Magos. Hier habe ein Versuch der Verschriftlichung von Literatur in der Volkssprache stattgefunden, weil das Lateinische unverständlich geworden sei. Auffällig ist, dass das Poema de mio Cid auch um diese Zeit, wohl um 1207, entstand, was Wright wiederum mit französischem Einfluss in Zusammenhang bringt und zwar mit den chansons de geste. Und schließlich weist er auf den Vertrag von Cabreros von 1206 hin, in dem das Kastilische im Gegensatz zum Leonesischen als Kanzleisprache verwendet wird. Wenn die Kanzleisprache unter Ferdinand III. fest etabliert werde, so dürfe man dies mit dem Abt Juan de Valladolid in Verbindung bringen. Seine Kanzleitradition sei dann fortgesetzt worden. In der Tat wird die früher allgemein angenommene dominante Stellung des Sprachmodells von Alfons dem Weisen nicht mehr von allen Sprachhistorikern anerkannt. Mit dem beginnenden 13. Jahrhundert ist die lange Phase der zwischen dem lateinischen und dem romanischen Pol geschriebenen Kontaktvarietäten vorbei und es wird ein korrekteres Lateinisch, das Mittellatein, und ein im Wesentlichen von latinisierenden Interferenzen freies Romanisch geschrieben. Bei der Umsetzung des gesprochenen Romanisch in geschriebenes Lateinisch gab es besondere Probleme bei Namen und bei Wörtern, für die der lateinische Schreiber keine Entsprechung kannte. An diesen Fällen musste eine Schreibung romanischer Phoneme erprobt werden. Die Versuche in dieser Richtung liegen auf der Iberischen Halbinsel zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert, lange vor der Zeit also, in der das Romanische in ganzen Texten in Erscheinung trat bzw. überliefert wurde. Daher konnte der Übergang vom romanisch beeinflussten Lateinisch zum Romanischen von einem Tag auf den anderen erfolgen und auch beide Schreibtraditionen nebeneinander gepflegt werden (z. B. die Schreibung -ni- in senior oder wahrscheinlich -mn- für /ɲ/ in domno; Frago Gracia 1998: 86). Dieses Lateinisch, das sei noch einmal betont, ist keine Romanisierung des Lateinischen, wenn man sich den zu mutmaßenden tatsächlichen Prozess vorstellt, sondern es handelt sich um eine Beibehaltung von grundlegenden Merkmalen der gesprochenen Varietät, also gerade nicht um einen intentional gesteuerten Prozess. Als Intention muss man vielmehr annehmen, dass die Schreiber Lateinisch schreiben wollten, dieses Ziel aber nicht voll erreichten. Betrachtet man die Urkunden, stellt man eine durch romanische Interferenzen und Hyperkorrektionen motivierte Variation in den lateinischen Urkunden und eine durch lateinische Interferenzen bedingte Variation in den romanischen Texten fest. Von dieser schriftlichen Variation auf die mündliche zu schließen, ist nicht gerechtfertigt. Wenn wir nur das Romanische in Betracht ziehen, dürfte man eine eher weniger variierende „Basissprache“ annehmen und eine eher stärker variierende romanische Varietät bei den Lateinern. Deren Variation ist sicher in Abhängigkeit vom Grad der Lateinischkenntnisse zu denken.
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An den Rechtstraditionen ändert sich durch den Sprachenwechsel nichts Wesentliches. Die Teilhabe an ihr in größeren Räumen auf der Iberischen Halbinsel sowie in Frankreich und in neuen sozialen Schichten, in den Städten vor allem, verändert aber die soziale Praxis. Das Bewusstsein einer lateinisch-romanischen Einheit bleibt dennoch bei einer Betrachtung von innen und von außen nach all diesen Ablösungsprozessen der romanischen Sprachen vom Lateinischen erhalten. Die Einheit bleibt von innen betrachtet erhalten, denn alle romanischen Sprachen werden von ihren Sprechern okz. lengua romana, frz. romanz, pt. sp. romance oder it. volgare genannt. Zwar wird in dieser Phase das Lateinische als Schriftsprache von der Sprache des Volks abgegrenzt, damit lässt sich aber noch nicht behaupten, dass Lateinisch und Romanisch verschiedene historische Sprachen sind. Das Bewusstsein von einer romanischen Einheit tritt auch dann in Erscheinung, wenn aus der Sicht der Sprecher mehr als eine Sprache wahrgenommen wird. So sprachen aus germanischer Sicht die Romanen einfach Welsch und die Slaven Wendisch, ohne dass intern weiter differenziert werden musste. Bei einer Betrachtung von innen sucht man nach Zeugnissen einer internen Differenzierung der romanischen Sprachen, um die Entstehung einer neuen Sprache nachweisen zu können. Dies finden wir bei Dante. Es gibt aber auch das Bewusstsein einer Einheit von innen nach außen. Dieses erkannt man dann, wenn Romanen in Kontakt mit anderen als romanischen Sprachen oder dem Lateinischen kommen. Diese Sicht trifft zu für die Sarazenen und für die Mauren auf der Iberischen Halbinsel. Wenn die Mauren eine romanische Sprache der Iberischen Halbinsel konnten, wurde von ihnen gesagt, sie seien ladinos oder muy ladinos, so übrigens auch im Falle von außereuropäischen Kontakten. So waren Sklaven, die Portugiesisch oder Kastilisch konnten, ladinos. Deshalb konnte das Spanisch, das die Sepharden schufen, um ihre Schriften aus dem Hebräischen zu übersetzen, ebenfalls ladino genannt werden. Und schließlich bleibt der Name der romanischen Sprachen an den Rändern der Romania entweder latinum, romanice oder lingua romana. Der Weg der romanischen Sprachen war durch das Fortleben des Lateinischen vorgezeichnet. Am Anfang blieb es zwar weiterhin die exemplarische Schriftsprache innerhalb der romanischen Spracharchitektur, aber die romanischen Sprachen wurden in dem Maße selbst exemplarische Sprachen, wie sie die Funktionen des Lateinischen übernahmen. Dieser Ausbau schritt von Textsorte zu Textsorte, von Diskursuniversum zu Diskursuniversum kontinuierlich fort.
5 Die romanischen Sprachen Als Einleitung zu den geschichtlichen Skizzen der romanischen Sprachen gebe ich eine Begründung dafür, welche Sprachen als romanische Sprachen zu betrachten sind. Wir diskutieren zuerst die Kriterien, die für die Abgrenzung in Frage kommen (5.0.1). An einem Einzelfall soll dann die Anwendung der Kriterien eingehender besprochen werden. Dafür eignet sich das Galicische besonders gut, weil bestritten werden könnte, ob es denn überhaupt eine vom Portugiesischen verschiedene historische Sprache ist (5.0.2). Schließlich mache ich einen Vorschlag, welche Gesichtspunkte in einer Sprachgeschichte angewandt werden können. Die hier (in 5.0.3) behandelten Sprachen dienen der Auswahl der Themen in den sprachgeschichtlichen Skizzen. Zugleich halte ich sie für unverzichtbar in einer Sprachgeschichte überhaupt, ohne damit zu behaupten, dass damit eine Vollständigkeit der wichtigsten Themen erreicht ist.
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen Mit dem Folgenden möchte ich zur Klärung der Frage beitragen, was eine romanische Sprache ist und wie viele romanische Sprachen es gibt. Ich werde nicht einfach eine kommentierte Liste geben, sondern die Kriterien einführen, die ich bei der Aufstellung meiner Liste anwende. Mit diesen begründe ich meine Listen (1), (2) und (3). Über die darin genannten Sprachen kann man sich hier informieren. Manche halten das für eine Frage der Definition. Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. Jede Sprache ist geschichtlich gegeben, man kann sie folglich nicht im eigentlichen Sinne definieren, sondern man kann nur darstellen, wie sie geworden ist. Die romanischen Sprachen sind „römische“ Sprachen. Damit stellt sich ein terminologisches Problem, das international noch nicht zu einem völlig einheitlichen Terminus geführt hat. In der Linguistik der französischen Aufklärung war langue romane, d. h. ‚römische Sprache‘, einer der Ausdrücke für das Okzitanische, das teils allein so genannt wurde, teils aber das Altokzitanische und das Altfranzösische zusammen umfasste. Dabei wurde das okzitanische Wort für ‚römisch‘ im Französischen als roman beibehalten und ein Unterschied zu frz. romain ‚römisch‘ eingeführt. Friedrich Schlegel setzte die Benennung langue romane in den Plural und verwendete als erster romanische Sprachen mit der heutigen Bedeutung (1808). Seitdem muss man zwischen ‚Römisch‘ und ‚Romanisch‘ unterscheiden. Friedrich Diez verbreitete den Fachausdruck „romanisch“ in seiner Grammatik der romanischen Sprachen (11836–1843). Durch die Übersetzung mit dem Titel Grammaire des langues romanes wurde der Terminus im Französischen eingebürgert und gelangte in andere romanische Sprachen. Während aber das Portugiesische línguas românicas kennt und das Rumänische limbi romanice, variiert das Italienische zwischen lingue romanze und lingue neolatine, das Spanische zwischen lenguas romances und lenguas románicas. https://doi.org/10.1515/9783110476651-005
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen
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Die romanischen Sprachen leiten sich also von der Sprache Roms, vom Lateinischen her. Allerdings liegt den romanischen Sprachen in ihrer kontinuierlichen Entwicklung nicht unmittelbar das klassische Latein zugrunde, das nichts anderes als das Lateinische der Literaturtradition ist, sondern die gesprochene Sprache, die sich im Römischen Reich ausbreitete und die die Romanisten Vulgärlatein nennen. Jede Sprache, die sich aus der Sprache Roms entwickelt hat, ist Romanisch, aber nicht jedes Romanisch ist eine romanische Standardsprache. In der Regel sind die romanischen Varietäten immer noch die Dialekte. 5.0.1.1 Wie viele romanische Sprachen gibt es? Damit stellt sich das Problem, wie viele romanische Spachen es denn gibt. Darauf sind unterschiedliche Antworten gegeben worden, unterschiedlich nicht etwa, weil die Sprachwissenschaftler nicht wüssten, was eine romanische Sprache ist, sondern weil die Sprecher letztlich darüber entscheiden. Eine romanische Sprache ist eine solche, die die Sprecher als romanische Spache anerkennen. Das tun sie, indem sie ihr einen Namen geben: langue française, lengua española oder castellana, llengua catalana, lingua italiana, língua portuguesa, limba română usw. Unter den romanischen Sprachen erkennen die Sprecher in dieser Weise und seit Langem ganz fraglos Sprachen an, die zugleich Standardsprachen und Sprachen von Nationalstaaten sind. Dazu gehören: (1) Französisch Italienisch Portugiesisch Rumänisch Spanisch Ich ziehe es vor, von Sprachen von Nationalstaaten und nicht von Nationalsprachen zu sprechen, wie man sie oft in Analogie zu „Nationalliteraturen“ nennt. In der Tat ist die Sprache mehrerer Nationalliteraturen oft identisch. So unterscheiden sich die spanische und die mexikanische sowie die anderen hispanoamerikanischen Literaturen nicht wesentlich durch die Sprache. Solchen Standardsprachen von Nationalstaaten werden ferner Sprachen zugeordnet, die außerhalb eines Nationalstaats gesprochen werden, eine durchaus problematische Annahme. So zählt man dazu aus rumänischer Sicht nicht nur das in Rumänien gesprochene Dakorumänisch, sondern auch das Istrorumänische auf der Halbinsel Istrien, das Meglenorumänische, das in Griechenland nordwestlich von Saloniki und in einem zum ehemals jugoslavischen Makedonien gehörenden angrenzenden Gebiet gesprochen wird, und das im nördlichen Griechenland, in Albanien, dem ehemals jugoslavischen Makedonien und dem südwestlichen Bulgarien verbreitete Aromunisch. Dass Standardsprachen als Nationalsprachen von Nationalstaaten entstanden sind, schließt nicht aus, dass es Natio-
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nalstaaten gibt, in denen eine Nationalsprache verwendet wird, die in erster Linie die Identität eines anderen Nationalstaats gestiftet hat wie das Spanische zunächst die Identität von Spanien und danach diejenige der einzelnen hispanoamerikanischen Staaten. Diese Staaten brauchen für ihre Identität mehr als nur die spanische Sprache. Sie müssen sich vom Mutterland abgrenzen und benennen dieselbe Sprache dann bisweilen anders: castellano zum Beispiel in Peru oder lengua nacional in mehreren Staaten, zum Teil in verschiedenen Zeiten ihrer nationalen Geschichte. Ihre Identität als Nationalstaaten müssen diese Staaten daher auch noch auf anderem Wege finden. Sie scheuen nicht davor zurück, dafür sprachliche Unterschiede zu instrumentalisieren, zum Beispiel die heute quantitativ verhältnismäßig unbedeutenden Entlehnungen aus Indianersprachen (“indigenismos”).
Problemfälle Es entstehen aber auch Standardsprachen innerhalb von Nationalstaaten, in denen daneben andere Sprachen gesprochen werden, die deshalb selbst keine Eigenstaatlichkeit haben. Die erfolgreichste unter diesen Standardsprachen ist das Katalanische, das im Osten Spaniens, nordöstlich der Pyrenäen in Frankreich und in der Stadt l’Alguer (it. Alghero) auf Sardinien gesprochen wird. Das Bündnerromanische im schweizerischen Graubünden, ein anderes Beispiel, hat fünf Schriftsprachen; daneben hat es noch eine allen Gebieten gemeinsame kodifizierte Standardsprache herausgebildet. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht werden von manchen Forschern das Ladinische in Südtirol und das Friaulische nördlich von Venedig zum „Rätoromanischen“ gezählt, ohne dass jedoch die Sprecher aller dieser Gebiete das Bewusstsein einer sprachlichen Gemeinsamkeit hätten. Hier treten der Gesichtspunkt der Sprecher und der Gesichtspunkt vieler Sprachwissenschaftler miteinander in Konflikt (cf. den Anfang von 5.4). Diejenigen Sprachwissenschaftler, die eine „Rätoromania“ von Graubünden bis zum Friaul annehmen, stützen sich dabei auf die Annahme einer rätischen Latinität. Das Siedlungsgebiet der Räter war aber nicht mit der „Rätoromania“ identisch. So waren die Räter zur Zeit des Römischen Reichs nur in einem Teil Graubündens ansässig. Ins Allgemeine gewendet stellt sich bei einigen romanischen Sprachen der Raum, in dem sie gesprochen werden, als Problem. Bei der „Rätoromania“ konnten wir soeben beobachten, dass Sprache und Raum sich nicht entsprechen, da in diesem angenommenen Raum mehrere historische Sprachen gesprochen werden. Aber auch umgekehrt kann eine Sprache, die als eine historische Sprache von ihren Sprechern verwendet wird, in einem sehr zergliederten Raum gesprochen werden, wie es beim Dolomitenladinischen der Fall ist, da es sich auf verschiedene Verwaltungseinheiten verteilt. Auch beim Katalanischen werden wir sehen, dass die Abgrenzung des Raums durch die Geltung einer Standardsprache nicht einfach als gegeben angenommen werden kann. Bei einer Sprache wie dem Okzitanischen darf man sich sogar fragen, ob sie überhaupt einen eigenen Raum hat. Alle diese Überlegungen lassen es angezeigt
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen
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sein, dem Verhältnis von Standardsprache und dem Raum ihrer Geltung Aufmerksamkeit zu schenken. Bei dem im Süden Frankreichs gesprochenen Okzitanisch finden wir einen etwas anders gelagerten Konflikt zwischen der Sicht der Sprecher und derjenigen der Sprachwissenschaftler. Das Okzitanische, früher auch Provenzalisch genannt, kennt neben einer Vielzahl von Dialekten eine kodifizierte Standardsprache, die die meisten Sprecher aber nicht beherrschen. Mehr noch, die okzitanische Standardsprache wird eher von meist jüngeren Okzitanen gelernt, deren Muttersprache bereits das Französische ist. Wir finden daher die paradoxe Situation vor, dass die Sprecher okzitanischer Dialekte ihre Sprache dem Französischen als patois unterordnen, während umgekehrt die Sprecher des Französischen, die okzitanische Vorfahren haben, gelegentlich zu einer okzitanischen Standardsprache übergehen, die sie nicht als Muttersprache gelernt haben.
Einige neuere romanische Sprachen Was eine romanische Sprache ist, steht also nicht ein für allemal fest, sondern ist das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung. Das jüngste Beispiel einer Entstehung – oder Neuentstehung – einer romanischen Sprache ist das Galicische. Das Problem des Galicischen als Standardsprache werden wir in diesem Kapitel weiter unten besprechen. Sehr jung ist ebenfalls das Sardische als kodifizierte Standardsprache, es ist aber bislang nicht so erfolgreich geworden wie das Galicische und andere Standardsprachen ohne Eigenstaatlichkeit. Fügen wir das Asturianische und das Aragonesische hinzu, für die in noch stärkerem Maße die Bemerkungen zum Ladinischen und Friaulischen gelten: Die Sprecher kennen oft nicht die Kodifizierungsbemühungen oder sehen keinen Sinn darin. Der Vollständigkeit halber nenne ich noch das „Frankoprovenzalische“, eine Gruppe von Dialekten, die vom Raum um Lyon bis zur französischsprachigen Schweiz und zum Val d’Aosta gesprochen werden bzw. wurden. Das „Frankoprovenzalische“ wird eigentlich nur aufgrund der wissenschaftlichen Autorität von Graziadio Isaia Ascoli als Sprache genannt, der in seinen “Schizzi franco-provenzaliˮ (1878) eine von Lugdunum (Lyon) sich ausbreitende Gemeinsprache festgestellt hat, die es nicht geschafft hat, zu einer modernen Standardsprache zu werden, da sie seit dem Mittelalter vom Französischen überdacht worden ist.
Ein erweiterter Katalog der romanischen Sprachen Die romanischen Standardsprachen haben sich zu sehr verschiedenen Zeiten herausgebildet, manche davon sind noch recht jung. Das gesprochene Lateinisch – das Vulgärlatein – hatte sich zu verschiedenen lokalen Sprachen entwickelt, die mehr oder weniger regional begrenzte Gemeinsprachen herausbildeten. Ein Teil dieser romanischen Gemeinsprachen wurde im Mittelalter als Schriftsprache verwendet. Die frühen
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romanischen Gemeinsprachen mit und ohne Schriftsprache wurden meist durch die heutigen Sprachen von Nationalstaaten zurückgedrängt, wenn sie sich nicht zu Sprachen von Nationalstaaten entwickelten. Ich deute an dieser Stelle noch einmal kurz an, was man im Alltagsverständnis unter einer romanischen Sprache versteht: Eine romanische Sprache ist eine kodifizierte Standardsprache, die eine Fortsetzung des Lateinischen ist. Dazu gehören folglich: Französisch, Galicisch, Italienisch, Katalanisch, Okzitanisch, Portugiesisch, Bündnerromanisch, Rumänisch, Sardisch und Spanisch. Wie wir gesehen haben, ist der Status dieser Sprachen nicht gleich und die anderen oben als Problemfälle genannten Sprachen finden bei ihren Sprechern eine sehr unterschiedliche Anerkennung. Dies ist der Grund, weshalb wir in den Einführungen in die romanische Sprachwissenschaft verschiedene Listen von romanischen Sprachen finden. Aber alles, was Romanisch ist, ob Sprache oder Dialekt, ist Gegenstand der romanischen Linguistik. Unter Anwendung der Kriterien Standardsprache und Kodifizierung erhält man die folgende Liste: (2) Französisch Italienisch Portugiesisch Rumänisch Spanisch Galicisch Katalanisch Okzitanisch Bündnerromanisch Sardisch und andere Sprachen Die „anderen Sprachen“ werden uns gleich beschäftigen. Bevor ich sie nenne, gehe ich auf das Kriterium des sprachlichen Abstands ein und komme danach auf die Frage der Anerkennung einer Sprache durch ihre Sprecher zurück.
Das Kriterium des Abstands Die in meiner Liste genannten Sprachen sind Standardsprachen oder sie befinden sich auf dem Wege zur Standardisierung und Kodifizierung. Manche Standardsprachen haben einen durchaus problematischen Status. Sprachplaner stützen sich gern auf sprachliche Merkmale, die für etwas ursprünglich Gegebenes gehalten werden. In Wirklichkeit sind die standardisierten romanischen Sprachen von ihren Sprechern schon von vornherein abgegrenzt worden. Die Standardisierung ist Ausdruck einer Identität, deren Grundlage wir in der Geschichte der jeweiligen Sprachgemeinschaft suchen müssen.
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen
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Andere Listen von romanischen Sprachen legen wenigstens zum Teil die eben erwähnten Strukturmerkmale zugrunde. Wollte man die romanischen Dialekte und Sprachen aufgrund ihrer innersprachlichen Merkmale abgrenzen, müsste man eine Typologie der Merkmale für alle romanischen Sprachen zugrunde legen. Diese Typologie müsste ohne Ausnahme angewandt werden. Die jeweilige romanische Sprache wäre sodann in ihrer Individualität durch Merkmale, die nur ihr eigen sind, oder eine spezifische Kombination von Merkmalen zu bestimmen. Die zwingende Konsequenz einer typologischen Methode für die Anerkennung einer romanischen Varietät als romanischer Sprache würde darin bestehen, dass durch Merkmale gut charakterisierte Sprachgebiete Räume eigener romanischer Sprachen darstellen müssten. Eine Auswahl von 16 Kriterien gibt Bossong (2008: 16–47), aus denen sich entsprechend eine andere Zahl von romanischen Sprachen ergibt, als sie hier angenommen werden. Die sprachliche Wirklichkeit ist aber eine andere. Eine romanische Sprache wird von ihren Sprechern nicht primär durch ihren Abstand zu anderen romanischen Sprachen abgegrenzt. Abstand bedeutet die Zahl der Merkmale, die eine Sprache von einer anderen unterscheidet. Wir stellen aber in der Geschichte der Einzelsprachen fest, dass der Abstand für die Anerkennung einer Varietät als romanischer Sprache nicht maßgeblich gewesen ist. Betrachtet man die Geschichte einzelner romanischer Sprachen, so waren es im Wesentlichen außersprachliche Bedingungen, die eine ehemals kleinräumig verbreitete Sprache zu einer Standardsprache haben werden lassen. Was dazu beigetragen hat, dass eine Sprache eine romanische Standardsprache geworden ist, erfahren wir also wieder nur aus ihrer Geschichte. Wohl ist der Abstand zu anderen Sprachen für das Bewusstsein einer eigenen sprachlichen Identität wichtig, eher aber als eine vorgängige Gegebenheit ist der Abstand oft etwas nachträglich Geschaffenes. Dies ist besonders offensichtlich, wenn eine Standardsprache unter dem Dach einer anderen etabliert werden soll. Das Katalanische oder das Galicische betonen in ihren Standardformen – das Katalanische mehr, das Galicische weniger – ihre Divergenz zum Spanischen. Das Sardische und das Friaulische müssen sich gegenüber dem Italienischen behaupten. Das Okzitanische betont seine Unterschiede zum Französischen. Weil sich eine romanische Sprache nur durch ihre Geschichte als eigene Sprache bestimmen lässt und diese Geschichte in den verschrifteten Sprachen Europas, nicht nur den romanischen, zu Standardsprachen oder zu Sprachen geführt hat, die auf dem Wege der Standardisierung sind, betrachten wir ausschließlich die – unterschiedlich gut entwickelten – Standardsprachen. Die räumliche Reichweite der romanischen Sprachen ist in ihrer Verwendung recht unterschiedlich. Manche überlappen sich, was Konflikte oder wenigstens Probleme mit sich bringt. Die geschichtlichen Skizzen sollen zeigen, wie die romanischen Standardsprachen geworden sind und wie sie sich entweder andere Varietäten und Sprachen untergeordnet haben oder in Konflikt mit ihnen geraten sind.
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Die Anerkennung einer Sprache als romanischer Standardsprache Die eingenommene Perspektive bringt es mit sich, dass ich in jedem Fall von einer Standardisierung ausgehe. Dies scheint mir eine Notwendigkeit auch dann zu sein, wenn die Standardisierung nicht von der Mehrheit ihrer Sprecher getragen wird. Ebenso notwendig ist es aber, dass sie nicht nur von den Sprachplanern vertreten wird, die sie vorschlagen. Sie muss von den Sprechern und zumindest von einem Teil von ihnen anerkannt und übernommen werden. Es ist möglich, dass mir eine romanische Sprache, die auf diese Weise unterschieden werden kann, entgeht. Sie gehört dazu, wenn sie in der angegebenen Weise existiert. Eine andere Frage ist dagegen die Anerkennung einer Sprache als Standardsprache ohne jede Einschränkung, denn wir stellen in ihrer Geltung viele Abstufungen fest. Eine Aufnahme unter die romanischen Sprachen in der hier gegebenen Darstellung beinhaltet nicht, dass alle Sprachen denselben Status haben noch dass sie überhaupt von allen ihren Sprechern ohne Anfechtung anerkannt worden sind. Die Anerkennung ist eine politische Frage. Wie immer in diesen Dingen mag man sich dafür oder dagegen aussprechen oder sein Urteil aufschieben. Ich halte es allerdings nicht für sinnvoll, gleich ein eigenes Urteil abzugeben. Es scheint mir unabdingbar zu sein, eine Sprache zunächst aus der Sicht derer zu präsentieren, die ihre Existenz als Standardsprache behaupten und – das gehört unbedingt dazu – durch ihren Sprachgebrauch anerkennen. Gegenstand der romanischen Sprachwissenschaft sind in diesem Sinne auch die Kreolsprachen, deren lexikalische Basis eine romanische Sprache ist. Diese erhalten einen offiziellen Status, wenn die Staaten, in denen sie gesprochen werden, unabhängig geworden sind, so das französische Kreol in Haiti, das Papiamento auf den ABCInseln (Munteanu 1996) und das kapverdische Kreol auf den Kapverdischen Inseln, die 1975 die Unabhängigkeit von Portugal erlangt haben. Das alles führt dazu, dass hier mehr romanische Sprachen als sonst angenommen werden. In vielen Fällen sind sie gut etabliert. Dies ist der Fall, wenn sie Sprachen von Nationalstaaten sind. Manche davon richten sich auf eine „Verteidigung“ ein, die eigentlich ein Kampf ist, wie ihn die Franzosen gegen das Englische führen, was die Sprecher des Englischen eher ignorieren. In anderen Sprachgemeinschaften umwerben diejenigen, die sich für die sprachliche Eigenständigkeit und manchmal für das Überleben einer Gemeinschaft einsetzen, ihre Sprecher, damit sie ihre sprachlichen Traditionen, sei es auch als Minderheit, fortsetzen. Ich verfolge die Geschichte dieser Sprachgemeinschaften mit Sympathie; die Entscheidungen treffen aber immer nur diejenigen, die diese Sprachen sprechen und schreiben. Über die Existenz dieser Sprachen wird durch diejenigen abgestimmt, die sie sprechen und schreiben. Nach dem Kriterium der eingeschränkten Anerkennung einer kodifizierten Standardsprache durch ihre Sprecher kann ich die Liste (2) ergänzen:
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen
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(3) in Italien: Friaulisch und Ladinisch in Frankreich: Korsisch in Spanien: Asturianisch und Aragonesisch Kreolsprachen Da die Einschränkung der Anerkennung je nach Sprechergruppe sehr verschieden sein kann, wird man einen gewissen Spielraum bei der Aufstellung einer Liste von romanischen Sprachen einräumen müssen. Zusätzlich zu den genannten Parametern werden noch weitere aufgeführt, die im Rahmen der Sprachplanung das Korpus oder den Status bzw., mit den Ausdrücken von Einar Haugen, die Form und die Funktion betreffen. Dazu gehören die Schaffung einer Literatur mit allen Gattungen und die wissenschaftliche Prosa mit einem relevanten terminologischen Ausbau. Der Status wird gerne an der Präsenz der Sprache an den Schulen als Sprache, die unterrichtet wird, oder als Sprache, in der unterrichtet wird, bemessen, als Sprache der Printmedien sowie des Rundfunks, des Fernsehens und des Internets. Da den Sprachplanern diese Parameter vertraut sind, bemühen sie sich um ihre Erfüllung in ihrer Sprachgemeinschaft. In dieser Hinsicht wirkt die Diskussion um die Minderheitensprachen wieder auf deren sprachliche Wirklichkeit zurück.
Die romanischen Sprachen der diachronischen Sprachwissenschaft: Die Kataloge Meyer-Lübkes und Tagliavinis Wir haben die romanischen Sprachen im Hinblick auf die Möglichkeit diskutiert, sie als historische Sprachen anzuerkennen. Die sich aus den Kriterien ergebenden Sprachenkataloge stehen nun aber im eklatanten Widerspruch zu denjenigen, die man in zahlreichen Einführungen in die romanische Sprachwissenschaft nennt. Sehen wir uns einmal zwei solcher Listen näher an. Wilhelm Meyer-Lübke war der wichtigste Junggrammatiker in der romanischen Sprachwissenschaft. Daher betrachten wir seine Lehrmeinung, wie er sie in der Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (31920) vertritt, an erster Stelle. Gleich zu Anfang des Werks erklärt er, was eine romanische Sprache ist: „Unter romanischen Sprachen versteht man die aus dem Lateinischen hervorgegangenen, in ihrem Wortschatze, ihrer Syntax und ihrem Formenbau durchaus lateinisches Gepräge tragenden Sprachen“ (31920: 9). Mit diesem Kriterium wird der Herkunft aus dem Lateinischen Rechnung getragen. Die genaue Zahl der Sprachen bleibt damit im Prinzip offen. Eine Begrenzung ergibt sich „hauptsächlich durch politische und durch literarische Verhältnisse“ (31920: 16). Aus politischen Gründen werden fünf romanische Sprachen unterschieden: Rumänisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch. Dem „Provenzalischen“ wird „mit Rücksicht auf die Wichtigkeit seines Schrifttums und auf die verhältnismäßig größeren Unterschiede vom Nordfranzösischen eine besondere Stellung ein[ge]räumt“ (31920: 16). Neben dem Kriterium des Abstands wendet er also das des Ausbaus an.
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Ferner weiß Meyer-Lübke, dass nicht alle seine romanischen Sprachen den Sprachen entsprechen, die die Sprecher annehmen, denn zum „Rätoromanischen“ führt er aus: „Die Zusammenfassung der Mundarten dieses Gebiets ist eine lediglich linguistische, da sie zwar zu keinen Zeiten eine politische oder literarische Einheit gebildet haben, sich aber für den Sprachforscher und zumeist auch im Volksbewußtsein ganz entschieden abheben von den angrenzenden italienischen Dialekten“ (31920: 17). Es ist wichtig festzustellen, dass das Bewusstsein der Sprecher sich auf den Abstand zu den italienischen Dialekten bezieht, nicht aber auf den Abstand zu den verschiedenen „rätoromanischen“ Mundarten, mit denen sie ja nicht in Kontakt stehen oder standen. Wenn die sardischen und die „dalmatinischen“ Mundarten abschließend genannt werden, bleibt das Kriterium implizit. Wir können dabei aber leicht die Anwendung des geschichtlichen und des geographischen Kriteriums erkennen. Die von Osten nach Westen fortschreitend zu nennenden romanischen Sprachen sind bei Meyer-Lübke also: 1. Rumänisch, 2. „Dalmatinisch“, 3. Rätoromanisch, 4. Italienisch, 5. Sardisch, 6. Provenzalisch, 7. Französisch, 8. Spanisch, 9. Portugiesisch (31920: 17). Befremdlich ist in dieser Liste das Dalmatische, das bekanntlich mit seinem letzten Sprecher 1898 ausgestorben ist (Bartoli 1906). Hier können wir annehmen, dass das Kriterium der Herkunft aus dem Lateinischen maßgeblich war. In Wirklichkeit wendet Meyer-Lübke ein weiteres Kriterium an, das implizit bleibt, weil es sich für ihn aus der „Aufgabe der romanischen Sprachwissenschaft“ (31920: 62) ganz selbstverständlich ergibt. Sie „besteht darin, die Veränderungen des romanischen Sprachstoffes von seinen ersten Anfängen“ zu verfolgen. Die Blickrichtung, aus der die Veränderungen beobachtet werden, kann vom Lateinischen zum Romanischen oder vom Romanischen zum Lateinischen gehen (31920: 62). Die wichtigste spezielle Aufgabe aber ist die Rekonstruktion der Sprache zwischen 500 und 1000 n. Chr. (31920: 64). Für diese Aufgabe ist es in der Tat unerheblich, ob man seine Rekonstruktion auf ein altes Sprachzeugnis, eine romanische Mundart oder eine ausgestorbene Sprache (z. B. auf das Dalmatische) stützt. Daher verbinden sich die expliziten Kriterien der Klassifikation mit dem impliziten des eigentlichen Zwecks der Klassifikation, der in der Aufstellung der Sprachen besteht, die in die Rekonstruktion eingehen sollen. Daher kann die Liste der Sprachen und Mundarten im Grunde offenbleiben, denn er schreibt: „Es bleibt also nur übrig, nach ziemlich willkürlicher Bestimmung dessen, was wichtig oder nicht wichtig ist, und nach ungefährer Zugrundelegung der historisch-politischen Verhältnisse eine systematische Übersicht zu geben, wobei man aber stets im Auge behalten muß, daß diese Übersicht hauptsächlich praktische Zwecke verfolgt und einer festen wissenschaftlichen Grundlage entbehrt“ (Meyer-Lübke 31920: 22).
Das sind offene Worte, die die Stringenz seiner Liste von romanischen Sprachen relativieren. Einige romanische Sprachen, die wir nach unseren Kriterien unterschieden haben, erscheinen als Mundarten. Ich verwende die Sprachennamen, die ich eingeführt habe, und kennzeichne Meyer-Lübkes Sprachen- oder Mundartennamen mit
5.0.1 Kriterien für die Abgrenzung von romanischen Sprachen
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Anführungszeichen. So klassifiziert er das Dolomitenladinische und das Friaulische als „Rätisch“, das Katalanische als „Provenzalisch“, das Asturianische zusammen mit dem Leonesischen und das Asturianische sowie das Aragonesische als Spanisch und schließlich das Galicische als Portugiesisch (31920: 23–24). Meyer-Lübkes Liste der romanischen Sprachen wird tradiert und kanonisiert. Mit Kriterien allein kommt man dieser Kanonisierung nicht mehr bei, man muss sie entmystifizieren. Gelegentlich wird die Liste erweitert: Das „Frankoprovenzalische“ wird aufgrund der Autorität von Graziadio Isaia Ascoli (1878) oft hinzugefügt. Das Katalanische blieb wegen seines für gering gehaltenen Abstands zum Okzitanischen oft unberücksichtigt. Heute wird das Katalanische regelmäßig aufgeführt, da es offizielle Anerkennung errungen hat. Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass ich Meyer-Lübkes Argumentation im Hinblick auf die von ihm verfolgten Forschungszwecke für kohärent halte. Diese Bewertung gilt auch dann, wenn man weiß, dass einige Zuordnungen wie gerade diejenige des Katalanischen zum Provenzalischen kontrovers diskutiert wurden. Hierzu hat Meyer-Lübke selbst einen wichtigen Beitrag geleistet (1925). Diese Liste ist deshalb kohärent, weil sie den Aufgaben der romanischen Sprachwissenschaft entspricht, wie sie Meyer-Lübke versteht. Wir können darauf verzichten, die Geschichte der Klassifikationen der romanischen Sprachen nachzuzeichnen. Sie legen die lateinische Herkunft zugrunde, den geographischen Raum, den Abstand der Sprachen untereinander und den jeweiligen Diskussionsstand in der diachronischen romanischen Sprachwissenschaft. Ein gutes Beispiel dafür ist Carlo Tagliavini mit seinem Werk Le origini delle lingue neolatine, das ich in der aktualisierten deutschen Übersetzung (31998) verwende. Tagliavini unterscheidet nach dem Raum Balkanromanisch, Italoromanisch, Galloromanisch und Iberoromanisch. Problematische Sprachen sind für die Zuordnung zu diesen Sprachräumen das Dalmatische und das Katalanische. Das Dalmatische gehört zum Balkanromanischen und zum Italoromanischen, das Katalanische zum Galloromanischen und zum Iberoromanischen. Meyer-Lübkes südostfranzösische Mundarten werden als eigene Sprache anerkannt und nach Ascoli „Frankoprovenzalisch“ genannt. Tagliavinis romanische Sprachen sind Rumänisch, Dalmatisch, Italienisch, Sardisch, Rätoromanisch, Französisch, Frankoprovenzalisch, Provenzalisch (und Gaskognisch), Katalanisch, Spanisch und Portugiesisch. Mit der Gegenüberstellung meiner Listen romanischer Sprachen und der Positionen von Meyer-Lübke und Tagliavini will ich keineswegs behaupten, dass die eine Serie von Listen richtig und die andere falsch ist. Im Gegenteil, es soll das Verständnis dafür geweckt werden, dass wir je nach Perspektive der Betrachtung und je nach den unterschiedlichen Aufgaben der synchronischen und der diachronischen Sprachwissenschaft der Forschung andere Sprachen zugrunde legen müssen. Ob wir heute noch für die diachronische romanische Sprachwissenschaft Listen anerkennen wollen, die das „Frankoprovenzalische“ als eigene Sprache aufführen, das Galicische aber nicht (was ich natürlich für falsch halte), ist zunächst einmal zweitrangig gegenüber den
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5 Die romanischen Sprachen
verschiedenen Aufgaben der diachronischen und der synchronischen Sprachwissenschaft. Das heißt aber auch, dass bei der Einnahme einer sprechereigenen Perspektive nur die Listen der synchronischen Sprachwissenschaft gelten.
5.0.2 Eine Fallstudie: Das Galicische als Standardsprache Der allgemeine sprachgeschichtliche Hintergrund findet sich im Beitrag zum Galici schen (5.14). Ich diskutiere das Galicische hier, weil es nicht regelmäßig in Listen von romanischen Sprachen aufgenommen wird und weil der geringe Abstand des Galici schen zum Portugiesischen und zum Spanischen ein Problem für seine Etablierung als Standardsprache ist. Das Galicische hat als eigenständige Sprache gegenüber dem Portugiesischen, das von ihm abstammt, und gegenüber dem Spanischen oder Kastilischen in jüngster Zeit wieder Anerkennung gefunden, nachdem auch die Verwendung der anderen Regionalsprachen Spaniens – des Katalanischen und des Baskischen – zu einem durch die spanische Verfassung von 1978 verbürgten Recht geworden ist (cf. 5.14 und 5.10). Die deutsche Romanistik (zur älteren Tradition Brumme 1988) hat noch nicht zu einem sprachwissenschaftlichen Konsens in der Frage der in Galicien grundständig gesprochenen Sprache gefunden, was sich ebenfalls in Unklarheiten hinsichtlich der wissenschaftsorganisatorischen Zuordnung des Galicischen ausdrückt: Sind die Lusitanisten für das Galicische zuständig oder sind sie es nicht? Was die Einzelheiten angeht, stütze ich mich im Wesentlichen auf Bekanntes. Es geht mir um eine Darstellung seiner Individualität als Standardsprache und seine Herausbildung im Vergleich zu anderen Standardsprachen. Der unmittelbare Argumentationskontext ist der Ausbau von Standardsprachen in Spanien. Das Galicische scheint nicht nur unter den Sprachen Spaniens und sogar unter den romanischen Sprachen ein Sonderfall zu sein, sondern überhaupt, denn einerseits setzt sich das Galicische des Mittelalters in Gestalt des Portugiesischen als Weltsprache fort (cf. 5.15), andererseits hat es in seinem Ursprungsgebiet den Status einer zum zweiten Male ausgebauten und standardisierten Sprache, den es sich nach jahrhundertelanger Dialektalisierung seit dem 19. Jahrhundert mühsam errungen hat. Beim Ausbau ihrer Sprache zur Standardsprache können die Galicier sich nicht auf den Abstand ihrer Sprache zum Portugiesischen und zum Spanischen berufen, da er sehr gering ist. Es gibt Dialekte in anderen Sprachen, die einen wesentlich größeren Abstand zu ihrer Standardsprache haben als das Galicische zum Portugiesischen und Spanischen. Dieses Argument zeigt, dass der Abstand allein wenig tauglich ist, eine historische Sprache zu konstituieren. Immer wenn der Status und die Norm einer Sprache sich in einer öffentlichen Auseinandersetzung konstituieren, darf man von einer sprachlichen Streitfrage sprechen, wie sie modellhaft als questione della lingua in Italien zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert ausgetragen wurde (cf. 5.1.0.2). Die Diskussion um das Ita-
5.0.2 Eine Fallstudie: Das Galicische als Standardsprache
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lienische war kein geschichtlicher Einzelfall, sondern sie hat das Verständnis für derartige Fragestellungen überhaupt vorbereitet. In diesem Sinne ist es richtig und angemessen, von einer galicischen questione della lingua zu sprechen (cf. Fernández Rei 1991 und 1996: 38–39, jedoch mit einer anderen Interpretation), denn in der Tat war der Status des Galicischen als Sprache oder als Dialekt im 19. und zum Teil im 20. Jahrhundert eine Streitfrage und die Selektion der Standardsprache ist, obwohl die politischen Normierungsentscheidungen getroffen sind, bis heute eine Streitfrage geblieben. Da der Streit gleichwohl fortgesetzt wird, ist nach den Gründen dafür zu fragen. Ich nehme dabei die jetzige Normierung nicht als vorläufigen Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung, sondern vielmehr als perspektivischen Ausgangspunkt für eine geschichtliche Betrachtung, die zur gegenwärtig geltenden galicischen Standardsprache hinführt. Die Fragen, die zu stellen wären, lauten folgendermaßen: 1. Ist das Galicische eine Sprache oder ein Dialekt? Wenn es ein Dialekt oder ein Bündel von Dialekten ist, wäre nachzufragen, ob es ein Dialekt des Portugiesischen oder des Spanischen ist. 2. Ist das Galicische eine eigene historische Sprache oder gehört es zum Portugiesischen als historischer Sprache? 3. Welches Galicisch soll der Normierung und Kodifizierung zugrunde liegen? Diese Frage ist zu stellen, wenn das Galicische als eigene historische Sprache gilt. Diese Fragen müssen vor einer geschichtlichen Betrachtung des Galicischen gestellt werden, denn je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, ist die Geschichte des Galicischen anders zu schreiben. Man gibt in jedem Falle eine geschichtliche Begründung für eine je andere Tradition. Welche Geschichte man darstellt, hängt davon ab, welche in der Gegenwart funktionierende Sprache maßgeblich ist.
Zur ersten Frage: Ist das Galicische eine Sprache oder ein Dialekt? Die Auffassung, das Galicische sei ein Dialekt, gehört im Grunde der Vergangenheit an. Sie ist dennoch von einem gewissen aktuellen Interesse, weil sie Aufschluss darüber gibt, wer diesen Standpunkt vertrat und aus welchem Grund. Allem Anschein nach haben ihn in jüngerer Zeit Sprachwissenschaftler vertreten, nicht jedoch die Galicier als Sprecher selbst. Dazu gleich mehr. Vor dem Rexurdimento, der Wiedererstehung als Literatursprache, wurde das Galicische dagegen durchaus als Dialekt des Portugiesischen (cf. Fernández Rei 1996: 19–21) oder des Spanischen (cf. Fernández Rei 1996: 21) angesehen. Im ersten Überblick über alle romanischen Sprachen, dem Mithridates von Johann Christoph Adelung und Johann Severin Vater (1809 und 1817), erscheint das Galicische um 1800 nicht mehr als eigene Sprache, sondern es wird als „Patois“ dem Spanischen zugeordnet (dazu Lüdtke 1978: 126–127). Dadurch, dass das Spanische aufgrund der politischen Verhältnisse als Standardsprache in Galicien allein herrschte und das Galicische diese Funktion aus politischen Gründen nicht
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5 Die romanischen Sprachen
übernehmen durfte, war es möglich, es von außen als Dialekt des Spanischen anzusehen. García de Diego z. B. behandelt es in seinem Manual de dialectología española als “el más rezagado de los dialectos españolesˮ (‚den rückständigsten unter den spanischen Dialekten‘, 1946: 49), eine Zuordnung, die in späteren Auflagen des Werks nuanciert, aber nicht widerrufen wird. Für die älteren Auffassungen vom Galicischen als Dialekt des Portugiesischen oder Spanischen ließen sich noch weitere Beispiele bringen. Wenn eine Zuordnung des Galicischen als Dialekt des Portugiesischen oder des Spanischen vorgenommen wird, reicht es nicht aus, dass sie nur behauptet wird, sie muss sich auf Argumente stützen. Als maßgeblich sind in dieser wie in allen anderen sprachlichen Fragen die Sprecher anzusehen. Dabei sind letztlich nicht ihre metasprachlich geäußerten Meinungen ausschlaggebend, sondern gerade das, was sie als Sprecher tun. Für das jeweilige Sprechen des Einzelnen gibt es den Unterschied zwischen Sprache und Dialekt nicht. Auch das, was in der Architektur der Sprachen als Dialekt von den Sprechern selbst angesehen wird, funktioniert für sie bei ihrem Sprechen als Sprache. Etwas anderes ist es, ob das Sprechen des Einzelnen einer anderen Sprache zu- oder untergeordnet wird. In diesem Fall können die Sprecher ihre Sprache entweder als eigene historische Sprache betrachten oder aber sie einer anderen Sprache unterordnen. Diese Beziehung ist als eine Beziehung zu einer Leitsprache innerhalb einer historischen Sprache zu verstehen, wenn diese existiert (gewöhnlich ist es die Standardsprache), sie kann aber schlicht auf dem Bewusstsein beruhen, einfach eine andere Sprache zu sprechen (so im Falle des Baskischen im Unterschied zum Spanischen und des Bündnerromanischen im Unterschied zum Deutschen). Die Sprecher von galicischen Dialekten im Inneren des Landes haben heute das Bewusstsein, eine andere Sprache als Spanisch zu sprechen. Die Sprecher an der Grenze zu Portugal halten ihre Sprache nicht für Portugiesisch. Die jahrhundertelange Beeinflussung durch das Spanische führt aber auch dazu, dass die Galicier ihre heutigen Dialekte nicht als ursprünglich ansehen, sondern sie haben ein klares Bewusstsein von der sich sprachlich im Galicischen auswirkenden Dominanz des Spanischen. Interessanterweise verlegen sie das in der Vergangenheit ursprünglicher gesprochene Galicisch in die Gegenwart, aber in andere Regionen Galiciens, z. B. von den Rías Baixas nach Lugo und Ourense und natürlich umgekehrt (Fernández Rei 1990: 35–36). Nicht anders verhalten sich die Okzitanen, wenn sie einen angeblich rein gesprochenen Dialekt in eine weiter entfernte Region verlagern (oder dies früher taten). Damit soll als aus der Sprecherperspektive vorläufig etabliert gelten (genauere Untersuchungen stehen noch aus), dass die galicischen Dialekte heute eine von den spanischen und den portugiesischen Dialekten getrennte Dialektgruppe sind nach dem Kriterium, dass sie von den Sprechern weder dem Spanischen noch dem Portugiesischen zugeordnet werden. Diese Aussage kann aber nur vorläufig gelten. Sie ist zu revidieren, wenn dieses Problem durch eine repräsentative Umfrage geklärt worden ist.
5.0.2 Eine Fallstudie: Das Galicische als Standardsprache
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Eine ganz andere Sache sind die dialektologischen Verhältnisse. Die Dialektologen stellen fest, dass die Isoglossen sich vom galicischen Gebiet einerseits zum portugiesischen, andererseits zum asturleonesischen Dialektraum kontinuierlich fortsetzen. Das dem Galicischen und dem Portugiesischen gemeinsame Dialektgebiet kann man deshalb Galicisch-Portugiesisch (gal. galego-portugués) nennen. Dieser Sprachenname ist eine bloß wissenschaftliche, nicht jedoch eine sprechereigene Benennung, darin solchen Ausdrücken wie „Leonesisch“ (cf. 5.13.) oder „Franzisch“ (cf. 5.8.) vergleichbar. Er wird meines Wissens zuerst 1809 im Mithridates von Adelung und Vater verwendet („Die dritte Hauptmundart [scil. des Spanischen] ist die Gallizisch-Portugiesische“, Lüdtke 1978: 126). Wir können daher auf „GalegischPortugiesisch“ verzichten. Der Ausdruck ist nur eine Rückübersetzung von „GalicischPortugiesisch“. Er kann die Anerkennung der Tatsache ausdrücken, dass das Galici sche und das Portugiesische – ob man diese Sprachen nun auf dialektaler Ebene oder als Standardsprachen betrachtet – enger untereinander verwandt sind als mit den anderen Sprachen der Iberischen Halbinsel. In einer seiner üblichen Verwendungen wird der Sprachenname auf die im Mittelalter in Galicien und Portugal gesprochene und geschriebene Sprache angewandt (z. B. Maia 1986). Ist „Galicisch-Portugiesisch“ aber auch ein tauglicher Name für die damit zu benennende historische Sprache oder die historischen Sprachen?
Die zweite Frage: Ist das Galicische eine eigene historische Sprache? Damit kommen wir zur zweiten Frage, ob nämlich das heutige Galicisch eine eigene historische Sprache neben dem Portugiesischen ist oder ob beide zusammen eine einzige historische Sprache ausmachen (Fernández Rei 1996: 22–24). Dies ist keine nur akademische Frage, denn je nach Anerkennung von einer oder von zwei historischen Sprachen ergeben sich verschiedene Präferenzen für die Normierung des Galicischen. Die Antwort war bereits in der Erörterung enthalten, ob das Galicische eine Sprache oder ein Dialekt sei. Für die Sprecher gilt heute mehrheitlich das Galicische als eigene Sprache gegenüber dem Spanischen und dem Portugiesischen. Der Name „Galicisch-Portugiesisch“ suggeriert aber die Existenz einer einzigen das Galicische und das Portugiesische einschließenden historischen Sprache. Argumentieren wir einmal mit der Annahme, dass Portugiesisch und Galicisch eine einzige Sprache wären. Diese These stieße nicht nur auf das Problem, dass die Galicier sich in der Vergangenheit nicht am Portugiesischen orientierten, wenn man von einigen Intellektuellen absieht, denn es wurde und wird nicht als Kultursprache der Galicier in den Schulen gelehrt. Diese Funktion übernahm in der galicischen Gesellschaft immer das Spanische. Das deutlichste Anzeichen dafür ist, dass die Galicier nicht das Bewusstsein haben, ein „reines Galicisch“ zu sprechen, sondern das, was chapurrao oder castrapo genannt wird, d. h. ein stark hispanisiertes Galicisch. Gleichzeitig findet das dialektale und somit eigentliche Galicisch als solches keine soziale Anerkennung.
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5 Die romanischen Sprachen
Auch sprachgeschichtlich wäre die Entwicklungslinie von der galicischen Gemeinund Schriftsprache des Mittelalters zur heutigen Sprachsituation nicht in einer Weise über das Portugiesische zu ziehen, dass die heutigen sprachlichen Verhältnisse angemessen begründet werden würden, denn es müsste ja die galicische Sprachgeschichte als Geschichte einer auseinanderstrebenden Entwicklung begriffen werden, die zum Untergang der galicischen Schriftsprache und des Galicischen als Sprache mit Leitfunktion sowie zu seiner Ersetzung durch das Spanische geführt hätte. Auch der Neubeginn im 19. Jahrhundert wäre aus dieser Perspektive als zaghafte und immer wieder frustrierte Reintegration in eine portugiesische oder gemeinsame galicisch-portugiesische Sprachgemeinschaft zu begreifen, die in dieser Weise nie existiert hat. Daher ist „Galicisch-Portugiesisch“ ein völlig untauglicher Sprachenname für die Gegenwart. Er wird charakteristischerweise nur von Sprachwissenschaftlern benutzt, die sich auf den geringen Abstand zwischen Galicisch und Portugiesisch berufen. Selbst für das Mittelalter wäre er nur dann brauchbar, wenn sich nachweisen ließe, dass die Sprecher das Bewusstsein von einer in Galicien und in Portugal gemeinsam gesprochenen Sprache hatten. Heute sind Galicisch und Portugiesisch zwei verschiedene historische Sprachen. Diese Tatsache bringt Probleme für die Normierung und Kodifizierung mit sich.
Zur dritten Frage: Welches Galicisch soll der Normierung und Kodifizierung zugrunde gelegt werden? Eine Antwort hierauf kann nicht ohne Bezug auf die Entwicklung des Galicischen gegeben werden. Der allgemeine Kontext der Auseinandersetzung um das Galicische, seine Korpus- und seine Statusplanung, ist Spanien als Staat. Galicien ist länger in das Königreich Kastilien und später Spanien integriert als das Königreich Navarra, das 1512 mit seinen südlich der Pyrenäen liegenden Gebieten annektiert wurde, und als die Länder der katalanisch-aragonesischen Krone, die zwar 1469/1479 durch die Katholischen Könige in Personalunion vereint wurden, in die aber das Spanische erst nach dem Spanischen Erbfolgekrieg als Amtssprache eingeführt wurde. Die rechtliche Basis der heutigen Entwicklung ist die spanische Verfassung von 1978. Sie allein macht den Rahmen für jede weitere sprachpolitische Entscheidung für alle in Spanien gesprochenen Sprachen aus. Ganz ohne Zweifel erfahren zwar die galicischen Intellektuellen eine Ermutigung durch die Existenz des Portugiesischen und den Rückhalt in dieser Sprache. Sie erfahren und brauchen diese Ermutigung aber in einem spanischen, nicht in einem portugiesischen Kontext. Der sprachpolitische Handlungsrahmen ist auch für sie die spanische Verfassung von 1978 und das galicische Autonomiestatut, und er wird es so lange bleiben, wie diese Verfassung und dieses Autonomiestatut gelten. Die dahin führende Geschichte ist eine ausschließlich spanische Geschichte. Weil Kastilien bzw. Spanien als Staat seit dem Mittelalter der politische Rahmen ist, in dem die Entwicklungen des Zentrums und der Peripherie in diesem Land stattgefunden haben und die Entscheidungen getroffen wurden, muss
5.0.2 Eine Fallstudie: Das Galicische als Standardsprache
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für die Normierung des Galicischen die vorausgehende gesamtspanische Entwicklung berücksichtigt werden, da diese die Voraussetzung auch der galicischen Geschichte und der Normierung der Sprache ist, wie auch die Normalisierung des Galicischen vom Spektrum der politischen Parteien Galiciens abhängt. Die Entwicklungen in den spanischen Regionen waren stets aufeinander bezogen. Es ist aber eine erstaunliche und nur im spanischen Kontext erklärliche Tatsache, dass das Galicische die Unterstützung durch das Katalanische und das Baskische brauchte. Dabei scheint doch das von rund vier Fünfteln der Bevölkerung Galiciens gesprochene Galicisch einen stärkeren demographischen Rückhalt zu haben als das Katalanische und das Baskische, denn das Katalanische wird in Katalonien von nur etwa der Hälfte der Bevölkerung gesprochen und das Baskische sogar nur von einem Drittel der Bewohner des spanischen Baskenlands. Die Gründe für den prekären Status des Galicischen sind neben der langen Zugehörigkeit Galiciens zu Kastilien bzw. Spanien – die die sprachliche und soziale Hispanisierung des galicischen Adels und die Verwendung des Spanischen in der Kirche (auch nach dem Tridentinischen Konzil) zur Folge hatte – die wirtschaftliche Unterentwicklung der Region mit ihrem immer noch hohen Anteil an Landbevölkerung und mit ihrer durch Zuzug von außerhalb der Region (Leonesen, Kastilier, Katalanen usw.) getragenen relativ schwachen Industrialisierung. Der Fall des Galicischen lehrt gerade, dass der Prozentsatz der Sprecher einer Sprache zu einem sprachpolitischen Fetisch werden kann. Nach dem Kriterium der Sprecherzahlen müsste das Galicische immer noch eine in ihrer Region gut etablierte Sprache sein. Es war und ist es nicht. Es ist symptomatisch, dass Galicien unter den autonomen bzw. „historischen Gemeinschaften“ als letzte ein Autonomiestatut vor dem Spanischen Bürgerkrieg (damals konnte es allerdings nicht mehr durch ein Referendum angenommen werden) und nach der spanischen Verfassung von 1978 erhielt. Katalonien und das Baskenland waren immer Vorreiter für die sprachpolitische Entwicklung des Galicischen. Weil dieser geschichtliche und politische Zusammenhang besteht, der von den Spaniern und somit auch den Galiciern mit Zustimmung oder mit Ablehnung stets vorausgesetzt wird, dürfen wir die Entwicklung der galicischen Standardsprache nicht isoliert von außen betrachten, sondern müssen die gesamtspanische Entwicklung mitbedenken. Mein Eindruck ist, dass die lusitanische (bzw. „reintegrationistische“) Alternative vor allem deshalb von zahlreichen galicischen Intellektuellen verfolgt werden kann, weil sie den gesamtspanischen Kontext ausblenden (er wird zum Beispiel nicht gebührend berücksichtigt in Carballo Calero 1981: 18–22). Es bleibt offen, wie eine allgemeine Orientierung am Portugiesischen, die eine kultur- und schulpolitische Option wäre, unter den in Galicien waltenden politischen Verhältnissen durchgesetzt werden könnte. Die „Reintegrationisten“ treten für eine lusitanisierende Orthographie ein, dabei bleibt aber das Problem der Aussprache ungeklärt. In der Tat vergrößert die reintegrationistische Orthographie den Abstand zum Spanischen und verringert ihn zum Portugiesischen. Die Aussprache ist von diesem Streit um die Rechtschreibung überhaupt
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5 Die romanischen Sprachen
nicht betroffen, sie wird noch nicht einmal in diesem Zusammenhang diskutiert. Die lusitanisierende Orthographie spiegelt nicht die galicische Phonologie wieder. Sie täuscht einen geringeren lautlichen Abstand zwischen Galicisch und Portugiesisch vor, als er tatsächlich besteht. Die Lösung des Sprachproblems durch diejenigen, die „Reintegrationisten“ genannt werden, ist im Grunde abstrakt. Ihre Lösung mag so rational sein wie eine andere. Sie abstrahiert aber von der galicischen Geschichte, in der das Portugiesische nie Standardsprache oder dominante Sprache war. Wenn man in der Frage der Rechtschreibung die gefundene tragfähige Lösung von 1982 erhalten will, müsste man sich an das Machbare halten (Coseriu 1987a: 135) und dürfte nicht eine von mehreren bloß rational möglichen Entscheidungen zur Grundlage der Sprachpolitik machen. Das Galicische machen seine Sprecher und Schreiber, nicht die Sprach- und Literaturwissenschaftler, auch nicht die galicischen. Vielleicht sollte man immer wieder an diese einfache Tatsache deshalb erinnern, weil die Sprecher (so auch die Galicier) sich nicht immer kohärent verhalten. Diese Zusammenhänge verhindern aber nicht, dass auch die Position der Reintegrationisten stets in die offizielle Sprachpolitik und in die Sprachnorm Eingang finden.
5.0.3 Zur Konzeption von Sprachgeschichten Am Anfang des Schreibens einer Sprachgeschichte steht die eigene Identität. Das ist keine wissenschaftliche Forderung, sondern eine Feststellung des Unvermeidlichen, die ich, soweit es mir möglich ist, überwinden muss. Ich schreibe die Geschichte meiner Sprache. Ich schreibe sie als Zustandekommen meiner kollektiven sprachlichen Identität. Widme ich mich der Geschichte einer Sprache, die nicht meine ist, werde ich mich bis zu einem gewissen Grad mit der anderen Gemeinschaft zwar auch identifizieren, aus der Distanz und der grundsätzlich anderen Primärerfahrung heraus kann dies im Grunde nur kritisch geschehen. Wie die meisten Beispiele von Sprachgeschichten zeigen, ist diese Identität national begrenzt, auch wenn eine Standardsprache nicht eine, sondern mehrere nationale Gemeinschaften fundiert. Dies trifft unter den romanischen Sprachen besonders für das Spanische, Portugiesische und Französische zu. Am deutlichsten betonen wohl die Sprecher aus hispanoamerikanischen Staaten erstens ihre nationale Identität, zweitens eine darüber hinaus gehende hispanoamerikanische Identität und erst in dritter Hinsicht eine Identifikation mit Spanien, die nur dann in Erscheinung tritt, wenn es um die Abgrenzung der gesamten Sprachgemeinschaft nach außen geht. In dieser abgestuften Weise werden in einer geschichtlich gewordenen Tradition die Gemeinsamkeiten betont. Zu einer Sprachgeschichte, die dieser Abgestuftheit Rechnung trägt, hat dieses Bewusstsein aber nicht geführt. Sie wird bisweilen mit einer kontinentalen Attitüde vertreten, aber nicht praktisch realisiert. Die hispanoamerikanischen Sprecher des Spanischen betonen in der Gegenwart innerhalb der spanischen Sprachgemeinschaft eher das
5.0.3 Zur Konzeption von Sprachgeschichten
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Trennende gegenüber Spanien. Wenn es um die Behauptung von Gemeinsamkeiten geht, ist es nicht wichtig, ob die angenommenen Gemeinsamkeiten den Tatsachen entsprechen. In der Sprachgeschichte wird dagegen das vorausgesetzt, was sie mit Spanien verbindet. Deshalb fiel auch für Hispanoamerikaner lange Zeit die spanische Sprachgeschichte mit der Geschichte des Spanischen in Spanien zusammen. Erst in jüngerer Zeit widmet man sich der Aufarbeitung der Sprachgeschichte im eigenen Land. Die Orientierung an der eigenen oder einer vermittelten Identität führt zu einer teleologischen Sprachgeschichte. Diese Position wird namentlich von Oesterreicher bekämpft (u. a. 2007: 16–23). Ihr Ziel ist es, die Geschichte einer Sprache aus heutiger Sicht und hin zum gegenwärtigen Sprachzustand zu schreiben. Das ist keine Forderung der Sprachhistoriker und auch kein theoretischer Grundsatz, sondern eine Grundgegebenheit der Existenz einer Standardsprache heute, der ein Sprachhistoriker hermeneutisch Rechnung tragen muss. Das nehmen die Sprecher als gegeben an und daher muss, wenn man die Sprecherannahmen seiner Sprachgeschichte zugrunde legt, das Werden der Standardsprache in einem Staat als Erstes dargestellt werden. Allerdings stellt sich dann oft heraus, dass diese Perspektive interne Brüche aufweist, die wie im spanischen Fall geklärt und zu einer akzeptablen Lösung gebracht werden müssen. Die Geschichte einer Sprache kann aber neben der Zugrundelegung der eigenen Identität auch aus der Sicht der Anderen unternommen werden, wie ich es hier tun muss. Es gibt dabei im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Die erste besteht darin, dass man sich mit der Sprache der Anderen identifiziert. In diesem Fall geht man ähnlich vor wie die unmittelbar Betroffenen. Die betroffenen Sprecher erkennen ihre Identifikation mit ihrer eigenen Sprache dadurch an, dass sie auch als Wissenschaftler eine Sprachgeschichte aus der Sicht ihrer nationalen Gemeinschaft schreiben. Diese Sicht kann man von außen übernehmen, indem man sich mit einer anderen Sprachgemeinschaft identifiziert, als wäre sie die eigene. Die zweite Möglichkeit besteht dagegen in der Zugrundelegung der anderen Sprache in ihrer ganzen räumlichen Ausdehnung, wie sie sich von außen darstellt. Da man hierfür wenig Hilfe von den Betroffenen selbst bekommt, weil diese Perspektive eben nur bei einer Minderheit dominant ist, steht die Aufarbeitung solcher Fragestellungen in den Anfängen. Mit zunehmender Globalisierung erlangen sprachliche Großräume, in denen die Kommunikation unter dem mobilen Teil der Sprecher von Weltsprachen möglich ist, eine höhere Bedeutung und damit wird auch die Frage relevant, wie sie sich geschichtlich konstituiert haben. Unter den romanischen Sprachen ist die Herausbildung des Großraums der spanischen, der portugiesischen und der französischen Sprache geschichtlich zu begründen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Räume aus der Sicht des Anderen leichter erschließen lassen als aus der Sicht ihrer eigenen Sprecher. Die Verfestigung der Identifikation der Sprecher mit ihrer eigenen Sprache mag dabei durchaus die Wahrnehmung der Sprache als ganzer historischer Sprache hemmen. Es ist eben nicht leicht, die Sprache der anderen Sprecher der eigenen historischen Sprache, mit denen
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5 Die romanischen Sprachen
man sich nicht identifiziert, bis zu einem gewissen Grade auch als eigene anzuerkennen, jedenfalls eher als eine andere historische Sprache wie z. B. das Englische, das Portugiesische oder das Französische etwa aus der Sicht des Spanischen. Die Wahrnehmung des sprachlich Fremden in der eigenen historischen Sprache schiebt sich vor die Wahrnehmung des Ganzen. In jedem Fall ist eine Sprachgeschichte, oder ein Teil davon, eine hermeneutische Konstruktion oder Rekonstruktion, die in einem Verhältnis zur Geschichte einer Sprache steht, die sie aus einer Vielzahl von Gründen nicht abbilden kann (Reichmann 1978). Für die Herausbildung von Standardsprachen hat Haugen (1972) Kriterien aufgestellt, die über die individuelle Entwicklung der Einzelsprachen hinaus zu berücksichtigen sind. Wir werden sie hier den sprachgeschichtlichen Skizzen zugrunde legen, aber in einem neuen Rahmen interpretieren. Sie sind auch für Milroy/Milroy (21991: 28) “stages of implementation of a standard”. Sie erlauben trotz – oder vielleicht gerade wegen – ihrer Einfachheit und ihres schematisierenden Charakters eine angemessene Behandlung der globalen sprachlichen Entwicklung und einen Vergleich der Sprachen als Standardsprachen. Haugen unterscheidet ganz allgemein Form und Funktion einer Sprache, wobei mit Funktion die Verwendungen einer Sprache in der Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft gemeint sind. Die Form betrifft einen Teilbereich einer historischen Sprache, denn es wird weder die gesamte Architektur einer historischen Sprache im Prozess der Standardisierung selegiert noch wird eine historische Sprache als Ganzes kodifiziert. Die Funktion ist von den Typen von Verwendungsbereichen und von ihrem Vorkommen bei den Sprechern her zu sehen. Form und Funktion ergeben, wenn sie zur Gesellschaft und zur Sprache in Beziehung gesetzt werden, in einer Kreuzklassifikation die folgenden Kriterien:
Gesellschaft Sprache
Form Selektion Kodifizierung
Funktion Übernahme Ausbau
Die zentralen Gesichtspunkte heißen bei Haugen selection, codification, acceptance und elaboration. Mit Übernahme gebe ich acceptance wieder. Diese Kriterien werden angewandt auf den Übergang vom Dialekt zur Standardsprache. Da wir unter Dialekt jedoch eine Sprache im Raum in Relation zu einer historischen Sprache verstehen, werden wir statt von „Dialekt“ einfach von „Sprache“ sprechen. Dies soll auch dann gelten, wenn man berücksichtigt, dass engl. dialect nicht nur eine Sprache im Raum, sondern beinahe eine jegliche nicht-standardsprachliche Varietät meinen kann. Eine Gesellschaft oder Sprachgemeinschaft muss ein Einvernehmen erzielen über ‚die Selektion irgendeiner Art von Modell, von dem die Norm abgeleitet werden kann‘ (1972: 109). Diese Selektion einer Norm kann im Laufe der Geschichte einer Einzelsprache mehrmals vorgenommen werden. Sie kann, bezogen auf die Form, zur Kodifizierung
5.0.3 Zur Konzeption von Sprachgeschichten
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einer Sprache führen, d. h. zur Entwicklung einer Sprachnorm im Bereich der Orthographie und Phonologie, der Grammatik und des Wortschatzes, die ihren Ausdruck in einer normativen Orthographie, einer normativen Grammatik und einem normativen Wörterbuch findet. Parallel zur Selektion einer Sprachnorm und zu ihrer Kodifizierung kann der Ausbau einer Sprache stattfinden, wie ihn Kloss (21978) für die germanischen Standardsprachen nach 1800 beschrieben hat und der, von verschiedenen Arten literarischer Sprachverwendung zum technischen, wissenschaftlichen und amtssprachlichen Schrifttum fortschreitend, alle Domänen schriftlicher Sprachverwendung erobert (Haugen 1972: 106–107). Fügt man diesem Ausbau von schriftlichen Domänen noch die Domänen mündlicher Sprachverwendung hinzu, so entspricht dies dem Begriff der Normalisierung – im Gegensatz zur Normierung, der Schaffung einer kodifizierten Sprache, – bei den katalanischen Soziolinguisten. Betrachtet man eine Sprache im Hinblick auf ihre Kodifizierung und auf ihren Ausbau, so gilt die Feststellung: “As the ideal goals of a standard language, codification may be defined as minimal variation in form, elaboration as maximal variation in function” (Haugen 1972: 107). Die maximale Variation in den Funktionen einer Standardsprache führt er weiter aus: “Apparently opposed to the strict codification of form stands the maximal variation or elaboration of function one expects from a fully developed language of a social group more complex and inclusive than those using vernaculars, its functional domains must also be complex. It must answer to the needs of a variety of communities, classes, occupations, and interest groups. It must meet the basic test of adequacy” (Haugen 1972: 108).
Im Gegensatz zu einer starren Kodifizierung, die die Verwendung einer Sprache auf formelle Domänen beschränkt, sind in der Regel die schriftlichen und mündlichen Ausprägungen einer Standardsprache, von Haugen „Stile“ genannt, sehr verschieden. Und er fährt fort: “These styles, which could be called ‘functional dialects’, provide wealth and diversity within a language and ensure that the stability or rigidity of the norm will have an element of elasticity as well. A complete language has its formal and informal styles, its regional accents, and its class or occupational jargons, which do not destroy its unity so long as they are clearly diversified in function and show a reasonable degree of solidarity with one another” (Haugen 1972: 108–109).
Eine kodifizierte Standardsprache bleibt ohne Folgen, wenn sie nur auf dem Papier steht und nicht in einer Sprachgemeinschaft durchgesetzt wird oder, mit Haugens Terminus, nicht zu ihrer Übernahme (“acceptance”) durch Sprecher und Schreiber führt: “Finally, a standard language, if it is not to be dismissed as dead, must have a body of users. Acceptance of the norm, even by a small but influential group, is part of the life of a language” (Haugen 1972: 109). Der Prozess der Übernahme einer Standardsprache kann von der hier genannten ‚kleinen, aber einflussreichen Gruppe‘ bis zur potentiellen Teilhabe der ganzen Bevölkerung eines Staates und sogar, wie im Falle des Englischen, Spanischen, Portugiesischen und Französischen, zur Teilhabe mehrerer Staaten führen.
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5 Die romanischen Sprachen
Wenn Haugen nun diese vier Kriterien reiht und einen Weg von (a) der Selektion einer Norm zur Kodifizierung (b), zum Funktionsausbau einer Sprache (c) und (d) zur Übernahme durch eine Sprachgemeinschaft in Betracht zieht, so kann eine Sprache in ihrer geschichtlichen Entwicklung durchaus auch andere Wege nehmen. Haugen hat seine Parameter (ursprünglich 1966) eingeführt, um die verschiedenen Wege der Sprachplanung darzustellen. Sie sind von Lodge seiner Geschichte des Französischen 1993 zugrunde gelegt worden, er hat den Parametern Haugens jedoch noch das der ‚Bewahrung‘ (maintenance) der Standardsprache hinzugefügt. Haugen hat die Aspekte der Sprachplanung 1983 und 1987 noch weiter ausgearbeitet. Sie werden von Lebsanft 2001 kommentiert. Mir geht es hier um die allgemeinsten Entwicklungslinien der Geschichte einer Standardsprache. Daher sehe ich von der weiteren Differenzierung von Haugens Auffassung ab.
Dieses begriffliche Instrumentarium mag dann auch zur Konkretisierung dessen dienen, was mit historischer Sprache gemeint ist: Die Herausbildung einer Standardsprache, ihr Ausbau und ihre Übernahme durch die Sprecher einer Gemeinschaft bringen mit den Varietäten, die einer Standardsprache im Laufe der Geschichte zugeordnet werden, die jeweilige historische Sprache zuwege. Den jeweiligen Stand der Entwicklung der historischen Sprache in einer Gemeinschaft kann man ihre Architektur nennen. So fügt sich denn die Auffassung Haugens bei aller terminologischen Verschiedenheit begrifflich nahtlos ins hier vertretene Bild von Sprache. Den Gesichtspunkt des Abstands dagegen, der gerne angeführt wird, verlassen wir dagegen, denn wir werden sehen, dass der Abstand, wenn es nötig ist, geschaffen wird. Er ist daher wohl nicht ganz so wichtig, wie die Diskussion es glauben macht. Die Geschichte und so auch die Sprachgeschichte, die die Vergangenheit immer als Ganzes in den Blick nimmt, kann nicht rigide vorgehen. Dies muss ich im Hinblick auf die wenigen soeben eingeführten Gesichtspunkte feststellen, die in den nun folgenden sprachgeschichtlichen Darstellungen anzuwenden sind. Jede Geschichtsschreibung ist eine Konstruktion des Vergangenen. Daher ist immer zu klären, aus welcher Perspektive man diese Konstruktion vornimmt. Für das Verstehen der geschichtlichen Entwicklung ist aber mehr nötig als nur die Berücksichtigung der vorgenannten Gesichtspunkte. Die Geschichte läuft in einem Raum ab, der im Laufe der Zeit nicht identisch bleibt. Die Sprecher in diesem Raum und zu verschiedenen Zeiten sind nicht immer Gemeinschaften, die eine räumliche und zeitliche Kontinuität haben. Diese und weitere Gegebenheiten bedingen, dass man von Fall zu Fall über die genannten Kriterien hinausgehen muss. Allgemeiner ausgedrückt sind die Gesichtspunkte Haugens stets hermeneutisch zu vermitteln. Wenn man mit seiner hermeneutischen Vermittlung der Sprachgeschichte weiter in die Breite und Tiefe gehen will, kann und muss man weitere Kriterien einführen. Die Aufgaben unserer minimalen Sprachgeschichtsschreibung richten sich nach den Kriterien, die wir für die Abgrenzung einer Standardsprache angenommen haben. Sie werden zur Darstellung der nationalen Entwicklung führen, gegebenenfalls der
5.0.3 Zur Konzeption von Sprachgeschichten
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kolonialen im Herkunftsland und außerhalb des Herkunftslands, d. h. in den Kolonien, und schließlich der postkolonialen Entwicklung nach der Unabhängigkeit. Nach dem ersten Kriterium – einer Standardsprache, die zugleich Sprache eines Nationalstaats ist, – ist darzustellen, wie eine Sprache zu einer Standardsprache in einem Nationalstaat geworden ist. Dieses Kriterium wird stets erfüllt. Es greift aber zu kurz, wenn eine Standardsprache in mehr als einem Nationalstaat verbreitet ist. In diesem Fall ist geschichtlich aufzuzeigen, wie eine Sprache ihren ursprünglichen Nationalstaat transzendiert und zu einer mehrere Nationalstaaten umgreifenden Standardsprache wird. Für die Sprachen der Listen (2) und (3), die über die in Liste (1) genannten Sprachen hinausgehen, gelten andere Voraussetzungen. Ihren Geschichten geht die Konstitution von Nationalstaaten voraus, die sich dabei ideologisch einer Sprache bedienen, die durch die eingeforderte Identifikation mit ihr zur Nationalsprache wird. Sie kann als Gegenreaktion darauf die Selbstbehauptung der Dominierten zur Folge haben. Der Nationalstaat tritt aggressiv auf, wenn er sich für legitimiert hält, sprachliche und andere kulturelle Unterschiede zu beseitigen. Der Prüfstein ist die Schulpolitik: Soll die Nationalsprache unterrichtet werden, ohne dass andere sprachliche Ausdrucksformen ausgegrenzt werden? Oder sollen andere Sprachen ausgegrenzt und sogar vernichtet werden? Das geschieht dadurch, dass die Nationalsprache zur ausschließlichen Sprachnorm für sämtliche Verwendungsbereiche deklariert und die Übertretung dieses Gebots mit Sanktionen belegt wird. Die Nationalstaaten sehen sich in Europa nach verheerenden Kriegen im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert seit dem Zweiten Weltkrieg einem verstärkten Legitimationsdruck ausgesetzt. Durch die Politisierung der sprachlichen Minderheitenbewegungen ist der Druck auf die Nationalstaaten stärker geworden. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt aber davon ab, ob die verbliebenen Minderheiten die politische Macht und die ökonomische Kraft aufbringen, sich neu zu formieren. In dieser Konstellation haben es diejenigen Sprachgemeinschaften leichter, sich zu behaupten, die sich mit einem politischen Gemeinwesen identifizieren und sich auf dieses Gemeinwesen berufen können, wenn es vor der Schaffung der modernen Nationalstaaten bestanden hat. Die Identitätsvorstellungen der Gegenwart werden dann durch das Wiederentdecken einer großen Vergangenheit legitimiert. Für die Identifikation mit der Vergangenheit werden Symbole geschaffen: Die Katalanen richten 1859 wieder die Jocs florals de la llengua catalana ein, sie pflegen ihren Volkstanz, die sardana, und geben ihrer Regierung den Namen einer mittelalterlichen Einrichtung (Generalitat). Neben den Katalanen, Valencianern und Bewohnern der Balearen versuchen das gleiche die Basken, Galicier, Okzitanen und viele andere, allerdings mit sehr unterschiedlichem Erfolg. In Frankreich waren die Sprachpolitik des Ancien Régime und die jakobinische Sprachpolitik so wirksam, dass ein Wiederaufleben des Okzitanischen trotz begrenzter Erfolge eher unwahrscheinlich ist. In Katalonien und im Baskenland sind es die politische Macht und das wirtschaftliche Gewicht dieser Regionen in Spanien, die eine gewisse Umorientierung der sprachpolitischen Verhältnisse zur Folge hatten. Die
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Katalanen versuchen heute, sich als Nation im Verbund des spanischen Staats durchzusetzen und sogar unabhängig zu werden. Für die deutschsprachige Romanistik ist es naheliegend, die zur Standardisierung führenden neueren Entwicklungen in den romanischen Sprachen zu verfolgen. Da das deutsche Sprachgebiet mehrere Standardvarietäten als gesprochene und zum Teil als geschriebene Sprache kennt, ist man darauf vorbereitet, auf diese Entwicklungen nicht sofort mit zentralistischer Ablehnung zu reagieren, obwohl dieses Verhalten im deutschen Sprachgebiet häufig auch zu finden ist. Diese eigene Erfahrung und die Fortführung einer romanistischen Tradition mögen erklären, warum so viele Werke aus dem deutschen Sprachraum über die auf dem Wege einer neuen Anerkennung befindlichen Sprachen kommen und warum im vorliegenden Handbuch die Sprachen knapp dargestellt werden, die sich bisher mit größerem, aber auch mit geringerem Erfolg bemüht haben, eine Anerkennung als Standardsprache in einem Nationalstaat zu erhalten. Dazu z. B. Bochmann (unter der Leitung von) 1993. Wie immer man diese neueren Standardsprachen persönlich oder wissenschaftlich einschätzen mag, werfen sie ein interessantes Licht auf die Standardsprachen der Nationalstaaten Frankreich, Spanien und Italien. Das Sardische (5.3), das Friaulische (5.4) und das Ladinische (5.5) sind im Kontext des Italienischen zu sehen, das Korsische (5.2), das Okzitanische (5.9) und zum Teil das Katalanische (5.11) sind nicht vom Französischen in Frankreich zu trennen. Die Probleme des Katalanischen (5.11), Galicischen (5.14), Asturianischen (5.13) und Aragonesischen (5.12) müssen im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Spanien gesehen werden. Da es nur um romanische Standardsprachen geht, werden das Deutsche in Italien, das Deutsche, das Bretonische, das Baskische und das Flämische in Frankreich sowie das Baskische in Spanien beiseitegelassen. Alle diese Sprachen spielen aber ihre Rolle für die interne Dynamik der romanischen Sprachen in den jeweiligen Staaten. Eine Sonderstellung nimmt das Bündnerromanische ein, das in der Schweiz im Kontakt mit dem Deutschen steht. Der sprachliche Imperialismus oder die Kolonisierung haben zwei Stoßrichtungen. Die Durchsetzung im Herkunftsland haben wir soeben angedeutet. Diese Art von Kolonisierung ist in einer Geschichte des Französischen, Italienischen, Spanischen, Rumänischen und, auf die Zeit der Rückeroberung der arabisch besetzten Gebiete beschränkt, auch des Portugiesischen zu beschreiben. Die Kolonisierung außereuropäischer Territorien hat langfristig ebenfalls ihre sprachliche Kolonisierung zur Folge. Da die ehemaligen Kolonien zum größten Teil unabhängig geworden sind, treten deren Sprachen in eine postkoloniale Phase, die auf die jeweiligen Mutterländer zurückwirkt, nicht zuletzt durch Migrationen. Von Sprechern des Spanischen in hispanoamerikanischen Staaten wird auch in postkolonialer Zeit eine Ideologie der Kolonisierung wachgehalten, die für ihre eigene Identität konstitutiv ist. Zur kolonialen Geschichte der romanischen Sprachen gehören die auf romanischer Grundlage entstandenen Kreolsprachen (5.16). Bei ihnen sind die Folgen der Unabhängigkeit besonders augenfällig, denn in ihrer postkolonialen Phase drückt
5.1 Das Italienische
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sich das neue Selbstbewusstsein der Sprecher einer Kreolsprache in der Standardisierung ihrer Sprache aus. Dafür gibt es in den kreolischen Gemeinschaften keinen Präzedenzfall in ihrer Geschichte. Für eine knappe Darstellung sind wenige Kriterien angebracht. Ohnehin muss man für die Herstellung des Zusammenhangs auf allgemeine geschichtliche und geographische Bedingungen eingehen. Je mehr Gesichtspunkte Berücksichtigung finden, desto komplexer wird eine Sprachgeschichte sein. Vor allem anderen ist mir aber die hier zu wiederholende Feststellung wichtig, dass die Geschichte einer Sprache eine Konstruktion ist. Diese Konstruktion wird in der Regel zu wenig bewusst und zu wenig kohärent betrieben. Vielmehr folgt man den jeweiligen dominanten Vorbildern, wie wir am Beispiel der Entstehung von Darstellungen zu einzelnen Geschichten romanischer Sprachen sehen werden. Wir müssen anerkennen, dass der Sprachhistoriker selbst nicht anders kann, als vom Hier und Jetzt den Blick auf die sprachliche Vergangenheit zu richten. Wenn der Sprachhistoriker nicht die Geschichte seiner eigenen Sprache betreibt, muss er wissen, in welcher Weise er kontrafaktisch vorgeht.
Bibliographischer Kommentar
Dass eine Konstruktion von Sprachgeschichte durchaus nicht schematisch sein muss, zeigt Lodge 1993, der ebenfalls nur die wenigen Kriterien Haugens verwendet. Daraus ist eine höchst innovative Geschichte des Französischen entstanden. Meine vergleichende Betrachtung der romanischen Standardsprachen geht von Kloss (21978) und der Anwendung auf die romanischen Sprachen in Muljačić (1989) aus. Einen Ansatz für eine geschichtliche und soziolinguistische Betrachtung der Entwicklung von Standardsprachen, der zum Teil in die nachfolgenden sprachgeschichlichen Skizzen eingeht, bietet Haugen (1972). Die weitere Differenzierung von Haugens Auffassungen wird hier vernachlässigt, da es um die allgemeinsten Entwicklungen geht. Eine interessante Skizze der Geschichte von vier romanischen Standardsprachen im Vergleich gibt Schmitt 1988. Die Zahl der romanischen Sprachen in der romanischen Sprachwissenschaft und die Kriterien, auf die man sich dabei gestützt hat, diskutiert Müller 1994. Eine frühere Version meiner galicischen Fallstudie wurde 1999b gedruckt.
5.1 Das Italienische Das Verständnis der italienischen Sprachgeschichte hat lange unter der untauglichen Analogie mit dem Französischen gelitten. Jemand, der die entscheidende Entwicklung im 19. Jahrhundert an sich selbst erfuhr, Giacomo Leopardi (1798–1837), sah je nach Fall Analogien mit mehreren Sprachen, darunter besonders dem Altgriechischen und dem Deutschen. Die Besonderheit der italienischen Sprachgeschichte liegt im frühen Ausbau mehrerer Literatursprachen im 13. Jahrhundert, dem Aufstieg des Toskanischen zur allgemeinen Schriftsprache vom 16. Jahrhundert an und der Verspätung seiner Verbreitung als gesprochener Sprache vor und nach der nationalen Einheit.
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Als Sprachraum scheint Italien unproblematisch zu sein: Die Apennin-Halbinsel und Oberitalien. Bei näherer Betrachtung sind die Verhältnisse nicht mehr so einfach. Die Inseln Korsika, Sardinien, Sizilien und Malta lagen seit der Antike im Einflussbereich Italiens, gingen aber auch andere Wege. Nimmt man die Ausbreitung von regionalen Gemeinsprachen hinzu, die sich vom italienischen Festland zu unterschiedlichen Zeiten ausgebreitet haben, ist die Verbreitung des Pisanischen im Norden Sardiniens zu berücksichtigen, die des Genuesischen auf Korsika, des Venezianischen in Istrien, in Dalmatien und in den ehemals zu Venedig gehörenden Gebieten Griechenlands bis Zypern und Kreta. Manche italienische Sprachwissenschaftler beanspruchten früher auch die Gebiete des Friaulischen (5.4) und des Ladinischen (5.5) für das italienische Sprachgebiet. Wenn man das Verhältnis der Dialekte zur historischen Sprache Italienisch mit denjenigen der historischen Sprache Spanisch vergleicht, dann ist das Verhältnis der italienischen Dialekte zu ihrer Standardsprache dem Verhältnis des Asturianischen (5.13), Leonesischen, Navarresischen und Aragonesischen (5.12) zur spanischen Standardsprache vergleichbar (wenn man diese als Dialekte und nicht als eigene Sprachen versteht). Anders ausgedrückt: Da die italienische Standardsprache und die italienischen Dialekte keinen direkten gemeinsamen Ursprung haben (der gemeinsame Ursprung ist zwar das Lateinische, aber nur die toskanischen Dialekte und der durch Kolonisierung von der Toskana aus entstandene römische Kolonialdialekt haben einen gemeinsamen Ursprung), da also italienische Standardsprache und italienische Dialekte keinen unmittelbar gemeinsamen Ursprung haben, weisen sie auch keine strukturellen Gemeinsamkeiten auf – außer denjenigen natürlich, die sich durch die gemeinsame Herkunft aus dem Lateinischen erklären lassen. So kommt es, dass das Italienische als historische Sprache und das Spanische als historische Sprache in einem völlig anderen Verhältnis zu ihren Dialekten stehen. Die italienischen Dialekte sind außerdem untereinander so verschieden, dass man Italien als eine Romania im Kleinen ansehen darf. Sie weisen die stärkste dialektale Differenzierung in der Romania auf. Terminologisch wird in der Tradition die italienische Standard- oder Literatursprache lingua genannt oder auch schlichtweg italiano. Dieser Begriff des Italienischen steht im Kontrast zum Italienischen als historischer Sprache, der alle Varietäten einschließt, die dieser Sprache zugeordnet werden. Den Unterschied zwischen Italienisch als Standardsprache und Italienisch als historischer Sprache werde ich dann nicht explizit angeben, wenn der jeweils gemeinte Begriff kontextuell eindeutig ist. 5.1.0.1 Periodisierung Die hier vorzuschlagende Periodisierung ist nicht die einzig angemessene. Sie beruht auf wichtigen Veränderungen in der Architektur des Italienischen und stimmt daher in vielem mit der Periodisierung des Profilo di storia linguistica italiana von Devoto (11953) überein. Eine andere Möglichkeit wäre die Zugrundelegung der innersprachli-
5.1 Das Italienische
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chen Veränderungen in der Literatursprache gewesen. Man muss sich jedoch an die tatsächlichen Gegebenheiten halten, die die Geschichte einer Sprache maßgeblich prägen. Im Italienischen sind dies nicht so sehr Strukturveränderungen als vielmehr Architekturveränderungen. Daher gehen wir eher den Anzeichen nach, die Rückschlüsse auf die nach Raum und Zeit verschiedene Ausbreitung des Italienischen als geschriebener und gesprochener Sprache erlauben. Unter der Voraussetzung des heutigen Geltungsbereichs des Italienischen sind vier Zeiträume in der Geschichte des Italienischen zu unterscheiden. In einer ersten Periode entstehen mehrere regionale Schriftsprachen. Diese Zeit reicht von den ersten Texten oder Textfragmenten im 10. Jahrhundert bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts. Unter den überregionalen Schreibsprachen konstituieren sich das Sizilianische des Hochmittelalters, das Toskanische und innerhalb des Toskanischen das Florentinische als Schriftsprachen. Der Einfluss des Toskanischen und des Lateinischen führt früh zu einem gewissen überregionalen Ausgleich. Die überregionale Sprache dieser Periode ist das Lateinische, aber nicht nur für Italien, sondern für fast ganz Europa. Der zweite Zeitraum lässt sich aufgrund der Tatsache abgrenzen, dass sich das Toskanische als Schriftsprache außerhalb der Toskana auszubreiten beginnt. Dies geschieht in zunehmendem Maße von der Zeit um 1500 an. Der dritte Zeitraum ist zeitlich sehr schwer abzugrenzen. Inhaltlich ist er zu charakterisieren durch die Ausbreitung des Toskanischen als gesprochener Sprache. Da dieser Übergang je nach Region zu sehr verschiedenen Zeiten stattfand, liegt darin ein Problem für die Periodisierung. Das gesprochene Italienisch breitet sich – nach einigen Ansätzen in den vorangehenden Jahrhunderten – gerade erst vom 18. Jahrhundert an und verstärkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. Auf diese Zeit geht letztlich auch die Entstehung der Varietäten des heutigen gesprochenen Italienisch zurück. Der dritte Zeitraum ist also eine Übergangsperiode von dialektaler zu italienischer Mündlichkeit. Zum einen dominiert zwar noch das Italienische als bloße Schriftsprache, zum anderen nimmt aber doch auch die Zahl der Sprecher des Italienischen zu sowie die Zahl der Gelegenheiten, Italienisch zu sprechen. Der vierte Zeitraum reicht von der nationalen Einheit bis heute. Alle italienischen Staatsangehörigen, die Dialektsprecher wie die Sprecher anderer Sprachen, lernen die italienische Standardsprache. 5.1.0.2 Die questione della lingua Die italienische Sprachgeschichtsschreibung ist in vielen Aspekten mehr durch den Diskurs über die Sprachgeschichte als durch den Sprachwandel selbst geprägt. Dieser Diskurs ist sehr alt und tritt seit dem 16. Jahrhundert als ‚Streitfrage um die italienische Sprache‘ auf. Die Fragen, die im Rahmen dieser questione della lingua gestellt wurden, waren von sehr verschiedener Art. Sie setzen aber die Selektion der Sprache mit Modellcharakter bereits voraus. Deshalb muss offenbleiben, inwieweit die Diskussion die faktischen Selektionsentscheidungen noch nachträglich gesteuert hat.
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Die erste Frage betraf die Sprache, in der Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio im 14. Jahrhundert geschrieben haben. Diese Frage betrifft zwar ein geschichtliches Faktum, das man überprüfen kann. Die Klärung dieser Frage wurde bereits im Niccolò Machiavelli (1976) zugeschriebenen und wahrscheinlich zwischen 1514 und 1516 verfassten Discorso o Dialogo intorno alla nostra lingua gegeben. Die drei Autoren des Trecento hätten diesem Dialog zufolge Florentinisch geschrieben. Da er aber nur in drei Abschriften überliefert wurde, von denen eine erst 1730 im Druck erschien, konnte dieses Werk seine Wirkung nicht zur rechten Zeit entfalten. Die zweite Frage sollte zur Klärung derjenigen Sprache führen, die man schreiben sollte. Sollte man das Toskanisch des Trecento schreiben oder das Toskanisch der Gegenwart? Die toskanischen Autoren wählten selbstverständlich die Sprache ihrer Zeit, die Autoren aus anderen Regionen dagegen das traditionelle Toskanisch. Im Cinquecento folgte man in der Dichtung dem sprachlichen Modell Petrarcas, in der Prosa Boccaccio. Dante dagegen hatte keine vergleichbare sprachliche Wirkung. Auch mit seiner Idee einer zu schaffenden Standardsprache hat er nicht gewirkt. Erst Alessandro Manzoni löste die Frage im Sinne des Toskanischen bzw. Florentinischen der Gegenwart. Er entschied sich für das Florentinische seiner Zeit, weil er keine Sprache schreiben wollte, die von heterogener Herkunft wäre, sondern eben eine ganz bestimmte Varietät, die einem tatsächlichen Sprachgebrauch entsprach. Hatten also sonst Nicht-Toskaner ihr geschriebenes Italienisch konzipieren wollen, so war Manzoni bereit, eine gesprochene italienische Varietät, das gesprochene Florentinisch, einfach als gesprochenes Italienisch zu übernehmen. Eigentlich wirksam wurde Manzonis Modell in der italienischen Sprachgeschichte jedoch nicht. Im Rahmen der questione della lingua wurden Themen behandelt, die nicht unmittelbar dazugehörten. Das sind etwa der Zusammenhang zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, theoretische Fragen der Herausbildung einer Standardsprache, Probleme der Lexikographie und der Sprachtheorie überhaupt. Dies alles ist geeignet, die Dominanz der questione della lingua in der italienischen Sprachgeschichtsschreibung zu erklären. Und sie kam schon deshalb durch die Jahrhunderte hindurch nicht zu ihrem Abschluss, weil die sprachliche Wirklichkeit nicht mit der Diskussion über sie übereinstimmte. Die Streitfrage spielt eine Rolle für das sprachliche Modell, dem man in der Literatur folgen sollte, aber auch allgemein für die Frage, ob das gesprochene Toskanisch der Gegenwart oder das Toskanische der Autoren exemplarischen Charakter haben sollte. Bei der letztgenannten Position ist eine Orientierung an der Sprache des 14. oder des 16. Jahrhunderts von einer Orientierung an der gesamten Literaturtradition zu unterscheiden. Wie sich im Konkreten zeigt, wirken nacheinander verschiedene Modelle auf die Entwicklung der italienischen Standardsprache ein. Oftmals ist die Lösung eines sprachlichen Problems nicht in einer theoretischen Position zu suchen, sondern im Machbaren. Dies erkennt man an den Einzelfallentscheidungen und gerade bei Wortschatzproblemen, für die das nicht im Zentrum der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung stehende Toskanisch sehr oft keine Lösung anbieten
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konnte. Man musste dann auf das Französische zurückgreifen oder auf einen Dialekt. Das Französische wurde neben dem Dialekt und dem Italienischen in der Aristokratie und im Bürgertum als gesprochene, gelesene und geschriebene Sprache verwendet. In dieser Skizze wird die questione della lingua nicht die Rolle spielen, die sie für die italienische Sprachgeschichtsschreibung in der Regel hat. Der ideologische Diskurs über die Sprachgeschichte verdunkelt oftmals die Wahrnehmung des Wandels in der italienischen Spracharchitektur selbst. Hier geht es uns um die tatsächliche Übernahme der geschriebenen italienischen Standardsprache und die tatsächliche Übernahme der gesprochenen italienischen Standardsprache, nicht aber so sehr um den diese Vorgänge begleitenden Diskurs. Denn auch dieser Diskurs tritt immer dann in eine neue Phase, wenn die sprachliche Wirklichkeit sich gewandelt hat. Es hat nicht so sehr die questione della lingua die sprachliche Wirklichkeit verändert als vielmehr die sprachliche Wirklichkeit die questione della lingua. So ist diese Diskussion eher ein Indiz für eine Entwicklung als ihr Motor (cf. Puppo (ed.) 1957, Cesari 1810, Manzoni 1974, Tenca 1974; für einen Überblick Labande-Jeanroy 1925, Vitale 31984).
5.1.1 Polyzentrismus: Die Zeit der Selektion der regionalen Schriftsprachen Zu Beginn der Verschriftung romanischer Volkssprachen in Italien entstanden mehrere regionale Schriftsprachen, die z. T. auch für die Literatur verwendet wurden. Die frühesten Sprachzeugnisse reichen in das 10. Jahrhundert zurück. In dieser Zeit führte das Benediktinerkloster Montecassino Prozesse, um sich den Besitz der von ihm abhängigen Güter gerichtlich bestätigen zu lassen. Dabei sprachen Zeugen ähnlich lautende Formeln, in denen sie dabei auf eine Karte zeigten. Die älteste Formel, die in Capua 960 gesprochen wurde, lautet: “Sao ke kelle terre, per kelle fini que ki contene, trenta anni le possette parte sancti Benedicti” (‚Ich weiß, dass die Partei des Heiligen Benedikt diese Ländereien innerhalb der Grenzen, wie es hier steht, dreißig Jahre besessen hat‘; Castellani 1973: 59). Solche Sprachzeugnisse sind der Ausdruck sprachlicher Verschiedenheit gegenüber dem Lateinischen. Sie erscheinen sporadisch im ganzen italienischen Sprachgebiet, ohne dass sich eine Tradition daran anschließt. Man kann daraus folgern, dass eine Verschriftung der Volkssprache mindestens seit Jahrzehnten etabliert war, wie es die relativ sicheren Schreibgewohnheiten zeigen, dass man aber nicht die Notwendigkeit sah, dieses Wissen auch ständig anzuwenden. Die regionalen Schriftsprachen traten auch in Konkurrenz zu anderen Schriftsprachen. Sie wurden teilweise neben der älteren okzitanischen Schriftsprache als Literatursprache und neben dem Frankoitalienischen geschrieben. Die älteste italienische Literatursprache war die Sprache der sizilianischen Dichter des Hochmittelalters am Hofe der Hohenstaufenkaiser. Auf Sizilien stand die arabische Sprache im direkten Kontakt mit der sizilianischen Gemeinsprache (Vàrvaro 1981) und über diese konnte auch ein Einfluss auf das Italienische schlechthin durch die Dichtung des Dolce stil nuovo (‚süßer neuer Stil‘) erfolgen. Einer der Wege, wie
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das Italienische durch das Sizilianische beeinflusst wurde, werden sizilianische Texte gewesen sein, die auf Toskanisch abgeschrieben worden sind, andere können über Handels- und andere Kontakte von Pisa, Genua oder Venedig aus vermittelt worden sein, wobei auch das Mittellatein eine Vermittlerrolle gespielt hat. Durch die toskanischen Abschriften ging die Erkenntnis verloren, dass das Sizilianische und das Toskanische sehr verschieden sind. So konnte das Sizilianische fälschlicherweise für eine frühe Form des Italienischen gehalten werden. Durch die arabische Transkulturation wurden neue Textgattungen in die romanischen Volkssprachen eingeführt. Dies ist durch Übersetzungen aus dem Arabischen direkt nachgewiesen. Die neben dem Lateinischen geschriebene Volkssprache wurde wie überall in der Romania in zwei Kontaktvarietäten geschrieben, in einer dem Latein näherstehenden Kontaktvarietät, die dadurch die regionalen Unterschiede weniger widerspiegelte, und in einer schwächer lateinisch und stärker regional geprägten Kontaktvarietät. Da das Lateinische in Italien dominierender und die Distanz zum Lateinischen in vielen Varietäten geringer war als in anderen Regionen der Romania, sind die gemeinten Unterschiede geringer als anderswo. Im 14. Jahrhundert, dem Trecento, schrieben die drei toskanischen Dichter, die das Toskanische in der Zukunft zum Italienischen machen sollten, Dante Alighieri (1265–1321), Francesco Petrarca (1304–1374) und Giovanni Boccaccio (1313–1375). Sie schrieben Toskanisch (Florentinisch) und Lateinisch. Dante verwendete in Prosaschriften noch das mittelalterliche Lateinisch und führte den Dolce stil nuovo in der Versdichtung fort. Seine größte Wirkung auf die Geschichte des Italienischen entfaltete er mit seiner Commedia, in der Rezeption seit Giovanni Boccaccio Divina Commedia (‚Göttliche Komödie‘) genannt. Nachahmer fand nicht so sehr diese geistige Summe des Mittelalters, als vielmehr seine Sprache selbst, als Einzelsprache, nicht als Text. Dante hat zwar nicht mit seiner Idee einer zu schaffenden Standardsprache gewirkt, aber er hat sie als Erster auf den Begriff gebracht und verdient deshalb besondere Beachtung. Petrarca dagegen verstand sich eher als Humanist. Selbst in der Tradition der provenzalischen Dichtung und des Dolce stil nuovo stehend, wirkte er durch seine toskanische Sprache und seine lyrische Dichtung, besonders im Canzioniere (‚Liederbuch‘). Boccaccio schließlich wurde mit seinem Decamerone, einer Sammlung von hundert an zehn Tagen erzählten Novellen (daher der Name), das große Vorbild der italienischen Kunstprosa, die seinen latinisierenden rhetorischen Stil nachahmte. Mehr aber als die Kodifizierung hat die Sprache dieser Autoren in ihren Werken selbst gewirkt. Der Vorrang der Toskana beruht darauf, dass dort der Ausbau weiter ging als in anderen Regionen. Der Humanismus des 15. Jahrhunderts baute die lateinische Literatur aus und die volkssprachliche Literatur ab. Die in diesem Jahrhundert stattfindende Sprachdiskussion ist eine questione della lingua, die als Sprache der Literatur die Alternative Lateinisch oder Volgare stellte, die damals nicht als zwei völlig verschiedene historische Sprachen betrachtet wurden.
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Das 15. Jahrhundert war von weitreichender Bedeutung für die Entwicklung einer allen Regionen Italiens gemeinsamen Schriftsprache. Man fing an, sich dem Toskanischen stärker anzunähern und schuf dadurch das Italienische. Die Grundlage war die jeweilige regionale Koine, die mehr und mehr Formen aus dem Toskanischen übernahm. Gemeinsam aber stützte man sich in der Toskana und in den italienischen Regionen auf das Lateinische, so dass das sich neu herausbildende Italienisch zum Toskanischen hin konvergierte und dabei ständig sprachliche Traditionen aus dem Lateinischen aufnahm.
5.1.2 Die Zeit der Selektion des Toskanischen als Schriftsprache Zukunftsweisend war die Entscheidung des Neapolitaners Iacopo Sannazaro (1456– 1530), seinen Hirtenroman Arcadia in einer zweiten Version sprachlich zu überarbeiten und zu toskanisieren. Dieses Werk schrieb er zwischen 1480 und 1484/85; er veröffentliche es 1504 in der endgültigen toskanischen Fassung. Es ist damit das erste Prosawerk, das außerhalb der Toskana auf Toskanisch verfasst wurde. Seit dieser Zeit wurde üblicherweise die Literatur in ganz Italien in dieser toskanischen Koine geschrieben. Ein weiteres Werk in dieser Tradition ist Orlando furioso (‚Der rasende Roland‘, 11516, 21521, 31532) von Ariost (1474–1533), der am Hof von Ercole d’Este in Ferrara lebte. Mit der Verwendung als Literatursprache in Neapel und Oberitalien wurde das Toskanische von Florenz de facto zum Italienischen, obwohl es meist noch nicht mit diesem Namen bezeichnet wurde. Es entschieden somit die Nicht-Toskaner, welches Italienisch sie übernehmen wollten. Das war letztlich der einzige Weg, der praktikabel war, denn für die Übernahme des gesprochenen Florentinisch hätte man es in Florenz erlernen müssen. Allerdings musste das traditionelle Toskanisch als italienische Schriftsprache neu konzipiert werden, da eine Schriftsprache nicht nur die Verschriftung einer regional gesprochenen Sprache ist, sondern eine reflexiv gelernte Sprache nachahmt und Diskurstraditionen übernimmt, die in den jeweiligen Regionen nicht ursprünglich zuhause waren. Die Reichweite des unter diesen Bedingungen übernommenen Italienisch war regional und sozial höchst begrenzt. Die Übernahme vollzog sich in den größeren italienischen Staaten – dem Königreich Neapel, dem Kirchenstaat, der Toskana, der Lombardei und Venedig – getrennt, und keiner dieser Staaten hatte die Macht, die Einheit Italiens und damit die Einheit der Sprache allein herbeizuführen. Gleichzeitig mit der Ausbreitung des Toskanischen als allgemeiner Schriftsprache setzte die Dialektalisierung der anderen regionalen Schriftsprachen ein. Daher kann man streng genommen erst vom 16. Jahrhundert an von Dialekten des Italienischen sprechen und auch nur für die Regionen, die das Toskanische übernommen hatten. Die regionalen Schriftsprachen wurden weiterhin geschrieben, es kam nun aber zu einer Funktionsverteilung zwischen dem überregionalen Toskanisch, das nunmehr mit dem Italienischen identisch wurde, und der regionalen Schriftsprache.
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Die regionalen Schriftsprachen wurden als Reflexe zum Toskanischen zu Literaturdialekten. Während nämlich bis zum 15. Jahrhundert ein phonetischer, morphologischer und lexikalischer Ausgleich zum Toskanischen hin stattfand, trat vom 16. Jahrhundert an eine Polarisierung ein. Die Literatur schlechthin schrieb man auf Italienisch, daneben entstand eine Dialektliteratur, die bewusst als Reaktion auf die italienische Literatur und in Distanz zu ihr geschrieben wird. Diese Literatur hat Croce (31956) letteratura dialettale riflessa genannt. Die questione della lingua folgte dieser allgemeinen Entwicklung, nachdem das Lateinische als allgemeine Literatursprache durch den Vulgärhumanismus zurückgedrängt worden war. 5.1.2.1 Die Kodifizierung der Grammatik Eigentlich wären die Grammatiken, die hier Erwähnung finden sollten, solche, die die Sprachgeschichte direkt beeinflussten, und daneben diejenigen Grammatiken, die von besonders großer allgemeiner Bedeutung waren und deshalb die Konzeption von sprachdidaktischen Grammatiken beeinflussen konnten (zu den Grammatiken der italienischen Tradition überhaupt Trabalza 1963). Eine solche Tradition existierte jedoch in dieser frühen Zeit nicht. Die Kodifizierungsversuche des Italienischen begannen mit dem 16. Jahrhundert. Die Regole della lingua fiorentina, der früheste Versuch, wurden erst in heutiger Zeit herausgegeben. Das erste gedruckte grammatische Werk sind die Regole grammaticali della volgar lingua von Gian Francesco Fortunio (Ancona 1516). Wichtiger aber als diese und andere Grammatiken war der dritte Teil der Prose della volgar lingua (1525) des Venezianers Pietro Bembo, der dort mit ausgiebigen Beispielen Petrarca für die Lyrik und Boccaccio für die Prosa empfahl. Für den Ausbau und die Kodifizierung des Italienischen gründete Cosimo I. 1541– 1542 die Accademia Fiorentina. Sie sollte Fachliteratur in toskanischer Sprache und die Übersetzung aus jeder anderen Fremdsprache ins Toskanische fördern. Der Großherzog wollte das reine Florentinisch in Regeln fassen lassen. Pier Francesco Giambullari veröffentlichte 1551 die erste toskanische Grammatik, die ein Toskaner schrieb. Die Ausrichtung Bembos an den Tre corone, den ‚drei Lorbeerbekränzten‘ Dante, Petrarca und Boccaccio, wurde am Ende des Cinquecento durch Leonardo Salviati in seiner Grammatik und dem Wörterbuch der Crusca, dazu gleich, ein weiteres Mal bestärkt. 5.1.2.2 Die Kodifizierung des Wortschatzes Für die Übernahme des Toskanischen wurde der Wortschatz kodifiziert. Diese Aufgabe stellte sich eine der zahlreichen zwischen dem ausgehenden 16. und dem 17. Jahrhundert gegründeten Akademien, die 1582/1583 in Florenz zur Reinerhaltung der Literatursprache ins Leben gerufene Accademia della Crusca. Der Name crusca ‚Kleie‘ ist Programm. Nur diese sollte nach einer Selektion übrigbleiben, nachdem die Spreu
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verworfen worden war. Die Aufgabe dieser Akademie war und ist die Erstellung eines italienischen Wörterbuchs. Der florentinische Autor Leonardo Salviati (1540–1589) hatte es streng puristisch konzipiert, es kam aber erst 1612 unter dem Titel Vocabolario degli Accademici della Crusca in seiner ersten Auflage heraus und wurde ständig neu bearbeitet. Er vermied aber in seinem Titel ein eindeutiges Bekenntnis zum Namen der Sprache. Um die von 1729 bis 1738 erschienene vierte Ausgabe entzündete sich eine derart heftige Diskussion, dass der toskanische Großherzog Leopold I. sich entschloss, die Akademie aufzulösen und sie in der neuen, eine weitere Akademie, die Accademia degli Apatisti, einschließenden Accademia Fiorentina aufgehen zu lassen. Erst 1808 erhielt die Crusca ihre Autonomie wieder, allerdings innerhalb der Accademia Fiorentina. 5.1.2.3 Zur Rolle der Prosa in der italienischen Sprachgeschichte Wie am Beispiel der Arcadia zu sehen war, hatte die Sprache der Prosa für die Übernahme des Toskanischen eine größere Bedeutung als die Sprache der Dichtung. Dies aus zwei Gründen: Zum einen ist die Prosa an Umfang der Produktion und literarischer Bedeutung wichtiger. Zum anderen ist die Prosasprache sprachgeschichtlich gesehen die Grundlage des allgemein geschriebenen und zum Teil auch der Varietäten des gesprochenen Italienisch, die ganz zaghaft und allmählich entstanden. Die Sprache der Dichtung ist zum Teil durch eine besondere Morphologie und einen besonderen Wortschatz gekennzeichnet. Sie war in dieser Hinsicht schon im 18. Jahrhundert nur ein besonderer Sprachstil innerhalb der Literatursprache und ist es bis zum 19. Jahrhundert und in einigen Fällen bis zum 20. Jahrhundert geblieben. Und außerdem hat nicht etwa der Wandel der traditionellen Dichtungssprache die Sprache der Prosa beeinflusst, sondern umgekehrt hat die Sprache der Prosa die Sprache der Dichtung verändert. So gesehen erschließt sich das Verständnis der Sprachentwicklung am besten über die Prosa. 5.1.2.4 Ausbau Das sprachliche Modell der Literatur wurde das allgemeine schriftsprachliche Modell, je weiter das 16. Jahrhundert fortschritt. Die literarische Selektionsentscheidung wirkte sich also auf die anderen Textgattungen aus. Die Wissenschaften mit praktischer Zielsetzung bedienten sich der Volkssprache: Medizin, Malerei, Architektur, Ackerbau, Geographie. Neu war die Verwendung des Italienischen in den Naturwissenschaften bei Giordano Bruno (1548–1600), besonders aber in der vorbildhaften Wissenschaftsprosa von Galileo Galilei (1564–1642). Danach ging der Ausbau eher schleppend voran. Einen Markstein stellt die Verwendung des Italienischen in der Philosophie mit der Scienza nuova (1725) von Giambattista Vico dar. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ist das Italienische allgemeine Wissenschaftssprache.
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5.1.2.5 Die Erlernung des Italienischen durch Autoren Die Autoren, die ihre Werke vor der Einführung des muttersprachlichen Unterrichts schrieben, gingen alle durch die harte Schule des Lateinischen. Für italienische Autoren kam erschwerend hinzu, dass sie außerhalb der Toskana ihre eigene Sprache in ähnlicher Weise wie das Lateinische in der Erfüllung doppelter Anforderungen erlernen mussten. Als Beispiel führe ich das Selbstzeugnis von Giambattista Vico (1668–1744) in seiner Autobiografia an, das nicht nur für die italienischen Autoren stehen soll, sondern für eine Art des intensiven Lesens, die heute untergegangen ist: „Vico hatte noch immer ein falsches Urteil über das Poetisieren, zu dem er neigte. Aber gerade damals fand er in der auf dem Schlosse befindlichen Bibliothek der Minoriten der strengeren Richtung durch einen glücklichen Zufall ein Buch, das ihn nachdenklich machte. Am Ende dieses Buches befand sich nämlich eine Stelle – ob sie eine Kritik oder eine Apologie eines Epigramms war, kann Vico sich nicht erinnern –, wo ein wackerer Kanonikus des Ordens namens Massa von den wundervollen poetischen Rhythmen besonders bei Vergil spricht. Vico wurde durch diese Stelle zu solcher Begeisterung hingerissen, daß er sich eifrig an das Studium der lateinischen Dichter setzte und mit jenem Dichterfürsten den Anfang machte. Als ihm von da an seine moderne Manier des Poetisierens zu mißfallen begann, betrieb er wieder das Studium der toskanischen Sprache anhand ihrer Dichterfürsten, nämlich Boccaccios in der Prosa, Dantes und Petrarcas in der Poesie. Vico las täglich abwechselnd Cicero, Vergil und Horaz und verglich den ersten mit Boccaccio, den zweiten mit Dante, den dritten mit Petrarca und war voller Eifer, mit unbestechlichem Urteil die Verschiedenheiten zu erfassen. Vico sah aus seinen Vergleichen, wieviel hinsichtlich aller drei die lateinische Sprache vor dem Italienischen voraus hat. Er las dabei immer die vorzüglichsten Schriftsteller in der folgenden Ordnung dreimal: das erste mal las er sie, um die Einheit ihres Planes zu erkennen, das zweite Mal, um die Verknüpfungen und den Fortgang der Themen zu betrachten; das dritte Mal aber las er den betreffenden Dichter mehr nur partiell, um die schönen Formen des Gedankens und des Ausdrucks zu sammeln. Vico merkte die besonders schönen Stellen in den Büchern selbst an, ohne sie zu Gemeinplätzen oder Phraseologien zu sammeln. Er hielt dieses Verfahren für ausreichend, um die betreffenden Worte bei gegebener Gelegenheit, da er sich ihrer und der jeweiligen Stelle erinnerte, auf angemessene Weise anzuwenden. Dies ist der einzige Weg einer gedanklich und stilistisch guten Darstellung“ (Vico 1948: 22–23).
Die „Gemeinplätze oder Phraseologien“ (“luoghi comuni o frasari”) waren Sammlungen von Stellen aus Autoren, die man sich selbst zusammenstellte, um sie mündlich oder schriftlich wiederzuverwenden. Wer auf die von Vico geschilderte Weise gelernt hat, Italienisch zu schreiben, ist vielleicht kein guter Zeuge mehr für mögliche Ansätze zu einem gesprochenen Italienisch vor der nationalen Einheit. Es sind aber zumeist die Autoren, deren Sprachkenntnis und Spracherlernungsprobleme bekannt werden, weil sie den Weg vom Dialekt zum Italienischen in ihrem Leben (und nicht etwa durch Erlernung über mehrere Generationen hinweg) überwinden mussten. Sie verfälschen wohl die Darstellung der sprachlichen Wirklichkeit durch die besonders großen Pro bleme, die sie sich und die sich ihnen stellten.
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5.1.2.6 Das Französische Im 18. Jahrhundert ist die Tradition von Boccaccio in der Prosa teilweise abgelöst worden durch den Einfluss der französischen Sprache. Der Repräsentant dieser Entwicklung in der questione della lingua ist Melchiorre Cesarotti in seinem Saggio sopra la lingua italiana (1785; 1800 unter dem neuen Titel Saggio sulla filosofia delle lingue applicato alla lingua italiana veröffentlicht). Aber auch dieser Erneuerer der italienischen Literatursprache trägt der literatursprachlichen italienischen Tradition Rechnung. Einen völligen Bruch mit ihr gibt es auch bei ihm nicht. Der Einfluss der französischen Aufklärung brachte die italienische Literatursprache im 18. Jahrhundert in eine sprachliche Krise. Der Nationalismus des Risorgimento und der Zeit nach der nationalen Einigung, die damit einhergehende Rückbesinnung auf die eigene rhetorische Literaturtradition sowie die durch den Idealismus von Benedetto Croce (1866–1952) bedingte und geförderte Vernachlässigung der Beschreibung konkreter Alltagssprache haben den Blick verstellt für einige Grundtatsachen der italienischen Sprachgeschichte: Im 17. und mehr noch im 18. Jahrhundert wurde das Französische Kultursprache der Oberschicht. Vom Grand Siècle an wurde Frankreich führend in Fragen des Geschmacks, der Mode, der Eleganz und der gesellschaftlichen Umgangsformen. Ausländische Adlige, nicht zuletzt Italiener, gingen nach Frankreich, um diese neuen sozialen Verhaltensnormen und das Französische als mondäne Konversationssprache zu lernen. Das Französische wurde auch in Italien verstärkt durch Hauslehrer gelehrt und man fing an, Grammatiken für den Französischunterricht zu drucken. In Savoyen-Piemont hatte das Französische sogar den Status einer offiziellen Sprache neben oder vor dem Italienischen. Parma war bourbonisch – dort wirkte der französische Philosoph Condillac als Lehrer des jungen Herzogs von Parma –, Mailand und die Lombardei sowie die Toskana wurden stark vom Französischen beeinflusst, ebenso das bourbonische Neapel. Bedeutende Autoren schrieben einige ihrer Werke auf Französisch, so Giovanni Giacomo Casanova und Carlo Goldoni, so der Neapolitaner Ferdinando Galiani, der Turiner Giuseppe Baretti und Vittorio Alfieri aus Asti. Das Französische wurde im 18. Jahrhundert die Sprache der Gebildeten in der Konversation, denn in dieser Funktion hatte sich das Italienische noch nicht durchgesetzt. Die Dialekte konnten diese Funktion zwar nicht voll und ganz übernehmen, da sie keine überregionale Geltung hatten, doch konkurrierte das Französische Konversationssprache immerhin regional mit den Dialekten. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung für die Entlehnungen aus dem Französischen. Die Puristen reagierten nämlich nur heftig auf die Beeinflussung der italienischen Literatur- und Schriftsprache durch das Französische, die Reinheit der Dialekte wurde nicht überwacht. Deshalb darf man durchaus annehmen, dass eine Großzahl von Gallizismen über die Dialekte in die italienische Hochsprache eingedrungen ist. Die den lexikalischen Neuerungen gegenüber feindlich gesinnte Crusca erschwerte den Umgang mit den kulturellen Neuerungen des Jahrhunderts durch ihr Beharren auf einem antiquierten Wortschatz. Die in der Tradition Boccaccios stehende latini-
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sierende Prosasprache geriet unter den Druck der Klarheit der Satzgliedfolge in der französischen Prosa, die mit derjenigen der italienischen Dialekte konvergierte, aber dennoch vermieden wurde. Trotz aller Neuorientierung ist aber zu bedenken, dass die Sprachkrise immer noch eine geringe soziale Tiefe hatte. Das Verhältnis zwischen geschriebenem und gesprochenem Italienisch war, die Toskana ausgenommen, durch einen radikalen Gegensatz gekennzeichnet. Ein bestimmter Sprachstil, wie Ugo Foscolo es ausdrückte, war Schriftsprache, gesprochen wurde eine Vielzahl von Dialekten. Was sonst noch an Varietäten dazwischen existierte, kam entweder nur marginal vor oder wurde ignoriert. In diesem Gegensatz drückt sich die Folge der spezifisch italienischen Entwicklung aus. Die Tradition des einzelsprachlichen Wissens wurde wesentlich auf das expressive Wissen (1.1.2) reduziert, das darin besteht, wie man bestimmte Arten von Texten schreibt, für die Boccaccio das Modell gegeben hat. In der Literatursprache wurde dadurch die Schaffung einer Prosa für Romane verhindert. Ein Wechsel des Sprachmodells für die literarische Prosa trat erst mit Manzonis Ausgabe der Promessi sposi von 1840 ein. In der essayistischen Prosa ist der Wandel von der boccaccesken Syntax zur „direkten Satzgliedfolge“ (ordre direct) bereits im 18. Jahrhundert erfolgt.
5.1.3 Die Zeit der Übernahme des Toskanischen als gesprochener Sprache Der Begriff der Diglossie ist auf die italienische Vergangenheit mit weit größerer Berechtigung anzuwenden als auf die Gegenwart. Am deutlichsten tritt sie in italienischer Schriftlichkeit und dialektaler Mündlichkeit in Erscheinung. Daher stellt sich das Diglossieproblem bei Schriftstellern in voller Schärfe. Sie mussten es literarisch durch die Aneignung der literarischen Tradition in einem mühseligen Studium überwinden, wie wir bei Vico gesehen haben. Wer aber Italienisch für praktische Zwecke lernen wollte, war auf die Schule und ihre Lehrmittel wie Grammatiken, Aussprachelehren und Wörterbücher angewiesen, in denen man vom Dialekt zum Italienischen überging. Wenn noch heute die Sprachsituationen je nach Region sowie nach Stadt und Land sehr verschieden sind, so waren die Unterschiede in der Vergangenheit noch erheblich größer. Denn die Schulbildung war weniger weit und innerhalb begrenzterer sozialer Schichten verbreitet und somit auch die Italienischkenntnisse. Die Frage ist also, wie das als Schriftsprache tradierte Italienisch zu einer alle Italiener verbindenden gesprochenen Gemeinsprache wurde. Dabei war die italienische Mündlichkeit erst einmal zu konzipieren. Das Besondere am gesprochenen Italienisch in der Zeit, in der es entstand, war die Tatsache, dass es tatsächlich konzipiert werden musste, denn es wurde nicht spontan gesprochen. Man kann am Beispiel des Italienischen besonders gut den geschichtlichen Prozess untersuchen, in dem sich eine Nationalsprache als allgemein gesprochene Sprache durchsetzte – und das noch vor der nationalen Einheit –, weil dieser Prozess relativ spät begann. Das allgemeine Ziel war extensiver und intensiver Ausbau. Er war intensiv, weil zahlreiche schriftliche und
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Abb. 5.1: Ausstrahlung des Toskanischen (Quelle: Rohlfs 1952: 95)
mündliche Varietäten geschaffen werden mussten, und extensiv, weil die Italiener in zunehmendem Maße alphabetisiert wurden und die neu geschaffenen Varietäten übernahmen. Wir haben es hierbei mit einer gewollten Teilhabe an einer Standardsprache zu tun, gegen die heute, nach der erfolgreichen Durchsetzung von Nationalsprachen, die Reaktion der Minderheitensprachen einsetzt. Vor der Marginalisierung
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der Dialekte und Sprachen mit begrenzter Verbreitung wurden die Forderungen nach „Universalität“ noch der eigenen sprachlichen Identität vorgeordnet. 5.1.3.1 Drei Zeitzeugen: Vittorio Alfieri, Giuseppe Baretti, Ugo Foscolo Betrachten wir drei Zeugnisse zur italienischen Sprachsituation, die etwa 70 Jahre auseinanderliegen. Dass jemand Italienisch oder, wie man damals sagte, Toskanisch als tägliche Umgangssprache hatte, war eine ganz große Ausnahme, und zwar so sehr, dass diese Italienischsprecher keine Gesprächspartner hatten, die in derselben Sprache mit ihnen hätten verkehren können. Sprecher des Italienischen lebten zudem in einem belastenden Spannungsverhältnis mit ihrer Umwelt: Entweder gaben sie sich der Lächerlichkeit preis oder sie wurden nicht verstanden. Ein gutes Zeugnis dafür haben wir in der Vita von Vittorio Alfieri (1749–1803). Ein Onkel Vittorios, der Graf Benedetto Alfieri (1696–1767), erster Architekt des Königs von Sardinien, hatte in Rom Toskanisch gelernt und sprach diese Sprache auch später ständig, nachdem er sich wieder in Turin niedergelassen hatte. Vittorio Alfieri berichtet über Begegnungen mit seinem Onkel, die um das Jahr 1759 stattgefunden haben, mit folgenden Worten: „Es bereitet mir heute ein besonderes Vergnügen, von diesem Onkel zu erzählen, der ein schöpferischer Mensch war, und erst jetzt erkenne ich seinen ganzen Wert. Doch als ich noch in der Akademie lernte, erschien er mir, wiewohl er äußerst liebevoll gegen mich war, eher langweilig. Allein (man erkenne die Verkehrtheit des Urteils und die Macht falscher Grundsätze!), was mich am meisten an ihm störte, war sein herrliches Toskanisch, das er seit seinem Aufenthalt in Rom nicht mehr hatte aufgeben wollen, weil in Turin, dieser Zwitterstadt, das Italienische völlig verdorben war. Die Macht des Schönen und Wahren aber ist so groß, daß selbst die Leute, welche anfangs, als mein Onkel in seine Vaterstadt zurückkehrte, über sein Toskanisch gespöttelt hatten, doch etliche Zeit später, nachdem sie gemerkt hatten, daß er eine wirkliche Sprache, sie hingegen ein barbarisches Kauderwelsch sprächen, auch ihr Toskanisch mit ihm zu reden versuchten; es waren vor allem jene Herren, welche ihre Häuser ein wenig umbauen und wie Paläste gestalten lassen wollten“ (Alfieri 1949: 49–50).
Wohlgemerkt: Die Spötter des Grafen waren piemontesische Adlige, die sonst Dialekt oder Französisch sprachen. Giuseppe Baretti beschreibt die italienische Situation von London aus in einer seiner Lettere familiari. Dieser 1777 oder 1778 geschriebene Brief ist fingiert und enthält eine wilde Polemik gegen die italienische Literatursprache. Im Vergleich des Italienischen mit dem Französischen stellt er fest, dass das Italienische nirgendwo in Italien gesprochen werde, sondern die Dialekte an seine Stelle träten: ‚Wo ist denn die Stadt, der Hof, der Ort in Italien, in dem man mit einer wenn auch noch so mittelmäßigen Korrektheit, Lebendigkeit, Vielfalt und Gewähltheit im Wortschatz und in den Ausdrücken spricht? In jedem unserer Länder, von Novalesa am Fuße der Alpen bis hinunter nach Reggio in Kalabrien, gibt es einen eigenen Dialekt, von dem jeder kleine oder große, adlige oder plebejische, gebildete und ungebildete Bewohner ständig Gebrauch bei seinem täglichen
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Umgang in der eigenen Familie und außerhalb macht‘ (Puppo (a cura di) 1957: 253; meine Übersetzung).
Der Dialekt ist so sehr die allgemeine Sprache, dass derjenige, der etwas anderes spricht, sogar Sanktionen ausgesetzt ist. Nur auf Reisen und im Handelsverkehr ist das Italienische üblich. Dazu schreibt 50 Jahre nach Baretti der Schriftsteller Ugo Foscolo: ‚die Vornehmen in den anderen Ländern Europas bedienen sich der Nationalsprache und lassen die Dialekte dem einfachen Volk; dies aber ist in Italien nur das Privileg desjenigen, der sich auf Reisen in die Nachbarprovinzen, soweit er sich verständlich machen kann, einer Gemeinsprache bedient, die man Handels- und Reisesprache nennen könnte. Wer aber in seiner Stadt einen Deut von seinem Dialekt abwiche, sähe sich der doppelten Gefahr ausgesetzt, sich dem Volk überhaupt nicht verständlich zu machen und sich von seinen Freunden wegen seiner affektierten Literatursprache verspotten zu lassen‘ (1953: 337; meine Übersetzung).
Dieses Zeugnis des damals in London lebenden Ugo Foscolo aus dem Jahre 1825 gilt noch mehr für die frühere Zeit. Übereinstimmend wird bezeugt, dass der Dialekt in allen sozialen Schichten Umgangssprache war. 5.1.3.2 Die neuen Sprecher des Italienischen nach Regionen Man kann sich die relevanten Fragen in der folgenden Weise stellen: Wer wurde zu einem Sprecher oder zu einem potentiellen Sprecher des Italienischen in welchen Regionen und in welchen sozialen Schichten? Auf welchem Wege vollzog sich, praktisch betrachtet, der Wandel vom Dialekt- zum Italienischsprecher? Kommen wir zuerst zur Frage, in welchen Regionen die Erlernung des Italienischen früh einsetzte. Das Toskanische wurde in der Regel nicht zur gesprochenen Sprache in denjenigen Regionen, die es als Schriftsprache übernahmen. Früh gelangte es nach Rom und schuf dort vom 16. Jahrhundert an eine toskanische Kontaktvarietät, die romanesco genannt wird. Gemeinhin gilt erst die Zeit nach der italienischen Einigung, also nach 1861, als die Zeit, in der das Italienische tatsächlich im ganzen Lande als gesprochene Sprache gelernt wurde. Es hat sich jedoch davor, wenn auch meist zaghaft, von 1700 an ausgebreitet. Die Zeit der Neuorientierung und der Beschleunigung der Entwicklung ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und sie endet 1796 mit der Französischen Revolution in Italien. Die Italianisierung ist ein lange andauernder Prozess, in dem der spontan gesprochene Dialekt, das geschriebene Italienisch und das zu konzipierende gesprochene Italienisch in einem dynamischen Verhältnis zueinander standen, denn die im 18. Jahrhundert angelegten Entwicklungen erfuhren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Beschleunigung. Die Varietäten der italienischen Umgangssprache entstanden in diesem Zeitraum (Lüdtke 1985). Auch die Literatursprache erneuerte sich im Werk Alessandro Manzonis (1785–1873) und in der Dialektliteratur. In diesem
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Zeitraum dominierte zwar noch die Schriftsprache, es nahm aber die Zahl der Sprecher des Italienischen zu sowie die Zahl der Gelegenheiten, Italienisch zu sprechen. Es ist interessant zu sehen, dass die Mailänder in der Zeit, in der sie zu der als nationale Aufgabe betrachteten Erlernung des Italienischen übergingen, sich vom Dialekt abwandten, ihn aber nach der italienischen Einigung wieder verstärkt pflegten. 5.1.3.3 Mailand und die Lombardei Für die Neuorientierung in der italienischen Sprachgeschichte waren Mailand und die Lombardei maßgeblich (cf. Weidenbusch 2002). In diesem Raum beschleunigte sich die Sprachentwicklung zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der nationalen Einheit Italiens mehr als in anderen Regionen. Die Übernahme des Italienischen als gesprochener Sprache fand hier früher als anderswo statt und strahlte auf andere Regionen aus. In dieser modernen Region wurde das Italienische außerhalb der Toskana für eine neue Mündlichkeit ausgebaut. Dies geschah im Kontakt von lombardischer Dialektalität mit italienischer Schriftsprachlichkeit und französischer Mündlichkeit. Diese Entwicklung vollzog sich in Mailand und der Lombardei deshalb früher als in anderen Regionen, weil die Alphabetisierungsrate dort die höchste in ganz Italien und die Kenntnis des Italienischen folglich am weitesten verbreitet war. Darin ist eine unmittelbare Auswirkung der habsburgischen Schulreform Josephs II. (1786) zu sehen, der damals fortschrittlichsten der Aufklärung. Bis 1800 waren Teile des Bürgertums in den Regionen Oberitaliens, die über ein gutes Schulsystem verfügen, in manchen Situationen zum Italienischen übergegangen. Diese Entwicklung setzte sich in der napoleonischen Ära (1796–1815) fort. Der typische Repräsentant der Sprachideologie dieser Zeit war Antonio Cesari. Er vertrat während der napoleonischen Ära und angesichts ihres erheblichen Einflusses auf das Italienische seiner Zeit eine uneingeschränkte Hinwendung zur Sprache des Trecento. Der Purismus verstärkte den Gegensatz zwischen der gesprochenen französierten Sprache der Gegenwart und der antiquierten Sprache der Literatur. Es wurde oben schon festgestellt, dass die in der questione della lingua diskutierten Auffassungen nicht direkt in die Praxis umgesetzt wurden. Dies konnte allein schon deshalb nicht geschehen, weil diese Werke dem Sprachunterricht nicht zugrunde lagen, was auch keinen Sinn gehabt hätte. Wenn die questione della lingua sich auswirken sollte, musste sie in Schulbücher und Lehrwerke Eingang finden (5.1.2.1). In der Sprachdidaktik werden weniger bekannte Autoren und weniger bekannte Schriften, in die die berühmte Diskussion nur in sehr vermittelter Gestalt Eingang fand, bei der Erlernung der italienischen Standardsprache geschichtlich wirksam. Denn nur diese Werke sind dem Zweck der Erlernung des Italienischen angemessen. In diesen Werken wurde das Italienische kodifiziert, aber unterhalb des Niveaus, auf dem diese Kodifizierung in der Sprachgeschichtsschreibung überhaupt intellektuell wahrgenommen wurde. Als regional divergierende Kodifizierung ist sie durch die Untersuchung der regionalen Schreibtraditionen zu ergänzen. In sozialer Hinsicht fand der
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Übergang zum Italienischen in Abhängigkeit vom Schulbesuch statt und der Schulbesuch hing vom Einkommen ab. Deshalb wurden der Adel und das Bürgertum früher alphabetisiert als die anderen sozialen Schichten. Regelrechte Schüler im heutigen Sinne waren die jungen Adligen nicht, da sie durch Hauslehrer unterrichtet wurden. Solange sich die Schüler aus den genannten sozialen Schichten rekrutierten, machte daher die Ausbreitung des Italienischen keine großen Fortschritte. Die Erlernung des Italienischen scheint allerdings eher ein sozioökonomisches Erfordernis gewesen zu sein als ein rein soziales, denn der regional ansässige Adel ging in manchen Regionen wie in Oberitalien zu einem späteren Zeitpunkt zum Italienischen über als zum Beispiel die Handwerker. Bei einer genaueren Betrachtung wäre zu unterscheiden, wer das Italienische sprechen lernte, aber weiterhin seinen Dialekt sprach, und wer vom Dialekt zum ausschließlichen Gebrauch des Italienischen überging. Während des Risorgimento wurde die soziale Grundlage des Italienischen kaum breiter. Wenn es eine gewisse Verbreiterung dieser Grundlage gab, bestand sie wohl eher im sozialen Aufstieg von Handwerkern, nicht aber darin, dass die allgemeine Bildung breitere Schichten erreichte. An den neu zu gewinnenden Schichten gingen die Fragestellungen, die sich die Klassizisten wie die Puristen stellten, völlig vorbei (Corti 1969: 170). Sie blieben bei den traditionellen literarischen Anforderungen an die italienische Sprache stehen. Das Italienische brauchte dagegen für die neuen Aufgaben einen neuen Wortschatz, der geeignet wäre, die neuen fachlichen Entwicklungen wiederzugeben. Dieser Fachwortschatz existierte in den Dialekten, nicht aber im Italienischen (Corti 1969: 173–174). Zu bedenken sind für die Erlernung des Italienischen auch die Situationen seiner Verwendung. Solange im Dialekt gepredigt wurde oder wie in Venedig die Plädoyers im Dialekt gehalten wurden, gab es für solche Anlässe keine Notwendigkeit, das im Allgemeinen schlechter beherrschte Italienisch zu produzieren. Eine Ausnahme machte im Risorgimento das piemontesische Parlament, in dem die Parlamentarier das Italienische aus nationalen Gründen vorzogen, obwohl sie besser Französisch konnten. Die Italiener wurden dadurch zu potentiellen Sprechern ihrer Standardsprache, dass sie sie schreiben lernten. Wir sind recht gut darüber unterrichtet, wie die neuen gesprochenen regionalen Varietäten des Italienischen entstanden sind. Dabei wurde eine schriftsprachliche Kenntnis des Italienischen in eine gesprochene umgesetzt, wie sie vorher schon für das Sprechen mit Ausländern und mit Italienern aus anderen Regionen belegt ist. Erschwerend kommt bei dieser Spracherlernung als objektiver Tatbestand hinzu, dass der Abstand zwischen dem Italienischen (Toskanischen) und dem Dialekt meist bedeutend ist. In dieser Sprachkontaktsituation entstehen neue Kontaktvarietäten, auf der einen Seite eine Varietät des Italienischen, auf der anderen eine neue Varietät des Dialekts, die standardnäher ist. Das neue Italienisch wurde in Mailand und andernorts parlar finito (‚vollendete Sprache‘) genannt. Diese fluktuierende, konstruierte Varietät besteht in einem Sprechen nach der Schrift, die offenbar so sehr dem Wandel unterworfen war, dass ihr Name früh unterging. Diese
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Sprache wurde außerhalb der Herkunftsregion auf Reisen verwendet, wenn man sich anders nicht verständigen konnte (das ist der “linguaggio mercantile ed itinerarioˮ, die ‚Handels- und Reisesprache‘ von Ugo Foscolo; cf. 5.1.3.1). In einer zweiten Etappe konnte diese Sprache – neben dem Französischen – zur Konversationssprache werden und in einer dritten Etappe zur Umgangssprache. Von dieser Zeit an entstand ein lombardisches Regionalitalienisch, das in ununterbrochener Folge bis heute gesprochen wird. Noch Tenca (1974), ein Zeitgenosse Manzonis, nennt dieses Italienisch “mobileˮ. Damit ist wohl gemeint, dass es immer noch eine Lernervarietät war, die die Sprecher ihren Kindern noch nicht als Erstsprache vermittelten. Es ist wichtig zu betonen, dass das Italienische zunächst über die Schule gelernt wurde, nicht über die Eltern. 5.1.3.4 Neapel Neapel nimmt eine Zwischenstellung zwischen der Italianisierung Roms und derjenigen der übrigen Gebiete Italiens ein. Das Toskanische wurde recht früh als Literatursprache verwendet. Als Wendepunkt hatten wir die Arcadia von Iacopo Sannazaro genommen. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Gerichtsreden auf Italienisch gehalten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren das Bürgertum und die Gebildeten zum Italienischen in der Form der neapolitanischen Varietät übergegangen. Neapel, “capitale alla francese”, wie Francesco De Sanctis einmal meinte, war das alleinige Zentrum des Schulunterrichts im Königreich Neapel und konnte es bleiben, weil dort die jungen Leute aus allen Provinzen des Königreichs zusammenkamen, 15.000 Schüler und Studenten. Sie besuchten nicht die fast verlassene Universität, sondern Privatschulen. In diesen Schulen gab es keine offiziellen Lehrpläne, und diejenigen, die es einmal gegeben hatte, waren in Vergessenheit geraten. Sie konnten daher ungehindert Zentren der geistigen und nationalen Erneuerung, der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Emanzipation sein. Da die kirchlichen Schulen sich auf den Unterricht der christlichen Lehre und der lateinischen Sprache beschränkten, war Italienischunterricht bereits ein Akt der Emanzipation. In diesem Sinne hatte der Marchese Basilio Puoti (1782–1847) seine Scuola di lingua italiana (1825) eingerichtet, die meist über 200 Schüler besuchten, 1839 sogar über 400. In dieser Zeit des Risorgimento war der sprachliche Purismus Puotis eine Sache des nationalen Fortschritts, das Italienische wurde zum Vaterland und der Italienischunterricht nahm die Befreiung und Einheit der Nation vorweg. Der Purismus von Puoti steht in Verbindung mit demjenigen von Antonio Cesari. Nach dessen Leitlinien stellte Puoti einen Lektürekanon mit Texten des Trecento auf und erst für Fortgeschrittene mit Texten des Cinquecento. Dieser Purist ist für uns noch als Autor eines Vocabolario domestico napoletano e toscano (Neapel 1841) interessant, weil er darin das gesprochene Neapolitanisch in ein nicht nur geschriebenes, sondern auch gesprochenes Toskanisch umsetzen will. Noch wichtiger aber sind seine indirekten Bemerkungen zu den Varietäten der in Neapel gesprochenen Sprache. Er unterscheidet napoletano, semi-napoletano, semi-
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toscano und toscano. Das napolitano ist der Volksdialekt von Neapel, semi-napoletano ist die vom Toskanischen beeinflusste Varietät der Gebildeten. Das Ziel des Wörterbuchs und des Sprachunterrichts ist die Herstellung von Entsprechungen zum Toskanischen bzw. Italienischen, doch erreichen die Sprecher dabei nur ein semi-toscano. Diese Varietät dürfen wir ohne weiteres als neapolitanisches Regionalitalienisch bezeichnen. Diese mit ähnlichen (parlar finito) oder mehr oder weniger denselben Ausdrücken benannten Varietäten, die den Eindruck erwecken, als würde es dabei um dieselbe Sprache gehen, sind für die jeweiligen Regionen festgestellte Ausprägungen des Regionalitalienischen (zur heutigen Situation Radtke 1997).
5.1.4 Die Übernahme des Italienischen als geschriebener und gesprochener Standardsprache Nach dem Wiener Kongress waren die Lombardei, Trient, Venetien und Dalmatien bei Österreich verblieben. Die Sardinische Monarchie, die 1720 als Königreich mit den Landesteilen Sardinien, Savoyen, Piemont, Aosta, Montferrat und Nizza unter Viktor Amadeus I. entstanden war, die nach der Französischen Revolution in Frankreich eingegliedert und, um Genua erweitert, 1814 wiederhergestellt wurde, strebte die Einigung Italiens unter der Führung des Ministers Camillo Cavour an. Frankreich verbündete sich 1859 unter Napoleon III. mit der Sardinischen Monarchie im sardinisch-französischen Krieg gegen Österreich. Die französischen Versprechen wurden zwar nicht gehalten, aber 1860 kamen das Großherzogtum Toskana sowie das Herzogtum Parma und Modena an das Königreich Sardinien. Sardinien-Piemont tauschte 1860 Nizza und Savoyen gegen die Lombardei ein. Das Aostatal, ehemals ein Teil von Savoyen, blieb bei Sardinien-Piemont und wurde entgegen der Rechtslage nach und nach italianisiert. 1860 landeten Freischaren in Marsala auf Sizilien unter der Führung von Giuseppe Garibaldi (1807–1882). Dieser ‚Zug der Tausend‘ (“la spedizione dei Milleˮ) verschaffte sich in vielen Kämpfen freien Weg durch Sizilien, durch Kalabrien und marschierte auf Rom. Der König Franz II. von Neapel wurde gestürzt. Das Parlament in Turin erklärte Rom zur Hauptstadt und bestätigte im März 1861 Viktor Emanuel II., König von Sardinien, als König von Italien. Umbrien, die Marken und die Beiden Sizilien schlossen sich nach Plebisziten an Italien an. 1866 kam nach dem Krieg gegen Österreich und im Bündnis mit Preußen Venetien an Italien; Italien verzichtete aber – vorläufig – auf die Irredenta (das ‚unerlöste Italien‘) Südtirol mit dem Trentino und Istrien. 1870 wurde der Kirchenstaat besetzt und 1871 die päpstliche Hoheit auf den Vatikanstaat beschränkt. Rom wird Hauptstadt Italiens. 1860 steht also für eine ganze Reihe von geschichtlichen Ereignissen, die insofern etwas mit Sprachgeschichte zu tun haben, als nunmehr die Verbreitung des gesprochenen und des geschriebenen Italienisch in einem Nationalstaat eine praktische Notwendigkeit wurde und zwar eine praktische Notwendigkeit potentiell für alle Italiener.
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Nach der Vielstaaterei mit ihren regional verschiedenen Italienischtraditionen wollte man in der neuen Nation nur eine Sprachnorm haben. Wieviele Italiener konnten um 1860 tatsächlich Italienisch sprechen? Die Antwort darauf, die ich nur in Umrissen geben kann, sagt etwas darüber aus, welcher Weg bis heute im Auf- und Ausbau von Varietäten zurückgelegt wurde. Diese Frage untersuchte als Erster De Mauro eingehender. In seiner Storia linguistica dell’Italia unita (31972) stellt er im Kapitel “L’italiano negli anni dell’Unitàˮ fest, dass etwa acht Italiener von Tausend zu Beginn der nationalen Einheit Italienisch sprachen. De Mauro nimmt davon, wie wir es hier auch stets tun, die Toskana und Rom aus seinen Überlegungen aus. Acht von Tausend sind bei einer angenommenen Bevölkerung von 20 Millionen Einwohnern ungefähr 160.000 Sprecher. Die Zahlen hat Castellani sorgfältigst überprüft im Aufsatz “Quanti erano gl’italofoni del 1861?ˮ (1982) und er ist unter Anwendung der Kriterien De Mauros und der Berücksichtigung der Priester zum Schluss gekommen, dass ungefähr 390.000 Sprecher außerhalb der Toskana mit einigen angrenzenden Gebieten und ohne Rom Italienisch konnten. Die Zahl der Sprecher schätzt er auf insgesamt ca. 10 % (genauer sind es zwischen etwas mehr als 9 % bis 12,63 %) statt auf 2,5 %, wie De Mauro es tut. Nun hängen die Sprecherzahlen auch davon ab, was man unter „Italienisch“ versteht. „Italienisch“ (italiano) wird stets zunächst auf die schrift- und literatursprachliche Tradition angewandt, nicht auf die gesprochene Sprache. So gesehen ist auch das gesprochene Toskanisch der Ungebildeten dieser Zeit ein Dialekt und so wurde es auch allenthalben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genannt – im Gegensatz zur Schriftsprache. Oder man nennt das gesprochene Toskanisch lingua, dann aber in demselben Sinn, in dem die anderen Dialekte lingue genannt werden, nämlich als Sprache für alle Belange des täglichen Lebens, als vollständige Sprache – ohne Gegensatz zur Schriftsprache. Wenn man aber unter „Italienisch“ das phonetische, morphologische und lexikalische System des Florentinischen und des Toskanischen versteht, sofern es mit geringer Variation gesprochen wird, dann umfasst es fast die ganze Toskana, Rom, umbrische Städte und Teile der Marken. Und dann muss man Korsika und das nördliche Sardinien wenigstens mitbedenken (was weder Castellani noch De Mauro tun – man setzt eben die heutigen nationalstaatlichen und nationalsprachlichen Grenzen als Bezugsrahmen voraus), Gebiete, die vom 12. Jahrhundert an toskanisiert worden sind, wenn auch auf der Grundlage eines toskanischen Unterdialekts, des Pisanischen. Castellanis Zahlen sind zur Feststellung der absoluten Sprecherzahlen ohne Frage sehr wichtig. Für die Sprecher außerhalb Zentralitaliens, um die es uns geht, ändert sich jedoch prinzipiell nicht viel: In der Hauptsache kommen die Priester hinzu. Entscheidend sind aber die Gebiete, in denen ein Übergang vom Dialekt zum Italienischen stattfand, eben Nord- und Süditalien sowie Sardinien. Bei den nicht zen tralitalienischen Sprechern müssen wir einen Unterschied einführen: Wer von ihnen sprach Italienisch, wenn es nötig, unumgänglich, bei formellen Anlässen erforderlich war, und wer von ihnen hatte das Italienische als tägliche Umgangssprache?
5.1 Das Italienische
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Als Umgangssprache müssen wir das Italienische bis auf wenige Fälle in dieser Zeit ausschließen. Alle Zeugnisse deuten darauf hin, dass das Italienische eigentlich nur als Verkehrssprache gesprochen wurde, wenn Sprecher unterschiedlicher regionaler Herkunft zusammenkamen, es sei denn, man sprach auch dann einen Dialekt. So konnte Manzoni offensichtlich neben seiner lombardischen Muttersprache noch Piemontesisch und Venezianisch. Wer Italienisch sprach, konnte also oft daneben einen Dialekt und diesen meistens sogar wohl weitaus besser als Italienisch. Seitdem steht im italienischen Nationalstaat der kulturell entwickelte und alphabetisierte Norden dem kulturell und wirtschaftlich unterentwickelten sowie schwächer alphabetisierten Süden gegenüber. Die Übernahme des Italienischen als allgemeiner gesprochener und geschriebener Sprache setzt sich in etwa der Dynamik fort, wie sie im 3. Abschnitt dargelegt wurde. Zwischen dem Dialekt des Volks sowie dem Dialekt der Gebildeten und der aulischen Tradition der Schriftsprache entwickeln sich regionale Varietäten des Italienischen unter ständiger progressiver, aber nicht völliger Anpassung an die traditionelle Sprache. Der Rhythmus hat sich heute verlangsamt, die Anpassung ist aber noch nicht abgeschlossen. Dies ist zu ersehen aus der im Italienischen immer noch erheblich größeren Variation von Ausdrucksmöglichkeiten als in anderen Sprachen. Nach der nationalen Einheit nimmt die Erlernung des Italienischen in einem solchen Maße zu, dass ein Autor eines brescianisch-italienischen Wörterbuchs staunend meinen kann, ‚alle Dialekte würden in kurzer Zeit in einer einzigen sich allen Anforderungen anpassenden Sprache verschmelzen‘ (“fondere in breve tutti i dialetti in lingua unica mobilissima”, Rosa 1877: V), während sich auf der anderen Seite die kraftvollen Dialekte, besonders am Fuße der Alpen hartnäckig halten würden.
5.1.5 Italienische Dialekte und Regionalitalienisch heute Die italienischen Dialekte sind immer noch sehr lebendig. Die wichtigsten Unterschiede sind im Italienischen deshalb auch heute noch die Unterschiede im Raum. Am geringsten sind die diatopischen Unterschiede zwischen dem Toskanischen und dem Standarditalienischen. Dem Toskanischen stehen das Korsische und die Dialekte im Norden Sardiniens nahe, die pisanische Kolonialdialekte waren. Nördlich an die Toskana schließen sich die ligurischen, piemontesischen, lombardischen (einschließlich des schweizerischen Tessins), emilianischen, venetischen und giulianischen Dialekte an. Zwischen den norditalienischen und den süditalienischen Dialekten liegt das Übergangsgebiet der Dialekte der Emilia und der Marken. Südlich dieses Gebiets und östlich von der Toskana werden umbrische Dialekte gesprochen. Der römische Volksdialekt, das romanesco, ist durch Toskanisierung des ursprünglichen römischen Dialekts entstanden (Ernst 1970), der süditalienischen Typs war. Weiterhin in östlicher und südlicher Richtung liegt das Gebiet der sich intern stark differenzierenden süditalienischen Mundarten, also Abruzzesisch, Kampanisch (mit dem Neapolitanischen),
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5 Die romanischen Sprachen
Apulisch und Lukanisch. Im äußersten Süden der Apenninhalbinsel sind die Mundarten des Salento sowie die kalabresischen Mundarten, die man weiter in nördliche und südliche einteilen kann, durch zahlreiche Isoglossen auszugrenzen. Die sizilianischen Dialekte zeichnen sich durch eine relative Einheitlichkeit aus. Die genannten Dialekte werden fast allgemein und in zahlreichen Abstufungen gesprochen, sie existieren mit einer unterschiedlichen Dialekttiefe als lokale Mundarten, als Dialekte unterschiedlicher Verbreitung bis zur regionalen Koine. Den Dialekten unterschiedlicher Reichweite entsprechen Varietäten des Regionalitalienischen, die ungefähr die Verbreitung der jeweiligen Dialektgruppen haben. Es gibt aber auch Tertiärdialekte des Italienischen, die im Kontakt mit anderen historischen Sprachen entstanden sind, so das Regionalitalienische von Sardinien, des Val d’Aosta, Südtirols (bzw. des Alto Adige), des Friauls. Es kommt vor, dass sich nicht eine Dialektgruppe oder eine historische Sprache und eine Varietät des Regionalitalienischen entsprechen, sondern dass ein Regionalitalienisch, das eine auswärtige Grundlage hat, gesprochen wird, sozusagen ein koloniales Regionalitalienisch. Dies ist der Fall im Friaul, in dem man ein Regionalitalienisch venezianischen Typs spricht. Aufgrund der Lebendigkeit der diatopischen Unterschiede gibt es fast keinen Italiener, dem man nicht seine Herkunft anhören kann.
5.1.6 Koloniale Expansion Die seit 1878 durch einen Bund (“Italia Irredenta”) vertretene Irredenta-Politik war auch eine Politik der Evasion vor den nach der Einigung entstandenen inneren Schwierigkeiten. Die koloniale Expansion begann mit der Erweiterung von Massaua (1885) zur Kolonie Eritrea (1887–1890). Abessinien wurde 1889 ein italienisches Protektorat und Menelek II. als Negus, d. h. als abessinischer König anerkannt und Italienisch Somaliland annektiert. 1911 folgte die Annexion Libyens. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt Italien 1919 im Frieden von St. Germain-en-Laye von Österreich die Irredenta Südtirol bis zum Brenner, Triest, Istrien und einige Gebiete in Dalmatien, Kärnten und Krain. Während der Zeit des faschistischen Imperialismus (1923–1939) gewann Italien 1923 die Dodekanes hinzu, eine Inselgruppe in der südöstlichen Ägäis mit dem Zentrum auf Rhodos, und besetzte Korfu. Im Jahr darauf trat Jugoslavien Fiume (kroat. Rijeka) ab. 1927 geriet Albanien in die Abhängigkeit von Italien und wurde 1938 besetzt. 1936 wurde Abessinien annektiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Italien alle Gebiete außerhalb von Europa, es musste Istrien, Dalmatien und Fiume an Jugoslavien und die Dodekanes an Griechenland abtreten. Innerhalb seiner Staatsgrenzen vertrat Italien eine zentralistische Sprachpolitik, die sich von der französischen wenig unterscheidet, aber noch nicht deren Erfolg gehabt hat, weil sie erst kürzere Zeit angewandt wird. Dabei wurde der internationale Schutz für das Aostatal und Südtirol nicht respektiert. Das italienische Parlament verweigert immer noch die Anerkennung des Sardischen als offizieller Sprache auf
5.1 Das Italienische
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Sardinien. Kleinere Sprachgemeinschaften wie die okzitanischen in den Alpentälern oder die weit verstreuten albanischen genießen keinen Schutz. In der questione ladina wurde die Frage diskutiert, ob Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch eine Einheit bildeten oder aber verschiedene Sprachen seien. Ich kann die ganze Diskussion an dieser Stelle nicht würdigen. Sie betrifft uns nur deshalb, weil die Zugehörigkeit von romanischen Sprachgebieten außerhalb Italiens irredentistische Gebietsansprüche zur Folge hatte und auch die bündnerromanischen, dolomitenladinischen und friaulichen Gebiete forderte. Die Expansionspolitik, die zu einem Abessinien, Eritrea, Somaliland und Libyen umfassenden italienischen Kolonialreich führte, hat nicht zu dauerhaften kolonialsprachlichen Entwicklungen geführt. Dafür war die Kolonialzeit zu kurz. Dagegen gab es im 19. und 20. Jahrhundert eine massive italienische Auswanderung. Gleichwohl wurde das Italienische nicht, anders als in der Folge der staatlich gelenkten spanischen, portugiesischen und französischen Auswanderung, außerhalb Italiens zu einer Amtssprache. Heute leben 9 Millionen Auswanderer in den USA, 4,2 Millionen in Südamerika und 420.000 in der Schweiz, um nur die wichtigeren Auswanderungsgebiete zu nennen. Ich möchte diese Zahl nicht diskutieren: Es wird schwer sein, die Sprecher des Italienischen von den Italienischstämmigen genau zu trennen. Wenn das Italienische von den Auswanderern erhalten wird, dann oft eher auf dialektalem Niveau. Trotz des hartnäckigen Festhaltens an der eigenen Sprache gehen auch die Italiener nach mehreren Generationen sprachlich in der Gesellschaft der dominanten Sprache auf.
Bibliographischer Kommentar
Die italienische Sprachgeschichtsschreibung hat in den letzten 60 Jahren eine kontinuierliche und interessante Entwicklung genommen. Die konzeptionellen Probleme der Sprachgeschichtsschreibung sind jedoch für das Italienische insofern leichter zu lösen, als die herkömmliche Konzeption nationalsprachlich ist und das Italienische heute nur in Italien und angrenzenden Gebieten gesprochen wird, wenn man von den Auswanderern absieht. Die eigentliche italienische Sprachgeschichtsschreibung setzt mit Devoto 11953 (41964) ein. Die erste ausführliche Sprachgeschichte ist Migliorini 2 1966, eine gekürzte Version dieses Werks ist Miglorini/Baldelli 1964. Wegen ihrer großen Bedeutung ist die Geschichte des Italienischen nach der Einheit von De Mauro (11963, 31972) besonders hervorzuheben. Weitere kürzere empfehlenswerte Sprachgeschichten sind u. a. Durante 1981, auf Deutsch 1993, Gensini 1982, Maiden 1995 (auf Englisch), 1998 (in italienischer Übersetzung) und Marazzini 2004. Bruni hat 1984 eine stark regional ausgerichtete Sprachgeschichte publiziert. Eine Sprachgeschichte der italienischen Regionen geben Bruni (a cura di) 1992 und 1994. Bruni hat ebenfalls die Edition einer Storia della lingua italiana nach Jahrhunderten geleitet, in deren Rahmen Casapullo 1999 das Mittelalter, Tavoni 1992 das Quattrocento, Trovato 1994 das primo Cinquecento, Marazzini 1993 das secondo Cinquecento und das Seicento, Matarrese 1993 das Settecento, Serianni 1989 das primo und 1990 das secondo Ottocento, Mengaldo 22014 das Novecento sowie Nencioni 1993 Alessandro Manzoni behandelt haben. Eine sehr umfangreiche enzyklopädische Synthese zur italienischen Sprachgeschichte sind die drei von Serianni und Trifone 1993 und 1994 herausgegebenen Bände. Marazzini 32002 baut auf den genannten Vorgängerwerken auf und gibt S. 24–42 einen Überblick über die Forschungslage zur italienischen Sprachgeschichtsschreibung. Marazzini 2004 ist eine
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5 Die romanischen Sprachen
Kurzfassung davon, die 2011 ins Deutsche übersetzt wurde. Als Einführung für Deutschsprachige ist Reutner/Schwarze 2011 konzipiert. Die historische Sprachsoziologie der italienischsprachigen Schweiz bezieht Furrer 2002 ein.
5.2 Das Korsische Von den beiden am frühesten ausgegliederten romanischen Sprachen, dem Korsischen und dem Sardischen, gehen wir zuerst auf das Korsische ein. Auf Korsika als Kommunikationsraum greifen heute die italienische und die französische Spracharchitektur ineinander. Die Rolle der italienischen Standardsprache erkennt man daran, dass diese Sprache für die Intellektuellen das Korsische von außen überdacht und dass bei den Bemühungen um eine korsische Standardsprache die italienischen, nicht die französischen Orthographietraditionen angewandt werden. Damit wird die Nähe zum Italienischen eindeutig anerkannt, auch wenn dies nicht explizit formuliert wird. Der Unterschied der korsischen Entwicklung im Vergleich zu anderen Regionalsprachen Frankreichs liegt darin, dass diese Sprache sich aus der italienischen Spracharchitektur herausgelöst hat, als Italien noch kein Nationalstaat war. Die Sprecher des Korsischen entwickelten ihre Identität innerhalb des Nationalstaats Frankreich, während parallel dazu Italien zu einem Nationalstaat wurde. Wegen ihrer komplexen nationalpolitischen Situation können die Korsen leicht eine eigene Standardsprache deswegen ablehnen oder ignorieren, weil sie je nach Bedarf und individuellen Sprachkenntnissen auf die französische und die italienische Standardsprache zurückgreifen können. Korsika betrachten wir daher unter zwei Gesichtspunkten: Es kann als Gebiet gesehen werden, in dem die italienische Standardsprache gilt, oder einfach als Gebiet des Korsischen. Wenn das Korsische als ein Dialekt des Italienischen gilt, weist es eine Außenüberdachung durch das Französische auf und es steht in einem ähnlichen Verhältnis zum Italienischen wie das Elsässische zum Deutschen. Auch die Ideologisierung der Sprachenfrage ist im Elsass und auf Korsika vergleichbar. Doch ist sprachpolitisch die Situation des Korsischen weniger belastet als die des Deutschen im Elsass, denn die Probleme der Insel sind eher politisch als sprachpolitisch. Wir dürfen daher feststellen, dass das Korsische im Hinblick auf die Frage, ob es eine romanische Sprache in unserem Sinne ist oder nicht, keinen geklärten Status hat, denn die Sprecher sind sich in dieser Frage uneins. Das sprachliche Problem der Korsen, die im Spannungsverhältnis zwischen Italienisch, korsischem Dialekt und Französisch leben, besteht darin, dass sie leicht von ihrem Dialektkontinuum zum Italienischen übergehen können, vom Übergang zum Französischen gilt dies jedoch nicht. Das Sardische und das Korsische waren möglicherweise recht eng verwandt, die Romanisierung setzte bereits 237 v. Chr. ein. Korsika geriet aber, wohl als die kleinere Insel, stärker unter den Einfluss des italienischen Festlands. Von Pippin dem Kurzen
5.2 Das Korsische
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755 erobert und dem Papst übergeben, kam die Insel schließlich 1077 unter pisanische Herrschaft, die oft zusammen mit Genua ausgeübt wurde, das ab 1284 über die Insel herrschte, ohne dass damit der pisanische Einfluss aufhörte. Dadurch entstand ein Variationsspektrum zwischen dem ursprünglichen und dem italianisierten Korsisch, das als eine Sprache wahrgenommen wird. Diatopisch unterscheiden sich der Norden und das Zentrum der Insel dadurch vom Süden, dass der Nordwesten der Insel stärker toskanisiert wurde als der Südosten. Die Sprachgrenzen wurden aber überschritten durch die Transhumanz der korsischen Wanderhirten. Auf diese Weise kann erklärt werden, dass eine ursprünglich ähnliche Latinität wie die sardische zentralitalienische Züge angenommen hat und zu den italienischen Dialekten gezählt werden kann. Im 13. Jahrhundert wurde das Toskanische Dachsprache der Insel und es entstand eine Diglossiesituation. Korsika übernahm später wie andere italienische Regionen die Überdachung durch die italienische Standardsprache. In dieser Hinsicht gilt als Periodisierung die 1. und 2. Periode der italienischen Sprachgeschichte. Korsika weist die Besonderheit auf, dass es aus der italienischen in eine französische Überdachung im Jahre 1769 übergeführt wurde, als die Republik Genua die Insel an Frankreich verkaufte. Unter der genuesischen Herrschaft bestand eine Autonomiebewegung, die in der Zeit gipfelte, in der der korsische Held Pasquale Paoli (1725–1807) auf der Insel mit Erfolg die Macht übernahm, bis er 1769 besiegt wurde. Die Schriftsprache der Korsen blieb das Italienische auch nach dem Verkauf an Frankreich. Im 19. Jahrhundert begann die Spaltung in eine italienische und eine dialektale Schriftlichkeit, die durch das Französische überlagert wurde. Insofern Italienisch und Dialekt nebeneinander geschrieben wurden, unterschied sich Korsika nicht von anderen Regionen toskanischer Sprache; so dürfte es sich bei dieser Literatur wohl um letteratura dialettale riflessa (5.1.2) gehandelt haben. Das Schreiben im Dialekt machte eine neue Orthographie erforderlich, die sich völlig an den Lösungen des Italienischen, nicht des Französischen orientierte. Damit ist klar, dass das Korsische urspünglich zum Bereich der historischen Sprache Italienisch gehört. Merkwürdigerweise bleibt aber aus der Zeit der Zugehörigkeit zu italienischen Herrschaftsgebieten eine antiitalienische Mentalität, die sich gleichwohl mit einer Orientierung an italienischen Traditionen verträgt, wenn sie auf der Insel Fuß gefasst haben. Wie bei vielen Minderheitenbewegungen war es auch beim Korsischen der Fall, dass der Druck von außen zur Behauptung der eigenen Identität führte. Nach der Einführung der Schulgesetze von Jules Ferry (cf. 5.8.4.4) während der Dritten Republik hatten die Korsen zwei Optionen: „(1) diese Dialekte im Zustand der dachlosen Oralität zu belassen und zuzusehen, wie sie vom Französischen der Schule, der Verwaltung, der Kirche und des täglichen Lebens immer mehr aufgefressen werden; oder (2) diesen Dialekten ein neues, maßgeschneidertes, kleines, eigenständiges und nur für Korsika geltendes Schriftdach zu geben“ (Goebl 1988: 832).
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5 Die romanischen Sprachen
Was in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch unter dem Dach des Italienischen als letteratura dialettale riflessa interpretiert werden kann, wird zum gegen das Französische gerichteten Identitätsausdruck nach Einführung der allgemeinen französischen Schulpflicht. Dies macht den ganzen Unterschied zwischen einer Unterordnung unter eine französische Schriftlichkeit aus, nachdem vorher die Korsen zur historischen Sprache Italienisch gehört hatten. Zugleich öffnete sich den Korsen der französische Arbeitsmarkt für Beamte im französischen Kolonialreich. Damit einher ging aber auch das Eintreten für die Anerkennung des Korsischen. Vom Ausdruck der kulturellen Identität geht die korsische Bewegung zu politischen Forderungen über. Für den italienischen Part der Identität stand bis zum Zweiten Weltkrieg das Italien Mussolinis zu Gebot: „An vorderster Front – wie an allen anderen kulturpolitischen Expansionspunkten des faschistischen Italiens auch – steht die italienische Romanistik; für Italien sind die eigenen Philologen Nationalphilologen, Diener und Mehrer der Größe und des Ruhms Italiens. Nach allen Seiten proklamiert, postuliert, konjiziert, und propagiert man die «italianità»: ob für Korsika, Malta, Libyen, Dalmatien, Istrien, Südtirol, Graubünden, Savoyen, überall dasselbe Vorgehen. Naturnotwendig müsse, so heißt es, wer nur irgendwelche Merkmale, sei es der Geographie, der Geschichte, der Kultur oder der Sprache, früher oder jetzt mit Kernitalien gemeinsam hatte oder hat, sich als «fratello irredento» in den politischen Schutz Italiens begeben. Eine Zeit voller Begriffsverdrehungen, eine Zeit wissenschaftlicher Ekstase und eine Zeit auch wissenschaftlicher Perversionen bricht an“ (Goebl 1988: 833).
Es gäbe viele Gemeinsamkeiten mit dem Elsass und mit Lothringen zu behandeln, was ich unterlasse, da das Deutsche in Frankreich außerhalb unserer Fragestellung liegt. Es ist jedoch wichtig, auf diese ideologische Ambiguität hinzuweisen. Korsika nahm aber auch teil an der Bewegung der Dekolonisierung, die es mit Okzitanien teilte (Lafont 1971). In der Kirche ist die Messe auf Korsisch möglich. In der Politik kann es auf lokaler Ebene Verwendung finden. In der Presse ist es zwar kaum vertreten und auch nicht im Fernsehen, dafür aber im Rundfunk. Vor allem aber können die Schüler, nachdem die Voraussetzungen der Grundschullehrerausbildung 1974 und in verbesserter Weise 1981 als Regionalsprache geschaffen wurden, am Korsischunterricht teilnehmen. Er ist zwar fakultativ, aber die überwiegende Mehrheit der Schüler nahm diese Möglichkeit wahr. Erst 1985 wurde das Korsische den in der Loi Deixonne genannten Sprachen gleichgestellt (5.8.4.4, 5.9.10). Für den Unterricht und die Förderung des Korsischen hatte die Scola corsa seit 1956 gekämpft. Immer wieder versucht die Assemblée de Corse den Status des Korsischen aufzuwerten, scheitert aber stets an der von der Verfassung verbürgten Gleichheit der Franzosen als Staatsbürger. Der letzte Versuch datiert von 2013. Auch im Fall des Korsischen ist es selbstverständlich, dass diese Sprache als französische Kontaktvarietät gesprochen wird, wie auch das Französisch der Korsen ein Regionalfranzösisch ist. Die üblichen Kontaktvarietäten sind das français de Corse als
5.2 Das Korsische
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korsisches Regionalfranzösisch, das francorse – man vergleiche diesen Ausdruck mit francitan für das französierte Okzitanisch (Couderc 1975, 1976) – ist ein französiertes Korsisch. Beide gehören eher zur sprachlichen Wirklichkeit als die „reinen“ Sprachen Korsisch und Französisch. Wir können uns nun fragen: Ist das Korsische heute eine Sprache oder ein Dialekt? Die Frage hat Auswirkungen auf die Korpus- und die Statusplanung. Wenn es ein Dialekt ist, stellt sich die Forderung nach einer Standardsprache und ihrer Übernahme durch die Sprecher nicht. Das Korsische kann in seiner Unterordnung bleiben, nach der Unterordnung unter das Italienische nun unter das Französische, wenn auch als Außendialekt des Italienischen. Nur wenn das Korsische zu einer Standardsprache entwickelt und ausgebaut werden soll, ist eine Statusplanung notwendig. Der Wandel im Bewusstsein drückt sich von den siebziger Jahren an in der Ersetzung von dialecte corse durch langue corse aus. Die Spannung zwischen dialektaler Verschiedenheit und Standardisierung bei gleichzeitigem Ausbau bleibt erhalten. Denn das große Problem, das sie zu bewältigen hat, ist eine zwischen dem Norden und dem Zentrum sowie dem Süden vermittelnde Orthographie. Die Schreibung des Korsischen ist noch keine Rechtschreibung: Vorschläge von Pasquale Marchetti und Dumenicantone Geronimi liegen in Intricciate è Cambiarine (1971) vor (dazu Hofstätter 1991). Darin werden Grundsätze für die Entsprechung zwischen Phonem und Graphem aufgestellt als feste Schreibungen für jedes Wort, womit der diatopischen Verschiedenheit Ausdruck gegeben werden kann. Die traditionelle Orthographie steht der italienischen nahe. Demgegenüber abweichende Lösungen sind die Schreibung für /ʒ/ (basgiu, bagiu ‚Kuss‘), oder für /gJ/ bzw. /kç/ (ghjalà, ghialà, cf. it. gelare ‚gefrieren‘) und oder (chjaru – chiaru, it. chiaro ‚klar, hell‘) (Hofstätter 1991: 152). Die konsonantische Variation des Korsischen (man vergleiche das Sardische) ist schwer in einer einheitlichen Orthographie darzustellen. Die Orthographie von Marchetti und Geronimi versucht, die Kontinuität mit der Tradition und die Verdeutlichung des Abstands zum Französischen zu bewirken. Manche Schreibungen haben dagegen nur einen symbolischen Sinn: Sie stellen einen orthographischen Abstand dar, der in der Aussprache und der Morphologie nicht existiert. Diese Orthographie wird nur in Einzelheiten modifiziert, ansonsten aber akzeptiert. Die Kodifizierung der korsischen Grammatik wird dadurch erschwert, dass das Korsische wenig beschrieben worden ist. Die vorliegenden Grammatiken sind an sich schon normativ. Es ist nicht klar, warum bestimmten Selektionsentscheidungen gegenüber anderen der Vorzug gegeben wird. Der Abstand zum Französischen ist dabei wichtiger als derjenige zum Italienischen. Das heißt aber auch, dass das üblicherweise gesprochene französierte Korsisch nicht kodifiziert wird. Wenn die dialektalen Varietäten durch einen beginnenden Standardisierungsprozess in eine niedere Markierung abgedrängt werden, führt die positive Bewertung der Dialektalität oder der neuen Standardisierung politisch zu einem Ausdruck von profranzösischer oder prokorsischer Politisierung.
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5 Die romanischen Sprachen
Von ca. 259.000 Bewohnern Korsikas sind die Hälfte gebürtige Korsen. Davon wird eher eine Minderheit von Schriften in korsischer Sprache und von der Kodifizierung erreicht. Zahlen derer, die die Standardsprache verwenden oder rezipieren, vermag ich nicht zu geben. Am 6. Juli 2003 wurde über die Zusammenlegung der beiden Departements in eine korsische Region und über mehr Autonomierechte abgestimmt und diesem Vorschlag der Regierung eine Absage erteilt.
Bibliographischer Kommentar
Eine Geschichte des Korsischen gibt Arrighi 2002. Eine Zwischenbilanz ziehen Nesi, Marcellesi/Thiers, Giacomo-Marcellesi und Goebl in LRL IV (1988), Thiers 2008 und Giacomo-Marcellesi 2013 sowie Nesi 1992 über das Italienische auf Korsika. In die Kodifizierung des Korsischen führt Hofstätter 1991 ein. Comiti 1993 trägt zur Geschichte und Soziolinguistik des Korsischen bei.
5.3 Das Sardische In Italien wurde oft diskutiert, ob das Sardische eine lingua sei, und man stellte dann fest, dass es keine lingua, sondern eine Gruppe von Dialekten sei. Als Vergleichsmaßstab wird dabei die italienische Standard-, Literatur- und Kultursprache genommen. So gesehen, hat oder ist das Sardische noch keine lingua, sondern diese Stelle nimmt die italienische Standardsprache ein. In der Vergangenheit hatten diese Funktion nacheinander auch das Lateinische, das Katalanische und das Spanische. Dennoch ist das Sardische für Linguisten eine eigene historische Sprache, da sie keiner anderen historischen Sprache zugeordnet werden kann. Sie ist außerdem kodifiziert worden und wird aus diesem Grund hier behandelt. Dem Sardischen hat von jeher eine sprachliche Einheit gefehlt. Wir stellen aber fest, dass fast alle auf der Insel gesprochenen Dialekte für die Sprecher dem Sardischen angehören, was angesichts der toskanischen Beeinflussung des Sassaresischen und Galluresischen keine Selbstverständlichkeit ist. Für unsere Suche nach einer zu standardisierenden und kodifizierenden Sprache bedeutet es eine große Schwierigkeit, dass der Dialekt des den Einflüssen von außen offeneren Südens, das Campidanesische, überregional verwendet wird, während es das Logudoresische und das Nuoresische im nördlichen Zentrum auszeichnet, dass sie als konservative Dialekte eine hohe sprachliche Identifikationsfunktion haben. In diesem Spannungsfeld wird sich diese Skizze einer sardischen Sprachgeschichte bewegen. Für eine Periodisierung des Sardischen sind die Zeit der Judikate, wie diese Gebiete nach den Judices, ihren Herrschern, genannt werden, von den Anfängen im 11. Jahrhundert bis 1297 relevant und die Zeit der Zugehörigkeit zu Savoyen-Piemont ab 1720, die 1861 nahtlos zur Zugehörigkeit zu Italien überging (cf. 5.1.3.2). Die Jahreszahlen markieren noch mehr als bei anderen Sprachen globale Entwicklungen des
Abb. 5.2: Sardisch (Quelle: Blasco Ferrer 1984: 349)
5.3 Das Sardische
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5 Die romanischen Sprachen
Sardischen im Verhältnis zu anderen Sprachen. Im ersten Zeitraum wurde das Sardische verschriftet und als Amtssprache ausgebaut. Es wurde in dieser Zeit insbesondere vom Toskanischen und Ligurischen überdacht. Im zweiten Zeitraum setzte sich der Ausbau des Sardischen als Prosa- und Dichtungssprache fort, eine katalanische Überdachung ging allmählich in eine spanische Überdachung über. Mit der Zugehörigkeit zu Savoyen-Piemont begann im dritten Zeitraum die Unterordnung des Sardischen unter das Italienische. Das als Schriftsprache abgebaute Sardisch erfährt einen neuen Ausbau im vierten Zeitraum. Die große Zeit des Sardischen war das Mittelalter, als die Insel selbständig war, die Verwaltung den Judices in den vier Judikaten unterstand und es neben dem Lateinischen als Schriftsprache verwendet wurde. Danach kam Sardinien im Laufe seiner Geschichte unter die Herrschaft der zahlreichen auswärtigen Mächte, die soeben aufgezählt wurden. Darin unterscheidet es sich von der Nachbarinsel Korsika, die ihr ansonsten sprachlich am nächsten steht. 1298 gab der Papst Bonifatius VIII. die Insel dem Grafen von Barcelona zum Lehen. Die Sarden übergaben den Katalanen ihre Insel nicht freiwillig, sie wurde erobert und das Katalanische Amtssprache. Sassari wurde 1329 von Valencianern und Mallorquinern besiedelt, Alghero (kat. l’Alguer) 1354 von Katalanen. Von diesen beiden Städten breiteten sich lexikalische Einflüsse ins Innere aus. Die großen vom Katalanischen geprägten Wortschatzbereiche sind die Verwaltung, das Handwerk, der Handel und die Kirche. Aus der Zeit der Judikate stammen die ersten Sprachzeugnisse, in denen das Lateinische und das Sardische schon als klar getrennte Sprachen in Erscheinung treten. Das Sardische wurde zwischen dem Ende des 11. Jahrhunderts und dem 15. Jahrhundert ausgebaut. Die ersten Texte sind die Carta volgare (ca. 1070–1080) und die Donazione di Torchitorio (1089–1103). Daneben wurden nacheinander das Pisanische, das Genuesische, das Katalanische, das Spanische und das Italienische als Amts- und Schriftsprachen verwendet. Die heutige Situation wurde durch das Verbot des Spanischen als Amtssprache (1760) und durch die Einführung des Italienischen in dieser Funktion im Jahre 1764 eingeleitet. Von der Zeit der Judikate abgesehen nahm die ländliche Kultur Sardiniens kaum an der allgemeinen Entwicklung teil, die die Städte und dort vor allem die Oberschicht erreichte. Das Sardische erhielt unter der wechselnden Herrschaft keinen eigenen Ausdruck in der Literatur. Die Reaktion auf die Unterordnung unter verschiedene Sprachen setzte erst mit der Aufwertung des Sardischen am Ende des 18. Jahrhunderts ein. Das Sardische ist diatopisch sehr zergliedert. Das Campidanesische in der südlichen Hälfte der Insel hat zwar die größte Sprecherzahl und es ist relativ einheitlich, was darauf zurückgeht, dass die Pest von 1348 ca. 40 % der Bevölkerung dahinraffte, eine Katastrophe, die zu einer größeren sprachlichen Vereinheitlichung führte. Dieser Dialekt gilt aber nicht als der charakteristischste sardische Dialekt, sondern vielmehr das im mittleren Norden gesprochene Logudoresisch, darunter vor allem das Nuoresische. Diese Varietät war im Mittelalter als Schriftsprache verwendet worden. Zur regionalen Spracharchitektur gehören die im Norden Sardiniens vom Pisanischen
5.3 Das Sardische
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beeinflussten Dialekte, die Stadt Alghero mit ihrem Hinterland im Nordwesten, in der Katalanisch gesprochen wird, und eine Insel im Südwesten, in der sich ein ligurischer Dialekt erhalten hat. Wenn man das Sardische charakterisiert, nimmt man dafür das Logudoresische als den konservativsten Dialekt. Als Abstandphänomene, die die Sonderstellung des Sardischen begründen, ist die Erhaltung von lat. ĭ und ŭ zu nennen, z. B. pilum ‚Haar‘ > pilu, während diese Vokale sich in den meisten anderen romanischen Sprachen zu /e/ und /o/ entwickelten. Mit anderen Worten wird der dreistufige lateinische Vokalismus erhalten, die Quantitäten des Lateinischen werden aber auch im Sardischen aufgeben. Im Konsonantismus sind die auffälligsten Merkmale die Konservation des lateinischen /k/, geschrieben , wie in chelu ‚Himmel‘, der Zusammenfall von r und l vor Konsonanten wie corpus ‚Körper‘ und curpa ‚Schuld‘, der Wandel von v- zu b-, wie er in bida ‚Leben‘ (außer in Bitti) vorliegt, die Entwicklung von ll zu einem kakuminalen dd, z. B. in cabaddu ‚Pferd‘. Mit „kakuminal“ ist eine Aussprache von /d/ gemeint, bei der die Zunge zurückgebogen wird. Auch die Distribution der Konsonanten bewahrt Fälle, die in anderen Sprachen aufgegeben worden sind. So bleiben etwa lat. cantat ‚er, sie singt‘ als cantat mit auslautendem /-t/ und -s als Pluralmarkierung erhalten. In der Grammatik ist ferner die Verwendung der Fortsetzungen von ipse in der Funktion des Artikels hervorzuheben wie in su buscu ‚der Wald‘, das Futur mit aer ‚haben‘ + Infinitiv (app’a cantare ‚ich werde singen‘) und der Konditional mit depper ‚sollen, müssen‘ (dio faveddare ‚ich würde sprechen‘) sowie der durative Aspekt, der mit ‚sein‘ + Gerundium ausgedrückt wird. Zu den lexikalischen Fortsetzungen eines älteren Lateinisch gehören domum ‚Haus‘ > domo oder magnum ‚groß‘ > mannu. Das Problem des Sardischen ist also nicht der Abstand zu anderen romanischen Sprachen, z. B. der zum Italienischen, sondern der große interne dialektale Abstand. Die Diskontinuitäten der auf Sardinien verwendeten Schrift- und Amtssprachen sind besonders eklatant. Der Norden der Insel, die Gallura, wurde pisanisiert. Anfang des 17. Jahrhunderts wurde das Spanische als Amtssprache vorgeschrieben, obwohl man das mit der Eroberung eingeführte Katalanisch auch weiterhin bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts in nicht-amtlichen Bereichen verwendete, vor allem in den Städten, und das Spanische blieb danach mit einer weiteren zeitlichen Verschiebung sogar bis zum 19. Jahrhundert in Gebrauch, obwohl Sardinien 1720 an SavoyenPiemont gekommen und dieses Herzogtum damit zum Königreich Sardinien geworden war. Das Italienische führte man 1760 in den Schulen ein, ohne dass diese Maßnahme aber eine bedeutende Wirkung zeigte, was auch damit etwas zu tun hatte, dass das Feudalsystem endgültig erst 1840 abgeschafft wurde. Matteo Madao trat in einer Schrift von 1782 dafür ein, das Sardische zu einem volgare illustre auszubauen, was er durch die Latinisierung des Dialekts zu leisten beabsichtigte. Eine weitere Station auf dem Weg zur Kodifizierung war Vincenzo Porrus Saggio di grammatica sul dialetto sardo meridionale (1811; fortgesetzt mit dem Nou dizionariu universali sardu-italianu von 11832 (32002). Im 19. Jahrhundert löste das Italienische endgültig das Spanische als Literatursprache ab. Giovanni Spano
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5 Die romanischen Sprachen
konzipierte eine Orthographie und Grammatik auf der Basis des Nuoresischen mit seiner Ortografia sarda nazionale ossia grammatica della lingua logudorese paragonata all’italiana (1840), die der erste Versuch einer gesamtsardischen Grammatik ist. Das Wörterbuch Spanos von 1851 und 1852 hatte das Ziel, den sardischen Wortschatz aller Dialektgebiete darzustellen, bevorzugte aber gleichwohl das Logudoresische. Gleichzeitig sollte es der Erlernung des Italienischen und des Sardischen dienen. Das ist gegenüber den meisten italienischen Dialektwörterbüchern neu, die zur Erlernung des Italienischen beitragen wollten. Am intensivsten hat sich in der Vergangenheit der vielseitige deutsche Romanist Max Leopold Wagner (1880–1962) mit dem Sardischen beschäftigt. Von ihm liegen eine Historische Lautlehre des Sardischen (1941), eine Historische Wortbildungslehre des Sardischen (1952), La lingua sarda (1951) und ein Dizionario Etimologico Sardo (1960–1964) vor. Diese diachronischen Werke wirkten als Anerkennung der Sprache und waren auch der Kodifizierung förderlich. 1948 wurde der Insel Autonomie gewährt. Zwar war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine sardische Literatur in italienischer Sprache entstanden, aber auch das Sardische wurde in der Literatur verwendet, darunter in Theaterstücken. Der Ausbau erreichte die Presse (La Grotta della Vispera, S’Ischiglia, Sa Repubblica, Su populu sardu, Il Solco, Liberatzione usw.), den Rundfunk und das Fernsehen. In anderen Bereichen befindet er sich noch in der Anfangsphase, da die Landessprache im Allgemeinen nur für geisteswissenschaftliche und für Sardinien betreffende Themen verwendet wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Sassari und Cagliari je ein Lehrstuhl für sardische Sprachwissenschaft geschaffen. Die Zeitschrift S’Ischiglia betreibt die Vereinheitlichung und Standardisierung des Sardischen mit dem Streben nach Anerkennung als Sprache. Hier erweist sich die Einschätzung nur des Italienischen als lingua, wie eingangs erwähnt, als große Hürde. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ging man von einer Diglossie ohne Bilinguismus zu einer Diglossie mit Bilinguismus über. In dieser Sprachkontaktsituation entwi ckelten sich Kontaktvarietäten zwischen Ortsdialekt und Standardsprache. Auf dialektaler Seite sind dies städtische Dialekte und eine Koine oder „makrodiglossische“ Varietät, auf italienischer Seite Regionalitalienisch und italiano popolare (Blasco Ferrer 1988: 891). Das Sardische und das Italienische werden auf der Insel als Kontaktvarietäten gesprochen (zum Regionalitalienischen der Sarden Loi Corvetto 1983 und Iorio 1997). Die Forderungen nach Anerkennung des Sardischen schließen an ähnliche Entwicklungen in anderen europäischen Ländern an. Es wird in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Beginn der Autonomiebewegung als Nationalsprache betrachtet, und die Notwendigkeit der Schaffung einer einheitlichen Schriftsprache wird von da an als besonders dringlich angesehen. Um diese Zeit setzen auch die Kodifizierungsbemühungen ein, für die die Werke von Giovanni Spano und von Max Leopold Wagner wegweisend waren. Allerdings erschweren immer wieder die zwei genannten Fakten die Standardisierung und die Kodifizierung des Sardischen, die
5.3 Das Sardische
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dialektale Zergliederung und das Fehlen eines überregionalen, in alle Regionen hineinwirkenden Zentrums. Letztere Rolle kann Cagliari nur zum Teil wahrnehmen. Eine Standardisierung hätte als Aufgabe, die Variantenvielfalt im Idealfall auf jeweils eine einzige Variante für jedes Phänomen zu reduzieren. Für eine erfolgversprechende Selektionsentscheidung wäre es wichtig, dass sie von allen Sprechern anerkannt werden kann und dass sie ein Höchstmaß an Abstand nach außen mit einem möglichst geringen Abstand zu den Dialekten verbindet. Bisher wurde eine Einigung durch den reziproken Abstand des Campidanesischen, Logudoresischen, Sassaresischen und Galluresischen verhindert. Das Campidanesische hat mehr Sprecher als die anderen Dialektgruppen, das Logudoresische bietet sich wegen seines hohen Identifikationspotentials an, während hingegen das Sassaresische und mehr noch das Galluresische so stark vom Toskanischen beeinflusst sind, dass sie sich wegen ihres geringen Abstands zum Italienischen weniger für eine Standardisierung eignen. Politische Forderungen nach Einführung des Sardischen als Amts- und inbesondere als Schulsprache gingen einher mit der Einsicht in die Notwendigkeit, das Sardische zu kodifizieren und weiter auszubauen. Das Logudoresische genießt als ursprünglichere und literarisch ausgebautere Dialektgruppe ein größeres Prestige als das Campidanesische, das gleichwohl von mehr Sprechern und einheitlicher als die anderen Dialekte gesprochen wird. In dieser komplexen Situation werden fünf Varietäten zur Kodifizierung vorgeschlagen: – das logudorese comune, das als Schriftsprache die sardische Ausbautradition verkörpert, – eine (gesprochene) logudoresische Koine, die das logudorese comune mit den logudoresischen Dialekten des Nordens und des Zentrums verbindet, – eine vom Logudoresischen und Campidanesischen ausgehende Koine, die zur “Ortografia sarda unificata” führt, – eine Varietät, die auf die Herbeiführung gesellschaftspolitischer Entscheidungen folgt und damit in der Zukunft liegt, – das logudorese comune als Schriftsprache, während die Dialekte zu einer zu vereinheitlichenden gesprochenen Sprache beitragen sollen (Rindler Schjerve 1991: 124–126). Der Osservatorio regionale per la cultura e la lingua sarda übernimmt die Aufgaben einer sardischen Sprachakademie. Die autonome Region Sardinien hat 2001 eine geschriebene Limba sarda unificada und 2006 eine für eine geschriebene und eine gesprochene Norm geplante Limba Sarda Unida vorgeschlagen, die beide an logudoresischen Dialekten orientiert sind und deren Übernahme durch die Institutio nen und die Sprecher noch zweifelhaft ist. Auch diese Vorschläge zeigen, dass es keinen gemeinsamen sprachpolitischen Willen gibt. Für die Akzeptanz der geplanten Normen wird es relevant sein, ob die Phänomene solche sind, zu denen hin Sprecher des Sardischen natürlicherweise konvergieren (Marzo 2011).
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5 Die romanischen Sprachen
Der Wechsel der Herrschaft zog im Laufe der Geschichte orthographische Anpassungen des Sardischen nach sich, die der dominierenden Sprache folgten. Unter der Dominanz des Italienischen richtete sie sich am italienischen Modell aus. Es ist immerhin als phonologisch motivierte Rechtschreibung für das Sardische geeignet, es wurde durch die Schule eingeführt und brauchte nur adaptiert zu werden. Wichtig war auf dem Wege zur Schaffung einer neuen Orthographie die Grammatik von Massimo Pittau (11956) mit einer phonetischen Transkription, die 21972 in einer neuen Auflage in eine adaptierte Orthographie umgewandelt wurde. Diese führte zur “Ortografia sarda unificata”, die unter anderem von Massimo Pittau und Antonio Sanna aufgestellt wurde. Probleme bereitet die Schreibung der Konsonanten. Generell unterscheidet sich das Grapheminventar der “Ortografia sarda unificata” gegenüber dem Italienischen durch die Hinzufügung von wie in janna ‚Tür‘ für /j/ oder /ʒ/, für /z/ im Campidanesischen, z. B. in cruxi ‚Kreuz‘, für /ts/ etwa in tzittade ‚Stadt‘, für das retroflexe oder kakuminale /ɖɖ/ wie in cabaddu ‚Pferd‘. Dazu kommt die Vokalharmonisierung nach den Konsonanten -t, -n, -s im absoluten Auslaut und nach Pause. So wird montes ‚Berge‘ unter diesen Bedingungen im Nuoresischen als [ˈmɔntɛzɛ] ausgesprochen. Konsonantenassimilationen treten ferner allgemein an der Wortgrenze bei s oder r auf, z. B. in tres montes ‚drei Berge [trɛr ˈmɔntɛzɛ], battor panes ‚vier Brote‘ [ˈbattɔs ˈpanɛzɛ]. Einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine Kodifizierung der sardischen Grammatik hat Blasco Ferrer mit seiner logudoresisch-campidanesischen Grammatik La lingua sarda contemporanea (1986) gemacht. Sie ist ein interessanter Vorschlag, da er die Kodifizierung der beiden Hauptvarietäten vorsieht. In die gleiche Richtung weist seine Grammatik von 1994a, die sich vornimmt, das “sardo dell’uso normale” zu beschreiben. Der Wortschatz ist im Wörterbuch von Mario Puddu, Ditzionàriu de sa limba e de sa cultura sarda (2000; cf. auch Pittau 2000), standardisiert und kodifiziert worden. Das Sardische wird schwach normiert verwendet und hat erst einen geringen Normalisierungsgrad erreicht. Ein großes Problem für die Kodifizierung des Wortschatzes sind die Synonymenvielfalt, die Neologismen und die Entlehnungen aus dem Italienischen. Es bleibt noch ungeklärt, wie die Kluft zwischen einer ländlichen Kultur und einer zu schaffenden modernen Sprache im Wortschatz ohne massive Entlehnungen aus dem Italienischen überbrückt werden soll. Eine Legge Regionale vom 15. Oktober 1997 soll Kultur und Sprache Sardiniens fördern. Das Sardische steht im Wettlauf mit der Zeit: Immer mehr Sprecher des Sardischen gehen zum Italienischen über. Währenddessen geht die Kodifizierung des Sardischen, sein Ausbau, seine „Normalisierung“ nur „von unten“, und das heißt aus einer Position der Schwäche, voran.
5.4 Das Friaulische
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Bibliographischer Kommentar
Die im Text eingeführten und kommentierten Werke erwähne ich an dieser Stelle nicht noch ein weiteres Mal. Blasco Ferrer 1995 führt in einem Aufsatz in das Sardische des Mittelalters ein, 1988 gibt eine kurze Geschichte des Sardischen ebenfalls in einem Aufsatz und 1984 im Rahmen eines ausführlichen Werks eine Geschichte der Sprachen auf Sardinien. Porru 1992 behandelt die Geschichte des Sardischen knapp auf Italienisch, Puddu [2000] ähnlich knapp auf Sardisch. Rindler-Schjerve 1987 untersucht den Sprachkontakt und Pirodda 1992 führt in die sardische Literatur ein. Für Deutschsprachige führt Mensching 21994 in das Sardische ein; daraus habe ich einige Beispiele genommen.
5.4 Das Friaulische ‚Jedenfalls ist der Weg bis zur Erreichung eines zeitgemäßen Standards noch weit, sehr weit und kennt keine Abkürzungen. Da helfen keine hektischen Fluchten nach vorn oder extravagante Einfälle, die ihn, anstatt hilfreich zu sein und sein innerstes Wesen zu wahren, entstellen würden‘ (Nazzi 2003: 5; meine Übersetzung).
5.4.1 Das Alpenromanische, seine Namen und das Gebiet des Friaulischen Das Friaulische, das Ladinische (5.5) und das Bündnerromanische (5.6) werden zusammen in vielen Handbüchern „Rätoromanisch“ genannt. Der Grund dafür liegt in einer angenommenen geschichtlichen Einheit, einer Latinität, die sich von einer oberitalienischen Latinität absetzt (Goebl 2003). Der Name „Rätoromanisch“ legt eine sprachliche Gemeinsamkeit nahe, die von den Rätern oder von der römischen Provinz Raetia herrühren würde. Gartner (1883, 1910) propagierte ihn, er ist aber nicht der Erste, der ihn verwendete. Der genannte Raum ist zuvor von Graziadio Isaia Ascoli unter dem Namen „Ladinisch“ mit phonetischen Merkmalen in seinen “Saggi ladini“ (1873: 474–537; cf. die kurze Liste in Krefeld 2003: 200) abgegrenzt worden. Was dort gesprochen wird, ist weder ein Dialekt noch eine Sprache, auch keine historische Spache, keine Ausbau- und keine Abstandsprache, sondern diese Varietäten werden aus politisch-ideologischen Gründen von Italien her als Einheit betrachtet (Krefeld 2003). Sowohl „Rätoromanisch“ als auch „Ladinisch“ sind als Benennungen für das Gebiet des Bündnerromanischen, des Ladinischen in den Dolomiten und des Friaulischen untauglich: „Rätoromanisch“, weil die Provinz Raetia nicht das gesamte Sprachgebiet umfasste und noch viel weniger die Räter das gesamte Gebiet besiedelt hatten, „Ladinisch“ nicht, weil dieser Name sich einerseits auf die romanische Sprache in den Dolomitentälern und andererseits auf das Bündnerromanische im Engadin bezieht. Wenn der Name „Rätoromanisch“ einen gewissen geschichtlichen Sinn haben soll, ist er identisch mit „Bündnerromanisch“ (cf. Liver 1999: 26–28). Der etablierten Tradition, diese drei Sprach- und Dialektgruppen „Rätoromanisch“ zu nennen, fehlt also eine solide Grundlage. Ich werde deswegen diesen Namen nicht verwenden, auch wenn dies seiner weit verbreiteten Anerkennung zuwiderläuft. Hier
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5 Die romanischen Sprachen
Abb. 5.3: Friaulisch, Ladinisch und Bündnerromanisch (Quelle HSK 23.1: 765)
verwende ich mit Gamillscheg (1962) „Alpenromanisch“ und meine damit nur den geographischen Raum, in dem diese drei Sprachen verbreitet sind. Bei der Abgrenzung dieser Sprachen stützen wir uns auf eine sprechereigene Perspektive. Die Friauler müssen sich in einem italienischen Kontext behaupten, die Ladiner in einem deutsch-italienischen und die romanischen Bündner in einem schweizerdeutschen. Für ihr Bewusstsein sprechen die anderen Sprechergruppen nicht „dieselbe“ Sprache. Sie ordnen die Sprache der anderen nicht ihrer historischen Sprache zu. Die Eigenbenennung der Sprache des Friauls ist furlan, das sich von Friûl ableitet und dieses von Forum Iulii, dem antiken Namen des heutigen Cividale. Dem deutschen Friaul liegt ebenfalls Friûl zugrunde, friaulisch ist eine deutsche Ableitung des Gebietsnamens. Das Gebiet des Friaulischen liegt im äußersten Nordosten Italiens und greift nicht über die Staatsgrenze hinaus. Es wird im Norden durch den Kamm der Karnischen Alpen begrenzt, im Osten durch die Julischen Alpen, im Westen durch den Lauf des Tagliamento und des Livenza und im Süden durch das dem Adriatischen Meer vorge-
5.4 Das Friaulische
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lagerte Küstenland, das selbst als ehemals sumpfiges und unbewohntes Land nicht zum Sprachgebiet gehört.
5.4.2 Eine wechselhafte Geschichte Diesen Raum bewohnten vor der Romanisierung die keltischen Karnier, die Veneter und die Illyrer. Die Romanisierung selbst begann 181 v. Chr. mit der Gründung des Municipiums Aquileia, gefolgt von den drei Municipia Forum Iulii, Iulium Carnicum (Zuglio) und Concordia. Unter Augustus wurde Aquileia Hauptstadt der Provinz X Regio Venetia et Histria. Die östlichen und westlichen Randgebiete gerieten später unter den Einfluss anderer Sprachen. Vom 2. Jahrhundert an wurde Aquileia ein Zentrum der Ausbreitung des Christentums und eine bedeutende Diözese neben den Diözesen Concordia und Iulium Carnicum, was sich auf die Sprache, besonders den Wortschatz auswirkte. 568 fielen die Langobarden ins Friaul ein und gründeten ein Herzogtum mit Forum Iulii als Hauptstadt, das aber einen neuen Namen erhielt: Civitas Austriae > Cividale. Der alte Name blieb als Name der Region erhalten. Unter Kaiser Otto I. wurde 952 der deutsche Patriarch von Aquileia zu einer Art Fürstbischof und die Region zu einem Bollwerk des Reichs gegen Italien. Dies hatte später zur Folge, dass der Patriarch von Aquileia von 1077 an oft deutscher Herkunft war, bis Venedig das größere Gebiet des Friauls 1420 annektierte. Das kleinere Gebiet um Görz (it. Gorizia), das mit Triest 1382 durch Österreich annektiert wurde, teilte bis 1918 dessen Geschicke. In der Sprachkontaktsituation mit dem Deutschen und dem Slavischen wird das Friaulische von der Mittel- und Unterschicht beibehalten. Hochsprache war in dieser Zeit das Deutsche als Sprache des Adels und der kirchlichen Würdenträger, dem eine slavisch unterwanderte friauliche Mehrheit gegenüberstand.
5.4.3 Sprachlicher Abstand und Schriftsprachen Etwas anderes sind die sprachlichen Merkmale, mit denen man eine gewisse sprachliche Einheit des im Friaul, in den Dolomiten und in Graubünden gesprochenen Romanisch beweisen will (cf. Goebl 2003: 747–749; Krefeld 2003: 200). Dies sind die Erhaltung des auslautenden -s (z. B. surs. dunnas und dunnauns ‚Frauen‘), die Erhaltung von lat. cl-, gl-, pl-, bl- und fl- (z. B. lat. clamare ‚rufen‘ > surs. clamar, lad. tlamè, frl. clamâ; lat. glandem ‚Eichel‘ > surs. glogn, frl. gland; lat. florem ‚Blume‘ > surs. flur und flura, lad. flù, frl. flôr) und die Palatalisierung von ca- und ga- (z. B. lat. cantare ‚singen‘ > eng. chantar, lad. ćiantè, frl. čhantâ; lat. gallina ‚Henne‘ > eng. giallina, gillina, lad. giarìna, frl. ğhaline). Die beiden ersten Merkmale, die diese Sprachen mit der galloitalienischen Latinität gemeinsam haben, sind Konservationen, sie taugen deshalb nur sehr begrenzt zur Charakterisierung. Das dritte Merkmal ist eine Innovation, die die genannten Sprachen mit den im alten Gallien gesprochenen Sprachen
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5 Die romanischen Sprachen
und Dialekten teilen. Keines dieser Merkmale ist für das Friaulische, das Ladinische und das Bündnerromanische kennzeichnend.
5.4.4 Selektion und Ausbau Das Friaulische war und ist keine einheitliche Sprache, aber die Verständigung der Sprecher aus verschiedenen Regionen ist dennoch sehr gut (Francescato 1970: 164). Das Schrifttum begann Ende des 14. Jahrhunderts als Ausdruck der romanischen Mittelschicht (Benincà 1995: 46). Sprachliches Zentrum war zunächst Cividale, vom 16. Jahrhundert an Udine. Es entwickelte sich eine Koine (Faggin 1984) als Literatursprache, die sich am Modell des Venezianischen ausrichtete, bis dieses im 19. Jahrhundert durch das Italienische abgelöst wurde. Allem Anschein nach war im 16. Jahrhundert die Sprache der Dichter von Udine auf dem Weg, exemplarischen Charakter zu erhalten; zu einem eigentlichen Vorbild wurde sie erst im 17. Jahrhundert in der Gestalt des Dichters Ermes di Colloredo. Diese Entwicklung kulminierte im darauffolgenden Jahrhundert in Pietro Zorutti. Neben den genannten Dichtern wurden andere Dialekte verwendet, aber ihre Sprache selegierten immer mehr Autoren in der Zukunft, bis sie auch für didaktische, erzieherische und journalistische Zwecke gewählt wurde (Francescato 1970). Udine ging als Sprachzentrum verloren, weil die Bürger der Stadt zum Venezianischen übergingen, um sich von ihrer bäuerlichen Umgebung zu distanzieren (Faggin 1984: 170–171). Die Provinz Pordenone orientierte sich an der Koine von Udine, man verwendete als Schriftsprache aber auch den Dialekt. Das österreichische Görz hingegen hatte eine eigene Koine, so dass wir heute keine klare Selektion einer einzigen Varietät vorfinden, zumal die Gemeinsprache von Udine nicht durch den Sprachgebrauch in der Gegenwart gestützt wird. In Görz wurde 1919 die Società Filologica Friulana gegründet, die eigentlich die Aufgaben einer Sprachakademie übernehmen könnte, doch erhielt sie Konkurrenz.
5.4.5 Kodifizierung und Standardisierung Pironas Vocabolario friulano (1871) wird gerne als Kodifizierung des Wortschatzes und der Orthographie betrachtet, doch steht es in der Tradition der italienischen Dialektwörterbücher, die der Erlernung der Nationalsprache dienten (Lüdtke 1985). Davon distanzierte sich Il Nuovo Pirona (1935) von Pirona/Carletti/Corgnali nicht, im Gegenteil, die italianisierende Orthographie des Folgewörterbuchs verstärkt die Unterordnung unter das Italienische. Marchetti kodifiziert die Grammatik der koinè friulana (11952: 17–18) für die Teilnehmer der Kurse der Società Filologica Friulana in friaulischer Kultur und Grundschullehrer, er kann aber nicht ignorieren, dass sich keine Gemeinsprache ‚herauskristallisiert‘ hat. Für ihn reicht die Kodifizierung nicht, es bedarf des Ausbaus durch Autoren, Philologen und Kulturträger im Friaul. Die Recht-
5.4 Das Friaulische
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schreibung wurde erst in jüngster Zeit, 1998, nach zahlreichen Vorarbeiten durch ein Dekret kodifiziert. Zuständig dafür ist die Società Filologica Friulana, die einerseits die Aufgaben einer Sprachakademie hat. Obwohl aber weiterhin keine Varietät dominiert und sich noch kein Standard herausgebildet hat, haben die Sprecher dennoch ein Bewusstsein von einem im allgemeinen Sprachwissen verankerten friulano comune (Frau 2006), das allgemein verstanden wird, aber eben keine einheitliche Gemeinsprache bzw. Koine ist. So ist denn festzustellen, dass das Friaulische schwach standardisiert ist. Dazu kommen Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen alten und jungen Sprechern.
5.4.6 Übernahme in der Gesellschaft Die Provinzen Udine, Pordenone und Görz sind seit 1963 Teil der autonomen Region Venezia Giulia und hatten nach dem Stand vom 31. Juli 2015 1,223 Millionen Einwohner, davon sind ca. 600.000 Sprecher des Friaulischen (nach Wikipedia). Goebl (2003: 762) gibt Schätzungen wieder, die von 400.000 bis 700.000 Sprechern ausgehen. Man kennt also keine genaue Sprecherzahl, stellt aber fest, dass sie rapide abnimmt. Als Symptom kann man die Verwendung des Friaulischen in der Predigt und im Katechismus im 19. Jahrhundert erwähnen, während heute nur wenige Priester auf Friaulisch predigen (Faggin 1984: 167). Die Sprachpolitik ist unterentwickelt. Erst 1996 wurden die Sprecher in der Region, 1999 in Udine und durch ein weiteres Gesetz 2007 alle Friauler als sprachliche Minderheit anerkannt und seitdem kann das Friaulische im Umgang mit Ämtern, als Unterrichtssprache im Kindergarten und in der Grund- und Mittelschule verwendet werden, die Modalitäten als Unterrichtsfach hingegen müssen zwischen den Eltern und der Schule unter Berücksichtigung der lokalen Kulturtraditionen ausgehandelt werden. Der Berichterstatter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass für die Friauler der Ausbau ihrer Sprache und deren Präsenz im Schulunterricht sowie in den Medien nicht die Bedeutung haben, die andere Gemeinschaften, die weit weniger Sprecher haben wie etwa die Ladiner in den Dolomiten und die Bündnerromanen, den ihrigen beimessen. Charakteristisch für diese Situation ist die Sprachpflege, die sich auf mehrere Institutionen verteilt (Heinemann 2016: 137–138), und diese Institutionen stimmen sich kaum untereinander ab. Die Statusplanung ist defizitär: Es gibt keine Tages- oder Wochenzeitung, keine tägliche Fernsehsendung; nur in Privatsendern ist das Friaulische präsent. Wenn man die Überdachung durch das Venezianische hinzunimmt, wurde das Friaulische fünf Jahrhunderte lang durch das Italienische und einen italienischen Dialekt überdacht, was offenbar eine hohe Akzeptanz dieser Situation mit sich gebracht hat. Bedenken wir, dass das Friaulische mit seinem in den Textgattungen hauptsächlich auf die Lyrik beschränkten Ausbau auch noch schwach normalisiert ist und das Bewusstsein, eine eigene Sprache zu sprechen, eher von gelehrten Autoritäten in der
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5 Die romanischen Sprachen
Folge von Ascoli als durch eine Bewegung von unten gestützt wird, gehen wir wohl nicht fehl, wenn wir diese Sprache mit Kloss (21978: 67–70) als „scheindialektalisierte Abstandsprache“ bezeichnen: „Scheindialektalisierbar sind diejenigen Abstandsprachen, die untereinander so nahe verwandt sind, daß zwar keine unmittelbare wechselseitige Verstehbarkeit der Aussage-Inhalte gegeben ist, wohl aber die Sprecher nach kurzer Zeit bemerken, daß es sich um eine der ihren nah verwandte Sprache handeln muß. […] Diese Entwicklung ist eingetreten im Verhältnis von (z. B.) Sardisch und Friulanisch zu Italienisch“ (21978: 68).
Bibliographischer Kommentar
Benincà 1995 behandelt die Beschreibung, Francescato 1970 die Literatursprache, Francescato 1989 die Soziolinguistik, Frau 1984 die Dialekte und Frau 2006 die Sprachpflege des Friaulischen. Einen Überblick über Geschichte, Sprache und Gesellschaft gibt Francescato/Salimbeni 1976. Das Wörterbuch von Faggin (1985) kodifiziert das Friaulische als Sprache, nicht als Dialekt. Vicario 2005 vermittelt Grundwissen in friaulischer Sprache. Heinemann/Luca (a cura di) 2015 gibt den neuesten Stand der friaulischen Linguistik und Heinemann 2016 aktualisiert unsere Kenntnisse von den Normierungsbemühungen. Bremer (Hrsg.) 2015 vermittelt Einblicke in den kulturellen und geschichtlichen Hintergrund des Friauls. Die soziolinguistische Entwicklung beleuchten Picco 2001 und Neuber 2015, wobei Neuber feststellt, dass die Weitergabe der regionalen Traditionen wichtiger ist als die Weitergabe der Sprache.
5.5 Das Ladinische Was die Gemeinsamkeiten des nördlich der oberitalienischen Dialekte gesprochenen Romanisch angeht, sei auf die einleitenden Bemerkungen zum Friaulischen (5.4) verwiesen. Die Sprache, um die es in diesem Abschnitt geht, wird in verschiedener Weise benannt. Der Name „Ladinisch“ bezieht seine Berechtigung aus der Tatsache, dass die Sprecher ihre Sprache so nennen. Um dieses Ladinisch aber von dem im Engadin gesprochenen Ladinisch zu unterscheiden, wird es differenzierend von den Sprachwissenschaftlern auch Dolomitenladinisch oder Sellaladinisch genannt. Die Sprache hat ca. 27.000 Sprecher. Sie leben in den Dolomitentälern rund um das Sella-Massiv. Das sind das Grödnertal und das Gadertal, die zu Südtirol bzw. der Provinz Bozen gehören, das in der Provinz Trient liegende Fassatal, und Buchenstein in der Provinz Belluno. Im weiteren Sinne zählt man dazu das obere Cordevoletal, die Gegend von Cortina d’Ampezzo und Cadore. Die Region wurde nach der Eroberung unter Augustus von 15 v. Chr. an romanisiert, ein Prozess, der mit dem Ende des weströmischen Reichs 476 und unter dem ostgotischen König Theoderich zum Abschluss kam. Eine anfängliche Orientierung der Diözesen, zu denen die Täler gehörten, nach Süden wurde in der Folge der bayrischen Kolonisierung auf die Erzdiözese Salzburg ausgerichtet. Damit einher ging die Zugehörigkeit der ladinischen Talschaften teils zum Hochstift Brixen, teils direkt zur Grafschaft Tirol, bis Tirol 1363 Teil der österreichischen Lande wurde.
5.5 Das Ladinische
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Im 19. Jahrhundert begann die sukzessive Fragmentierung der ladinischen Gebiete. 1810 wurden Gröden und Fassa aus der Diözese Brixen herausgelöst und in die Diözese Trient eingegliedert. Da bis 1918 das Land die Geschicke der Donaumonarchie teilte, musste Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg Südtirol und damit auch die ladinischen Talschaften an Italien abtreten. Dadurch wurde eine deutsche Überdachung durch eine deutsche und italienische Überdachung abgelöst, so dass die Ladiner des Grödner- und Gadertals zweisprachig und diejenigen der übrigen Täler dreisprachig geworden sind. Das Gebiet des Dolomitenladinischen hat kein allen Talschaften gemeinsames Zentrum. Das Volk der Ladiner wurde in den Jahren 1923 und 1927 auf die drei italienischen Provinzen Bozen, Trient und Belluno verteilt. Der Status ihrer Sprache ist daher äußerst verschieden: Die Ladiner des Gader- und Grödnertals in Südtirol sind seit dem zweiten Autonomiestatut als Minorität anerkannt und im Bozener Landtag sowie im Trientiner Regionalrat mit zwei Abgeordneten vertreten. Seit 1989 ist das Ladinische dort als Verwaltungssprache anerkannt. Die in der Provinz Belluno lebenden ca. 1.300 Buchensteiner und Ampezzaner sind noch nicht als Minderheit anerkannt, eine Folge dessen, dass die Provinz Belluno zur Region Veneto gehört. Entsprechend der Verteilung auf Talschaften, die die Kontakte untereinander erschwert, wird das Ladinische in starker diatopischer Verschiedenheit gesprochen und folglich nach unterschiedlichen Traditionen geschrieben. Eine Rechtschreibung musste geschaffen werden, weil es Schulfach wurde, aber diese folgte nach dem Zweiten Weltkrieg wechselnden, Verwirrung stiftenden Grundsätzen. Wie für das Bündnerromanische wurde für das Ladinische die Schaffung einer gemeinsamen Schriftsprache angestrebt. Zunächst wurde 1984 eine Kommission eingesetzt, die eine phonologisch konzipierte Schreibung schuf und ihre Arbeit 1987 beendete. Kurz darauf wurde eine allen Varietäten gemeinsame Schriftsprache geplant, deren Grundlagen auf Heinrich Schmid (1994) zurückgehen. Das Projekt Servisc de Planificazion y Elaborazion dl Lingaz Ladin (SPELL) arbeitete nach Schmids Grundsätzen die Schriftsprache Ladin Dolomitan aus (Vögeli 1996). 1989 wurde das Ladinische Amtssprache in den Talschaften der Provinz Bozen, 1994 im Fassatal. Seit 1999 genießt es mit den anderen Minderheitensprachen des Staats einen gesetzlich verbürgten nationalen Schutz. Es findet in der Presse sowie im Radio und Fernsehen Südtirols Verwendung. Die Dachorganisation Union Generala di Ladins dla Dolomites vertritt kulturelle Vereinigungen und gibt selbst Bücher und Zeitschriften heraus, so die zweimal monatlich ausschließlich in ladinischer Sprache erscheinende La Usc di Ladins. Zur Verbreitung von Lyrik und Erzählungen tragen Kalender bei. In den Provinzen Bozen und Trient arbeiten die ladinischen Kulturinstitute an einer sprachlichen Bestandsaufnahme. Solche Aktivitäten fehlen in der Provinz Belluno.
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5 Die romanischen Sprachen
Bibliographischer Kommentar
Gsell 1994 thematisiert die allgemeine Problematik des Ladinischen. Goebl 2003 stellt sie im Zusammenhang mit dem Bündnerromanischen und Friaulischen dar, Belardi 1991 die soziolinguistische Geschichte dieser Sprache, mit Belardi 32003 gefolgt von einer Geschichte der Sprache und Literatur. Kramer 2008 gibt eine knappe Gesamtskizze der Sprache.
5.6 Das Bündnerromanische Den Grund, weshalb ich entgegen der älteren Tradition das Bündnerromanische wie auch das Friaulische und das Ladinische getrennt behandle, habe ich beim Friaulischen dargelegt (5.4).
5.6.1 Das Sprachgebiet Bündnerromanisch spricht man nördlich des Alpenkamms in Graubünden. Die fünf Dialektgebiete werden durch die europäische Wasserscheide zwischen Inn und Rhein getrennt: Das Ladinische spricht man im Inntal, das nach dem ladinischen Namen des Inns, En, Engadin genannt wird. Das Ladinische des Unterengadins heißt auch Puter, das Oberengadinische daneben Vallader. Das Oberhalbsteinische oder Sur meirische ist die Sprache einiger Täler, deren Wasser nördlich der Via Mala in den Hinterrhein fließen. Das im Hinterrheintal gesprochene Romanisch ist das Sutselvische oder Unterwaldische, das Romanisch des Vorderrheintals ist das Surselvische oder Oberwaldische. Der die Surselva von der Sutselva trennende Wald, der den beiden Gebieten den Namen gibt, ist der Flimser Wald, in dessen Nähe Vorderrhein und Hinterrhein zusammenfließen.
5.6.2 Romanisierung und Kontakt mit dem Deutschen 15 v. Chr. wurde die römische Provinz Raetia gegründet, von dieser Zeit an kann eine Romanisierung stattgefunden haben. Ob sie aber wirklich so früh eintrat oder erst in der Spätantike oder im frühen Mittelalter, ist kaum durch lateinische Inschriften oder sonstige Zeugnisse dokumentiert. Es ist nicht klar, ob Graubünden vom Süden aus oder vom Norden her durch Kelten und Räter romanisiert wurde. Es spricht für einen relativ früh eingetretenen Prozess, wenn man sich am Zeugnis einer älteren Latinität orientiert, wie sie uns in incipere ‚anfangen‘ > surs. entscheiver und basilica > surs. baselgia ‚Kirche‘ begegnet, Wörter, die sonst nur noch im Rumänischen erhalten sind (a începe, biserică). Das Wort für ‚beten‘ ist orare > surs. urar, nicht precari wie im Allgemeinen. Das gesprochene Lateinisch kam in Kontakt mit dem Keltischen und überlagerte, wahrscheinlich nur im Unterengadin, die Sprache der Räter, von der man nicht weiß,
5.6 Das Bündnerromanische
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ob sie eine indogermanische oder vorindogermanische Sprache war, da die vorrömischen Sprachen Graubündens kaum bekannt sind. Es lassen sich aber wohl, neben Ortsnamen, einige Wörter auf die vorrömischen Sprachen zurückführen. Die zwischen Bodensee und Alpenraum liegenden romanisierten oder im Prozess der Romanisierung befindlichen Gebiete waren früh germanischen Einflüssen ausgesetzt. Die Alemannen fielen von der Mitte des 4. Jahrhunderts an ein. Das Bistum Chur, dessen Existenz 451 zum ersten Mal belegt ist, gehörte zum Reich der Franken, nach 843 zum Reich Ludwigs des Deutschen und es teilte die Geschicke dieses Reichs über viele Jahrhunderte. Das Deutsche in der Gestalt des Alemannischen drang von Norden nach Süden vor, die Oberschicht begann zum Deutschen überzugehen und vom Ende des 13. Jahrhunderts an besiedelten ferner die deutschsprachigen Walser, die aus dem Oberwallis auswanderten, die Hochtäler Graubündens, von wo aus sie in tiefer gelegene Talregionen vordrangen. Die Zeit der Gründung der Drei Bünde, des Gotteshausbunds (1367), des Grauen oder Oberen Bunds (1424) und des Zehngerichtebunds (1436), fiel mit dem starken Vordringen des Deutschen zusammen. Der Wiederaufbau Churs nach dem Stadtbrand von 1464 brachte mit dem Zuzug von Handwerkern dort ebenfalls die Dominanz des Deutschen mit sich. Damit ging dem Bündnerromanischen sein natürliches Zentrum verloren. Der Partikularismus der Täler wurde seitdem nicht mehr durch ein regionales Zentrum überwunden. Die Verhandlungssprache der Drei Bünde war von Anfang an das Deutsche. Im 15. Jahrhundert wurde diese Sprache im Rheintal nördlich von Chur, in der Oberschicht der Bünde und von den Walsern gesprochen. Es fand ein Wechsel vom Lateinischen zum Deutschen als Sprache der Rechtspflege statt. Die Mehrheit der Bevölkerung im Raum der Drei Bünde sprach jedoch weiterhin Romanisch. Südlich des Alpenkamms wurden Dialekte gesprochen, die heute dem Italienischen zugeordnet werden. Die Schriftzeugnisse aus der Zeit zwischen dem 10./11. und dem 14. Jahrhundert belegen, dass das Romanische, allerdings in zwei Fällen außerhalb seines heutigen Verbreitungsgebiets, verschriftet worden ist. Modell war im Sprachzeugnis von 1389 aus dem Münstertal neben dem Lateinischen das Deutsche. Schon vor dem Beginn der kontinuierlichen Schrifttradition des Bündnerromanischen muss diese Sprache ihre tiefe Prägung durch den Kontakt mit dem Deutschen erfahren haben. Für den frühen Einfluss werden Entlehnungen wie ahd. liut > surs./ suts./eng. glieud, surm. gliout ‚Leute‘ und ahd. wald > surs. uaul, suts. gòld, vòld, surm. gôt, eng. god ‚Wald‘ angeführt. Ein evidenteres Zeugnis dafür sind in der Sprachstruktur die Partikelverben, der Konjunktivgebrauch und die Satzgliedfolge nach deutschem Muster. Phänomene wie diese sind nicht durch bloßen Kulturkontakt zu erklären, mag er auch sehr lange angedauert haben. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass ein bedeutender Teil der romanischen Bevölkerung in der Lage war, zwischen dem (Schweizer-)Deutschen bzw. Alemannischen oder, weiter östlich, einer Tiroler Mundart und dem Romanischen hin und her zu wechseln. In dieser Hinsicht sind die bündnerromanischen Dialekte und Schriftsprachen Kontaktvarietäten par excellence. Anders als Kontaktvarietäten im romanischen Raum wie das Asturianische oder das
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5 Die romanischen Sprachen
Aragonesische erlauben die bündnerromanischen Kontaktvarietäten ihren Sprechern ihre Identität gegenüber einer dominanten Sprache wie dem Deutschen stärker zu wahren, als dies unter dem Dach einer romanischen Sprache möglich wäre. Der Preis dafür ist die starke Beeinflussung durch das Deutsche. Die Kontaktvarietäten haben jedoch auch ihren funktionellen Ertrag: Durch eine gewisse Homologisierung der Sprachstruktur ist es für die Sprecher leichter, zwischen dem Bündnerromanischen und dem Deutschen hin und her zu wechseln.
5.6.3 Die Verschriftungen des Bündnerromanischen Die Romanen Graubündens verschrifteten ihre Sprache im Raum der Drei Bünde zur Zeit politischer Unabhängigkeit nach Talschaften und nach Konfessionen getrennt zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert. Da man das Lesen und Schreiben mit religiösen Schriften lernte, wurden neben der ohnehin vorhandenen diatopischen Verschiedenheit konfessionell verschiedene Schreibsprachen prägend. Dieses neue religiöse und politische Bewusstsein entstand mit der Einführung der Reformation durch den Zwinglianer Johannes Comander (1484–1557), der 1523 Pfarrer an St. Martin in Chur wurde. Die Reformation wurde wie überall in der Volkssprache gepredigt. Da sie unter den Romanen im Engadin begann, sind die ältesten schriftsprachlichen Zeugnisse engadinisch. Die ersten Autoren waren humanistisch gebildet, was eine gewisse Distanz ihrer Schriften zur gesprochenen Sprache mit sich gebracht haben mag. Das Sprachbewusstsein wird durch die politische Unabhängigkeit der Drei Bünde gestärkt worden sein. Der erste längere überlieferte Text ist ein kurzes episches Gedicht von 704 Versen aus dem Oberengadin, die Chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (‚Lied vom Krieg um die Burg Musso‘), die Gian Travers aus Zuoz (1483–1563) 1527 schrieb. Thema des Gedichts ist die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Bündnern und Gian Giacomo de’ Medici, mit dem Beinamen “il Medeghin”, einem Gefolgsmann des Herzogs von Mailand, Francesco Sforza, die 1525 und 1526 ausgetragen wurde. Travers und die mit ihm ausgezogenen Bündner gerieten in Gefangenschaft in Müss oder Musso am oberen Comer See. Da ihnen die Gefangenschaft von ihren eigenen Leuten zum Vorwurf gemacht worden war, dichtete Gian Travers seine Chianzun zur Rechtfertigung. Damit ist die Wahl des Engadinischen zu begründen. Wie aus dem Gedicht hervorgeht, ist die Chianzun nicht das erste Werk dieser Art in Graubünden, und hatte wohl eher deutsche als italienische Vorbilder. Travers verfasste ferner Übersetzungen von Dramen mit biblischen Themen. Bedeutender als er war für den Ausbau der oberengadinischen Schriftsprache jedoch Giachem Bifrun (1506–1572) aus Samedan. Er schrieb unter anderem einen Katechismus, vor allem übersetzte er aber das Neue Testament (I’g Nuof Sainc Testamaint da nos Signer Jesu Christ, 1560). Das Unterengadin folgte im Jahre 1562 mit Ün cudesch da Psalms (‚Ein Psalmenbuch‘) des Reformators Durich Chiampel, das Nachdichtungen von deutschen Kir-
5.6 Das Bündnerromanische
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chenliedern und einige eigene Kirchenlieder enthält. Daneben wurden weitere der religiösen Erbauung und der konfessionellen Polemik dienende Schriften vom Anfang des folgenden Jahrhunderts an gedruckt. Das Engadin war eher reformiert, die Surselva eher katholisch, denn jede Gemeinde konnte für sich über ihre Konfession entscheiden. Die Verschriftung des Bündnerromanischen in den Rheintälern hatte, da sie später einsetzte, die engadinische Schriftsprache zur Voraussetzung. Als Daniel Bonifaci (ca. 1574–1636) aus Fürstenau im Domleschg seinen aus dem Deutschen übersetzten Katechismus (von Johann Pontisella) Curt mussamaint dels principals punctgs della Christianevla Religiun (‚Kurze Unterweisung in den Hauptpunkten der christlichen Religion‘) 1601 in Lindau veröffentlichte, bediente er sich in seinem Sutselvisch einer ladinisch geprägten Orthographie. Die Verschriftung des Surselvischen, der nach dem Engadinischen bedeutendsten Schriftsprache, ging von den evangelischen Pfarrern aus, die aus dem Engadin gebürtig waren. Wichtig für die weitere Entwicklung war, dass die surselvische Schriftsprache in konfessionell verschiedener Gestalt verschriftet wurde, einer engadinisch und protestantisch orientierten, für die Ilg Vêr Sulaz da pievel giuvan (‚Die wahre Unterhaltung des junges Volkes‘) von Steffan Gabriel, 1611 in Basel veröffentlicht, und das von seinem Sohn Luci Gabriel übersetzte Neue Testament traditionsbildend wurden, während die surselvische Schriftsprache der Katholiken vom Lombarden Gion Antoni Calvenzano ausging, dessen sutselvischer Katechismus Curt Mussamaint et Introvidament De Quellas Causas, las qualas scadin fidevel Christian è culpantz de saver (‚Kurze Unterweisung und Anleitung in jenen Dingen, welche jeder gläubige Christ wissen muss‘, 1611) in einer orthographisch und morphologisch italianisierenden Sprache geschrieben war. Calvenzanos surselvische Version dieses Katechismus (1615) ist die Grundlage der katholischen surselvischen Schriftnorm, die auf die Schriftsprache der Katholiken in den übrigen Rheintälern ausstrahlte. Der Volkssprache recht nahe stand die La Passiun de nies Segner Jesu Christi (‚Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus‘, Prag 1672) und Epistolas ad Evangelis sin tuttas domeingias, a firaus, a gijs della quareisma (‚Episteln und Evangelien auf alle Sonntage und Feiertage und Fastentage‘, Chur 1674) von Balzar Alig (1625–1677). Ein Blick auf die Druckorte zeigt das Fehlen eines überregionalen Zentrums. In der Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts spielte das Bündnerromanische keine Rolle, denn die Gründung des Kantons Graubünden (1803) als Teil der Helvetischen Republik während der napoleonischen Herrschaft stärkte weiterhin das Deutsche, das während des 19. Jahrhunderts die mehrheitlich in Graubünden gesprochene Sprache wurde. Das Romanische wird seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Schulen unterrichtet, seit 1914 ist es Pflichtfach für die Bündnerromanen, „Maturitätsfach“ ist es seit 1983. In den Kantonsverfassungen von 1880 und 1892 wurde das Romanische mit dem Italienischen als Landessprache anerkannt. Der irredentistische Wunsch der Italiener nach Vereinnahmung des Bündnerromanischen durch das Italienische führte dazu, dass es 1938 in einer Abstimmung mit 91,6 % Zustimmung zur
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5 Die romanischen Sprachen
vierten Landessprache der Schweiz erhoben wurde (cf. die Diskussion in Salvioni 1917, Jud 1917, Lechmann 2005, Valär 2013). Der Rückgang der Sprecherzahlen spiegelt sich in Aktivitäten zur Erhaltung der Sprache wider. Von 1863 an wurden verschiedene Vereinigungen gegründet, die sich 1919 zur Lia Rumantscha bzw. Ligia Romontscha (‚Romanischer Bund‘) zusammenschlossen. Die Lia Rumantscha übernimmt letztlich die Aufgaben einer Sprachakademie (zu ihrer Geschichte im Rahmen der Sprachbewegung Lechmann 2005). Dem Schwund der Sprecher oder der Bedrohung des Status des Bündnerromanischen durch das Deutsche wurde immer wieder von den Bündnerromanen mit sprachpolitischen und sprachplanerischen Maßnahmen begegnet. Nach einem mehrere Jahrzehnte anhaltenden Streit um die engadinische Rechtschreibung richtete die Lia Rumantscha 1927 auf eine Forderung der Kantonsregierung hin eine Kommission ein, deren Arbeit zum Vorschlag einer stärkeren gegenseitigen Annäherung des Unter- und des Oberengadinischen und eine Hinwendung zur gesprochenen Sprache führte. Die Grundsätze der Kommission wurden von Reto R. Bezzola und Rudolph O. Tönjachen in einem deutsch-ladinischen Wörterbuch (1944) umgesetzt. Der Widerstand gegen diese Reform hielt freilich einige Jahrzehnte an. In der Surselva verlief die Debatte gemäßigter. Sie führte dazu, dass die nach Konfessionen verschiedenen Orthographien fusioniert und etwas mehr der gesprochenen Sprache angeglichen wurden. Das surselvische Wörterbuch von Ramun Vieli und Alexi Decurtins von 1938, das von Decurtins 22001 in einer völligen Neubearbeitung vorgelegt wurde, zeigt das Ergebnis des nach langer Arbeit erreichten Kompromisses. Die Kodifizierung des bündnerromanischen Wortschatzes wurde, nach den fünf Schriftsprachen getrennt, bis 1977 in zweisprachigen Wörterbüchern fortgesetzt. Darin ist klar eine sprachdidaktische Zielsetzung erkennbar: Man will diejenigen Sprecher für das Bündnerromanische retten, die bereits dabei sind, zum Deutschen überzugehen.
5.6.4 Das rumantsch grischun Die weitere Abnahme der Sprecherzahlen in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts führte zur Planung des interrumantsch, dem aber weniger Erfolg beschieden war als dem unter der Leitung von Heinrich Schmid konzipierten rumantsch grischun. Skizzieren wir den unmittelbaren Kontext dieser neuen Standardisierung. Das Bündnerromanische hatte für ungefähr 50.000 Sprecher, davon nur 38.000 in Graubünden, fünf Schriftsprachen. Als sich in der Volkszählung von 1980 herausstellte, dass die Sprecherzahlen noch weiter zurückgegangen waren, sah man in der Schaffung einer einzigen Schriftsprache für die gesamte Sprachgemeinschaft eine Verbesserung der Überlebenschancen. Die Lia Rumantscha beauftragte 1981 den Deutschschweizer und Zürcher Heinrich Schmid mit der Schaffung einer einheitlichen Standardsprache für das gesamte bündnerromanische Sprachgebiet, da er als
5.6 Das Bündnerromanische
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Nichtromane hoffen durfte, von allen Bündnerromanen akzeptiert zu werden. Dies war der Fall, obwohl Schmid seinen Vorschlag in Abstimmung mit den verschiedenen Sprechergruppen ohne jegliche sprachpolitische Verbindlichkeit erarbeitete. Sein Entwurf trägt den Titel Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerromanischen Schriftsprache rumantsch grischun (1982, mit einer zweiten Fassung in demselben Jahr). Das oberste Kriterium war die Verständlichkeit im gesamten Sprachgebiet. Die „Ausgleichssprache“ umfasste in erster Linie Regeln zur Lautung, ferner auch Morphologie, Syntax, Wortschatz und Wortbildung. Unter der Leitung von Georges Darms wurden nach Vorarbeiten ein Wörterbuch und eine Elementargrammatik ausgearbeitet (1985). Die Akzeptanz der neuen Standardsprache war, wenn man die Ausgangsbedingungen bedenkt, überraschend gut. Aus praktischen und ökonomischen Gründen wurde die Standardsprache bereitwillig von der Verwaltung, besonders dem Bund, von Wirtschaft und Handel, von Dienstleistungsunternehmen, Vereinen und Verbänden aufgenommen, die sich damit durch eine Übersetzung ins Rumantsch Grischun eine Übersetzung in fünf Sprachen ersparten. Was die Kodifizierung angeht, wäre das Romanische Mittelbündens, das Sutselvische und Surmeirische (Surmiran), wegen seiner sprachlichen Mittelstellung und der geringeren Ablehnung durch die Sprecher der anderen Gebiete, also die Surselva im Westen und das Engadin im Osten, als Grundlage geeignet erschienen. Das Surmeirische weist jedoch auch sprachliche Züge auf, die in der Mehrheit der anderen Sprachgebiete nicht vorkommen, und das Sutselvische hat als allgemeine Grundlage eine zu geringe Sprecherzahl. Das sprachlich konservative Surselvisch, das die meisten Sprecher hat, wird in den anderen Regionen, besonders im Engadin, wenig akzeptiert. Für die Standardisierung verwendete Schmid in der Hauptsache die bereits vorhandenen Schriftsprachen, die er nach den am meisten verbreiteten Merkmalen vereinfachte. Unter den fünf Schriftsprachen eigneten sich dafür vor allem das Surselvische, das Unterengadinische und das Surmeirische. Den Ausgleich nahm er nach dem Merkmal mit der weitesten Verbreitung vor. Divergierten das Surselvische und das Unterengadinische, entschied er sich für das Surmeirische. Aus dem Vergleich von surs. cor ‚Herz‘, untereng. cour und surm. cor ergibt sich zum Beispiel als Form des Rumantsch Grischun cor. Das Rumantsch Grischun entspricht im Allgemeinen dem Surmeirischen, jedoch ohne seine divergierenden Merkmale. Der Mediopalatal /tʃ/ wird am Wortanfang , sonst geschrieben: chasa ‚Haus‘, notg ‚Nacht‘. Entgegen der Mehrheit der Schriftsprachen wird bevorzugt: chaussa ‚Sache‘ (lat. causa), aber auch aut ‚hoch‘ (lat. altum), unter Berücksichtigung der Mundarten. Wenn alle drei Schriftsprachen eigene Lösungen hatten, wurde auch auf das Oberengadinische und das Sutselvische zurückgegriffen. In jedem Fall wurden aber die Varianten eines vergleichbaren Merkmals zusammengestellt und eine einzige Variante selegiert. In der Morphologie werden die Feminina der Substantive und Adjektive einheitlich auf -a gebildet, das Pluralmorphem ist -s. Die wenigen Plurale des Maskulinums auf -i und das prädikative -s im Singular des Surselvischen wurden der Einheit geop-
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5 Die romanischen Sprachen
fert. Lexemvarianten wie in surs. nief, novs ‚neu‘ wurden zu nov, novs vereinheitlicht. Besondere Problemfälle, die mit Kriterien nicht zu klären waren, wurden in Kompromisslösungen ausgehandelt. Zur Überraschung des Sprachplaners Schmid erwies sich die Ausgleichssprache für Hörer sehr gut verständlich. Das Rumantsch Grischun wurde 1996 Amtssprache des Bundes für romanische Bündner und durch das kantonale Sprachgesetz von 2001 nach einer Abstimmung mehrheitlich als Amts- und Verwaltungssprache angenommen. An den Primarschulen, für die die Kompetenz bei den Gemeinden liegt, hatte sich die Hälfte 2009/2010 für das Rumantsch Grischun entschieden; einige davon sind aber wieder zur regionalen Schriftsprache zurückgekehrt. An den Gymnasien wird es dagegen gelehrt. Ob es sich als Schulsprache durchsetzt, ist noch offen.
5.6.5 Die gegenwärtige Situation Die Bündnerromanen müssen eine komplexe sprachliche Situation bewältigen: Ihre erste Sprache ist ihre Mundart. Ihre Sprachloyalität verbindet 47 % der Romanen mit dem Ortsdialekt, 34 % mit dem Romanischen der Region und nur 13 % fühlen sich der gesamten romanischen Sprachgemeinschaft verbunden. Die Romanen nehmen eher die Unterschiede zwischen den Ortsdialekten wahr als die Gemeinsamkeiten (Gloor et al. s. a.: 36–37). In den Schulen der Gemeinden mit romanischer Mehrheit lernen sie ihre Schriftsprache und das Hochdeutsche. Im allgemeinen Umgang kommt das Schweizerdeutsche hinzu. Es ist verständlich, dass viele Bündnerromanen das Rumantsch Grischun als eine weitere Belastung ihrer ohnehin schon komplexen Sprachsituation ansehen. Der Gewinn liegt aber in der größeren Reichweite der Kommunikation in einer eigenen Sprache bei Erhaltung der sprachlichen Identität. Die sich in romanischer Form und deutschen Inhalten ausdrückende Germanisierung geht unter diesen Bedingungen weiter: Als beispielhaft mögen die Lehnübersetzung suts. dretgànghel ‚Rechteck‘ und die Lehnbedeutung suts. disgir ‚versagen‘, von den Kräften gesagt, angeführt werden. Nach der Volkszählung von 1990 war die am besten beherrschte Sprache das Romanische bei 30.000 Personen in Graubünden, das sind 17 % der Bevölkerung des Kantons, in der übrigen Schweiz ferner 10.000. Es war Umgangssprache von 41.092 Personen in Graubünden, in der übrigen Schweiz waren es 25.264, zusammen 66.356 Personen. Im Vergleich dazu: Die am besten beherrschte Sprache war es nur für 39.632 Menschen. 2005 war für nur noch 35.095 Personen die Hauptsprache Romanisch. Den kulturellen Erfolg der Bündneromanen sollte man nicht geringschätzen: Für ein Volk von knapp 40.000 Sprechern, die eher in traditionellen Berufen tätig sind als stärker verstädterte Bevölkerungen, entfalten sie erstaunliche kulturelle Aktivitäten.
5.7 Das Rumänische
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Bibliographischer Kommentar
Der bedeutende Umfang der Bibliographie zum Bündnerromanischen steht in keinem direkten Verhältnis zur Sprecherzahl. Die Bündnerromanen treten sehr aktiv für ihre Sprache ein, was sich in einer vielseitigen und interessanten Fachliteratur widerspiegelt. Die meisten wissenschaftlichen Schriften sind allerdings aus naheliegenden Gründen in deutscher Sprache veröffentlicht worden. Es gibt jedoch trotz Billigmeier 1983 noch keine eigentliche Geschichte des Bündnerromanischen. Über die Kodifizierung berichtet Schmid 1985 nach den Richtlinien von Schmid 1982. Über die Akzeptanz des Rumantsch Grischun informieren Diekmann 1988 und 1991 und über die Sprachpflege allgemein Darms 2006. Einen Situationsbericht zu geben hat sich Catrina 1983 vorgenommen. Ich verweise noch einmal auf die Einführung von Liver (1999). Eine allgemeine Information gibt Gross/Cathomas/Furer 1996; diese Schrift enthält die offizielle Sicht der Lia Rumantscha. Eine recht ausführliche Einführung ist in den Beiträgen von Stimm/Linder, Liver, Kristol, Darms, Holtus, Ebneter, Lutz und Dazzi/Gross im LRL III (1989) enthalten. Der Übergang von der deutsch-romanischen Zweisprachigkeit zur Einsprachigkeit am Beispiel von Bonaduz wird genau dokumentiert von Cavigelli (1969). Valär 2013 arbeitet die ländliche Ideologie der Heimatbewegung um den Unterengadiner Dichter und Heimatschützer Peider Lansel (1863–1943) im europäischen, besonders im katalanischen und okzitanischen Kontext heraus. Ihm gelang es, die Heimatbewegung in die helvetische Identität zu integrieren, die durch den italienischen Irredentismus bedroht worden war, und das Romanische durch die Abstimmung von 1938 zur vierten Landessprache zu erklären.
5.7 Das Rumänische ‚wir gehen von der Vorstellung aus, die der Wirklichkeit entspricht, dass der lateinische Ursprung unserer Sprache eine Wahrheit ist, die schon seit Langem niemand mehr bestreitet, und deshalb scheint es uns nicht notwendig zu sein, uns mit ihr aufzuhalten. Leider wird oft absichtlich, öfter aber aus Unwissenheit der Ursprung der Sprache mit dem Ursprung des Volks, das sie spricht, verwechselt. In unserem Fall setzt sich letztere Vorstellung auf Kosten der anderen durch‘ (Iordan 1983: 8; meine Übersetzung).
5.7.1 Die Frage der Herkunft des Rumänischen aus dem Lateinischen Unter den romanischen Sprachen nimmt das Rumänische, wie das Französische und die alpenromanischen Sprachen, eine Sonderstellung ein. Zur Charakterisierung der Phonologie und Morphonologie verweise ich auf 2.2.1.6, ein Sprachbeispiel wird mit seiner Grammatik im Zusammenhang mit anderen romanischen Sprachen in 2.3 behandelt. Auf die Ethnogenese der Rumänen und die Herausbildung des Rumänischen gehe ich in 4.6.1 ein. Nach der slavischen Einwanderung war kein Kontakt mit dem Schriftlateinischen mehr möglich. Stattdessen kamen das gesprochene Lateinisch und später das Rumänische in Kontakt mit dem Griechischen, sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit, besonders zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert, den slavischen Sprachen, dem Türkischen, dem Ungarischen und dem Deutschen. Dennoch haben die Rumänen das Bewusstsein einer von den anderen Sprachgemeinschaften verschiedenen Sprache
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5 Die romanischen Sprachen
bewahrt, wie es sich im Sprachennamen român erhalten hat. Das Rumänische konnte aber nicht wie die anderen romanischen Sprachen in einen Gegensatz zum Lateinischen treten, da es nicht wie sie von dieser Sprache überdacht wurde. Die Kontinuität der Ansässigkeit der Rumänen in den Gebieten, die sie heute bewohnen, diente seit dem 18. Jahrhundert der Legitimierung ihrer Herrschaft über das Land und ist ihnen im Laufe ihrer Geschichte vielfach bestritten worden. Fragen der Geschichte und der Sprachgeschichte sind daher, weil sie eine sprachideologische Relevanz haben, nicht voneinander zu trennen. Die wechselhafte politische Zugehörigkeit der rumänischen Länder muss folglich trotz ihrer Komplexität berücksichtigt werden wie auch die Wanderbewegungen, die ebenfalls zur heutigen Verteilung der rumänischen Sprachgemeinschaften auf der Balkanhalbinsel beigetragen haben. Die Geschichtsschreibung und die Philologie sind für die Rumänen von weit größerer Bedeutung als für andere romanische Völker, die ihre Identität sehr früh im Prozess der Ablösung vom Lateinischen und in der gegenseitigen Abgrenzung von anderen romanischen Sprachen gefunden haben. Die für die Gemeinschaften der Romania continua spätestens um 1600 bewiesene, aber im Grunde ununterbrochen angenommene Herkunft aus dem Lateinischen oder wenigstens der Zusammenhang mit ihm wie bei Dante (1968) musste in der eine andere Schriftsprache als das Rumänische verwendenden Sprachgemeinschaft immer erst noch geschichtlich und sprachgeschichtlich bewiesen werden. Während die anderen romanischen Sprachen sich vom Lateinischen zu emanzipieren suchten, war für die Rumänen die Anbindung daran zugleich Ausdruck der Dignität ihrer Sprache. War in Frankreich, in Italien, in Spanien die Selektion der Sprachnorm die zentrale Frage, der die Grammatiker nachgingen, hatten die rumänischen Gelehrten vorab noch den Beweis zu erbringen, dass das Rumänische überhaupt lateinischen Ursprungs ist. Als entscheidende Zeit für die Geschichte des Rumänischen werden wir deshalb die Epoche der rumänischen Aufklärung ansehen, in der die Kodifizierung die Darstellung der rumänischen Geschichte zwischen der Eroberung durch Trajan und dem 10. Jahrhundert ebenso zur Voraussetzung hat wie die Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem Lateinischen und dem Rumänischen mit Hilfe der diachronischen Grammatik. Darin unterscheidet sich die frühe rumänische Philologie grundsätzlich von den Aufgaben der älteren Grammatiker in den anderen romanischen Sprachgemeinschaften, die eine bereits aus außersprachlichen Gründen selegierte Sprachnorm kodifizieren konnten. Die regionalen Unterschiede des Rumänischen werden dagegen kaum bei der Kodifizierung problematisiert, weil sie nicht bedeutend waren und gegenüber den anderen, wichtigeren Unterschieden zurücktraten. Zu letzteren gehörte die Überfremdung durch Entlehnungen aus dem Slavischen, das in Gestalt des Altbulgarischen den größten Einfluss ausübte, dem Griechischen, dem Ungarischen, dem Türkischen, dem Deutschen und anderen Sprachen, mit denen das Rumänische in Kontakt gekommen war. Sie beschränkten sich nicht auf den Wortschatz. An den Entlehnungen kann man den Unterschied zwischen der für die Entwicklung der rumänischen Standardsprache relevanten Sprachbetrachtung und Philologie zeigen im Vergleich zu einer Philolo-
5.7 Das Rumänische
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gie und Sprachwissenschaft, die ihre Interessen ausschließlich auf wissenschaftliche Probleme beschränkt. Solange die historische philologische Untersuchung – wie in der weiter unten zu besprechenden Siebenbürger Schule – dazu führt, die Fremdwörter durch lateinische und romanische Elemente zu ersetzen, steht sie im Dienste der Sprachpolitik und der Sprachplanung. Eine rein sprachwissenschaftliche Untersuchung stellt sich dieselben Entlehnungsprobleme als Phänomene des Sprachkontakts im Rahmen der Balkanlinguistik (Sandfeld 1930; Solta 1980). Ungeachtet dieses Unterschieds in der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Standardsprache ist diese Disziplin für das rumänische Selbstverständnis und den rumänischen Nationalismus fundamental. Zur Ausbildung einer Standardsprache (rum. limba literară) sind die Rumänen später gekommen als die übrigen Romanen, die Nationalstaaten herausgebildet haben. Ihre Besonderheit ergibt sich aus der Behauptung der Latinität des Rumänischen und aus den sprachplanerischen Entscheidungen von der Siebenbürger Schule (rum. Şcoala ardeleană) an, deren Gründer Samuel Micu, Gheorghe Şincai und Petru Maior waren.
5.7.2 Die Entlehnungen und ihre geschichtlichen Bedingungen Die Entlehnungen (dazu einführend Schroeder 1989) haben den ursprünglichen lateinischen Wortschatz tiefgreifend umgestaltet. Die ältesten massiven Entlehnungen stammen aus dem Slavischen, sodann zu allen Zeiten aus dem Griechischen, aus dem Türkischen, dem Ungarischen und dem Deutschen in Siebenbürgen. In Bessarabien (rum. Basarabia) wurde der rumänische Wortschatz durch das Russische beeinflusst. Außerhalb der Moldauischen Republik und Rumäniens kennen das Aromunische in Nordgriechenland, Albanien und Makedonien und das Meglenorumänische in Nordgriechenland und Makedonien noch stärkere Einflüsse aus dem Griechischen sowie dem Bulgarischen, das Istrorumänische in Slowenien aus dem Serbokroatischen und dem Deutschen. Mit dem Wissen um die Romanität des Rumänischen wurde der Wortschatz in unterschiedlicher Ausrichtung reromanisiert, zuerst durch Entlehnungen aus dem Italienischen, später dem Französischen. Entlehnungen aus dem Lateinischen gelangten über diese beiden Sprachen und das Deutsche ins Rumänische. Durch die ungarische Herrschaft kamen vom 10. und 11. Jahrhundert an das Rumänische und das Ungarische in Kontakt. Die Entlehnungen aus dem Ungarischen ins Rumänische gehen auf das 11. und 12. Jahrhundert zurück (cf. für ‚Stadt‘ rum. oraş aus ung. város).
Abb. 5.4: Rumänien (Quelle: HSK 23.1: 746)
648 5 Die romanischen Sprachen
5.7 Das Rumänische
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5.7.3 Die rumänischen Länder bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts Rumänische Staaten entstanden, wie erwähnt, zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert: 1330 machte sich die Ţara Românească (dt. Walachei) von der ungarischen Oberherrschaft unabhängig und 1359 bzw. 1364–1365 die Moldau. Das Wojewodat Transsilvanien (dt. auch Siebenbürgen, rum. Ardeal), das Banat (rum. Banatul), die Kreisch (rum. Crişul, ung. Körös), die Marmarosch (rum. Maramureş, ung. Máramures) gelangen nach mehreren Jahrhunderten Unabhängigkeit unter ungarische Herrschaft. Man nimmt an, dass die Trennung der rumänischen Sprachräume – das sind das Dakorumänische, das Makedorumänische, das Meglenorumänische und das Istrorumänische – im 11.–12. Jahrhundert, spätestens im 14. Jahrhundert vollzogen wurde und auch die Differenzierung innerhalb des Dakorumänischen zwischen den heute noch in Muntenien, dem Banat, in Siebenbürgen, der Kreisch und der Marmarosch gesprochenen Dialekten. In dieser Zeit drangen Rumänen, genauer gesagt, die späteren Istrorumänen, in Dalmatien und auf der Halbinsel Istrien ein. Innerhalb dieser Sprachräume blieben nur zwischen dem Makedorumänischen und dem Meglenorumänischen Beziehungen bestehen. Nach Osten hin breiteten sich die Rumänen über den Dnjestr und Dnjepr hinaus bis zum Schwarzen Meer aus, jedoch nicht in geschlossenen Siedlungsgruppen. Die Türken drangen zwischen dem Ende des 14. und dem 16. Jahrhundert in diesem Raum vor und brachten zuerst die Moldau, dann die Walachei unter ihre Oberhoheit. Die Moldau stand aber auch unter polnischem Einfluss. Österreich besetzte im Großen Türkenkrieg (1683–1699) nach der Beendigung der Belagerung Wiens durch ein Entsatzheer 1699 Siebenbürgen, 1718 für etwas mehr als zwei Jahrzehnte auch das Banat und Oltenien. Dies hatte eine deutschsprachige Kolonisierung zur Folge. Das Rumänische blieb im Allgemeinen überall die Sprache der Bauern, doch bildete sich in Siebenbürgen im 18. Jahrhundert darüber hinaus eine rumänische Bürgerschicht heraus. Die Moldau stand von 1711 an, die Walachei von 1714 bis 1821 unter türkischer Oberhoheit, die von den griechischen Phanarioten ausgeübt wurde. Es wanderten viele Griechen ein und das Neugriechische konnte, wie auch weiterhin das Türkische, den rumänischen Wortschatz beeinflussen. 1812 kam Bessarabien an Russland. In dieser Zeit hatte das Land keinen Zugang zur rumänischen Schriftsprache. Nach dem Krieg mit der Türkei hielten die Russen bis 1834 die beiden rumänischen Fürstentümer besetzt.
5.7.4 Die rumänische Schriftsprache zwischen Dialekten und Altkirchenslavisch Kommen wir nun zu den Bedingungen, unter denen sich die rumänische Standardsprache herausbildete. Die Voraussetzung dafür war das Zustandekommen einer dakorumänischen Sprachlandschaft, die durch Dialektmischung erklärt wird. Die
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Dialektmischung wäre nach dieser Auffassung durch Zuzug aus Gebieten südlich der Donau und aus Siebenbürgen bis zum 15. Jahrhundert zu motivieren wie auch durch Transhumanz. Einen direkten Zugang zu diesen geschichtlichen Vorgängen gibt es nicht, da keine Quellen existieren. Das Rumänische bildete sich als Schriftsprache wahrscheinlich vom 15. Jahrhundert an in Siebenbürgen, in der Marmarosch und in der Nordmoldau aus. Rumänische Texte aus dieser Zeit sind allerdings nicht überliefert. Aber allein schon die Verschriftung des Rumänischen setzte einen kulturellen Wandel voraus, für den von der orthodoxen Kirche kaum Unterstützung zu erwarten war: Die Rumänen Siebenbürgens nahmen zwar früh Elemente der staatlich propagierten Reformation Martin Luthers auf, sie gingen jedoch nicht zur Reformation über. Zu den ersten Übersetzungen aus dem Slavischen ins Rumänische gehörten daher der Katechismus und der Psalter, in denen die Sprache der Vorlage genau nachgebildet wurde. Die seit dem 16. Jahrhundert überlieferten Privatbriefe, Urkunden und sonstigen Texte in rumänischer Sprache, die keine Übersetzungen sind, bemühten sich um eine gehobene Sprache. Die späte Entstehung der Schriftsprache rührt daher, dass das Rumänische sich als bäuerliche Stammessprache herausbildete und dass erst von der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts an Staaten unter der Führung rumänischer Herrscher im rumänischen Sprachgebiet entstanden. Schriftsprache war wegen der Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche das Altkirchenslavische (oder „Slavonische“). Das Lateinische wurde nachweislich nur am Rande und zu späterer Zeit in den Kanzleien der rumänischen Fürstentümer verwendet. Es ist aber möglich, dass es im Mittelalter auch sonst gelegentlich geschrieben wurde. Wenn rumänische Namen und Wörter in altkirchenslavischen Texten erwähnt werden, transliteriert man sie heute in lateinischer Orthographie, was bereits eine phonologische Interpretation ist, denn da das Altkirchenslavische Schrift-, Kult- und Kultursprache der Rumänen war, hatte dies für die Verschriftung des Rumänischen zur Folge, dass es zuerst in kyrillischer Schrift geschrieben wurde. Diese Schrift ist Ausdruck der Kultur, zu der die rumänische Gesellschaft bis zum 18. und zum Teil bis zum 19. Jahrhundert gehörte. Es ist ein Problem der Historiographie des Rumänischen, dass es einerseits nicht genügend zahlreiche zuverlässige Editionen älterer, in kyrillischer Schrift abgefasster Texte gibt, andererseits die kyrillische Schrift bestimmte rumänische Phoneme gar nicht wiedergeben konnte (dazu Onu 1989: 305– 306). Da die Kenntnis dieser Schrift heute nur in einer kleinen Minderheit verbreitet ist, haben auch nur wenige Gelehrte einen Zugang zu den alten Texten. In dieser Schrift ist der erste überlieferte und datierte rumänische Text verfasst, der Brief, den der Bojar Neacşu aus Câmpulung in Muntenien 1521 an den Magistrat Hans Benkner in Kronstadt (rum. Braşov) schrieb. Bald folgten religiöse Schriften, denn der Einfluss der Reformation Luthers motivierte die Verwendung des Rumänischen: Es wurden Werke wie ein Katechismus, Evangelien und sonstige geistliche Schriften vom orthodoxen Diakon Coresi (gestorben 1583) in Kronstadt in einem Zeitraum von etwa dreißig Jahren übersetzt und gedruckt. Aus Târgovişte in der Walachei gebürtig, rezipierte er
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die Sprache Nordsiebenbürgens in die Sprache des Südostens Siebenbürgens und des nördlichen Munteniens, die durch den Buchdruck eine weite Verbreitung erhielt und als erste Grundlage der rumänischen Standardsprache angesehen werden darf, wenn sie auch weitere Umgestaltungen erfuhr (Rosetti/Cazacu/Onu 21971: 51–83; Iordan 1983: 37–42; Istrate 1981). Die entscheidende Entwicklung ist also der Übergang von der Verwendung des Altkirchenslavischen zum Rumänischen für den Ausdruck der eigenen Kultur. Erst als das Rumänische das Altkirchenslavische zu ersetzen anfing, um eine religiöse Kultur unter dem Volk zu verbreiten, war der Weg frei für seinen Ausbau als Schriftsprache. Erst nach der Ersetzung des Altkirchenslavischen durch das Rumänische in der Domäne der orthodoxen Kirche konnte es als Sprache der geistlichen Literatur, der Wissenschaften und der literarischen Prosa ausgebaut werden. Dieser Weg ist für eine Schriftsprache ungewöhnlich. In den anderen romanischen Sprachen hat man zuerst eine Verwendung in der Dichtung, erst später in der Religion, in den religiösen Erbauungsschriften und in den Wissenschaften. Die Übernahme neuer Funktionen drückte sich in der innersprachlichen Entwicklung aus: Die Übersetzungen führten zu Nachschöpfungen syntaktischer Konstruktionen der Vorlage und zur Übernahme des Wortschatzes in der Darstellung der neu ausgebauten wissenschaftlichen Domänen. Im 17. Jahrhundert löst das Rumänische nach und nach das Altkirchenslavische als Amtssprache und dann als Kirchensprache ab. Es wurde in der Sprache der jeweiligen Region verschriftet, aber immer noch kyrillisch geschrieben. Es besteht also keine einheitliche und nicht nur eine einzige Schriftsprache, sondern man nimmt für diese Zeit Literaturdialekte an, einen nördlichen im Banat, in Nordsiebenbürgen und in der Moldau, einen südlichen auf der Grundlage der Sprache Munteniens, dessen alte Hauptstadt Târgovişte war. Von einer mündlich verwendeten und im Wesentlichen diatopisch differenzierten Sprache ausgehend modernisierte sich das siebenbürgische Rumänisch über eine Transkulturation durch das Ungarische und das Deutsche in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Transkulturation setzte ein mit dem Wirken der Siebenbürger Schule zur Zeit der Schulreform Maria Theresias und der josephinischen Aufklärung in den Gebieten rumänischer Sprache, die zu Österreich gehörten, darunter von 1775 bis 1918 die Bukowina (rum. Bucovina, ‚Buchenland‘). Wie oben erwähnt, wurde für die erste Verschriftung des Rumänischen die altkyrillische Schrift verwendet. Das lateinische Alphabet fand dagegen während des 16. und 17. Jahrhunderts nur eine marginale Verwendung. Dabei orientierte man sich dann an der Verschriftung des Ungarischen und des Deutschen. Bei der altkyrillischen Verschriftung schuf man keine Schrift, die die Laute des Rumänischen genau wiedergab, sondern Graphem und Phonem standen in einem „irrationalen“ Verhältnis, d. h. in keinem Eins-zu-Eins-Verhältnis zueinander. Die Schreibung des Rumänischen war also weder phonologisch noch war sie vereinheitlicht. Im Laufe der Zeit wurde die Zahl der Buchstaben von 43 auf 40 und im 18. Jahrhundert schließlich auf 30 reduziert.
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5.7.5 Das neue Wissen um die lateinische Herkunft Das Rumänische wurde in mehreren Etappen in lateinischer Schrift bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kodifiziert, damit begann die Neuorientierung der rumänischen Kultur am Westen und es wurde ein kultureller Gegensatz zwischen der orthodoxen kirchlichen Tradition und der Anerkennung der Romanität des Rumänischen hergestellt, die in der lateinischen Schrift ihren Ausdruck fand. Bevor dies geschehen konnte, war eine Selbstvergewisserung der Rumänen über ihre römische Herkunft notwendig. Da dieser Nachweis und eine am Lateinischen sowie zuerst am Italienischen orientierten Sprachplanung nur zwei Aspekte eines einheitlichen Prozesses sind, zitiere ich den moldauischen Fürsten Dimitrie Cantemir (1673–1723), den Ersten, der ausführlicher dazu Stellung nimmt. Es ist in diesem Fall nicht erheblich, dass seinen Zeitgenossen seine 1715 und 1716 geschriebene Descriptio Moldaviae nicht zugänglich war, denn er äußert eine unter den Rumänen im 18. Jahrhundert weit verbreitete Meinung: „Über den Ursprung der moldauischen Sprache vertreten die Schriftsteller verschiedene Meinungen. Die Mehrheit von ihnen glaubt, dass sie vom Latein ausgehend ohne Einfluss irgendeiner anderen Sprache korrumpiert worden sei, es gibt aber auch einige, die meinen, dass sie sich vom italienischen Dialekt herleite. Ich werde versuchen, dem Leser die Argumente beider Seiten unvoreingenommen darzulegen, damit sich ihm die Wahrheit umso klarer zeigt. Diejenigen, die behaupten, dass die lateinische Sprache die wirkliche und wahre Mutter der moldauischen sei, stützen sich hauptsächlich auf die folgenden Gründe: Erstens seien die römischen Kolonien lange vor der Zeit nach Dakien gebracht worden, in der die römische Sprache durch die Einfälle der Goten und Wandalen verdorben worden sei; kein einziger unter den Geschichtsschreibern habe der Nachwelt überliefert, dass die Kolonien unter der Herrschaft der Barbaren wieder nach Latium zurückverlegt worden seien, und deshalb hätten die Bewohner Dakiens ihre Sprache durch eine andere, die ja noch gar nicht existierte, nicht verderben lassen können. Zweitens hätten sich die Moldauer zu keiner Zeit Italiener genannt, ein Name, der in der Folgezeit begann, sich als Name der Römer sehr weit auszubreiten, sondern sie hätten stets die Benennung Römer beibehalten, welche in jener Zeit, da die Hauptstadt des Erdkreises in Rom gewesen sei, allen Bewohnern Italiens gemeinsam gewesen sei; dem stünde auch nicht das Argument entgegen, dass sie von ihren Nachbarn, den Ungarn und den Polen, vloch genannt würden, ein Name, der bei diesen Völkern auch der Name der Italiener ist. Denn ich glaube eher, dass jene benachbarten Völker diese Benennung von den ihnen bekannteren Moldauern auf die Italiener als von den Italienern auf die Moldauer übertragen haben. Das dritte und stärkste Argument zugunsten jener Meinung ist, dass man in der moldauischen Sprache bis heute eine größere Zahl lateinischer Wörter findet, die die italienische überhaupt nicht kennt, während die moldauische andererseits Substantive und Verben ganz und gar vermeidet, die von den Goten, Wandalen und Langobarden in die Sprache der Italiener eingeführt worden sind wie in den wenigen folgenden Fällen, mit denen ich dies verdeutliche: Für incipio sagt der Italiener mit einem Wort der Barbaren commincio, der Moldauer mit einem aus einem lateinischen Dialekt korrumpierten Wort inczep. Albus heißt auf Italienisch bianco, auf Moldauisch alb; civitas it. citta, mold. czetate; dominus it. signore, mold. domn; mensa it. tavola, mold. masa; verbum it. parola, mold. vorba; caput it. testa, mold. cap; venatio it. caccia, mold. venat“ (Cantemir 1973: 362).
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Die heutigen Formen lauten, soweit sie von Cantemirs Schreibweise abweichen, comincio, încep, città, cetate, masă, vorbă, vânat. Cantemir entlehnte in seinen rumänischen Schriften zahlreiche Wörter aus dem Lateinischen, die von der Siebenbürger Schule aufgegriffen wurden.
5.7.6 Die Siebenbürger Schule Die Zeit zwischen 1780 und 1828 ist die Gründerzeit der rumänischen Standardsprache. Es ist noch einmal zu betonen, dass das heutige Rumänisch, besonders in seinem Wortschatz, nicht das Ergebnis einer sprachlichen Evolution, sondern einer stark nationalistisch motivierten und energisch betriebenen Sprachplanung durch die Vertreter der Siebenbürger Schule und ihrer Nachfolger ist. Damit unterscheidet sich die Herausbildung der rumänischen Standardsprache von derjenigen aller anderen romanischen Standardsprachen. Um den geschichtlichen Zusammenhang des Rumänischen mit dem Lateinischen beweisen zu können, brauchte man zuerst einmal Kenntnisse in dieser Sprache. In den Fürstentümern konnte man das Lateinische aber nur an wenigen Orten lernen. In der Walachei hatte zum Beispiel Târgovişte seit 1646 eine Griechisch- und Lateinschule. Die Siebenbürger Rumänen konnten dagegen in einigen Fällen, namentlich wenn sie Katholiken waren, Zugang zu höherer Schulbildung bekommen. Durch die Siebenbürger Schule hatten die Rumänen Siebenbürgens teil an der europäischen Aufklärung. Auch in der Walachei und der Moldau öffnete man sich dem Westen über die italienische, neugriechische, polnische, türkische und russische Kultur, aber etwas später als in Siebenbürgen. Die griechische Kultur spielte dabei die Hauptrolle, doch wurden die Einflüsse von der orthodoxen Kirche getragen und blieben bescheiden. Die westliche Kultur wurde in der Hauptsache durch die Geschichtsschreibung vermittelt. Die Autoren unterstrichen die lateinische Herkunft des Rumänischen durch die Verwendung der lateinischen Schrift. So schrieb Samuel Micu (Klein de Szad, 1745–1806) in lateinischer Schrift Carte de rogacioni pentru evlavia homului chrestin (‚Gebetbuch für die christliche Andacht‘, Wien 1779). Darin wandte er eine etymologisierende lateinische Schreibung an, die die Phonem-Graphem-Äquivalenz im Rumänischen verdunkelte. Zusammen mit Gheorghe Şincai (1753–1816) bemühte sich Samuel Micu um die Beschreibung und explizite Normierung des Rumänischen in Elementa linguae daco-romanae sive valachicae (Wien 1780). Dieses Werk ist 1805 in einer zweiten Auflage in Buda unter dem Namen Şincais allein erschienen. In dieser Grammatik werden die rumänischen Beispiele in lateinischer Schrift wiedergegeben. Übrigens ist dies nicht die erste rumänische Grammatik. Diese wurde von Dimitrie Eustatievici mit dem Titel Gramatică românească 1757 verfasst, sie blieb aber im Manuskript. Weitere Grundwerke der Siebenbürger Schule sind Gramatică românească (1798) von Radu Tempea, Dascălul românesc pentru temeiurile grama-
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ticii româneşti (‚Einführung in die Grundlagen der rumänischen Grammatik‘, ca. 1815–1820) von Ion Budai-Deleanu, die Observaţii de limbă românească (‚Bemerkungen über die rumänische Sprache‘, Buda 1799) von Paul Iorgovici und die Gramatica românească (Buda 1822) von Constantin Diaconovici-Loga. Die Orthographie kodifizierten Constantin Diaconovici-Loga in Orthographia sau dreapta scrisoare (Buda 1818) sowie Ion Budai-Deleanu und Petru Maior in Orthographia romana sive latinovalachicae una cum clavi (Buda 1819). Die lexikographischen, geschichtlichen und ideologischen Werke der Siebenbürger Rumänen sind meist nur handschriftlich überliefert (cf. Fugariu 1970). Die geringe Verbreitung ihrer Schriften im Druck darf die Anerkennung ihrer hohen Bedeutung für die rumänische Sprachgeschichte nicht schmälern. Die Behauptung der Romanität des Rumänischen, die Geschichte der Rumänen seit der römischen Kolonisierung und die sich unmittelbar daraus ergebende relatinisierende bzw. reromanisierende Sprachplanung sind Leistungen dieser Schule, die sich bis in die Gegenwart auswirken. Die siebenbürgische Gründerphase wird durch die Veröffentlichung der Gramatică românească (Sibiu/Hermannstadt 1828) von Ion Heliade Rădulescu (1802– 1872) abgeschlossen. Dieser Grammatiker beförderte vom Ende der 1830er Jahre an eine allen rumänischen Ländern gemeinsame und einheitliche Schriftsprache. Die über das Lateinische eingeleitete Transkulturation des Rumänischen in Gestalt von deutschen Latinismen wurde durch den direkten Kontakt mit den romanischen Sprachen ersetzt, z. B. in scenă ‚Szene‘ statt sţenă. Überhaupt hat man als Deutscher den Eindruck, dass viele Fremdwörter Adaptationen nach dem Modell des Deutschen sind, was in der Fachliteratur leider nicht erwähnt wird. An die Stelle des Lateinischen trat bei Rădulescu das Italienische und zum Teil schon das Französische. Die Romanisierung löste die Latinisierung ab. Die Übernahme des lateinischen Alphabets wurde im Allgemeinen akzeptiert. Man versuchte, das Rumänische in enger Anlehnung an das Lateinische und das Italienische erneut zu verschriften. Die Gründe für die Ersetzung der altkyrillischen Schrift durch die lateinische waren ideologischer Art. Neben dem Nachweis der lateinischen Herkunft des Rumänischen konnte man sich den Ungarn und Deutschen in Siebenbürgen damit ebenbürtig erweisen. Amtssprache war in Siebenbürgen von 1784 an das Deutsche, nach der Mitte des 19. Jahrhunderts an das Ungarische (da Siebenbürgen von 1867 an zu Ungarn gehörte), das später wieder durch das Deutsche abgelöst wurde. Die Siebenbürger Schule wird später in den rumänischen Fürstentümern Vorbildfunktion erhalten. Die Rumänen Siebenbürgens emanzipierten sich gegenüber den Deutschen und Ungarn, indem sie ihre nationale Identität in der lateinischen Herkunft ihrer Sprache fanden, gleichzeitig aber andere sprachliche und kulturelle Einflüsse zu eliminieren suchten. Paradoxerweise bekämpften sie den westeuropäischen, über Österreich und die katholische Kirche vermittelten Einfluss, der doch die Bedingung der rumänischen Identitätsfindung war. Die rumänische Schriftsprache vereinheitlichte sich zunehmend zwischen 1750 und 1830 auf der Grundlage des muntenischen Dialekts, dessen Zentrum Bukarest
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ist. Nach 1780 förderte die Siebenbürger Schule Entlehnungen aus dem Lateinischen im Bereich der Kultur und der Wissenschaften. Von 1830 an wurden türkische und neugriechische Wörter durch italienische, mehr noch durch französische und lateinische ersetzt. Die Adaptationen fanden in den einzelnen rumänischen Ländern zwar getrennt statt, sie zeigen aber einen hohen Grad an Konvergenz. Daraus ergibt sich, dass die Autoren diese Adaptationen voneinander übernommen haben. Von anderen Autoren akzeptierte Latinismen der Siebenbürger Schule sind zum Beispiel cauză, condiţie, constituţie, omagiu, securitate, sistemă (für heutiges sistem). Die Neologismen wurden nunmehr direkt aus dem Lateinischen und nicht über eine andere Sprache wie in der Zeit davor entlehnt. Dadurch setzte sich die mit dem Deutschen eingeleitete westliche Transkulturation des Rumänischen fort. In diesem Zeitraum schrieben die ersten rumänischen Dichter. Es wurden durch ein politisch motiviertes Schrifttum nach 1821 und durch das Theater nach 1829 neue Diskurstraditionen und Textgattungen ausgebaut. Das Rumänische wurde in der Moldau und der Walachei Schulsprache. Lehrbücher und Zeitungen waren ein erster Ansatz für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Prosa, die sich zwischen 1829 und 1848 stärker mit dem Fortschreiten der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung ausdifferenzierte.
5.7.7 Ausbau und Vereinheitlichung des Rumänischen Um 1850 hatte sich eine rumänische Nation mit einer einheitlichen Sprache, einer eigenen modernen Kultur und Wirtschaft herausgebildet. Dem folgte von 1859 bis 1866 die politische Einheit der Walachei und der Moldau. 1866 wurde Karl I. (rum. Carol) von Hohenzollern-Sigmaringen zum Staatsoberhaupt gewählt, 1881 wurde er König, 1877 erklärte sich Rumänien für unabhängig und auf dem Berliner Kongress von 1878 war Rumänien von der Türkei tatsächlich unabhängig geworden. Der Name des neuen Staats war seit 1862 România und wurde 1918 auf die neu hinzukommenden, ehemals zu Österreich-Ungarn gehörenden Gebiete übertragen. Die ersten rumänischen Universitäten wurden in Jassy (rum. Iaşi, 1860), Bukarest (rum. Bucureşti, 1864) und Klausenburg (rum. Cluj-Napoca, 1872) gegründet, seit 1879 besteht die Rumänische Akademie, die aus der Societatea literară von 1866 hervorgegangen war und die 1867 zur Societatea academică română umbenannt wurde. Die Akademie brachte 1954 eine Grammatik heraus, die 1963 in einer zweiten Ausgabe erschien. In dieser Zeit schlug Titu Maiorescu (1840–1917) in Despre scrierea limbei române (‚Über die Schreibung des Rumänischen‘, 1866) die Einführung des phonologischen Prinzips avant la lettre ein, das durch die latinisierende Schreibung der Siebenbürger Schule verdunkelt worden war. Die späteren Orthographiereformen wandten im Grunde nach und nach diese phonologischen Prinzipien Maiorescus an. Dieser Reformer steht auch für die Sprachreinigung zu seiner Zeit, ohne dass er ein enger Purist war.
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Die rumänische Hoch- und Nationalsprache bildete sich zwischen 1830 und 1880 durch eine Vereinheitlichung der Schriftsprache und deren Übernahme durch die Schriftsteller in allen rumänischen Gebieten heraus. Nach der Unabhängigkeit nahmen die Neologismen aus dem Italienischen und mehr noch dem Französischen zu. Dieser Prozess setzte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fort. Für die Aussprache wird das Muntenische von Târgovişte und schließlich von Bukarest maßgeblich, sie wird aber auch vom Moldauischen beeinflusst (z. B. vom Schriftsteller Ion Creangă, der von 1839 bis 1889 lebte). 1860 ging man schließlich auch in Muntenien von der kyrillischen zur lateinischen Schrift über, 1863 in der Moldau. Im aromunischen Sprachgebiet hatte man diese Entscheidung bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts getroffen. Darin folgte man dem Beispiel der Siebenbürger Schule. Während die Architektur des Rumänischen vor der Herausbildung einer Standardsprache in zahlreichen Dialekten bestand, die von mehreren Sprachen überdacht wurden, hatten sich bis zum 20. Jahrhundert schriftsprachliche Stile entwickelt, die auch zu einer supradialektalen Differenzierung der gesprochenen Varietäten führte. 1918 wurde der rumänische Nationalstaat gegründet: Bessarabien, die Bukowina, das Banat, die Kreisch und die Marmarosch kamen zu Rumänien. Die Einheit Bessarabiens mit Rumänien bestand 1918 bis 1940 und 1941 bis 1944. Danach wurde es unter dem Namen Moldauische Republik (rum. Republica Moldova) eine Sowjetrepublik. Das Rumänische wird in der Moldauischen Republik Moldauisch genannt und ist dort Nationalsprache. Es wird bis 1918 in kyrillischer, von 1928 bis 1937 und von der Zeit nach 1937 bis 1989 in russisch-kyrillischer Schrift geschrieben. Zwischen 1919 und 1928, 1933 und 1937 und seit 1989 wird dort die rumänische Orthographie mit lateinischen Buchstaben verwendet. Aus politischen Gründen wurde in der Moldauischen Republik vor der Wende behauptet, dass Rumänisch und Moldauisch zwei verschiedene Sprachen seien. Die Unterschiede bestehen jedoch im Wesentlichen nur in der Schrift, der diatopischen Differenzierung auf dialektaler Ebene und in zahlreichen Lehnübersetzungen aus dem Russischen in der moldauischen Varietät. Die Kodifizierung des Rumänischen unterliegt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verschiedenen Orientierungen. Die Schreibung wird von der Rumänischen Akademie 1904 und 1953 reformiert, die in ihren Grundzügen heute noch gilt. Von einer etymologisierenden Schreibung geht man zur stärkeren Anwendung des phonologischen Prinzips über. Eine Orthographiereform von 1993, die die Wiedergabe des Phonems /ɨ/ im Wortinnern durch sowie bei sînt ‚ich bin‘ und analogen Fällen durch betrifft, ist auf weitgehende Ablehnung gestoßen. Sie wurde jedoch in die Schulen eingeführt und ist nur im Ethnonym român und im Staatsnamen România unumstritten.
5.8 Das Französische
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Bibliographischer Kommentar
Diese zuerst für das Internet bestimmte sprachgeschichtliche Skizze hat Rudolf Windisch, damals Präsident des Balkanromanistenverbands, durchgesehen. Ich hatte ihn darum gebeten, bevor ich die Absicht hatte, ihm diesen Beitrag zu widmen (Lüdtke 2003), der hier in einer überarbeiteten Version vorliegt. Für eine erste weitergehende Beschäftigung mit Fragen der Entwicklung der rumänischen Standardsprache verweise ich auf die Beiträge von Bochmann 1989a, Windisch, Arvinte, Onu und Schroeder im LRL III 1989. Eine Einführung in die Balkanlinguistik geben Solta 1980 und Banfi 1985 sowie in die Geschichte der Sprachen des Balkans Banfi 1991. Die für die Geschichte der rumänischen Standardsprache so wichtige rumänische Sprachwissenschaft wird im Sammelband von Iordan (coordinator) 1978 behandelt. Das Rumänische ist in zahlreichen Sprachgeschichten dargestellt worden. Kürzere Werke sind Rosetti 1973 (auf Französisch), Niculescu 1990 (auf Englisch), Iordan 1983 (auf Rumänisch) und Bochmann/Stiehler 2010 (auf Deutsch). Ivănescu 1980 ist ein Werk mittleren Umfangs, in dem besonders auch die äußeren Bedingungen der Sprachgeschichte behandelt werden. In die Geschichte der rumänischen Standardsprache (limba literară) führt Gheţie 1982 ein. Ihre diachronische Entwicklung behandelt Coteanu 1981, in deutscher Sprache Rothe 1957. Umfangreichere Darstellungen sind Densusianu 1 1901 und 11938 (1975), Academia Republicii Populare Române 1965 und 1969, Rosetti 1986, in französischer Übersetzung 2002, Rosetti/Cazacu/Onu 21971, die bevorzugt die diachronische Entwicklung des Rumänischen behandeln, da die rumänischen Sprachwissenschaftler dem Nachweis der Romanität des Rumänischen eine ganz besonders große Bedeutung beimessen. Die Frage der Kontinuität der Rumänen nördlich der Donau wird in deutscher Sprache in Hurdubeţiu 1977 diskutiert. Eine Synthese der Sprachauffassung der Siebenbürger Schule gibt Nicolescu 1971. Zu Sprachgeschichte, Lexikographie und den Varietäten des Rumänischen informieren Holtus/Radtke (Hrsg.) 1986. Die Sprachplanung, Sprachnormierung und Sprachpflege stellen Bochmann 1989a und Munteanu/Şuteu 2006 dar. Die Entwicklung in der Republik Moldau behandeln Heitmann 1991, 1997 und 1998 sowie Bojoga 2013.
5.8 Das Französische ‚Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wirklichkeit nur eins sind, bilden diese Seele, dieses geistige Prinzip. Das eine liegt in der Vergangenheit, das andere in der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Vermächtnisses von Erinnerungen. Das andere ist die Zustimmung in der Gegenwart, der Wunsch zusammen zu leben, der Wille, das Erbe zu mehren, das ungeteilt überkommen ist. […] Die Nation ist wie der Einzelne das Ergebnis von Mühe, Opfer und Aufopferung von einer fernen Vergangenheit an. Der Ahnenkult ist von allen der legitimste. Die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) sind das Kapital der Gesellschaft, auf der die Idee einer Nation beruht. Gemeinsame Ruhmestaten in der Vergangenheit, einen gemeinsamen Willen in der Gegenwart zu haben, das sind die wesentlichen Bedingungen, wenn man ein Volk sein will‘ (Renan 71922 [1882]: 306; meine Übersetzung).
5.8.0.1 La langue correcte Das Französische ist die am strengsten explizit kodifizierte Sprache, und das nicht nur unter den romanischen Sprachen. Was wir eine historische Sprache genannt haben, die von den Sprechern mit einem Eigennamen belegt wird, erfährt im Falle des Französischen eine rigorose synstratische und symphasische Begrenzung. Die französi-
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sche Sprache ist für Franzosen und Französischsprachige die französische Standardsprache der Gebildeten, vorzugsweise die geschriebene Standardsprache. Aus einer internen französischen Perspektive sind die Sprecher kaum bereit, etwas anderes als die Standardsprache und die standardnahen Varietäten als „Französisch“ zu bezeichnen. Diese ferner vom Mythos der „Klarheit“ und „Logik“ getragene Sprache gilt allein als “langue correcte”. Sie wurde vom 17. Jahrhundert an einheitlicher konzipiert als andere Standardsprachen und vom Schulwesen ganz besonders in der Dritten Republik (1870–1940) mit der größten Strenge durchgesetzt. Der Purismus der Sprachnormierer richtet sich nach innen gegen jede als inkorrekt betrachtete Variation dialektaler oder sozialer Herkunft und nach außen gegen Einflüsse aus anderen Sprachen. Die Sprachnorm wird angewandt auf die Franzosen, die Französischsprachigen und die Ausländer, an deren fremdsprachliche Kompetenz von Französischsprachigen höhere Anforderungen gestellt werden als sonst von Muttersprachlern. Infolge der Distanz zwischen präskriptiver Norm und tatsächlich gesprochener Sprache haben viele Franzosen das Gefühl, ihre Sprache schlecht zu sprechen. Die normative Betrachtung des Französischen bringt es mit sich, dass sich die französischen Sprachwissenschaftler von ihr befreien müssen, wenn sie die sprachliche Wirklichkeit in der Vergangenheit und in der Gegenwart untersuchen. Nicht-französischsprachige Linguisten haben dieses Problem nicht im gleichen oder in geringerem Maße. Daher kommt es, dass sie einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der nicht-standardsprachlichen Varietäten in Frankreich und ihrer Variation geleistet haben. Er wird aus den genannten Gründen in Frankreich aber kaum angemessen gewürdigt. 5.8.0.2 Periodisierung Durch die karolingische Renaissance werden sich die Romanen im Reich Karls des Großen des Abstands ihrer Sprache zum Latein bewusst. Damit beginnt die Geschichte des Französischen. Die Beschleunigung des Sprachwandels im 14. Jahrhundert ist das Kriterium für die innersprachliche Periodisierung des Französischen. Dabei ist es nicht so wichtig, ob man den beschleunigten Wandel eher am Anfang oder in der Mitte des 14. Jahrhunderts ansetzt. Die Sprache vor dieser Zeit nennt man Altfranzösisch. Die Zeit danach wird weder mit einem einzigen allgemein anerkannten Ausdruck benannt noch in identischer Weise abgegrenzt. Ist man der Auffassung, dass durch den Sprachwandel nach der altfranzösischen Zeit einfach das heutige Französisch entsteht, so ergibt sich daraus eine Zweiteilung in Alt- und Neufranzösisch. Meist aber wird eine eigene Periode zwischen dem Alt- und dem Neufranzösischen angenommen, das „Mittelfranzösische“. Weil der tiefgreifende Strukturwandel des Altfranzösischen bis zum 17. Jahrhundert, der Zeit der bleibenden Kodifizierung des Französischen, andauert, unterscheidet man in der französischen Sprachgeschichtsschreibung im Allgemeinen zwischen Alt-, Mittel- und Neufranzösisch. Das Mittelfranzösische ist eine Epoche zwi-
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schen dem Alt- und dem Neufranzösischen, die man je nach angenommenen Kriterien unterschiedlich lange dauern lässt. Als Grenzen zum Neufranzösischen werden die Zeit um 1500, um 1600 oder um die Mitte des 17. Jahrhunderts genommen. Da der Wandel sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts verlangsamt, ist es plausibel, unterschiedliche Grenzen anzunehmen. Ich wähle dem standardsprachlichen Kriterium für die Konzeption einer Sprachgeschichte folgend (cf. 5.0.3) den regularisierenden Eingriff in den Sprachwandel durch die Académie française als Kriterium. In diesem Fall ist es sinnvoll, das Neufranzösische mit der Etablierung des bon usage durch Vaugelas beginnen zu lassen. Der von Vaugelas beobachtete Sprachgebrauch wird kodifiziert. Daraus ergibt sich die letzte mit guten Gründen anzunehmende Grenze des älteren Französisch. Die äußeren Bedingungen stehen in enger Beziehung zur internen Entwicklung. Sie kommen hier in Grundzügen zur Sprache. Der Raum des Französischen ist schwer abzugrenzen. Die Bedingtheit der französischen Sprachgeschichte durch den Nationalstaat Frankreich scheint unübersehbar zu sein und doch wird sie kaum reflektiert. Auch für Nicht-Franzosen scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass eine französische Sprachgeschichte das Französische in Frankreich behandelt. Der nicht zu Frankreich gehörende Raum wird nicht oder nur ausnahmsweise berücksichtigt (so in Picoche/Marchello-Nizia 21998 und Chaurand (sous la direction de) 1999). Dabei hatte Brunot (seit 1905) in seiner Sprachgeschichte auch hierfür die Richtung gewiesen. Freilich besaß Frankreich zu Brunots Lebzeiten noch seine Kolonien und Protektorate, die eine gesamtfranzösische Sprachgeschichte motivieren konnten. Die Franzosen haben heute ein uneinheitliches und zuweilen auch gebrochenes Verhältnis zu ihrer kolonialen Vergangenheit. Da ist es am einfachsten, man beschränkt sich auf Frankreich. Gewiss gibt es eine den gesamten französischen Sprachraum umfassende Sicht: Die Frankophonie. Sie bezieht sich aber auf die Verbreitung der französischen Norm von Frankreich in postkolonialer Zeit und strebt, wenn schon keine Hegemonie, so doch eine Verbesserung der Position des Französischen unter den Sprachen der Welt an. Der Prozess seiner Verbreitung wird dabei ausgeblendet. Wir wollen uns darauf zurückbesinnen, soweit es in unserem Rahmen möglich ist.
5.8.1 Das Altfranzösische 5.8.1.1 Der Raum des ursprünglichen Französisch Der Raum, in dem das Französische entstand, hatte anfangs bescheidene Dimensionen. Das gallorömische Lutetia Parisiorum (Paris) lag außerhalb der Ausstrahlungszentren der Romanisierung und Latinisierung in der Provence, fern von Lugdunum (Lyon), Augusta Treverorum (Trier) und den intensiver kolonisierten Gebieten am nördlichen Limes. Es ist der durch die neuen Machtverhältnisse nach dem Sieg des Frankenkönigs Chlodwig über Syagrius, den letzten römischen Herrscher (486),
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geordnete Raum, der bestimmend für die Herausbildung neuer Sprachräume auf dem Gebiet Galliens wird: Die Franken verlagerten den politischen Schwerpunkt Galliens, wie es sich schon in der späten Kaiserzeit angekündigt hatte, endgültig nach Norden. Zu Beginn des Mittelalters wurden die kleinräumigen Sprachgemeinschaften östlich der Bretonisch sprechenden Bretagne, nördlich der Loire, nordwestlich des Reichs der Burgunder und westlich der germanisch-romanischen Sprachgrenze, die sich allerdings erst in einem jahrhundertelangen Prozess zu einer räumlichen Grenze entwickeln wird, in ein Staatswesen eingegliedert, das gleichermaßen Romanen und Germanen umfasste. Das fränkische Königreich wurde zwar erweitert, so etwa um Aquitanien, oder geteilt; dem Kernland im Nordwesten Galliens, der späteren Ile-deFrance, widerfuhr dieses Schicksal aber nicht. 5.8.1.2 Das neue Sprachbewusstsein in der karolingischen Renaissance Das Lateinische war die Schriftsprache des fränkisch-gallorömischen Reichs. Es scheint die einzige Schriftsprache unter der gallorömischen Bevölkerung gewesen zu sein, während die fränkische Bevölkerung eine eigene volkssprachliche Literatur hatte. Sie wurde spätestens zu Karls des Großen Zeiten verschriftlicht. Die lateinische Schriftkultur blieb unter den Romanen in der Tradition der Kirche, ihrer Schulen und ihrer Liturgie zwischen dem 7. und dem 11. Jahrhundert erhalten. In diesem Zeitraum wurde die lateinisch-gallorömische und danach die lateinisch-romanische Diglossie durch die karolingische Renaissance verstärkt. Der angelsächsische Gelehrte Alkuin (um 735–804) reformierte das im Frankenreich geschriebene und gesprochene Lateinisch, das sich in dieser Region der Romania besonders weit vom traditionell geschriebenen Lateinisch entfernt hatte. Dadurch wurde das gesprochene Lateinisch, das zuvor der Volkssprache angenähert worden war, weniger verständlich. Manifest wurde der Unterschied zwischen dem neuen normativeren Lateinisch und der romanischen Volkssprache in der Predigt, so dass die Bischöfe sich auf mehreren Konzilen, am entschiedensten 813 auf dem Konzil von Tours für eine in „deutscher“ und in „romanischer“ Volkssprache gehaltene Predigt einsetzen mussten. So verfügt die 17. Satzung dieses Konzils: „ut easdem homilias quisque aperte transferre studeat in rusticam romanam linguam aut theotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere quae dicuntur“. “Et que chacun d’eux s’applique à traduire ouvertement ces mêmes homélies dans le latin des illettrés ou bien en germanique, de manière à ce que tous sans exception puissent comprendre plus facilement ce qui leur est dit” (Banniard 1992: 411). ‚dass ein jeder sich bemühen solle, dieselben Predigten klar und deutlich in die einfache romanische oder die deutsche Sprache zu übersetzen, damit alle leichter verstehen können, was gesagt wird.‘
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Ich habe rustica romana lingua modernisierend mit ‚romanische Sprache‘ übersetzt. Das ist eine sicher der damaligen Zeit angemessene Entsprechung, die aber heute anders verstanden wird, als sie damals gemeint sein konnte. Mit Banniard (1992: 413– 415) wollen wir darunter das ‚Lateinisch der Ungebildeten‘ (“le latin des illettrés”) verstehen. Für die Satzung des Konzils von Tours sprechen die Menschen in Frankreich Lateinisch und Deutsch. Das Lateinische hat zweierlei Gestalt, es ist romana lingua und es ist rustica romana lingua. Heben wir hervor, dass das diatopisch gewiss sehr differenziert gesprochene Lateinisch lingua genannt wird. Die allgemein angenommene Dialektalisierung der Galloromania hat also keine Entsprechung im Bewusstsein der damaligen Sprecher. Im Kontakt befanden sich drei Sprachen (linguae): Das Lateinische, das Lateinische der Ungebildeten und das Deutsche. Der sprachliche Abstand zwischen den romanischen Varietäten war sicher groß; die diatopischen Unterschiede wurden aber deshalb nicht als dialektal angesehen, weil sie nicht durch romanische Gemeinsprachen überdacht wurden. Bis aber eine räumliche Gliederung des frühen Romanisch nachweisbar wurde, verging noch geraume Zeit. Die Straßburger Eide (842) kontrastierten Eide in germanischer und romanischer Sprache in einem lateinischen Text, ohne dass wir die beiden romanischen Eide einer bestimmten Region des Frankenreichs zuordnen können. Erst vom Ende des 9. Jahrhunderts an sind mit der Eulaliasequenz, danach mit dem Jonasfragment, dem Alexiuslied, dem Rolandslied französische Texte aus verschiedenen Regionen überliefert. 5.8.1.3 Mittelalterliche Schreibsprachen Man hat sich ursprünglich die Entstehung einer relativ einheitlichen französischen Schriftsprache als Ausbreitung der Sprache von Paris und der Ile-de-France vorgestellt. Die Untersuchung der Urkunden im französischen Sprachraum legt eine andere Entwicklung nahe: Das Französische wurde vom Ende des 12. Jahrhunderts an in mehreren diatopisch variierenden Schreibsprachen (Scriptae) geschrieben, die mit den benachbarten Regionen mehr Gemeinsamkeiten aufwiesen als mit den entfernteren. Die Sprache von Paris nahm dabei noch keine Vorrangstellung ein. Die Scriptae sind nicht als direkte Aufzeichnungen der regional oder lokal gesprochenen Sprache zu verstehen, sondern man bemühte sich von allem Anfang an um einen überregionalen sprachlichen Ausgleich und um eine überregionale Verständlichkeit und man war stets offen für die Übernahme von Elementen anderer Scriptae. In diesem Raum mit überregionaler Verständlichkeit entstand im 12. Jahrhundert eine Schriftkultur, die sich nur durch Nachahmung lateinischer und okzitanischer Modelle herausbilden konnte. Die Sprache der altfranzösischen Versdichtung wurde überregional und polyzentrisch ausgebaut.
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5.8.1.4 Französisch und Dialekte Eine Scripta ist wegen ihrer regionalen und zum Teil überregionalen Geltung als Gemeinsprache (Koine) aufzufassen. In welcher Beziehung die altfranzösischen Scriptae nun zu den gesprochenen Koinai standen, ist nicht überliefert. Vor allem aber vom 12. und 13. Jahrhundert an konvergierte die Entwicklung der Scriptae hin zur Scripta der Ile-de-France und auch die gesprochene Sprache dieser Region begann zum Vorbild genommen zu werden. Metasprachliche Kommentare aus dieser Zeit zeigen uns, dass der Prozess der Dialektalisierung der außerhalb der Ile-de-France gesprochenen und geschriebenen Sprache einsetzte. Dennoch müssen wir annehmen, dass die Elemente der als vorbildlich wirkenden Sprache nicht alle aus der Ilede-France kommen. Wie man aufgrund der Untersuchung volkstümlicher Sprache in der Zeit der Anfänge der französischen Sprachgeographie kurz vor 1900 und aus der Auswertung von Quellen zur bäuerlichen Sprache im Raum von Paris weiß, setzte das Französische nicht geradlinig und ausschließlich die Sprache von Paris und der Ile-de-France fort, sondern diese enthält zahlreiche Elemente, die aus den umliegenden Regionen entlehnt worden sind und zur diastratischen Differenzierung der Oberschicht von den anderen Gesellschaftsschichten eingesetzt wurden (cf. Picoche/Marchello-Nizia 51998: 20–26). Die in den Scriptae feststellbaren Entlehnungen müssen wir auch in den gesprochenen Koinai annehmen. Diese Gemeinsprache mit Zügen unterschiedlicher diatopischer Herkunft war die Sprache, die die königliche Verwaltung vom 14. Jahrhundert an ausbreitete. Die Konsequenz davon in der französischen Spracharchitektur war außer der diastratischen Distanzierung der Pariser Oberschicht die Dialektalisierung der syntopischen Varietäten des Französischen. Mit „Dialektalisierung“ ist hier gemeint, dass die syntopisch geprägten Varietäten hinfort dieser französischen Schriftsprache untergeordnet wurden, was vor deren Verbreitung nicht der Fall war. Üblicherweise verlegt man die „Dialektalisierung“ in die gallorömische Entwicklungsphase des Lateinischen Galliens. Genau genommen ist dies aber ein Anachronismus. Von „Dialektalisierung“ kann man erst im Mittelalter und erst von der Zeit an sprechen, als die Merkmale des Französischen sich außerhalb der Ile-deFrance auszubreiten begannen. 5.8.1.5 Sprachennamen Der mittelalterliche Name der französischen Sprache war neben dem allgemeinen Ausdruck romanz das von France abgeleitete Adjektiv und Substantiv franceis bzw. später françois. Es besaß eine unterschiedliche semantische Extension, denn mit diesem Sprachennamen konnte ebenso die Sprache der Ile-de-France als auch das Französische, die langue d’oïl ([ɔil] gesprochen) insgesamt bezeichnet werden. Zur Differenzierung von anderen syntopischen Varietäten des Altfranzösischen führten Hermann Suchier und Gaston Paris im 19. Jahrhundert den irreführenden Terminus Franzisch bzw. francien ein. Dies ist im Grunde ein Anachronismus, denn damit wird vorausgesetzt, dass das Französische im Norden Galliens in Gestalt mehrerer klar
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voneinander differenzierter Dialekte des Französischen existierte, von denen einer von diesen beiden Gelehrten „Franzisch“ genannt wurde. Für die damaligen Sprecher gab es aber nur Sprachen, keine Dialekte. Die Dialektalisierung der syntopischen Varietäten des Französischen setzte, wie wir soeben festgestellt haben, erst mit der Ausbreitung des françois über diese anderen Varietäten hinweg ein. Wir haben auch gesehen, dass die französischen Schreibsprachen von Anfang an überregional konzipiert waren. Wenn man die Sprache der Ile-de-France „Franzisch“ nennt und darunter einen Dialekt versteht, kann man nicht zeigen, dass eben diese Sprache aufsteigt und die benachbarten Varietäten dialektalisiert. Nur mit der Ausbreitung des Sprachennamens françois lässt sich der Nachweis führen, dass das Französische der Ile-de France die Standardsprache des ganzen französischen Sprachgebiets geworden ist. 5.8.1.6 Die Selektion des Französischen Dass die Selektion des Französischen unter den Literaturschriftsprachen der langue d’oïl relativ spät stattfand, mag durch die vergleichsweise geringe Bedeutung von Paris bis zum 12. Jahrhundert zu begründen sein. Die Verkehrswege in Nordfrankreich laufen jedoch auf Paris zu, besonders die im Mittelalter so wichtigen Wasserwege. In Paris kommt ein System von Flusswasserwegen zusammen: Seine, Marne, Aisne, Yonne, Eure haben ihr natürliches Zentrum in Paris. Ein weiterer wichtiger Grund für die wachsende Bedeutung von Paris ist die Konsolidierung des Königtums unter Philipp II. August (Regierungszeit 1180–1223) und Ludwig IX. (1226–1270, *1214). Die Verbreitung der Sprache der Ile-de-France wurde dadurch begünstigt, dass die königliche Rechtsprechung vom 13. Jahrhundert an in zunehmendem Maße die Rechtsprechung der Lehensherren und, in geringerem Maße, diejenige der Kirche einschränkte. Das Rechtswesen verlangte Spezialisten, die als gesprochene Sprache für ihre Amtsausübung nicht das Lateinische, sondern die Volkssprache brauchten. Als geschriebene Sprache des Rechtswesens wurde das Lateinische zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert durch das Französische abgelöst, zunächst in den königlichen Kanzleien, etwas später in denen der Lehensherren. Die Selektion der Norm von Paris ging aber einher mit ihrer Übernahme als geschriebene und zum Teil als gesprochene Sprache außerhalb von Paris sowie mit ihrer Verwendung in neuen Bereichen, insbesondere eben dem der Rechtsprechung. In der Phase des Ausbaus des Französischen als Rechtssprache dominierte also bereits die Ile-de-France. Vor der Übernahme des Französischen außerhalb der Ile-de-France ist eine gegenseitige Übernahme einzelner Merkmale zwischen den Regionen der langue d’oïl feststellbar. Daher gab es anfangs keine in syntopischer Hinsicht einheitlichen Texte zu altfranzösischer Zeit. Diatopische Entlehnungen erscheinen noch im 14. und 15. Jahrhundert, jedoch mit abnehmender Frequenz. Da die Sprache der Ile-de-France Elemente aus allen umliegenden Gebieten entlehnte, wird diese Region heute als Übergangsregion wahrgenommen. In diesen Entlehnungen zeigt sich, dass die sich herausbildende Standardsprache im 13. und 14. Jahrhundert durchaus rezeptiv für die
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Aufnahme diatopischer Unterschiede war. Diese Rezeptivität nahm bis zur Gegenwart stetig ab, besonders seit der klassischen Zeit der französischen Literatur. 5.8.1.7 Ausbreitung des Französischen Während das 1066 von den Normannen unter ihrem Herzog Wilhelm eroberte England dem Französischen wieder verloren ging, wurden vom 13. Jahrhundert an die okzitanischen Fürstentümer ins Königreich Frankreich eingegliedert. Der Kampf um die französische und die katalanisch-aragonesische Hegemonie in Okzitanien wurde 1213 durch die Schlacht bei Muret südwestlich von Toulouse entschieden. Der Graf Raimund VI. von Toulouse und der König Peter I. von Aragonien (1177–1213) wurden durch den Franzosen Simon de Montfort besiegt. In Fortsetzung dieser Eroberungsund Expansionspolitik wurden bis um die Mitte des 15. Jahrhunderts weite Gebiete im Süden des heutigen Frankreichs französisches Kronland. Die okzitanische Schriftsprache und die okzitanischen Dialekte kamen in Kontakt mit der französischen Schriftsprache und mit einem überregionalen Französisch, das sich bis zum 15. Jahrhundert in der okzitanischen Oberschicht neben dem Okzitanischen ausgebreitet hatte. 5.8.1.8 Neue Varietäten Eine klare diastratische Differenzierung des frühen Französisch ist nicht eigentlich zu erkennen (cf. Lodge 1993: 141–148). Aus metasprachlichen Kommentaren ist aber zu erschließen, dass die Sprache von Paris mit seinem Umland Modellcharakter erhielt, ohne dass klar ist, ob die Unterschiede eher diastratisch oder diaphasisch waren. Eine diastratische Differenzierung in der Sprache von Paris kann dadurch zustande gekommen sein, dass die bereits erwähnten aus dem ferneren Umland aufgenommenen Merkmale zur internen Differenzierung gegenüber der Unterschicht eingesetzt wurden. Während diese neue Varietätenschichtung zunächst auf Paris beschränkt blieb, breitete sie sich in einer zweiten Phase im Raum der langue d’oïl aus und dialektalisierte dadurch ihre syntopischen Varietäten. Wenn wir uns auf diese Weise die Entstehung einer Sprachkontaktsituation zwischen französischer Ausbausprache und Dialekt vorstellen können, ist der Prozess selbst jedoch nur durch eine progressive Französierung der Scriptae der langue d’oïl zu belegen, die damit zunehmend standardisiert wurde. Über eine diaphasische Differenzierung während des Mittelalters ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Es ist zu bezweifeln, dass sie in der gesprochenen Sprache stark war. In der geschriebenen Sprache wird traditionell eine zuerst vorwiegend parataktische Syntax einer zunehmend hypotaktischer werdenden Syntax gegenübergestellt. In der Regel sieht man hierin einen chronologischen Unterschied: Im Altfranzösischen habe man eher Parataxe, beim Übergang zum frühen Neufranzösisch eher Hypotaxe. Vergleicht man jedoch in Texten des 15. Jahrhunderts die Wiedergabe direkter Rede mit den erzählenden und argumentierenden Passagen derselben Werke (z. B. in Les quinze joies de mariage; Rychner (éd.) 1967), so stellt man in der direkten Rede
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eher Parataxe, in den anderen Teilen eher Hypotaxe fest. Wenn wir diese Feststellung mit dem Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache in Beziehung setzen, so hätten wir es im Falle der Hypotaxe mit einer symphasisch herausgehobenen Varietät zu tun, während die parataktische Ausdrucksweise allgemein war. Es ist damit zu rechnen, dass ein syntaktisch komplexeres Sprechen in feierlicher, schriftlich konzipierter und schriftlich vorbereiteter Rede vorkam, die durch Übernahme lateinischer Diskurstraditionen zu erklären ist, verbunden mit der Übernahme eines latinisierenden Wortschatzes. Diese Erscheinungen werden in der Fachliteratur vereinzelt angeführt. Dadurch, dass die Kinder das Lesen, das Schreiben und das Lateinische gleichzeitig erlernten, wird eine neue Art und Weise, Französisch zu sprechen geschaffen, die auf jedes durch Bücher vermittelte fachliche Sprechen und Schreiben übergriff. Ein latinisiertes Französisch entstand in den königlichen Kanzleien im 15. Jahrhundert durch Übersetzungen von didaktischen und wissenschaftlichen Werken aus dem Lateinischen, die besonders für Karl V. (1338–1380) in großer Zahl geschrieben wurden, und im Vulgärhumanismus des 16. Jahrhunderts. Unter den für Karl V. tätigen Übersetzern war sich Nicole Oresme († 1382) des neu geschaffenen Stils in hohem Maße bewusst. Man stellt all dies als Entlehnung aus dem Lateinischen, als Neologismus, als syntaktische Neuerung dar. Dies ist alles richtig, aber vor allem entstanden neue symphasisch markierte Varietäten, die sich, umgekehrt, durch die genannten und durch weitere sprachliche Merkmale charakterisieren lassen. Diese neuen Varietäten sind durch die Schule unter allen Gebildeten verbreitet worden und haben schließlich das Französische schlechthin geprägt. 5.8.1.9 Ausbau im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit Der Ausbau des Französischen begann mit der Dichtung und wurde vom 13. Jahrhundert an mit der Prosa in den Chroniken von Geoffroi de Villehardouin und Jean Froissart, den Memoiren von Philippe de Commynes, den Prosaversionen der höfischen Romane und dem Theater fortgesetzt. Als lateinische Werke im 14. und 15. Jahrhundert übersetzt wurden, war die französische Norm schon relativ fest etabliert. Das Französische wurde durch philosophische, historische, wissenschaftliche und literarische Werke der Antike bereichert, mit denen zugleich klassische Diskurstraditionen übernommen wurden. Bis sich das Französische aber als Sprache der Wissenschaften, der Philosophie und der Sachprosa gegenüber dem Lateinischen durchsetzte, musste es einen langen Weg durch sich ausweitende Verwendungsbereiche als Amts- und Schulsprache gehen. Den Anfang machten unter den Fachtexten praktische chirurgische, medizinische und pharmazeutische Traktate, denen naturwissenschaftliche und philosophische Werke folgten.
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5.8.2 Mittelfranzösisch: Das frühe Neufranzösisch oder der Beginn des modernen Französisch Dass das Französische spätestens im 13. Jahrhundert eine gewisse Norm herausgebildet hat, zeigt sich daran, dass die im darauffolgenden Jahrhundert einsetzenden, die Sprache grundlegend verändernden Entwicklungen nur mit erheblichen Phasenverschiebungen durch die geschriebene Sprache widergespiegelt wurden. Zwar trat der Wandel zuerst in der gesprochenen Sprache ein, aber wegen des konservativen Charakters der Schriftsprache, allzumal der Literatursprache, manifestierte sich der Strukturwandel erst spät. Die Voraussetzung für die Übernahme der Sprache der Ile-de-France außerhalb ihres ursprünglichen Gebiets ist der Zugewinn von Gebieten, die vom König von Frankreich und anderen Fürsten, deren Sprache die langue d’oïl war, beherrscht wurden. Die Nordmänner, die sich vom Anfang des 9. Jahrhunderts an in der Normandie angesiedelt und eben gerade Französisch gelernt hatten, fielen als Normannen unter ihrem Herzog Wilhelm dem Eroberer 1066 in England ein und brachten das Normannische als Kolonialsprache auf die Insel, die damit für mehrere Jahrhunderte zweisprachig wurde. Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts musste das Anglonormannische dem Englischen weichen. In diesem Zeitraum orientierten sich die ohnehin überregional geschriebene anglonormannische Scripta und die gesprochene Sprache zunehmend an der Norm von Paris, die durch sprachdidaktische Schriften, die manières de langage, verbreitet wurde. Die Stellung des Französischen wurde vorübergehend noch dadurch gestärkt, dass Eleonore von Aquitanien (frz. Aliénor d’Aquitaine) 1152 Heinrich Plantagenet (frz. Henri Plantagenêt) heiratete, der 1154 als Heinrich II. König von England wurde. Durch diese Heirat kam der ganze Südwesten Frankreichs an England. Der Hundertjährige Krieg (1337–1453), in dem die Franzosen die durch die Heirat Eleonores von Aquitanien mit Heinrich Plantagenet verlorengegangen westfranzösischen Regionen zurückeroberten und das Bewusstsein erlangten, eine Nation zu sein, erfasste alle Bevölkerungsschichten und veränderte die französische wie auch die englische Gesellschaft. Dieser Krieg ist das historische Ereignis, das geeignet ist, auch den innersprachlichen Wandel zu einem Teil zu erklären. Richtung Norden und Südosten seines Herrschaftsgebiets kam der König von Frankreich in Konflikt mit dem Herzog von Burgund, dessen Länder sowohl zum Königreich Frankreich als auch zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörten. Lange vor dem Tod des burgundischen Herzogs Karls des Kühnen im Jahre 1477 begann das Französische sich in den Ländern auszubreiten, die im 15. Jahrhundert zum Burgund Philipps des Guten (1419–1467) gehörten. Im Niederdeutsch sprechenden Flandern schrieb und sprach die Oberschicht Französisch. Brüssel als Sitz des Hofs der Herzöge von Brabant und danach der Herzöge von Burgund im flämischen Gebiet begann eine Stadt französischer Sprache zu werden. In Burgund selbst wurde das mit nicht sehr ausgeprägten regionalen Merkmalen geschriebene Burgundisch durch das Französische verdrängt.
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5.8.2.1 Südostfranzösische Dialekte: Das so genannte „Frankoprovenzalisch“ War nun das Burgundische zunächst, wenigstens zum Teil, Modell für zahlreiche (durchaus nicht alle) Gebiete geworden, in denen die romanische Volkssprache geschrieben wurde, die Ascoli (1829–1907) später „Frankoprovenzalisch“ nannte, so war das Französische bereits im 13. Jahrhundert als Literatursprache nach Lyon gelangt. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle noch einmal auf die Frage zurückzukommen, ob das „Frankoprovenzalische“ im Mittelalter eine eigene Schriftsprache war und eine eigene Literatursprache hatte (cf. 2.4.2.9) wie das damalige Okzitanisch und Französisch. Erhellend ist das Kriterium, das für Ascoli leitend war. Sein Kriterium war der Abstand dieser Gruppe von Mundarten sowohl zu den französischen als auch zu den okzitanischen Mundarten, nicht aber die Herausbildung einer Standardsprache oder auch nur Gemeinsprache. So groß war das wissenschaftliche Ansehen Ascolis, dass die von ihm abgegrenzten Mundarten heute immer noch als „Frankoprovenzalisch“ mit dem Status einer eigenen romanischen Sprache aufgeführt werden, obwohl man sich nicht mehr auf die Voraussetzungen besinnt, die Ascoli geleitet haben. Bei der Diskussion dieser Frage wird meist auch ignoriert, welches die zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden politischen Grenzen waren. Gewöhnlich geht man von den heutigen Grenzen Frankreichs aus, was zu einer anachronistischen Wahrnehmung der geschichtlichen Verhältnisse führt. Wir dürfen heute annehmen, dass diese Dialektgruppe die Fortsetzung derjenigen Latinität ist, die ihr Zentrum in Lugdunum, der alten gallischen Hauptstadt, hatte und die später von anderen gallorömischen Varietäten überlagert wurde. Urkunden wurden allenthalben von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an im südostfranzösischen Raum in der Volkssprache geschrieben. Die diese Urkunden untersuchenden historischen Dialektologen des 19. Jahrhunderts haben in ihnen ein möglichst „reines Frankoprovenzalisch“ gesucht und vorzugsweise diejenigen Texte ausgewertet, die der „Reinheit“ nahekamen. Man hat dabei mit Missvergnügen feststellen müssen, dass viele Texte eher burgundisch als „frankoprovenzalisch“ sind. Auf keinen Fall aber weisen sie eine „reine“, d. h. einheitliche lokale Sprache auf. Die Orientierung am Burgundischen lässt sich nun leicht durch die Zugehörigkeit zum burgundischen Lehensstaat erklären, zum Teil wenigstens. Es gab offensichtlich keinen ausgesprochenen Willen, „Frankoprovenzalisch“ zu schreiben, sondern eine – kleinräumig verwendete – Volkssprache. Wenn Literatur geschrieben wurde, verwendeten die Autoren das Französische. Man kennt in diesem Raum also zwei Arten von Schriftsprache, eine regional begrenzte Scripta für Urkunden und das Französische als Literatursprache. Wenn wir uns die weitere Entwicklung als Dialektalisierung des „Frankoprovenzalischen“ vorstellen, sollten wir sie als komplexen Vorgang begreifen, bei dem die gesprochene Sprache den regionalen Scriptae zugeordnet wurde, die ihrerseits der französischen Literatursprache burgundischer Prägung untergeordnet waren. Diese Zusammenhänge können durch eine Strukturbeschreibung, wie sie öfter unternommen wurde, keineswegs geklärt werden. Die Frage ist vielmehr, ob die in
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Teilen Burgunds, in Lyon, in Savoyen, im Gebiet um den Genfer See und darüber hinaus bis zum Aostatal gesprochene Sprache eine eigene historische Sprache war oder aber ob die Schreiber sie als zu einer anderen Sprache zugehörig betrachteten. Die sprachliche Variation in den Urkunden und die Verwendung des Französischen als Literatursprache deuten unmissverständlich auf eine Orientierung an ihr als historischer Sprache hin. Die beträchtliche sprachliche Variation mit dem Französischen als ausschließlicher Leitsprache zeigt, dass das „Frankoprovenzalische“ kein eigenes normgebendes sprachliches Zentrum hatte. Das Französische drang um die Mitte des 14. Jahrhunderts in die Grafschaft Forez im Zentralmassiv ein, in Savoyen wurde es bereits seit dem 13. Jahrhundert in Privaturkunden verwendet, während sonst das Lateinische noch Amtssprache war, und es löste im 16. Jahrhundert das Lateinische im Aostatal ab. Diese Entwicklung ist bemerkenswert, denn zu der Zeit, als diese Gebiete anfingen französiert zu werden, gehörten sie nicht zu Frankreich, sondern zum Heiligen Römischen Reich. Die Notare studierten römisches Recht daher nicht an der Sorbonne, sondern eher in Turin und Bologna oder an anderen Universitäten des vielsprachigen Reichs, in dem das Lateinische notwendigerweise Amtssprache war. Erst Mitte des 14. Jahrhunderts kam die Dauphiné an Frankreich. Burgund dagegen wurde im 15. Jahrhundert ein Zwischenreich, das sich bis zu den Niederlanden erstreckte und teils zum Reich, teils zu Frankreich gehörte. Lyon, das im Verbund des Reichs von einem Erzbischof regiert wurde, der der Primas der gallikanischen Kirche war, gliederte sich 1307 in Frankreich ein. Dagegen wurden die Sprecher südostfranzösischer Mundarten im Alpenraum Untertanen der eidgenössischen Kantone. Durch die Einführung der Reformation von 1522 an wurde im Kanton Lausanne, in den zweisprachigen Kantonen Basel und Bern und in der Republik Genf, die Calvin 1536 gründete, die französische Standardsprache gestärkt. Der Fall der südostfranzösischen Mundarten zeigt uns also eine je nach Region und staatlicher Zugehörigkeit sehr verschiedene Entwicklung. Ausgehend von einer Spracharchitektur, in der Lateinisch geschrieben und das lokale Romanisch gesprochen wurden, ging man zu unterschiedlichen Zeiten über zu einem gemäßigt überregionalen Romanisch als Kanzleisprache und, soweit man Literatur schrieb, zum Französischen mit Interferenzen aus dem regionalen Romanisch. In den zur Eidgenossenschaft gehörigen südostfranzösischen Gebieten war das Deutsche Amtssprache. Die Einführung der Reformation förderte die Verwendung des Französischen in Genf und den übrigen protestantischen Gebieten. Im Gebiet des Herzogtums SavoyenPiemont wurde von 1561 an durch einen Erlass von Emmanuel-Philibert, der damit dem Beispiel der sogleich zu erwähnenden Ordonnance de Villers-Cotterêts folgte, das Französische Amtssprache. 1577 kam das Italienische als Amtssprache hinzu. Das Französische überdachte und beeinflusste hinfort die südostfranzösischen und die okzitanischen Mundarten des Herzogtums wie auch das Piemontesische. Während in der Schweiz und in Frankreich die südostfranzösischen Mundarten im Kontakt mit dem Französischen blieben, wurde im Aostatal nach der Napoleonischen Zeit das
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Abb. 5.5: Französisch und „Frankoprovenzalisch“ (Quelle: LRL V, 1: 676)
Französische mehr und mehr durch das Italienische ersetzt. Die Mundarten des Aostatals kamen unter italienischen Einfluss, und es bildete sich eine von der französischen und von der schweizerischen völlig verschiedene Spracharchitektur heraus. Es klärt den Status der im Aostatal gesprochenen Sprache, dass die Valdostaner sie patois nennen. Nur bei einem geringen Teil der Bevölkerung ist es den Linguisten gelungen, ihr einzureden, dass sie „Frankoprovenzalisch“ sprächen (zur Gesamtsituation dieser Dialektgruppe aus heutiger Sicht Jauch 2016).
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Schließlich wird für die Eigenständigkeit des „Frankoprovenzalischen“ gern auf die Literatur des 16. Jahrhunderts verwiesen. Diese geht jedoch nicht auf die kontinuierliche Tradition der Scripta des Mittelalters zurück. Die Mundarten des französischen Südostens werden als Dialektliteratur im Reflex auf die generelle Durchsetzung des Französischen als Sprache der schönen Literatur geschrieben wie anderswo auch: Maurice Scève (um 1501–um 1560) und Louise Labé (um 1524–um 1566) dichteten in Lyon bereits in französischer Sprache, der Lyoner Louis Meigret veröffentlichte eine französische Grammatik in Paris (1550; Meigret 1980). Im Westen gliederte 1532 Franz I. die Bretagne endgültig in sein Königreich ein. Dieses Herzogtum war seit 1499 in Personalunion durch die Heirat Annas und Ludwigs XII. mit Frankreich verbunden. Der Adel hatte das Französische schon vor der Vereinigung übernommen. 5.8.2.2 Das Französische als Gerichts- und Amtssprache Das Französische ersetzte immer mehr das Lateinische als Amtssprache. Von 1470 an wurden nach lateinischen Werken auch französische Werke gedruckt, aber keine Werke in Varietäten, die man nunmehr schon als Dialekte des Französischen ansehen muss. Als Franz I. 1539 in Villers-Cotterêts verordnete, “que tous arrets ensemble toutes autres procédures soient de nos cours souveraines et autres subalternes et inférieures soient de registres, enquêtes, contrats, commissions, sentences, testaments et autres quelconques actes et exploits de justice ou qui en dépendent, soient prononcés, enregistrés et délivrés aux parties en langage maternel françois et non autrement” (Brun 21973: 90; meine Hervorhebung), ‚dass alle Entscheide mitsamt allen anderen Verfahren unserer höchsten sowie untergeordneten und unteren Gerichte – ob es sich um Register, Untersuchungen, Verträge, Kommissionen, Urteile, Testamente und sonstige Rechtsgeschäfte und Rechtsurkunden und solche, die davon abhängen, handelt – den Parteien in französischer Muttersprache und nicht anders verkündet, zu Protokoll genommen und ausgefertigt werden sollen,‘
konnte dieser Verfügung im Allgemeinen Folge geleistet werden, weil es in den nichtfranzösischsprachigen Ländern des Königs eine kleine französierte Schicht gab. Man leistete dem König sogar über das Gebotene hinaus Gehorsam und schrieb Französisch auch außerhalb des Rechtswesens und außerhalb der Länder des Königs (Brun 2 1973: 421–428). 5.8.2.3 Die französische Schriftsprache im 16. Jahrhundert Die Ausbreitung des Französischen von der Ile-de-France bis nach Übersee, die Entstehung neuer Varietäten im Kontakt mit dem sich ausbreitenden Französisch und die zunehmende Standardisierung waren parallele dynamische Prozesse. Mit dem
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Buchdruck erreichten Werke zum erstenmal ein Massenpublikum. Wieder wirkte die Ausbreitung der Sprache zurück auf ihre innere Gestalt. Die gedruckte Schriftsprache wurde einheitlicher, als die handgeschriebene es war. In technischer Hinsicht reduzierte man die Varianten der Druckbuchstaben gegenüber den handschriftlichen Texten. Die Antiqua ersetzte in der Folge der Empfehlungen von Geoffroy Tory (1529; Tory 1973) die gotische Schrift. Akzente wurden gesetzt, die Getrenntschreibung der Wörter (das „orthographische Wort“) wurde zur Norm. Damit einher ging die regelmäßigere Schreibung der Wörter in Druckschriften, die Rechtschreibung in einem modernen Sinn entstand. Die zwischen Modernisierung und Rückkehr zu älteren Praktiken aus handschriftlicher Tradition sich entwickelnde Orthographie stand noch nicht unter der Aufsicht des Staates. Eine staatliche Sanktion und offizielle Kodifizierung erhielt sie erst mit der ersten Ausgabe des Wörterbuchs der Académie française (1694). Vaugelas, auf den wir als Normierer noch ausführlich eingehen werden, empfiehlt daher in seinen Remarques sur la langue françoise, bei orthographischen Zweifelsfragen auf gute Autoren zurückzugreifen: “si ce doute procede de la prononciation […], il faut necessairement avoir recours aux bons Autheurs, et apprendre de l’orthographe ce que l’on ne peut apprendre de la prononciation” (2009: 78). ‚wenn die Unsicherheit von der Aussprache herrührt […], muss man notwendigerweise auf gute Autoren zurückgreifen und der Orthographie entnehmen, was man nicht der Aussprache entnehmen kann.‘
Die Orthographie war aber auch in den Grammatiken seit dem 16. Jahrhundert enthalten und erforderte daher keine eigene Abhandlung. Das Französische gewann mit der 1535 von Pierre Robert Olivetan veröffentlichten Übersetzung der Bibel die Religion als wichtige Domäne hinzu. Jean Calvin machte 1541 seine theologische Schrift Institutio christianae religionis (1536, letzte Fassung 1559) einer französischen Leserschaft in einer Übersetzung zugänglich. Das Französische wurde die Sprache der evangelischen Kirchen und der evangelischen Theologie. In der katholischen Kirche erreichte es dagegen den Status einer Liturgiesprache erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Für Laien, zumeist Adlige, wurde die lateinische Literatur übersetzt, bevorzugt Geschichte. Über die Theologie hinaus begann das Französische Sprache der Wissenschaften zu werden. Das ist ein Ablösungsprozess des Lateinischen durch die Volkssprache, der bis zum 18. Jahrhundert andauerte. Mit dem Buchdruck, der Zunahme des Schrifttums und seiner Verbreitung trat die Sprachreflexion in eine neue Phase. Zwar finden sich zu allen Zeiten gelegentlich metasprachliche Bemerkungen, vom 16. Jahrhundert an drücken sie aber das neue Sprachbewusstsein in einem bis heute andauernden kontinuierlichen metasprachlichen Diskurs aus. In ihm wird die Stellung des Französischen gegenüber dem Lateinischen nunmehr genauso verteidigt wie gegenüber den anderen romanischen Volks-
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sprachen (Joachim Du Bellay in La deffence et illustration de la langue francoyse, 1549). Grammatiken kodifizierten das Französische in der Gestalt, wie es in Paris und an der Loire gesprochen und geschrieben wurde. John Palsgrave schrieb das erste dieser Werke (Lesclarcissement de la langue françoyse, London 1530); es ist, trotz seines französischen Titels, in englischer Sprache verfasst. Der bedeutendste Grammatiker der französischen Renaissance ist Louis Meigret, der in seiner Grammatik (1550; Meigret 1980) eine neue von ihm geschaffene Orthographie verwendete, die wohl seine Lyoner Aussprache des Französischen widerspiegelte. Die Renaissancegrammatiken begründeten wie die Orthographietraktate eine bis heute anhaltende Grammatiktradition, in der das Französische kontinuierlich kodifiziert wurde, denn das Französische kennt keine systematische Kodifizierung durch einen einzelnen Autor oder durch die Académie française.
5.8.3 Der zweite Abstand zum Lateinischen: Der Typ des modernen Französisch Den tiefgreifenden Wandel vom Alt- zum Neufranzösischen beschreibe ich als typologischen Wandel. Es entstand zwischen der älteren und der neueren Sprache ein sprachlicher Abstand, der unter den romanischen Sprachen nicht seinesgleichen hat und nur mit dem Englischen unter den germanischen Sprachen vergleichbar ist. Das Mittelfranzösische ist der Beginn des modernen Französisch. Es ist frühes Neufranzösisch. Der typologische Wandel des Lateinischen gab dem Vulgärlatein und dem Romanischen seine Prägung. Durch einen erneuten typologischen Wandel wurde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ein Abstand in die Sprache eingeführt, der das Französische auch gegenüber dem Altfranzösischen gleichsam zu einer neuen Sprache machte. Gemeinsam ist dem typologischen Wandel auf der einen Seite, dass im Französischen das Wort als autonome sprachliche Einheit entsteht. Auf der anderen Seite wird das Französische eine Sprache, die der syntagmatischen Bestimmung, der Periphrase im Zweifelsfall den Vorzug gibt. Nicht immer werden wir die Zeit nennen, zu der einzelne typologisch relevante Veränderungen dokumentiert sind. Es muss für diese sehr allgemeine Darstellung genügen, dass ein in eine ähnliche Richtung weisender Sprachwandel über Jahrhunderte hinweg bis heute andauerte. Der typologische Wandel nahm gleichwohl keine radikalen Formen an. Betrachtet man die Schrifttradition allein, so könnte man diesen Wandel sogar verkennen, denn die französische Orthographie drückt immer noch die alten grammatischen Kategorien aus, die in der gesprochenen Sprache schon seit Langem nicht mehr erscheinen. Das liegt daran, dass die Grammatiker des 16. Jahrhunderts bei ihrer Kodifizierung nicht die Sprache des Volks zum Modell erhoben, sondern eine vergleichsweise konservative Literatursprache. Daher gelangten volkstümliche Merkmale bei dieser Kodifizierung nicht in den Standard. Der Abstand zwischen der Sprache der Pariser Oberschicht, dessen Entstehung im Mittelalter wir bereits beobachtet haben, nimmt
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dadurch zu, dass eine konservative Sprache normiert und eine innovative volkstümliche Sprache von den Sprechern der Oberschicht abgelehnt wurde. Nur gelegentlich machten Sprecher einer gelehrteren Sprache Konzessionen an die volkstümliche Sprache (langage populaire, français populaire). Auf diese Weise kommt das Bild einer kasuistisch geregelten, durch die Tradition dominierten Standardsprache zustande. Relativ unabhängig von einer solchen gehemmten Entwicklung sind die französischen Dialekte geblieben. Diese konnten der Forschung jedoch erst spät durch Tonbandaufzeichnungen zugänglich gemacht werden. Für unsere typologische Fragestellung reicht es nicht aus, Sprachatlanten wie den Atlas linguistique de la France (Gilliéron/ Edmont 1902–1910) für den Entwicklungsstand der Dialekte zu konsultieren, da sich viele typologische Veränderungen nur in Texten finden lassen. Der Wandel des Sprachtyps ist nicht bis an sein Ende gelangt, wenn man dabei annimmt, dass er in allen Fällen, in denen er möglich gewesen wäre, auch realisiert worden sein könnte. Wir müssen bei diesem Wandel zwischen der Entwicklung des gesprochenen Französisch in den Dialekten, dem Französisch des Volks von Paris (Bauche 11920; Frei 1929) und der Tradition der französischen Schriftsprache unterscheiden, die der natürlichen Entwicklung entgegenwirkte und sie verhinderte. Eine umgekehrte Entwicklung führte dazu, dass manche Erscheinungen wiederhergestellt wurden. Hier legen wir allerdings Wert darauf, diejenigen sprachlichen Erscheinungen zu Wort kommen zu lassen, die Realisierungen des französischen Sprachtyps sind. Wir hatten festgestellt, dass die romanischen Sprachen die interne oder paradigmatische Determination für interne Funktionen und die externe oder syntagmatische Determination für die externen Funktionen, die Funktionen im Satz bevorzugen (4.5.2). Im Französischen wurde das Prinzip der externen oder syntagmatischen Bestimmung auf weitere Bereiche ausgedehnt. So werden nunmehr auch die internen Funktionen syntagmatisch ausgedrückt, die Bestimmungen des Satzes befinden sich außerhalb des Satzkerns und sogar an die Stelle der Wortbildungsparadigmen treten gelegentlich Periphrasen. 5.8.3.1 Vereinheitlichung der Lexeme und Morpheme Die Verallgemeinerung der syntagmatischen Bestimmung hat die Vereinheitlichung sowohl der Lexeme als auch der grammatischen Morpheme zur Voraussetzung. Deshalb wenden wir uns derjenigen Lautentwicklung zu, die im Prinzip zur Einheitlichkeit des Lexems und des Morphems führte. Auf diese Weise entstand im Französischen das Wort, das nichts ist als Wort, d. h. das keine paradigmatischen Bestimmungen enthält (cf. zum Wort als Ebene der Strukturierung 1.4.5). Auch diese Entwicklung hin zum Wort als einer sprachlichen Strukturierungsebene vollzog sich nur prinzipiell. Denn auch diese Entwicklung gelangte nicht an ihr mögliches Ende. Im Anschluss daran befassen wir uns mit der Ersetzung der internen Bestimmungen durch externe, zuerst bei den Substantiven, bei ihren Determinanten und bei einigen Proformen, danach beim Verb, beim Satz und in der Wortbildung.
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Zwei lautliche Entwicklungen sind typologisch relevant, die Reduktion des Lautkörpers und die Vereinheitlichung des Worts. Die Wörter wurden kürzer als in den anderen romanischen Sprachen. Dies geschah etwa durch die Reduktion der im Altfranzösischen so häufigen Hiate. Der unbetonte Vokal verschwand im Kontakt mit einem vorausgehenden oder folgenden betonten Vokal und erfasste danach auch Abfolgen von unbetonten Vokalen. Dies geschah vom 13. Jahrhundert an und nahm seinen Ausgang vom Norden und Osten des französischen Sprachgebiets: eage > aage > âge ‚Alter‘, meesme > mesme ‚selbst‘, pescheor > pêcheur ‚Fischer‘, beneïr > benir ‚segnen‘, veoir > voir ‚sehen‘, reont > roont > ront, rond ‚rund‘, seür > sûr ‚sicher‘, eüs > eus ‚(ich) bekam‘, chaeine > chaîne ‚Kette‘. Die ausgefallene Silbe wurde zum Teil durch die Längung des Vokals kompensiert, was gelegentlich durch die Doppelschreibung der Vokale (aage, roont) angezeigt wurde oder später durch den accent circonflexe (sûr). Die Quantitätsopposition bei den Vokalen wurde ebenfalls durch das Verstummen von -s und -e gestärkt wie in ami – amis, ami – amie. Aber auch diese Vokale verloren ihre Quantität zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. Im Übrigen kann ein Hiat durch gegenseitige Assimilation aufgegeben werden, so bei /a/ + /i/ > /ɛ/: haïne > haine ‚Hass‘, /e/ + /y/ > /ø/: feü > feu ‚Feuer‘. Unbetontes e verstummte regelmäßig im Wortinneren nach Vokal, z. B. in mie nuit > minuit ‚Mitternacht‘ und vor allem in den Futur- und Konditionalformen wie ils prieront ‚sie werden beten/bitten‘. Unbetontes e im Inlaut verstummte nach einem Konsonanten: serement > serment ‚Eid‘, larrecin > larcin ‚kleiner Diebstahl‘. Die Diphthonge [je] und [wɛ] wurden zu [e] und [ɛ] monophthongiert. Seit dem 13. Jahrhundert verschmolz [j] mit einem vorausgehenden [ʃ], [ʒ], [ʎ] und [ɲ] wie in chief ‚Kopf‘, vengier ‚rächen‘, baillier ‚geben‘ und gaaingnier ‚gewinnen‘. Dieser Lautwandel wurde verallgemeinert und erfasste alle analogen Formen, z. B. die Infinitivendung -ier, das Partizip Perfekt auf -ié, -iez als 2. Person Plural im Indikativ Präsens und beim Imperativ in aid(i)er ‚helfen‘, aid(i)é, aid(i)ez. Der Diphthong [wɛ] blieb länger erhalten als [je] und wurde, von Einzelfällen abgesehen, entweder zu [ɛ] in den Endungen des Imperfekts (-oie, -oies, -oiet, -oient > -ais, -ais, -ait, -aient), des Konditionals (-roie, -roies, -roiet, -roient > -rais, -rais, -rait, -raient), in Suffixen (-oie > -aie in aulnoie > aunaie ‚Erlengehölz‘, -ois > -ais in françois > français ‚französisch‘) und einzelnen Wörtern (foible > faible ‚schwach‘, voirre > verre ‚Glas‘) oder zu [wa] (François ‚Franz‘). Obwohl sich die Aussprache [wa] durchgesetzt hatte, wurde weiterhin wie im Altfranzösischen geschrieben. Im Wortauslaut wird bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts noch als [-ə] gesprochen. Nach Vokal vermeidet schon Ronsard die Ausssprache von [-ə] sogar in der Dichtung. Nicht weniger tiefgreifend als der Wandel der Vokale ist der Wandel der Konsonanten. Das mit der Zungenspitze an den Alveolen artikulierte /ɾ/ verlagerte seine Artikulationsstelle in den Bereich des Zungenrückens. Dies hatte das Verstummen dieses Lauts in einigen Fällen zur Folge. Das lange /r/, die einzige noch erhaltene Geminate des Altfranzösischen, fällt zwischen dem ausgehenden 12. Jahrhundert und
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dem 17. Jahrhundert in einem einzigen Phonem zusammen, so dass die Aussprache von in père ‚Vater‘ und in verre ‚Glas‘ heute nicht mehr unterschieden wird. Die abnehmende Artikulationsenergie im Silbenauslaut führte eine Zeitlang zur Assimilation (parler > paller ‚sprechen‘) oder zum Verstummen dieses implosiven -r. Dieser Wandel hat sich nicht durchgesetzt. Generell verstummten Auslautkonsonanten. Folgte dem Auslautkonsonanten ebenfalls ein Konsonant, so verstummte er außer -n, so -l etwa in il > i ‚er‘, -r in Infinitivendungen und in den Suffixen -eur und -ier. Wenn -r heute wieder ausgesprochen wird, so liegt eine Analogie nach dem Modell von dire ‚sagen‘ oder croire ‚glauben‘ vor, da in diesen Verben die Aussprache von r durch das auslautende e gestützt wurde. Aus diesem Grunde ist die Aussprache von -r bei Verben auf -ir wie venir ‚kommen‘ und voir ‚sehen‘ wiedereingeführt worden. Da -eur nach dem Verstummen von -r nicht mehr von -eux unterschieden werden konnte, wurde zu -eur statt des Femininums -eresse ein neues Femininum -euse gebildet. Das Femininum zu -ier [je], -ière [jɛ:ʁ], blieb zwar erhalten, der Unterschied wurde aber verstärkt. Das gleichfalls verstummende -s behandeln wir im Zusammenhang mit der Kategorie des Numerus. Bei den nominalen Formen, vor allem beim Substantiv, betrachten wir die Vereinheitlichung des Lexems und den Verlust der Kategorien Numerus, Kasus und zum Teil Genus. Im Falle einer ungehinderten, d. h. nicht durch die Schriftsprache beeinflussten Entwicklung führte ein allmählicher Selektionsprozess zur Bevorzugung einer einzigen Form für ein Lexem. Die Folge des Verstummens der Auslautkonsonanten, besonders von -s, war, dass das Substantiv unveränderlich wurde. Das substantivische Lexem wurde nicht nur unveränderlich, weil es, wenigstens beim Maskulinum, weder Numerus noch Kasus ausdrücken konnte, es wurde auch dadurch unveränderlich, dass die mit dem Ausdruck der nominalen Kategorien verbundene Lexemvariation reduziert wurde. Diese Reduktion besprechen wir am Beispiel von drei häufigen Fällen. a) Einige sehr häufige Substantive erhalten den Singular und den Plural des Objektskasus, z. B. cheval – chevaux. Wir gehen darauf beim Numerus ein. b) Im Altfranzösischen verstummten die Konsonanten p, f, k vor -s: drap ‚Tuch‘ – dras, clef ‚Schlüssel‘ – cles, sac ‚Sack‘ – sas. Es kommt zu zwei verschiedenen Generalisierungen; die eine geht vom Singular aus, die andere vom Plural. Der Singular liegt zugrunde bei chef ‚Kopf‘, vif ‚lebendig‘, grec ‚griechisch‘, sec ‚trocken‘, sac, nul ‚niemand‘, clef, nef ‚Schiff, Kirchenschiff‘, duc ‚Herzog‘, bref ‚kurz‘ und der Plural bei apprenti ‚Lehrling‘, bailli ‚Landvogt‘, joli ‚hübsch‘, enfer ‚Hölle‘ statt der Singulare apprentif, baillif, jolif und enfern. c) Zu den ungleichsilbigen Wörtern vom Typ ber/ baron (Sg.), barons/baron (Pl.) wurde ein analoger Subjektskasus baron im Singular gebildet. Das Verstummen des Auslautkonsonanten verallgemeinerte baron als alleinige Form des Singulars. Weitere Beispiele sind homme ‚Mann, Mensch‘, comte ‚Graf‘, neveu ‚Neffe‘. In manchen Fällen wie peintre ‚Maler‘ oder traître ‚Verräter‘ wurde jedoch der Subjektskasus verallgemeinert. Wenn Subjekts- und Objektskasus erhalten blieben, sind sie heute semantisch differenziert wie copain ‚Kamerad‘ – compagnon ‚Gefährte‘ und trouvère ‚Minnesänger‘ – trouveur ‚Finder, Entdecker‘.
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5 Die romanischen Sprachen
5.8.3.2 Kasus Die Kategorie des Kasus wurde aufgegeben. Die Deklinationsklassen des Altfranzösischen unterschieden die syntaktischen Funktionen in sehr verschiedener Weise, bei den Feminina im Allgemeinen nur zwischen Singular und Plural, aber nicht zwischen Subjekts- und Objektskasus: porte ‚Tür, Tor‘ – portes. Beim Maskulinum diente dasselbe Morphem, -s, dem Ausdruck des Subjektskasus im Singular und des Objektskasus im Plural wie in murs/mur (Sg.) ‚Mauer‘ – mur/murs (Pl.). Es ist ein Problem, dass eine einzige Form wie murs oder mur zwei jeweils ganz verschiedene grammatische Bedeutungen hatte. Die Markierung des Subjektskasus mit -s wurde auf die Fälle übertragen, in denen das Subjekt im Altfranzösischen nicht mit -s markiert wurde wie einerseits im Typ pere/pere (Sg.) ‚Vater‘ – pere/peres und andererseits im Typ ber/ baron (Sg.) – baron/barons (Pl.). Die Markierung des Kasus wurde besonders vom 13. Jahrhundert an zu einem Problem, als das auslautende -s vor Konsonant verstummte. Die Folge davon war, dass man die Zwei-Kasus-Deklination beim Substantiv und beim Adjektiv im folgenden Jahrhundert aufgab. Damit ging zugleich die Kategorie des Kasus unter, denn er wurde nicht nur beim Substantiv aufgegeben, sondern auch bei den Determinanten des Substantivs, d. h. beim Artikel, beim Adjektiv, bei den Zahlwörtern, den Possessivpronomina und einigen Indefinitpronomina. Dies wirkte sich auf die Syntax aus, da die Stellung der Satzglieder die Funktion des Kasusausdrucks übernehmen musste. Wir werden nach der Behandlung der Kategorien auf die Satzgliedstellung eingehen (5.8.3.7). Von den beiden Kasus wurde im Allgemeinen der Objektskasus fortgesetzt. Er war häufiger und wurde auch nach Präpositionen verwendet; jedenfalls stellen wir fest, dass er schon im Alexiuslied und bei Marie de France an die Stelle des Subjektskasus trat. Herrschte allerdings die Verwendung in der Anrede vor wie in biax fils ‚lieber Sohn‘, chier sire ‚lieber Herr‘, oder wurde ein Substantiv vorzugsweise als Agens verwendet, dann blieb der ehemalige Subjektskasus wie in prêtre ‚Priester‘ oder traître ‚Verräter‘ formal erhalten. 5.8.3.3 Numerus Der Numerus wurde im geschriebenen Französisch bis heute mit -s oder seiner Variante -x markiert. Dabei ist zu betonen, dass das signifiant -s im Altfranzösischen zwei signifiés hatte, d. h. es markierte den Subjektskasus im Singular und den Objektskasus im Plural des Maskulinums sowie im Plural des Femininums, während es im heutigen Französisch ausschließlich der Markierung des Plurals dient. In der gesprochenen Sprache verstummten nun im Allgemeinen die Auslautkonsonanten, so auch -s. Selbst in konservativer Sprache wird -s kaum über das 16. Jahrhundert hinaus gesprochen worden sein. Solange man diesen Auslautkonsonanten aussprach, verstummte er vor einem folgenden Konsonanten, eventuell mit ersatzweiser Längung des Vokals, und er wurde [-z] vor Vokal und [-s] vor einer Pause gesprochen. Vor Pause hielt sich -s besonders lange.
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Das Verstummen von -s hatte weitreichende Folgen für die syntagmatische Bestimmung im Französischen. Blicken wir auf die altfranzösische Zeit zurück. Die Vokalisierung von l zu u führte zur Alternanz cheval ‚Pferd‘ – chevaus, oisel ‚Vogel‘ – oiseaus. Für die Generalisierung des Lexems standen damit zwei Formen zur Verfügung, die Formen auf -aus bzw. -eaus und die Formen auf -el bzw. -al. Im 16. Jahrhundert wurden in Analogie zu den Pluralformen neue Singularformen auf -eau bzw. -au gebildet, z. B. chasteau ‚Schloss‘ zu chasteaux statt chastel, agneau ‚Lamm‘ statt agnel. Die konkurrierenden Formen wurden im 16. Jahrhundert nebeneinander verwendet, die Formen auf -el veralteten aber zunehmend. Zeitweilig wurde auch -el bzw. -al für den Singular verallgemeinert wie animau ‚Tier‘ oder chevau und -als für den Plural, z. B. canals ‚Kanäle‘, madrigals ‚Madrigale‘. Dass nun anfangs die Verallgemeinerung in die eine oder die andere Richtung ging, ist nicht entscheidend, sondern nur die Tatsache, dass meist eine einzige Form des Lexems fortgesetzt wurde. Von da an musste der Numerus des Substantivs durch eine syntagmatische Bestimmung ausgedrückt werden. Konservationen liegen in Singularen und Pluralen wie cheval – chevaux vor und in der Liaison von -s bei nachfolgendem Vokal. In der Übergangszeit entstand auch eine andere Möglichkeit für den Ausdruck des Numerus, die Determination durch ein quantifizierendes Substantiv. Dieses Verfahren wurde zunächst auf Ausdrücke angewandt, die ohnehin eine Menge bezeichnen wie gens ‚Leute‘ oder argent ‚Silber‘ etwa in force gens ‚eine Menge Leute‘, also ohne de. In der Gegenwartssprache kann der Numerus weiterhin syntagmatisch ausgedrückt werden wie in nombre de personnes ‚sehr viele (Menschen)‘. Die französische Entwicklung ging nach der altfranzösischen Zeit weiter als in anderen romanischen Sprachen, denn diese Sprache hat im Grunde auch die Kategorie des Numerus aufgegeben. Das Französische geht über die allgemeine romanische Entwicklung hinaus mit seinem syntagmatischen Ausdruck für den Plural: le mur /ləmyʁ/ – les murs /lemyʁ/. 5.8.3.4 Genus Das Genus konnte infolge des Verstummens von [-ə] nicht mehr regelmäßig durch eine innere, also paradigmatische Bestimmung markiert werden. Als Folge davon musste die syntagmatische Bestimmung auch für diesen Fall verallgemeinert werden. Der Artikel erfüllt übrigens diese Funktion nicht ohne Einschränkung, denn wenn ein Wort mit Vokal beginnt, kann der bestimmte Artikel nicht das Genus ausdrücken wie in l’incendie m. ‚Brand‘. Es ist interessant, dass Vaugelas 33 seiner Bemerkungen dem Genusproblem widmet. Eine weitere Folge des Verstummens von [-ə] war, dass feminine Substantive mit etwas größerer Häufigkeit als maskuline auf Konsonant auslauteten, z. B. étudiant [etydjã] ‚Student‘ – étudiante [etydjã:t] ‚Studentin‘. Neben den Determinanten gibt es eine lexikalische Bestimmung auf der syntagmatischen Achse, z. B. femme prêtre ‚(christliche) Priesterin‘ statt prêtresse. In einem
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5 Die romanischen Sprachen
Fall wie diesem reichen offenbar die Determinanten wie die Artikel für die Markierung des Geschlechts nicht aus (*le/la prêtre). In die Adjektivdeklination wurde in wesentlich mehr Fällen als im Altfranzösischen im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts der Genusunterschied mit der Markierung durch auslautendes [-ə] eingeführt: fort ‚stark‘ – forte, vert ‚grün‘ – verte, grand ‚groß‘ – grande. Wenn dieser Unterschied auch bei Adjektiven auf -al und -el eingeführt wurde, war dies am Anfang wohl eine nur graphische Markierung: général ‚allgemein‘ – générale, tel ‚solch‘ – telle, quel ‚welch‘ – quelle. In der Gegenwartssprache werden Maskulinum und Femininum in der Regel nicht unterschieden; lautlich betrachtet gibt es für beide Genera meist nur eine Form, auch wenn graphisch ein Unterschied markiert wird wie in caduc ‚hinfällig‘ – caduque, puéril ‚kindisch‘ – puérile, public ‚öffentlich‘ – publique. Gelegentlich bleiben die Genera der Adjektive verschieden und sie können dann das Genus der Substantive markieren wie in un bon roman ‚ein guter Roman‘ – bonne chance ‚viel Glück‘, un vent frais ‚ein frischer Wind‘ – une boisson fraîche ‚ein kühles Getränk‘. Hierher gehören auch die Partizipien, die sich nach dem Genus unterscheiden können, z. B. pris ‚genommen‘ – prise. Betrachtet man die Entwicklung der Kategorie des Genus im Französischen im Ganzen, stellt man zwei gegenläufige Entwicklungen fest. Einerseits wurde die Markierung des Genus aufgegeben, andererseits wurde sie im Spätmittelalter verstärkt und sogar noch heute erweitert durch das Verfahren der Motion in der Wortbildung (jardinier ‚Gärtner‘ → jardinière ‚Gärtnerin‘). 5.8.3.5 Determinanten und Pronomina Unter den Determinanten ist der Artikel der wichtigste, da er den syntagmatischen Ausdruck der ehemals paradigmatischen nominalen Bestimmungen übernimmt. Der bestimmte Artikel ermöglicht die Unterscheidung zwischen Komparativ und Superlativ. Unter den Proformen wird der Unterschied zwischen einer pronominalen Verwendung und einer Verwendung als Adjektiv bzw. als Determinant verstärkt. Wir besprechen nur diejenigen Proformen, die in besonders klarer Weise die Vereinheitlichung der Formen und Funktionen zeigen und die besonders häufig sind. Das sind die Personal- und Possessivpronomina sowie die Demonstrativa.
Artikel Der Untergang der Kategorien des Substantivs hatte Konsequenzen für die Verwendung des Artikels. Der Artikel aktualisiert nicht nur, er markiert auch die nominalen Kategorien. Für Pierre Ronsard war seine Verallgemeinerung bereits fester Bestandteil des Französischen. Bei den Formen des bestimmten femininen Artikels la – les gibt es keine Veränderungen gegenüber dem Altfranzösischen. Im Maskulinum Singular wurde der Objektskasus le zum alleinigen bestimmten Artikel im Singular und les im Plural. Damit konnte das Genus im Plural nicht mehr unterschieden werden. Als
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unbestimmte Artikel fungierten un, une im Singular, des im Plural, Formen, die zuerst der Partikularisierung dienten. Der unbestimmte Artikel für aus zwei Teilen bestehende Gegenstände (uns ciseaux ‚eine Schere‘) und für den kollektiven Plural (unes nopces ‚eine Hochzeit‘, unes orgues ‚eine Orgel‘) hielt sich nicht über das 16. Jahrhundert hinaus. Der so genannte Teilungsartikel, d. h. der Artikel für Stoffnamen wie in du pain ‚Brot‘, de la bière ‚Bier‘, eine Innovation des Mittelfranzösischen, die der Anwendung des typologischen Prinzips der syntagmatischen Bestimmung zu verdanken ist, kannte noch nicht die heutige Verbreitung, so dass die Verallgemeinerung des Artikels anfangs nur die zählbaren Substantive betraf wie in le pain, un pain und des pains. Die in diesen Beispielen vorkommenden Verwendungen des Artikels sind spezifisch, d. h., er bezeichnet zusammen mit dem Substantiv einen einzelnen Gegenstand oder Sachverhalt (1.4.3). Erst vom 16. Jahrhundert an wurde auch der generische Artikel allgemein. Der Grammatiker Meigret (1980: 21) weist ausdrücklich darauf hin, dass l’homme ‚der Mann, der Mensch‘ und la chaleur ‚die Hitze‘ entweder spezifisch oder allgemein, d. h. generisch zu verstehen sind.
Komparativ und Superlativ Das Französische hat den paradigmatischen Ausdruck des Komparativs und Superlativs verloren. Der Komparativ wurde im Altfranzösischen, von einigen Konservationen abgesehen, mit plus oder moins + Adjektiv gebildet. Der Superlativ war ein relativer Superlativ, der einen Vergleich innerhalb einer bestimmten Gruppe implizierte. Wenn Chrétien de Troyes in Yvain den Ritter Keu zu Calogrenant sagen lässt: “Et certes molt m’est bel quant vos / estes li plus cortois de nos” (‚Und gewiss freut es mich, dass Ihr der höfischste von uns allen seid‘; Vers 73–74; Roques (éd.) 1968), dann wird Calogrenant aus einer Vergleichsgruppe von sechs Rittern herausgehoben. Dieser Superlativ wurde später in der Weise verallgemeinert, dass eine Vergleichsgruppe nicht mehr genannt werden musste. Von Malherbe an wurde der bestimmte Artikel beim Superlativ obligatorisch. Die Formen sind seitdem bon ‚gut‘ – meilleur ‚besser‘, moins bon ‚weniger gut‘ – le meilleur ‚der beste‘, grand ‚groß‘ – plus/moins grand ‚größer, weniger groß‘ – le plus/moins grand ‚der größte, der am wenigsten große‘. Nach dem Vorbild des Lateinischen und des Italienischen wurde der Versuch unternommen, einen Elativ, also den Ausdruck des höchsten Grads ohne impliziten Vergleich, mit dem Suffix -issime einzuführen. Davon sind im Französischen nur die ironisch oder scherzhaft zu verwendenden Adjektive sérénissime ‚durchlauchtigst‘, richissime ‚steinreich‘, rarissime ‚sehr selten‘ geblieben. Der Elativ wird syntagmatisch mit très ausgedrückt.
Personalpronomina Die Personalpronomina der ersten und der zweiten Person, moi – je, toi – tu, seien mit ihrem Unterschied zwischen betonten und unbetonten Formen nur erwähnt. Für
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unsere Frage ist die „dritte“ Person besonders relevant. Die Opposition im Singular zwischen il und elle bleibt. Im 14. Jahrhundert kam ein neuer Plural ilz, ils hinzu, der in Analogie zum Singular neu gebildet wurde und zugleich auch dem Unterschied zwischen Singular und Plural bei elle/elles entspricht. Damit wurde die Ambiguität des afrz. il aufgehoben, das sowohl Maskulinum Singular wie Maskulinum Plural war. Die ehemaligen betonten Obliquusformen lui und eux wurden zu betonten Formen der Personalpronomina in Subjektsfunktion, elle und elles setzten dagegen die betonten altfranzösischen Formen fort. Nach der Umstrukturierung werden die Personalpronomina mit den Formen lui – il eux – ils
elle elles
verwendet, der Unterschied zwischen betont und unbetont erscheint also nur bei den maskulinen Formen, nicht bei den femininen. Die betonten Formen werden ebenfalls im Prädikat gebraucht. Statt ce sui je ‚ich bin es‘ sagt man nun c’est moi. Das pronominale Subjekt wurde verallgemeinert: “« vous verrez tost la bataille du petit Saintré et de moy »” (‚Gleich werdet Ihr den Kampf zwischen dem kleinen Saintré und mir sehen‘; de la Sale 1967: 7), sagt die Edeldame, deren Namen uns der Autor verschweigt, zu den Damen ihres Gefolges in Le Petit Jean de Saintré, einem Roman von Antoine de la Sale, der 1456–1461 geschrieben wurde. Der kleine Jean de Saintré wird von der Edeldame bedrängt, ihr die Dame seines Herzens zu verraten: “Et quant il fut bien d’elles tout assailli, alors il dist : « Que voulez vous que je vous die, quant je n’en ay point ? Et se j’en eusse, je le diroye voluntiers. »” (‚Und als er von ihnen hart bestürmt wurde, da sagte er: ‚Was soll ich Euch sagen, wo ich doch gar keine habe? Wenn ich eine hätte, würde ich es gerne sagen‘‘; de la Sale 1967: 8). Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurde das unbetonte Subjektspronomen wie in diesem Roman bereits regelmäßig verwendet, doch blieb die Nicht-Verwendung bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts gelegentlich möglich. In unseren Beispielen kamen nur Personalpronomina ohne Substantive in Subjektsfunktion vor. Schließlich wurden die nominalen Subjekte in der gesprochenen Sprache durch das unbetonte Personalpronomen wiederaufgenommen. Ein frühes Beispiel dafür aus der Fachliteratur ist “Sa dame elle est belle femme” (‚Seine Frau ist groß und kräftig‘; Bauche 31929: 154). Dieses Verfahren gelangte nicht in die Standardsprache, es ist gleichwohl nicht nur im volkstümlichen Französisch regelmäßig, sondern im gesprochenen Französisch schlechthin häufig. Die pronominale Wiederaufnahme von Satzgliedern erlaubt es übrigens, diese in den Satzkern zu integrieren: “Elle n’y a encore pas voyagé, ta cousine, en Afrique” (‚Afrika hat deine Cousine noch nicht bereist‘). Oder: “L’a-t-il jamais attrapé, le gendarme, son voleur?” (‚Hat der Polizist denn überhaupt seinen Dieb gefasst?‘; Bauche 31929: 126). Der syntagmatische Ausdruck der Person wurde nicht nur in den Fällen eingeführt, in denen der Ausdruck der Person beim Verb nicht eindeutig war, sondern er wurde grammatikalisiert. Die
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syntagmatische Markierung geht sogar so weit, dass sie in der gesprochenen Sprache auch bei der Nennung eines nominalen Subjekts vorkommt. Der französische Satzkern wird zu einer kompakten Einheit, in die auch weitere Satzglieder pronominal eingefügt werden. Die nominalen Satzglieder selbst befinden sich außerhalb des Satzkerns (cf. 4.5.2.8).
Possessivpronomina Die Possessivpronomina sind Adjektive, die semantisch den Personalpronomina entsprechen (2.3.2.1). Die unbetonten und die betonten Formen des Altfranzösischen erhielten eine neue Funktion: Die unbetonten Formen bleiben adjektivische Determinanten, die betonten Formen wurden zu substantivierten Possessivpronomina. Nach der Reduktion des Kasus blieben bei den Determinanten die Kategorien Genus und Numerus übrig, die sich in regelmäßigen neu gestalteten Formen ausdrücken: mon – ma/mes, ton – ta/tes, son – sa/ses, leur, nostre/nos, vostre/vos, leur und leurs. Die bemerkenswerteste Umgestaltung vollzog sich aber im Bereich der betonten Formen, die zu substantivischen Possessivpronomina wurden. Die drei Formen des Maskulin Singulars wie des Femininums wurden in Analogie zum Maskulinum Singular der ersten Person, mien, neu gebildet. Das gesamte Paradigma richtete sich auf mien aus: mien ← tuen ← suen ↑ moie ← toue ← soue Das Ergebnis der Analogiebildungen ist ein Paradigma, bei dem m-, t-, s- für die erste, zweite und dritte Person Singular und -ien für das Maskulinum, -ienne für das Femininum stehen: mien mienne
tien tienne
sien sienne
Die Plurale nôtre, vôtre sowie leur und leurs für den Bezug auf mehrere Personen setzen dagegen im Wesentlichen die traditionellen Formen fort.
Demonstrativa Eine der überraschendsten Innovationen ist die Vereinheitlichung des Demonstrativpronomens. Aus dem zweistufigen System des Altfranzösischen mit cist ‚dieser‘ und cil ‚jener‘ für die adjektivische und substantivische Verwendung kam es zu einer Funktionstrennung bei den Fortsetzungen von cist für die adjektivische Funktion (ce, cet, cette, ces) und von cil für die substantivische Funktion. Dabei fand nach einer verwickelten Entwicklung eine letztendliche Verallgemeinerung in der Weise statt, dass die
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Objektformen nach dem Untergang des Kasus übrigblieben. Diese Objektformen sind in einer neuen Weise systematisch gestaltet, denn sie sind so gebildet, als seien sie aus ce und den Formen des betonten Personalpronomens zusammengesetzt: lui – celui, elle – celle, eux – ceux, elles – celles (Marchello-Nizia 1995: 115–151). Der Verlust der nominalen Kategorien führte dazu, dass das Wort als grammatische Schicht entstand. Das typische französische Substantiv enthält keine grammatische Markierung mehr in sich, sondern erhält seine grammatischen Bestimmungen in der Wortgruppe, also in einer höheren grammatischen Schicht, durch syntagmatische Bestimmungen (1.4.5). 5.8.3.6 Das Verb Wie bei den nominalen Formen findet auch bei den verbalen eine gewisse Vereinheitlichung statt. Sie ist offenbar deshalb weniger tiefgreifend, weil die Kategorien des Verbs zugleich Kategorien des Satzes sind. Die Vereinheitlichung der Verbmorphologie ist unabhängig von ihrem paradigmatischen oder syntagmatischen Ausdruck. Das Altfranzösische hatte 1. Unregelmäßigkeiten im Bereich der Lexemalternanzen, die durch den Wechsel des Akzents zwischen lexembetonten („stammbetonten“) und endungsbetonten Formen entstanden waren, z. B. aim ‚ich liebe‘ – amons ‚wir lieben‘, parol ‚ich spreche‘ – parlons ‚wir sprechen‘, voi ‚ich sehe‘ – veons ‚wir sehen‘; 2. Tempus- und Modusmorpheme wie -oi- für den Indikativ Imperfekt, -r- für das Futur und den Konditional, -ss- für den Konjunktiv Imperfekt; 3. Personalendungen. Die Lexemalternanzen wurden entweder zugunsten der lexembetonten oder der endungsbetonten Formen aufgehoben. Die Vereinheitlichung nach den endungsbetonten Formen wie bei parlons und parlez ist der häufigere Fall, wir exemplifizieren dennoch auch die Vereinheitlichung nach den lexembetonten Formen wie bei aim und voi, die veranschaulichen sollen, dass die Reduktion der Unregelmäßigkeiten eben in beide Richtungen gehen kann. Die lexembetonten altfranzösischen Formen werden linksbündig aufgelistet, die endungsbetonten erscheinen etwas nach rechts versetzt: afrz. aim aimes aime amons amez aiment
nfrz. j’aime tu aimes il/elle aime nous aimons vous aimez ils/elles aiment
afrz. parol paroles parole parlons parlez parolent
nfrz. je parle tu parles il/elle parle nous parlons vous parlez ils/elles parlent
afrz. voi vois voit veons veez voient
nfrz. je vois tu vois il/elle voit nous voyons vous voyez ils/elles voient
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Die jeweils sechs verschiedenen Formen des Indikativ Präsens werden durch nur drei verschiedene im heutigen Französisch ersetzt, die Unterschiede der Person werden syntagmatisch ausgedrückt. Einige Lexemalternanzen wie dois – devons, veux – voulons bleiben zwar erhalten, sie sind aber kein Modell mehr für die Bildung neuer Alternanzen. Die Reduktion beschränkt sich nicht auf den Indikativ Präsens, sie erfasst auch das Imperfekt (veoie – voioie, je voyais; amoie – aimoie, j’aimais), den Infinitiv (veoir – voir, amer – aimer), das Präsenspartizip (veant – voyant, amant – aimant), das Partizip Perfekt (amé – aimé), das Futur (amerai – j’aimerai, donrai – je donnerai), den Konditional (ameroie – aimeroie, j’aimerais, donroie – donneroie, je donnerois, je donnerais), den Konjunktiv Imperfekt (amasse – j’aimasse) und weitere Formen. Die Analogie erstreckt sich meist auch auf die Perfektformen wie in amai – j’aimai. Daneben aber wirkt auch der lexembetonte Typ vi ‚ich sah‘ und dui ‚ich musste‘ vereinheitlichend. Die endungsbetonten Formen werden wieder von den lexembetonten durch eine Verschiebung nach rechts abgesetzt: afrz. vi veïs vit veïmes veïstes virent
nfrz. je vis tu vis il/elle vit nous vîmes vous vîtes ils/elles virent
afrz. oi eüs ot eümes eüstes orent
nfrz. j’eus tu eus il/elle eut nous eûmes vous eûtes ils/elles eurent
afrz. dui deüs dut deümes deüstes durent
nfrz. je dus tu dus il/elle dut nous dûmes vous dûtes ils/elles durent
Es bleiben vier verschiedene Formen übrig, die durch die Subjektpronomina differenziert werden. Die Personalendungen sind, soweit sie noch markiert sind, andere als beim Präsens und beim Imperfekt und sie kommen auch nur im Plural vor (/-m/, /-t/ und /-r/).
Tempora Das Altfranzösische kannte bereits die zusammengesetzten Tempora des heutigen Französisch, aber ihre Verwendung war seltener. Die zusammengesetzten Tempora der einwertigen (intransitiven) und der reflexiven Verben werden mit être gebildet (je suis parti ‚ich bin weggegangen‘, je me suis blessé ‚ich habe mich verletzt‘), die übrigen mit avoir. Noch im 15. Jahrhundert konnten Hilfsverb und Partizip ihre relative Selbständigkeit bewahren: “Si furent toutes les femmes mariées de la ville mandées” (‚Dann wurden alle verheirateten Frauen der Stadt kommen gelassen‘; Les cent nouvelles nouvelles; Sweetser (éd.) 1966: 222). Meist aber bildeten die zusammengesetzten Tempora schon früh fixierte Wortgruppen. Nur das Adverb konnte dem Partizip vorausgehen. Während des Mittelfranzösischen entstand ein neues Tempus, das periphrastische Futur vom Typ je vais chanter ‚ich singe gleich, ich werde gleich singen‘. Parallel
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dazu wurde das Perfekt je fis durch das zusammengesetzte Tempus j’ai fait ersetzt. Wenn Vaugelas anlässlich der Variation der Formen vesquit ~ vescut schrieb, dass manche Sprecher stattdessen j’ai vescu ‚ich habe gelebt‘ sagen, um das morphologische Problem zu umgehen, dann kann man dies als Ersetzung des einfachen Perfekts durch das zusammengesetzte erklären. Auch dieses Tempus ist insofern eine Neuerung, als es nicht mehr nur dem zusammengesetzten Perfekt entspricht, das eine vollendete Handlung ausdrückt, sondern zugleich eine Handlung allgemein in der Vergangenheit situiert. Wenn man eine Handlung wieder in der Vergangenheit situieren wollte, musste man die Vollendung zweimal ausdrücken, durch eu, das Partizip Perfekt von avoir, und das Partizip Perfekt des Verbs. Auf diese Weise betonte man, dass eine Handlung abgeschlossen war, bevor die nächste begann: “elle estoit damme, car messire Pennet l’avoit espousee, mais, pource qu’elle avoit eu espousé ung escuier au devant, le nom de damoiselle ne lui pouoit cheoir” (‚Sie war eine Edeldame, denn zwar hatte Herr Pennet sie geheiratet, weil sie aber vorher einen Junker geheiratet gehabt hatte, konnte ihr der Name eines Edelfräuleins nicht genommen werden‘; Cleriadus XX, 365; zitiert nach Zink 1990: 73). Dieses Tempus verortet eine vollendete Vergangenheit, die von einer anderen vollendeten Vergangenheit aus betrachtet wird. Die Gruppe der Tempora mit diesem Inhalt, die temps surcomposés oder überkomponierten Tempora, enthalten zwei Relationen, zum einen die Relation, die in unserem Beispielsatz zwischen estoit und avoit espousee besteht, zum anderen die Relation zwischen avoit espousee und avoit eu espousee. So können wir verallgemeinernd feststellen, dass j’ai fait in der gesprochenen Sprache die Funktion des Aorists übernommen hat, die neue Form j’ai eu fait stellt demgegenüber ein neues Perfekt dar. Der Aorist (griechisch für ‚unbestimmt‘) drückt die fortschreitende Erzählung, die Konstatierung einer Tatsache in der Vergangenheit und den Beginn oder das Ende einer Handlung aus. Das System der periphrastischen Tempora ist unter den romanischen Sprachen im Französischen besonders weit entwickelt. In der folgenden Übersicht wird auch der Ort derjenigen Tempora der retrospektiven Perspektive (z. B. j’aurai eu fait) und der prospektiven Perspektive (z. B. j’irais faire) angegeben, die wir nicht im Einzelnen besprochen haben: je fis je fais je ferai j’eus fait j’ai fait je vais faire j’aurai fait j’irai faire j’ai eu fait j’aurai eu fait je faisais je ferais j’avais fait j’aurais fait j’irais faire j’avais eu fait j’aurais eu fait
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Verbalperiphrasen des Aspekts Schon in vulgärlateinischer Zeit entstanden aspektuelle Verbalperiphrasen, die sich in den romanischen Sprachen weiterentwickelten. Von lexikalischen Besonderheiten abgesehen sind die französischen Aspektperiphrasen (cf. Dietrich 1973) nicht prinzipiell anders als die Aspektperiphrasen in den anderen romanischen Sprachen, sie sind aber vergleichsweise weniger entwickelt. Die mit aller (en) + Gerundium gebildete Periphrase hatte im Altfranzösischen eine durative Bedeutung, im heutigen Französisch drückt sie den progressiven Aspekt aus: “Son travail va en s’améliorant” – ‚Seine Arbeit wird zusehends besser‘. Die wichtigste Gruppe bilden aber die aus Verb + Infinitiv bestehenden Periphrasen, die die Phase angeben, in der sich ein durch ein Verb ausgedrückter Sachverhalt befindet. Wie im nachfolgenden Schema dargestellt, kann ein Sachverhalt vor seinem Beginn (a), an seinem Beginn (b), nach seinem Beginn (c), mitten in seiner Entwicklung (d) oder in seiner Fortsetzung (e), vor seinem Ende (f), an seinem Ende (g) und nach dem Ende (h) erfasst werden. Für alle diese Phasen außer (d) können wir einigermaßen übliche Termini angeben: (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ | | (a) je suis sur le point de + Inf.: imminentielle Phase (b) je me mets à, je commence à + Inf.: inzeptive Phase (c) je me mets à, je commence à + Inf.: ingressive Phase (d) je suis en train de, je suis à, je me trouve à + Inf.: progressive Phase (e) je continue à + Inf.: kontinuative Phase (f) je finis de + Inf.: finale Phase oder Endphase (g) je viens de, je sors de + Inf.: egressive Phase
Sonst sind die Aspektperiphrasen im Französischen eher selten. In literarischer Sprache ist noch venir à + Inf. möglich für den Ausdruck des Unerwarteten oder Zufälligen wie in “Il fallut venir malgré moi à agir” (Cardinal de Retz) – ‚Ich musste gegen meinen Willen dann doch handeln‘. Üblicher ist die Periphrase venir + Inf., die eine ähnliche Funktion wie venir à + Inf. hat: “La crise est venue bouleverser toutes nos prévisions” – ‚Die Krise hat alle unsere Erwartungen (schließlich) zunichtegemacht.‘ 5.8.3.7 Die Reihenfolge der Satzglieder Bei der Erörterung der lateinischen Satzgliedstellung hatten wir gesehen, dass die lateinischen Grammatiker zwischen einer grammatischen und einer rhetorischen Satzgliedstellung unterschieden (4.5.2.8). In ähnlicher Weise ist im Altfranzösischen mindestens von einer Satzgliedstellung in der Dichtung und einer Satzgliedstellung in der Prosa auszugehen, denn es wäre ein Fehler in der Methode, beides nicht zu trennen. Bis zum 12. Jahrhundert lag beinahe nur Dichtung vor, danach Dichtung und Prosa. Wir beschränken daher unsere Betrachtung auf die Zeit vom 13. Jahrhun-
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dert an. Dabei ist immer zu bedenken, dass die Autonomie des Wortes, insbesondere des Substantivs in dieser Zeit ständig zunimmt. Es folgt aus dem Verstummen der Auslautkonsonanten, dass die Kategorien des Kasus und Numerus nicht mehr durch Endungen, d. h. durch paradigmatische Bestimmungen ausgedrückt wurden, und es folgt daraus ebenfalls, dass diese Kategorien einen syntagmatischen Ausdruck durch eine Neuregelung der Satzgliedstellung oder der äußeren Bestimmungen erhielten. Wir hatten festgestellt, dass Subjekt und Verb im Vulgärlatein unmittelbar auf einander folgten und dass diese beiden Satzglieder den Satzkern bildeten. Der Satzkern ließ nur innere Bestimmungen zu, das sind solche, die das Subjekt oder das Verb betreffen (4.5.2.8). Im Altfranzösischen ist die Satzgliedstellung wieder, wahrscheinlich aufgrund des fränkischen Einflusses, freier geworden, als sie es im Vulgärlatein war. Der Wandel vom Alt- zum Neufranzösischen in diesem Bereich war tiefgreifender als in den anderen. Die Diskussion wird von der Frage domininiert, welche der Abfolgen von Subjekt, Verb und Objekt (SVO) im Laufe der französischen Sprachgeschichte dominierten. Dabei hat die Position des Subjekts am Anfang des Satzes die Gelehrten besonders beschäftigt, weil diese sich schließlich durchgesetzt hat. Man muss sich die Probleme aber nicht zwangsläufig in dieser Weise stellen. Wenn man das Verb, mit oder ohne Ausdruck des Subjekts, als Kern des Satzes betrachtet, lassen sich die Grundtypen der Satzgliedstellung reduzieren. Wenn man vom Satzkern ausgeht, lassen sich die folgenden Probleme identifizieren: (1) Wird das Subjekt durch eine Endung, ein Personalpronomen oder ein Substantiv ausgedrückt? (2) Geht das Subjekt dem Verb voraus oder folgt es ihm? (3) Wird ein Satzglied in den Satzkern eingefügt, d. h. (a) zwischen das Subjekt und das Verb oder (b) zwischen das Verb und das Subjekt? (4) Schließlich kann man sich die Frage nach der Stellung der unbetonten pronominalen Ergänzungen stellen. Zu (1) und (2). Wenn das Subjekt allein durch eine Endung ausgedrückt wird, beschränkt sich das Problem der Satzgliedstellung darauf, ob eine Ergänzung oder eine Angabe dem Verb vorausgeht oder ihm folgt. Da im Allgemeinen das Verb die zweite Stelle in einem Aussagesatz einnahm, hing die Abfolge der weiteren Satzglieder von der Informationsstruktur ab. Im Altfranzösischen dominierte die ThemaRhema-Gliederung des Satzes: “Là [ou mostier Saint-Estiene] ot maint conseil pris et doné” (‚Da [in der Stefanskirche] gab es manchen Rat, der angenommen und gegeben wurde‘; Villehardouin 1969: 61). Die Struktur dieses Satzes besteht aus einem unpersönlichen Verb, dem eine Ortsangabe vorausgeht, die eine Ortsangabe des vorangehenden Satzes wiederaufnimmt, und einem direkten Objekt. Wenn eine Ergänzung oder eine Angabe, seien es ein direktes oder indirektes Objekt, eine Umstandsbestimmung oder ein Adverb dem Verb vorausgehen, folgt das Subjekt dem Verb: “Ensi s’en ala li cuens Loeys et li autre baron en Venise” (‚So zogen Graf Ludwig und die anderen Barone nach Venedig‘; Villehardouin 1969: 40). Die Satzgliedfolge ist nicht anders, wenn das Thema ein direktes Objekt ist. Beim folgenden Satz geht voraus, dass der Graf Thibaut de Champagne seinen Besitz verteilte: “Une autre partie comanda li cuens de son avoir à retenir por porter en l’ost” (‚Einen weiteren Teil seines Besitzes
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befahl der Graf zurückzubehalten, um ihn ins Heer zu bringen‘; Villehardouin 1969: 35). Am Anfang eines Abschnitts nimmt das Subjekt ganz natürlich die erste Stelle ein: “Li cuens Baudoins de Flandres et de Hennaut chevauche, qui l’avant garde faisoit, et les autres batailles aprés chascune si cum eles chevauchier devoient” (‚Der Graf von Flandern und Hennegau, der die Vorhut machte, reitet voran und danach die anderen Truppen so, wie sie reiten sollten‘; Villehardouin 1969: 69–70). Die Kohäsion von Subjekt und Verb ist in unserem Referenztext stets gegeben. Das Subjekt wird darin meist nicht pronominal ausgedrückt, wenn es im folgenden Satz gleich bleibt. Das pronominale Subjekt erscheint jedoch regelmäßig in subordinierten Sätzen. Was die folgende Entwicklung angeht, verweise ich auf den Abschnitt zu den Personalpronomina (5.8.3.5). Das pronominale Subjekt ist im 17. Jahrhundert grammatikalisiert worden. Die starke Kohäsion von Subjekt und Verb hat zur Folge, dass die anderen Satzglieder eine freiere Abfolge bekommen. Zu (3). Der Fall, bei dem das Objekt oder weitere Bestimmungen zwischen das Subjekt und das Verb eingefügt werden (3a), d. h. die mehrheitliche Satzgliedfolge des Lateinischen, ist noch nicht einmal im Rolandslied, also in der Dichtung häufig belegt. Der Typ “Li quens Rollant Gualter del Hum apelet” (‚Graf Roland ruft Walter del Hum‘; Vers 803), bei dem die Satzgliedfolge nominales Subjekt, nominales Objekt und Verb vorliegt, kommt nur 26 Mal im Rolandslied vor, der analoge Typ mit einem pronominalen Objekt kein einziges Mal. Schon im 13. Jahrhundert war er nicht mehr belegt (Marchello-Nizia 1995: 75, 81). Der Typ 3b erscheint im Altfranzösischen überhaupt nicht mehr. Zu (4). Im Mittelfranzösischen wurde die Satzgliedfolge pronominales Subjektpronominales direktes Objekt-pronominales indirektes Objekt-Verb grammatikalisiert. Die Person, um die es im folgenden Satz geht, ist wieder Jean de Saintré: “« Il n’est pas ores pourveu de vous faire telle response; mais s’il vous plait ceste foiz lui pardonner, il la vous fera demain »” (‚Es ist jetzt nicht dafür gesorgt, Euch eine Antwort zu geben. Aber wenn Ihr beliebt, ihm diesmal zu verzeihen, wird er sie Euch morgen geben‘; de la Sale 1967: 8). Hier geht in diesem konkreten Fall das direkte pronominale Objekt dem indirekten voraus. Was diese interne Reihenfolge angeht, wird es bis zum 17. Jahrhundert noch einige Veränderungen geben. Das Prinzip selbst wandelt sich aber nicht mehr. Die strenge Fixierung erlaubt auf der anderen Seite eine große Freiheit bei der Rechts- und Linksversetzung der entsprechenden direkten und indirekten nominalen Objekte. Beispiele dazu finden sich im Abschnitt zu den Personalpronomina. Aus typologischer Sicht ist die altfranzösische Abfolge der Elemente im Satz im Vergleich zur vulgärlateinischen weniger auffällig, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Was im Altfranzösischen gegenüber dem Vulgärlatein neu ist, ist die Abfolge von Subjekt und Verb untereinander. Die „Inversion des Subjekts“ ist nur eine gelegentliche Konservation einer größeren Positionsfreiheit im älteren Französisch. Auch die Stellung des Objekts und weiterer Bestimmungen des Satzes im Ver-
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hältnis zu Subjekt und Verb wurde beim Übergang vom Alt- zum Neufranzösischen neu geordnet. Dagegen wurde der starke Zusammenhang zwischen den Elementen des Satzkerns wie in den übrigen romanischen Sprachen auch im Französischen vom Vulgärlatein an tradiert. 5.8.3.8 Wortbildung Man behauptet oft, dass die Wortschöpfung im Französischen sehr eingeschränkt ist (cf. 2.3.2). Das trifft auf die Suffigierung und die Präfigierung zu, ist aber im Hinblick auf eine globale Betrachtung der französischen Wortbildung nur bedingt richtig. Die Wortzusammensetzung ist sogar recht produktiv und auch die Konversion weist relativ wenig Beschränkungen auf. Wir betrachten zuerst die Komposita vom Typ Substantiv + Substantiv, Verb + Lexem und die Konversion, danach einige Wortbildungsperiphrasen. Was ist an diesen Verfahren typologisch relevant? Typologisch relevant sind die Auswirkungen der Unveränderlichkeit des Lexems. Wir hatten gesehen, dass namentlich die Substantive, aber zum Teil auch die Adjektive und zahlreiche Verbformen entweder durch Lautwandel unveränderlich oder wenigstens einheitlicher wurden, als sie es im Altfranzösischen waren. Daraus ergab sich in der Grammatik die Notwendigkeit einer syntagmatischen Bestimmung. In der Wortbildung können die keine weiteren Bestimmungen enthaltenden Lexeme leichter miteinander kombiniert oder von einer Wortkategorie in die andere übergeführt werden als morphologisch komplexe Lexeme. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Substantive miteinander kombiniert werden: année-lumière ‚Lichtjahr‘, cellules souches ‚Stammzellen‘, État-membre ‚Mitgliedsstaat‘, guerre éclair ‚Blitzkrieg‘, jardin éco-citoyen ‚Ökogarten‘, prix-choc ‚Schleuderpreis‘, roman choc ‚aufsehenerregender Roman‘, projet phare ‚Vorzeigeplan‘, saucisse cocktail ‚Cocktailwürstchen‘. Ein Blick in Le Monde zeigt die Häufigkeit des Verfahrens in Texten. Hier ein Beispiel unter vielen: “Pour ne pas être accusé d’immobilisme, un ministre [de l’éducation] est tenté de faire des annonces sur tous les sujets grand public” (‚Um nicht als fortschrittsfeindlich zu gelten, ist ein [Kultus-] Minister immer der Versuchung ausgesetzt, sich über alle die breite Öffentlichkeit interessierenden Themen auszulassen‘; Le Monde, 25. 6. 2005). Wir gehen nicht auf die Frage ein, in welcher Beziehung die beiden Substantive zueinander stehen können. Aber auch die Vielfalt der Beziehungen spricht für die Produktivität des Ver fahrens. Nicht weniger bemerkenswert ist die Produktivität des Typs Verb + Ergänzung. Aus typologischer Sicht liegen eine unveränderliche Form des Verbs und ein sonstiges unveränderliches Lexem vor. Dabei ist es für unsere Frage belanglos, dass die Komposita als zusammengesetzte Adjektive entstanden sind, die ein Substantiv bestimmen, z. B. machine lave-vaisselle → lave-vaisselle ‚Geschirrspüler‘. Weitere Beispiele sind casse-noix ‚Nussknacker‘, coupe-papier ‚Papiermesser‘, cure-dents ‚Zahnstocher‘, porte-manteau ‚Kleiderständer, -haken‘, porte-parole ‚Sprecher‘, sèche-cheveux ‚Haar-
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trockner‘, trouble-fête ‚Störenfried‘. Die Erklärungen dieses Wortbildungstyps gehen sehr oft von einer komplexen Morphologie aus, z. B. von Nullsuffixen. Da die Morphologie gerade abgebaut wurde und dieser Wortbildungstyp im Französischen gut ausgebaut ist, liegt eine typologische Motivation nahe. Die Konversion kann ein syntagmatisches oder ein paradigmatisches Verfahren beinhalten. Bei dedans → le dedans ‚das Innere‘, dessous → le dessous ‚die Unterseite‘, sans abri → le sans-abri ‚der Obdachlose‘ liegt ein syntagmatisches Verfahren vor. Der Übergang vom Adverb zum Substantiv oder von der Wortgruppe zum Substantiv wird nur durch den Artikel zuwege gebracht. Der Fall von détenu → le détenu ‚der Häftling‘, étonnant → l’étonnant ‚das Erstaunliche‘, l’important ‚das Wichtige‘, vouloir → le vouloir ‚das Wollen‘, faire → le faire ‚das Tun‘, dire → le dire ‚das Sagen‘, être → l’être ‚das Sein‘ ist ähnlich, hier kommt aber zum Wortkategorienwechsel noch die Selektion eines Morphems der Grundlage hinzu, z. B. das Partizip Präsens oder Perfekt und der Infinitiv. Eine paradigmatische Konversion besteht bei peigne ‚Kamm‘ → peigner ‚kämmen‘, référence ‚Aktenzeichen‘ → référencer ‚mit einem Aktenzeichen versehen‘, en barque → embarquer ‚einschiffen‘, de la barque → débarquer ‚ausschiffen‘. Hierbei werden die Determinanten und Morpheme der Grundlage durch die Morpheme des abgeleiteten Verbs ausgetauscht. Dieser Typ war schon im Lateinischen produktiv, er ist es in den anderen romanischen Sprachen ebenfalls und typologisch gesehen ist er für das Französische nicht spezifisch. Die Suffigierungen der anderen romanischen Sprachen sind im Französischen bisweilen durch Periphrasen ersetzt worden. Die Diminutivierung des Substantivs ist fast ganz durch Periphrasen mit petit abgelöst worden, z. B. oiselet – petit oiseau ‚Vögelchen‘. Die analoge Häufigkeit von grand zeigt an, dass auch die Augmentivierung syntagmatisch gebildet wird; sie ist aber wenig auffällig, da sie im Französischen nicht sehr produktiv war. Neben diesen bekannteren Ersetzungen gibt es Periphrasen im Grunde für alle Wortbildungsverfahren. Der Journalist, der “Le simple fait d’apparaître dans ces palmarès” (‚Das bloße Vorkommen auf diesen Rankinglisten‘; Le Monde, 15. 6. 2005) geschrieben hat, wollte absichtlich nicht apparition schreiben, ein Wort, das möglicherweise unerwünschte Diskursbedeutungen evoziert. Meist aber wird eine Periphrase gewählt, wenn eine Neubildung abgelehnt wird oder wenn sie nicht üblich ist, z. B. in caractère exceptionnel ‚Außergewöhnlichkeit‘, caractère populaire ‚Volkstümlichkeit‘ (popularité hat meist eine andere Bedeutung), caractère scientifique ‚Wissenschaftlichkeit‘ (scientificité ist belegt, wird aber oft vermieden), état précaire ‚Unsicherheit‘ (précarité gibt es zwar auch, dieses Wort wird aber ebenfalls oft vermeiden). Weniger auffällig als die Ableitung deverbaler und deadjektivischer Prädikatnominalisierungen ist die Ableitung von denominalen Prädikatnominalisierungen. Auch hier kann der Ausdruck periphrastisch sein: condition de femme ‚Frausein‘, neben condition féminine und féminité, z. T. mit Bedeutungsnuancen. Bei einer nur innerfranzösischen Sprachbetrachtung wird man der typologischen Eigenheiten der französischen Wortbildung nicht recht gewahr. Daher ist der innerromanische Vergleich instruktiv. Ein Blick auf it. coltellata und sp. cuchillada zeigt, dass
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der semantisch äquivalente Ausdruck coup de couteau ‚Messerstich‘ eine Periphrase ist. Wenn man daraufhin Wortgruppen wie coup de corne ‚Hornstoß‘, coup de crayon ‚Bleistiftstrich‘, coup de main ‚Handstreich‘, coup d’oeil ‚Blick‘, coup de tête ‚unüberlegter Streich‘ ansieht, erscheint die Vielfalt der Verwendungen von coup nur dadurch motiviert, dass es Element einer Periphrase ist. Die Systeme der Personalpronomina, der Demonstrativa, die Verbmorphologie, der Satzrhythmus und die Satzgliedfolge wandelten sich. Durch das Wirken des Prinzips der Analogie wurden die durch die Lautentwicklung entstandenen Unregelmäßigkeiten wieder regularisiert. Der Kulturwandel, der sich im Spätmittelalter am Lateinischen orientierte, führte zu einer massiven Entlehnung lateinischer Wörter. Sie war dadurch mitmotiviert, dass die Lexeme unveränderlich geworden sind. Man vergleiche im Unterschied dazu die Eindeutschung der Latinismen, die in der deutschen Sprachgeschichte propagiert wurde. Aber auch französische Wortbildungsmuster erfuhren eine vorher nicht gekannte Produktivität. Der Wandel vom Alt- zum Neufranzösischen ging nicht nur von der gesprochenen Sprache des Volks aus, sondern ebenso von der geschriebenen. Der in den Texten feststellbare Wandel nahm aber viele verschiedene Richtungen. Daher gibt es neben der Kontinuität der Entwicklung viele Brüche.
5.8.4 Das Neufranzösische 5.8.4.1 Die Académie française und Vaugelas Nur gelegentlich und punktuell wurde die Kodifizierung durch die dafür gegründete Institution, die Académie française, betrieben. Sie wurde 1635 unter der Schirmherrschaft des Kardinals Richelieu und 1637 durch die Registrierung des Pariser Gerichtsparlaments sanktioniert. Pate stand dabei die Florentiner Accademia della Crusca. Im 26. Artikel der Statuten wurden die Aufgaben der Akademie festgelegt: “Il sera composé un Dictionnaire, une Grammaire, une Rhétorique et une Poétique sur les observations de l’Académie” (‚Es soll ein Wörterbuch, eine Grammatik, eine Rhetorik und eine Poetik nach den Bemerkungen der Akademie verfasst werden‘). Obgleich die Realisierung einer Akademiegrammatik bis 1932 auf sich warten ließ, hatten doch die 1647 erschienenen Remarques sur la langue françoise utiles à ceux qui veulent bien parler et bien escrire (‚Bemerkungen über die französische Sprache zum Nutzen derer, die richtig sprechen und richtig schreiben wollen‘) von Claude Favre de Vaugelas (1585–1650) mit ihren Fortsetzungen durch andere Akademiemitglieder (cf. 1970, 2009) diese Aufgabe erfüllt. Damit wurde die offizielle Kodifizierung und Normierung des Französischen eingeleitet. Der in Meximieux in der Bresse geborene Vaugelas kam früh nach Paris. Der Beobachtung der Sprache der Stadt hatte sich niemand vorher so intensiv gewidmet wie dieser Savoyarde. Nicht von ungefähr vertraute ihm daher die Académie française die
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Abfassung des Wörterbuchs an. Die Arbeiten daran wurden 1650 durch seinen Tod unterbrochen. Man hatte die Größe der Aufgabe unterschätzt. In welchem Verhältnis dagegen die Remarques zur Grammatikkonzeption der Akademie standen, ist nicht genau zu klären. Vor allem aber sind sie keine Grammatik. Für das Verständnis der standardsprachlichen Entwicklung des Französischen ist es wichtig, die Beobachtung des Sprachgebrauchs von seiner traditionsbildenden Sanktionierung durch seine Nachfolger zu unterscheiden. Vaugelas war ein aufmerksamer Zuhörer und ein vorzüglicher Beobachter des ‚richtigen‘ Sprachgebrauchs. Er gibt sich als Zeuge des Sprachgebrauchs seiner Zeit, nicht als ihr Richter: “Mon dessein n’est pas de reformer nostre langue, ny d’abolir des mots, ny d’en faire, mais seulement de monstrer le bon usage de ceux qui sont faits, et s’il est douteux ou inconnu, de l’esclaircir, et de le faire connoistre. Et tant s’en faut que j’entreprenne de me constituer Juge des differens de la langue, que je ne pretens passer que pour un simple tesmoin, qui depose ce qu’il a veu et oüi, ou pour un homme qui auroit fait un Recueil d’Arrests qu’il donneroit au public. C’est pourquoy ce petit Ouvrage a pris le nom de Remarques, et ne s’est pas chargé du frontispice fastueux de Decisions, ou de Loix, ou de quelque autre semblable; Car encore que ce soient en effet des Loix d’un Souverain, qui est l’Usage, si est-ce qu’outre l’aversion que j’ay à ces titres ambitieux, j’ay deu esloigner de moy tout soupçon de vouloir establir ce que je ne fais que rapporter” (2009: 65). ‚Weder ist es meine Absicht, unsere Sprache zu reformieren, noch Wörter auszumerzen noch welche zu bilden, sondern ich will nur den richtigen Gebrauch der bereits gebildeten zeigen und ihn, wenn man sich darüber im Zweifel und er unbekannt ist, klären und bekannt machen. Ich habe durchaus nicht vor, mich zum Richter in sprachlichen Streitfragen aufzuwerfen, sondern ich möchte als ein schlichter Zeuge gelten, der nur aussagt, was er gehört und gesehen hat, oder als ein Mann, der eine Sammlung von Urteilen machen würde, die er der Öffentlichkeit übergäbe. Deshalb hat dieses kleine Werk auch nur den Namen Bemerkungen bekommen und führt keine Beschlüsse oder Gesetze oder dergleichen auf einer prachtvoll ausgestatteten Titelseite, denn obgleich es sich wirklich um die Gesetze eines Herrschers handelt – denn das ist ja der Sprachgebrauch –, habe ich doch – ganz abgesehen von meiner Abneigung gegen derlei hochtrabende Titel –, jeden Verdacht von mir weisen müssen, dass ich einführen möchte, was ich bloß berichte.‘
Ob Vaugelas den usage als coutume, als Gewohnheitsrecht, oder in Analogie dazu versteht, muss dahingestellt bleiben, solange der schlagende Beweis für diese Interpretation fehlt. Gleichwohl hat die Sprache des Rechts in allgemeiner Weise auf die Sprache der Argumentation eingewirkt, wie der zitierte Passus zeigt. Wenn der Sprachbeobachter nun abwägt, ob dem usage oder der raison zu folgen sei, wählt er stets den usage, denn das Französische gründet sich auf dem usage oder auf der analogie, nicht aber auf der raison: “De tout ce discours il s’ensuit que nostre langue n’est fondée que sur l’Usage ou sur l’Analogie, laquelle encore n’est distinguée de l’Usage, que comme la copie ou l’image l’est de l’original, ou du patron sur lequel elle est formée, tellement qu’on peut trancher le mot, et dire que nostre
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langue n’est fondée que sur le seul Usage, ou desja reconnû, ou que l’on peut reconnoistre par des choses qui sont connuës, ce qu’on appelle Analogie. [2.] D’où il s’ensuit encore que ceux-là se trompent lourdement, et pechent contre le premier principe des langues, qui veulent raisonner sur la nostre, et qui condamnent beaucoup de façons de parler generalement receuës, parce qu’elles sont contre la raison; car la raison n’y est point du tout considerée, il n’y a que l’Usage et l’Analogie” (2009: 81). “En un mot l’Usage fait beaucoup de choses par raison, beaucoup sans raison, et beaucoup contre raison” (2009: 81). ‚Aus diesen Worten folgt, dass unsere Sprache nur auf den Sprachgebrauch oder auf die Analogie gegründet ist, die sich vom Sprachgebrauch lediglich wie das Bild oder Abbild vom Original oder von der Vorlage unterscheidet, der es nachgebildet ist, so dass man schlichtweg behaupten darf, dass sich unsere Sprache ausschließlich entweder auf den bereits anerkannten oder auf den nach dem Bekannten anzuerkennenden Sprachgebrauch, Analogie genannt, gründet. Daraus folgt ferner, dass diejenigen sich schwer täuschen und gegen den wichtigsten sprachlichen Grundsatz verstoßen, die unsere Sprache über den Leisten der Vernunft schlagen wollen und viele allgemein gängige Redeweisen verurteilen, weil sie vernunftwidrig seien, denn die Vernunft ist überhaupt nicht betroffen. Es geht nur um Sprachgebrauch und Analogie.‘ ‚Kurzum, der Sprachgebrauch macht vieles vernunftgemäß, vieles vernunftlos und vieles vernunftwidrig.‘
Unter analogie versteht man heute den Systemcharakter einer Sprache in ihrer Morphologie. Andere Vorbilder wie der Sprachgebrauch des Lateinischen oder des Griechischen haben bei seinen Betrachtungen keinen Platz. Vaugelas geht streng empirisch vor und stellt den usage einfach fest. Den usage grenzt er in der Architektur des Französischen diatopisch auf die Sprache von Paris ein, er erteilt aber der Anerkennung der Sprache der Hauptstadt insgesamt eine Absage: “si ce n’est autre chose, comme quelques-uns se l’imaginent, que la façon ordinaire de parler d’une nation dans le siège de son Empire, ceux qui y sont nez et élevez, n’auront qu’à parler le langage de leurs nourrices et de leurs domestiques, pour bien parler la langue de leur pays, et les Provinciaux et les Estrangers pour la bien sçavoir, n’auront aussi qu’à les imiter. Mais cette opinion choque tellement l’experience generale, qu’elle se refute d’elle mesme, et je n’ay jamais peu comprendre, comme un des plus celebres Autheurs de nostre temps a esté infecté de cette erreur” (2009: 66–67). ‚wenn er, wie einige meinen, nichts anderes ist als die gewöhnliche Sprechweise eines Volks im Mittelpunkt seines Herrschaftsgebiets, bräuchten die dort Geborenen und Aufgewachsenen nur die Sprache ihrer Ammen und Diener zu sprechen, um die Sprache ihres Landes richtig zu sprechen, und die Bewohner der Provinzen und die Ausländer bräuchten sie nur nachzuahmen. Diese Ansicht steht aber so sehr im Gegensatz zur allgemeinen Erfahrung, dass sie sich von selbst widerlegt, und ich habe niemals verstehen können, wie einer der berühmtesten Autoren unserer Zeit diesem Irrtum hat aufsitzen können.‘
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Alles, was diatopisch vom Pariser Sprachgebrauch abweicht, wird ohne Unterschied abgelehnt. Vaugelas rät sogar von einem längeren Aufenthalt in den Provinzen ab: “il ne faut pas insensiblement se laisser corrompre par la contagion des Provinces en y faisant un trop long sejour” (‚man darf sich nicht unmerklich vom Sprachgebrauch in den Provinzen durch einen allzu langen Aufenthalt anstecken lassen‘; 2009: 71). Durch den Zuzug aus den Provinzen werden “des façons de parler des Provinces, qui corrompent tous les jours la pureté du vray langage François” (‚Redeweisen aus den Provinzen, die tagtäglich den echten und reinen französischen Sprachgebrauch verderben‘; 2009: 102]) eingeführt. Da er das diatopisch Andere generell verurteilt, braucht er nicht zwischen französischen Dialekten, Regionalfranzösisch und anderen in Frankreich gesprochenen Sprachen zu differenzieren. Den usage als Maßstab zu nehmen, ist nun nicht neu, denn darauf hatte sich schon der lateinische Rhetoriker Quintilian berufen, wohl aber die klare Unterscheidung zwischen einem bon usage und einem mauvais usage: “Il y a sans doute deux sortes d’Usages, un bon et un mauvais. Le mauvais se forme du plus grand nombre de personnes, qui presque en toutes choses n’est pas le meilleur, et le bon au contraire est composé non pas de la pluralité, mais de l’élite des voix” (2009: 67). ‚Gewiss gibt es zwei Arten von Sprachgebrauch, einen richtigen und einen falschen. Den falschen hat die große Mehrheit der Menschen. Er ist fast immer nicht der beste. Der richtige dagegen wird nicht von der Mehrheit, sondern von der Elite getragen.‘
Wenn ich bon mit ‚richtig‘ und mauvais mit ‚falsch‘ wiedergegeben habe, ist in diesen deutschen Wörtern nur ein Teil der Bedeutung von bon und mauvais enthalten. Das Richtige ist auch gut im moralischen Sinne und das Falsche schlecht, selbst wenn zuerst die Sprachrichtigkeit gemeint ist. Das Richtige ist deshalb gut, weil die Gesellschaft ein Sprachverhalten einfordert, in dem man sich mit dem richtigen Sprachgebrauch gegenseitig anerkennt und würdigt oder sich der Lächerlichkeit preisgibt und einem der Verlust des Ansehens droht. Das Sprechen der Klassik ist immer von Selbstkontrolle begleitet. Es ist gesittetes Verhalten und Höflichkeit, civilité und politesse, wie sie in zahlreichen Traktaten der Zeit beschrieben wurden. Den bon usage differenziert Vaugelas diastratisch vom mauvais usage. In der Sprache von Paris entspricht dem mauvais usage die Sprache des peuple und er verdeutlicht mit lateinischen Wortäquivalenzen, dass er darunter nicht populus, sondern plebs versteht: “De ce grand Principe, que le bon Usage est le Maistre de nostre langue, il s’ensuit que ceux-là se trompent, qui en donnent toute la jurisdiction au peuple, abusez par l’exemple de la langue Latine mal entendu, laquelle, à leur avis, reconnoist le peuple pour son Souverain; car ils ne considerent pas la difference qu’il y a entre Populus en Latin, et Peuple en François, et que ce mot de Peuple ne signifie aujourd’huy parmy nous que ce que les Latins appellent Plebs, qui est une chose bien differente et au dessous de Populus en leur langue” (2009: 86–87).
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‚Aus dem wichtigen Grundsatz, dass der richtige und gute Sprachgebrauch der Lehrmeister unserer Sprache ist, folgt, dass diejenigen irren, die jede Entscheidungsbefugnis darüber dem Volk geben. Sie werden dazu durch das falsch verstandene Beispiel der lateinischen Sprache verleitet, die ihrer Meinung nach das Volk als Souverän anerkennt, denn sie bedenken nicht den Unterschied zwischen populus im Latein und peuple im Französischen und auch nicht, dass das Wort peuple heute bei uns das bedeutet, was die Lateiner plebs nennen. Plebs ist etwas ganz anderes und steht in ihrer Sprache unter populus.‘
Das Volk war bis Malherbe immerhin noch die wichtigste Norminstanz gewesen. Nach dieser sozialen Abgrenzung des mauvais usage, die auf jeden Fall gilt, wird die scharfe Scheidegrenze zwischen richtig und falsch mitten in die aristokratische Gesellschaft und das ihr nahestehende Bürgertum von Paris gelegt: “Voicy donc comme on definit le bon Usage. 3. C’est la façon de parler de la plus saine partie de la Cour, conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Autheurs du temps. Quand je dis la Cour, j’y comprens les femmes comme les hommes, et plusieurs personnes de la ville où le Prince reside, qui par la communication qu’elles ont avec les gens de la Cour participent à sa politesse” (2009: 68). ‚Ich komme nun zur Definition des richtigen Sprachgebrauchs. Es ist die Art und Weise, wie der gesündere Teil des Hofes in Übereinstimmung mit der Art und Weise spricht, wie der gesündere Teil der zeitgenössischen Autoren schreibt. Wenn ich Hof sage, verstehe ich darunter die Frauen wie die Männer und mehrere Personen der Stadt, in der der Fürst residiert. Durch den Umgang mit den Hofleuten haben sie teil an seiner Kultur.‘
Der richtige Sprachgebrauch leitet gleichermaßen die Sprecher wie die guten Autoren. Sprechen und Schreiben haben dasselbe Modell sprachlicher Korrektheit. Die Rolle der Frauen wird dabei hervorgehoben: Da sie weder Lateinisch noch Griechisch konnten, war ihr Urteil über das Französische nicht durch eine reflexiv gelernte Sprache getrübt. Ob aber auch hier wieder eher die bona consuetudo und die mala consuetudo der Juristen bei dieser Definition Pate standen, der lateinische Rhetoriker Quintilian oder Baldassare Castigliones Werk über den Hofmann von 1528 (Castiglione 1960) und andere nachwirkten, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden. Sprache, Recht, Glaube und Sitte folgen jedoch Traditionen, die man als Gewohnheiten auffassen kann. Der Präferenz für den Hof als Norminstanz ging eine lange Diskussion im 16. Jahrhundert voraus, während der sich der Hof selbst gewandelt hat. Der Hof befand sich, als Vaugelas seine Remarques veröffentlichte, noch im Louvre. Während der Minderjährigkeit Ludwigs XIV. regierte dort der Kardinal Mazarin. Der Kontakt des Hofs zur Stadt war also auch räumlich unmittelbar gegeben. Erst von 1682 an war Versailles Sitz des Hofs und der Regierung. Der savoyardische Adlige Vaugelas lebte im Umkreis des Hofes, nicht am Hof selbst. Er beobachtete demnach den richtigen Sprachgebrauch aus der Perspektive derer, die bei Hofe verkehrten. Deren Sprachgebrauch hielt er fest, synstratisch und
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symphasisch selegierend. Die für die Einschätzung so wichtige diaphasische Selektion bleibt bei Vaugelas eher implizit, denn die seiner Beobachtung zugrunde gelegten Sprachstile werden nicht genannt. Es hätte nahegelegen, dass Vaugelas sich auf die aus der Antike übernommene Lehre der drei Stile bezieht, wie sie in den zeitgenössischen Rhetoriken gelehrt wurde. Dass er dies nicht tat, zeigt nur, wie unerheblich sie für die Feststellung des usage und darunter des bon usage war. Als Ort des bon usage kommt nur die Konversation in Frage. Ein äußeres Anzeichen dafür ist die den Eindruck eines systematischen Zusammenhangs vermeidende Anordnung der Remarques, wie sie in den Konversationslehren des 17. Jahrhunderts empfohlen wurde. Dem seiner politischen Macht beraubten Adel, der demnach keine Gelegenheit zur öffentlichen Rede hatte, dem auch als Stand die Predigt und die Gerichtsrede nicht zu Gebote stehen konnten – hätte er denn derartige öffentliche Auftritte angestrebt –, blieb nur die Konversation, die selbst den Charakter von öffentlicher Sprache in dieser höfischen Gesellschaft hatte. In der Konversation jedoch wurde der neu bewertete style simple verwendet, der zum allgemeinen Stil der “honnêtes gens” wird, die wohl die “plus saine partie de la Cour” sind. Von hier aus ergeben sich Übergänge zur geschriebenen Sprache, da Briefe als Fortsetzung der Konversation betrachtet wurden. Wenn der Modellcharakter der gesprochenen Sprache für die Literatur der französischen Klassik behauptet wird, kommt dafür ebenfalls nur die Konversation in Betracht (Strosetzki 1978: 33–42, 61–63, 66). Vaugelas wusste, dass der französische Sprachgebrauch sich im Wandel befand. Deshalb unterschied er innerhalb des bon usage zwischen einem usage declaré und einem usage douteux: “il y a un bon et un mauvais Usage; et j’adjouste que le bon se divise encore en l’Usage declaré, et en l’Usage douteux. Ces Remarques servent à discerner également l’un et l’autre, et à s’asseurer de tous les deux. L’Usage declaré est celuy, dont on sçait asseurément, que la plus saine partie de la Cour, et des Autheurs du temps, sont d’accord, et par consequent le douteux ou l’inconnu est celuy, dont on ne le sçait pas” (2009: 75–76). ‚es gibt einen richtigen und einen falschen Sprachgebrauch. Ich füge hinzu, dass der richtige sich in den geklärten und in den unsicheren Sprachgebrauch unterteilt. Meine Bemerkungen dienen dazu, in gleicher Weise den einen vom anderen zu unterscheiden und sich aller beider zu vergewissern. Beim geklärten Sprachgebrauch weiß man mit Sicherheit, dass der gesündere Teil des Hofes und der zeitgenössischen Autoren übereinstimmt, beim unsicheren oder unbekannten weiß man es hingegen nicht.‘
Die geschichtliche Bedingtheit der noch nicht abgeschlossenen Selektionen in Einzelfällen geht dann eher aus den einzelnen Typen von Zweifelsfragen hervor, die Vaugelas zusammenstellt (2009: 76–78). Auf den ungeklärten Sprachgebrauch richtete Vaugelas seine Aufmerksamkeit, denn eine eigentliche Grammatik hätte es mit dem usage declaré zu tun gehabt. In seinen Geschmacksurteilen und in seinen falschen Urteilen war Vaugelas ein typischer Vertreter der Sprachkultur seiner Zeit. Dadurch aber, dass er seinerseits zum
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Vorbild genommen wurde, ist die Variation des damaligen Französisch, die Anzeichen einer nicht abgeschlossenen Selektion ist, in der Tradition des Französischen festgeschrieben worden. Der Wandel vom Alt- zum Neufranzösischen ist in einer Phase der Unregelmäßigkeit geblieben, die die Autoren von Sprachglossen bis zum heutigen Tag beschäftigt. Der Traditionalismus der französischen Grammatik, die ihren Ausdruck in Le bon usage von Maurice Grevisse (11936; Grevisse/Goosse 152011) findet, leitet sich von Vaugelas und seinen Kommentatoren her. Mit ihm wurde der Mangel an Flexibilität des Französischen, der sich als immer wieder beschworene crise du français manifestiert, institutionalisiert. Ferdinand Brunot macht eine interessante Bemerkung zum fehlenden Sinn für Sprachgeschichte in den Remarques. Sie betrifft weniger Vaugelas selbst, wie er eingesteht, als die Tradition, die Vaugelas begründet, denn dieser ist sich seiner eigenen Geschichtlichkeit sehr wohl bewusst, wenn er seiner Klärung des usage douteux eine Geltungsdauer von 25–30 Jahren gibt (2009: 101–103). Er zog daraus aber selbst keine Konsequenzen, indem er etwa die Sprache seiner Zeit in der Perspektive des Französischen im 16. Jahrhundert sähe. Vaugelas bezog sich bei seiner Ausdeutung des Sprachgebrauchs allenfalls auf die Zukunft. Der Blick auf die Vergangenheit hätte ihm die großen Linien des Sprachwandels zeigen können. Dazu Brunot: “Comment fixer les règles, sans connaître les tendances de la langue, et par quel moyen démêler ces tendances, si on ne les a observées que pendant le court espace que dure une vie d’homme? Faute de se souvenir de l’histoire, non seulement on explique mal, mais on ne peut guère déterminer l’état exact d’une langue; la notion du changement s’obscurcit, le présent apparaît sinon comme ayant toujours été, du moins comme devant toujours être. En fait, Vaugelas et les siens n’ont nullement compris que certaines transformations étaient en train de s’accomplir. Égarés par là, ils ont cherché à fixer l’état instable qu’ils constataient s’évertuant à classer et à distinguer des cas, quelquefois même à rendre raison des différents usages” (Brunot: III: 1909: 54). ‚Wie kann man Regeln ohne Kenntnis der sprachlichen Entwicklungstendenzen festlegen und wie kann man diese Tendenzen entwirren, wenn man sie nur während der kurzen Zeitspanne eines Menschenlebens beobachtet hat? Ohne einen Blick auf die Geschichte erklärt man nicht nur falsch, sondern man kann schwerlich den genauen Zustand einer Sprache bestimmen. Der Begriff, den man sich vom Sprachwandel macht, verblasst, die Gegenwart erweckt den Anschein, als hätte sie schon immer bestanden oder mindestens als müsste sie immer fortbestehen. Vaugelas und seine Anhänger haben in Wirklichkeit überhaupt nicht verstanden, dass gewisse Veränderungen sich gerade vollzogen. Dadurch in die Irre geführt, haben sie den unbeständigen Zustand zu fixieren versucht, den sie feststellten. Sie haben sich dabei bemüht, Einzelfälle zu ordnen und zu unterscheiden und manchmal sogar verschiedene Verwendungen zu erklären.‘
Mit der Behauptung “le présent apparaît sinon comme ayant toujours été, du moins comme devant toujours être” geht Brunot zu weit. Vaugelas glaubte zwar, dass das Französische auf seinem Höhepunkt war, er hielt die Sprache aber nicht für unwandelbar. Dennoch hielt er die Grundsätze des richtigen, des falschen und des zweifelhaften Sprachgebrauchs für unveränderlich, wenn das Französische sich auch in
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Einzelheiten wandeln mochte. Denn für ihn war ein Wandel im Französischen eine Ausnahmeerscheinung. Die Schaffung einer neuen Redewendung nahm er noch hin, allerdings nicht, wenn es einen fest etablierten Ausdruck gab. Die Schaffung neuer Wörter war für ihn dagegen ausgeschlossen: “Il n’est permis à qui que ce soit de faire de nouveaux mots, non pas mesme au Souverain” (‚Niemandem ist es gestattet, er mag sein, wer er wolle, und wenn es der Souverän ist, neue Wörter zu bilden‘; 2009: 106). Eine Einschränkung lässt Vaugelas aber gelten, die Wortbildung: “Cela s’entend des mots entiers; car pour les mots allongez ou deriuez, c’est autre chose, on les souffre quelquefois” (‚Das Gesagte bezieht sich natürlich auf ganze Wörter, denn mit den verlängerten oder abgeleiteten Wörtern verhält es sich anders. Diese lässt man bisweilen zu‘; 2009: 107). Fassen wir die Stellung von Vaugelas in der Geschichte der französischen Sprache kurz zusammen: Vaugelas brauchte das Französische nicht mehr zu standardisieren, denn die Standardisierung war bereits bis zum Ende des 16. Jahrhunderts mit Werken wie der Institution de la religion chrétienne (1541) von Jean Calvin oder den Vies parallèles von Plutarch in der Übersetzung von Jacques Amyot vollzogen. Wenn François de Malherbe im Commentaire sur Desportes (1606) Kritik an einem zu Ende des 16. Jahrhunderts schreibenden Dichter übte, waren es nur noch Einzelheiten, die beanstandet wurden, denn es existierte eine fest etablierte Standardsprache. Vaugelas grenzte sie nur noch syntopisch ein auf einen Teil des Hofs und der Stadt Paris, synstratisch auf einen Teil der noblesse d’épée und der noblesse de robe und symphasisch auf den Stil der Konversation als öffentlicher Rede des Adels. Hatte für Malherbe die geschriebene Sprache in Gestalt der Literatursprache den Primat, so erhielt ihn nun die gesprochene Sprache, wenn auch im Hinblick auf die Korrektheit in Übereinstimmung mit der Literatursprache. An Vaugelas wurden aber auch gleich zu Anfang die Grenzen einer Kodifizierung sichtbar: Nicht jeder sozial eingeforderte Sprachgebrauch wurde als solcher wahrgenommen und daher auch nicht ausdrücklich verzeichnet und somit kodifiziert. Vaugelas behielt seinen savoyardischen Akzent, der von seinen Zeitgenossen zwar belächelt wurde, seinem Ansehen aber letztlich nicht geschadet hat. Die Orthoepie war also nicht Bestandteil der damaligen Kodifizierung. Der französischen Sprachbetrachtung ist die kasuistische Behandlung grammatischer Probleme und die Dominanz des Formalen gegenüber dem freien Umgang mit den Inhalten des Denkens erhalten geblieben, besonders wenn es um Zweifelsfragen geht. Daneben gab es für Vaugelas den usage déclaré, der in den Grammatiken bis zu seiner Zeit niedergelegt ist. Um einen Eindruck von dieser Kodifizierungstradition zu geben, seien die wichtigsten darunter genannt, die lange vor den Remarques erschienen sind: Jacques Dubois: Jacobi Sylvii Ambiani in Linguam Gallicam Isagωge (1531); Louis Meigret: Le tretté de la grammere françoeze (1550); Robert Estienne: Traicté de la grãmaire françoise (1557); Pierre de la Ramée: Gramere (1562); Charles Maupas: Grammaire Françoise (1607); Antoine Oudin: Grammaire Françoise (1632). Sprachliche Unterschiede manifestieren sich hier bis in die Titel hinein. Die Tradition dieser Grammatiken setzte sich kontinuierlich fort und beeinflusste die Grammatikographie
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anderer romanischer Sprachen. Nach der folgenreichen Entwicklung der allgemeinen Grammatik im 18. Jahrhundert kehrten die Grammatiker im 19. Jahrhundert wieder zu einer einzelsprachlichen Orientierung zurück. Zwar hat die französische Grammatik heute Behandlungen aller wichtigeren linguistischen Ausrichtungen vorzuweisen, unter denen die präskriptive Grammatik mit Le bon usage (11936) von Maurice Grevisse – sie trägt den bezeichnenden Untertitel Grammaire française avec des remarques sur la langue française d’aujourd’hui –, fortgesetzt von seinem Schwiegersohn André Goosse als Mitautor (152011), und die Grammaire méthodique du français von Martin Riegel, Jean-Christophe Pellat und René Rioul (11994) besondere Erwähnung verdienen, doch gibt es zur Zeit noch keine Grammatik in der Ausführlichkeit, wie wir sie nunmehr für das Italienische, das Spanische und das Katalanische besitzen. Die Kodifizierung des Wortschatzes hatte zwar auch schon vor der Gründung der französischen Sprachakademie begonnen, die wichtigen Werke erschienen aber erst vom Ende des 17. Jahrhunderts an. Sie sind im Gegensatz zu den Akademiewörterbüchern des Italienischen und Spanischen selektive Repertorien des lebendigen zeitgenössischen Sprachgebrauchs. Die Reihe begann mit dem Dictionnaire françois, contenant les mots et les choses (1680) von Pierre Richelet. Dieses Werk steht in seinen Selektionskriterien zwischen einem präskriptivem und einem deskriptiven Wörterbuch und registriert den Wortschatz der guten Autoren und des Sprachgebrauchs um die Mitte des klassischen Jahrhunderts. Der Dictionnaire universel (1690) von Antoine Furetière ist ein Sachwörterbuch, das im Gegensatz zur damals bereits bekannten Ausrichtung des in Entstehung begriffenen Akademiewörterbuchs den Fachwortschatz der Wissenschaften und des Handwerks berücksichtigte. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch war es das am wenigsten selektive unter den drei hier genannten Werken. Die Akademie musste in der Vorbereitung ihres Dictionnaire de l’Académie (1694) ihre Bearbeitung erneuern, da es den strengsten synchronischen und elitär symphasischen Anforderungen zu genügen hatte. Es entsprach am ehesten den Vorstellungen des bon usage von Vaugelas, wie sie in seiner Folge weiterentwickelt worden sind. Alle diese Wörterbücher haben eigene Traditionen eingeleitet. Mit der Verbreiterung der demographischen Basis des Zugangs zur Norm wurden die einbändigen einsprachigen Wörterbücher immer wichtiger, besonders mit der Zunahme der Alphabetisierung und der Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Der Prototyp ist der Nouveau dictionnaire de la langue française (1856) von Pierre Larousse, der umgearbeitet und illustriert von 1905 an als Petit Larousse illustré erschien und einen immer noch ungebrochen andauernden Erfolg hat. Ihm zur Seite stehen der Petit Littré (seit 1959) und der Petit Robert (seit 1967), gefolgt von weiteren. Alle diese kleineren Wörterbücher sind gekürzte Ausgaben sehr umfangreicher Wörterbücher, die aber nicht die Breitenwirkung der einbändigen Werke entfalten konnten. Unter den weiteren in den Statuten der Académie française genannten Werken waren eine Rhetorik und eine Poetik. Sie wurden nie von der Akademie veröffentlicht. Dazu bestand keine Notwendigkeit, da Dom François Lamy mit La rhétorique ou l’art
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de parler (1699) schnell Anerkennung fand. Rhetoriken und Poetiken oder, ganz allgemein gesprochen, Schreiblehren sind von großer Bedeutung für die Kodifizierung des Schreibens von Texten, diese bleibt aber meist implizit. Für das Sprechen und Schreiben des Französischen ist es mehr noch als für andere Sprachen eine Sache der Sprachkultur, wie man dabei verfährt. Diese Sprachkultur lässt sich eher durch die Bildungseinrichtungen und intensive Lektüre erlernen, da sie nirgendwo explizit formuliert worden ist. 5.8.4.2 Die Ausbreitung des Französischen im 17. und 18. Jahrhundert: Die Sprachpolitik des Ancien Régime Bei der Ausbreitung des Französischen ist die Ausbreitung des Französischen schlechthin, also als historische Sprache, zu unterscheiden von seiner Ausbreitung als Standardsprache sowie ihre Ausbreitung in Europa von der Ausbreitung außerhalb dieses Kontinents. Nachdem Teile des Elsasses, besonders der Sundgau, nach dem Dreißigjährigen Krieg an Frankreich gefallen waren und die Ordonnance de Villers-Cotterêts nach dem Pyrenäenvertrag (1659) auf das Roussillon bzw. Nord-Katalonien angewendet worden war, breitete sich das Französische in der Folge der Kriege Ludwigs XIV. weiter aus. Im Laufe seiner Regierungszeit gelangte ein Teil Flanderns, das Westhoek, an Frankreich. 1678 kam die Franche-Comté (dt. Freigrafschaft Burgund) unter französische Herrschaft. 1680 wurde Straßburg erobert. 1766 fiel Lothringen an Frankreich. 1768 wurde Korsika von der Republik Genua an Frankreich verkauft. Das Ancien Régime verbreitete das Französische im dritten Stand, dem Bürgertum. Der Adel und der Klerus waren schon seit Langem gewonnen. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts führte man zaghaft den Unterricht des Französischen in den Schulen ein. Eine Wende kam 1762 mit der Vertreibung der Jesuiten aus Frankreich. Dadurch wurde die Ablösung des Lateinischen als Unterrichtssprache durch das Französische ermöglicht. In der Schweiz drang die Standardsprache als Sprache der protestantischen Bürger vor. Die Dialekte wurden in Genf um 1780 nicht mehr verwendet, in Lausanne und Neuenburg (Neuchâtel) nicht mehr nach 1800. Von da an führten sie ein marginales Dasein, wenn die Verdrängung auch nicht ganz so schnell fortschritt wie in Frankreich. In den südlichen Niederlanden, dem künftigen Belgien, ging die Verwendung des Wallonischen zurück. Unter den französischen Dialekten ist seine Stellung gleichwohl noch die relativ stärkste geblieben. 5.8.4.3 Die Kolonien des Ancien Régime Die Kolonien haben im 17. und 18. Jahrhundert im Mutterland nur geringes Interesse gefunden. Diese Haltung setzt sich in der französischen Sprachwissenschaft bis heute fort. Deshalb wohl ist die komplexe Geschichte des Kolonialfranzösischen in ihren eigenen Zusammenhängen bis heute nicht aufgearbeitet worden. Diese Feststellung ist auch dann richtig, wenn man berücksichtigt, dass Brunot in seiner Sprachge-
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schichte Hervorragendes dazu geleistet hat. Das sprachgeschichtliche und sprachwissenschaftliche Interesse richtete sich auf die Kreolisierung des Französischen auf der einen Seite und auf die Ausbreitung der Standardsprache besonders in Europa (“universalité de la langue française” im 18. Jahrhundert und “francophonie” heute) auf der anderen. Außerhalb der Grenzen des heutigen Frankreichs drang das Französische durch die Besetzung einiger Inseln der Antillen (Martinique 1625, Guadeloupe 1635) vor. Das Zentrum der französischen Kolonisierung wurde, ausgehend von der Île de la Tortue (sp. Isla de la Tortuga), zunehmend Haiti bzw. die Île de Saint-Domingue, deren westlicher Teil 1697 im Vertrag von Rijswijk an Frankreich kam. Um 1700 waren die Antillen die bedeutendste französische Kolonie, die sprachlich im 17. Jahrhundert in den Indischen Ozean ausgestrahlt hatte, zur Île Bourbon, später la Réunion genannt, ferner nach Mauritius bzw. zur Île de France). Die bescheidene Kolonie in Nordamerika nahm ihren Ausgang in Akadien (Acadie 1604) und in Québec (1608). Durch den Vertrag von Saint-Germain wurden 1632 die Einflusssphären Frankreichs und Englands zeitweilig abgesteckt. Einige Gebiete gingen politisch an die Engländer verloren, sie blieben damals aber noch französischsprachig. Von Kanada aus wurde die Kolonie Louisiana am Ende des 17. Jahrhunderts gegründet. Beide nordamerikanischen Kolonien verlor Frankreich nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763). England bekam Québec sowie Louisiana links des Mississippi, Spanien Louisiana rechts des Mississippi. In Kanada behaupteten sich von da an 60.000 französische Siedler gegen eine Million Engländer. In Afrika, Indien und Hinterindien wurden im 17. Jahrhundert französische Kolonien gegründet. Von diesen blieb nach dem Siebenjährigen Krieg nur die vor dem westafrikanischen Senegal liegende Île de Gorée bei Frankreich. Während aber Saint Domingue, mit dem neu eingeführten Namen Haiti, 1804 unter Toussaint Louverture selbständig wurde und während der Napoleonischen Kriege alle Kolonien an die Engländer und Portugiesen fielen, erlangte Frankreich in den Pariser Verträgen von 1814 und 1815 immerhin einige davon wieder. Die französische Sprache setzte sich jedoch stärker durch als die politische Herrschaft Frankreichs (Brunot: VIII: 1935: 1037–1050; Picoche/Marchello-Nizia 51998: 61–66; Lüdtke 1993: 343–352). 5.8.4.4 Jakobinische Sprachpolitik Die Übernahme des Französischen durch die gesamte Bevölkerung Frankreichs wurde in der Französischen Revolution eingeleitet. Man brauchte ein und dieselbe Sprache in der gesamten Republik. Aber eine gegen Dialekte und Sprachen gerichtete Politik war nicht von Anfang an die Absicht der Nationalversammlung. Eine Wende war – nach anderen Wegen, die Nation für die Ziele der Revolution zu gewinnen, – das Jahr 1794. In diesem Jahr hielt Bertrand Barère vor dem Wohlfahrtsausschuss eine Rede, deren sprachpolitische Intention folgendermaßen lautete: “Il faut populariser la langue, il faut détruire cette aristocratie de langage qui semble établir une nation polie au milieu
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d’une nation barbare” (‚Man muss die Sprache im Volk verbreiten, man muss diese Spracharistokratie vernichten, die eine gesittete Nation inmitten einer barbarischen Nation zu gründen scheint‘; de Certeau et al. 1975: 295). Dieser positiven Seite der Sprachpolitik entsprach eine Stoßrichtung vor allem gegen die anderen in Frankreich gesprochenen Sprachen: “Le fédéralisme et la superstition parlent bas-breton; l’émigration et la haine de la République parlent allemand; la contre-révolution parle italien, et le fanatisme parle basque. Cassons ces instruments de dommage et d’erreur” (de Certeau et al. 1975: 295). ‚Der Föderalismus und der Aberglaube sprechen Niederbretonisch. Die Emigration und der Hass auf die Republik sprechen Deutsch. Die Konterrevolution spricht Italienisch, und der Fanatismus spricht Baskisch. Zerschlagen wir diese Werkzeuge, mit denen Schaden angerichtet und Irrtümer verbreitet werden.‘
Das Ziel war die Vernichtung der Dialekte und der sonstigen in Frankreich gesprochenen Sprachen und die Durchsetzung der französischen Sprache. Für diese Sprachpolitik steht der Abbé Grégoire, Pfarrer des lothringischen Ortes Embermesnil und Abgeordneter der Nationalversammlung. Er unternahm 1790 die erste Umfrage, die ausschließlich Sprachen zum Gegenstand hatte. Die Ergebnisse stellte er in seinem “Rapport sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française“ dar (‚Bericht über die Notwendigkeit und die Mittel, die Patois zu vernichten und die Verwendung des Französischen allgemein zu verbreiten‘; 1794; Grégoire 1975). Von 28 Millionen Einwohnern Frankreichs würden 12 Millionen kein Französisch sprechen und nur drei Millionen würden es rein sprechen. Die Verbreitung der Ziele der Revolution und der Gesetze der Nationalversammlung mache an der Sprachbarriere halt. Der Abbé Grégoire hatte die Ergebnisse seiner Umfrage (Gazier 1969) dem Nationalkonvent in einem Bericht vorgetragen. Die Entscheidung dazu wurde zwar nur sprachpolitisch getroffen, als Ausdruck des politischen Willens der Nationalversammlung hatte sie aber übernationale Bedeutung. In Frankreich wurde sie als „jakobinische“ Sprachpolitik im 19. Jahrhundert in die Tat umgesetzt. Das daran sich anschließende Programm eines französischen Schulunterrichts wurde progressiv im 19. Jahrhundert verwirklicht und gipfelte in der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahre 1882 durch den Kultusminister Jules Ferry. Die janusköpfige Sprachpolitik der Revolution wurde sehr genau umgesetzt: Dem Unterricht des Französischen entsprach die Vernichtung des Dialektsprechers in jedem Kind durch das rigorose Verbot, seinen „Patois“ zu sprechen. Damit das Verbot absoluten Erfolg hatte, hängte der Volksschullehrer einem seinen Dialekt sprechenden Kind ein stigmatisierendes Symbol wie etwa einen flachen Stein, einen zerbrochenen Holzschuh, einen Stock um, von dem das Kind sich nur befreien konnte, wenn es ein anderes denunzierte. Wenn wir hier technisch von Übernahme sprechen, ist damit nicht gemeint, dass sie immer freiwillig vonstattenging.
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Zur Übernahme des Französischen trug die Industrialisierung bei mit der Folge der regionalen Mobilität der Arbeiter, die durch den Bau der Eisenbahnen gefördert wurde, die Autos und den Ausbau des Straßennetzes, den Wehrdienst und die Kriege, die Presse, den Rundfunk (1920) und das Fernsehen (1950). Das Ergebnis ist, dass alle Franzosen sich in ihrer Standardsprache ausdrücken können. Dabei lasse ich einmal die überzogene Kritik an der Sprachkompetenz der Sprecher beiseite, die fordert, dass eine elitäre Sprache wie das Französische auch noch von allen Sprechern auf einem hohen Niveau beherrscht werden soll. Die Forderungen nach Einführung der in Frankreich neben dem Französischen gesprochenen Sprachen wurde zum Teil durch die Loi Deixonne (1951) erfüllt. Dieses Gesetz erlaubt es, das Baskische, das Bretonische, das Katalanische und das Okzitanische an der gymnasialen Oberstufe zu unterrichten. Der Unterricht findet außerhalb der sonstigen Unterrichtstunden von Seiten der Lehrer und der Schüler freiwillig statt. Das Rundschreiben von Savary (1982) stellt in Aussicht, dass die regionale Kultur und Sprache unterrichtet werden können. Dafür sind fakultative Kurse an Pädagogischen Hochschulen (“écoles normales supérieures”) eingerichtet worden. 5.8.4.5 Das Französische nach dem Wiener Kongress (1815) Der Wiener Kongress markierte einen Einschnitt in der Stellung des Französischen in Europa und außerhalb Europas. In der Schweiz kamen 1815 drei zusätzliche französischsprachige Kantone hinzu, Genf, das Wallis (frz. le Valais) und Neuenburg (frz. Neuchâtel). 1978 wurde mit dem Jura ein letzter Kanton französischer Sprache geschaffen. Im Gegensatz zur deutschsprachigen Schweiz, wo der Status der Dialekte unangefochten ist, übernahm die Suisse romande die französische Standardsprache und drängte die Dialekte zurück. In dieser Region vollzogen sich weitere einschneidende Veränderungen nach der italienischen Einigung (1860) unter der Führung von Savoyen-Piemont. Savoyen selbst aber optierte 1860 für Frankreich und überließ das Aostatal Italien. De iure ist der Status des Französischen dort gesichert, de facto nicht. Auch die Schaffung einer autonomen Region nach dem Zweiten Weltkrieg (1948) hielt die Verdrängung des Französischen und der valdostanischen Dialekte nicht auf. Die südlichen Niederlande, die nach der Unabhängigkeit der nördlichen Niederlande in der Folge des Achtzigjährigen Kriegs (1568–1648) bei den Habsburgern blieben, kamen 1815 an die Niederlande, erhoben sich aber 1830 und wurden mit dem Namen Belgien ein eigener Staat, dessen Einheit durch die Person des Königs der Belgier garantiert wird. Der erste König war Leopold von Sachsen-Coburg. Brüssel, die Hauptstadt des neuen Staates, entwickelte sich zu einer Metropole französischer Sprache, obwohl es im flämischen Gebiet liegt. Nur eine Minderheit spricht dort noch Flämisch. Belgien blieb zunächst auch in Flandern unter französischsprachiger Dominanz. In einem langen Kampf setzten die Flamen zuerst ihre sprachlichen und kulturellen Rechte und, da die Wallonen intolerant blieben, auch ihre politischen und
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nationalen Rechte durch. Hier hat die Unbeugsamkeit der frankophonen Belgier dazu geführt, dass Flandern der französischen Sprache fast ganz verloren ging. Das große französische Kolonialreich entwickelte sich hauptsächlich nach dem Wiener Kongress. In Afrika wurde Senegal kolonisiert und im Pazifik Neukaledonien (Nouvelle-Calédonie, 1853), Tahiti (1880), Wallis und Futuna (1886). Algerien wurde 1830 erobert, um der Seeräuberei ein Ende zu bereiten. Landwirte aus Okzitanien, Spanien und Italien siedelten sich dort an und blieben eine von den Muslimen getrennte Gemeinschaft. Der Graben zwischen diesen pieds-noirs und den Muslimen wurde mit der promuslimischen Politik Frankreichs immer tiefer. Tunesien wurde 1881 ein französisches Protektorat, Marokko 1912. In Schwarzafrika entstanden von 1876 an durch Missionen französische Einflussgebiete und dann Kolonien. 1885 erhielt der König der Belgier, Leopold II., den Kongo als Kolonie zugesprochen. Madagaskar wurde zuerst französisches Protektorat (1895) und kurz danach Kolonie (1896). Nach dem Ersten Weltkrieg trat Belgien 1919 das deutsche koloniale Erbe in Ruanda und Burundi an und Frankreich, zusammen mit England, das Mandat über Togo und Kamerun sowie, allein, über Syrien und den Libanon. Nach einer Rebellion kam 1934 Mauretanien an Frankreich. Das französische Schwarzafrika wurde zwischen den Weltkriegen in Französisch-Westafrika (Afrique Occidentale française, abgekürzt AOF) und Französisch-Äquatorialafrika (Afrique Équatoriale française, abgekürzt AEF) zusammengefasst. In Indochina erhielt Frankreich 1885 das Protektorat über Annam und Tongking, danach kamen Cochinchina, Kambodscha und Laos hinzu. Die französischen Gebiete wurden wie im 17. Jahrhundert durch die Verbindung zur See zusammengehalten. Man kann am besten am Wortschatz erkennen, dass Wörter aus allen Kolonien in diesem Kolonialfranzösisch zusammentreffen (Picoche/ Marchello-Nizia 51998: 108–109). Auf diese Weise sowie durch die gleichen Kolonisierungstechniken kommen neue sprachliche Gemeinsamkeiten zustande. 5.8.4.6 Entkolonialisierung Der Zweite Weltkrieg brachte Frankreich einen Prestigeverlust in seinen Kolonien. Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, die zwischen den Weltkriegen einsetzten, führten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Erfolg. Tunesien erlangte seine offizielle Unabhängigkeit 1956, Marokko ebenfalls 1956, Madagaskar 1960. Guinea erklärte 1958 seine Unabhängigkeit, die anderen schwarzafrikanischen und asiatischen Kolonien französischer Sprache folgten. Sie können hier nicht alle erwähnt werden. Algerien dagegen, das als Teil des Mutterlandes angesehen wurde, ist erst nach einem sieben Jahre währenden Krieg 1962 unabhängig geworden. In allen diesen frankophonen Staaten ist die Verwendung des Französischen im Allgemeinen rückläufig. Die Idee der Entkolonialisierung wurde von den Okzitanen auf Frankreich und Europa übertragen (Lafont 1971). Sie bleibt die Ideologie einer Minderheit und erreicht nicht die Massen.
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Heute verbleiben bei Frankreich Saint Pierre-et-Miquelon, eine Inselgruppe vor der Südküste des kanadischen Neufundlands, Martinique und Guadeloupe in der Karibik, Französisch-Guayana, Réunion und Mayotte im Indischen Ozean, Neukaledonien, Wallis und Futuna, das französische Polynesien im Pazifik sowie eine antarktische Region. 5.8.4.7 Frankophonie Kann die Frankophonie die Grundlage für eine ganzheitliche Sicht der französischen Sprachgeschichte sein? Blicken wir zurück. Das Wort francophone wurde vom Geographen Onésime Reclus 1880 gebildet, aber erst durch Léopold Sedar Senghor um 1960 wiederaufgenommen und verbreitete sich daraufhin unter den Politikern der Kolonialgebiete. Von francophone wurde francophonie abgeleitet. Frankreich übernahm zwar Wort und Idee, um mit der Gründung eines vom Staatspräsidenten abhängigen Haut Conseil de la francophonie (1984) für die Geltung des Französischen in der Welt einzutreten und 1988 wurde daraus sogar ein “ministère de la Francophonie”. Dies ist aber nur die Spitze einer politischen, sprachlichen und kulturellen Interessenvertretung der Staaten französischer Sprache. Die französischsprachigen Gemeinschaften bauten ihre Sprache in einer von der in Frankreich geltenden Norm verschiedenen Gestalt aus. In Europa entwickelte sich seit Jahrhunderten eine südniederländische bzw. belgische und eine Schweizer Literatur, so auch eine eigene Literatur in Québec, in der Karibik (Haiti, Martinique), in Schwarzafrika, im Maghreb, im Libanon. Die in französischer Sprache geschriebene Literatur wurde zum Ausdruck von Kulturen, die zwischen der Kultur Frankreichs und den einheimischen vermittelten, aber man scheute dabei nicht vor sprachlicher Rebellion zurück. Es ist selbstverständlich, dass die französischsprachigen Staaten darüber hinaus am fachsprachlichen und wissenschaftlichen Ausbau teilhaben. Angesichts der Kreativität der frankophonen Autoren sehen die Sprecher des Französischen in Frankreich die gegenseitige Verständigung und den Zugang zum kulturellen Erbe im Mutterland bedroht, das nicht bereit ist, seine Dominanz aufzugeben. „Frankophonie“ drückt auch dieses Verhältnis zwischen Frankreich und den frankophonen Ländern der ersten Welt sowie denjenigen Ländern aus, die im 20. Jahrhundert noch Kolonien waren. Bei all den Spannungen, die politisch, sprachlich und kulturell zwischen den frankophonen Ländern bestehen, bilden sie doch einen gemeinsamen Kommunikationsraum. Wie er geworden ist, das sollte aus einer umfassenden Geschichte der französischen Sprache zu erfahren sein.
Bibliographischer Kommentar
Als deutsche Einführungen in die Geschichte des Französischen weise ich auf Wolf 21991 (mit Betonung der innersprachlichen Entwicklung) und Berschin/Goebl/Felixberger 22008 hin. Die Standardisierung des Französischen hatte Modellcharakter für andere Sprachen. Es ist deshalb zu empfehlen, sich mit einigen Werken vertraut zu machen, in denen der Entwicklungsstand
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des Französischen aus der Sicht der jeweiligen Zeit diskutiert wird: La deffence et illustration de la langue françoyse von Joachim Du Bellay (2003, 11549), die “Préface” der Remarques sur la langue françoise (1970: [i–xliii]; 11647) von Claude Favre de Vaugelas, De l’universalité de la langue française (2013, 1 1784) von Antoine de Rivarol, der “Rapport sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française” (1794) des Abbé Grégoire in de Certeau/Julia/Revel 1975: 300–317. Es empfiehlt sich, zu Vaugelas Weinrich 1960, Blochwitz 1968 und Settekorn 1988 zu lesen. Die Geschichte des Französischen ist sehr früh in Werken dargestellt worden, die anderen Sprachgeschichten zum Vorbild dienten. Allen voran ist die monumentale Synthese von Brunot zu nennen, die von Bruneau fortgesetzt wurde (11905–1953). Die Zeit von 1880–1914 wurde in einem Sammelband unter der Leitung von Antoine und Martin (1985) dargestellt. Mit dem letzten Band, von Antoine und Cerquiglini (sous la direction de) 2000, reicht diese Sprachgeschichte bis an die unmittelbare Gegenwart heran. Damit kommt die umfangreichste Geschichte einer Sprache überhaupt zu ihrem Abschluss. Eine entschieden antipositivistische, dem Idealismus von Benedetto Croce verpflichtete französische Sprachgeschichte schrieb Vossler (11913, 21929). Wartburg (11934, 51958) zeigt im Sinne eines programmatischen Artikels (1931), wie im Französischen Synchronie als Struktur und Diachronie als Evolution ineinandergreifen. Picoche/Marchello-Nizia (51998) berücksichtigen mehr als andere Sprachgeschichten vergleichbaren Umfangs die Entwicklung des Französischen außerhalb Frankreichs, vernachlässigen aber die Literatur- und Standardsprache. Die unter der Leitung von Chaurand entstandene und 1999 erstmals veröffentlichte Sprachgeschichte (122011) ist in jeder Hinsicht breit angelegt; zugleich ist sie symptomatisch für die stillschweigenden Voraussetzungen, unter denen Franzosen die Geschichte ihrer Sprache betreiben, denn dazu gehört auch die implizite Annahme, dass die heutige Verbreitung des Französischen gleichsam als immer schon gegeben zu nehmen ist, so dass es sich erübrigt, die Geschichte dieser Verbreitung im Einzelnen darzustellen. Eine ähnlich umfangreiche Sprachgeschichte ist Rey/Duval/Siouffi 2007. Lodge (1993) hat eine Sprachgeschichte vorgelegt, die nachweist, wie die Architektur des Französischen im Laufe seiner Geschichte zustande kam, ohne dass er jedoch diese Termini verwendet. Caput veröffentlichte 1972 eine Sprachgeschichte, die die wichtigsten Quellen zur französischen Sprachgeschichte einer breiten Leserschaft zugänglich macht. Und schließlich liegt mit Kremnitz (sous la direction de) (2013) ein Werk vor, das die Minderheitensprachen im frankophonen Europa, in den französisch kolonisierten Gebieten sowie die Sprachen der Immigranten behandelt und aus meiner Sicht gut für eine Beschreibung der erweiterten Spracharchitektur von Kommunikationsgemeinschaften und ihren Sprachen seit der Französischen Revolution verwendbar ist. Kremnitz (2015) gibt eine Einführung in die Sprachen Frankreichs. Das Französische ist ferner in Werken zu einzelnen Epochen behandelt worden, so das 14. und 15. Jahrhundert in Zink 1990 und Marchello-Nizia 21997, das 16. Jahrhundert in Huchon 1988, das 18. Jahrhundert in Seguin 1972, das 20. Jahrhundert in Désirat/Hordé 1976. Für die Abschnitte zum typologischen Wandel des Französischen habe ich vor allem Coseriu 1988, Brunot/Bruneau 1949, Eckert 1986, Wartburg 51958, Zink 1990, Huchon 1988, Marchello-Nizia 1999 und Kretz (unveröffentlicht) verwendet. Die Phänomene selbst interpretiere ich z. T. anders und in anderen Zusammenhängen, als sie in diesen Schriften dargestellt werden. Die Geschichtsschreibung des Französischen außerhalb Frankreichs ist von Brunot initiiert worden. Danach wird das Französische außerhalb Frankreichs wenig berücksichtigt, mit den schon genannten Ausnahmen der Sprachgeschichten von Picoche/Marchello-Nizia 51998 sowie Chaurand (éd.) 122011. Eine kurze Geschichte des Französischen in seiner weltweiten Verbreitung gibt Droixhe in LRL V, 1 (1990: 437–471). Eine umfassende Aufarbeitung der historischen Soziolinguistik der Schweiz vom 15. bis zum 19. Jahrhundert bietet Furrer 2002.
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5.9 Das Okzitanische ‚Als ‘Okzitanisch’ die Sprache zu bezeichnen, die diejenigen sprechen, die man deshalb ‘Okzitanen’ nennt, weil sie diese Sprache sprechen (die aber niemand wirklich spricht, da sie die Summe einer sehr großen Anzahl verschiedener Mundarten ist) und die Region (im Sinne eines natürlichen Raums), in dem diese Sprache mit dem Anspruch gesprochen wird, sie als ‘Region’ oder als ‘Nation’ überhaupt erst existieren zu lassen, ‘Okzitanien’ zu nennen, ist keine folgenlos gebliebene Fiktion‘ (Bourdieu 1982: 140; meine Übersetzung).
5.9.1 Das okzitanische Sprachgebiet Wollte man eine Geschichte des Okzitanischen wie im Falle der anderen romanischen Sprachen vom Gebiet seiner heutigen Verbreitung aus unternehmen, müsste man ein stark zergliedertes Gebiet zugrunde legen, das keine räumliche Kontinuität hat und wirtschaftlich sehr einseitig von Land- und Forstwirtschaft geprägt ist. Und so stellt denn der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der selbst aus dem okzitanischen Sprachgebiet stammt, das Okzitanische und Okzitanien in dem am Anfang dieses Abschnitts zitierten Motto als Mystifikation dar. Einen okzitanischen Raum gab es noch im 19. Jahrhundert. Wir gehen daher von diesem Gebiet zu dieser Zeit aus, da man sich damals in diesem Sprachgebiet noch grundsätzlich über einen okzitanischen Dialekt verständigen konnte, und verfolgen den Weg seiner zunehmenden räumlichen und kommunikativen Einschränkung durch das Französische in der Zeit davor und danach. Die okzitanische Sprachgeschichte verläuft komplementär zur französischen. Diese Komplementarität dürfte am ehesten der Wahrnehmung jener Okzitanen entsprechen, die überhaupt noch das Bewusstsein von einer verloren gegangenen Einheit haben. Man könnte noch weiter gehen und als fiktiven Raum des Okzitanischen den Raum seiner weitesten Verbreitung als Dichtungssprache im Mittelalter nehmen. Dann gehören zum Raum der ehemaligen Verbreitung Katalonien hinzu, weil dort das Okzitanische alleinige Dichtungssprache war, sowie Kastilien, Galicien und Oberitalien, da es als Dichtungssprache die in diesen Räumen geschriebene autochthone Literatursprache teilweise überdachte. Einen solchen imaginären Raum anzunehmen, lässt sich dadurch rechtfertigen, dass das Okzitanische außerhalb des Verbreitungsgebiets seiner Mundarten als Sprachstil funktionierte. Dies entspricht einerseits einer traditionellen Sicht, andererseits hat die frühere Geltung ihrer Sprache für einen bedeutenden Teil der Okzitanen eine hohe Identifikationsfunktion. Dieses als Sprachstil außerhalb Okzitaniens gepflegte Okzitanisch ist in Grammatiken des 12. und 13. Jahrhunderts kodifiziert worden. Dies sind die frühesten Kodifizierungen einer romanischen Sprache überhaupt. Unabhängig von einem okzitanischen Bewusstsein der Sprecher werden die südlich einer von Royan an der Gironde, nördlich des Zentralmassivs und südlich von Lyon bis in die Region von Grenoble verlaufenden Linie heute oder früher gesproche-
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nen Dialekte von den Romanisten nicht zu den französischen Dialekten gezählt. Die südlich dieser Linie gesprochenen Dialekte werden dem Okzitanischen zugeordnet. Diese gelten in ihrem Verhältnis zur französischen Standardsprache undifferenziert wie alle sonstigen in Frankreich gesprochenen nicht-standardsprachlichen Varietäten als patois. Im Mittelalter verlief die Sprachgrenze noch nördlich der heutigen Grenze. Ursprünglich gehörten die Vendée, das Gebiet nördlich der Dordogne und das nördliche Poitou ebenfalls zum okzitanischen Sprachgebiet. Dieses reicht im Süden mit dem am Oberlauf der Garonne liegenden Val d’Aran nach Spanien oder genauer bis nach Katalonien und im Osten bis in die Alpentäler Piemonts hinein. Geschichtlich wird die Sprachgrenze zwischen dem Okzitanischen und dem Französischen mit der früheren Romanisierung des Südens Galliens erklärt (cf. Müller 1971; Schmitt 1974).
5.9.2 Sprachennamen Die Zergliederung des heutigen Sprachraums drückt sich in verschiedenen Namen für diese historische Sprache aus. Im Mittelalter nannte man sie romanz oder lemosi, später unter anderem lenga romana. Die zunehmende Französierung verdunkelt das Bewusstsein, eine eigene historische Sprache oder einen Dialekt einer eigenen historischen Sprache zu sprechen. Das Wissen über diese Sprache wurde zu einem nur geschichtlichen Wissen, das in der frühen Neuzeit wesentlich über Italien vermittelt wurde. Der italienische Humanist und Dichter Pietro Bembo nannte diese Sprache in seinen Prose della volgar lingua (1525; 1961) Provenzale, eine von mehreren okzitanischen Eigenbenennungen. Da die Renaissance des Provenzalischen in einer Region der Provence an der unteren Rhône ihren Ausgang nahm, wurde dieser Name dadurch noch ein weiteres Mal legitimiert. Der heute von den okzitanischen Sprachnormierern verwendete Name ist lenga occitana oder lenga d’oc. Lenga d’oc hat zuerst Okzitanien bezeichnet und erst später die Sprache. Oc ist das Wort für ‚ja‘. Mit ihm hatte bereits Dante Alighieri in De vulgari eloquentia um 1303/1305 das Okzitanische benannt (cf. Bec 1963: 64–67; Alighieri 1968: 12–14).
5.9.3 Die Einverleibung Okzitaniens in das französische Staatsgebiet ‚Stets vollzieht sich die Einheit schonungslos. Die Vereinigung von Nord- und Südfrankreich ist das Ergebnis einer Vernichtung und einer Schreckensherrschaft, die beinahe ein Jahrhundert angedauert hat‘ (Renan 71922 [11882]: 285; meine Übersetzung).
Okzitanien war auch im Mittelalter kein Staat, sondern ein geographischer Raum, in dem mehrere Feudalherren miteinander rivalisierten. Dies waren vor allem die Grafen von Barcelona, die Grafen von Saint-Gilles und die Herzöge von Aquitanien. Ein Herzog von Aquitanien, Wilhelm IX. (zugleich Graf Wilhelm VII. von Poitiers),
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dessen Wirken um 1100 beginnt, war der erste bedeutende Trobador. Seine Enkelin Eleonore von Aquitanien heiratete 1154 in zweiter Ehe Henri Plantagenêt, den künftigen König Heinrich II. von England. Dadurch gelangten die Herzogtümer Aquitanien und Gaskogne sowie die Grafschaft Poitou unter englische Herrschaft und sie wurden erst im Laufe des Hundertjährigen Krieges (1337–1475) schrittweise französisch. 1481 kam die Provence, die seit 1246 unter französischer Oberhoheit gestanden hatte, an die französische Krone. Der Prozess der Einverleibung okzitanischer Gebiete wurde in der Folge der Thronbesteigung Heinrichs von Navarra als Heinrich IV. von Frankreich (1589) abgeschlossen. In späterer Zeit kam dann noch Nizza an Frankreich (1860). Das Okzitanische ist die erste verschriftete romanische Sprache, die eine Literatur hervorbrachte. Die Sprache der Trobadore war sehr einheitlich, sie spiegelte aber nicht die Sprache eines politischen oder kulturellen Zentrums oder einer bestimmten Region wider. Die Blütezeit der okzitanischen Literatur war kurz. Sie fiel in das 12. und in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts. Ihr Ende wurde militärisch durch den Kreuzzug gegen die Katharer herbeigeführt, zu dem der Papst Innozenz III. 1208 aufgerufen hatte. Er verbündete sich mit den nach Okzitanien drängenden Katalanen und Aragonesen. Deren Expansion wurde jedoch 1213 von den Kreuzfahrern unter Simon de Montfort in der Schlacht bei Muret ein Ende bereitet. Die Franzosen beendeten ihren Eroberungskrieg 1271 mit der Annexion der Grafschaft Toulouse. Diese Ereignisse meinte Ernest Renan, als er in seiner berühmten, als Motto zitierten Rede über den Begriff Nation von ‚Vernichtung‘ und ‚Schreckensherrschaft‘ sprach. Das Okzitanische wurde vom Ende des 12. Jahrhunderts an als Gerichts- und Verwaltungssprache geschrieben. In dieser Gestalt bestand es als Amtssprache weiter.
5.9.4 Die Verbreitung des Französischen in Okzitanien Die Anfänge der heutigen Sprachsituation liegen in der Verbreitung des Französischen, die vom 13. Jahrhundert an einsetzte. Damit begann auch die Fragmentierung des okzitanischen Sprachgebiets. Die königliche Kanzlei verwandte im Verkehr mit den okzitanischen Gebieten immer mehr das Französische statt des Lateinischen. Politisch und kulturell orientierte sich der Süden am französischen Königtum. Gegen das Okzitanische und das Lateinische als Amtssprachen wandten sich einige Verordnungen in Zeiten eines stärkeren Zentralismus wie unter Karl VIII. (1484–1498) und Ludwig XII. (1498–1515). Kurz vor und nach 1500 wurde durch gegen das Lateinische gerichtete Verordnungen das Französische oder die jeweilige romanische Volkssprache vorgeschrieben. Damit wurde die Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539) vorbereitet, die sich vor allem gegen das Okzitanische richtete und das Französische an den Gerichten verbindlich machte. Wer darin unter “langage maternel” anfangs noch das
5.9 Das Okzitanische
Abb. 5.6: Okzitanisch (Quelle: HSK 23.1: 831)
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Okzitanische verstanden hatte, wurde sehr bald eines Besseren belehrt. Innerhalb weniger Monate war das Französische im Herrschaftsgebiet des Königs von Frankreich durchgesetzt. De facto führte diese Verordnung dazu, dass das Okzitanische auch als Schriftsprache generell durch das Französische ersetzt wurde. Eine Ausnahme machte das Béarn, das als Königreich Navarra bis nach der Thronbesteigung Heinrichs IV. (1589) mit seiner Eigenstaatlichkeit das Okzitanische in der Form des Gaskognischen als Verwaltungssprache bewahrte. Schließlich fiel auch dieses Gebiet 1620 an die Krone.
5.9.5 Okzitanische Reflexliteratur Das Vordringen des Französischen manifestierte sich ebenfalls im reflexiven Gebrauch des Okzitanischen in der Literatur, der als Konkurrenz zum Französischen zu verstehen ist, vor allem in der komischen und burlesken Literatur. Diese ordnete sich als Reflexliteratur (5.1.2) völlig der französischen Literatur als der dominierenden unter. Ein äußeres, aber dennoch relevantes Zeichen des neuen Verhältnisses zwischen Französisch und Okzitanisch war die Verwendung der französischen Orthographie für das Okzitanische vom 16. Jahrhundert an, da die Tradition des okzitanischen Schreibunterrichts durch die Einführung des Französischen als Amtssprache verloren ging.
5.9.6 Okzitanisch und Französisch zur Zeit der Französischen Revolution Das Französische war im 18. Jahrhundert überall in Frankreich als Nationalsprache etabliert. Die Enquête des Abbé Grégoire während der Französischen Revolution zeigt, in welchen Schichten der Gesellschaft sich das Französische bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Der dritte Stand sprach in der Regel bereits Französisch, beherrschte aber ebenfalls noch das Okzitanische. Der vierte Stand war dagegen so wenig des Französischen mächtig, dass ihm Gesetze und Dekrete in den jeweiligen Dialekt übersetzt werden mussten. Französisch und ein okzitanischer Dialekt wurden in den Städten gesprochen, während das Land einsprachig okzitanisch war. Daher gab es in der Französischen Revolution zwei entgegengesetzte Einstellungen zu den Sprachen Frankreichs und somit zum Okzitanischen: In einer ersten Phase wollte man die okzitanischen Departements für die Sache der Revolution gewinnen und ordnete am 14. Januar 1790 die Übersetzung der Gesetze in alle Sprachen Frankreichs an. Für den okzitanischen Sprachraum war 1791–92 das Übersetzungsbüro Dugas zuständig (cf. Schlieben-Lange 1979 und die Beiträge des unter Leitung von Bochmann 1993 herausgegebenen Sammelbands, 63–190). In der schon 1791 einsetzenden zweiten Phase, in der die Sprecher von Minderheitensprachen in den Verdacht gerieten, mit der Konterrevolution zu paktieren, setzte eine zentralistische Sprachpolitik ein. Der Beschluss des Nationalkonvents vom Oktober 1793 zur Einrichtung von französisch-
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sprachigen Grundschulen, die geeignet gewesen wären, das Französische zu verbreiten, konnte allerdings aus praktischen Gründen nicht umgesetzt werden. Diese und andere jakobinische sprachpolitische Maßnahmen wurden vom Abbé Grégoire in seinem 1794 vor dem Nationalkonvent gehaltenen “Rapport sur la necessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser l’usage de la langue française” (‚Bericht über die Notwendigkeit und die Mittel, die Patois zu vernichten und die Verwendung der französischen Sprache allgemein zu verbreiten‘; abgedruckt in de Certeau et al. 1975: 300–317) unmissverständlich formuliert, sie wurden im 19. Jahrhundert Bestandteil der französischen Innenpolitik und ungefähr hundert Jahre später auf der Linie dieser Politik verwirklicht. Der Gedanke, dass die okzitanische Renaissance ebenfalls eine – unbeabsichtigte – Folge dieser Sprachpolitik ist, hat eine gewisse Faszination (5.9.8).
5.9.7 Die jakobinische Sprachpolitik und ihre Folgen Zwar nahmen mit der Revolution und in den napoleonischen Kriegen mehr als nur die traditionell alphabetisierten Schichten am Leben der Nation teil, doch änderte sich an den praktischen Sprachverhältnissen noch nichts Wesentliches. Es waren aber die Weichen für eine zentralistische Sprach- und Schulpolitik gestellt worden, die als ideologische Fortsetzung der Sprachpolitik der Französischen Revolution eben jakobinisch genannt wurde. Diese hatte zum Ziel, allen Franzosen die Kenntnis der französischen Standardsprache zu vermitteln und mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch die Gesetze von Jules Ferry zwischen 1881 und 1883 neben den anderen in Frankreich gesprochenen Sprachen auch das Okzitanische zu ersetzen bzw. zu „vernichten“. Die mit der Verwendung des Okzitanischen verbundene Stigmatisierung nahm die konkrete Form eines Zeichens an, das auch so (“signe”) oder ähnlich (“signal”, “symbole” usw.) hieß. Eine im Grunde einsprachige Gesellschaft musste innerhalb weniger Schülergenerationen das Französische erlernen. Das von diesen Generationen gelernte Französisch war eine Lernervarietät, die francitan genannt wird (Couderc 1975, 1976). Dieses regional variierende francitan gaben die Eltern ihren Kindern weiter, um ihnen das eigene Schicksal in der Schule zu ersparen. Wenn das Okzitanische dennoch zum Teil bis heute überlebte, so liegt dies daran, dass die Alphabetisierungsrate im okzitanischen Sprachgebiet deutlich niedriger lag als im ursprünglichen französischen Sprachgebiet.
5.9.8 Die okzitanische Renaissance Mit dem Rückgang der praktischen Okzitanischkenntnisse im dritten Stand nahm das wissenschaftliche Interesse am Okzitanischen gleichsam umgekehrt proportional zu.
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In der Zeit der Vorbereitung der okzitanischen Renaissance suchten die Gelehrten als Erstes wieder einen einheitlichen Namen für die Sprache. Man schlug occitan vor, occitanique, langue romane oder occitanien. Von diesen Namen erlangte damals noch keiner eine allgemeine Verbeitung. Die Annahme Raynouards (1816), dass die “langue romane” die Grundlage der romanischen Sprachen sei, führte sogar zur Entstehung der romanischen Philologie als Hochschuldisziplin. Wenn man mit Bezug auf die Zeit nach 1800 von einer okzitanischen Renaissance spricht, ist darunter eher das Ansteigen der literarischen Produktion als ein absoluter Neubeginn zu verstehen. Man könnte diese Literatur ebenfalls als Reflexliteratur verstehen. Über okzitanische Themen schrieb eine Gruppe, die sich „Arbeiterdichter“ nannte, sowohl in okzitanischer als auch in französischer Sprache. Es wurden auch lateinische Autoren übersetzt. Die Dichter und Prosaschriftsteller, die sich selbst als felibres bezeichneten, schlossen sich 1854 im Felibrige zusammen und wollten fürs Volk schreiben. Dafür waren sie eigentlich zu konservativ ausgerichtet, im Grunde wandten sich ihre Werke an Gebildete. Epen wie Mirèio (frz. Mireille, 1859) von Frédéric Mistral (1830–1914), dem bedeutendsten Vertreter des Felibrige, der 1904 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurden in französischer Übersetzung gelesen. Es hatte für die weitere Entwicklung des Okzitanischen Konsequenzen, dass die literarische Renaissance dieser Sprache in den engen Grenzen eines Unterdialekts des Provenzalischen an der unteren Rhône stattfand, dem Dialekt von Maillane bei Arles. Das Ziel dieser Renaissance war es nicht, die okzitanische Literatursprache als Ganzes wieder auszubauen. Diese Literatursprache hatte eine allzu geringe gesellschaftliche Basis. Sie wurde als Schriftsprache von Mistral und Joseph Roumanille kodifiziert. Das Kernstück der Kodifizierung, die von Roumanille und Mistral geschaffene Orthographie des Felibrige, wurde nicht allgemein akzeptiert, weil ihre dialektale Grundlage, das Unterrhodanische, zu peripher und zu kleinräumig war, weil die Schreibung sich an das Französische anlehnte und somit deutlich sichtbar das Okzitanische dem Französischen unterordnete. Das Französische erleichterte damit zwar die Erlernung dieser Orthographie, drückte aber gerade deswegen nicht die neue okzitanische Identität aus. Daran hatte auch die internationale Anerkennung der in diesem Dialekt geschriebenen Literatur nichts ändern können. Eine andere Kodifizierung nahm der Abbé Joseph Roux unter Bezug auf die Sprache der Trobadore vor. Sie wurde von Antonin Perbosc und Prosper Estieu fortgesetzt und von 1919 an in der Escòla Occitana verbreitet. Die Basis dieser Orthographie war das Languedokische, der zentralste und konservativste Dialekt, mit dem die etymologische und somit auch die supradialektale Schreibung konvergierte.
5.9 Das Okzitanische
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5.9.9 Die Kodifizierung des Okzitanischen im 20. Jahrhundert Von exemplarischer Bedeutung war für Okzitanien der Erfolg des Katalanismus. So wird 1930 die Societat d’Estudis Occitans in Toulouse und 1945 das aus der Résistance hervorgegangene Institut d’Estudis Occitans gegründet. Es vertritt heute die verschiedensten politischen Ideologien von rechts bis links und ist die zentrale Einrichtung zur Pflege und Verbreitung der okzitanischen Kultur. Die Basis der modernen von der Societat d’Estudis Occitans und dem Institut d’Estudis Occitans propagierten okzitanischen Standardsprache wurde wie in der Escòla Occitana das Languedokische, das syntopisch und von seiner Sprecherzahl her eine Mittelstellung unter den Dialekten einnimmt. Das Okzitanische wurde auf dieser Basis von Loïs Alibert in seiner Gramatica occitana, segón los parlars lengadocians (1935) normiert. Diese Normierung übernahm das Institut d’Estudis Occitans, das die Aufgaben einer okzitanischen Sprachakademie wahrnimmt. Die Kodifizierungsbemühungen richteten sich vor allem auf die Schaffung einer Literatursprache aus. Dadurch schränkte man von Anfang an die Geltung der neuen Standardsprache auf den Bereich der Kultur ein. Mit der Ausweitung des Okzitanismus wurde eine stärkere Orientierung am mittelalterlichen Okzitanisch verfochten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mehr und mehr die Grammatik von Alibert im okzitanischen Sprachraum anerkannt und regional adaptiert. Allgemein anerkannt ist sie jedoch immer noch nicht.
5.9.10 Der heutige Status des Okzitanischen In der Schule können die Okzitanen ihre Sprache nur in beschränkten Maße lernen. Wie die anderen Regionalsprachen Frankreichs wird das Okzitanische im Rahmen der Loi Deixonne seit 1951 als fakultatives Unterrichtsfach an Gymnasien und Universitäten zugelassen. Das Gesetz sah einen freiwilligen Unterricht von einer Wochenstunde in den Regionalsprachen an Grundschulen, Gymnasien und Hochschulen mit einer Zusatzprüfung vor. Spätere Reformversuche brachten keine wesentlichen Veränderungen dieser Situation, wenn auch die Wochenstundenzahl auf bis zu drei Stunden bei Einhaltung einer Mindestteilnehmerzahl erhöht worden ist. Das Okzitanische gehört nach der Verfassung von 2008 zum kulturellen Erbe Frankreichs, doch bleibt sein Status prekär. Der Grund für die geringe Anerkennung des Okzitanischen ist darin zu suchen, dass es der okzitanischen Bewegung nicht gelungen ist, eine politische Partei mit breiter politischer Basis zu gründen. Es gibt mehrere politische Gruppierungen, die eher klein sind und sich der Linken zugehörig fühlen. Kulturell hatte die okzitanische Bewegung einmal eine gewisse Resonanz durch Straßentheater und Chansons (bes. von Claude Marti) bekommen. Okzitanistische Zeitschriften haben nur eine begrenzte Lebensdauer, die Buchauflagen sind niedrig und das Okzitanische ist so gut wie nicht in den Massenmedien Frankreichs präsent.
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5 Die romanischen Sprachen
5.9.11 Die französisch-okzitanische Spracharchitektur Die französisch-okzitanische Spracharchitektur ist durch die fast alleinige Herrschaft des Französischen geprägt. Es wird in stark variierenden und in unterschiedlichem Ausmaße von okzitanischen Dialekten beeinflussten Varietäten gesprochen, die diesem Regionalfranzösisch deshalb den Namen francitan eingetragen haben. Neben dieser französischen Kontaktvarietät werden residual okzitanische Dialekte gesprochen. Für die meisten Sprecher kommt, soweit sie des Okzitanischen mächtig sind, ein okzitanischer Dialekt hinzu. Dieser Dialekt ist ebenfalls eine französisch beeinflusste Kontaktvarietät des Okzitanischen. Die französische Sprachnorm erscheint im Varietätenspektrum für das Bewusstsein zahlreicher Sprecher nur als Instanz, von der man Kenntnis hat, die aber kaum aktiv beherrscht wird. Die okzitanische Standardnorm ist dagegen in der Regel nicht bekannt. Wenn okzitanische Dialektsprecher mit ihr in Kontakt kommen, empfinden sie sie als künstlich.
5.9.12 Grade der Sprachbeherrschung Seit der Einführung der Wehrpflicht, der allgemeinen Schulpflicht, des Rundfunks und des Fernsehens gibt es immer weniger Sprecher, die das Okzitanische als Erstsprache gelernt haben. Daher stellen wir zum Abschluss die Frage, wie viele Sprecher des Okzitanischen es denn gibt. Man kann darauf nur antworten, dass man es eigentlich nicht weiß. Wir können aber zu erklären versuchen, warum man es nicht weiß. Es ist zu unterscheiden, ob jemand diese Sprache kann, ob und bei welcher Gelegenheit er sie verwendet und ob er sie noch versteht. Die wohl am meisten akzeptierte Darstellung hat Lafont in Clefs pour l’Occitanie (1971a: 56) gegeben. Er unterscheidet die “usagers ‘à temps plein’”, die “usagers partiels”, die “usagers éventuels”, die “postusagers” und die “non-usagers”. Die erste Gruppe rekurriert nur dann auf das Französische, wenn sie das Okzitanische nicht verwenden kann; die zweite Gruppe spricht das Okzitanische ebenfalls gut, verwendet es aber nur gelegentlich; die dritte Gruppe versteht es gut, verwendet es aber selten; die vierte Gruppe versteht noch ein wenig Okzitanisch und die fünfte Gruppe versteht es nicht mehr. Wenn Lafont für die ersten drei Gruppen zusammen ca. 8 Millionen Sprecher annahm, dürften es heute nach fünfzig Jahren wesentlich weniger sein. Der Abbau des Okzitanischen ist seit mehr als einer ganzen Generation vorangeschritten. Die heutige Situation des Okzitanischen lässt sich besser charakterisieren, wenn wir den Vorgang und gegenwärtigen Stand des Sprachabbaus erläutern. Räumlich ist der Gebrauch des Okzitanischen am meisten in den größeren Städten, am wenigsten in den kleineren Städten und den Dörfern zurückgegangen. Diesen Rückgang kann man besser an der sozialen Verbreitung der Sprache festmachen. Es wird am meisten von Bauern gesprochen, von im ländlichen Raum ansässigen Arbeitern und von Handwerkern, die traditionell arbeiten. Es wird eher von älteren Menschen in
5.10 Das Spanische
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der Familie, bei der Arbeit und mit Freunden sowie eher von Männern als von Frauen gesprochen. Die Diskrepanz zwischen denen, die gut Okzitanisch können und denen unter ihnen, die es verwenden, ist sehr groß: Viele Sprecher vermeiden es geradezu, Okzitanisch zu sprechen. Damit stimmt überein, dass sie in der Regel in der Erhaltung ihrer Sprache keinen Wert sehen. Alle diese Aussagen betreffen Sprecher von okzitanischen Dialekten. Der Rückgang der Zahl von Sprechern okzitanischer Dialekte wird nur zu einem sehr geringen Teil durch diejenigen aufgewogen, die die okzitanische Standardsprache in einer ihrer Formen neu erlernen.
Bibliographischer Kommentar
Eine Geschichte der okzitanischen Sprache ist noch nicht geschrieben worden. Für einen allgemeinen Überblick seien deshalb an erster Stelle die Beiträge von Lafont 1991 und 1991a, Kremnitz 1991 und 1991a, Bec 1991 sowie Schlieben-Lange 1991 empfohlen und ferner die Artikel von Gleßgen/Pfister 1995 und 1995a, Lodge 1995, Gleßgen 1995, Wüest 1995 und 1995a, Allières 1995, die zusammen sehr gut als okzitanische Sprachgeschichte gelesen werden können, sowie Kremnitz 1981. Über die Geschichte der Sprache im Zusammenhang mit der Literatur kann man einiges nachlesen bei Lafont und Anatole (1970). Die Ausbreitung des Französischen in den okzitanischen Gebieten stellt Brun 21973 dar. Die Kodifizierung des Okzitanischen behandelt Kremnitz 1974. Zum Okzitanischen in der Region Languedoc-Roussillon Hammel/Gardy 1994. Für das Verständnis der Aporien und Konflikte, in deren Zentrum das Okzitanische steht, ist das politische Wirken und das Werk von Lafont exemplarisch. Die okzitanischen Probleme sieht er stets in größeren Zusammenhängen. Er gibt eine gegen die offizielle Interpretation gerichtete Geschichte Frankreichs (1968) und verbindet Hoffnungen auf eine größere regionale und sprachliche Eigenständigkeit Okzitaniens mit der Idee der Regionalisierung und Dekolonisierung (1967, 1971, 1971a, 1976). Es ist sein Problem und das anderer okzitanischer Intellektueller, dass es ihm nicht gelingt, die Okzitanen als breite Masse zu mobilisieren. Das Ergebnis des Jahrhunderte dauernden okzitanisch-französischen Sprachkontakts ist ein spezifisches Regionalfranzösisch. Dazu Moreux/Razou 2000.
5.10 Das Spanische Wie die Sprachgeschichtsschreibung der anderen romanischen Sprachen erweckt diejenige des Spanischen den Eindruck, sie beginne mit der Latinisierung der Iberischen Halbinsel (4.3.4). Da es um die Geschichte des Spanischen und nicht des Lateinischen geht, soll die Latinisierung der Iberischen Halbinsel vorausgesetzt werden, denn sie gehört nicht eigentlich zu einer Geschichte des Spanischen. Auch das Arabische muss in diesem Sinne außerhalb der Betrachtung bleiben, da es im ursprünglich spanischen, d. h. im ältesten kastilischen Gebiet nicht in direktem Kontakt mit dem Kastilischen stand. Es werden dennoch einige Bemerkungen dazu dann sinnvoll sein, wenn es mit dem Kastilischen tatsächlich in Kontakt tritt. In einer minimalen Sprachgeschichte wird die Selektion des Kastilischen, sein Ausbau, seine Standardisierung und seine Kodifizierung zugrunde zu legen sein, woran sich die
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Übernahme in ursprünglich nicht kastilischen Regionen, d. h. ihre Hispanisierung anschließt. Eine solche Sprachgeschichte steht in einem viel engeren Zusammenhang mit der politischen, sozialen und demographischen Geschichte Spaniens als die literatursprachliche und führt schließlich hin zu einer weltweiten Verbreitung des Spanischen. Der größte kompakte Raum reicht von Feuerland bis zu den Vereinigten Staaten von Amerika einschließlich. In unserem Zusammenhang müssen wir die allgemeine Geschichte Spaniens und Hispanoamerikas aus praktischen Gründen voraussetzen. 5.10.0.1 Der Name der Sprache Das Spanische hat sich kontinuierlich aus dem späten Vulgärlatein und aus dem frühen Romanisch entwickelt, das im Kontakt mit dem Baskischen im frühen Mittelalter zwischen der heutigen Provinz Álava und dem Oberlauf des Pisuerga entstanden ist. Dieses anfangs zum Königreich Asturien gehörende Gebiet wurde wegen seiner zur Verteidigung gegen die Mauren und die Basken errichteten Burgen Castella genannt. Dieser Name entwickelte sich zu Castiella und schließlich zu Castilla. Aus Castilla leitet sich das Adjektiv castellano ‚kastilisch‘ ab, das substantiviert als Bewohnername für ‚Kastilier‘ verwendet wird. Die Sprache wurde anfangs jedoch noch nicht mit dem Ethnonym castellano benannt, sondern mit romance ‚Romanisch‘ < romanice im Unterschied zu dem Lateinisch, von dem die romanischen Sprachen sich am Beginn ihrer Entwicklung erst abgrenzen mussten. Der Bewohner- und Sprachenname español ist ebenfalls alt. Er ist eine Entlehnung aus dem Okzitanischen und leitet sich von okz. Espanha ab, dem alten Namen der Iberischen Halbinsel. Nach der arabischen Eroberung der Iberischen Halbinsel sind „Spanier“ auch über die Pyrenäen ins okzitanische Gebiet geflohen, die dann unterschiedslos espanhol genannt wurden. Der Name español bezog sich bis zum 15. Jahrhundert auf alle Bewohner der Iberischen Halbinsel, das damalige España, und später auf ihre Sprache, wenn nicht weiter differenziert werden sollte. España schloss damals Portugal und español das Portugiesische ein. In Entsprechung zu den Sprachennamen Spanisch und Kastilisch kann man die Ausbreitung dieser Sprache Hispanisierung oder Kastilisierung nennen. Ich wähle Kastilisch, wenn es um diese Sprache in ihrem ursprünglichen Raum geht, und Kastilisierung, wenn das Kastilische sich bei gleichzeitiger Verdrängung einer kolonisierten Sprache verbreitete, wie dies bei der Ausbreitung im Gebiet des Arabischen und des Mozarabischen der Fall war. Das Mozarabische war das Romanisch, das in den von den Arabern besetzten Gebieten gesprochen wurde. Spanisch nenne ich die Sprache und Hispanisierung den Prozess ihrer Verbreitung, durch den diese Sprache eine überregionale Bedeutung in ursprünglich anderssprachigen Gebieten erhält. Dies geschah bei der Ausbreitung des Kastilischen im Gebiet des Baskischen, Galicischen, Aragonesischen und Katalanischen auf der Iberischen Halbinsel, bei der Ausbreitung der politischen Herrschaft Spaniens in Italien und in Flandern sowie ganz beson-
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ders in Amerika. Spanisch und Hispanisierung enthalten die Perspektive der räumlichen Überschreitung des ursprünglichen Sprachgebiets, durch die das Kastilische permanent im Laufe seiner Geschichte zum Spanischen wurde. Dies geschah bereits beim ersten Kontakt mit außerhalb Kastiliens gesprochenen Sprachen. Diese werde ich erst dann und nur dann Dialekte nennen, wenn das Spanische sie sich untergeordnet hat. In den Randgebieten Spaniens bevorzugt man jedoch den alten Namen castellano. In Hispanoamerika koexistieren español und castellano. Wenn das gesamte Sprachgebiet gemeint ist, verwenden Linguisten gerne den neutralen Ausdruck hispánico im Zusammenhang mit der spanischen Sprache, z. B. in mundo hispánico ‚spanischsprachige Welt‘. Im Gegensatz zu meinem Vorschlag für die Verwendung von Kastilisch und Spanisch ist der Sprachgebrauch im spanischen Sprachgebiet völlig uneinheitlich. Es ist aber hilfreich, mit diesem terminologischen Unterschied die Besonderheit der spanischen Sprachgeschichte gegenüber der Geschichte der meisten anderen romanischen Sprachen zum Ausdruck zu bringen (zum Namen der Sprache Alonso 41968). 5.10.0.2 Kastilische Kolonialdialekte Wie in den anderen Sprachen der Iberischen Halbinsel unterscheidet sich die Entwicklung des Spanischen von den anderen romanischen Sprachen durch die Wanderbewegungen ihrer Sprecher, die nach der Eroberung der von den Arabern besetzten Gebiete ihre Sprache vom Norden in den Süden brachten. Diese Eroberung der Iberischen Halbinsel macht den Traditionsbruch gegenüber dem Lateinischen manifest. Der arabische Einfluss dauerte im kastilischen Gebiet am längsten an. Die kastilischen Dialekte bildeten sich auf der Iberischen Halbinsel in der Regel durch Kolonisierung heraus. Zur Herausbildung des Spanischen, aber auch des Portugiesischen und Katalanischen, gehört der arabische Einfluss konstitutiv dazu. Die Dialekte, die durch die Rückeroberung entstanden, sind Sekundärdialekte. Sie werden, weil sie auf der Iberischen Halbinsel und nach der Eroberung der amerikanischen Territorien durch Kolonisierung entstanden sind, auch Kolonialdialekte genannt (2.4.2.3). Die spanische Standardsprache entstand letztendlich aus einem Kolonialdialekt, der, nachdem er zur Gemeinsprache geworden war, standardisiert wurde. Diese Leistung wird mit dem Werk Alfons’ X. des Weisen in Verbindung gebracht, doch ist die Einführung des Kastilischen als Kanzleisprache im 13. Jahrhundert und ihre Folgen für die Zunahme der Gruppe der professionell Schreibkundigen unvergleichlich maßgeblicher (5.10.1.2). Die spanische Standardsprache – das ist hier das Entscheidende – leitete sich also direkt aus den verschrifteten Kolonialdialekten Alt- und Neukastiliens ab. Innerhalb der historischen Sprache Spanisch ist nun das Verhältnis von Dialekt zu Standardsprache verschieden, je nachdem ob die Dialekte die gleiche geschichtliche Herkunft haben wie die Standardsprache oder nicht. Im Bereich der historischen
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Abb. 5.7: Die Eroberung der Iberischen Halbinsel bis 1492 (Quelle: Morales Padrón 1988, vol 1: 82)
Sprache Spanisch haben das Altkastilische als Dialekt Altkastiliens, das Neukastilische als Dialekt Neukastiliens, das extremeño, das Andalusische, das Kanarische und die Varietäten des amerikanischen Spanisch den gleichen Ursprung. Nicht so dagegen das Asturianische mit dem Leonesischen und das Navarroaragonesische, die sich wie das Kastilische vom Lateinischen direkt herleiten. Weil sie aber der spanischen Standardsprache untergeordnet sind (oder in dem Maße, in dem dies der Fall ist, cf. 5.12 und 5.13), gehören sie heute zur spanischen Sprache als deren Dialekte. Dieser Unterschied in der Zuordnung der Dialekte manifestiert sich deutlich in ihren phonologischen und grammatischen Strukturen, die vom Spanischen beeinflusst wurden. Andererseits behaupten einige Gemeinschaften ihre Eigensprachlichkeit. Unter den dialektalisierten Gemeinschaften sind dies die asturianische und die aragonesische.
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Wegen der Dialektalisierung durch das Spanische sind die Sprecher des Asturianischen und des Aragonesischen hinsichtlich der Frage, ob sie eine eigene Sprache oder einen Dialekt des Spanischen sprechen, in sich gespalten. Das demographische Übergewicht des Spanischen und das Übergewicht der Literaturproduktion in dieser Sprache liegen heute in Hispanoamerika. Die Herkunft der Sprache und ihre Standardisierung bringen aber eine geschichtliche Schwerpunktsetzung auf Spanien mit sich. Dort wurde die Sprache mit dem Anspruch standardisiert und kodifiziert, im gesamten Sprachraum zu gelten. Das Spanische ist unter den romanischen Sprachen diejenige, die den größten Raum kolonisiert hat, gefolgt vom Portugiesischen und Französischen. Diese Tatsache hat ein Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen spanischen Sprachnormen zur Folge. 5.10.0.3 Periodisierung Die innere und die äußere Entwicklung stimmen nicht ganz überein. Eine vom Sprachwandel bestimmte Periodisierung hätte den Rhythmus des Sprachwandels zugrunde zu legen. Da wir über ihn für das Mittelalter keine Gewissheit haben, nehme ich mit Eberenz (1991: 105) eine provisorische Grenze um 1450 an, weil wichtige Veränderungen in der Phonologie, in der Grammatik und im Grundwortschatz sich um diese Zeit vollzogen haben könnten: Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hat wahrscheinlich der Wandel vom Altkastilischen zum Neuspanischen stattgefunden und bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben sich das Spanisch der Literatur des Goldenen Zeitalters (Mitte des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts) und das regional in Spanien und Amerika gesprochene Spanisch konsolidiert. Daraus würde sich die folgende Periodisierung ergeben: 1. Von den Anfängen bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, 2. von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur zweiten Häfte des 17. Jahrhunderts und 3. von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis heute. Es ist nun interessant, dass zwei bedeutende geschichtliche Ereignisse auf die durch die innere Entwicklung abgegrenzten Perioden folgen. Am Anfang der zweiten innersprachlichen Periode breitete sich das Spanische auf den Kanarischen Inseln, durch die Eroberung Granadas (1492) von West- nach Ostandalusien, durch die Entdeckung Amerikas (1492) in der Neuen Welt und durch die imperiale Politik Kaiser Karls V. in Italien aus. Ungefähr am Anfang der dritten innersprachlichen Periode fand nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1713/14) ein dynastischer Wechsel von den Habsburgern zu den Bourbonen statt, der sich in einer zentralistischen Sprachpolitik auswirkte. Gegen Ende des Erbfolgekriegs wurde die spanische Sprachakademie gegründet, die in wenigen Jahrzehnten das Spanische kodifizierte. Legt man die großen geschichtlichen Einschnitte zugrunde, so folgte auf die Unabhängigkeit Hispanoamerikas die Verbreitung des nunmehr kodifizierten Spanisch durch die staatlichen Instanzen. Dass die Sprecher die offizielle Sprachnorm beherrschen, ist das Ergebnis eines relativ spät einsetzenden kontinuierlichen Alphabetisierungsprozesses, der in Hispanoamerika, insbesondere in Mexiko, Peru und
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Abb. 5.8: Die Staaten der Iberischen Halbinsel um 1492 (Quelle: Morales Padrón 1988, vol. 1: 83)
Bolivien, noch nicht alle Sprecher amerindischer Sprachen erreicht hat, deren Amtssprache das Spanische ist. Die Phasenverschiebung, die sich aus der Anwendung des Kriteriums der innersprachlichen Entwicklung und des Kriteriums der die spanischsprachigen Gemeinschaften prägenden geschichtlichen Ereignisse ergibt, führt zur folgenden Periodisierung des Spanischen in seiner weltweiten Verbreitung: 1. Die Geschichte des Spanischen bis 1492, 2. von den Katholischen Königen bis zum Spanischen Erbfolgekrieg, 3. von der Gründung der spanischen Sprachakademie bis zur Unabhängigkeit Hispanoamerikas und 4. von der Unabhängigkeit bis heute.
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5.10.1 Die Geschichte des Spanischen bis 1492 5.10.1.1 Von der arabischen Eroberung zu den frühesten Sprachzeugnissen Es hat die Individualität nicht nur des Kastilischen, sondern aller romanischen Sprachen der Iberischen Halbinsel geprägt, dass die Araber Hispanien von 711 an eroberten und dass die christianisierten Romanen vom äußersten Norden aus das von den Arabern besetzte und lange Zeit zweisprachige Gebiet zurückeroberten und zum Teil neu besiedelten. Im ursprünglichen kastilischen Gebiet fand kein direkter Kontakt mit dem Arabischen statt. Frühe romanisch-arabische Kontaktsituationen gab es nur in den arabisierten Gebieten. Bei der Rückeroberung der arabischen Reiche durch die Christen zogen viele Araber weiter nach Süden, andere blieben aber als mudéjares – das waren Muslime unter christlicher Herrschaft – in den spanisch beherrschten Gebieten, wo sie in meist geschlossenen Gemeinschaften siedelten. Die Sprecher romanischer Sprachen im arabisch beherrschten Gebiet, die meist Christen blieben, zum Teil aber auch zum Islam konvertierten, wurden Mozaraber genannt (sp. mozárabes). Nach 1502 wurden die Muslime zwangschristianiert und sie wurden Morisken (sp. moriscos) genannt. Es muss daher genau unterschieden werden, ob das Arabische oder das Kastilische von Fall zu Fall die im Kontakt dominierende Sprache war, denn es entsteht jeweils eine andere Varietät, je nachdem ob ein Araber bzw. Maure Romanisch oder ein Romane Arabisch lernte. Die Romanen, die auf der Iberischen Halbinsel im Kontakt mit Mauren und Basken lebten, konnten sich ihrer Romanität wohl früher bewusst werden als die Romanen ohne einen solchen Sprachkontakt. Ihnen wurde daher der Unterschied zwischen Lateinisch und Romanisch etwa so früh bewusst wie den Gallorömern (Banniard 1992: 423–484). Das Sprachbewusstsein der Romanen in den christlichen Herrschaftsgebieten der Iberischen Halbinsel manifestiert sich allerdings erst in der nodicia de quesos, d. h. der Aufstellung des Käseverbrauchs in einem Kloster, in den Glosas Emilianenses (den aus dem Kloster San Millán de la Cogolla in der Rioja stammenden Glossen) und in den Glosas Silenses (aus dem Kloster Santo Domingo de Silos östlich von Burgos), die vermutlich in einer Zeit zwischen dem Ende des 10. und dem Anfang des 11. Jahrhunderts geschrieben wurden. Welche Sprache die Glossatoren ihrer eigenen Einschätzung zufolge geschrieben haben, wissen wir nicht. Heute ordnen wir die Glossen dem Navarresischen zu. In den zu einem lateinischen Text geschriebenen Glosas Emilianenses ist außerdem das Baskische zum ersten Mal belegt. Die Anfänge der Verschriftung des Kastilischen sind nicht dokumentiert, aber bereits die Glosas Emilianenses setzten eine Schreibtradition voraus, denn die Glossen zeigen, dass es für die Verschriftungsprobleme des Romanischen wie Palatale ([ɲ], [ʎ]) und Diphthonge (ue, ie) bereits eine etablierte Lösung gab. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Verschriftung etwa einhundert Jahre vor der Abfassung der überlieferten Glossen einsetzte. Man vergleiche dazu die Schaffung einer eigenen Schreibung des Französischen zwischen dem Konzil von Tours (813) und der Eulaliasequenz
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(um 880), die eine Jahrzehnte dauernde Arbeit an der Orthographie zur Voraussetzung hatte. 5.10.1.2 Reconquista und Herausbildung einer Literatursprache Die Grafen von Kastilien dehnten ihr Gebiet nach Süden aus, sie gründeten 884 Burgos neu. Kastilien wurde unter Ferdinand I. (1037–1065) Königreich. Da Ferdinand I. auch König von León war, erhielten Kastilien und León letztlich eine Vormachtstellung unter den christlichen Herrschaftsgebieten. Dieses Königreich eroberte 1085 Toledo, 1248 Sevilla und 1492 Granada. In dieser Zeit der Expansion bildete sich das Kastilische zur Amts- und Literatursprache heraus. Es begann in Bereiche einzudringen, die dem Lateinischen vorbehalten waren. Die Volkssprache eroberte sich neue Textgattungen, indem die lateinischen Textgattungen in romanischer Sprache verschriftlicht wurden. Von ca. 1180 an wurde das Kastilische für Privaturkunden verwendet. Dieser Vorgang fand seine Fortsetzung in der königlichen Kanzlei unter Alfons VIII. (1158–1214) und Ferdinand III. dem Heiligen (1230–1252). Unter Alfons X. dem Weisen (1252–1284) wurde das Kastilische alleinige Urkundensprache, es wurde weiter zur Literatursprache und zur Wissenschaftssprache ausgebaut. Vor der Ablösung des Lateinischen durch das Kastilische erhielt das Urkundenlatein in stetig zunehmendem Maße den Charakter einer kastilisierten Kontaktvarietät, die mit dem Kastilischen in ein und demselben Text alternieren konnte. Die chronologische Grundlage der Kanzlei- und Literatursprache war das Kastilische des 13. Jahrhunderts. Diese Sprache war ein Kolonialdialekt, der nicht mehr die regionale Variation des Ursprungsgebiets aufwies. In dieser Zeit tauchte auch lengua castellana oder romance castellano zuerst als Sprachenname auf. Solche Sprachennamen sind stets als Zeugnisse eines sprachlichen Identitätsbewusstseins zu werten. Oft wurde die Entstehung einer kastilischen Literatursprache Alfons dem Weisen und seiner Umgebung allein zugeschrieben und dann “norma toledana” genannt. Wenn sie aber exemplarisch für die späteren Autoren gewirkt haben soll, müssten die Texte in zahlreichen Abschriften verbreitet worden sein. Dies ist nun gerade nicht gesichert. So ist die General Estoria Alfons’ des Weisen nicht in einer Handschrift des 13., sondern erst des 14. Jahrhunderts überliefert. Wir stellen ebenfalls fest, dass ähnliche sprachliche Merkmale, wie sie in den Schriften der Toledaner Übersetzerschule erscheinen, in anderen Regionen zur selben Zeit vorkommen. Sie können deshalb nicht auf das Wirken von Alfons dem Weisen zurückgehen. Sehr viel wahrscheinlicher ist die Annahme, dass die kastilische Literatur von all denjenigen geschrieben wurde, die vom Lateinischen zum Kastilischen übergehen konnten, d. h. von den Klerikern. Die Gemeinsamkeiten lassen sich also durch einen gemeinsamen Übergang von einer lateinischen zu einer kastilischen Schriftlichkeit weit besser erklären als durch die Verbreitung einer angeblichen toledanischen Norm in wenigen Jahren. Die kastilische Literatursprache variierte während des ganzen Mittelalters und weit
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darüber hinaus. Hinzu kommt, dass die kastilische Literatur ihre eigene Geographie hat, die vom Stand der Ausbreitung des Kastilischen und von der politischen Entwicklung abhängt. Unterhalb der Ebene der Literatursprache existierten regionale Schreibsprachen (Scriptae), die in königlichen und kirchlichen Schreibstuben verwendet wurden. Im 15. Jahrhundert erlebte die kastilische Literatur eine Blütezeit. Die Werke des Marqués de Santillana, von Juan de Mena, Jorge Manrique, Pero López de Ayala, Juan del Encina und anderen galten zu ihrer Zeit als so bedeutend, dass der sich auf ihre Werke stützende Grammatiker Antonio de Nebrija (1444?-1522) eher einen Niedergang befürchtete, als dass er eine Steigerung für möglich hielt. Diese Steigerung brachten dann doch die Goldenen Jahrhunderte (sp. Siglo de Oro oder Siglos de Oro, ca. 1550– 1650) der spanischen Literatur zuwege. Die Sprache Nebrijas wurde vom Goldenen Zeitalter her ‚vorklassisches Spanisch‘ (“español preclásico”) genannt. Die Einführung des Buchdrucks in Spanien um 1472 brachte Autor und Leserschaft in ein neues Verhältnis zueinander. 5.10.1.3 Die Übernahme der dominierenden Sprache: Die Ausbreitung des Kastilischen Die Ausbreitung des Kastilischen unter den Kantabrern und Basken ist ein Vorgang, der konstitutiv zur Entstehung des Kastilischen gehört, denn der intensivere Sprachkontakt der Basken und der Kantabrer trat so spät ein, dass wir von einem Kontakt mit dem späten Vulgärlatein und dem frühen Romanisch gesprochen haben. Die Kastilisierung der Basken dauert in ununterbrochener Folge bis zum heutigen Tage an. Das Kastilische expandierte vom 13. Jahrhundert an als gesprochene Sprache in die anderen Sprachräume hinein, in das Gebiet des benachbarten Navarresisch sowie des Leonesischen, Asturianischen und Galicischen, da diese Gebiete zum Königreich Kastilien-León gehörten. Die noch variierende kastilische Kanzleisprache „überdachte“ die anderen romanischen Sprachen und machte sie dadurch zu Dialekten des Kastilischen. Zuerst wurde das Gebiet des Leonesischen kastilisiert. Mit dem aus der Rioja stammenden Gonzalo de Berceo (um 1195-um 1265) wurde das Kastilische zum ersten Mal als Literatursprache auch außerhalb Kastiliens übernommen. Durch die Ausbreitung des Kastilischen entstanden neue Varietäten. Die räumliche Nähe des Kastilischen zum Asturianischen verhinderte früh die Entstehung einer eigenen asturianischen Schriftsprache mit kontinuierlicher Tradition. Der Kontakt mit dem Asturianischen und mit dem Leonesischen hat völlig verschiedene Charakteristika. Deshalb setze ich auch keinen gemeinsamen asturleonesischen Sprachraum voraus. Dieser Raum weist zwar geschichtliche Gemeinsamkeiten auf, die zu Gemeinsamkeiten in der Struktur des Asturianischen und des Leonesischen führten, da das Leonesische der Kolonialdialekt des Asturianischen ist. Ihm entspricht aber heute kein gemeinsames Sprachbewusstsein. Der Grund dafür sind die verschiedenen Modalitäten des Kontakts mit dem Kastilischen, die sich in ganz
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unterschiedlicher Weise auswirkten. So wurde die leonesische Schreibsprache seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts kastilisiert, das Asturianische dagegen wurde im 20. Jahrhundert standardisiert und weiter ausgebaut (5.13). Galicien war zwar im Mittelalter ein Königreich, dieses war im 11. Jahrhundert aber von León und vom 13. Jahrhundert an von Kastilien abhängig. Da die allgemeine Ablösung des Lateinischen durch die Volkssprache in das 13. Jahrhundert fiel, ist der kastilische Einfluss auf das Galicische greifbarer als der Einfluss auf das Leonesische, denn er ist älter und daher weniger gut dokumentiert. Das Kastilische dialektalisierte das Galicische vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Es entstanden in der Extremadura und vom 13. Jahrhundert an in Andalusien weitere Kolonialdialekte. Außerhalb des Königreichs Kastilien drang das Kastilische vom 15. Jahrhundert an in Aragonien stärker vor (cf. Lleal 1997) und verdrängte das Aragonesische bis ungefähr 1600 in den meisten Gebieten. 5.10.1.4 Sprachlicher Wandel Am Ende dieses Abschnitts zum Altkastilischen sind einige wichtige und häufige sprachliche Erscheinungen zu betrachten. Um 1500 kann als [f], als [ɸ] und als [h] in einem Fall wie akast. fazer > hazer/hacer ‚machen‘ gesprochen werden oder es war bereits verstummt. Die Unterschiede waren regional: In Kastilien verstummte das anlautende [f-] in dieser Position früher als in Südspanien, wo [h] > ø sicher als volkstümlich zu bewerten ist. In der konservativeren Literatursprache blieb viel länger erhalten. /s/ und /z/ waren spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts in /s/ zusammengefallen. Die Orthographie unterschied aber und z. T. bis zum 18. Jahrhundert. Ein Ausspracheunterschied war damit sicher nicht über das 16. Jahrhundert hinaus verbunden. Kontrovers ist die weitere Entwicklung von /ts/ und /dz/, Phoneme, die bzw. geschrieben werden. Während beide Phänomene in Kastilien früh im stimmlosen Phonem, das sich zu /θ/ entwickelt hat, zusammenfielen, hat sich /dz/ im Süden und in überseeischen Gebieten entaffriziert. Der auf diese Weise entstandene Sibilant ist letztendlich mit dem Ergebnis der Entwicklung von /ts/, geschrieben, zusammengefallen. Wenn /ts/ entaffriziert wurde, so entwickelten sich je nach Region die Laute [s] oder [θ]. Zwischen ihnen bestand jedoch in Andalusien, auf den Kanarischen Inseln und in Amerika kein Phonemunterschied. Wenn die Phoneme /s/ und /θ/ in /s/ zusammenfielen, nennt man dieses Phänomen seseo, beim Zusammenfall in /θ/ ceceo. /ʃ/ und /ʒ/ konnten volkstümlich bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in /ʃ/ zusammenfallen, die Verallgemeinerung der Entsonorisierung von /ʒ/ und von /z/ und die Velarisierung von /ʃ/ zu /χ/ setzten sich bis zum 17. Jahrhundert fort. /ʎ/ > /j/ ist um die Mitte des 16. Jahrhunderts belegt: Die Entlehnung caney ‚Indianerhütte‘ aus dem Arawakischen wurde 1554 vom Chronisten Pedro Cieza de León als
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Pluralform einmal canelles und das neue Wort criollo ‚Kreole‘ in Santo Domingo zuerst crioyo geschrieben. In der Morphologie variierten noch im 16. Jahrhundert amábades/amábais ‚ihr liebtet‘, tenéis/tenés ‚ihr hattet‘, matastes/matásteis ‚ihr habt getötet‘, haiga/haya ‚er, sie habe‘ usw. Von diesem Jahrhundert an wurde der Konjunktiv Futur (sea como fuere ‚sei dem, wie dem wolle‘) seltener gebraucht. Das Futur vom Typ perder-se-á ‚er, sie, es wird zugrunde gehen‘ wurde durch se perderá ersetzt. Haber setzte sich gegenüber ser als Hilfsverb zur Bildung des zusammengesetzten Perfekts bei intransitiven Verben durch. Z. B. wurde soy venido ‚ich bin gekommen‘ zu he venido. Konjunktionen wie maguer ‚obgleich‘, pero que ‚obgleich, weil‘, comoquier(a) que ‚da, weil‘, cada que ‚immer wenn, jedesmal wenn‘, tanto que ‚sowie‘, desque ‚seitdem‘, de que ‚nachdem, seitdem‘ wurden aufgegeben und durch aunque ‚obgleich‘, como ‚da, weil‘, cada vez que ‚immer wenn‘, apenas … cuando ‚kaum … als‘, no bien … cuando ‚kaum … als/da‘, desde que ‚seitdem‘, después de que ‚nachdem‘ usw. ersetzt. Die Präpositionen por und para differenzierten sich, por für die kausale und para die finale Funktion. Analog dazu bildete man die Konjunktionen porque + Indikativ für die kausale Bedeutung und para que + Konjunktiv für die finale Bedeutung um. Im Grundwortschatz wandelte sich das Verhältnis zwischen ser und estar ‚sein‘, haber und tener ‚haben‘. Unter den übrigen Verben wurden fincar durch quedar ‚bleiben‘, catar durch mirar ‚ansehen, schauen‘, prender durch tomar ‚nehmen‘ ersetzt.
5.10.2 Von den Katholischen Königen bis zum Spanischen Erbfolgekrieg Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts kann man die Geschichte des Kastilischen als eine Folge von Eliminierungen von Bevölkerungsgruppen, die zum Teil andere Sprachen verwendeten, von anderen Sprachen als dem Kastilischen, vor allem von anderen Religionsgemeinschaften ansehen: 1492 wurden die in den Städten ansässigen Juden vertrieben, die im Wesentlichen bereits Spanisch sprachen, besonders aber die oft einsprachigen Mauren. 1609–1614 wurden die noch im Bereich der ehemaligen Aragonesischen Krone lebenden Morisken, das sind die vormaligen Mauren, und zwar sowohl die kulturell und sprachlich assimilierten als auch die nicht assimilierten, endgültig vertrieben, so dass in Spanien nur noch Christen lebten und mit der Ausnahme des Baskischen nur noch romanische Sprachen gesprochen wurden. Während die spanische Gesellschaft durch die Ausgrenzung und Vertreibung von Juden und Morisken zunehmend homogener wurde, zeichnete sich ein großer Teil der Bevölkerung durch seine regionale Mobilität aus. Dazu kam die soziale Mobilität, die in Spanien relativ begrenzt blieb, jedoch in den Kolonien etwas leichter war.
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5.10.2.1 Die Kodifizierung der Literatursprache durch Nebrija Die Literatursprache variierte um 1500 noch stark. Es gibt dafür kein besseres Beispiel als die Comedia de Calisto y Melibea von Fernando de Rojas, die von 1519 an als La Celestina erschien, ein Werk, das in sehr unterschiedlicher sprachlicher Gestalt innerhalb von drei Jahren in Burgos (1499), in Toledo (1500) und in Sevilla (1501) gedruckt wurde. Gleichwohl führte die Verbreitung des Buchdrucks dazu, dass die Literatursprache einheitlicher wurde. Dagegen variierten die handgeschriebenen Texte weiterhin regional und nach dem Bildungsgrad, am wenigsten daher bei den Geistlichen. (Es sei an die Selbstverständlichkeit erinnert, dass bis ganz nahe an unsere Zeit heran unter „schreiben“ ausschließlich „mit der Hand schreiben“ verstanden wurde). Die vorklassische kastilische Literatursprache wurde von Antonio de Nebrija in seiner Gramática de la lengua castellana 1492 kodifiziert. Zu einer eigentlichen, d. h. offiziellen Kodifizierung bedarf es einer offiziellen normgebenden Instanz, die bei Nebrija noch nicht gegeben ist. Eine Kodifizierung entsprach jedoch der Intention dieses Humanisten. 5.10.2.2 Die Übernahme des Spanischen als Sprache der Oberschicht und als Literatursprache: Die Expansion des Spanischen vom Ende des 15. Jahrhunderts an Nebrija stand an der Wende, die das Kastilische infolge seiner Weltgeltung zum Spanischen machte. Um diese Zeit wurden das Königreich Kastilien und die Aragonesische Krone vereinigt: 1469 heiratete Isabella von Kastilien Ferdinand von Aragonien. Die Katholischen Könige regierten von 1479 an in Personalunion, aber jeder sein Königreich. Die Personalunion der Königreiche wurde 1516 durch den Enkel der Katholischen Könige, den Habsburger Karl I. von Spanien, 1519 Kaiser Karl V. von Deutschland, vollendet. Die Sprach- und Rechtstraditionen blieben aber getrennt. Die Aragonesische Krone war ein Staatenbund, in dem je nach Herrschaftsgebiet das Aragonesische oder das Katalanische Amtssprache war, das Aragonesische in Aragonien, das jedoch bereits im 15. Jahrhundert zunehmend kastilisiert wurde, das Katalanische im Fürstentum Katalonien, im Königreich Valencia, neben dem Lateinischen auf Sardinien, neben dem Neapolitanischen im Königreich Neapel und neben dem Sizilianischen im Königreich Sizilien. Es begann aber auch dort eine Kastilisierung des Hochadels, da die Vizekönige und die hohen kirchlichen Würdenträger der Aragonesischen Krone von Madrid aus ernannt wurden. Ohne Stütze in der gesellschaftlichen Hierarchie war die katalanische Literatursprache dem spanischen Einfluss ganz besonders im Siglo de Oro geöffnet. Dieser war am stärksten in Valencia, das ohnehin durch die Eroberung dreisprachig geworden war (katalanisch-aragonesisch-arabisch), weniger stark in Katalonien und am wenigsten auf den Balearen. Die Literatursprache der Vizekönigshöfe wurde, soweit sie wie in Valencia unter Germana de Foix (1488–1538), der zweiten Gemahlin von Ferdinand dem Katholischen, ein literarisches Leben hatten, das Spanische. Ansonsten blieb das Katalanische Amtssprache. In Portugal wurde
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zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts und dem Ende des 17. Jahrhunderts, besonders aber in der Zeit der Vereinigung mit Spanien zwischen 1580 und 1640 das Spanische Literatursprache neben dem Portugiesischen und die gesprochene Sprache der Oberschicht. Von den frühen Traktaten an wurde die Verbreitung des Spanischen einseitig dargestellt. Für Antonio de Nebrija war das Spanische praktisch überall zuhause, auch für Juan de Valdés (1969: 62) und den Anónimo de Lovaina (cf. García 1986: 55). In der Tradition gab es also immer schon die irrige Meinung, das Spanische sei früh die allgemeine Sprache Spaniens geworden. 5.10.2.3 Das Judenspanische 1492 ist das symbolische Jahr der überseeischen Expansion des Spanischen. Es war auch das Jahr der Vertreibung der Juden aus den spanischen Territorien, die Kanarischen Inseln ausgenommen. Dadurch entstand die sephardische Diaspora. Das Kastilisch der Juden unterschied sich im Spätmittelalter von der Sprache der Christen und der Muslime in einer Weise, die heute nicht genau rekonstruiert werden kann, von Wörtern abgesehen, die mit ihrer Religion und Kultur zu tun haben. Das Judenspanische bildete sich unabhängig vom Standardspanischen als Gemeinsprache von weit verstreuten Sprechergruppen in Marokko und den anderen Ländern des Maghrebs, auf dem Balkan, in Syrien, in Ägypten heraus und wurde in Gestalt von divergierenden Kontaktvarietäten geschrieben. Seit Jahrhunderten ist es Schriftsprache, aber nicht in standardisierter Form. Von der Diaspora Europas und des Orients spaltete sich eine lateinamerikanische und eine nordamerikanische Diaspora ab. Der größte Teil der in Europa verbliebenen Diaspora ist in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten umgekommen. Die Überlebenden sind nach Thessaloniki oder nach Istanbul zurückgekehrt oder sie sind nach Israel ausgewandert, wo ihre Sprache neben dem Ivrith eine prekäre Existenz hat (Bitzer 1998). 5.10.2.4 Die Kolonisierung Amerikas Die große Expansion des Spanischen wurde mit der Kolonisierung der Kanarischen Inseln 1402 und vor allem zwischen 1478 und 1496 mit der Eroberung von Gran Canaria, La Palma und Teneriffa (sp. Tenerife) sowie, nach den kanarischen Vorerfahrungen, mit der Entdeckung, Eroberung und Besiedlung Amerikas von 1492 an eingeleitet. 1493 begann die Kolonisierung der Insel La Española (lat. Hispaniola, d. h. ‚Klein-Spanien‘) mit der Gründung von Isabela an der Nordküste. Von La Española aus, deren Zentrum Santo Domingo geworden war, wurden Puerto Rico (1508), Kuba (1511) und Jamaika kolonisiert. Die Grenzen dieses ältesten spanischen Gebiets auf den Antillen bildete der Raum, den die Arawaken besiedelt hatten. Die Erstkontakte mit Amerika und seinen Urbewohnern in diesem Raum blieben bestimmend für die weitere Expansion. Da die Expansionswege fast immer zuerst von La Española ausgingen – nur das Río de la Plata-Gebiet stellt eine gewisse Ausnahme dar –, muss man sich das Spanische
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Amerikas als eine Sprache vorstellen, die ihre erste Prägung auf den Antillen erfuhr und sich auf den Expansionswegen durch die späteren Sprachkontakte und internen Entwicklungen wandelte. Diese Wege sind für die Herausbildung des Spanischen in den amerikanischen Regionen und für die weitere Entwicklung grundlegend. Deshalb sind sie für die gesamte Kolonialzeit konstitutiv und wirken bis heute fort. In der Anfangszeit dominierten die Andalusier und Siedler aus anderen südlichen Regionen Spaniens. Auch wer aus nördlichen Regionen Spaniens kam, lebte Monate lang im ständigen Kontakt mit Andalusiern in Sevilla, denn dort befand sich die Auswanderungsbehörde, die Casa de la Contratación (Handelshaus). Die Auswanderer lebten mindestens sechs Wochen mit den andalusischen Seeleuten zusammen auf der langen Fahrt von Sevilla zu den Kanarischen Inseln und von dort zu den Antillen. Neben phonetischen und phonologischen aus dem Mutterland nach Amerika gebrachten Phänomenen wurden Wörter aus dem Inselarawakischen und dem Karibischen entlehnt und spanische Wörter an die neuen Verhältnisse adaptiert oder neu geschaffen. Zu den Entlehnungen gehören: canoa ‚Kanu‘, piragua ‚großes Kanu, Piroge‘; cacique ‚Kazike, Indianerhäuptling‘, caribe ‚Karibe‘, naboría ‚(indianischer) Hausdiener‘; caney ‚(rundes, glockenförmiges) Haus‘, bohío ‚(viereckiges) Haus, Hütte‘, hamaca ‚Hängematte‘, barbacoa ‚Grill aus Holzstäben‘ (mit weiteren Bedeutungen), cebucán ‚Beutel zum Auspressen des Manioksafts‘, naguas ‚Rock‘; maíz ‚Mais‘, cazabí ‚Kassawa, Tapiokafladen‘, batata ‚Süßkartoffel‘, boniato ‚Süßkartoffel‘, ají ‚Cayennepfeffer, Chile‘, maní ‚Erdnuss‘, cabuya ‚Faseragave‘, henequén ‚Agave‘, papaya ‚Papaya‘, guayaba ‚Guajave‘, mamey ‚Mameiapfel‘, caoba ‚Mahagonibaum‘, ceiba ‚Kapokbaum‘, bija ‚Orleanbaum‘, mangle ‚Mangrovenbaum‘, bejuco ‚Liane‘; hutía (jutía) ‚Kuba-Baumratte‘, caimán ‚Kaiman‘, iguana ‚Leguan‘, jaiba ‚Krebs‘ (mehrere Arten), hicotea (jicotea) ‚(Süßwasser-)Schildkröte‘, manatí ‚Seekuh‘, guacamayo ‚Ara‘, cocuyo ‚Glühwürmchen‘, arcabuco ‚Dickicht‘, sabana ‚Savanne‘, jagüey ‚Süßwasserloch, Zisterne‘. Adaptationen des spanischen Wortschatzes oder Neuschöpfungen sind indio ‚Indianer‘, caníbal ‚Kannibale‘ (vom lukayischen Wort Caniba abgeleitet), encomienda ‚Encomienda, einem Spanier für Arbeitsdienste zugeteiltes Land mit Indianern‘, encomendero ‚Encomendero‘, estanciero ‚Plantagenaufseher‘ (estancia gab es bereits in Spanien), minero ‚Aufseher in einer Goldgrube‘. Dieser zweite Fall ist häufiger als die Entlehnungen, aber unauffälliger. Die genaue Unterscheidung der Verwendung derselben Wörter in Spanien und in Amerika bereitet dem Verständnis der Texte des 16. Jahrhunderts heute bedeutende Schwierigkeiten, denn sie bezeichnen in Amerika sehr oft andere Realia als im Mutterland. Dieser die Gemeinsprache der Antillen charakterisierende Wortschatz wurde über die Kolonisierungswege des neuen Kontinents verbreitet und in jeder Expansionsphase neu adaptiert und zum Teil ersetzt. Auf diese Weise begann die lexikalische Komplexität Amerikas zu entstehen. Sie ist größer auf volkstümlichem Niveau und in der Alltagssprache, geringer in der Sprache der Bildungsschicht und in formeller Sprache.
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Die Gemeinsprache der Antillen differenzierte sich im Wortschatz bereits nach wenigen Jahrzehnten. Zwischen 1519 und 1521 eroberte Hernán Cortés mit seinem Heer Anáhuac, das Reich der Azteken, das er Nueva España, ‚Neuspanien‘, nannte. Das Náhuatl, die Sprache der Azteken, wurde als Sprache der Missionierung übernommen und mit der Erweiterung des Herrschaftsbereichs der Spanier über den Geltungsbereich des Náhuatl hinaus verbreitet. Vom neuspanischen Acapulco ging die Expedition durch den Pazifik zur Eroberung der Philippinen aus (1565). Bereits in der Anfangszeit wurde der Isthmus von Panama entdeckt (1513) und auf der Pazifikseite Panama gegründet (1519). Diese Stadt war das Zentrum, von dem die Kolonisierung der dem Pazifik zugewandten Regionen Südamerikas ausging. Zuerst erreichten Francisco Pizarro und Diego de Almagro 1532 auf dem Seeweg Peru und eroberten das Inkareich. Die Grenzen dieser neuen spanischen Kolonie fielen in etwa mit der Ausbreitung des Quechua und der Hochkultur der Inkas zusammen. Nach einem ersten Eroberungsversuch zwischen 1535 und 1537 durch Diego de Almagro gelang es Pedro de Valdivia, sich mit der Gründung von Santiago in Chile festzusetzen. Von Peru und Chile aus überquerten die Spanier die Anden in östlicher Richtung. Zu den wichtigeren späten Gründungen jenseits der Anden gehören San Juan (1562) und Tucumán (1565), beide im heutigen Argentinien. In einem Vorstoß von der Karibikküste Südamerikas aus drang Gonzalo Jiménez de Quesada Richtung Peru vor. Da Pizarro ihm zuvorgekommen war, eroberte er das Reich der Chibchas, von ihm in Nuevo Reino de Granada, ‚Neues Königreich Granada‘, umbenannt und gründete Santa Fe de Bogotá (1538). Das Interesse Spaniens am Río de la Plata-Gebiet war hauptsächlich strategisch. Es sollte das Spanien nach dem Vertrag von Tordesillas (1494) zustehende Gebiet gegenüber einer möglichen von Brasilien ausgehenden Expansion der Portugiesen sichern. Zwar wurde 1535 Buenos Aires zu diesem Zweck gegründet, das koloniale Zentrum dieses Großraums wurde aber zuerst Asunción in Paraguay (1537). In dieser Region war die Landwirtschaft der Indianer weiter entwickelt als in anderen Gebieten dieses Großraums, es gab mehr Arbeitskräfte und die Bevölkerung sprach eine weiträumig verbreitete Sprache, das Guaraní. Nach der Zerstörung der ersten Gründung von Buenos Aires wurde die Stadt 1580 von Asunción aus an einem etwas anderen Ort ein zweites Mal erbaut. Das in der Anfangszeit durch den karibischen Raum geprägte und von dort sich ausbreitende Spanisch erfuhr eine Umorientierung durch die Gründung der ersten Vizekönigreiche in den Zentren der Hochkulturen Nord- und Südamerikas, in Mexiko (1535) und Lima (1544). Mit den Höfen der Vizekönige wurde das Modell der nordspanischen Standardsprache verbreitet. Die Hispanoamerikaner waren eifrige Leser der zeitgenössischen Buchproduktion, die in kürzester Zeit die Buchhändler in Mexiko und Lima erreichte. Die Kastilier, Andalusier, Leonesen, Basken, Katalanen und Aragonesen wurden in Amerika zu Spaniern, sie nannten sich auch so und begannen ebenfalls ihre Sprache häufiger lengua española zu nennen. Während nach einer anfänglichen Variation
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zwischen castellanos und españoles als Bevölkerungsname in Amerika españoles selegiert wurde, blieb die Variation zwischen lengua castellana und lengua española aus den unterschiedlichsten Gründen im gesamten spanischsprachigen Gebiet mit unterschiedlichen Präferenzen bis heute erhalten. In der Verwendung von castellano setzte sich die Perspektive der geschichtlichen Herkunft der Sprache aus Kastilien fort, dieser Name wurde aber mehr noch wegen des antispanischen Ressentiments der Hispanoamerikaner bisweilen bevorzugt. Mit español wird dagegen die Geltung dieser Sprache in ganz Spanien und weltweit betont. Die Angehörigen der bereits konstituierten Kolonialgesellschaft grenzten sich von denen ab, die noch nicht dazugehörten. Das Kriterium war die Geburt in Amerika oder im Mutterland. Die in Amerika Geborenen nannten sich alle criollos. Für die Neuzugänge wurden dagegen je nach Zeit und Region verschiedene Namen verwendet, die alle die Funktion der Stigmatisierung hatten (bisoño, gachupín). Die Nachkommen von spanischen Männern und indianischen Frauen sind mestizos, ‚Mestizen‘. Man kann nicht genug betonen, dass alle diese Personenbenennungen zunächst Schimpfwörter waren. In Amerika bildeten sich Kolonialdialekte und Gemeinsprachen mit erheblicher interner Variation heraus in Fortsetzung der kastilischen Kolonialdialekte und Gemeinsprachen der Iberischen Halbinsel. Sie wurden stets von der sich im gesamten Sprachgebiet um die Mitte des 17. Jahrhunderts konsolidierenden Standardsprache beeinflusst und konsolidierten sich gleichfalls um diese Zeit. Nach der Unabhängigkeit erhielten die regionalisierten hispanoamerikanischen Standardsprachen unter dem Einfluss der Sprachnorm Spaniens zum Teil den Status von eigenen Standardsprachen. Dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen, denn die hispanoamerikanischen Standardvarietäten sind im Wesentlichen nicht eigens durch die jeweiligen nationalen Sprachakademien kodifiziert. Die Kodifizierung ist aber der erste Schritt, um eine Sprache als Standardsprache in den staatlichen Einrichtungen, vor allem in der Schule, durchsetzen zu können. Die sprachlichen Kontaktsituationen im Mutterland und in den Kolonien sind völlig anders zu bewerten. Durch den Übergang von einer regional begrenzten Gemeinschaft konstituierte sich über die nach und nach gemeinsamer werdende Sprache eine nationale Gemeinschaft. „Nach und nach“ meint hier, dass eine Region nach der anderen und eine soziale Schicht nach der anderen von „oben“ nach „unten“ in diesen Prozess einbezogen wird. In den Kolonien fanden die Spanier Andere vor, andere Völker mit anderen Religionen und Kulturen. Alle diejenigen, die aus den Regionen der kastilischen und aragonesischen Krone nach Amerika auswanderten, begriffen sich als Spanier. Das Kastilische war von vornherein dazu bestimmt, zum Spanischen zu werden, da auch diejenigen Sprecher es übernahmen, die wie die Basken, Katalanen, Aragonesen, Leonesen usw. im Mutterland noch eine andere Sprache sprachen. Hoch bedeutsam ist der demographische Unterschied zwischen den Kanarischen Inseln und Amerika. Es ließ sich auf den Kanarischen Inseln eine aus Südspanien
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stammende Bevölkerungsmehrheit nieder, die sich wegen dieser Herkunft weiterhin als Kastilier verstehen kann. Die auf den Antillen und danach auf dem Festland ansässigen „Spanier“ bzw. „Christen“ sind dagegen eine Minderheit, obgleich eine dominierende. Sie grenzten sich als Sprecher ab von den „Indianern“ und den zwangs importierten schwarzen Sklaven. 5.10.2.5 Sprachpolitik in Amerika Die kastilische Krone betrieb früh eine Politik, die die Verbreitung des Spanischen als Staatsziel verfolgte. Es gab am Anfang des 16. Jahrhunderts Gesetze, die den Morisken die Erlernung des Spanischen vorschrieben und die Missionierung in dieser Sprache anordneten. 1503 verfügte die Krone die Erlernung des Spanischen durch die Indianer auf La Española. Diese Verfügung wurde in den Leyes de Burgos von 1512/1513 bekräftigt. Damit wurde eine Politik der Hispanisierung der indianischen Bevölkerung eingeleitet. Sie wird zunächst kaum praktische Auswirkungen gehabt haben (Konetzke 1965: 219). Deshalb muss man die sprachpolitischen Diskurse in der spanischen Gesetzgebung scharf trennen von der Wirklichkeit des Sprachkontakts und der Erlernung des Spanischen durch die Indianer, die gelegentlich in der Sprachgesetzgebung und etwas mehr in den Chroniken zum Vorschein kommt. Der Sprachunterricht lag letztlich in der Verantwortung der Küster (sacristanes), die diese Aufgabe neben ihren vielen anderen hätten erfüllen müssen. Sie waren keine Spezialisten für den Sprachunterricht. Die Verantwortlichen im Kastilienrat, ab 1524 im Indienrat, hatten die Aufgabe und die dafür nötige Ausbildung Jahrhunderte lang unterschätzt (falls es nicht doch nur eine Frage der fehlenden Mittel war). Ihre Rechte konnten die Indianer nur erfolgreich verteidigen, wenn sie Spanisch lesen und schreiben konnten und die dafür notwendigen Textsorten gelernt hatten. Hier schloss, neben und mit der Missionierung, die Sprachpolitik an: Sollen die Indianer Spanisch lernen oder nicht? Im Gegensatz zur Krone verfolgten die Missionsorden eine Evangelisierung in den Indianersprachen. In dieser Politik wurden die Orden schließlich von der Krone unterstützt. Als geeignet dafür wurden in der Regel nur die Sprachen mit weiter Verbreitung in Amerika angesehen, die lenguas generales wie das Náhuatl in Neuspanien, das Quechua in der Andenregion, das Chibcha im Neuen Königreich Granada und das Guaraní im Río de la Plata-Gebiet. Das Ziel war dabei eine Segregation der Indianer und der Spanier. Die Sprachenfrage wurde bei den Schwarzen viel seltener und viel später gestellt, denn sie kamen z. T. schon sprachlich transkulturiert in die Neue Welt. Viele von ihnen waren ladinos, d. h. sie sprachen Portugiesisch, Spanisch oder ein Kreol, andere dagegen, die es noch nicht waren, wurden bozales genannt. Ebenfalls transkulturiert waren die Mestizen, die spanische Väter und indianische Mütter hatten und den Anspruch erhoben, Spanier zu sein, von diesen aber ausgegrenzt wurden.
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5.10.3 Von der Gründung der spanischen Sprachakademie bis zur Unabhängigkeit Hispanoamerikas Dynastische Fragen bestimmten den Umbruch am Anfang des 18. Jahrhunderts: Karl II. (1665–1700) hatte keine Nachkommen und bestimmte zu seinem Thronfolger Philipp von Anjou, einen Bourbonen und Enkel Ludwigs XIV. Diese Entscheidung blieb nicht unangefochten. Der Erzherzog Karl von Habsburg führte im Spanischen Erbfolgekrieg, der ein Bürgerkrieg und ein internationaler Krieg war, das Heer der Traditionalisten an, die ihre Basis vor allem im katalanischsprachigen Osten Spaniens hatten. Der Krieg wurde durch die Verträge von Utrecht (1713) und Rastatt (1714) abgeschlossen: Philipp V. wurde als König von Spanien anerkannt, Spanien verlor aber seine Besitzungen in Italien und die südlichen Niederlande an Österreich. Gibraltar, Menorca und Neufundland fielen an England. Die Geltung des Spanischen in Europa ging zurück. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg traten die Beziehungen zwischen den Sprachen Spaniens in eine neue Phase. Das Spanische wurde im Gebiet der ehemaligen Aragonesischen Krone an Stelle des Katalanischen und des Lateinischen Amtssprache. Das Aragonesische war wie die anderen iberoromanischen Sprachen Spaniens bereits dialektalisiert worden. Die teilweise spanische Dialektalisierung des Katalanischen wurde eingeleitet. Für die interne Entwicklung und Modernisierung Spaniens waren die Regierungszeiten von Ferdinand VI. (1746–1759) und vor allem von Karl III. (1759–1788) von großer Bedeutung. Die wichtigsten Entscheidungen wurden unter dem aufgeklärten Despoten Karl III. getroffen, der 1778 allen spanischen Häfen den Handel mit Amerika erlaubte. Davor hatte Sevilla das Handelsmonopol, 1718 abgelöst durch Cádiz. 1767 waren die Jesuiten mit gravierenden Folgen für die Ausbildung, die wirtschaftliche Entwicklung im gesamten spanischen Imperium und für die Missionierung in Amerika vertrieben worden. Unter Karl IV. (1788–1808) wurde Spanien geschwächt: Der König schloss 1796 einen Angriffs- und Verteidigungspakt mit der Französischen Republik. Die Folge war ein Krieg mit England und der Untergang der spanischen Flotte vor Trafalgar (1805). 1808 ließ Napoleon seine Truppen in Spanien einmarschieren, das Volk erhob sich gegen Karl IV. und dieser dankte zugunsten von Ferdinand VII. ab, der 1808 und 1814–1833 regierte. Ferdinand selbst musste 1808 zugunsten von Napoleons Bruder Joseph abdanken. Gegen diesen erhoben sich die Madrider, es begann der spanische Unabhängigkeitskrieg. In dieser Zeit hatte sich die Junta Central de Gobierno nach Cádiz zurückgezogen, wo sie 1812 die erste spanische Verfassung ausarbeitete. Sie wurde nach der Rückkehr Ferdinands VII., einem der damals reaktionärsten Herrscher, wieder abgeschafft. Die sich tolerant zeigende Aufklärung des 18. Jahrhunderts in Spanien versuchte, die anderen Sprachgemeinschaften unter dem gemeinsamen Dach des spanischen Universalismus auf der einen Seite zu integrieren, auf der anderen Seite aber auch
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auszugrenzen und – wie in der Sprachpolitik Karls III. – zu vernichten. Der staatliche Wille zum Universalismus (vertreten durch die Aufklärer um Karl III. und diejenigen, die in den anderssprachigen Regionen dafür gewonnen worden waren wie der katalanische Historiker, Sprachforscher und Politiker Antonio de Capmany) hatte noch nicht die institutionelle Macht, das Spanische durchzusetzen, da die Schul- und Universitätsausbildung in der Hand von Lehrorden lagen. Auch nach der Vertreibung der Jesuiten aus Spanien konnten die staatlichen Intentionen nicht durchgesetzt werden, da der Staat weder über die finanziellen Mittel noch über die Lehrer und Professoren verfügte, die an die Stelle der Lehrorden hätten treten können. Der Universalismus trat in seiner andere Sprachgemeinschaften einschließenden und gleichzeitig ausgrenzenden Gestalt schon im 18. Jahrhundert antagonistisch auf. Zunächst aber wurden die nicht die Nation tragenden Gemeinschaften für den Universalismus gewonnen. Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Anerkennung der Völker als eigener Gemeinschaften und ihrer Geschichte in der Romantik gab ihnen Legitimationen an die Hand, gegen den Nationalstaat aufzutreten. Das geschah anfangs eher zaghaft. Das 18. Jahrhundert war die Zeit der imperialen politischen Einheit der spanischen Länder. Die Aufklärung schuf eine kulturelle Einheit, die zusammen mit der politischen Einheit die Voraussetzung für die territoriale Neugliederung Amerikas nach der Unabhängigkeit darstellt. Die dadurch neu entstehenden Kommunikationsräume führten zum Spannungsverhältnis zwischen monozentrischer und polyzentrischer Standardisierung hin, das bis heute andauert. Eine monozentrische Standardisierung geht, wie es der Name sagt, von einem Zentrum aus, eine polyzentrische von mehreren. Das Zentrum der Standardisierung und der Kodifizierung lag in Madrid. Neben Madrid gab es aber auch andere Zentren, deren Sprache in die sie umgebenden Regionen ausstrahlte und die Mittelpunkte einer relativen sprachlichen Vereinheitlichung wurden. Das war vor allem Sevilla gewesen, die im 16. Jahrhundert größte Stadt Spaniens, von der die Kolonisierung der Kanarischen Inseln und Amerikas ausging. In Amerika kamen die Vizekönighöfe hinzu. Während Mexiko und Lima diese Funktion bereits im 16. Jahrhundert erhielten, wurden Bogotá 1718 und Buenos Aires 1776 Sitze von Vizekönigen. Breitete sich das Spanische auch nach dem 18. Jahrhundert innerhalb der Grenzen des spanischen Imperiums aus, auf der Iberischen Halbinsel ebenso wie in Amerika, so drang das Portugiesische in Südamerika weiter nach Süden vor. Um die dortige portugiesisch-brasilianische Hegemonie einzugrenzen, wurde unter starker kanarischer Beteiligung 1726 Montevideo gegründet. Der 1750 geschlossene Vertrag von Madrid legte die politische Grenze zwischen den spanischen und den portugiesischen Gebieten in Amerika fest. Das portugiesische Sprachgebiet im Norden Uruguays wurde eine Region mit spanisch-portugiesischem Sprachkontakt (zum Thema des wichtigen Einflusses des Portugiesischen auf das Spanische Corbella/Fajardo (eds.) 2017).
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Abb. 5.9: Iberoamerika zur Zeit der Unabhängigkeitserklärungen (Quelle: Morales Padrón 1988, vol. 2: 633)
5.10.3.1 Die Kodifizierung des Spanischen Das Spanische wurde durch die Akademie in allen grundlegenden sprachlichen Bereichen kodifiziert. Nachdem der Sprachwandel sich im Laufe des 17. Jahrhunderts verlangsamt hatte, wurde der Sprachgebrauch mit Blick auf die Zukunft durch die Kodifizierung gefestigt. Die noch verbleibende schriftsprachliche Variation bewegte sich in relativ engen Grenzen.
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Umfassend kodifiziert ist nur das Spanische Spaniens. Die Kodifizierung fiel zusammen mit der rechtlichen Vereinheitlichung Spaniens nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, in dem die katalanischsprachigen Gebiete auf der Seite Habsburgs gestanden hatten und als Besiegte behandelt wurden. Nach der Beendigung des Erbfolgekriegs wurde 1713/14 in Madrid die Real Academia de la Lengua gegründet (cf. Zamora Vicente 1999). Ihre liberale Grundhaltung drückt sich darin aus, dass sie in ihren Veröffentlichungen als Sprachennamen ebenso castellano wie español verwendete. 5.10.3.2 Das Diccionario de Autoridades Einige Intellektuelle hatten es am Anfang des 18. Jahrhunderts als Schande (“sonrojo”) angesehen, dass Spanien kein seiner Sprache würdiges Wörterbuch hätte, nachdem in Italien seit Langem das Wörterbuch der Accademia della Crusca und in Portugal das Wörterbuch von Raphael Bluteau (1712) erschienen waren. Aus ihren regelmäßigen Treffen entstand daher der Plan, ein Wörterbuch zu erstellen, das als nationale Aufgabe angesehen wurde. Für diese Aufgabe schuf sich die Gruppe um den Marqués de Villena 1713 eine Institution. Sie suchte den Schutz des Königs, der nach langem Zögern 1714 vom Kastilienrat gewährt wurde. Nach der Devise “Limpia, fija y da esplendor” (‚Sie reinigt, festigt und verleiht Glanz‘) kodifizierte die Akademie den Wortschatz der klassischen Autoren – aber nach den Kriterien der zeitgenössischen Verwendung – im Diccionario de la lengua castellana, das von 1726–1739 in sechs Bänden veröffentlicht wurde. Wie bei allen großen Werken wurde auch die Konzeption des Akademiewörterbuchs während der Vorbereitungsphase und während der Veröffentlichung verändert. Von Anfang an aber bemühte sich die Akademie um die Aufnahme des Wortschatzes der Provinzen, auch wenn der lexikographischen Bearbeitung keine systematische Bestandsaufnahme des Wortschatzes, etwa durch die Auswertung eines Korpus, vorausging. Nur das Katalanische wurde nicht berücksichtigt. Neben der breiten regionalen Grundlage der Datenerhebung, die sich auch in der breit gestreuten regionalen Herkunft der Akademiemitglieder ausdrückt, war die diastratische Auswahl ebenfalls sehr offen, denn es wurden sogar Ausdrücke der Gaunersprache (“germanía”) aufgenommen. Diese Angaben sind nur dem Vorwort zu entnehmen, da die Einträge nicht indiziert sind. Grundsätzlich sollte der Wortschatz vollständig erfasst werden. „Unanständige“ Wörter sollten zwar nicht Eingang in das Wörterbuch finden, aber das Kriterium dafür wurde nicht eng ausgelegt. Der Fachwortschatz wurde nicht aufgenommen, wenn er nicht allgemein bekannt war. Dagegen fanden Sprichwörter, die eine Moral lehrten, Berücksichtigung. Die Akademiemitglieder fällten ihre Entscheidungen in geheimen demokratischen Abstimmungen. Diese führten meist zu richtigen, in einigen Fällen aber auch zu falschen Entscheidungen, die gleichwohl von Dauer waren. Dazu ein Beispiel: Da die Akademiemitglieder in der ersten Auflage in bestimmten Fällen ein etymologisches
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Kriterium anwandten und da die Mehrheit die Etymologien lat. viridia für berza ‚Kohl‘ und lat. vota für boda ‚Hochzeit‘ nicht für richtig hielt, schreibt man diese Wörter bis heute mit . Die Etymologien wurden angegeben, weil sie die gewählte Orthographie begründen. Das erste Akademiewörterbuch wird üblicherweise Diccionario de Autoridades genannt – ein Name, der nicht im Titel erscheint –, weil sich die Akademiemitglieder in Nachahmung des Wörterbuchs der Accademia della Crusca auf Autorenzitate stützten, soweit sich der noch aktuell verwendete Wortschatz bei den Autoren des Goldenen Zeitalters fand. Es wurden aber auch Wörter des zeitgenössischen Sprachgebrauchs aufgenommen, selbst wenn sie nicht bei Autoren belegt waren (z. B. bayoneta ‚Bajonett‘), und sogar der regionale Wortschatz, soweit er in die regionale Umgangssprache Eingang gefunden hatte. Eine um die Autorenzitate gekürzte Ausgabe dieses Wörterbuchs erschien 1780 unter dem Titel Diccionario de la lengua castellana. Die Kürzung brachte der ersten Ausgabe nachträglich den Namen Diccionario de Autoridades ein. Um die „Einheit der Sprache“ nach der Unabhängigkeit Hispanoamerikas (5.10.4) zu stärken, wurde von der spanischen Sprachakademie die Gründung von korrespondierenden hispanoamerikanischen Akademien angeregt. Die erste war die Columbianische Akademie (1871), weitere Gründungen folgten in Ecuador (1874), Mexiko (1875) und El Salvador (1876). Dieser Prozess zog sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fort (Zamora Vicente 1999: 345–367) und führte zur Aufnahme von hispanoamerikanischem Wortschatz in das Akademiewörterbuch. Dessen 21. Ausgabe kam 1992 zur 500-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas heraus, inzwischen ist 2014 die 23. Ausgabe erschienen. Seit der 15. Ausgabe heißt das Wörterbuch Diccionario de la lengua española, abgekürzt jedoch DRAE ([ˈdrae] gesprochen). Es ist normativ gemeint, erfasst aber auch den Wortschatz der spanischen Gemeinsprache. Das heißt, dass der regionale Wortschatz sowie die wissenschaftlichen und technischen Fachsprachen insoweit aufgenommen werden, als sie in die Allgemeinsprache Eingang gefunden haben. Die Orientierung an der Tradition der Literatursprache bringt es mit sich, dass auch Wörter darin enthalten sind, die nicht dem aktuellen Gebrauch entsprechen. Neue Wörter werden erst dann aufgenommen, wenn sie durch den Sprachgebrauch sanktioniert worden sind. Das Wörterbuch enthält zusätzlich Enzyklopädisches: Eigennamen, wenn sie sehr bekannt sind (aus der Mythologie, Länder, Religion u. a.); Varianten mit den von der Akademie bevorzugten Formen wie armonía vs. harmonía, psicología vs. sicología. Dagegen werden regelmäßige Diminutive (-ito, -illo, ico), Augmentative (-ón, -azo), Intensivierungen (-ísimo) wie auch viele sonstige regelmäßige Wortbildungen nicht verzeichnet. In der Tradition des DRAE stehen mehr oder weniger alle späteren Wörterbücher des Spanischen. Unter diesen sind die Amerikanismenwörterbücher des 19. und 20. Jahrhunderts besonders zu nennen, die den Wortschatz in den hispanoamerikanischen Ländern kontinental oder nach Ländern verzeichnen, soweit er nicht im DRAE aufgeführt wird. Wichtige Ausnahmen davon sind das Diccionario del español de México von Luis Fernando Lara, von dem bisher zwei einbändige Fassungen (1986
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und 1996) und eine zweibändige (DEM) erschienen sind, und das Nuevo diccionario de americanismos, das unter der Leitung von Günther Haensch und Reinhold Werner entstand. Davon erwähne ich die Bände zum Spanischen von Kolumbien, Argentinien und Uruguay (Haensch/Werner (dirigido por) 1993) sowie Kuba (Haensch/Werner (dirigido por)/Cárdenas Molina et al. (coord.) 2000). 5.10.3.3 Orthographie In der Einleitung des Diccionario de Autoridades wurde im 1. Band (1726) die Orthographie geregelt. Die Revision der Orthographie war für die Akademie eine praktische Notwendigkeit. Da die Wörter nach Buchstaben – und Buchstabenkombinationen bei dem in einem spanischen Wörterbuch besonders umfangreichen Buchstaben A – zur Bearbeitung vergeben wurden und die Wörter alphabetisch angeordnet werden sollten, stellte sich stets das Problem der Schreibung, denn der zeitgenössische Usus war uneinheitlich. Es ist infolge dieses Verfahrens verständlich, dass die Akademie für das erste Wörterbuch die traditionelle Schreibung wählte, die auf der Etymologie beruhte, und wirkliche Reformen erst 1741 in einem eigenen Orthographietraktat einführte, denn man wollte als Erstes ein Wörterbuch schaffen und keine Orthographie. Diese erste Orthographie, für die Adrián Konnink verantwortlich war, verfolgte nicht das Ziel der Normierung des allgemeinen Sprachgebrauchs, sondern regelte ausdrücklich nur den internen Usus der Akademie. Die Orthographie von 1741 gilt dennoch in ihren grundlegenden Entscheidungen bis heute, auch wenn es weitere Orthographiereformen gab. Die wichtigsten Neuerungen waren die Einführung von für . Dagegen wurden der Unterschied zwischen und und das diakritisch bzw. etymologisch motivierte in hombre bzw. in huevo beibehalten. Der Venezolaner Andrés Bello (1781–1865), der u. a. in Chile als Kultusminister tätig war, verfasste 1823 eine eigene Orthographie. Sie wurde 1835 in Chile angewandt. Isabella II. trug dafür Sorge, dass Spanien 1844 eine offizielle Orthographie bekam, die sich letztlich im ganzen spanischen Sprachraum durchsetzte. Man war um eine einheitliche Orthographie bemüht und gab Reformversuche in den einzelnen Ländern auf. 5.10.3.4 Bourbonische Sprachpolitik Es war eine direkte politische Konsequenz des Spanischen Erbfolgekriegs, dass die Länder der Aragonesischen Krone (das sind das Fürstentum Katalonien, das Königreich Mallorca, das Königreich Valencia und das Königreich Aragonien) ihre rechtliche Selbständigkeit verloren. Die drei Gesetze, mit denen katalanische Institutionen abgeschafft wurden, entsprachen verschiedenen Phasen des Kriegs und wurden deshalb von Mal zu Mal härter. Die neuen Verhältnisse wurden für das zuerst besiegte Königreich Valencia in einer Pragmática von 1707 geregelt, für die Balearen im Decreto de Nueva Planta (‚Neuordnungsdekret‘) von 1715 und für Katalonien durch das Decreto de Nueva Planta von 1716, das am weitesten ging. Der sichtbarste Ausdruck war die Ablösung der Vizekönige durch capitanes generales (‚Generalkapitäne, Statthalter‘)
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mit militärischen Kompetenzen, die bis zum Ende des Franco-Regimes (1975) existierten. In der Pragmática für Valencia wurde die Sprache noch nicht erwähnt, aber de facto wurde das Spanische dort allmählich ins öffentliche Leben eingeführt. Durch die Decretos de Nueva Planta von 1715 und 1716 wurde das Spanische auch auf den Balearen und in Katalonien Amtssprache. Von dieser Zeit an datiert die tatsächliche politische Einheit Spaniens mit dem Anspruch, zur sprachlichen Einheit zu führen. Die sprachliche Einheit begann also nicht mit den Katholischen Königen, wie immer wieder propagiert wird. Trotz einer kontinuierlichen Sprachgesetzgebung setzte sich das Spanische in den Katalanischen Ländern nur in der Schicht des gebildeten Großbürgertums und Bürgertums allgemein durch. Das Spanische war aber in den zweisprachigen Regionen mit Sicherheit eine Zweitsprache. Der Staat drang weiter in Domänen vor, die der Kirche vorbehalten gewesen waren. Das Unterrichtswesen und damit auch die sprachliche Bildung und die Vermittlung von Sprachkenntnissen lagen in der Hand der Kirche (in den “escuelas de primeras letras”) oder der Lehrorden, allen voran der Jesuiten. Ihre Vertreibung machte den Weg frei für eine staatliche Sprach- und Bildungspolitik. Ihren stärksten formalen Ausdruck fand die Sprachpolitik, die das Spanische als Sprache des gesamten Imperiums durchsetzen wollte, in der Real Cédula von Aranjuez, die Karl III. 1768 erließ. Eine real cédula war eine königliche Verfügung bzw. ein königliches Gesetz. In einer analogen, schärfer formulierten Real Cédula wurde die Erlernung des Spanischen 1770 als die Sprache aller Untertanen für Amerika und die Philippinen befohlen. Diese weltlichen Interessen wurden in Amerika von hohen kirchlichen Würdenträgern um Karl III. verfochten. Durch die Verbreitung der spanischen Sprache sollte die Nation geeint, ja erst geschaffen werden. Und in dem Maße, in dem die Idee der Nation und der sprachlichen Einheit der Nation verbreitet wurde, in dem Maße erweiterte der Staat auch seine Machtansprüche gegenüber dem Einzelnen. Unmittelbar nach der Real Cédula von Aranjuez wurde die Ausarbeitung der Akademiegrammatik in Auftrag gegeben, die nach sehr kurzer Zeit 1771 im Druck vorgelegt und in den Einrichtungen des – noch unterentwickelten – staatlichen Bildungswesens verbindlich wurde. 5.10.3.5 Die erste Akademiegrammatik: Gramática de la lengua castellana (1771) Eine Grammatik war von Anfang an in den Statuten vorgesehen. Am 16. August 1740, nach dem vorläufigen Abschluss der Arbeiten am Wörterbuch, wurde die Ausarbeitung einer Grammatik beschlossen. Am 18. August 1740 wurde die erste “Comisión de Gramática” gebildet. Die Akademie arbeitete jahrelang parallel am “Suplemento del Diccionario” und an der Grammatik. Im Grammatikprojekt von 1741 kamen die didaktische und die praktische Grammatik der Volkssprachen und die theoretisch fundierte lateinische Grammatik, wie sie seit dem 16. Jahrhundert gepflegt wurden, zusammen. Es sollten ars und scien-
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tia insofern zusammenfinden, als der Sprachgebrauch seine Begründung in Regeln erhalten sollte. Einen neuen Impuls für die Arbeit an der Grammatik brachte die soeben erwähnte Reform des Erziehungswesens unter Karl III. Die Neuerung dieser Zeit bestand im europäischen Kontext darin, die lebenden Sprachen zu fördern, was heftige Proteste bei den Verfechtern der Tradition hervorrief, die die Mehrheit darstellten. Die neue Sprachdidaktik ging aus von Luís Verney, dessen Verdadeiro Método de Estudar (1746) außerhalb Portugals leider zu wenig gewürdigt wird. Der König und die Aufklärer um ihn hatten keinen direkten Einfluss auf das Erziehungswesen. Die Schulen jedes Niveaus unterstanden der Kirche oder sie wurden von Lehrorden geführt. Die geistlichen Lehrer waren jedoch nur der Kirche oder ihren Orden zu Gehorsam verpflichtet. Daher konnte der Staat ihnen keine Lehrpläne verordnen. Im Unterschied dazu war die Akademie eine Laien- und eine staatliche Einrichtung, auf diese konnte der König unmittelbar Einfluss nehmen. Aus diesem Grund ist ein Zusammenhang zwischen der Vertreibung der Jesuiten und der Förderung des Grammatikprojekts durch den Direktor der Akademie, den Herzog von Alba, anzunehmen, der gleichzeitig ein hohes Amt bei Hofe bekleidete. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Nach der Vertreibung der Jesuiten war eine laizistische Sprachpolitik möglich: Diese wurde durch die Real Cédula von Aranjuez (1768) eingeleitet. Die Grammatik hatte zugleich die Aufgabe, denjenigen die Erlernung des Spanischen zu erleichtern, die diese Sprache nicht als Muttersprache hatten. Die Grammatik von 1771 ist eine didaktische Grammatik, allein deswegen ist sie schon normativ. Ihr Ziel ist es, “instruir á nuestra Juventud en los principios de su lengua, para que hablándola con propiedad y correccion, se prepare á usarla con dignidad y eloqüencia” (‚unsere Jugend in den Grundzügen ihrer Sprache zu unterweisen, damit sie, indem sie sie mit ihren Eigenheiten und korrekt spricht, darauf vorbereitet ist, sie auch mit Würde und Beredsamkeit zu verwenden‘), wie es in der Vorrede heißt. Die Tradition der spanischen Akademiegrammatik ist seit der Grammatik von 1771 bis in die jüngste Zeit nie unterbrochen worden. Sie hat eine bedeutende Innovation erfahren durch die Verarbeitung der Gramática de la lengua castellana destinada al uso de los americanos von Andrés Bello (1847). Seine Grammatik wurde in die verschiedenen Fassungen der Akademiegrammatik bis zum zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eingearbeitet. 1973 veröffentlichte die Akademie im Sinne des Strukturalismus den Esbozo de una nueva gramática de la lengua española, der aber nicht zur normativen Grammatik erklärt wurde. Die vorletzte Gestalt fand die Akademie grammatik im Werk von Alarcos Llorach (1994). Darin wurde ausdrücklich festgestellt, dass die Kodifizierung nicht die Grammatiktheorie betrifft, sondern die Beispiele. Mit Zustimmung und Förderung der Akademie erschien die dreibändige, von Bosque und Demonte geleitete Gramática descriptiva de la lengua española (1999). Sie hat jedoch
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keinen offiziellen, d. h. normativen Charakter. Das Spanische im gesamten Sprachraum beschreibt nunmehr die umfangreiche Nueva gramática de la lengua española (NGLE, 2009), für die die Real Academia Española und die Asociación de Academias de la Lengua Española verantwortlich zeichnen.
5.10.4 Von den Cortes de Cádiz und der Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Staaten bis heute Die Wege der Sprache begannen in Spanien und Amerika zur selben Zeit auseinanderzugehen. Während die Cortes de Cádiz die erste spanische Verfassung ausarbeiteten (1810–1812), setzte die Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Staaten ein. Das Spanische hatte sich im 18. Jahrhundert außerhalb von Kastilien in den Gebieten der Aragonesischen Krone und den übrigen nicht-kastilischen Regionen der Iberischen Halbinsel – besonders dem Baskenland und Galicien – stetig ausgebreitet und dort wie auch im gesamten Staatsgebiet Formen des Regionalspanischen ausgebildet. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an lernte es auch die Landbevölkerung mit einer gewissen Regelmäßigkeit in der Schule. Abgesehen von den zweisprachigen Regionen bestehen in Regionen wie Andalusien und in abgelegenen Gebieten weiterhin Dialekte, aber in einer stark von der Standardsprache beeinflussten Form. In Amerika wurde nach der Unabhängigkeit die Assimilationspolitik der spanischen Krone fortgesetzt, und das bis heute. Die allgemeine Verbreitung der spanischen Standardsprache in Spanien geht jedoch erst auf die Einführung und effektive Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht durch die Ley Moyano vom 9. September 1857 zurück. Dieses Gesetz schafft die Grundlagen des modernen spanischen Schulwesens, der Gliederung des Bildungswesens und der Einrichtung von Schulen. In Amerika hat die Alphabetisierung, mit oder ohne Hispanisierung, in Staaten mit indianischer Bevölkerung noch nicht alle Bürger erreicht. Die Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Spanisch wurden im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. vorzugsweise auf indianische Substratsprachen, also auf Sprachkontakt zurückgeführt. Der wichtigste Vertreter dieser Auffassung ist Rudolf (Rodolfo) Lenz, ein Chilene deutscher Abstammung. Wenn diese Auffassung heute auch widerlegt ist, so wird für den Nachweis des Abstands zwischen amerikanischem und europäischem Spanisch ein neues Symbol gesucht. Diese Symbolfunktion haben die Entlehnungen aus den Indianersprachen. In ihrer Häufigkeit sind sie marginal, sowohl als Types wie auch als Tokens. Wenn die Wörter, die Indigenismen genannt werden, Ausdruck des Sprecherbewusstseins sein sollen, müssten sie den Sprechern als indianische Entlehnungen bekannt sein. In der Regel ist die Herkunft dieser Wörter den Sprechern aber nicht bewusst, das Bewusstsein davon ist sogar schon früh verlorengegangen. So schrieb bereits der Inka Garcilaso de la Vega, selbst ein Mestize, die Wörter, die auf den Antillen aus
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den Indianersprachen entlehnt wurden, dem Spanischen zu, z. B. bohío für ‘casa’. Zu den Indigenismen der einzelnen Länder werden dennoch auch diejenigen Entlehnungen gezählt, die im Kontakt des Spanischen mit einer Indianersprache außerhalb des jeweiligen Nationalstaats entlehnt worden sind, also von den Spaniern verbreitet wurden. Trotz alledem ist die Funktion der Identifikation mit dem Eigenen mit Hilfe der Indigenismen hoch zu bewerten und steht in keinem Verhältnis zu ihrer marginalen Stellung in der sprachlichen Wirklichkeit. Daher liegt das eigentliche Problem nicht in ihrer Geschichte und Beschreibung, sondern in ihrer Rolle bei der Konstitution von nationaler oder regionaler Identität in denjenigen Gruppen, für die solche Fragen relevant sind. Das sind die Staatsbürger, die sich als Träger der nationalstaatlichen Ideologie begreifen. Denn es ist nicht anzunehmen, dass alle Gruppen eines Nationalstaats sich als Teilhaber an diesem Nationalstaat verstehen. Dies ist ganz besonders fraglich bei den nicht assimilierten Indianern. In einigen Ländern hat die fortgesetzte Hispanisierung zu einer Bewusstwerdung und Pflege ihrer sprachlichen Vielfalt geführt. In Peru wurde das Quechua eine Zeitlang als Amtssprache eingeführt und in den Schulen gelehrt. Während die Staaten sich politisch konsolidierten und die sprachliche Unterordnung unter die Standardsprache Spaniens allmählich der Anerkennung einer eigenen Norm wich, drang der angloamerikanische Einfluss in der Politik und in der Sprache unaufhaltsam vor. Sogar kritische Geister sind sich dieser sprachlichen Anglisierung weniger bewusst, als man glauben möchte. Bedenkt man aber, dass kein Land des Kontinents von diesem Einfluss ausgenommen ist, wird diese geringe Wahrnehmung begreiflich. Sie wird es noch mehr, wenn die Art der Adaptation von Anglizismen in Betracht gezogen wird. Diese besteht entweder in der Integration einer Lehnbedeutung in ein bestehendes Wort wie in baño ‚Badezimmer‘ → ‚Toilette‘, nach am. engl. bathroom, casual ‚zufällig‘ → ‚Freizeit-‘, nach engl. casual wie in pantalón casual ‚Freizeithose‘, oder in der Hispanisierung der englischen Wortform wie in server → servidor.
5.10.5 Die spanische Verfassung von 1978 Am weitesten ging der Prozess der Anerkennung anderer neben dem Spanischen gesprochenen Sprachen bzw. Varietäten in Spanien selbst. Das ist erstaunlich, weil die Spanier durch die Zeit des Franco-Regimes darauf überhaupt nicht vorbereitet waren. In dem Maße, wie die Weltgeltung des Spanischen zunahm, stiegen die Regionen der Peripherie, die sich entweder allmählich als Nationen verstanden oder sich auf ihre regionale Sonderstellung zurückbesannen, wieder auf und gewannen ein neues sprachliches Selbstverständnis. Den Regionen, die in Folge der Ausbreitung des Spanischen in den Jahrhunderten davor auf dem Wege eines stetigen sprachlichen Niedergangs zu sein schienen, verschaffte die Verfassung von 1978 eine neue
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Geltung durch die Anerkennung von letztlich 19 Autonomen Gemeinschaften. Diese Bewegung ist so stark, dass auch das Asturianische und das Aragonesische von ihr erfasst wurden. Heute greift die Bewegung weit über die durch ihre sprachliche Sonderstellung begründeten historischen Gemeinschaften hinaus, zu denen ursprünglich nur Katalonien, Galicien und das Baskenland gehörten. Die Normalisierung vormals unterdrückter Sprachen ist ein Wendepunkt in der Entwicklung und ein Neubeginn, der in der Geschichte des Spanischen nicht seinesgleichen hat. Eine soziolinguistische Geschichte des Spanischen – aber auch jede Geschichte dieser Sprache, die nicht ausschließlich eine Geschichte der Literatursprache sein will, – muss von der heutigen soziolinguistischen Situation des Spanischen ausgehen und sie geschichtlich begründen. Der Artikel 3 der spanischen Verfassung von 1978 lautet: “1. El castellano es la lengua española oficial del Estado. Todos los españoles tienen el deber de conocerla y el derecho de usarla. 2. Las demás lenguas españolas serán también oficiales en las respectivas Comunidades Autónomas de acuerdo con sus Estatutos. 3. La riqueza de las distintas modalidades lingüísticas de España es un patrimonio cultural que será objeto de especial respeto y protección.” ‚1. Das Kastilische ist die offizielle spanische Sprache des Staates. Alle Spanier haben die Pflicht, sie zu kennen, und das Recht, sie zu benutzen. 2. Die übrigen spanischen Sprachen sind in den Autonomen Gemeinschaften gemäß ihren jeweiligen Statuten ebenfalls offiziell. 3. Der Reichtum der sprachlichen Verschiedenheiten Spaniens ist ein Kulturgut, das besonders zu achten und zu schützen ist.‘
In der Benennung der in Spanien gesprochenen Sprachen als lenguas españolas haben sich die Katalanen durchgesetzt. Dies entspricht keinem lebendigen Usus in Spanien oder außerhalb Spaniens, sondern erscheint nur in diesem Artikel der Verfassung. Als offizieller Name des Spanischen wurde dagegen der in den verschiedenen Regionen übliche Name castellano festgeschrieben. Damit war die gesetzliche Grundlage für die offizielle Verwendung des Katalanischen (cf. 5.11), Baskischen und Galicischen (cf. 5.14) in ihren Autonomen Gemeinschaften geschaffen. Andere romanische Varietäten in Spanien, das Asturianische (cf. 5.13) und das Aragonesische (cf. 5.12), haben die offizielle Anerkennung ihrer Sprache in ihren Regionen bisher noch nicht erlangt. Alle in Spanien gesprochenen Varietäten, ob historische Sprachen oder nicht, haben durch die Autonomiestatute und die Regionalisierung des Landes eine politische Stärkung erfahren (cf. Siguan 1992). Diese Entwicklung ist unter den romanischen Sprachen ein einmaliger Vorgang. Die Autonomiebewegung hat sich weiterentwickelt. Seit 1996 versteht sich Aragonien als historische Nationalität. Die anderen historischen Gemeinschaften folgten diesem entschiedenen Wandel zum Nationalismus mit einem unterschiedlich großen Abstand. Am weitesten ist Katalonien im Oktober 2005 gegangen, als dessen Parla-
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ment ein Statut verabschiedete, das in der Präambel zum Ausdruck brachte, dass die Katalanen sich als Nation definieren. Im Text des Statuts selbst wird aber nur Nationalität verwendet. Die politische Diskussion hat einen ideologischen Wandel eingeleitet, bei dem noch nicht klar ist, welche Regionen sich neu als historische Nationalitäten definieren werden und ob die Cortes, das spanische Parlament, das neue katalanische Statut und die anderen Statuten verabschieden. Der Grad der Hispanisierung und der Typ der kodifizierten Sprache in den verschiedenen spanischen Regionen sind interdependent: Die Normierung und die Kodifizierung basieren entweder auf der hispanisierten Kontaktvarietät wie im Fall des Galicischen und mehr noch des Asturianischen und des Aragonesischen oder aber auf der traditionellen, wenig hispanisierten Sprache; dies trifft auf das Katalanische zu. Parallel zur Normierung streben die Sprachgemeinschaften, die ihre Sprachen kodifiziert haben, eine Normalisierung in den Regionen ihres Geltungsbereichs an. Die Normalisierung besteht in der normalen Verwendung einer Standardsprache in allen Situationen des öffentlichen und privaten Lebens. Sie hat in den historischen Gemeinschaften Spaniens das konkrete Ziel, das Spanische durch die der historischen Gemeinschaft eigene Sprache zu ersetzen. Der erste Schritt dazu war, dass Amtssprachen, neben dem Spanischen, 1982 und 1986 das Katalanische im Fürstentum Katalonien (sp. Principado de Cataluña, kat. Principat de Catalunya), in der Valencianischen Gemeinschaft (sp. Comunidad Valenciana, kat. Comunitat Valenciana; dort zieht man als Sprachennamen Valencianisch vor) und auf den Balearen (sp. Islas Baleares, kat. Illes Balears), das Baskische im Baskenland (sp. País Vasco) und in Navarra sowie das Galicische in Galicien (sp. Galicia) eingeführt wurden. Die historische Sprache Spanisch umfasst heute die verschriftete und kodifizierte Standardsprache Spaniens, die sich herausbildenden Standardvarietäten Lateinamerikas, die dem Regionalspanischen in Spanien entsprechen, alle romanischen Varietäten, die die Standardsprache überdacht hat, es sei denn, dass diese Varietäten sich inzwischen wieder zu eigenen historischen Sprachen entwickelt haben wie das Katalanische und das Galicische, und alle Varietäten, die im Kontakt einer spanischen Varietät mit einer anderen romanischen Varietät oder einer anderen Sprache überhaupt entstanden sind, worunter die im Kontakt mit der Standardsprache entstandenen die wichtigsten sind.
Bibliographischer Kommentar
Die bedeutendste spanische Sprachgeschichte, die konzipiert, aber vom Autor selbst nicht vollständig ausgeführt worden ist, diejenige von Menéndez Pidal, hätte das ganze spanische Sprachgebiet umfasst. Trotz seines langen Lebens (Menéndez Pidal lebte von 1869 bis 1968) ist dieses Werk zu seinen Lebzeiten nicht vollendet worden, obwohl die Behandlung einiger sprachgeschichtlicher Themen monumentalen Charakter hat (cf. Lapesa 1988). Erst sein Neffe Catalán hat die Sprach-
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geschichte von Menéndez Pidal in seiner 2005 erschienenen Bearbeitung zusammen mit weiteren Schriften herausgegeben. Die Forschungen der Schule von Menéndez Pidal hat Peñalver Castillo 1995 aufgearbeitet. Die klassische spanische Sprachgeschichte ist Lapesa 91981 (11942), die im Wesentlichen die Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert umfasst. Sie ist durch Lapesa 1996 für die Entwicklung bis zur Gegenwart zu ergänzen. Frago Gracia 2002 nähert sich der Geschichte des Spanischen von den Anfängen bis zum Goldenen Zeitalter über sprachwissenschaftliche Kommentare zu ausgewählten Texten. Eine knappe soziolinguistische Geschichte des Spanischen in Spanien ist Marcos Marín 1979. Cano Aguilar 31997 berücksichtigt vor allem die interne Geschichte des Spanischen, ist ansonsten aber in seiner Konzeption mit Lapesa 91981 vergleichbar wie auch Bollée/Neumann-Holzschuh 2003, die eine Geschichte des europäischen Spanisch geben. Cano (coord.) 2004 enthält zahlreiche Neuerungen wie etwa die Berücksichtigung des Spanischen in den anderssprachigen Regionen Spaniens und bezieht zum Teil das Spanische in Amerika mit ein; dieses Werk ist aber keine Sprachgeschichte im eigentlichen Sinne, sondern eine Enzyklopädie zur spanischen Sprachgeschichte. Das 18. Jahrhundert behandeln aus der Sicht der Sprachwissenschaftsgeschichte Lázaro Carreter 1949 und sprachgeschichtlich Polzin-Haumann 2006 sowie das 19. Jahrhundert aus diskursiver Perspektive Brumme 1997. Die Sprachsituation in Spanien nach der Verfassung von 1978 und/oder die Geschichte der Sprachen Spaniens aus der Perspektive dieser Situation behandeln Alvar (ed.) 1986, Alvar et al. 1986, Siguan 1992, Boyer/Lagarde (directeurs) 2002 und Echenique Elizondo/Sánchez Méndez 2005. Der Zusammenhang des Spanischen in Spanien mit dem Spanischen in Amerika wird in den spanischen Sprachgeschichten nicht oder allenfalls am Rande dargestellt (dazu Lüdtke 1999). Einführungen geben mit unterschiedlicher Gewichtung des sprachgeschichtlichen Teils Fontanella de Weinberg 1992, López Morales 1998 und Frago Gracia 1999, ein Werk, das durch seine Darstellung des amerikanischen Spanisch in der Zeit der Unabhängigkeit (Frago 2010) zu ergänzen ist. Einen Überblick über die sprachgeschichtliche Forschung enthält Medina López 1995. Statt einer Geschichte des amerikanischen Spanisch können gelesen werden: Fontanella de Weinberg 1987 (Buenos Aires), Rivarola 1990 (bes. Peru), Álvarez Nazario 1991 (Puerto Rico), Hernández Alonso (ed.) 1992 (allgemeine Aspekte und zu einzelnen Ländern). Wichtig für den Zusammenhang zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Spanisch ist Frago Gracia 1993. Das erste Werk, das ausschließlich die Geschichte des Spanischen in Amerika behandelt, ist Sánchez Méndez 2003. Wie ich mir den Zusammenhang zwischen dem europäischen, dem kanarischen und dem amerikanischen Spanisch vorstelle, habe ich in Lüdtke (2014) von den Anfängen des amerikanischen Spanisch her dargestellt. Jede Kultursprache hat neben der expliziten Kodifizierung eine implizite, die man heute Sprachkultur nennt. Die heutige spanische Sprachkultur stellt Lebsanft 1997 dar. Seine Betrachtungsweise ließe sich auf andere Sprachen übertragen. 2006 begann die Veröffentlichung einer ausschließlich der Geschichte der spanischen Sprache gewidmeten Zeitschrift, der Revista de la Historia de la Lengua Española.
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5.11 Das Katalanische Joan Maragall Oda a Espanya “Escolta, Espanya, – la veu d’un fill que et parla en llengua – no castellana parlo en la llengua – que m’ha donat la terra aspra: en ’questa llengua – pocs t’han parlat; en l’altra massa.” (Hösle/Pous 1970: 30–31)
Ode an Spanien ‚Hör, Spanien, die Stimme eines Sohnes, der mit dir eine Sprache redet, die nicht kastilisch ist; ich rede in der Sprache, die mir das rauhe Land gegeben hat: in dieser Sprache haben wenige mit dir geredet; in jener anderen allzuviele.‘
Die Geschichte des Katalanischen ist zweigeteilt. Auf eine Zeit des vollen Ausbaus im Mittelalter folgt eine Zeit der Destandardisierung, decadència genannt, die andererseits den Beginn des modernen Katalanisch darstellt. Die zweite Epoche umfasst die Renaissance des Katalanischen, die Renaixença, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Es lässt sich auch vertreten, in der Zeit der Destandardisierung eine eigene Periode der katalanischen Sprachgeschichte zu sehen. In anderen Sprachgemeinschaften führte ein solcher Prozess zum „Sprachentod“.
5.11.1 Altakatalanisch 5.11.1.1 Die Entstehung des katalanischen Sprachgebiets Das Katalanische ist aus dem in der Provincia Tarraconensis gesprochenen Lateinisch entstanden. Diese ursprüngliche territoriale Grundlage wurde nach der Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die Araber in der karolingischen Zeit auf die beiderseits der Pyrenäen liegende Marca Hispanica eingeschränkt. Einer der Grafen erlangte die Vorherrschaft in diesem Gebiet und machte sich vom karolingischen Reich unabhängig. Nach der Rückeroberung südlich der Marca Hispanica liegender Gebiete wurden die Grafen dieses Geschlechts Grafen von Barcelona und Fürsten von Katalonien. Der historische Name dieser Region ist deshalb bis heute Principat de Catalunya. Der Name Katalonien ist seit 1176 belegt. Der Graf Raimund Berengar IV. (kat. Ramon Berenguer IV) wurde 1137 durch die Heirat mit Petronella (sp. Petronila) König von Aragonien. Aus diesem Grunde werden die Länder Katalonien, Aragonien, später das Königreich València, Sardinien sowie die Königreiche Sizilien und Neapel zusammen Aragonesische Krone (kat. Corona d’Aragó) genannt. Die Aragonesische Krone versuchte ins nördlich gelegene okzitanische Gebiet hinein zu expandieren, eine Expansion, die 1213 durch die Schlacht bei Muret zu ihrem Ende kam und nur zur Eingliederung von Montpellier in die Aragonesische Krone führte, während die Ausdehnung des katalanisch-aragonesischen Herrschaftsbereichs unter Jakob I. († 1276, kat. Jaume I) ihren Fortgang Richtung Osten und Süden nahm: Die Balearen wurden
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Abb. 5.10: Katalanisch (Quelle Lüdtke 1984: 18)
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zwischen 1229 und 1287 erobert und kolonisiert. Auf dem Festland schloss Jakob I. die Eroberung des Königreichs València im Wesentlichen 1244 mit der Einnahme von Xàtiva (sp. Játiva) ab. Das von Katalanen 1264–1266 eroberte Murcia wurde an das Königreich Kastilien abgetreten, jedoch verblieb Alacant (sp. Alicante) im katalanischen Sprachgebiet. Durch die Eroberungen des 13. Jahrhunderts kamen die heutigen katalanischen Sprachräume zustande: Das Ostkatalanische breitete sich auf den Balearen aus, das Westkatalanische im Valencianischen Land. Diese Expansionsgebiete behielten als eigene Königreiche ihre Selbstständigkeit innerhalb der Aragonesischen Krone, so dass sich nach der Personalunion der Länder durch die Heirat der Katholischen Könige ein Bewusstsein von sprachlicher Eigenständigkeit herausbilden konnte. Dieses Bewusstsein drückt sich in regionalen Namen für die Sprache aus. Sie wird im Valencianischen Land im Allgemeinen Valencianisch genannt und auf den Balearen je nach Insel mit einem anderen Sprachennamen bezeichnet, also Mallorquinisch usw., offiziell aber Katalanisch. Wenn der Sprachenname Katalanisch (“català”) ausdrücklich vermieden und abgelehnt wird, so hat dies die Funktion einer – besonders im Valencianischen Land polemisch betriebenen – Abgrenzung gegenüber Katalonien. 5.11.1.2 Das Katalanische im Kontakt mit anderen Sprachen Das Katalanische befand sich während seiner geschichtlichen Entwicklung im Kontakt mit zahlreichen anderen Sprachen. Der bis zum 13. Jahrhundert andauernde Kontakt mit dem Okzitanischen führte dazu, dass diese Sprache zeitweilig auch die Literatursprache in den katalanischen Gebieten wurde. In der Dichtung wurde das Okzitanische sogar erst durch den valencianischen Dichter Ausiàs March (um 1397–1459) abgelöst. Das Aragonesische und das Katalanische wurden nach der Vereinigung des Königreichs Aragonien und des Fürstentums Katalonien Amtssprachen der königlichen Kanzlei und des Königshauses. Arabisch wurde weiterhin in den Gebieten, die den Arabern abgerungen worden waren, gesprochen, d. h. in Katalonien den Ebro entlang, auf den Balearen und besonders im Königreich València. Dort war noch ein Drittel der Bevölkerung in der Zeit der Vertreibung zwischen 1609 und 1614 arabischer Sprache. Die Verwendung des Kastilischen nahm zu, zunächst in der katalanischen Oberschicht, nachdem das kastilische Haus der Trastámaras auf den Thron gekommen war (1412). Weitere Ereignisse, die für die Stärkung dieser Sprache wichtig sind, waren die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragonien (1469), die Personalunion der beiden Königreiche nach der Thronbesteigung Ferdinands (1479) und die Vereinigung der beiden Kronen durch Karl I. von Spanien (Kaiser Karl V. von Deutschland), der 1516 das nunmehr spanisch zu nennende Erbe antrat. Ein Vergleich mit der Geschichte Kastiliens mag die Unterschiede verdeutlichen: Während Kastilien in der Expansion auf der Iberischen Halbinsel durch die Reconquista einen zentralistischen Staat schuf, entstand durch die katalanisch-aragonesische Expansion ein Staatenbund, zu dem das Fürstentum Katalonien, die Königreiche
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Aragonien, València, Sardinien, Sizilien, Neapel und eine Zeitlang das Herzogtum Athen gehörten. Er wurde durch gemeinsame politische, demokratische und kulturelle Traditionen unter der Führung des Grafen von Barcelona, der zugleich König von Aragonien war, zusammengehalten. Dieser politische Föderalismus blieb auch nach der Heirat der Katholischen Könige Ferdinand von Aragonien – Aragonien ist hier der katalanisch-aragonesische Staatenbund – und Isabella von Kastilien, vertreten durch Vizekönige, bis zum Spanischen Erbfolgekrieg bestehen. Die angeführten historischen Ereignisse wirkten sich nicht sofort und direkt auf die Sprache aus. Wenn sich aber das Spanische in der Oberschicht der katalanischen Bevölkerung ausbreitete, die katalanische Literatursprache einen allmählichen Niedergang erfuhr (decadència) und das Spanische als Literatursprache vordrang, so setzten diese Entwicklungen eben nach den genannten politischen Umorientierungen ein. Dennoch blieb das Katalanische Amtssprache und die katalanischen Institutionen bestanden fort. Die große Literatur des Mittelalters verlor aber nach der Renaissance und nach der spanischen Literatur des Goldenen Zeitalters ihren Vorbildcharakter und es kam zu einem Bruch in der literarischen Entwicklung. Sofern das Katalanische weiterhin in der Literatur verwendet wurde, traten dialektale Züge stärker in Erscheinung.
5.11.2 Neukatalanisch 5.11.2.1 Katalanisch und Spanisch im 18. Jahrhundert Im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1713/14) standen die katalanischen Länder auf der Seite Habsburgs und verloren nach dem Sieg der Bourbonen eine Reihe von Rechten. Wohl wird für das Königreich València, dem zuerst besiegten Gebiet, die Sprache in der Pragmática von 1707 noch nicht erwähnt, aber in der Praxis doch sofort das Kastilische eingeführt. Auf den Balearen wurde 1715 durch ein Decreto de Nueva Planta (‚Neuordnungsdekret‘) und 1716 durch ein analoges Dekret in Katalonien das Spanische Amtssprache neben dem Katalanischen. Es drang im Laufe des 18. Jahrhunderts in weiten Schichten der katalanischen Bevölkerung vor und wurde weitgehend als Universalsprache akzeptiert. Durch den Kontakt zweier historischer Sprachen konstituierte sich ein neues Varietätenspektrum. Man bemühte sich, Spanisch als Schriftsprache normgerecht zu lernen, auch wenn dies nicht immer gelang. Das gesprochene Spanisch, das, zunächst als Zweitsprache erworben, für eine kleine Schicht zur Erstsprache wurde, konstituierte sich von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an als Regionalspanisch der Katalanen, das bis heute tradiert wird. Obwohl seine syntopischen Merkmale weniger ausgeprägt sind als diejenigen vieler spanischer Dialekte, wurde es doch im Allgemeinen außerhalb des katalanischen Sprachgebiets nicht als genuines Spanisch anerkannt. Die positive Bewertung des Spanischen durch die Katalanen führte vorrangig in den Städten zur Kastilisierung des gesprochenen und des geschriebenen Katalanisch, das zugleich höher eingeschätzt wurde als das traditi-
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onell geschriebene und in reinerer Form gesprochene Katalanisch. Um 1800 waren Adel, Großbürgertum und Bürgertum zweisprachig. Diese Zweisprachigkeit, die in den beiden letzten Jahrhunderten beinahe alle Bewohner ursprünglich katalanischer Herkunft erreichte, wurde danach und wird heute in ideologisch sehr verschiedener Weise verarbeitet. 5.11.2.2 Literatursprache Was sich im Laufe der Geschichte des Katalanischen am stärksten änderte, war die Geltung der als Prosasprache geschaffenen Standard- und Literatursprache. Diese bildete sich maßgeblich im 13. Jahrhundert durch den Philosophen, Missionar und Prosaschriftsteller Ramon Llull (1232/33–1315/16) heraus und wurde im Mittelalter in einem hohen Maß an Einheitlichkeit geschrieben. Es war wohl – mit dem Portugiesischen – die einheitlichste Sprache im romanischen Mittelalter. Dies lag sicher an der relativ geringen Größe des ursprünglichen Sprachgebiets und an seiner raschen Ausdehnung durch die Eroberungen in wenigen Jahrzehnten während des 13. Jahrhunderts. Das Katalanische war alleinige Amtssprache bis zum Spanischen Erbfolgekrieg, jedoch erlebte die Literatursprache einen Niedergang in der Zeit, als die spanische Literatur europäische Geltung erlangte. Die literarische Anerkennung des Spanischen durch die Katalanen selbst drückte sich in der erwähnten starken Kastilisierung ihrer Schriftsprache aus. 5.11.2.3 Renaixença Der Wille der Katalanen zur staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Integration dürfte echt gewesen sein, bevor er im 19. Jahrhundert schließlich scheiterte. Der Wille zur politischen Integration erreichte in der Regierungszeit Karls III. das Bürgertum und in der napoleonischen Zeit das Volk: Darin zeigt sich, dass die Katalanen für den spanischen Zentralismus gewonnen worden sind. Dies geht aus der positiven Bewertung ihrer Teilhabe an der spanischen Sprachkultur und ihrer eigenen Beiträge dazu hervor. Doch kündeten sich auch, minoritär zwar, die Grenzen einer nur reflexiv über die Schriftsprache erworbenen Kompetenz und die Grenzen der Akzeptanz des Regionalspanisch der Katalanen durch die ursprünglichen muttersprachlichen Sprecher des Spanischen an. Der Weg des Katalanischen und der katalanischen Literatur führte über die Industrialisierung Kataloniens und den damit verbundenen sozialen Aufstieg der Handwerker. Zugleich wandte sich aber das Bürgertum in der Romantik seinem Mittelalter zu, wenn auch in Werken, die heute niemand mehr liest, weil sie spanisch geschrieben sind. Der Weg der katalanischen Literatur verlief aus heutiger Sicht ansonsten erstaunlich geradlinig: Das Katalanische gewann von 1833 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts literarische Gattungen zurück, die zuvor dem Spanischen vorbehalten waren: Lyrik, Theater, Epos, Erzählung, Roman. Die Entscheidung für eine katalanische Literatur wurde bewusst getroffen. Es war eine Entscheidung für die katalanische Sprache,
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denn katalanische Themen waren auch in der spanischsprachigen Literatur dargestellt worden; aber diese Literatur wurde erst in katalanischer Sprache bedeutend. Demnach ist festzustellen, dass der Ausbau der Literatursprache vor ihrer offiziellen Kodifizierung begann. Wenn man die Renaixença des Katalanischen mit 1833 beginnen lässt, dem Jahr, in dem der in Madrid lebende Bonaventura Carles Aribau (1798–1862) seine Ode A la pàtria veröffentlichte, dann war dies also die Wiedergeburt des Katalanischen als Literatursprache, während es als Amtssprache, zum Beispiel an den Gerichten, weiter eingeschränkt wurde. Sein Aufstieg in der Literatur und die Ausbreitung des Spanischen in der katalanischen Gesellschaft sind parallele, aber gegenläufige Entwicklungen. Ein erster Höhepunkt der Entwicklung war die Einrichtung der ‚Blumenspiele der katalanischen Sprache‘ (Jocs florals de la llengua catalana) im Jahre 1859. Damit war das Katalanische wieder als Sprache der Versdichtung etabliert. Aber ohne bedeutende Dichter wie Jacint Verdaguer (1845–1902) oder etwas später Joan Maragall (1860–1911) hätte es der katalanischen Literatursprache an sprachlichen Vorbildern gefehlt, denn sie war es, die in der Folge für die Entwicklung einer Standardsprache und die allgemeine sprachliche Entwicklung prägend wurde. Sie war ebenfalls die Grundlage der gesellschaftlichen und nationalen Wiedergeburt vom Ende des 19. Jahrhunderts an. 5.11.2.4 Die moderne Standardsprache: Kodifizierung Die erneut in der Literatur verwendete katalanische Schriftsprache existierte zum einen in einer „reineren“, gleichwohl als antiquiert betrachteten und in einer moderneren, aber kastilisierten Gestalt. Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein Bestreben katalanischer Intellektueller des Principat, einen modernen und zugleich entkastilisierten schriftsprachlichen Standard zu schaffen. Analoge Entwicklungen auf den Balearen und im Valencianischen Land standen in der Folge der Diskussion in Katalonien. Die ersten Grammatiker waren streng puristisch und normativ. Daran hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert. Dieser vom Willen der Katalanen selbst getragene Purismus steht in einem sehr starken Gegensatz zu einem Purismus in Sprachgemeinschaften, in denen sich eine neu geschaffene Standardsprache nicht gegenüber einer dominanten Standardsprache behaupten muss. Die Katalanen sehen in ihrem Purismus eine Verteidigung ihrer Sprache. Die Schaffung einer modernen katalanischen Sprachnorm ist, wenn man an die grundlegenden Schriften denkt, das Werk von Pompeu Fabra (1868–1948). Ein Einzelner kann jedoch keine Norm aufstellen und durchsetzen, dafür ist eine Institution notwendig, die diese Norm sanktioniert. Diese Institution ist in Katalonien die Secció Filològica des 1907 gegründeten Institut d’Estudis Catalans, das von Enric Prat de la Riba, dem damaligen Präsidenten der Diputació de Barcelona und der Mancomunitat de Catalunya (5.11.2.5), gefördert wurde. Die Secció Filològica wurde 1911 eingerichtet.
5.11 Das Katalanische
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Fabras Kriterien für die Normierung der Standardsprache lassen sich auf einige wenige zurückführen: 1. Innerhalb der regionalen Varietäten wird die Sprache von Barcelona der Normierung zugrunde gelegt. 2. Es werden andere Dialekte bei der Schaffung der Orthographie berücksichtigt, damit die Graphie möglichst vielen regionalen Unterschieden Rechnung trägt. 3. Es werden andere romanische Sprachen und das Lateinische auf allen Ebenen der Sprachbeschreibung zum Vergleich herangezogen. 4. Fabra greift auf die altkatalanische Standardsprache zurück. Das Hauptziel aller Standardisierungsbemühungen ist puristisch: Es geht um die Entkastilisierung des Katalanischen. Die Normes ortogràfiques von 1913 sollten eine einheitliche Schreibung des Katalanischen bringen. Sie stehen am Ende von jahrzehntelangen Polemiken um die Leitsätze einer Orthographie. Als Erstes gilt das phonologische Prinzip wie bei anderen Rechtschreibreformen auch. Da die Zugrundelegung der Phonem-GraphemEntsprechung die Wahl einer bestimmten Varietät notwendig machte, kodifizierte Fabra eben das Katalanische von Barcelona. Zugleich schloss sie auch an die vorangehende an. So wurde etwa beibehalten, obwohl es dafür im Phonemsystem von Barcelona keinen Anlass gibt, da dort nicht zwischen /b/ und /v/ unterschieden wurde und nicht unterschieden wird. Weil aber auch andere Dialekte berücksichtigt werden sollten, die diesen Unterschied machen, und weil die entsprechenden Schreibungen deshalb traditionell waren wie z. B. baca ‚Verdeck, Plane‘/vaca ‚Kuh‘, bell ‚schön‘/vell ‚alt‘ usw., wird folglich orthographisch zwischen und unterschieden, obwohl dies dem phonologischen Prinzip widerspricht. Außerdem entspricht die Unterscheidung einer analogen Unterscheidung in anderen romanischen Sprachen. Aus einem ähnlichen Grund wird in unbetonter Stellung zwischen und unterschieden: Vaca schreibt man auch im Valencianischen mit , vaques dagegen mit , weil sich die Varietäten in diesem Punkt nicht unterscheiden. Die Etymologie fand ebenfalls Berücksichtigung, sie konvergiert jedoch mit mehreren anderen Grundsätzen. Dies trifft vor allem für zu wie in home ‚Mann, Mensch‘, für in dolç ‚süß‘, für in quatre ‚vier‘. Die Etymologie gilt als maßgeblicher Grundsatz bei gelehrten Wörtern, also bei Entlehnungen aus dem Lateinischen und Griechischen, die die Lautentwicklung des Katalanischen nicht mitgemacht haben. Hundert Jahre danach wurde eine überarbeitete Version der Orthographie veröffentlicht (Institut d’Estudis Catalans 2017). Da es mit den bloßen Rechtschreibregeln nicht getan ist, denn die Schreiber wollen bei jedem einzelnen Wort wissen, wie es geschrieben wird, wurde 1917 ein Diccionari ortogràfic herausgebracht. Ausgehend von diesen beiden Werken hat sich die Orthographie Fabras allmählich auf den Balearen und im Valencianischen Land durchgesetzt. Es wurden jedoch regionale morphologische Unterschiede beibehalten. Die morphologischen Unterschiede skizzieren wir im Zusammenhang mit Fabras Gramàtica catalana von 1918 (cf. Fabra 1956). Dabei stellten sich für die Kodifizierung zwei Probleme: Die Morphologie war stark kastilisiert und die Vielfalt der dialektalen Varietäten sollte Berücksichtigung finden. In der Entkastilisierung war Fabra zurück-
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5 Die romanischen Sprachen
haltend, da er von der gesprochenen Sprache ausging und diese eben kastilisiert war. Die Kastilisierung war jedoch im Bereich der Grammatik ein geringeres Problem als im Wortschatz. Mehr Schwierigkeiten bereitete dagegen die Berücksichtigung der dialektalen Vielfalt. Fabra wählte auch in diesem Fall das Zentralkatalanische, d. h. die Sprache von Barcelona, weil sie von den meisten Schriftstellern bis zu seiner Zeit verwendet worden war. Insofern galt sie als Standardsprache für ganz Katalonien. Die Formen der Balearen und des Valencianischen Landes gingen in der Weise in die Grammatik ein, dass sie neben den zentralkatalanischen in Klammern angegeben wurden. Es seien hier einzelne Normprobleme belegt, die zugleich die räumliche Verschiedenheit des Katalanischen dokumentieren: 1. Person Singular Indikativ Präsens von portar ‚tragen‘, témer ‚fürchten‘, dormir ‚schlafen‘, servir ‚dienen‘: zentralkatalanisch -o: porto, temo, dormo, serveixo valencianisch -e und ø: porte, tem, dorm, servisc mallorquinisch ø: port, tem, dorm, servesc 1. Person Singular Konjunktiv Präsens: zentralkatalanisch -i: porti, temi, dormi, serveixi mallorquinisch -i: porti, temi, dormi, servesqui valencianisch -e bzw. -a: porte, tema, dorma, servisca
Neben den angeführten Hauptvarianten, die beispielhaft für die Verbalparadigmen stehen, sind Nebenvarianten in der valencianischen und der mallorquinischen Schriftsprache zulässig. Fabra normierte innerhalb der Grammatik die Morphologie einschließlich der Wortbildungsmorphologie. Die Syntax wurde von ihm nicht eigentlich normativ betrachtet. Die längste Vorbereitungszeit verlangte die Kodifizierung des Wortschatzes. Das zusammen mit Emili Vallès, Cèsar August Jordana und weiteren Mitarbeitern verfasste Diccionari general de la llengua catalana erschien jedoch bereits 1932. Das Hauptziel der Wortschatzkodifizierung war die gegen das Spanische gerichtete Sprachreinigung, bei der Fabra sich am Altkatalanischen, an den Dialekten, am Lateinischen und an den anderen romanischen Sprachen orientierte. Die Erfassung des Wortschatzes war aber durchaus auf die Schaffung einer modernen Sprache gerichtet und schloss deshalb Neuschöpfungen ein. Die grundsätzliche Offenheit des Wörterbuchs drückt sich auch in den relativ allgemein gehaltenen Wörterbuchdefinitionen aus, die vor allem im Bereich der Wortbildung außerordentlich systematisch angelegt sind und damit die Frage eventueller semantischer Spezialisierungen der Zukunft zu überlassen scheint. Die Modernisierung des Wortschatzes wurde, aufbauend auf dem Wörterbuch von Fabra, von der seit 1970 veröffentlichten Gran enciclopèdia catalana fortgeführt und ist durch die erneute Einführung des Katalanischen als Amtssprache nach 1978
5.11 Das Katalanische
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in eine neue dynamische Phase getreten. Eine wichtige Aufgabe der gegenwärtigen Wortschatzkodifizierung ist die Schaffung neuer Termini im Katalanischen als einer Sprache, die, um besonders mit der terminologischen Entwicklung des Englischen Schritt zu halten, zur Vermittlung des neuen in anderen Sprachgemeinschaften geschaffenen Wissens neue Termini schaffen muss (Cabré 1993: 60–62). 2001 ist die Academia Valenciana de la Llengua geschaffen worden. Trotz des Namens der Akademie vertritt die Mehrheit der Akademiemitglieder die Einheit des Katalanischen. 5.11.2.5 Die Übernahme des Katalanischen: Normalisierung Wir hatten festgestellt, dass der literatursprachliche Ausbau des Katalanischen mit der verstärkten Übernahme des Spanischen in allen Schichten der Bevölkerung einherging, was zur Kastilisierung der katalanischen Sprache führte, gegen die sich die Sprachreinigungsbemühungen Fabras richteten. Die Voraussetzungen für die Übernahme des Katalanischen anstelle des Spanischen, von den katalanischen Linguisten Normalisierung genannt, mussten erst politisch geschaffen werden. Der erste Schritt dazu war 1914 die Einrichtung der Mancomunitat, mit der die vier Provinzen Kataloniens, in die Katalonien 1833 gegliedert worden war, wieder eine gewisse Einheit erhielten; aber erst die Zweite Republik (1931) ermöglichte die Verwendung des Katalanischen als Amts- und Schulsprache. Das Autonomiestatut (1932) für Katalonien (nicht jedoch für die anderen Katalanischen Länder) sanktionierte diese Entwicklung, die bis 1939 mit dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) unterbrochen wurde. In der Zeit bis 1939 machte die Normalisierung des Katalanischen als Sprache der nicht-literarischen Prosa, als Sprache der Presse und des Rundfunks große Fortschritte. In der Zeit der Unterdrückung durch das Franco-Regime blieb die Literatursprache, wie die katalanische Standardsprache in den Katalanischen Ländern meist genannt wird, zwar erhalten; sie erhielt aber durch die Beseitigung der relativen Normalität, die sie unter der Zweiten Republik erreicht hatte, wieder einen so elitären Charakter wie zuvor. Der erneute Aufstieg des Katalanischen begann mit einer gewissen politischen Öffnung im Spanien der sechziger Jahre, aber erst 1975 wurde mit dem Tode Francos der Weg frei für eine Demokratisierung, die in der Verfassung von 1978 zur offiziellen Anerkennung der in den historischen Gemeinschaften gesprochenen Sprachen führte. Durch die Wiedereinsetzung einer Regionalregierung in Katalonien, der Generalitat de Catalunya, durch die Schaffung analoger Regierungen auf den Balearen und im Valencianischen Land, die es während der Zweiten Republik noch nicht gegeben hatte, traten mehrere Autonomiestatute in Kraft, 1980 eines für Katalonien, gefolgt von den anderen Regionen katalanischer Sprache. In den unter den Regierungen Kataloniens, des Valencianischen Landes und der Balearen eingerichteten Behörden für Sprachpolitik (Direcció General de Política Lingüística) wird eine gegen das Spanische gerichtete Normalisierung des Katalanischen vorangetrieben.
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5 Die romanischen Sprachen
Das Katalanische soll das Spanische in den von dieser Sprache eingenommenen Verwendungsbereichen ersetzen. In einem Staat wie Spanien aber, in dem das Katalanische nur die Sprache einer Region ist, in den internationalen Touristengebieten der Costa Brava, der Balearen und der Küsten des Valencianischen Landes ist es schwer, das Katalanische gegenüber den Wirtschafts- und Machtinteressen der Bewohner Kataloniens, der Balearen und des Valencianischen Landes selbst durchzusetzen sowie in den regionalen Metropolen Barcelona und València, die auch spanische Metropolen sind. Die antikastilische Spitze der Normalisierung artikuliert nur eine Seite der Ambiguität der Sprecher, die zu ihrer Sozialisierung gehört. Mit dem Sprachengesetz von 1998 wollte man jedoch den Gebrauch des Katalanischen in Katalonien verstärkt in den genannten Bereichen durchsetzen. Von 2004 an wurden die Autonomiestatute neu verhandelt. 2005 wurden das valencianische und das katalanische Autonomiestatut vom jeweiligen Parlament verabschiedet. Am weitesten gingen die Katalanen, die sich in der Präambel als Nation verstehen, im Text jedoch Katalonien nur als Nationalität definieren (5.10.5). Hierzu heißt es in dem von den Cortes 2006 verabschiedeten Autonomiestatut von Katalonien: ‚Das Katalanische Parlament hat sich die Gefühle und den Willen der Bürgerschaft Kataloniens zu eigen gemacht und Katalonien mit großer Mehrheit als Nation definiert. Die spanische Verfassung erkennt im zweiten Artikel die nationale Realität Kataloniens als Nationalität an‘ (Rojo 2007: 120; meine Übersetzung). Damit ist zwar das Katalanische Parlament im Hinblick auf die Anerkennung Kataloniens als Nation gescheitert, es ist aber immerhin gelungen, dem Willen der Katalanen in der Präambel Ausdruck zu verleihen. Noch ist es nicht abzusehen, welche Folgen dieses neue nationale Selbstverständnis für den Status des Katalanischen haben wird. Die Balearische Regierung hat bislang noch keine Novellierung der regionalen Verfassung vorgelegt. Katalonien strebt die politische Unabhängigkeit von Spanien an; der Ausgang ist nach dem Referendum vom 1. Oktober und den Neuwahlen am 21. Dezember 2017 immer noch ungewiss.
Bibliographischer Kommentar
Eine etwas ausführlichere Darstellung der Entwicklung des Katalanischen ist in einigen Aufsätzen des LRL V, 2, zu finden. Die Stellung des Katalanischen in der Romania wird unter anderem von MeyerLübke 1925 und Bihler 2001 untersucht. Einen knappen, aber guten sprachgeschichtlichen Überblick geben Lleal (1992) und Tavani (1994), einen ausführlicheren Marcet (1987) sowie Ferrando/Nicolás (1993). Es ist besonders auf die groß angelegte Sprachgeschichte von Nadal und Prats hinzuweisen, von der der erste (11982) und der zweite Band (1996) erschienen sind, diese Sprachgeschichte umfasst die Zeit bis zum 15. Jahrhundert. Über die Zeit zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert informiert Rafanell 1999. Die ineinandergreifende Geschichte des Katalanischen und Spanischen in Katalonien zwischen 1759 und 1859, die auch für das Verständnis der heutigen Situation so wichtig ist, wird von Kailuweit aufgearbeitet (1997), der Aufstieg zur Nationalsprache von Anguera 1997. Die neuere Sprachengesetzgebung behandelt Gergen 2000. In englischer Sprache wird die Geschichte des Katalani-
5.12 Das Aragonesische
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schen in Argenter/Lüdtke (eds.) (in Vorbereitung) behandelt. Über die Geschichte der Katalanischen Länder informiert auf Deutsch Marí y Mayans 22016. Am Beispiel des Katalanischen lassen sich gut die Entwicklungsbedingungen der Linguistik einer dominierten Sprache im Verhältnis zur Linguistik einer dominanten Sprache zeigen. Die Linguistik der Sprachen von Nationalstaaten kann nicht so klare Aufschlüsse über ihre historischen Bedingungen geben wie die Linguistik einer weniger verbreiteten Sprache in einem größeren Nationalstaat. Durch eine Institutionalisierung, die nicht nur national, sondern auch international ist (als Verhandlungssprache der Weltorganisationen, als Sprache der Wissenschaften auch außerhalb ihres eigentlichen Geltungsbereichs usw.), kann sie sich in viele Richtungen entwickeln, während der Entwicklung einer Linguistik wie der des Katalanischen mit zunächst begrenzterer Institutionalisierung aus praktischen Gründen eher Grenzen gesetzt sind. Im Falle des Katalanischen sind die sprachwissenschaftlichen Fragestellungen viel besser einsehbar, weil sie zur Lösung konkreter Probleme eingesetzt werden.
5.12 Das Aragonesische “o mío aragonés no ye de dengún lugá: quió icir que no ye cheso u ansotano, belsetano, ayerbense, do Somontano, do Sobrarbe, u do baixo Aragón. No, no ye de dengún d’ixos sitios, ni tampoco no de una val u de un pueblo sólo. Ye de toz: quizá vien una expresión belsetana dezaga d’una parabra chesa, seguida d’altra d’o Sobrarbe u d’un vulgarismo baixoaragonés […]. Y ye totalmién necesario fer un esfuerzo ta crear un cuerpo de fabla chuñida, integrar os restos y fablas locales, ta que a lengua aragonesa siga de más amplitú, y asinas podamos lograr que no se nos muera” (Francho Nagore, Sospiros de l’aire, Zaragoza 1971; zitiert nach Quintana 1991: 201). ‚Mein Aragonesisch ist von nirgendwo. Ich will damit sagen, dass es nicht von Echo, von Ansó, von Bielsa, von Ayerbe, vom Somontano, vom Sobrarbe oder von Niederaragonien ist. Nein, es ist von keiner dieser Gegenden, auch nicht von einem Tal oder einem Ort allein. Es ist von allen. Vielleicht folgt ja hier auf einen Ausdruck aus Bielsa ein Wort aus Echo, ein weiteres aus dem Sobrarbe oder ein niederaragonesischer Vulgarismus […]. Und es ist absolut notwendig, sich zu bemühen, eine Einheitssprache zu schaffen, die Reste und Ortsmundarten zusammenzuführen, damit die aragonesische Sprache sich mehr entfaltet und wir auf diese Weise erreichen, dass sie uns nicht wegstirbt‘ (meine Übersetzung).
Die geschichtlichen Bedingungen der Entwicklung des Aragonesischen wurden im Kapitel zum Katalanischen (5.11) genannt und ich brauche sie an dieser Stelle nicht zu wiederholen. Im Rahmen der Autonomiebewegung nach der Zeit des Franco-Regimes fand das Aragonesische ebenso wie das Asturianische Anerkennung als “modalidad lingüística” im Sinne der Verfassung von 1978, aber nicht als “lengua propia” (5.10.5). Der Status des Aragonesischen ist weitaus prekärer geblieben als derjenige des Asturianischen. Unter den Standardsprachen, die wir betrachten, hat das Aragonesische noch ein besonderes Problem: Es soll eine aragonesische Standardsprache erstehen, die andere Ursprünge hat als die im Mittelalter untergegangene kastilisierte Amts- und Literatursprache. Die demographische Basis ist denkbar schwach: Nach der Volkszählung von 1981 hat diese Sprache ca. 30.000 Sprecher. Diese Zahl enthält alle diejenigen, die angeben,
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5 Die romanischen Sprachen
dass sie die Sprache können. Ihnen stehen nur knapp 12.000 Menschen gegenüber, die sie wirklich verwenden. Hinzu kommt aber auch noch die Art und Weise seiner Verwendung. Das Aragonesische ist eine Gruppe von Dialekten, die in den Tälern Hocharagoniens von Ansó im Westen bis zum Sobrarbe und zur Ribagorza im Osten und zur Sierra de Guara im Süden gesprochen wird. In diesem Raum liegen die wenigen Orte, in denen das Aragonesische allgemein gebräuchlich ist. In der überwiegenden Zahl der Orte ist es nur noch Heimsprache.
5.12.1 Navarra und Aragonien In der iberoromanischen Dialektologie wird das Aragonesische entweder zusammen mit dem Navarresischen Navarroaragonesisch genannt oder die Dialekte von Navarra und Aragonien werden in einen navarresischen und einen aragonesischen Dialekt getrennt. Für die Frage der Schaffung einer Standardsprache kommt nur das Aragonesische in Betracht. Die in ihrer Geschichte meist getrennten Königreiche Navarra und Aragonien haben verschiedene Geschicke. Navarra wurde 1512 von Ferdinand dem Katholischen erobert und Spanien einverleibt und das Gebiet des Navarresischen wurde vollständig hispanisiert. Nicht so das Aragonesische. Wie in Navarra war die Schriftsprache auch in Aragonien früh das Kastilische. In den aragonesischen Hochpyrenäen hielt sich eine uneinheitliche Dialektgruppe, die im Mittelalter nicht verschriftet worden war.
5.12.2 Das Aragonesische zwischen Katalanisch und Spanisch Das Aragonesische ist in der Geschichte der romanischen Sprachen auf der Iberischen Halbinsel ein besonderer Fall. Es ist von Osten her dem katalanischen Einfluss ausgesetzt gewesen, da das Katalanische im Staatenbund der Aragonesischen Krone die demographisch, politisch und kulturell dominierende Sprache war. Von Westen her kam das Aragonesische während der Eroberung der maurischen Gebiete immer mehr in Kontakt mit dem Spanischen. Der Beginn der Hispanisierung des Aragonesischen wird auf das 13. Jahrhundert zurückgeführt. Diese kann nur in der Schriftsprache untersucht werden. Wegen des geringen Abstands zwischen dem Aragonesischen und dem Spanischen ist es uns Heutigen wohl nicht immer klar, welche Sprache die Schreiber des 15. Jahrhunderts zu schreiben meinten, der Zeit, in der die Hispanisierung des Aragonesischen am meisten fortgeschritten war. Der Schiedsspruch von Caspe (1412) leitete den endgültigen Niedergang des Aragonesischen ein: Fernando de Trastámara, dessen Muttersprache Kastilisch war, bestieg den aragonesischen Thron. Somit ging der kastilische Einfluss auf das Arago-
5.12 Das Aragonesische
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nesische dem kastilischen Einfluss auf das Katalanische voraus. Zunächst aber hatte das Katalanische das Aragonesische bis zur ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts beeinflusst. Bis um 1600 erreichte das Spanische bereits die ungefähre heutige Ausbreitung in Aragonien.
5.12.3 Kodifizierung Die Vereinheitlichungsbemühungen gehen auf das Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Als Schriftsprache für diese Dialektgruppe wurde von dem 1976 gegründeten Consello d’a Fabla Aragonesa (‚Rat der aragonesischen Sprache‘) ein aragonés unificato geschaffen, auch fabla aragonesa genannt, das im Allgemeinen von den Sprachwissenschaftlern in Spanien und insbesondere in Aragonien nicht akzeptiert wird. Die immer wieder angeführte Kritik besteht darin, dass das Aragonesische keine schriftsprachliche Tradition habe und dass die neu geschaffene Standardsprache künstlich sei, d. h. keinen Dialekt als direkte gesprochene Grundlage habe. Hierfür können wir sogar denjenigen anführen, Francho Nagore, der 1971 als Erster in Sospiros de l’aire sein Verfahren bei der Schaffung seiner aragonesischen Gemeinsprache erläutert. Ich habe es als Motto zitiert. Die Orthographie ist darin noch nicht standardisiert. Man mag die Richtigkeit der Behauptung anzweifeln, dass es zu keiner Zeit ein einheitliches aragonesisches Sprachsystem gegeben habe, und die entgegengesetzte Behauptung, dass das Aragonesische als gesprochene Sprache aus einem Bündel von Dialekten bestehe. Es gibt Stimmen für die eine wie für die andere Auffassung. Das ist aber nicht der Punkt. Wechselt man seine Perspektive hin zu den sprachplanerischen Intentionen derjenigen, die die Schaffung einer normierten aragonesischen Sprache und ihre Normalisierung betreiben, gilt das Kriterium, dass es kein aragonesisches Sprachsystem gebe, nicht mehr. Es ist eine Frage der politischen Entscheidung, des Einzelnen und von Institutionen, die Schaffung einer aragonesischen Standardsprache zu befürworten, abzulehnen oder gar zu bekämpfen und ins Lächerliche zu ziehen. Deskriptive Kriterien gehen an der Sache vorbei. Die Gramática de la lengua aragonesa von Nagore Laín (1977) ist die erste aragonesische Grammatik überhaupt. Sie vereinheitlicht die Orthographie und die Grammatik. Da die heutige Schriftsprache nicht auf das Aragonesisch des Mittelalters zurückgeht, folgt die Orthographie einerseits dem phonologischen Prinzip, andererseits trägt man in der Aussprache der dialektalen Vielfalt Rechnung. Der Abstand zum Spanischen ist gering, er wird aber durch die Rechtschreibung verstärkt. Dem phonologischen Prinzip zufolge wird /b/ unabhängig von der Etymologie geschrieben, also bier ‚sehen‘ und ibierno ‚Winter‘. Man vergleiche sp. ver und invierno. In ähnlicher Weise wird für /θ/ immer geschrieben und nicht etymologisierend zwischen nachfolgendem und unterschieden: ziudá ‚Stadt‘, zeiquia ‚Bewässerungsgraben‘. Für /(i)ʃ/ wird geschrieben wie in baixo ‚niedrig‘. Vor Vokal schreibt man
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wie in ye ‚ist‘, im Silben- bzw. Wortauslaut aber , z. B. boi ‚ich gehe‘. Der Apostroph wird verwendet wie in d’o aus unserem Motto, das zugleich als Sprachprobe dienen soll. Anstelle des Akzents auf der drittletzten Silbe bei Kultismen wie im Spanischen werden diese Wörter immer auf der vorletzten betont, z. B. basico, prautico ‚praktisch‘. Diese Rechtschreibung wurde 1974 von Schriftstellern und Gelehrten beschlossen und 1987 als Normas ortograficas de l’aragonés herausgegeben. Rafael Andolz veröffentlichte 11977 (52004) ein Diccionario aragonés, das ihm wegen seiner Orthographie viel Kritik eingebracht hat. Die Befürworter der aragonesischen Schriftsprache betrachten dieses Werk als einen wichtigen Beitrag zu einem künftigen Wörterbuch des Sprachgebrauchs, aber noch nicht als normatives Wörterbuch. Inzwischen sind weitere Wörterbücher erschienen, die das Diccionario aragonés von Andolz aber noch nicht ersetzt haben.
5.12.4 Ausbau Was seinen Ausbau angeht, befindet sich das Aragonesische am Anfang einer Entwicklung mit einer ungewissen Zukunft. Es gibt wenig auf Aragonesisch geschriebenes Schrifttum. Daher ist es ein Akt der Selbstbehauptung, Werke aus anderen Sprachen ins Aragonesische zu übersetzen. Erst nachträglich hat sich eine Orientierung an der aragonesischen Literatur und am aragonesischen Schrifttum des Mittelalters eingestellt. Das Zitat von Francho Nagore zeigt, dass die Schaffung einer aragonesischen Gemeinsprache eine aktuelle Motivation hat. Trotz einer eher feindlichen Einstellung der Aragonesen dem Katalanischen gegenüber ist die Tatsache nicht zu übersehen, dass diese Sprache in der Franja d’Aragó, dem Landstreifen im Osten Aragoniens, gesprochen wird und die Franja d’Aragó sich an Katalonien orientiert. Dies hat während der ganzen jüngeren Entwicklung des Aragonesischen viel mehr auf die Normierungs- und Normalisierungsbemühungen gewirkt als das Fortleben des aragonesischen Mittelalters. Ein Aufleben des eigenen Mittelalters hat es im 19. Jahrhundert auch gegeben, aber in spanischer Sprache (cf. Soria Andreu 1995). Der Ausbau geht zurzeit kaum über die Literatur und Schriften über Sprache, Literatur und Kultur, Übersetzungen und begrenzte Bereiche der Publizistik hinaus. Im Hinblick auf die Übernahme der aragonesischen Standardsprache hat die Sprachgemeinschaft erst ein geringes Standardsprachbewusstsein entwickelt. Ihre Einstellung zum Aragonesischen ist vielmehr durch ein Patois-Bewusstsein geprägt.
5.12.5 Normalisierung Im Verhältnis zwischen dialektaler gesprochener Sprache und davon sehr verschiedener Schriftsprache stellt das Aragonesische in der Romania keine Ausnahme dar. Auch die Sprecherzahl ist in anderen sehr kleinen romanischen Sprachgemeinschaf-
5.13 Das Asturianische
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ten ähnlich gering. Wenn wir uns mit dem Aragonesischen beschäftigen, dürfen wir nicht anders als in den anderen problematischen Fällen vorgehen. In diesem Sinne genügt es nicht, wenn eine Gruppe von Sprechern oder Autoren eine Sprache für ihren eigenen Gebrauch standardisieren und kodifizieren, sondern diese Sprache muss von anderen Sprechern und Schreibern der Gemeinschaft übernommen werden. Die Frage der Übernahme des Aragonesischen durch seine Sprecher ist aber offen. Es ist noch unklar, wie weit das Aragonesische in seiner Gemeinschaft als Standardsprache verbreitet ist. Die Anerkennung geben einer Sprache diejenigen, die sie sprechen und schreiben. Auf diese faktische Frage reduziert sich der Status des Aragonesischen, nicht auf seine eventuelle Künstlichkeit oder die geringe Zahl der Sprecher in seiner Gemeinschaft. Das Aragonesische hat noch keinen offiziellen Status erlangt. Bisher gibt es lediglich einen Gesetzentwurf, demzufolge das Aragonesische in Hocharagonien einen ähnlichen Status erhalten soll wie das Baskische in Navarra. Von einer eigentlichen Normalisierung kann noch keine Rede sein. Sie ist aber vorläufig nicht möglich in einer Gemeinschaft, die ihre neue Standardsprache erst lernen muss. In diesem Prozess steht das Aragonesische eher am Anfang als andere Sprachen. Die Lehrer sind dafür auszubilden und es ist von Erwachsenen wie Schülern zu erlernen. Dies geschieht mit von Jahr zu Jahr wachsendem Erfolg.
Bibliographischer Kommentar
Monge 1989 macht sich zum Sprachrohr von all denjenigen, die eine „aragonesische Sprache“ ablehnen. Das Standardwerk zum Aragonesischen ist Alvar 1953. Als Einführung in die Geschichte des Aragonesischen und Navarresischen ist der Beitrag von Saralegui 1992 zu lesen. Die erste Darstellung, die die Probleme des Aragonesischen einem größeren Publikum bekannt machen wollte, ist Conte/ Cortés/Martínez/Nagore/Vázquez 31982. Quintana 1991 und 1999 informieren über die heutige aragonesische Schriftsprache und Martín Zorraquino/Enguita Utrilla s. a. über die in Aragonien gesprochenen Sprachen. Fernández Rei 1999 befasst sich mit dem Aragonesischen und seinem Status als Standardsprache unter den anderen romanischen Sprachen. Angaben zum aragonesischen Sprachunterricht kann man Alcover i Pinós/Quintana i Font 2000 entnehmen. Aus gesamtspanischer Sicht behandeln das Aragonesische Echenique Elizondo/Sánchez Méndez 2005: 136–182).
5.13 Das Asturianische 5.13.1 Das Asturianische und seine Kolonialdialekte Das Asturianische und das Leonesische werden zusammen traditionell Asturleonesisch (sp. asturleonés) genannt und sein Sprachgebiet wird auf den Sprachkarten als einheitlicher Raum dargestellt. Doch wurde das Leonesische früh zu einem Dialekt des Spanischen, während die Sprecher des Asturianischen oder bable das Bewusstsein einer gewissen Eigenständigkeit trotz seiner ebenfalls erfolgten Hispanisierung
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bewahren. Die spanische Verfassung von 1978 führte daher früh zu einem Autonomiestatut für Asturien. León bildet dagegen mit Kastilien zusammen die Region Kastilien-León. Die Gründung einer eigenen Autonomen Gemeinschaft Principáu d’Asturies (Fürstentum Asturien) hat zur Folge, dass dort Forderungen nach Anerkennung des Asturianischen als einer eigenen zu standardisierenden Sprache erhoben werden. Somit müssen wir geschichtlich erklären, wie es zu dieser Trennung des asturianischen und leonesischen Sprachgebiets, zu den gegenwärtigen Bemühungen um die Anerkennung einer asturianischen Standardsprache und zur vollständigen Dialektalisierung des Leonesischen kam. Der Grund dafür ist in der älteren spanischen Geschichte zu suchen. Das Königreich Asturien, das erste, das sich nach der arabischen Eroberung gegen die Musulmanen erhob, breitete sich wie die anderen Fürstentümer und Königreiche des spanischen Nordens nach Süden aus und nahm den Namen der Stadt León an. Dieses Königreich schloss in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts Galicien und Kastilien ein, umfasste also Gebiete, die ebenfalls in der Reconquista ihre Sprache nach Süden brachten. Das leonesische Sprachgebiet reichte zur Zeit seiner größten Ausdehnung bis zur Extremadura. Während das Leonesische sich ausdehnte, wurde es durch die Vereinigung des Königreichs León mit Kastilien unter der Vorherrschaft Kastiliens im Jahre 1230 noch während dieses Rückeroberungsprozesses in den südlichen Regionen dem kastilischen Spracheinfluss ausgesetzt, beeinflusste aber auch seinerseits in der frühen Zeit das Kastilische. Das in geographischer Hinsicht leonesische Gebiet wurde vom 13. Jahrhundert an hispanisiert, in der ersten Phase die Schriftsprache, in der letzten die gesprochene Sprache auf dem Lande durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1857). Das im Mittelalter sich als hispanisierte Kontaktvarietät ausbreitende Leonesisch bildete erneut weiter südlich eine Kontaktvarietät, das extremeño, heraus, das dem Spanischen angehört, jedoch leonesische Merkmale beibehält. Dies ist die geschichtliche Erklärung dafür, wie es zur Trennung des asturianischen und des leonesischen Sprachgebiets sowie des Gebiets des extremeño kam. Die drei Kontaktvarietäten stellen unterschiedliche Phasen der Hispanisierung dar, die beim extremeño dazu führte, dass es im Wesentlichen ein spanischer Dialekt wurde, während das Leonesische einer Phase der geringeren Hispanisierung bei gleichzeitiger Unterordnung unter das Spanische entspricht und das Asturianische heute zwar auch hispanisiert ist, aber nicht so stark, dass es nicht den Anspruch erheben könnte, eine eigene Sprache zu sein. Leonesisch ist nur ein Terminus der Sprachwissenschaftler, der die von Asturien bis zur Extremadura gesprochenen Varietäten zusammenfasst. Diejenigen, die diesen Dialekt sprechen, haben kein leonesisches Sprachbewusstsein, sondern sie benennen ihre Sprache nach der jeweiligen Provinz. Bei alledem ist noch der Vorbehalt zu machen, dass auch die unterstellte Vitalität der Dialekte der Vergangenheit angehört. In geschichtlicher Hinsicht sind die Mundarten südlich von Asturien Kolonialdialekte des Asturianischen, die in der Extremadura von spanischen Kolonialdialekten überlagert wurden. Wenn alle diese Gebiete unter die Bezeichnung Leonesisch subsu-
5.13 Das Asturianische
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miert werden, ist dies gleichsam ein spracharchäologischer Begriff. Eine einheitliche dialektologische Betrachtung stützt sich auf gemeinsame sprachliche Charakteristika, von deren Ausbreitung die Sprecher jedoch keine Vorstellung haben. Ein anschaulicher Beleg dafür ist die Untersuchung Krügers (1914) an Ort und Stelle.
5.13.2 Das Asturianische vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert Vom 13. Jahrhundert an versuchte man, eine Volkssprache als Kanzleisprache zu schreiben, die sich auch an der Sprache der umliegenden Regionen, einschließlich des Okzitanischen orientierte. Obwohl ein unverkennbares Bemühen bestand, eine überregionale Sprache zu schreiben, weisen die asturianischen Texte des Mittelalters eine starke Variation auf, und sie sind außerdem hispanisiert. Zu einer einheitlichen Schreibung gab es nur Ansätze. Die größere Nähe zu Kastilien bringt aber, verglichen mit Galicien, eine etwas frühere Hispanisierung der Oberschicht mit sich. Die Literatur war der spanischen untergeordnet und wurde deshalb nach ihrem Modell geschrieben. Es hat nicht den Anschein, wie asturianische Linguisten annehmen (García Arias 1995: 624; Cano González 1999: 111), dass der Dichter Antonio González Reguera auf einem Dichterwettstreit von 1639 eine asturianische Literaturtradition möglicherweise fortsetzt, sondern er begründet sie, wenn es sich um Reflexliteratur im Sinne Croces (5.1.2) handeln sollte. Dafür spricht, dass die bedeutenden Dichter dieser Tradition sehr gebildet waren. Diese Tradition gipfelte im Werk des Aufklärers Gaspar Melchor de Jovellanos (1744–1811). Er widmete dem Asturianischen ein Apuntamiento sobre el dialecto de Asturias und Instrucciones para la formación de un Diccionario del dialecto bable (1801). Im 19. Jahrhundert setzte sich die literarische Unterordnung weiter fort. Andererseits bemühte sich aber Juan Junquera Huergo 1869 um eine Kodifizierung in seiner Gramática asturiana, die jedoch erst 1991 gedruckt wurde. Dennoch wird das Asturianische volkstümlich bis heute gesprochen. Wenn es im 17. und im 18. Jahrhundert in der Versdichtung verwendet wurde, ist darin eine Reaktion auf die Dominanz der Literatur in spanischer Sprache zu erblicken, denn die Sprache war dialektalisiert. Demgegenüber blieb in anderen spanischen Regionen wie Galicien oder Katalonien der Status der Sprache im Ungewissen zwischen Sprache (lengua) für die einen, Dialekt für die anderen. Das Medium der Literatur war eine hispanisierte asturianische Kontaktvarietät, die mit einer gewissen Kontinuität gepflegt wurde. Wie anderswo in Spanien und in der Romania führte die Pflege der asturianischen Sprache zu einer Regionalismusbewegung, aber mit einiger Verspätung erst nach dem Ersten Weltkrieg. Der Bergbau und die Industrialisierung grenzen die Asturianer in ihrem Selbstbewusstsein von den umliegenden Regionen ab. Auch die Teilnahme der Arbeiter Asturiens an der Revolution von 1934 war Ausdruck ihrer regionalen Identität. Der politische Regionalismus, der in Katalonien und in Galicien zur Forderung
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nach Anerkennung der Sprache führte (1932), klammerte jedoch in Asturien die Sprachenfrage aus.
5.13.3 Normalisierung 1946 wurde das Instituto de Estudios Asturianos gegründet, das vom darauffolgenden Jahr an die Zeitschrift Boletín del Instituto de Estudios Asturianos herausgab. Die darin publizierten Forschungen befassen sich mit dem Asturianischen im Zusammenhang mit Ortsgeschichte, Folklore und frühen Entwicklungsphasen des Spanischen und seiner Dialekte. 1973 traf die I Asamblea Regional del Bable in Uviéu (sp. Oviedo) zusammen, damals noch unter dem Vorsitz des angesehenen Sprachwissenschaftlers Emilio Alarcos Llorach, der sich später von den Normierungs- und Normalisierungsbemühungen distanzierte. Aus dieser Asamblea ging letztlich der Conceyu Bable hervor. 1974 ist ein Wendepunkt in der Stellung des Asturianischen in der Öffentlichkeit. In diesem Jahr trat eine Gruppe zusammen, die sich Conceyu Bable (‚Bable-Rat‘) nannte. Ihr gehörten der Philosoph Luis Javier Álvarez, der Sprachwissenschaftler José García Arias und Juan José Sánchez vom Instituto Jovellanos in Xixón (sp. Gijón) an. Für sie war das bable, das den anderen romanischen Sprachen der Iberischen Halbinsel an die Seite gestellt wurde, ein zu schützendes Kulturgut. Man regte den standardsprachlichen und literarischen Ausbau an, trat für seinen Unterricht an den Schulen und für seine Verwendung in den Medien ein und man wollte wieder die alten Ortsnamen einführen. Später wurde der pejorative Sprachenname bable durch den regional motivierten asturiano ersetzt. Von 1976 an wurden Asturianischkenntnisse durch Sprachkurse in Uviéu, Xixón und Avilés verbreitet. Es folgten Ansätze zu seiner Einführung in den Schulunterricht und in die Medien. Während der Zeit der Vorbereitung der Wahlen zu den Cortes bildete sich 1977 eine kleine Partei, die sich für einen asturianischen Regionalismus einsetzte. In diesem politischen Klima wurden Forderungen nach einem Autonomiestatut für Asturien laut und nach Förderung der asturianischen Sprache und Kultur. Bei den Wahlen scheiterten jedoch die regionalistischen und nationalistischen asturianischen Gruppen. Auf der Linie des Wirkens des Conceyu Bable liegt die Gründung der Academia de la Llingua Asturiana (1980) durch den Consejo Regional de Asturias. Es ist bedeutsam, dass die Akademie eine Einrichtung der asturianischen Regierung ist. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Normierung des Asturianischen. Sie legt dabei den mündlichen Sprachgebrauch zugrunde. Zu ihren Aufgaben gehört auch die Normalisierung des Asturianischen, wie man nach dem katalanischen Vorbild überall in Spanien die Bemühungen um die Übernahme einer Minderheitensprache durch ihre Sprecher überhaupt und ferner in weiteren Situationen als bisher nennt. Die erste Aufgabe war folglich die Lehrerbildung. Bis 1999 nahmen insgesamt mehr als 1.000 Lehrer an den auf drei Niveaus angebotenen Asturianischkursen und bis zu 22.000 Schüler am
5.13 Das Asturianische
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Asturianischunterricht auf freiwilliger Basis teil (Cano González 1999: 117). Mit der Einrichtung einer Licenciatura en Filología Asturiana für das Hauptstudium an der Universität Uviéu geht die Lehrerbildung von der Akademie auf die Universität über. Eine Oficina de Política Lingüística wurde, ähnlich wie in anderen Autonomen Gemeinschaften, in Konkurrenz zur Academia de la Llingua Asturiana geschaffen. Der Text des Autonomiestatuts von 1981, das 1982 in Kraft trat, sieht jedoch keine cooficialidad (Verwendung des Asturianischen als Amtssprache neben dem Spanischen) vor. Im Sinne der Verfassung genießt die Sprache aber doch den Schutz des Autonomiestatuts. Sie hat allerdings nur den Status einer “modalidad lingüística”. Im Autonomiestatut bezieht sich der Artikel 4 auf die Sprache: ‚Das Bable soll Schutz genießen. Seine Verwendung, seine Verbreitung in den Massenmedien und sein Unterricht sollen gefördert werden. Dabei ist in jedem Fall Rücksicht zu nehmen auf die Ortsvarianten und die Freiwilligkeit bei seiner Erlernung‘ (Cano González 1999: 122; meine Übersetzung). Zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Asturianischen als Amtssprache neben dem Spanischen und der Durchsetzung einer Standardsprache gegenüber der dialektalen Vielfalt ist ein Streit entbrannt, dessen Ausgang offen ist. Die Asturianer, besonders die jüngere Generation, wünschen zu zwei Dritteln eine öffentliche Förderung ihrer Sprache. Bei einer Neufassung des Autonomiestatuts, die sich 2006 in der Diskussion befindet, steht auch die Frage an, ob das Bable zur Amtssprache neben dem Spanischen erhoben wird. Die Zahl der Sprecher, die trotz Hispanisierung noch des Asturianischen mächtig sind, wird einer 1985 in der Region durchgeführten Umfrage zufolge auf ca. 30 %, d. h. ungefähr 350.000 Personen geschätzt. Dies ist die demographische Basis, von der aus die Anerkennung und Durchsetzung einer asturianischen Standardsprache erreicht werden soll.
5.13.4 Normierung Die Standardisierung des Asturianischen kann sich auf keine mittelalterliche Literatursprache stützen (García Arias 1995: 623). Vereinzelte Bemühungen um eine asturianische Orthographie gab es im 19. und 20. Jahrhundert. Die ersten umfassenden Normes ortográfiques del Bable wurden jedoch erst 1978 vom Conceyu Bable aufgestellt. Die Academia de la Llingua Asturiana führte 1981, 1985 und 1989 diese Kodifizierung fort. Die letzte Ausgabe der Orthographie erschien unter dem Titel Normes ortográfiques y entamos normativos. Die Kodifizierung einer einheitlichen Orthographie war dadurch erschwert, dass es noch keine das gesamte Sprachgebiet berücksichtigende Schreibung gegeben hatte. Der Vorzug unter den westlichen, den östlichen und den zentralen Dialekten um Uviéu herum wurde den zentralen gegeben, die schon im Mittelalter außerhalb des Zentrums bevorzugt worden waren. Im Zentrum des Sprachgebiets leben ca. 80 % der Asturianer. Diese am stärksten industrialisierte Region ist
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die dynamischste, aber auch die am meisten hispanisierte. Daher liegt der Normierung nicht die im Vergleich mit dem Spanischen charakteristischste, divergenteste Sprache, sondern eine dem Spanischen nahestehende Kontaktvarietät zugrunde. Die Rechtschreibung bemüht sich daher, möglichst keine Divergenzen zum Spanischen einzuführen. Nach einer zunächst nur ansatzweise normierenden Grammatik (Cano González et al. 1976) liegt seit 1998 eine Grammatik der Akademie vor, die eine flexible Normierung anstrebt. In der Syntax lässt man jede im Sprachgebiet vorkommende Struktur zu. Viele Lösungen bleiben einem sich herauszubildenden Usus überlassen. Seit Kurzem existiert mit dem 70.000 Einträge umfassenden Diccionariu de la Academia de la Llingua Asturiana ein normatives asturianisches Wörterbuch, nachdem zuvor mehrere erschienen waren, die als Vorstufen dazu dienen konnten. Es besteht bei der Selektion des Wortschatzes die Schwierigkeit, den Abstand zum Spanischen zu wahren oder wieder einzuführen und gleichzeitig Entlehnungen aus dieser Sprache zuzulassen. Das Asturianische wird in der Literatur weiter ausgebaut. Es wird ansatzweise in die Schulen und ephemer in die Medien eingeführt. Die Kirche fördert traditionell das Asturianische: Eine religiöse Literatur existiert nachweislich seit dem 18. Jahrhundert. Die Akademie fördert die wissenschaftliche Prosa im Bereich der philologischen Forschung mit der Zeitschrift Lletres Austurianes (1982–) und mit Cultures. Revista Asturiana de Cultura (1990–).
Bibliographischer Kommentar
Die Herausgeber des LRL haben im Band VI, 1: 1992: 681–693, und im Band II, 2: 1995: 618–649, dem Präsidenten der Academia de la Llingua Asturiana, Xosé Lluis García Arias, dem Autor einer historischen Grammatik des Asturianischen (1988), Gelegenheit gegeben, seine Auffassung von Geschichte und Standardisierung des Asturianischen zu verbreiten. Unter den Werken, in denen die Schaffung einer Standardsprache abgelehnt wird, seien von Neira eine Darstellung der Struktur und Geschichte des Bable (1976) sowie der Sprachkontaktsituation (1982) erwähnt. Als Einführung in die für das asturianische Selbstverständnis so wichtige ältere Literatur kann Díaz Castañón 1976 gelesen werden. Eine Einführung in die heutige Situation des Asturianischen enthält Academia de la Llingua Asturiana 1987 und 21997 sowie Cano González 1999. Über die Normalisierungsmaßnahmen informiert Xunta pola Defensa de la Llingua Asturiana 1996 und für eine Normalisierung setzt sich d’Andrés 1998 ein. Eine umfassende Darstellung der Sprachplanung des Asturianischen gibt Bauske 1995.
5.14 Das Galicische Der Sprachraum des Galicischen umfasst die heutigen spanischen Provinzen A Coruña (sp. La Coruña), Lugo, Pontevedra und Ourense (sp. Orense) und greift östlich davon nach Asturien bis zum Navia und in die Provinzen León und Zamora aus (Abb. 5.6 und 5.7.
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5.14.1 Vom Lateinischen zum Galicisch des Mittelalters Das Gebiet, zu dem das heutige Galicien gehört, wurde kurz vor unserer Zeitrechnung erobert und 216 n. Chr. mit dem Namen Gallaecia zu einer eigenen, einen Teil des heutigen Asturiens und des Nordens Portugals umfassenden Provinz. Dieser Name setzt sich als pt. gal. Galiza und gal. sp. Galicia (dieser Name der Region ist zugleich der offizielle galicische Name Galiciens) fort. Die Latinisierung brachte wahrscheinlich das Lateinisch der Baetica in diese Region (Meier 1930: 88–100; 1941: 63–99), die durch die keltische Castra-Kultur geprägt war. Die Herrschaft der Sueben in nachrömischer Zeit hatte zur Folge, dass Galicien als Sprachraum von den übrigen Gebieten der Iberischen Halbinsel isoliert wurde. Innersprachlich wirkte sich dagegen ihr Einfluss weniger aus: Personen- und Ortsnamen, einige Substantive und Verben. Die arabische Herrschaft dauerte nur kurze Zeit, schuf aber eine neue politische und mehr und mehr auch sprachliche Grenze nach Süden hin. Die diatopisch sicher differenzierte, in ihrer Differenziertheit heute aber nicht mehr erfassbare Sprache Galiciens und Portugals war bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts eine einzige historische Sprache, die jedoch auch auf der Ebene der Schriftsprache zwischen Galicien und Portugal Unterschiede aufwies. Die galicischen Sprachwissenschaftler weisen darauf hin, dass das Galicische des Mittelalters außerdem eine vollständige Sprache im Sinne der damaligen Zeit gewesen sei. Diese Tatsache spielt eine große Rolle bei der Aufstellung und Anwendung von Kriterien für die Normierung des Galicischen. Wenn die Schaffung einer galicischen Standardsprache geschichtlich kohärent begründet werden sollte, müsste die Übereinstimmung mit dem mittelalterlichen Galicisch in den individuellen Zügen dieser Sprache gegenüber dem Portugiesischen und dem Spanischen gesucht werden. Wann das Romanische Galiciens als Sprache angesehen wurde, die vom Lateinischen verschieden ist, kann man nicht genau rekonstruieren. Das Galicische ist frühestens von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zur Aufzeichnung von Predigten, vom Ende desselben Jahrhunderts in der Lyrik und von ca. 1230 an in Urkunden verwendet worden. Als Sprache der Lyrik war es eine überregionale Literatursprache im Westen und Zentrum der Iberischen Halbinsel ähnlich wie das Okzitanische von Südfrankreich bis Oberitalien und Katalonien. Es wurde im Laufe des 13. Jahrhunderts also Schriftsprache und im 14. Jahrhundert allgemein in der Kirche, der Verwaltung und sonstigen aus heutiger Sicht offiziellen Bereichen verwendet. Von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an wurde es auf den bloß privaten Gebrauch eingeschränkt. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hörte die schriftsprachliche Tradition dieser Sprache in Galicien auf, nachdem sie in dieser Region stark hispanisiert worden war.
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5 Die romanischen Sprachen
5.14.2 Das Galicische und das Portugiesische trennen sich Das Bewusstsein von einer sprachlichen Identität zeigt sich im Sprachennamen. Wie überall in der Romania wurde die Sprache im Unterschied zum Lateinischen oder zu anderen Sprachen im Allgemeinen auch in Galicien romanço genannt. In einem lateinischen Text des 12. Jahrhunderts erscheint jedoch schon gallaeco vocabulo und im Jahrhundert darauf lettera gallaeca für eine Art des Sprechens oder Schreibens in der Region. Charakteristisch ist, dass die Sprache im Unterschied zum Lateinischen einfach als lenguagem und auch (a nossa) lenguagem bezeichnet wurde. Der erste romanische Beleg für den Sprachennamen findet sich beim Katalanen Jofre de Foixà in seinen okzitanisch geschriebenen Regles de trobar (um 1290). Dass die Romanen anderer Regionen die Andersheit einer Sprache eher wahrnehmen, ist nur natürlich, aber im 14. und 15. Jahrhundert ist lingoagem galega auch in Galicien belegt. Wenn der Marqués de Santillana um 1449 von lengua gallega o portuguesa spricht, müssen wir annehmen, dass diese Namen bereits auf zwei verschiedene Identitäten bei sprachlicher Ähnlichkeit verweisen (cf. Monteagudo 1994: 172–174). Die zeitliche Trennungslinie zwischen den beiden Sprachen dürfte im 15. Jahrhundert liegen. Für die meisten Linguisten liegt sie um 1350. Von dieser Zeit an wurde der Miño/Minho zu einer internen Sprachgrenze. Wenn ein Bewusstsein von sprachlicher Verschiedenheit entstand, wird dabei die Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Staaten mehr als alle anderen Bedingungen, wie anderswo auch, leitend gewesen sein. Es ist kaum anzunehmen, dass das in Galicien und das in Portugal gesprochene Romanisch strukturell sehr verschieden waren. Wenn eine Differenzierung eintrat, müssen wir sie in erster Linie auf den vordringenden spanischen Einfluss im Galicischen zurückführen, der umso tiefer gehen konnte, als Galicien kein eigenes politisches und kirchliches Zentrum hatte. In Portugal dagegen setzte sich, wie wir festgestellt haben (cf. die Behandlung des Galicischen als Fallstudie in 5.0.2), das Galicische als Gemein- und als Schriftsprache kontinuierlich fort. Durch die Eigenstaatlichkeit und die Verlegung des Zentrums des Landes von Guimarães nach Coimbra und Lissabon änderte das Galicische in Portugal seine Orientierung und wurde zum Portugiesischen. Das geschriebene Galicisch des Mittelalters geht also nicht unter, wie man immer wieder liest, es setzt sich nur in Galicien nicht fort und verändert in seiner von Galicien getrennten Geschichte so sehr seine Gestalt, das diese Sprache von den Galiciern nicht mehr als eigene anerkannt wird. Das Verhältnis zwischen Galicisch und Portugiesisch ist also strukturell nicht anders als das zwischen Kastilisch (als Dialektgruppe) und Andalusisch sowie zwischen dem Katalanischen Kataloniens und dem Katalanischen des Königreichs València. Durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Staaten gingen jedoch Galicisch und Portugiesisch, im Gegensatz zu dem in seinen Regionen sich ebenfalls differenzierenden Katalanisch, sehr deutlich verschiedene Wege. Bei der Normierung einfach auf dem Galicisch des Mittelalters aufzubauen, erweist sich demnach als äußerst schwierig. Das Galicische des Mittelalters, das im
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Grunde den Status einer Amtssprache hatte, wird nicht als leitend für den heutigen Sprachgebrauch betrachtet. Es ist konsequent, wenn sich die heutigen Sprachplaner nur in Einzelheiten auf das Galicische des Mittelalters beziehen. Wollte man sich stets auf die Sprache des Mittelalters berufen, so müsste man feststellen, dass diese in Galicien eben keine Kontinuität hat. Wollte man sich auf die schriftsprachliche Kontinuität berufen, müsste man an die portugiesische Standardsprache anknüpfen. Deren Geschichte ist aber die Geschichte der Sprache eines fremden Landes, an der die Galicier so gut wie keinen Anteil nahmen, wenn man von den Galiciern absieht, die nach Portugal auswanderten. So erklärten denn auch die proportugiesischen Sprachplaner das Portugiesische nicht zu ihrer Standardsprache, sondern nahmen sie nur als Modell, insbesondere für die Orthographie und die Enthispanisierung.
5.14.3 Hispanisierung Von der portugiesischen Standardsprache trennt die Galicier die Hispanisierung ihrer Sprache, ihrer Institutionen und ihrer Gesellschaft. Die kastilischen Könige, zuerst Ferdinand III., dann vor allem Alfons X., verwendeten als Kanzleisprache im Verkehr mit Galicien das Spanische. Die Galicier antworteten anfangs auf Lateinisch, was nur bedeuten kann, dass sie kein Spanisch beherrschten, später auf Spanisch. Für den internen Schriftverkehr wurde Galicisch verwendet. Dadurch, dass das politische Zentrum außerhalb des Landes lag, konnte sich kein eigenes sprachliches Ausstrahlungszentrum herausbilden. Die Kirche und der Adel hätten diese Funktion übernehmen können. Weder die Kirche noch der Adel nahmen sie aber wahr. Der Adel stand bei den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Königen regelmäßig auf der Verliererseite. Er wurde bei der Besetzung von Ämtern in Kirche und Verwaltung nicht berücksichtigt, und die Lehen wurden an den kastilischen Adel vergeben. Der einheimische Adel war gegen Ende des 15. Jahrhunderts entmachtet oder ersetzt worden. Da die Sprache der neuen Oberschicht das Spanische war, wurde diese Sprache zunächst amtlich neben dem Galicischen und von der Mitte des 16. Jahrhunderts an ausschließlich geschrieben. Die heutige Diglossiesituation in Galicien hat also ihre Ursprünge in der Hispanisierung der Oberschicht zwischen dem Ende des 14. und der Mitte des 16. Jahrhunderts. Das Zentrum der galicischen Kirche, Santiago de Compostela, hatte nicht mehr das Galicische als Sprache, seitdem die Sprache der hohen kirchlichen Würdenträger das Spanische geworden war. Als das Tridentinische Konzil die Volkssprache allgemein als Sprache der Predigt und der Katechese einführte, wurde in Galicien das Spanische beibehalten. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die Hispanisierung habe sich nicht nur auf die Gesellschaft, sondern auch auf die Sprache ausgewirkt, argumentieren diejenigen, die der Meinung sind, dass die Unterschiede zwischen Galicisch und Portugiesisch, soweit sie nicht auf portugiesische Innovationen zurückgehen, durch den Jahrhunderte währenden Einfluss des Spani-
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5 Die romanischen Sprachen
schen herbeigeführt wurden. Eine ausführliche Geschichte des Spanischen in Galicien hätte dieses Problem zu klären, was aber aufgrund der mangelnden Dokumentation schwierig ist. Was die Entwicklung der Sibilanten angeht, kann die Entsonorisierung der stimmhaften Sibilanten bereits ein Phänomen der galicischen Schriftsprache des Mittelalters gewesen sein (Lorenzo 1995: 650–651, 661), die sich darin von der portugiesischen Entwicklung und einigen konservativen galicischen Dialekten unterscheidet. Älteres /s/ und /z/ fallen in /s/ zusammen, /ts/ und /dz/ werden im Allgemeinen stimmlos und entweder als apikoalveolares [s] gesprochen (galicischer seseo) oder als [θ]. /ʃ/ und /ʒ/ fallen in /ʃ/ zusammen und würden, wenn dies doch mit spanischer Interferenz zu begründen ist, dem Entwicklungsstand der spanischen Standardsprache des 16. Jahrhunderts entsprechen. Durch diese Entwicklung entstand ein größerer Unterschied zwischen den konservativen galicischen Dialekten und dem Portugiesischen auf der einen Seite und den hispanisierten galicischen Dialekten auf der anderen (Brea 1994: 84). Die geada bzw. gheada, d. h. die Aussprache von als [h] oder [χ], wird teils als hyperkorrekte spanische Interferenz, was die Stigmatisierung dieser Form erklären könnte, teils als interne Entwicklung gedeutet. Damit einher ging ein kontinuierlicher Prozess der Dialektalisierung des Galicischen. Es wurde eine Unterschichtsprache mit den sie begleitenden negativen Fremdstereotypen in Portugal und in Spanien. Der Mangel an Pflege der Sprache war umso stigmatisierender, als das Spanische sogar die Sprache der Kirche war, sonst der letzte Rückhalt einer Sprache. Einen nur beispielhaften Nachweis der Unterordnung des Galicischen unter das Spanische finden wir im Diccionario de Autoridades, das galicische Wörter ebenso aufführt wie andalusische, aragonesische, murcianische usw., obwohl es nicht in der Einleitung erwähnt wird (Real Academia Española 1726: V). So werden bebedo ‚betrunken‘, can statt perro ‚Hund‘, cantiña ‚Lied‘, febilla als galicische Variante von hebilla ‚Schnalle‘, solla statt suela ‚Scholle‘ und andere galicische Wörter erwähnt. Nur die Wörter der lengua lemosina, d. h. des Katalanischen, gelten als nicht dem Spanischen ‚eigen‘. Vielleicht können wir schon für diese Zeit eine sprachideologische Spaltung annehmen. Nach der allgemeinen Einstellung wäre das Galicische ein Dialekt des Spanischen. Daneben traten aber der Pater Benito Jerónimo Feijoo (1676–1764) und der Pater Martín Sarmiento (1695–1772) in seinen zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Schriften für die Würde dieser Sprache und ihre Gleichstellung mit dem Spanischen ein. Im 18. Jahrhundert wurde das Bürgertum hispanisiert. Es wanderten Leonesen, Kastilier, Katalanen ein, die die Industrialisierung Galiciens und den Handel trugen, allerdings auf einem relativ bescheidenen Niveau. Dadurch und durch die etwas größere Verbreitung der Schulbildung und Kultur nahm die Kenntnis des Spanischen in der galicischen Gesellschaft zu. Seit dieser Zeit entstand ein tiefgreifenderer Sprachkontakt wie überall in Europa in analogen Situationen. Dieses Vordringen des Spanischen wurde, so müssen wir annehmen, von den Galiciern als Fortschritt, nicht als sprachliche Unterdrückung erlebt.
5.14 Das Galicische
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5.14.4 Kontaktvarietäten Der Sprachkontakt schuf verstärkt Interferenzen zwischen den beiden Sprachen. Durch den Sprachkontakt und durch die Tatsache, dass die sozialen Gruppen, vor allem der Adel und die Bürger, die Spanisch sprachen, und die sozialen Gruppen, die Galicisch sprachen, jeweils die Sprache der anderen lernen mussten, entstanden zwei Kontaktvarietäten zwischen dem traditionellen Galicisch und dem Spanischen schlechthin. Das Spektrum der vier Varietäten, die oben im Falle des Sprachkontakts unterschieden wurden (2.4.2.4), identifiziert García (1976; 1985: 109–140; cf. Monteagudo/Santamarina 1993: 144–151) in Galicien: “castellano”, “castellano agallegado” oder “dialecto agallegado del castellano”, “chapurrao” oder “dialecto castellanizado del gallego” und “gallego”. García selbst führt ihre Entstehung auf das 18. Jahrhundert zurück. Da diese Varietäten den frühen Zeugnissen des modernen Galicisch im 19. Jahrhundert bereits zugrunde liegen, erwähnen wir sie an dieser Stelle, obwohl sie in den Einzelheiten mit modernen Beispielen belegt werden. Heute haben diese Varietäten gewiss unschärfere Konturen. Das Spanische, das in sich nicht einheitlich gewesen sein wird, da die Herkunft des spanischsprachigen Adels und Bürgertums regional verschieden war, und das traditionelle Galicisch, das selbst hispanisiert war und es heute noch stärker ist, brauchen wir nicht zu betrachten, sondern wir konzentrieren uns auf die im Konvergenzbereich liegenden Varietäten. Sie gehören mehr oder weniger zum Repertoire derselben Sprecher. Dieses unterscheidet sich in der Hauptsache dadurch, dass das hispanisierte Galicisch oder das galicisierte Spanisch Erst- oder Zweitsprache ist. Diese Sprachen werden in charakteristischer Weise “galego/gallego” oder “castelán/ castellano” genannt. Für das hispanisierte Galicisch verwendet man “chapurrao” und “castrapo”. Die anderen von García verwendeten Ausdrücke sind sprachwissenschaftliche Termini. Die Sprecher des galicisierten Spanisch (“dialecto agallegado del castellano”) behalten beim Übergang vom Galicischen zum Spanischen galicische Sprechgewohnheiten bei. Diese Lernersprache müsste sich progressiv dem in der Schule gelernten oder von der Oberschicht gesprochenen Spanisch angleichen. Dies geschieht aber solange nur teilweise, wie immer neue Gruppen von Galiciern zum Spanischen übergehen. Diese als Lerner- oder als Erstsprache gesprochene Varietät ist durch eine galicische Intonation, die Unterscheidung von offenem und geschlossenen e und o wie im Galicischen, durch seseo, gheada, -iño als Diminutivsuffix, Unterschiede im Artikelgebrauch, in der Morphologie, in der Syntax und im Wortschatz gekennzeichnet (cf. Kabatek 1996). Dies ist die Varietät des Spanischen in Galicien, die nicht nur von Zweisprachigen, sondern auch von denen gesprochen wird, die kein Galicisch gelernt haben. Sie wird heute hauptsächlich in den Städten (“cidades”) und Kleinstädten (“vilas”) gesprochen. Das allgemein gesprochene hispanisierte Galicisch (“dialecto castellanizado del gallego” oder “chapurrao”) wird phonetisch an das Spanische adaptiert. Statt gal.
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coello ‚Kaninchen‘ sagt man nach dem Muster von sp. conejo im Chapurrao conexo, indem man /χ/ durch /ʃ/ ersetzt. Die Opposition zwischen offenem und geschlossenem e und o wird zunehmend zugunsten eines jeweils einzigen, eher offen realisierten /ɛ/ oder /ɔ/ aufgegeben. Interferenzen gibt es in allen sprachlichen Bereichen, am meisten aber im Wortschatz. Diese Varietät wird in den Dörfern, in sonstigen kleineren Orten und z. T. von der Unterschicht und der unteren Mittelschicht in den Städten gesprochen. Die Sprecher dieser Varietät haben eine negative Einstellung zu ihrer Sprache. Die heutige galicische Standardsprache entwickelte sich aus einer entweder stärker dialektal oder stärker hispanisiert gesprochenen Sprache, der ein überregionales Zentrum fehlte.
5.14.5 Rexurdimento Das Rexurdimento (die ‚Renaissance‘ des Galicischen, cf. it. Risorgimento) lässt man gewöhnlich mit der Veröffentlichung der Cantares gallegos (1863) von Rosalía de Castro (1837–1885) beginnen. Man legt damit der Renaissance des Galicischen die Rezeption seiner Literatur, besonders seiner Dichtung zugrunde. Rosalía de Castro war zu ihrer Zeit wirklich volkstümlich. Für die Entstehung einer neuen Tradition ist aber die Produktion von Texten relevant. Es gab die Entscheidung zu treffen, mit welcher orthographischen Konzeption das Galicische zu verschriften ist, welche Varietät die Basis sein sollte und ob die Texte überhaupt gedruckt werden sollten. Eben deshalb müssen wir geschichtlich von der Produktion ausgehen. Danach ist jedoch die Rezeption wichtig, denn ohne sie bleibt die literarische Produktion folgenlos. Das Galicische wurde vor dem Rexurdimento gelegentlich geschrieben (Carballo Calero 1981: 40, 41, 54, 58, 59). Es war aber Reflexliteratur (5.1.2), eine Literatur, die in Unterordnung unter das Spanische neben dem Spanischen geschrieben wurde und daher als Dialektliteratur zu betrachten ist. Für diese Texte und für die antinapoleonische Propaganda, durch die der Landadel und das Bürgertum die Landbevölkerung für das gemeinsame Ziel der Befreiung von den napoleonischen Truppen erreichen wollten (Bochmann 1989, Brumme in Bochmann (unter der Leitung von) 1993), gab es bei der Selektion der Varietäten keine andere Wahl, als das gesprochene dialektale und hispanisierte Galicisch der damaligen Zeit zu verwenden und der Verschriftung die spanische Orthographie zugrunde zu legen, denn es existierte keine eigene schriftsprachliche Tradition mehr und man konnte auch nicht an das mittelalterliche Galicisch anknüpfen, da die Texte noch nicht veröffentlicht und daher unbekannt waren. Mehr noch: Erst um 1840 erhielt man eine über Martín Sarmiento vermittelte Kenntnis von der galicischen Literatur des Mittelalters (Hermida 1992: 62–63). Das Spanische als Rechtschreibmodell zu nehmen, beinhaltet, die Unterordnung des Galicischen unter das Spanische implizit anzuerkennen. Für das Verständnis der standardsprachlichen galicischen Entwicklung ist es wesentlich, den unterschiedlichen Status der
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galicischen Literatur als Reflexliteratur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Die verwendete Sprache gibt darüber selbst keinen Aufschluss, denn in beiden Epochen liegt derselbe Typ von gesprochener Varietät der Verschriftung zugrunde. Während aber davor Galicisch komplementär zum Spanischen und als Dialekt geschrieben wurde, tritt nunmehr das Galicische als Literatursprache an die Stelle des Spanischen, wenigstens in der lyrischen Dichtung. Ob aber diese Dichtung für ihre Autoren selbst den Status einer eigenen Literatur oder denjenigen einer Reflexliteratur gehabt hat, muss in jedem Einzelfall gesondert festgestellt werden. Wenn Rosalía de Castro das Galicische einen Dialekt nennt, wird ihre Dichtung von der Produktion her als Reflexliteratur anzusehen sein. Sie mag aber als Literatur mit eigenem Anspruch rezipiert worden sein. Zum Vergleich: Die Ode A la pàtria von Bonaventura Carles Aribau wurde nachträglich in Katalonien als der Beginn einer eigenen literatursprachlichen Tradition in der Dichtung gewertet. Im Unterschied zum Galicischen konnte man aber noch auf eine literatursprachliche Tradition zurückgreifen. Es konnte das hispanisierte Katalanisch des 19. Jahrhunderts, “el català com ara es parla“ (‚das heute gesprochene Katalanisch‘) genannt, nachdem es als Grundlage der Orthographie in Erwägung gezogen worden war, deshalb abgelehnt werden, weil die Tradition des traditionell geschriebenen Katalanisch immerhin noch, wenn auch schwach, fortbestand. Das erste gedruckte galicische Werk ist Os rogos d’un gallego (‚Die Bitten eines Galiciers‘, 1813) von Manuel Pardo de Andrade, der erste größere Erfolg scheint A gaita gallega (‚Der galicische Dudelsack‘, 1853) gewesen zu sein, ein didaktisches Werk von Juan M. Pintos, dem thematisch das katalanische Lo gayté del Lobregat (1841) von Joaquim Rubió i Ors vorausging. Als 1861 in A Coruña und in Pontevedra die Xogos Florais nach dem Modell der Jocs Florals (‚Blumenspiele‘) begangen wurden, die zwei Jahre davor in Barcelona in Erinnerung an mittelalterliche Dichterwettstreite stattgefunden hatten, konnten die Dichter, die zur Hälfte Galicisch schrieben, darunter Rosalía de Castro, bereits auf Verschriftungsmodelle zurückgreifen. Eine bescheidene Schrifttradition bestand also vor Rosalía. Die Optionen und die Weiterentwicklung dieser Tradition müssten noch gewürdigt werden (dazu jedoch Hermida 1992: 25–37). Zu würdigen bleibt auch die Verwendung des Galicischen und des Spanischen als mündliche und schriftliche Erst- und Zweitsprache der Autoren, die galicisch schreiben. Für die Entwicklung des Galicischen ist die Kenntnis des sprachlichen Gesamtrepertoires, über das die Autoren verfügen, wesentlich. Die auf Spanisch schreibende galicische Schriftstellerin Emilia Pardo Bazán (1851–1921) trifft dazu eine wichtige Feststellung: ‚Heute besitzt das Galicische wie das Katalanische und das Provenzalische eine neue eigene Literatur. Aber im Unterschied zu diesen beiden südromanischen Sprachen sprechen diejenigen, die schreiben, das Galicische nicht‘ (in Alonso Montero 1973: 164; meine Übersetzung). Diese Feststellung gilt auch für Rosalía de Castro. Die Geschichte des Repertoires der von den Autoren geschriebenen und gesprochenen Sprachen muss in die Geschichte des Galicischen einbezogen werden. Die diglossische Situation Galiciens spiegelt sich
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in ihrem Leben wider. Wir haben die ziemlich einzigartige Situation, dass Sprecher des Spanischen, die oft noch nicht einmal ursprünglich galicischer Herkunft, sondern zugewandert waren, das Galicische als Kultursprache mindestens für die Lyrik verwendeten, während umgekehrt Unterschichtsprecher des Galicischen den Übergang vom Galicischen zum Spanischen in jeder Hinsicht anstrebten. Das Rexurdimento des Galicischen wurde also von Sprechern getragen, die Spanisch als Erstsprache hatten. Die lyrische Phase des Galicischen dauerte bis 1880, dem Jahr, in dem der erste galicische Roman erschien und damit die literarische Prosa entstand: Maxina ou a filla espúrea (‚Maxina oder die natürliche Tochter‘) von Marcial Valladares. Die für die Anerkennung einer Sprache als Kultursprache so wichtige Sachprosa wurde später in der Zeitschrift Nós (1920–1935) veröffentlicht. Für die Einschätzung der Gesamtentwicklung müssten wir allerdings mehr als die nur in galicischer Sprache geschriebene Literatur berücksichtigen. Für die psychisch-soziale Entwicklung der Galicier war und ist Literatur als Ausdruck ihrer Identität wesentlich. Neben der volkstümlichen, oral tradierten Literatur gab es aber kaum „schöne“ Literatur vor dem 19. Jahrhundert. Feijoo und Sarmiento schrieben wie auch ihre katalanischen Zeitgenossen gelehrte Werke und essayistische, didaktische Prosa. Schöpferische Literatur wurde, unabhängig davon, wie man ihr Niveau beurteilen will, erst auf Galicisch geschrieben, wenn man von Emilia Pardo Bazán und den Späteren absieht. Die Entstehung der neuen galicischen Literatur ist nicht nur nicht von der Sprache zu trennen, sondern auch nicht vom neuen geschichtlichen Bewusstsein. Dieses fand seinen Ausdruck in den heutiger Kritik zwar nicht standhaltenden, aber damals ideologisch wichtigen historischen Werken von Benito Vicetto und Manuel Murguía (Santamarina 1994: 252–253). Diese Werke sind jedoch nicht nur Ausdruck der neuen Identität, sondern sie bereiteten das Rexurdimento mit der Verbreitung von Kenntnissen über die Geschichte Galiciens im Mittelalter vor. In den Jahren nach den Xogos Florais erschienen sprachdidaktische Werke, so eine Grammatik, die Spanischsprachigen die Erlernung des Galicischen erleichtern sollte (1864), oder ein galicisch-spanisches Wörterbuch (1865), dessen Titel auf eine Hispanisierungsintention verweist. Weitere Werke dieser Art folgten bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein. Von 1875 an wurde die Literatur des Mittelalters in Publikationen zugänglich und konnte somit die geschriebene Sprache beeinflussen. Unter den Texten sind besonders der Cancioneiro da Vaticana, der Cancioneiro de Colocci-Brancuti, der Cancioneiro da Ajuda und die Cantigas de Santa Maria von Alfons dem Weisen zu erwähnen. Durch sie wird das sprachliche Selbstbewusstsein der Galicier auch geschichtlich gefördert. Bis zum Bekanntwerden der mittelalterlichen Literatur konnte nur die dialektal gesprochene Sprache mit ihrer jungen literarischen Tradition verschriftet werden. Die gesprochene Sprache war zugleich hispanisiert, wies aber bis in die literatursprachlichen Zeugnisse hinein, die sich bemühten, eine überregionale Sprache zu schreiben, eine erhebliche Variation auf. Für die Dialektik der Normierungsbemühungen bedeutet dies, dass die Galicier die Hispanisierung oder eine gewisse Hispanisierung ihrer
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Sprache anerkennen mussten, weil diese einerseits schon zu ihrer Tradition gehörte, andererseits lehnten sie aber die sehr ländlichen, obwohl ursprünglicheren Dialekte wegen des geringen sozialen Status ihrer Sprecher ab. Die bis dahin eher impliziten Normierungsentscheidungen sollten in der Folgezeit in Frage gestellt werden. Parallel zum schriftsprachlichen Ausbau fand eine politische Entwicklung statt, die sich anfangs als „Provinzialismus“ verstand, der Bestrebung, die vier Provinzen, in die Galicien 1833 eingeteilt worden war, wieder in eine einzige zusammenzuführen, die wie in anderen Regionen zum „Regionalismus“ wurde, was zur Gründung der Real Academia Gallega (heute: Galega) (1905) führte, und im nationalistischen, Kultur und Politik verbindenden Manifest von Antón Vilar Ponte (Nacionalismo gallego. Nuestra afirmación regional) 1916 gipfelte. Doch war zur Zeit der Ausrufung der Zweiten Republik (1931) die galicische Bewegung noch uneinig. Erst der nach der Ausrufung der Republik gegründete Partido Galeguista brachte 1932 eine erste Fassung eines Autonomiestatuts zuwege, das nach Änderungen von der überwältigenden Mehrheit der Galicier angenommen wurde, aber infolge des Ausbruchs des Spanischen Bürgerkriegs nicht in Kraft trat.
5.14.6 Vom Franco-Regime zum Autonomiestatut Während der Diktatur Francos wurden alle sprachpolitischen und kulturellen Bestrebungen der vorausgehenden Zeit unterdrückt. Die galicische Bewegung erlitt aber auch durch die zur Landflucht führende Krise der Landwirtschaft und die fortschreitende Industrialisierung Galiciens Rückschläge, denn die Galicier zogen nicht in ihre eigenen Städte, sondern emigrierten nach Amerika (besonders nach Buenos Aires und Havanna), wohin sie den aus politischen Gründen Ausgewanderten folgten, suchten Arbeit in den Industriestädten Kataloniens und des Baskenlandes sowie in den stärker industrialisierten Ländern Europas. In dieser Zeit wurde Buenos Aires ein wichtiges Zentrum der galicischen Kultur. Die Erfahrung einer zum Autonomiestatut führenden Demokratisierung vor dem Spanischen Bürgerkrieg und die Opposition gegen die Diktatur Francos vereinten die verschiedenen politischen Kräfte Galiciens, die ihre politischen Forderungen mit nationalistischen verbanden. Die nationalistischen Forderungen der historischen Gemeinschaften fanden ihren symbolischen Ausdruck in der Forderung nach Einführung auch des Galicischen als Amtssprache in einer künftigen autonomen Region. Da diese Forderungen nach der spanischen Verfassung von 1978 zu einem großen Teil erfüllt wurden, ist die Zeit seit der Einführung des neuen, 1980 verabschiedeten und 1981 angenommenen Autonomiestatuts die wichtigste Epoche in der Geschichte des Galicischen. Aus diesem Grunde müssen wir vom heute erreichten Stand die Betrachtung der Geschichte des Galicischen und vor allem seine jüngste Geschichte in Perspektive setzen, auch wenn die Entwicklung der galicischen Institutionen noch nicht abgeschlossen ist. Denn 2006 wurde ein neues Autonomiestatut verhandelt.
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Ich stelle kurz die Normalisierung oder Statusplanung und die Normierung oder Korpusplanung dar. Diese Entwicklungen griffen insbesondere im Fall des Galicischen ineinander, weil diese Sprache in wenigen Jahrzehnten einen Wandel vollziehen musste, der in anderen Sprachen Jahrhunderte dauerte.
5.14.7 Normalisierung Beginnen wir mit der Normalisierung. Der erste wichtige Schritt bestand darin, dass die Mitglieder der von 1916 an in mehreren Städten gegründeten Irmandades da Fala (‚Bruderschaften der Sprache‘), die das Galicische als Kultursprache hatten (natürlich immer neben dem Spanischen), es zu ihrer geschriebenen und gesprochenen Sprache schlechthin machten. Erst sie hoben den von Emilia Pardo Bazán benannten sprachlichen Zwiespalt in ihren Zirkeln auf. Bis zum Bürgerkrieg nahm die Verwendung des Galicischen in volkstümlicher Literatur und im Theater zu, es wurden Zeitschriften und Verlage gegründet und es wurde schließlich die Forderung nach Einführung dieser Sprache in der Schule erhoben. Nach dem Bürgerkrieg dauerte es einige Jahre, bis das Galicische überhaupt wieder gedruckt werden durfte. 1949 kam der erste Gedichtband heraus. 1950 wurde der bis heute wichtige Verlag Galaxia in Vigo gegründet. Das durch eine Gruppe um Constantino García gegründete Instituto da Lingua Galega an der Universität Santiago de Compostela widmet sich der Erforschung des Galicischen, schafft Unterrichtswerke, ein Wörterbuch, einen Sprachatlas. Seit 1979 wurde der Galicischunterricht erlaubt, er war jedoch an die Erfüllung bestimmter Vorbedingungen geknüpft. Doch bereits die Lei de Normalización Lingüística von 1983 sah die Erlernung des Galici schen als Recht und Pflicht an, eine Bestimmung, die in dieser weitgehenden Form aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils zurückgenommen werden musste. Jeder Bürger hat aber in den Institutionen und auf allen Ebenen des Bildungswesens das Recht, die Amtssprache seiner Wahl zu verwenden. Er kann dieses Recht aber nicht in Anspruch nehmen, wenn die Staatsbediensteten keine standardsprachliche galici sche Ausbildung erfahren haben. Seit 1985 gibt es galicische Sendungen im Rundfunk und im Fernsehen.
5.14.8 Normierung Für die Normierung kann ein dialektales und hispanisiertes Galicisch allein keine Orientierung geben, denn man kann einer Sprachplanung nicht ein noch nicht existierendes sprachliches Wissen zugrunde legen. Die Sprachplaner müssen bei der Selektion eines Modells die innersprachliche Variation reduzieren und Anforderungen an die innersprachliche Kohärenz ihrer Lösungsvorschläge erfüllen. Nach der frühen Verschriftung des dialektalen und hispanisierten Galicisch strebten die Autoren zuneh-
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mend eine überregionale Orientierung an. Der Abstand zu den gesprochenen Varietäten des Galicischen und zum Spanischen wurde beim Ausbau vergrößert durch Entlehnungen von Formen aus dem mittelalterlichen Galicisch und aus dem Portugiesischen. Interessanterweise kann der Abstand nicht Grundlage der Orthographie und der Anerkennung des Galicischen als Standardsprache sein, sondern er ist das Ziel des Ausbaus. Die Selektion der galicischen Sprachnorm wurde von einer Diskussion um die Orthographienormen begleitet, in deren Mittelpunkt der Abstand zum gesprochenen Galicisch, zum Spanischen und zum Portugiesischen stand. Der Abstand ist in allen Fällen relativ gering. Daher ist die Diskussion um die Kriterien der Rechtschreibung und um verschiedene sprachideologische und politische Ausrichtungen relevanter als die normative Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Lösung im Einzelfall. Die Normierungsvorschläge vor der Veröffentlichung der Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego der Real Academia Gallega von 1970, die auf der Praxis des Verlags Galaxia basierten, fanden kaum Beachtung. Die Normas der Akademie führten mit den Bases prá unificación das normas lingüísticas do idioma galego (1977) des Instituto da Lingua Galega zu den von beiden Institutionen befürworteten Normas ortográficas e morfolóxicas do idioma galego (1982), die von der Xunta de Galicia übernommen und der Lei de Normalización Lingüística (1982) des galicischen Parlaments beigefügt wurden. In dieser Orthographie spiegelt sich die Zugehörigkeit Galiciens zu Spanien wider in der Anerkennung zum einen der Hispanisierung, zum anderen aber auch der eigenen schriftsprachlichen Tradition, denn seine heutige Identität hat Galicien als spanische Region herausgebildet. Der Prozess der für die galicische Orthographie relevanten Selektion der Standardsprache sollte für diejenigen, die keine konkrete intuitive Kenntnis des Varietätenspektrums haben und sich deshalb auf die Fachliteratur stützen müssen, sehr viel expliziter dargestellt werden als bisher (hilfreich ist jedoch Fernández/Monteagudo 1995). Da der galicischen Orthographie nicht die Selektion einer bestimmten Varietät zugrunde liegt, ist sie für jeden sprachlichen Bereich in anderer Weise vonstattengegangen. Das phonologische System entspricht, soweit es in der Orthographie zum Ausdruck kommt, einem dem spanischen ähnlichen System bzw., wenn die Ähnlichkeit auf Hispanisierung zurückgeführt wird, einem im Wesentlichen hispanisierten Galicisch. Die Morphologie dagegen folgt einem anderen Selektionskriterium, das für die Anfangsphase im 19. Jahrhundert mit ‚Dialektalismus‘, ‚Interdialektalismus‘ und ‚Supradialektalismus‘ beschrieben wird. Diese Kennzeichnungen können verschiedenen Phasen in der Geschichte der Diskussion um die Standardsprache entsprechen oder aber als bei verschiedenen Autoren in unterschiedlicher Weise dominierende Ausrichtungen gedeutet werden (Fernández/Monteagudo 1995: 115). In der Morphologie dominiert das Galicische des Zentrums und des Westens, Regionen, in denen die größte Bevölkerungsdichte herrscht. Unter den Varianten wurde stets eine einzige als normative Form ausgewählt. Die Normierung der galicischen Orthographie fiel mit der Ausdifferenzierung des Spektrums der politischen Parteien nach dem Tode Francos zusammen. Der Streit um
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die galicische Orthographie brachte die verschiedenen auseinanderstrebenden Identifizierungen mit den in Galicien gesprochenen Varietäten sowie den Zusammenhang mit dem Spanischen als Staats- und Nationalsprache und mit dem Portugiesischen als unmittelbar verwandter Sprache zum Ausdruck. Da die Galicier sich auf nationalstaatlicher Ebene gegenüber Portugal als Spanier fühlen, betonen sie in Abgrenzung ihrer sprachlichen Identität den Unterschied zum Portugiesischen. Diesem Unterschied verleihen sie durch eine offizielle Orthographie Ausdruck, die z. B. in der Verwendung von ñ statt nh, von ll statt lh besteht. Die Normierer haben also das Problem, dass die Orthographie nicht nur die Rechtschreibung selbst in Übereinstimmung mit einer mehrheitlich gesprochenen Varietät oder mit einer Varietät, die mehrheitlich von den Galiciern angestrebt wird, akzeptiert werden soll, sondern dass die orthographischen Lösungen für Anhänger und Gegner deutlich sichtbar den Stempel einer politischen Meinung aufgeprägt tragen und dass diese Meinungen in der heutigen Medienkultur eine größere Verbreitung erfahren als in früheren Zeiten. Bereits das Zitieren von bestimmten Autoren wird in diesem Kontext nicht allein als sachliche, sondern als politische Auseinandersetzung verstanden. Der Streit um die Rechtschreibung wurde 1973 vom portugiesischen Sprachwissenschaftler Manuel Rodrigues Lapa ausgelöst. Lapa empfiehlt eine “razoável integração” – eine ‚vernünftige Integration‘ – (1973: 283) des Galicischen ins Portugiesische. Das Register, das er in Erwägung zieht, ist die Literatursprache. Den Autoren führt er die Millionen künftiger Leser vor Augen, die sie durch eine Orientierung am portugiesischen Standard und durch eine Entdialektalisierung erreichen würden. Damit würde das Galicische zu der Literatursprache zurückfinden, die im Hochmittelalter Galicien und Portugal gemeinsam gewesen sei. Innersprachlich betrachtet wird eine Verringerung des Abstands zum Spanischen durch eine Verringerung des Abstands zum Portugiesischen ersetzt. Da eine Normierung im Allgemeinen ihre Funktion so gut erfüllt wie eine andere, ist die Frage nach dem Modell des Ausbaus des Galicischen zu einer Standardsprache bzw. seine Umstandardisierung nicht auf dieser Ebene zu beantworten. Und deshalb ist die Frage, ob das Galicische autonom standardisiert oder lusitanisch umstandardisiert werden soll, auch sprachtheoretisch oder sprachgeschichtlich nicht zu entscheiden. Eine Entscheidung ist politisch zu treffen und muss die geschichtlich gewordenen Existenzbedingungen des Galicischen im nationalstaatlichen spanischen Kontext berücksichtigen, von denen oben die Rede war. Die „Reintegrationisten“ (cf. Carballo Calero 1981: 21–22) unterschätzen, dass Normierung und Normalisierung des Galicischen auf ein relativ geringes Interesse bei den Politikern stoßen, woher auch immer die Ideen zur Normierung und Normalisierung kommen mögen. Dieses geringe Interesse ist dadurch zu erklären, dass die Sprachpolitik bei der Mehrheit der Wähler nicht sonderlich populär ist. Es wird von den Reintegrationisten auch nicht geklärt, wie denn die Alphabetisierung in zwei Sprachen mit recht unterschiedlichen Orthographien und dem dafür erforderlichen höheren Lernaufwand vonstattengehen soll, wenn das Portugiesische in Galicien keine obligatorische Schulsprache ist. Wenn man
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die verschiedenen Positionen einschätzen will, muss man sich noch die Frage nach der praktischen Machbarkeit stellen, wozu auch die politische Durchsetzbarkeit der jeweiligen Position gehört. Als politische Probleme stehen sie somit, das sei noch einmal betont, außerhalb einer im eigentlichen Sinne sprachwissenschaftlichen Fragestellung. Trotz aller Divergenzen hat es in den letzten Jahren eine stärkere freiwillige Annäherung an die portugiesische Orthographie gegeben.
5.14.9 Das galicische Dilemma Wie die Annahme des Autonomiestatuts zeigt, gibt es in Galicien eine sehr positive Einstellung zum Galicischen, jedoch einen sehr gering ausgeprägten politischen Willen, diese Einstellung in die Tat umzusetzen. Nur so ist es möglich, dass die gesetzlich vorgesehene Normalisierung nicht politisch realisiert wird, denn die Politiker brauchen nicht zu befürchten, dass sie wegen mangelnder sprachpolitischer Aktivitäten nicht wiedergewählt werden würden. Dies ist ein galicisches Dilemma, das sich auch auf die Normierungsdiskussion bis heute auswirkt. Die verstärkte Erlernung des Katalanischen in Katalonien hat gezeigt, dass eine bessere Kenntnis des Katalanischen nicht unbedingt zur häufigeren Verwendung dieser Sprache führt. Damit stoßen die auf die Erlernung des Katalanischen wie des Galicischen in den Schulen gerichteten sprachpolitischen Normalisierungsmaßnahmen leicht an eine praktische Grenze. Auch die von den galicischen Jugendlichen positiv bewertete sprachliche Entwicklung seit den 1980er Jahren führt zwar bei einem Großteil der Mittelschicht zu einem Übergang zum Galicischen, die galicischsprachige Mehrheit der Bevölkerung verbindet aber weiterhin ihren sozialen Aufstieg mit der Erlernung und Verwendung des Spanischen (cf. Monteagudo 1997: 533–535).
Bibliographischer Kommentar
Die hier verwendeten Informationen finden sich vielerorts, denn die galicischen Linguisten bemühen sich aus politischen Gründen, den Galiciern die Kenntnis der Geschichte ihrer Sprache zu vermitteln und, soweit andere Spanier erreicht werden sollen, diesen ihren Standpunkt zu verdeutlichen, nicht aber ihre Interpretation. Daher ist der allgemeine Informationsstand ähnlich, die Folgerungen daraus können jedoch verschieden sein. Ich habe zum Teil eigene Akzente gesetzt. Eine frühere Version dieses Kapitels ist als Lüdtke 1999b erschienen. Für eine bibliographische Einführung in die galicische Sprachwissenschaft sei auf Regueira 1996 verwiesen. Die Geschichte der galicischen Schriftsprache im Mittelalter wird in portugiesischen Sprachgeschichten dargestellt. Dabei werden die Wege der Entwicklung betont, die zur Differenzierung des Portugiesischen gegenüber dem Galicischen geführt haben. Aus der Perspektive der galicischen Sprachgeschichte setzt aber das Portugiesische als Gemein- und als Schriftsprache das Galicische des Mittelalters fort (cf. die Hinweise auf portugiesische Sprachgeschichten in 5.15). Die dem Galicischen und Portugiesischen gemeinsame Phase stellen Maia 1986 und Lorenzo in LRL II, 2 (1995): 649–679, dar. Der Sprachenname Galicisch-Portugiesisch ist im Mithridates von Adelung und Vater 1809 wahrscheinlich zum ersten Mal belegt (Lüdtke 1978: 125–126). Die Autoren beziehen sich dabei auf ein
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postum veröffentlichtes Werk von Martín Sarmiento, in dem dieser Sprachenname jedoch noch nicht erscheint. Sarmiento erläutert die Verwandtschaftsverhältnisse von “el idioma Catalan, Asturiano, Gallego, y Portugués, como son dialectos de la Latina, que corrompieron los Godos, los Vandalos, y Suevos; y el idioma Castellano es tambien dialecto de ella, mediante los Wisigodos, por ser todos estos idiomas con-dialectos entre sí, se entienden, á poco estudio, unos a otros, los que los hablan” (Sarmiento 1942: 76). Eine Einführung in die Probleme bzw. die Geschichte des Galicischen geben – in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit – Alonso Montero 1973 (Titel und Werk nehmen einen implizit bleibenden Bezug auf Melià 1970), Carballo Calero 1981 („reintegrationistisch“), Moralejo Álvarez 1982, García 1986 und 1986a, Coseriu 1987a, Monteagudo/Santamarina 1993 und die von Álvarez Blanco/ Monteagudo Romero, García, Kremer, González González, Santamarina (1994a), Brea und Fernández Rei geschriebenen Artikel im LRL VI, 2 (1994): 1–129. Ausführliche Sprachgeschichten sind Mariño Paz 2 1999 und Monteagudo 1999 (soziolinguistisch). Die Normierung und Normalisierung bzw. die Status- und Korpusplanung des Galicischen gehören zu den interessantesten Fragen der Romanistik in diesem Bereich. Zu empfehlen sind besonders die Beiträge von Muljačić, Santamarina Fernández, Fernández Salgado/Monteagudo, Monteagudo in Monteagudo (ed.) 1995 und Becker 2016a. Nach der Annahme des Autonomiestatuts durch die Mehrheit der Galicier sind in Deutschland einige Arbeiten erschienen, die die Entwicklung des Galicischen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten: Herrmann 1990 gibt eine marxistische Interpretation der galicischen Sprachgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der heutigen Situation. Esser 1990 betont die Entwicklung des Galicischen als Kultursprache im 19. und 20. Jahrhundert. Albrecht 1992 betrachtet die Normierung des Galicischen in ihren jüngeren sprachgeschichtlichen und sprachpolitischen Zusammenhängen. Luyken 1994 untersucht die Geschichte des Galicischen als geschriebene Sprache und besonders seine Orthographie. Kabatek 1996 unternimmt eine empirische Untersuchung der Interferenzen in der gesprochenen galicischen Standardsprache unter Einschluss der Einstellungen der Sprecher dazu. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass man auf Deutsch das spanische Galicien – und so auch das Galicische – mit schreibt, um es vom polnischen Galizien zu unterscheiden. Daran halten sich die deutschen Veröffentlichungen, bis auf Esser 1990. Die Herausgeber des LRL haben als Sprachennamen Galegisch vorgeschlagen, der jedoch nur gelegentlich aufgegriffen worden ist.
5.15 Das Portugiesische Unter den romanischen Sprachen gibt es keinen größeren standardsprachlichen Gegensatz bei großer sprachlicher Ähnlichkeit als den zwischen dem Galicischen und dem Portugiesischen. Der Gegensatz liegt nicht im Abstand der beiden Sprachen, der relativ gering ist, sondern in ihrem Status. Das Galicische sank in seiner Geschichte zu einem Dialekt des Spanischen herab und stieg wieder zu einer normierten und sich normalisierenden Regionalsprache innerhalb Spaniens auf. Das Portugiesische aber wurde früh zur Staatssprache in Portugal, rivalisierte in seiner kolonialen Expansion mit dem Spanischen und wurde vor allem als Staatssprache Brasiliens zur Weltsprache. Die Anerkennung des Galicischen und des Portugiesischen als zweier historischer Sprachen und das Stellen der Probleme des Galicischen als Standardsprache im spanischen Kontext hat zur Folge, dass die Auseinanderentwicklung des Galicischen und
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des Portugiesischen darzustellen ist. Die den beiden Sprachen gemeinsame Phase habe ich zu Beginn des Kapitels über das Galicische behandelt (5.14.1; Abb. 6 und Abb.7).
5.15.0 Periodisierung Eine Periodisierung ist eine praktische Notwendigkeit, wenn man die Geschichte einer Sprache geplant untersuchen und darstellen will. Wenn Epochen der Geschichte einer Sprache abgegrenzt werden sollen, braucht man eine Begründung für die angenommenen zeitlichen Grenzen. Die Untersuchung eines Teils setzt eine Vorstellung vom Ganzen voraus. Die Geschichte des Portugiesischen ist nun aber für die Zeit von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis heute relativ wenig erforscht worden. Eine wünschenswerte Kenntnis der gesamten portugiesischen Sprachgeschichte, die eine konkrete Periodisierung begründen könnte, existiert also noch nicht; wenn man daher eine Einteilung vornimmt, kann sie nur vorläufig sein. Sie hat den Zweck, die Arbeitsteilung in der Sprachgeschichtsforschung zu erleichtern. Weder die politische Geschichte noch die Literaturgeschichte können uns dabei helfen. Wenn nun aber der innere Wandel einer Sprache am relevantesten ist und dieser noch relativ wenig und intensiver erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts untersucht worden ist, so bedeutet es doch eine von vornherein vorgenommene Begrenzung der Perspektive, nur die Geschichte des Portugiesischen in Portugal betrachten zu wollen. Bevor man die Konstruktion von nationalen Sprachgeschichten unternimmt, ist eine Geschichte des Portugiesischen schlechthin zu postulieren. Diese Geschichte lässt sich wie die spanische in eine Geschichte vor und eine Geschichte nach dem Beginn der überseeischen Expansion einteilen. Darauf folgt die Unabhängigkeit der Kolonialgebiete und die Zeit ihrer eigenstaatlichen Entwicklung. Noch weniger als bei der Periodisierung der spanischen Sprache lassen sich allgemeine Geschichte und Sprachgeschichte in Parallele setzen, denn die Grenze zwischen dem Alt- und dem Neuportugiesischen setzt man im 16. Jahrhundert an. In dieser Zeit war aber die Expansion bereits erfolgt. Wir werden uns in der Weise behelfen, dass wir die Expansion und den spanischen Einfluss in einem eigenen Teil darstellen, der noch in die altportugiesische und schon in die neuportugiesische Epoche hineingreift. Die Unabhängigkeit Brasiliens und die Entkolonialisierung sind – wie die portugiesische Nelkenrevolution – äußere geschichtliche Tatsachen, deren Auswirkungen auf die Sprache eher in Brasilien als in den vor wenigen Jahren unabhängig gewordenen Staaten Konturen annehmen. Man weiß auch im Allgemeinen, dass diese geschichtlichen Bedingungen innersprachliche Auswirkungen hatten, selbst wenn man sie nicht genau benennen kann. Es ist möglich, dass die geographischen Dimensionen Portugals und Brasiliens dem Portugiesischen zu einer etwas adäquateren Sprachgeschichtsschreibung verhelfen können als den beiden anderen romanischen Sprachen mit kolonialer Expan-
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sion. Der räumliche Schwerpunkt des Sprachgebiets liegt so überwältigend deutlich außerhalb des Mutterlandes, dass daraus eine umso größere Notwendigkeit seiner geschichtlichen Erklärung herzuleiten ist, in die die Kapverdischen Inseln, GuineaBissau, Angola und Mosambik (pt. Moçambique) einzubeziehen sind, wenn man nur die Staaten nimmt, in denen das Portugiesische heute Amtssprache ist. Diese Staaten sind das Ergebnis der portugiesischen Expansion vom 15. und 16. Jahrhundert an. Als portugiesischsprachige Gebiete sind Goa in Indien, Macau in China und das nunmehr unabhängige Ost-Timor geblieben. Die Ausbreitung des Portugiesischen mit seinen heute ungefähr 270 Millionen Sprechern als Mutter- und als Zweitsprache in diesen Staaten (nach Wikipedia zu Portugiesische Sprache, konsultiert am 16. 1. 2018) wurde durch die Entdeckungspolitik des 15. Jahrhunderts vorbereitet, die eine wesentlich gezielter betriebene Politik als die kastilische war. Es ist interessant, dass die Katholischen Könige an die Erkundung des Atlantischen Ozeans erst in dem Augenblick denken konnten, als Granada erobert war. Portugal hatte das ihm zustehende Gebiet der Iberischen Halbinsel bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts erobert.
5.15.1 Das Altportugiesische 5.15.1.1 Portugiesische Reconquista und Kolonialdialekte Die Voraussetzung der Entstehung des Portugiesischen ist die politische Trennung Portugals von Galicien. Alfons VI., König von León, übertrug 1088 die damalige Grafschaft Galicien durch eine Schenkung seinem Schwiegersohn Raimund von Burgund. 1093 überließ er das Gebiet zwischen Minho und Mondego, das Kernland des späteren Portugals, seinem Schwiegersohn Heinrich von Burgund, einem Bruder Raimunds. Die Unabhängigkeit dieses Landes von Galicien, León und Kastilien leitete Alfons Heinrich (Afonso Henriques), ein Sohn von Heinrich und Theresa, der Tochter von Alfons VI., dadurch ein, dass er sich von 1139 oder 1140 an König nannte. Als Alfons I. ist er der erste König Portugals. Das von Galicien politisch getrennte Portugal löste sich auch sprachlich vom Herkunftsland im Laufe der Reconquista. Zwar ging die portugiesische Reconquista wie die kastilische von Asturien und León aus und Coimbra wurde 1064 unter dem leonesisch-kastilischen König Ferdinand I. endgültig erobert. Aber schon in der Regierungszeit Alfons I. gewannen die Portugiesen 1147 Santarém und Lissabon, 1165 Évora und schließlich 1249 Faro allein zurück. Mit der Einnahme Faros wurde die Reconquista Portugals abgeschlossen, etwa gleichzeitig mit der Eroberung des Königreichs València durch die Katalanen und Westandalusiens durch die Kastilier. Das politische und sprachliche Zentrum verlagerte sich nach Coimbra, nach Santarém und schließlich, von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an, nach Lissabon. Damit waren aus der Sicht der künftigen Entwicklung Galiciens und Portugals für das Galicische und das Portugiesische getrennte Wege vorgezeichnet. Mit dem
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Überschreiten des Minho wurde ein Land erobert, das eine geringere dialektale Differenzierung erhielt als jedes andere romanische Kolonialdialektgebiet, das Katalanische eingeschlossen. Eine Differenzierung trat zwar im Wortschatz ein, kaum aber in den anderen sprachlichen Bereichen, und auch im Wortschatz divergieren eher Wörter außerhalb des allgemein bekannten Wortschatzes. Die portugiesischen Dialekte breiteten sich während der Reconquista innerhalb von mit Kastilien vertraglich vereinbarten Staatsgrenzen aus. Von einigen Überschneidungen in beide Richtungen abgesehen fallen die Grenzen zwischen dem Portugiesischen und dem Spanischen genau mit den Staatsgrenzen zwischen Portugal und Kastilien zusammen. Das Galicische als Gemein- und Schriftsprache des Mittelalters setzte sich somit kontinuierlich in der portugiesischen Gemein- und Schriftsprache fort. Auch das im Norden Portugals gesprochene Portugiesisch war zunächst, technisch ausgedrückt, ein Kolonialdialekt des Galicischen, da es von Galiciern dorthin gebracht war. Die später entstandenen portugiesischen Dialekte sind dagegen Kolonialdialekte des Portugiesischen selbst. Da in den südlich des Minho unter arabischer Herrschaft stehenden Gebieten weiter Romanisch, d. h. das Mozarabische, gesprochen wurde, bildete das galici sche Romanisch in Portugal Kontaktvarietäten mit dem Mozarabischen heraus. Diese neuen Kontaktvarietäten werden später „Portugiesisch“ genannt, also portugués, das sich vom latinisierten Wort portucalensem herleitet. Sie führten aber noch zu keinem maßgeblichen Unterschied zwischen Galicisch und Portugiesisch. Die Gebiete im Zentrum Portugals waren zur Zeit der Eroberung dünn besiedelt. Die Tatsache, dass sich in diesen Regionen Menschen aus ganz Europa niederließen, erleichterte die Herausbildung einer wenig differenzierten portugiesischen Gemeinsprache. 5.15.1.2 Die Schriftsprache des Mittelalters Eine Scripta bzw. Schreibsprache bildete sich im Nordwesten der Iberischen Halbinsel zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert heraus, in der im Lateinisch der Notariatsurkunden das Galicische bzw. das Portugiesische in Erscheinung traten. Die ersten portugiesischen Texte wurden am Anfang des 13. Jahrhunderts geschrieben. Die Sprachhistoriker betonen die große sprachliche und kulturelle Einheit mit Galicien, während andererseits die Differenzierung früh einsetzte (cf. 5.14.2). Die späte Überlieferung der höfischen Lieddichtung, die etwa ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung oder sogar noch später begann, macht sie als frühe Sprachzeugnisse wenig tauglich. Ihre Merkmale verweisen auf den Norden des Landes und auf Gemeinsamkeiten mit dem Galicischen: -anum, z. B. in germanum > irmão ‚Bruder‘, -anem wie in panem > pam ‚Brot‘, -ant > -am oder an in estam ‚sie sind‘, -bant in estavam ‚sie waren‘. Davon wurden die Entwicklungen von lat. -onem, z. B. rationem > razom ‚Verstand usw.‘, non > nom ‚nein, nicht‘, -unt > -om in som ‚sie sind‘, -runt > -rom wie in credi(de)runt > creerom ‚sie glaubten‘ unterschieden. Diese Entwicklungen fielen in
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der Schriftsprache später in einem Diphthong zusammen, der -ão oder -am geschrieben wird. Die genannten Merkmale können, trotz der erwähnten Einschränkung, der älteren Schriftsprache eigen sein, weil die Urkunden und die sonstigen amtssprachlichen Texte wie auch die alte Prosaliteratur sie ebenfalls aufweisen. Einige Veränderungen können die Grundlage für die Annahme einer mittelportugiesischen Epoche sein. Bei -de und -des verstummte -d- im Verbalparadigma wie in movete > movede > movei ‚bewegt‘ (Imperativ) und habetis > havedes > haveis ‚ihr habt‘, -ã und -õ diphthongieren, z. B. canem > cam > cão ‚Hund‘ oder rationem > razom > razão, so dass die Formen mit dem Ergebnis von -anu > ão zusammenfielen wie in manum > mão ‚Hand‘. Dadurch entstand eine neue morphologische Komplexität: Singular und Plural wurden im Fall von cão – cães, razão – razões gegenüber mão – mãos stärker voneinander differenziert. Die Partizipien auf -udo wurden durch -ido ersetzt, z. B. sabudo > sabido ‚gewusst‘. Die erste Person Singular des Präsens der Verben vom Typ arço > ardo ‚ich brenne‘, menço > mento ‚ich lüge‘, senço > sento ‚ich fühle‘ wurden analogisch umgestaltet. Ouço ‚ich höre‘ von ouvir, meço ‚ich lege hinein‘ von meter, peço ‚ich bitte‘ von pedir blieben. Im Süden Portugals wurden ei wie in ferreiro ‚Schmied‘ und ou wie in ouro ‚Gold‘ monophthongiert.
5.15.2 Portugiesisch und Spanisch im Kontakt 5.15.2.1 Die portugiesische Expansion und der spanisch-portugiesische Sprachkontakt Die Rückeroberung ging ohne wesentliche Unterbrechung in die überseeische Expansion über. Die Eroberung von Ceuta (1415) war das erste große Unternehmen. Nach Expeditionen in den Jahren 1419 und 1420 wurde das unbewohnte Madeira dauerhaft besetzt. Die Übersetzung von it. Legname durch Madeira, die beide ‚Holz‘ bedeuten, weist auf eine genuesische Entdeckung hin. Die Genuesen hatten als Seefahrer eine große Bedeutung für die portugiesische und die spanische Expansion, ihr sprachlicher Einfluss war aber gering. 1427 wurden die Azoren (pt. os Açores) von Diogo de Silves entdeckt. Sie wurden hauptsächlich mit Bewohnern aus dem Süden Portugals besiedelt und setzen heute ein älteres Portugiesisch fort, das sich unter anderem in einem langsameren Sprechrhythmus äußert. Nach Madeira brachte man maurische und schwarze Sklaven. Das Portugiesisch der Schwarzen war anfangs deutlich abgehoben vom Portugiesisch der übrigen Bevölkerung. Wie aber diese Gruppe in der Bevölkerungsmischung aufging, so auch ihre Sprache. Die Kanarischen Inseln erhielten eine portugiesische Zuwanderung, besonders von den anderen Atlantikinseln her, auch nachdem ihr Verbleib bei Kastilien durch den Vertrag von Alcáçovas (1479) entschieden war, der die Einflusssphären Portugals und Kastiliens im atlantischen Raum und in Westafrika abgrenzte. Bei der Expansion der Portugiesen von der westafrikanischen Küste an wurde eine Technik erprobt, die man in der gesamten iberischen Expansion immer wieder
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anwendete: Man machte auf den Entdeckungsfahrten Gefangene, die bis zur nächsten Entdeckungsfahrt so viel Portugiesisch gelernt hatten, dass sie für die Kommunikation in noch etwas weiter entfernten Gebieten nützlich sein konnten (Lüdtke 1994). Die Portugiesen gründeten befestigte Plätze an der nordwestafrikanischen Küste, die aber bis spätestens zum 18. Jahrhundert wieder verlorengingen. Es wurden die vor der afrikanischen Küste liegenden unbewohnten Kapverdischen Inseln, São Tomé und Príncipe mit schwarzen Sklaven und einigen wenigen Portugiesen besiedelt. 1487 umsegelte Bartholomeu Dias das Kap der Guten Hoffnung, 1498 erreichte Vasco da Gama Indien. Das Portugiesische wurde an den Küsten Afrikas, Indiens, Hinterindiens und Chinas Verkehrssprache innerhalb der Grenzen, die mit Kastilien durch den Vertrag von Tordesillas (1494) festgelegt worden waren. Dieser begünstigte Portugal in seiner Ausbreitung in Afrika und auf den atlantischen Inseln, begrenzte aber die Expansion nach Amerika. Das Land, das bis zum 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln liegenden Meridian zu entdecken wäre, sollte mit Ausnahme der Kanarischen Inseln zu Portugal gehören, das Land weiter westlich davon zu Kastilien. Durch diese Klausel des Vertrags kam der zwischen der Amazonasmündung und dem Paraná liegende Teil Südamerikas, d. h. das künftige Brasilien sowie Afrika und Asien bis zu den Molukken nominell in portugiesischen Besitz. Obwohl dieser Vertrag nicht durch andere Mächte anerkannt wurde, sicherte er doch die koloniale Expansion Portugals und Spaniens in je einer Hälfte der Erde, was sprachliche Folgen bis zur Gegenwart hat. Obwohl Pedro Álvares Cabral Brasilien 1500 offiziell für Portugal entdeckte, wurde es erst ab 1532 durch die Gründung von São Vicente kolonisiert und in vierzehn capitanias, wie die ersten Verwaltungseinheiten hießen, die den späteren Provinzen und den heutigen Staaten Brasiliens zugrunde liegen, eingeteilt. Das Land erhielt seinen Namen nach dem Brasilholz (pt. pau-brasil), das zerkleinert und aufgekocht als roter Farbstoff verwandt wurde. Nach und nach folgten einige Handelsfaktoreien. Die portugiesischen Handelsinteressen lagen aber in Asien. Die Portugiesen gründeten Handelsfaktoreien bis China, in denen wenige Portugiesen mit einer überwiegenden Bevölkerung von Mestizen zusammenlebten. Die Portugiesen nahmen in ihrer Expansion hauptsächlich Inseln und ansonsten Orte mit wenig Hinterland in Besitz. Im Falle des anhaltenden Kontakts von wenigen Portugiesen mit einer großen Bevölkerung entstanden Kreolsprachen. Die Portugiesen waren Vermittler von Kenntnissen über die asiatischen und amerikanischen Sprachen. Darunter ist besonders die Kenntnis des Japanischen und des Tupi-Guarani in Brasilien zu nennen. Durch seine Kontakte mit afrikanischen, orientalischen und Indianersprachen nahm das Portugiesische zahlreiche Entlehnungen auf, die zu seiner Differenzierung gegenüber anderen romanischen Sprachen beitragen. Aus den asiatischen Sprachen entlehnte es zahlreiche Wörter, die in andere europäische Sprachen übernommen worden sind: pagode (dravidisch), amouco ‚Amok‘ (malaisch), junco ‚Dschunke‘ (chinesisch).
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5 Die romanischen Sprachen
Während das Handelsimperium der Portugiesen im 17. Jahrhundert einen Niedergang erlebte, nahm das Interesse an Brasilien zu. 1549 erhielt Brasilien mit Tomé de Sousa einen Generalgouverneur, der Salvador gründete, bis 1763 Hauptstadt des Landes. Dort stand das Portugiesische in der Anfangszeit im Kontakt mit dem Tupinambá, einer Sprache der Familie der Tupi-Guarani-Sprachen, aus dem dasjenige Tupi entstand, das in Brasilien zur língua geral, zur indianischen Gemeinsprache wurde. Erst im 18. Jahrhundert wurde sie in dieser Funktion durch das Portugiesische ersetzt. Die Expansion in das riesige Hinterland wurde durch die Vereinigung Portugals mit Spanien zwischen 1580 und 1640 begünstigt. Sie wurde durch relativ kleine Siedlergruppen getragen (Abb. 5.8). 5.15.2.2 Das Spanische in Portugal Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert war das Spanische in Portugal eine Sprache der Oberschicht und der Literatur neben dem Portugiesischen. Das wird auf die sich im 15. Jahrhundert verdichtenden politischen Beziehungen zwischen Portugal und Kastilien und die kastilischen Königinnen mit ihrem Gefolge zurückgeführt. Ob diese Tatsache sehr wichtig war, mag dahingestellt bleiben. Die Gemahlinnen der Könige von Kastilien und dann Spanien hatten nicht diese sprachlichen Konsequenzen (Martinell Gifre 2001). Erinnern wir auch daran, dass es in diesem Zeitraum eine portugiesische Zuwanderung auf den Kanarischen Inseln gab, die an einigen Orten zu einer portugiesischen Bevölkerungsmehrheit führte. Ein Teil der kanarischen Portugiesen oder der Portugiesen schlechthin wanderte nach Amerika aus, einige davon waren Konversen. Diese beeinflussten mindestens lexikalisch das amerikanische Spanisch. Die soziale Tiefe des Einflusses der spanischen Sprache ermisst sich am offensichtlichsten daran, dass ein Dramatiker wie Gil Vicente (1465?–1537?) in beiden Sprachen schrieb: Es gab also ein hinreichend sprachkundiges Publikum für seine dramatischen Werke, in denen das Spanische Prestigesprache war. Als hingegen Jorge de Montemor (der seinen Namen zu Montemayor hispanisierte) seine Diana (1559), den ersten spanischen Schäferroman, schrieb, war seine Leserschaft höfisch. Das sich aus dem Sprachkontakt ergebende lusitanisierte Spanisch untersuchte Teyssier (1959) am Beispiel der Sprache von Gil Vicente. Wir dürfen aber diese Varietät in größerer sozialer Breite realisiert vermuten, als es die wenigen Untersuchungen dazu nahelegen. Der in kastilischen Diensten stehende Christoph Kolumbus lernte sein Spanisch immerhin, als er unter Portugiesen lebte. Sogar aus der Abschrift seines Bordbuchs geht noch der portugiesische Einfluss auf seinen Wortschatz hervor. Dafür, dass es auch den umgekehrten Einfluss auf das Portugiesische gab, sei castelhano ‚kastilisch‘ für autochthones castelão (cf. gal. castelán) zitiert und das präpositionale direkte Objekt. Man darf sich fragen, ob die Konstruktion o facto de que (‚die Tatsache, dass‘) und die zahlreichen analogen Ausdrücke, die aus der essayistischen und wissenschaftlichen Prosa nicht wegzudenken sind, nicht ebenfalls auf
5.15 Das Portugiesische
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das Spanische zurückgehen, denn andere romanische Sprachen kennen diese Konstruktion nicht. Zwischen 1580 und 1640 bildeten Portugal und Spanien eine politische Einheit. Diese hatte umgekehrte Folgen in Portugal und in Brasilien: Während sich in Portugal der spanische Einfluss festigte, dehnte die portugiesische Kolonie in Brasilien ihr Territorium nach Süden unter der Führung der Bewohner von São Paulo (den paulistas) bis zum Río de la Plata-Gebiet aus. Als Bastion gegen die Spanier gründeten die Portugiesen das Fort Colónia do Sacramento, das im heutigen Uruguay in der Nähe von Montevideo liegt. Die spanische Reaktion darauf war die Gründung von Montevideo (1724/1726) mit Beteiligung von Kanariern. Im Vertrag von Madrid (1750) legten Portugal und Spanien die Grenzen ihrer Gebiete neu fest (zum Kontakt zwischen Spanisch und Portugiesisch Corbella/Fajardo (eds.) 2017).
5.15.3 Das Neuportugiesische Die Grenzziehung zwischen Altportugiesisch und Neuportugiesisch um die Mitte des 16. Jahrhunderts findet ihre Entsprechung im Sprachbewusstsein der heutigen Sprecher, denen die Sprache der Texte von dieser Zeit an vertraut ist. Die Kodifizierung des Portugiesischen begann mit der Gramática da linguagem portuguesa (1536) von Fernão de Oliveira. Ihr Einfluss auf die tatsächliche Sprachentwicklung wird sehr gering gewesen sein, wenn sie denn überhaupt einen Einfluss darauf hatte. Das Portugiesische stellt den seltenen Fall einer Standardisierung ohne erkennbare sprachregulierende Eingriffe bis weit ins 18. Jahrhundert hinein dar. Die erste Grammatik, der man eine Wirkung auf die Sprachentwicklung zuschreiben darf, ist die Arte da grammatica da lingua portugueza (1770) von António José dos Reis Lobato – nach der Vertreibung der Jesuiten. Normgebend ist im Fall der portugiesischen Standardsprache der Sprachgebrauch selbst. Dies ist möglich wegen des geringen Abstands der Dialekte untereinander (die ohnehin Kolonialdialekte sind). Entsprechend gering ist dann auch der Abstand zwischen Dialekt und Standard. Im 16. Jahrhundert wurden einige Neuerungen in der Rechtschreibung eingeführt. Man schrieb nun statt , bzw. statt , statt . Als portugiesische Standardsprache (língua-padrão) wird die Sprache selegiert, die am königlichen Hof, in den religiösen Zentren und an der Universität gesprochen wurde. Die Universität befand sich zuerst in Lissabon und wurde seit 1537 endgültig nach Coimbra verlegt. Mit Coimbra im Norden, Lissabon und Évora im Süden ist der Raum bezeichnet, dessen Sprache Norm geworden ist. Die Estremadura als Region der normgebenden Sprache mit ihrem Zentrum in Lissabon wurde nie angefochten. Insbesondere die stärker intern differenzierte Sprache des Nordens fand keinen Eingang in die Norm. Dadurch wurde der Abstand zum Galicischen – im Rahmen relativ geringer sprachlicher Unterschiede – noch verstärkt.
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5 Die romanischen Sprachen
Die portugiesische Sprachnorm bildete sich unter dem Einfluss des Lateinischen und des Spanischen heraus und wurde in diesem Spannungsfeld zur Literatur- und Standardsprache ausgebaut. In der Zeit des Humanismus entlehnte das Portugiesische lateinische Elemente in der Orthographie, im Wortschatz und in der Syntax. So bedeutende Autoren wie João de Barros (1496–1570), Luís de Camões (1524–1580) und António Ferreira (1528–1569) waren durch den Humanismus geprägt. Der latinisierende, wenn auch nicht unbedingt humanistische Einfluss setzte sich fort, nachdem die Jesuiten in den Jahren nach 1540 eine Schlüsselrolle im Erziehungssystem Portugals und seiner überseeischen Besitzungen eingenommen hatten. Diese behielten sie, bis sie 1759 vom Marquês de Pombal vertrieben wurden. Die Folge der lateinischportugiesischen Zweisprachigkeit bei den Gebildeten war, dass die Orthographie der lateinischen Orthographie angenähert wurde, zahlreiche Latinismen ins Portugiesische gelangten und die Autoren die lateinischen Perioden nachahmten. Die Kodifizierung des Wortschatzes ist die Leistung großer Gelehrter. 1712 ließ Raphael Bluteau sein Vocabulario portuguez erscheinen, dessen Glanz etwas durch das Wörterbuch von António de Morais Silva (1813) litt. Die Academia Real das Sciencias, heute Academia das Ciências de Lisboa, wurde 1779 gegründet. Ihre Classe de Belas Letras, die später in Classe de Letras umbenannt wurde, hat die Funktion einer Sprachakademie; sie hat aber nur in die Rechtschreibregelung eingegriffen. Proenglisch in der Politik, waren die Portugiesen profranzösisch in der Literatur. Aber damit unterscheiden sie sich nicht von anderen Europäern, die an der Aufklärung teilhatten und die Ideen der Französischen Revolution mit ihren Folgen weit in das 19. Jahrhundert hinein verarbeiteten. Standen in Portugal Staat und Sprache von Anfang an unter dem Zeichen der Einheit, war in Brasilien das genaue Gegenteil der Fall. Die diatopische Differenzierung ist dort größer als in Portugal (cf. 2.4.2.8). Sie ergibt sich nicht nur aus den riesigen Dimensionen des Landes, denn die Sprache der Gebildeten und somit die Standardsprache konnte sich kaum auf die Sprache der anderen Bevölkerungsschichten auswirken, da die Zahl der Gebildeten selbst sehr gering war und sie nur in der stärker urbanisierten Küstenregion lebten. Es gab während der Kolonialzeit keine Universität in Brasilien, die Analphabetenrate war hoch und die Schulbildung gering. Das Tupinambá wurde in der Küstenregion mit sehr geringer interner Differenzierung von den Tapé in Uruguay, den Carijó von der Ilha de Santa Catalina bis zur Küste von São Paulo, dem Tupinambá oder Tamóio bei Rio de Janeiro und Bahia, den Tupiniquim in Espírito Santo, den Caeté und Potiguara oder Pitugar an den Küsten zwischen Paraíba und Piaui und den Tobajara des Maranhão gesprochen (Dietrich 1999: 154). Die Jesuiten verwendeten es 1549 für die Missionierung der Indianer. Das in der Gegend von Salvador (Bahia) gesprochene Tupinambá lernten die Patres Manuel de Nóbrega und João de Azpilcueta Navarro, die es dem Kanarier José de Anchieta lehrten (ab 1553), der die Missionstätigkeit fortsetzte. Anchieta veröffentlichte 1595 in Coimbra die erste Grammatik dieser Sprache, die die Gemeinsprache der Bevöl-
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kerung war. Eine Umkehrung der sprachlichen Verhältnisse hin zur Dominanz des Portugiesischen wurde durch den Marquês de Pombal eingeleitet, der die Jesuiten vertrieb (1759) und die Verwendung des Portugiesischen als Amtssprache vorschrieb. In diesem Sinne ging die portugiesische koloniale Sprachpolitik der spanischen voraus. 1763 wurde Brasilien Vizekönigreich mit Rio de Janeiro als Hauptstadt. Die napoleonischen Kriege bedeuteten einen Einschnitt im Verhältnis zwischen Portugal und Brasilien. Johann IV. verlegte seinen Hof 1807–1821 nach Brasilien. 1822 erklärte Brasilien seine Unabhängigkeit. Rio de Janeiro blieb Hauptstadt im Kaiserreich (1822–1889) und zur Zeit der Republik bis 1960, als es in dieser politischen Funktion von Brasília abgelöst wurde. Kulturell hat Rio seine dominierende Rolle behalten. Im 19. und 20. Jahrhundert vollzog sich eine Bevölkerungsexplosion und massive Urbanisierung wie im gesamten Lateinamerika. Es wurde die Einwanderung von Italienern besonders in den etwa zehn Jahren von 1891 an gefördert. Sie ließen sich bevorzugt in São Paulo und Rio Grande do Sul nieder. Portugiesen wanderten vom selben Zeitraum an und darüber hinaus kontinuierlicher als die Italiener ein. Die deutsche Einwanderung war geringer, auch sie begann nach der Unabhängigkeit und schwankte lange Zeit zwischen 1.000 und einigen Tausend pro Jahr. Der Höhepunkt wurde 1924 mit über 20.000 Einwanderern erreicht. Parallel zur Urbanisierung entwickelte sich nach der Unabhängigkeit langsam ein sprachliches Selbstbewusstsein. Die zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert variierenden Ethnonyme brasiliense und brasilense wurden nachträglich als Adjektive für den Ausdruck der Nationbildung und der sprachlichen Identität nach der Unabhängigkeit eingesetzt. Die sprachliche Emanzipation drückte sich darin aus, dass man die Sprache in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts língua brasileira nannte, obwohl man sich von offizieller Seite um die Beibehaltung der europäischen Norm bemühte. Die brasilianischen Autoren führten von José de Alencar (1829–1877) an einige grammatische und besonders lexikalische Erscheinungen in die Literatursprache ein, während die deutlich verschiedene Phonetik kaum literatursprachlich abgebildet wurde. Die Autoren schufen keine neue Standardsprache, sie führten aber die diatopische und diastratische Vielfalt des brasilianischen Portugiesisch in die Literatur ein. Die Kodifizierung einer brasilianischen Norm ist deshalb schwieriger als die einer portugiesischen, weil der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache regional und sozial in Brasilien größer ist als in Portugal und weil die einer solchen Kodifizierung zugrunde zu legende Sprechsprache der Gebildeten noch nicht hinreichend untersucht worden ist. Den brasilianischen Wortschatz kodifizierte nicht die 1896 gegründete Academia Brasileira de Letras, sondern Aurélio Buarque Holanda Ferreira in seinem Novo dicionário da língua portuguesa (1975), kurz Aurélio genannt (Ferreira 31999). Dagegen widmete sich die Akademie der Rechtschreibung mit einer Regelung im Jahre 1943, die einige Veränderungen erfuhr, besonders 1971 (cf. den bibliographischen Kommentar zu 2.2.2). Zu den Ausspracheunterschieden verweise ich auf den Abschnitt zur diatopischen Differenzierung des Portugiesischen (2.4.2.8).
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5 Die romanischen Sprachen
In Brasilien werden heute noch etwa 170 Indianersprachen gesprochen. Sie haben aber keinen nennenswerten Einfluss auf das regionale Portugiesisch. Das auf umgangssprachlichem Niveau in Brasilien gesprochene Portugiesisch wird man wohl kaum als dialektal betrachten können. Es wird jedoch nicht mit einem Streben nach sprachlicher Korrektheit gesprochen, das dem des europäischen Portugiesisch vergleichbar wäre. In der Beschreibung der portugiesisch-brasilianischen Divergenz geht der Weg von einer Beschreibung der brasilianischen Unterschiede gegenüber dem europäischen Portugiesisch zu einer immer stärkeren Anerkennung des brasilianischen Portugiesisch selbst. Die auf brasilianischer Umgangssprache und europäischem Standard aufbauende Ausbildung einer brasilianischen Standardsprache ist nicht zu einer so homogenen Sprache gelangt, wie es der europäische Standard ist. Dieser Prozess ist noch nicht ganz abgeklärt. Eine gemeinsame schriftsprachliche Norm schlägt die Grammatik von Celso Cunha und Luís F. Lindley Cintra (11984) vor. Die gesprochene Sprache ist davon nicht betroffen. Die Unterschiede zwischen der stärkeren Einhaltung der Sprachnorm in Portugal und einer normferneren Sprachverwendung in Brasilien können wir mit unterschiedlichen Alphabetierungsraten korrelieren. Die Analphabetenquote betrug im Landesdurchschnitt bei den Personen ab 15 Jahren dem Brockhaus von 2001 zufolge in Brasilien 19 %, während dieselbe Quelle als Analphabetenquote für Portugal 10 % angibt. Daraus ergibt sich, dass sich die diaphasisch und diastratisch regulierend wirkende Kraft der Sprachnorm in Brasilien weniger stark auswirkt. Ein weiterer Schritt in der Kodifizierung ging von Portugal aus, das 1910 eine Republik wurde. Diese reformierte 1911 die Rechtschreibung. Die nova ortografia trat 1916 in Kraft. Kurz vor und nach der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 kam die portugiesische Entkolonialisierung in ihre Endphase. Sie führte zur Unabhängigkeit von Angola (1975), Mosambik (1975), Guinea-Bissau (1973), der Kapverdischen Inseln (1975) und von São Tomé (1975). Der heutige Status des Portugiesischen ist je nach Staat sehr differenziert zu betrachten. Portugiesische Kreolsprachen werden durch das Portugiesische als Amtssprache auf den Kapverdischen Inseln, auf São Tomé und Príncipe überdacht. Diese drei Länder setzen ihre Kreolsprachen zur Abgrenzung gegenüber dem Portugiesischen ein, das als Sprache nicht für ihre Staaten spezifisch wäre. Afrikanische Sprachen, portugiesisches Kreol und portugiesische Amtssprache stehen in Guinea-Bissau in Kontakt miteinander. In Angola und Mosambik ist das Portugiesische Amtssprache und überdacht afrikanische Sprachen. In diesen beiden Ländern ist es zwar Verkehrs-, Amts- und Schulsprache, Erstsprachen sind aber mehrere afrikanische Sprachen. Über die jüngste Sprachgeschichte in diesen fünf Ländern, die von Staat zu Staat sehr verschieden ist, sind wir nur wenig unterrichtet. Das wichtigste Faktum ist aber gleichwohl die Zunahme der Alphabetisierungsrate in portugiesischer Sprache. Zwar erreichen die Zahlen der Sprecher des Portugiesischen in keinem dieser Länder mehr als 50 %, die Stellung des Portugiesischen ist aber nach der Unabhängigkeit in unvergleichlicher Weise gestärkt worden. Die in diesen afrikanischen Ländern
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geltende Norm ist das europäische Portugiesisch. Es sind Literaturen entstanden, die stetig ausgebaut werden. Bei ihren relativ niedrigen Auflagen erfahren die Werke aber keine weite Verbreitung. Die Entwicklung des Portugiesischen im 2002 unabhängig gewordenen Ost-Timor steht erst noch bevor.
Bibliographischer Kommentar
Die erste Geschichte des Portugiesischen veröffentlichte Neto 11952–1957 (41986). Teyssier 1980 ist eine knappe, sehr zuverlässige Sprachgeschichte, die den Schwerpunkt auf die lautliche Differenzierung des europäischen und des brasilianischen Portugiesisch legt. Eine umfassende jüngere Sprachgeschichte ist Castro 1991. Maia 1986 ediert Sprachzeugnisse des 13. bis zum 16. Jahrhundert aus Galicien und Nordportugal und gibt auf dieser Grundlage eine Geschichte des „Galicisch-Portugiesischen“. Fonseca 1985 behandelt die weltweite Ausbreitung des Portugiesischen in den Grundzügen, Lopes 2 1969 die Ausbreitung in Asien. Eine ausführliche Geschichte dieser Expansion ist ein Desiderat. Dafür sind geschichtliche Grundkenntnisse nötig, diese vermittelt z. B. Marques 1995. Über die sprachlichen Auswirkungen der Zeit unter spanischer Herrschaft zwischen 1580 und 1640 informiert Vásquez [sic] Cuesta 1986. Für eine Einführung in die Geschichte der Verschriftung ist Winkelmann 1994 zu lesen. Die Orthographie zwischen dem 16. Jahrhundert und 1911 behandelt ausführlich Kemmler 2001. Einen vorzüglichen Überblick über die portugiesische Grammatikschreibung gibt Schäfer-Priess 2000. Der von Gärtner, Hundt und Schönberger 1999 herausgegebene Sammelband enthält unter anderem der Orientierung dienende Artikel zur Periodisierung des Portugiesischen in Portugal und Brasilien. Die Geschichte des Portugiesischen in Brasilien wird seit dem Kongress der Associaçião de Linguística e Filologia da América Latina (ALFAL) vom Jahre 2002 in San José, Costa Rica, in einer Arbeitsgruppe der ALFAL aufgearbeitet. Aus diesem Projekt erschienen z. B. Alkmin (ed.) 2002 und Callou/Duarte/ dos Santos (eds.) 2002.
5.16 Kreolsprachen Die Kreolsprachen sind zu berücksichtigen, sofern sie auf romanischer Grundlage entstanden sind und sich zu Standardsprachen entwickelt haben oder sich in einem Standardisierungsprozess befinden. Romanische Sprachen sind sie nur in dem Maße, wie sie sich im Phonemsystem, in der Grammatik und im Wortschatz von einer romanischen Sprache herleiten oder reromanisiert worden sind. Aus diesem Grunde müssen wir auf die Romanität von Kreolsprachen eingehen, bevor wir zu Standardisierungsund Kodifizierungsbemühungen von einigen unter ihnen übergehen. Wahrscheinlich waren die Sprachsituationen, die in Fällen von eingeschränkter Kommunikation, aber mit einer gewissen gegenseitigen Verständigung aufgrund der Verwandtschaft der Sprachen oder der gegenseitigen Erlernung, wie sie etwa im arabisch-romanischen Sprachkontakt vorliegen, bei den Kreolsprachen in dieser Kontaktintensität nicht gegeben. Mit den portugiesischen Wörtern haben die Sprecher, die das Portugiesische selbst nicht sprechen lernten, eine neue Sprache geschaffen, der die Phonologie, Grammatik und Semantik ihrer eigenen Sprache(n) zugrunde lag.
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5 Die romanischen Sprachen
Die Kreolsprachen auf romanischer Grundlage haben ein unterschiedliches Alter. Am ältesten sind sicher die portugiesischbasierten Kreolsprachen, die sich auf den Kapverdischen Inseln, in Guinea-Bissau, auf São Tomé, Príncipe und Ano Bom herausgebildet haben. Da die Zahl der Portugiesen in Afrika und Asien gering war, sind portugiesischbasierte Kreolsprachen in diesen weltweiten Kontaktgebieten entstanden. Sie sind auch nach dem Rückzug der Portugiesen aus den asiatischen Regionen in Sri Lanka (Ceylon), der Halbinsel Malakka und Jawa erhalten geblieben, ihre Sprecherzahl geht aber zurück. Die spanischbasierten Kreolsprachen folgen im Alter, während die französischbasierten mit einigem zeitlichen Abstand entstanden sind. Die direkten Zeugnisse dieser Kreolsprachen sind relativ jung, sie stammen aus dem 19. Jahrhundert. Daher wissen wir nichts Genaues über ihr tatsächliches Alter. Auch im Fall der Kreolsprachen wird die vergleichende Methode zur Rekonstruktion verwendet. Es werden dabei sowohl romanische Merkmale als auch solche afrikanischer und anderer nicht-europäischer Sprachen für den Vergleich und die interne Rekon struktion herangezogen. Als Voraussetzung für den Sprachvergleich müssen die Sprachkontaktsituationen, die beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und ihre Existenzbedingungen, der Raum des Kontakts und die Art und Weise des Tradierens einer Kreolsprache bekannt sein. Es ist offensichtlich, dass, je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto unbekannter diese Voraussetzungen sind. Romanische Sprachen sind die Kreolsprachen nur, wenn man das Materielle für maßgeblich hält (cf. 1.2.4). Ihre Phonemsysteme, grammatischen Formen und Wortformen sind gewiss in der Regel romanisch, nicht dagegen die Inhalte der grammatischen Formen und zum Teil der Wörter (cf. 1.2.3.). In der älteren, stärker morphologisch ausgerichteten Kreolistik (z. B. Hall 1966) hat man die Kreolsprachen auf den europäischen Anteil zurückgeführt, den man traditionell als „Superstrat“ bezeichnete. Demgegenüber wird die von den europäischen Sprachen ganz verschiedene Semantik von den „Substraten“ hergeleitet. Diese „Substrate“ sind afrikanische Sprachen. Die Begriffe, mit denen die Entstehung von Kreolsprachen erfasst werden soll, sind recht unglücklich gewählt. Mit ihnen werden kaum oder überhaupt nicht dokumentierte Sprachkontaktsituationen charakterisiert. Dies ist besonders problematisch, weil die als Substrat oder Superstrat benannten Sprachen und die entsprechenden Situationen des Sprachkontakts ähnlich unbekannt sind wie die Situationen des Kontakts von afrikanischen mit europäischen Sprachen. Eine Erhellung der Entstehung von Kreolsprachen kann man sich aber allenfalls versprechen, wenn man Typen von besser bekannten Sprachkontaktsituationen zum Vergleich heranziehen kann für die Interpretation von weniger gut bekannten. Eine gewisse Begründung für die traditionelle Sicht kann man aus der Anwendung der historisch-vergleichenden Methode ableiten, die materiell und lexikalisch eher zu einem europäischen Superstrat, grammatisch aber eher zu afrikanischen Substraten führt. Die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür, dass es sich bei den Kreolsprachen um einen besonderen Typ von Kontaktvarietäten handelt (cf. 2.4.2.4). Dabei sind die im Kontakt mit einer europäischen
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Sprache befindlichen afrikanischen Sprachen sowie die Sprachkontaktsituationen schlecht bekannt oder unbekannt. Es ist dennoch möglich, ein Element einer kreolischen Kontaktvarietät in bestimmten Fällen auf eine europäische oder eine afrikanische Sprache zurückzuführen. Mit diesen Fällen, nicht mit den spekulativen, sollte man beginnen. Die Probleme der Kreolistik wurden auch dadurch verschärft, dass man, nachdem erste summarische Beschreibungen vorlagen, verfrühte Fragen stellte, die man mit den vorhandenen Beschreibungen nicht lösen konnte. Die vergleichende Methode kommt notwendigerweise sehr bald an ihre Grenzen, da die Kreolsprachen nach ihrer Entstehung weiterhin im Kontakt mit der europäischen Sprache blieben, die zu ihrer Entstehung geführt hat, oder mit einer anderen Sprache. Dieser Prozess führt zur Dekreolisierung. Die portugiesischen Kreolsprachen stellen heute keine Einheit dar – wenn dies denn jemals der Fall gewesen sein sollte. Wie bei allen Kreolsprachen wird gerade auch bei den portugiesischbasierten entweder Monogenese oder Polygenese angenommen. Portugiesische Kreolsprachen leiten sich in der Hauptsache vom portugiesischen Wortschatz her, und genau genommen nicht von den portugiesischen Wörtern mit ihren Formen und Inhalten, sondern nur von den Wortformen. Die sprachlichen Strukturen sind sowohl vom Portugiesischen als auch untereinander sehr verschieden.
Bibliographischer Kommentar
Die Kreolistik ist eine andere Welt. Sie wurde zwar in der Anfangsphase von bedeutenden Sprachwissenschaftlern wie Schuchardt (Schuchardt-Brevier 21976) und Lenz (1926) gepflegt. Von ihnen leiten sich die an den Universitäten heute unternommenen Untersuchungen nicht her. Anregungen kamen von nicht professionellen Spachwissenschaftlern, die umso großzügiger Hypothesen aufstellten, je weniger sie bewiesen wurden oder einem Beweis auch nur zugänglich waren. Dazu gehören die Annahme, dass die Menschen über ein „Bioprogramm“ verfügten, das für die den Kreolsprachen unterschiedlicher Herkunft gemeinsamen Merkmale verantwortlich zu machen sei, dass eine Kreolsprache auf einem afrikanischen oder einem anderen nicht-europäischen „Substrat“ basiere (womit den Begriffen, die mit Substrat verbunden sind, ein weiterer hinzugefügt wird), dass eine Kreolsprache in der Vereinfachung einer europäischen Sprache bestünde (was in etwa einer „Superstratthese“ gleichkäme, wenn man eine Parallele zu einer Erklärung der Kreolisierung aufgrund eines „Substrats“ annähme) und dass den verschiedenen Kreolsprachen letztendlich ein einziges Kreol zugrunde liege, das sich aus einem portugiesischen Pidgin an der Westküste Afrikas herausgebildet hätte. Das naheliegende Vorgehen, erst einmal die Kreolsprachen gründlich zu beschreiben, bevor man irgendwelche Mutmaßungen äußert, wurde nicht gewählt. Pidgins und Kreolsprachen behandeln in einem allgemeinen Zusammenhang Hall 1966, Mühlhäusler 1986, Thomason/Kaufman 1988. Als allgemeine Einführung in die romanischen (oder romanischbasierten) Kreolsprachen kann man die Artikel von Metzeltin, Stein, Stolz, Gnerre, Kerkhof und Bollée in LRL VII (1998) lesen, daran anschließend Perl/Schwegler (eds.) 1998. Über den Stand der Kodifizierung einiger Kreolsprachen berichten Holzer 1991, Stolz 1991, Maurer 1991, Stein 1991 und Bollée 1991. Zur Kreolisierung im Besonderen Chaudenson 2003 und Lang 2009; Lang sieht darin die ungelenkte Erlernung einer Zweitsprache durch die „Krealisatoren“, die die Zweitsprache von ihrer
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5 Die romanischen Sprachen
Erstsprache her zu interpretieren versuchen. Der von Lang diskutierte Fall ist das kapverdische Kreol, an dessen Kodifizierung er einen maßgeblichen Anteil hat; cf. dazu die in Lang 2009 zitierten Aufsätze. Eine Beschreibung des Kreols von São Tomé gibt Maurer 1995, des kapverdischen Kreols Veiga 2000, des Kreols von Maurititus Möst 2014, um nur einige Beispiele zu nennen.
5.17 Die romanischen Sprachen unter den Sprachen der Erde Am Ende unseres Gangs durch die Geschichte der romanischen Standardsprachen angekommen, möchte ich mit einem Wort zu ihrer Stellung in der Welt schließen. Das Spanische und das Portugiesische haben sich vom Südwesten Europas auf mehreren Kontinenten ausgebreitet. In seinen Sprecherzahlen ist das Spanische dem Englischen vergleichbar, das Portugiesische dem Französischen. Es sprechen gleichwohl mehr Menschen Portugiesisch als Französisch. Den Status unter den Sprachen der Welt bestimmen aber nicht nur die Sprecherzahlen. Das Prestige einer Sprache wird aufgewertet durch die politische und wirtschaftliche Macht der Länder, die eine Sprache sprechen. In dieser Hinsicht steht das Spanische dem Englischen und das Portugiesische dem Französischen nach. Das Spanische hat dort, wo es gesprochen wird, andere Sprachen zurückgedrängt. Das war auf der Iberischen Halbinsel der Fall mit dem Portugiesischen zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert. Seitdem kehren sich die Sprecher dieser Sprachen auf der Iberischen Halbinsel und außerhalb Europas den Rücken zu. Das Spanische hat in Spanien die anderen Sprachen erfolgreich dominiert. Erst in jüngerer und jüngster Zeit entwickeln die dominierten Sprachgemeinschaften Standardsprachen. Auf dem amerikanischen Kontinent ist der Status des Spanischen und des Portugiesischen hoch. Der soziale Abstand zwischen dominierender und dominierter Sprache ist größer als in Europa und der Weg der Selbstverteidigung der Sprecher der dominierten Sprachen ist deshalb weiter. Außerhalb von Europa finden wir postkoloniale Situationen vor. Die koloniale Ausbreitung des Englischen, Spanischen, Portugiesischen, Französischen, Russischen bestimmt das Zusammenleben der Nationen und ihr Ineinandergreifen mehr, als es wohl den meisten Menschen bewusst ist. Es ist einerseits merkwürdig, dass man eine supranationale Perspektive vernachlässigt, andererseits ist dies auch wieder nichts Besonderes, weil sich unser Leben gewissermaßen archaisch im Rahmen von Nationen abspielt. Da auch Wissenschaftler am Leben ihrer Nationen teilhaben, finden supranationale Entwicklungen nicht die Beachtung, die ihrer realen Bedeutung im Konzert der Weltsprachen entsprechen. Die Zugänge zum Verstehen der kolonialen Entwicklung sind schwierig. In der romanischen Sprachwissenschaft bewegen wir uns bis hin zu den neuesten Entwicklungen in der Hauptsache im Rahmen von Europa, aber wir nehmen dabei trotz erweiterter Europäischer Union noch nicht einmal den ganzen Kontinent wahr. Das bedeutet zugleich, dass wir den Rahmen der europäischen Sprachen nationalsprach-
5.17 Die romanischen Sprachen unter den Sprachen der Erde
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lich denken. Dies ist ebenso eine Erschwernis für das Verständnis außereuropäischer Entwicklungen wie das Fortwirken des Modells des Lateinischen, das sich auf die Geschichte der romanischen Standardsprachen und ihrer Wahrnehmung ausgewirkt hat. Dabei hätte die diachronische lateinische Sprachforschung einen anderen Weg nehmen können: Die Sprache Roms ist die Sprache des Römischen Reichs geworden. Die lateinische Sprache kolonisierte ihrem Verständnis nach in der Antike die ganze Welt. Dennoch sind die Latinisierung und die Romanisierung des Römischen Reichs nicht systematisch untersucht worden. Und deshalb ist die Geschichte der lateinischen Sprache im Römischen Reich auch kein wirkliches Vorbild für die Geschichte der romanischen Sprachen, vor allem nicht für die Geschichte der romanischen Sprachen mit kolonialer Expansion, der Entkolonialisierung und der postkolonialen Situationen.
Bibliographischer Kommentar
Im Kontext der Europäischen Gemeinschaft behandeln die romanischen Sprachen Coulmas (ed.) 1991, Hagège 1992, Labrie 1993, Truchot (sous la direction de) et al. 1994.
6 Rückblick und Ausblick Wie ich angefangen habe, so schließe ich: Es gibt nur Sprachwissenschaft oder Linguistik. In der Auseinandersetzung um die Sache habe ich es vermieden, mich allzu sehr auf die wissenschaftlichen Partialisierungen einzulassen (die in einer Monographie allerdings unerlässlich wären), wie sie sich in den Hypostasierungen linguistischer Disziplinen ausdrücken. Beim Schreiben dieses Handbuchs habe ich es deshalb unterlassen, diesen Hypostasierungen durch Goßbuchstaben (Kognitive Linguistik) oder durch weitere Bestimmungen (Linguistik der Lüge) ein eigenes Gewicht zu geben. Das sind Mittel, mit denen man sich gegen andere Standpunkte abgrenzen will. Die Konsequenz daraus ist, dass man in der Rezeption der Forschung unter sich bleibt und sich in der nachfolgenden Generation reproduziert. Ich habe nicht vorgehabt, diesen Weg zu gehen, sondern ich habe versucht, vom Ansatz her integrativ zu schreiben. Falls das nicht aufgefallen sein sollte, liegt das sicher daran, dass ich kategorische Urteile progressiv abgemildert oder eliminiert habe. In der Anerkennung und Integration der Forschung, nicht in der Ab- und Ausgrenzung, sehe ich die Weiterentwicklung der Sprachwissenschaft. Dieser Weg kann nicht einfach über die direkte Übernahme führen, sondern ihm muss die kritische Würdigung jedes produktiven Beitrags vorausgehen.
https://doi.org/10.1515/9783110476651-006
7 Bibliographie Nicht aufgeführt werden Werke, die nur aus sprachgeschichtlichen Gründen im laufenden Text zitiert werden und in der Regel nicht in jüngeren Veröffentlichungen vorliegen.
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8 Sachindex Vorwort Jens Lüdtke hatte noch im Dezember 2018 die Kriterien für den inhaltlichen Sachindex des Handbuchs festgelegt und mit der Bearbeitung begonnen. Sein plötzlicher Tod verhinderte die Ausführung. Der Index sollte Querverbindungen im Text deutlich machen und „als kohärent strukturiertes Gefüge in Erscheinung treten.“* Wir haben uns bemüht, dem Anspruch gerecht zu werden. Das inhaltliche Sachregister enthält nur Begriffe der Sprachwissenschaft. Namen finden Sie unter dem Sachwort, z. B. (Saussure) unter signifié. Bei der Suche nach Namen helfen auch die Bibliographie der Quellentexte und der Fachliteratur weiter; Buch- und Aufsatztitel ordnen den Autor in sprachwissenschaftliche Zusammenhänge ein. Sie finden im Sachindex kurze Erklärungen und Verweise auf die im Handbuch erläuterten Zusammenhänge, die in anderer Weise auch im ausführlichen Inhaltsverzeichnis angegeben sind, das Sie durch das Handbuch leiten soll. Der Sachindex verlässt aber die thematische Darstellung, um ein schnelleres Auffinden zu ermöglichen und damit (besonders Anfängern) „Zusammenhänge zu verdeutlichen“*. Besonderer Wert wird auf die Vernetzung von Begriffen gelegt. Wo möglich werden zur Begriffserklärung Textstellen von Jens Lüdtke zitiert. Seitenzahlen in Klammern geben den Ort des Zitates an; sonst folgen die Seitenzahlen dem erklärenden Stichwort, danach schließen sich in der Regel weitere Verweise an; nicht verwiesen wird auf Begriffe, die im Stichwort schon genannt sind. Bei sehr häufig gebrauchten Begriffen mussten wir die Seitenverweise begrenzen oder eine Auswahl treffen; dies betrifft besonders die Nennung von Textstellen zu einzelsprachlichen Phänomenen, die unter dem Stichwort der jeweiligen Sprache zu finden sind. Um der Bedeutung von Akademien, Grammatiken, Wörterbüchern und Sprachatlanten bei Spracherfassung-, Sprachbeschreibung und Kodifizierung gerecht zu werden, sind sie unter diesen Stichwörtern aufgelistet (Akademien alphabetisch, die anderen chronologisch). Im Singular angegebene Einträge schließen den Plural mit ein, ebenso das zugehörige Adjektiv und Verb. Dies gilt auch umgekehrt für den Eintrag des Adjektivs, das das Substantiv miteinschließt. Nur dort, wo es Bedeutungsunterschiede gibt, wird von diesem Prinzip abgewichen. Wer sich einen kompakten Überblick darüber verschaffen will, was ihn im Handbuch erwartet, dem sei empfohlen, außer den im Vorwort angegebenen Seiten zuerst die Seiten 7–20, 60–73, 111–140 zu lesen, die terminologisch relevant sind, und 426– 428, in denen Jens Lüdtke den Zusammenhang all dessen erklärt, was zur Schaffung https://doi.org/10.1515/9783110476651-008
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des Sinns gehört und was den Leser in Teil II erwartet, dann die Seiten 431–439, in denen der Benutzer des Handbuchs in die Grundlagen der philologischen Forschung eingeführt wird, die Basis für die Beschreibung der romanischen Sprachen in Teil II des Handbuchs sind.
Monika Lüdtke Carlos G. Perna Waltraud Weidenbusch *Notiz von Jens Lüdtke
Außer den im Handbuch verwendeten Abkürzungen, werden im Index zusätzlich die folgenden gebraucht; sie werden AUCH für Zitate von Jens Lüdtke verwandt, obwohl sie im Text natürlich NICHT abgekürzt sind. Adj. Adjektiv Adv. Adverb Ar. arabisch Arag. Aragonesisch, Aragon Art. Artikel Ast. Asturianisch, Asturien Bask. Baskisch, Basken(land) Bed. Bedeutung Bez. Bezeichnung Bspl. Beispiel Chr. Christlich, Christen cf. vergleiche, Verweis d. der, die, das jede Form von best. Artikel Fl. Flämisch, Flamen, Flandern F. Frankreich Frankoprov. Frankoprovenzalisch Frz. Franzosen, französisch Frl. Friaulisch, Friaul Gal. Galicisch, Galicien Germ. Germanisch, Germanen, Germanien Gr. Grammatik, grammatisch gespr. gesprochen geschr. geschrieben Hdlg. Handlung Ib. Iberisch, Iberer It. Italienisch, Italien J. Jahrhundert Kelt. Keltisch, Kelten Kst. Kastilisch, Kastilien Kons. Konsonantismus
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Kors. Korsisch, Korsika Leon. Leonesisch lex. lexikalisch Lit. Literatur N O S W Himmelsrichtungen immer Majuskel ohne Punkt: Nam = nordamerikanisch o. oder Okzitanisch, Okzitanien Okz. Pron. Pronomen, Pronomina Pt. Portugiesisch, Portugal Rom. Romanisch Röm. Römisch Rum. Rumänisch, Rumänien Sard. Sardisch, Sardinien Sb. Subjekt Sgl. Singular Siz. Sizilianisch, Sizilien Slav. Slavisch, Slaven Sp. Spanisch, Spanien Spr. Sprache, sprachlich Spr.wiss. Sprachwissenschaft, sprachwissenschaftlich Spre. Sprecher, sprechen Subst. Substantiv Tosk. Toskanisch, Toskana u. und V. Verb Vok. Vokal, Vokalv. von vs. versus, Gegenteil Wissen. Wissenschaft, wissenschaftlich Zshg. Zusammenhang zw. zwischen ~ nimmt das Stichwort auf = gleichbedeutend → wird zu, entsteht ← ist entstanden aus, Folge von
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Akademien zur Kodifizierung, Pflege und Verbreitung der Standardsprache Academia das Ciências de Lisboa als Academia Real das Sciencias 1779 gegründet; sie „hat nur in d. Rechtschreibregelung eingegriffen“ (786) ebenso wie seit 1896 d. Academia Brasileira de Letras 786–787 Real Academia Española 1713–14 gegründet 25, 183, 735, 740; seit 1771 bildete d. ~ „eine kontinuierliche Gr.tradition“ (235): Sp. vollständig kodifiziert 734; ab 1871 korrespondierende hispanoam. Akademien 736 Académie française 671–672, 690–698 „Ich wähle d. standardspr. Kriterium für d. Konzeption einer Spr.geschichte folgend d. regularisierenden Eingriff in d. Spr.wandel durch d. ~ [Es] ist sinnvoll, d. Neufrz. mit Vaugelas beginnen zu lassen. D. v. Vaugelas beobachtete Spr.gebrauch wird kodifiziert“ (659) „In Görz wurde 1919 d. Società Filologica Friulana gegründet, die eigentlich d. Aufgaben einer Spr. akademie übernehmen könnte“ (634) Accademia Fiorentina 604–605 „Für d. Ausbau u. d. Kodifizierung d. It. gründete Cosimo I 1541–42 d. Accademia Fiorentina. Sie sollte Fachlit. in tosk. Spr. u. d. Übersetzung aus jeder anderen Spr. ins Tosk. fördern“ (604) 1551 erste tosk. Gr.; Gründung weiterer Akademien; 1582–83 zur Reinerhaltung d. lit. Spr. d. Accademia della Crusca ins Leben gerufen 690, 735–736 Academia Gallega, 1905 heute Galega 773; Instituto da Lingua Galega an d. Univ. v. Santiago de Compostela 774; seit 1970 Normierungsvorschläge 775; 1982 tragfähige Lösung für Rechtschreibreform gefunden 590 Academia de la Llingua Asturiana seit 1980 Einrichtung d. Regierung zur Normierung d. Spr. gebrauchs; zugrunde gelegt wird d. mündliche Gebrauch 762–764; vorher Instituto de Estudios Asturianos 1946 761 Academia Republicii Socialiste România: 1963 in zweiter Auflage rum. Gr. für allgemeine Leser 236 Academia Valenciana 2001 753 Consello d’a Fabla Aragonesa 1976, 1977 Gr. v. Nagore Laín 757 Institut d’Estudis Catalans 1907 750, Secció Filològica 1911: bes. Pompeo Fabra 1913 Normes ortogràfiques, 1917 Diccionari ortogràfic u. 1932 Erweiterung, 1970 Enzyklopädie; Academia Valenciana de la Llengua 2001 geschaffen, vertritt d. Einheit d. Kat. 753 Lia Rumantscha o. Ligia Romantscha („Romanischer Bund“ seit 1919) „übernimmt letztlich d. Aufgaben einer Spr.akademie“ d. Bündnerrom. 642, 1982 Schaffung einer einheitlichen Standardspr. für d. gesamte bündnerrom. Spr.gebiet durch Schmid: rumantsch grischun „D. Osservatorio regionale per la cultura e la lingua sarda übernimmt d. Aufgaben einer sard. Spr. akademie“ (629) Societatea academică română seit 1867, 1954 Gr. 655 Societat d’Estudis Occitans 1930, ab 1945 Institut d’Estudis Occitans übernahm Normierung d. Gr. v. Alibert 713
Grammatiken und Beschreibungen einzelner Sprachen cf. ausführlicher Kommentar zu d. Gr. d. Einzelspr. 234–236; bibliographischer Kommentar zur Darstellung einzelspr. Erscheinungen 119–120 Thrax, Dionysios ca. 170–90 v. Chr. erste griech. Elementargr., Klassifikation ins Lat. übernommen, im Dt. „Redeteile“ 102 Consentius 5.J. n. Chr. De barbarismis et metaplasmis 433
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Victorinus 5.J. n. Chr. De soloecismo et barbarismo über Spr.fehler 433 Varro (116–27 v. Chr.) De Lingua latina über Spr. d. honestiores 442 Nebrija, Antonio de 1492 Gramática de la lengua castellana erste sp. Gr. 60, 726 Fortunio, Gian Francesco 1516 Regole grammaticali della volgar lingua 604 Bembo, Pietro 1525 Prose della vulgar lingua 604 Giambullari, Pier Francesco 1551 erste tosk. Gr. v. Toskaner geschrieben 604 Oliveira, Fernão de 1536 Gramática da linguagem portuguesa 785 Meigret, Louis frz. Gr. 1550 Le tretté de la grammere françoeze mit v. ihm geschaffener Orthographie 60, 670, 672, 697 Cittadini, Celso 1601 Trattato della vera origine, e del processo, e nome della nostra Lingua erste Synthese d. Vlt. 440 Vaugelas, Claude Favre de 1647 Remarques sur la langue françoise reflektiert d. standardspr. Norm d. Frz. u. etabliert d. bon usage 60, 113–114, 235, 251, 659, 691–693 Dos Reis Lobato, António José 1770 Arte da grammatica da lingua portugueza 785 Rivarol, Antoine de 1784 De l’universalité de la langue française 43, 705 Rădulescu, Ion Heliade 1828 Gramatică românească 654 Spano, Giovanni 1840 Ortografia sarda ossia grammatica della língua logudorese paragonata all’italiana gesamtsard. Gr. 628 Bello, Andrés 1847 Gramática de la lengua castellana destinada al uso de los americanos 739 Diez, Friedrich 11836–1843 Gr. d. rom. Spr. 574 Meyer-Lübke, Wilhelm 1890–1902 Grammatik d. Rom. Sprachen; 1890 Italienische Gr.; 1909, 1921 Hist. Gr. d. frz. Spr.; 1920 Einführung in d. Studium d. rom. Spr.wissen.; 1925 Das Katalanische 272 Fabra, Pompeu 1913 Normes ortogràfiques, 1918 Gramàtica catalana 751–752 Brunot, Ferdinand 1922 La pensée et la langue 99 Alibert, Loïs 1935 Gramatica ocitana, segón los parlars legodocians 713 Grevisse. Maurice 1936 Norm d. heutigen Frz. in Le bon usage 60, 235, 296, 698 Wagner, Max Leopold 1941 Hist. Lautlehre d. Sard.; 1951 La Lingua Sarda; 1952 Hist. Wortbildungslehre d. Sard. 628 Pittau, Massimo 1956 Grammatica del sardo-nuorese, il più conservativo dei parlari neolatini 630 Badia i Margarit 1962 Gramática catalana 235 Lüdtke, Jens 1984 Katalanisch 235 Castilho (org.) ab 21991 Gramática do português falado Untersuchung d. gespr. Pt. d. Gebildeten in 5 brasil. Hauptstädten 236 Teyssier, Paul 1976 Manuel de langue portugaise (Portugal-Brésil) 326 Nagore Laín 1977 Consello d’a Fabla Aragonesa vereinheitlicht Orthographie u. Gr. 757 Cunha, Celso u. Cintra, Luíz 1984, ⁵2019 Nova gramática do português contemporâneo 326 Darms, Georges 1985 Pledari rumantsch grischun-tudestg, tudestg-rumantsch grischun e Grammatica elementara dal rumantsch grischun 643 Blasco Ferrer, Eduardo 1986 La lingua sarda contemporanea 630
Sprachatlanten seit Junggrammatikern Forschungsinstrument d. Spr.geographie 311–312 cf. Dialekt Wenker, Georg schriftliche Umfrage bei dt. Volksschullehrern u. anderen Kennern d. Mundarten an ca. 30.000 Orten: 1881 Spr.atlas 311 Gilliéron mit Edmont 1902–1910 Atlas linguistique de la France 311, 333, 673
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Weigand, Gustav 1909 Linguistischer Atlas d. dakorümänischen Spr.gebietes erster großräumiger Atlas eines rom. Landes 311 Jud, Jakob 1928–1940 Spr.- u. Sachatlas Italiens u. d. Südschweiz 284, 512 Tomás Navarro Tomás 1962 Atlas lingüístico de la Península Ibérica – ALPI 317 Tomás Navarro Tomás ²1966 El español de Puerto Rico 319 Lope Blanch, Juan Manuel ab 1967 Atlas lingüístico de Mexico (ALM o. Almex) 319–320 ALFAL ab 1969 Untersuchung zur ‚norma del habla culta‘ o. Norma Urbana Culta, d. Spr. d. Gebildeten, im iberoam. Spr.raum 296, 318, 327 Luis Florez/Instituto Caro y Cuervo 1981–1983 Atlas lingüístico etnográfico de Colombia (ALEC) 733
Wörterbücher cf. Einzelsprachen, Dialekt Salviati, Leonardo 1612, Vocabolario degli Accademici della Crusca 605 Richelet, Pierre 1680 Dictionnaire françois, contenant les mots et les choses 698 Furetière, Antoine 1690 Dictionnaire universel 698 Bluteau, Raphael 1712 Vocabulario portuguez 786 Real Academia Española 1726–1736 Diccionario de Autoridades (DRAE, 232014) 736 Jovellanos, Gaspar Melchior de ast. Aufklärer, 1801 Instrucciones para la formación de un Diccionario del dialecto bable 761 Morais Silva, Antonio de 1813 pt. Wörterbuch 786 Meyer-Lübke, Wilhelm 1911–1920, ³1935 Roman. Etymologische Wortbildung 272 Fabra, Pompeo 1917 Diccionari ortogràfic 751 Wartburg, Walther v. et. al. ab 1922 Frz. Etymologisches Wörterbuch (FEW) 77 Wagner, Max Leopold 1960–1964 Dizionario Etimologico Sardo 628 Buarque Holanda Ferreira, Aurélio 1975 kodifizierte d. brasil. Wortschatz durch d. Nuovo dicionário da língua portuguesa (Aurélio) Werner, Reinhold mit Haensch ab 1993 Nuevo diccionario de americanismos 737 Lara, Luis Fernando 1986, 1996, 2010 Diccionario del español de Mexico 736 Puddu, Mario 2000 Ditzionàriu de sa limba e de sa cultura sarda 630
Alphabetischer Index Abbau vs. Ausbau „d. Prozess d. Ausbaus d. einen Spr. u. d. ~ d. anderen verlaufen nicht symmetrisch“ (562); ~ d. Deklination, d. Konjugation, d. V.systems 536–546; ~ d. Quantitäten im lat. Vok.system liegt d. rom. Standardspr. zugrunde 441, 507–510, 515, 714 cf. Vlt. Abstand 1. „~ bedeutet d. Zahl d. Merkmale, d. eine Spr. v. einer anderen unterscheidet“ (579) 574–584; ~ zw. Varietäten in Schriftlichkeit u. Mündlichkeit 440, 444, 633–634, 787; ~ in Situationen v. Mehrsprachigkeit zw. Standardspr. u. Dialekt 319, 447, 450–452, 457–459, 474, 785; ~ in Diglossiesituationen 314–315; Latein u. Lat. 447, 452, 457, 464, 563–566 u. insbesondere bei d. Herausbildung d. rom. Spr. 448–450, 515–517, 560–561, 658–672; ~ zw. Standardspr. u. Varietäten in Sp., Pt. u. Übersee 326, 740, 787, 790, 792) cf. Einzelspr., Vokalismus, Konson. 2. spr. ~ zw. Gesprächspartnern im Diskurs 36, 364, 560–563 3. ~spr. (Kloss) 560–561, 631, 636 Adjektiv drückt „Zugehörigkeit, Ähnlichkeit u. Begabtsein mit etwas“ aus (97–98, MeyerLübke); Wortkategorie 102–106; ~ivität 103; Relations~ 246–247, 456, 482, 565; Alters~ im Frz. 262–266, 678; im Sp. 266–268; im Lat. 452, 530–531; Gr. d. ~ 232–236; Deklination 234, 524–525, 678; Genus 525; Kasus 676; Aspekt 545; Reihung 236; Bildung 234, 246, 499, 565, 643; attributive u. prädikative Funktion 234, 242; Vor- u. Nachstellung 497; Komparativ/Superlativ/Elativ 200, 524, 530, 540, 679; Entlehnung 500, 504; Diminutiv 249; 136, 185, 189, 193–194, 200–201; Polysemie 253–258, 554, 643 cf. Autosemantika, Synsemantika, Wortfeld Adstrat „Wenn d. Spr.- bzw. Kulturkontakt zu einer bestimmten Zeit aktuell besteht, spricht man v. ~“ (460) cf. Substrat Adverb „Ein ~ erfasst einen Ausschnitt aus d. außerspr. Wirklichkeit als Modifizierung bzw. als Eigenschaft eines Sachverhalts“ (104); als Autosemantika können sie unabhängig v. einem Satzzshg. genannt werden u. d. Funktion v. Satzgliedern übernehmen 192; ~ in d. Textkonstitution 383, 386; als Diskursmarker 393–394; Wortbildung durch Transposition 234, 325; ~ Reduktion in d. rom. Spr. 530–532; Stellung 683, 686; Gebrauch 162, 249, 365, 383, 393,
445; ~ Bestimmung 249; Modal~ 210, 234; Orts~ 136, 141, 191, 363, 438, 531–532 u. Lokaldeixis 362–364; Zeit~ 228 u. Temporaldeixis 365–366; Satz~ 208; Grammatikalisierung d. ~ 395; kategoriale Bed. 38, 102 Affix Wortbildungsmonem 193–196 cf. Wortbildung Afrika chr. Latein 453–454, 458, 462, 467, 473, 485–486, 501, 506, (Augustinus über ~ Latein) 508, 562; Spr.kontakträume d. Ar. 477, 498, 502, d. Frz. 313,700. 703, 704, d. Pt. 165, 783, 790, cf. ladino 1, Kreolsprachen Agens Beteiligung am Sachverhalt 86–89, 92–93; „Wie d. im V. ausgedrückte Sachverhalt dargeboten wird“ (545) Aktiv, Passiv, Medium 545–546 cf. Tätigkeit Aktant (Tesnière) = Ergänzung vs. Zirkumstant = Angabe 204–207; obligatorischer vs. fakultativer ~ 207; d. Subjekt wird Erst~, d. Objekt Zweit~ 204, 385, d. indirekte Objekt Dritt~ genannt 204 cf. Valenz Aktionsart „Betrachtungsweise d. Sachverhalts, d. durch d. V. ausgedrückt wird […] Dabei kann vorrangig d. Sachverhalt selbst betrachtet werden, d. durch d. Lexem ausgedrückt wird, im Dt. meist ~ genannt“ (212); Zshg. Tempus, Aspekt, ~ 211–212, 232 Aktiv vs. Passiv vs. Medium „Wie d. im V. ausgedrückte Sachverhalt dargeboten wird“ (545)-546, 101, 205; v. Agens aus Aktiv, v. Objekt aus Passiv, d. Agens fällt mit d. Objekt zusammen (Medium) 545–546 cf. Diathese Aktualisierung vs. Bez. 92; „D. ~ besteht darin, dass ein im Wissen d. Spre. potentiell existierendes Zeichen für d. Diskurs verwendbar gemacht wird“ (201); „D. Determinanten dienen im Lat. auch dazu, d. Subst. zu aktualisieren. Meist bleibt d. ~ implizit. D. Determinanten drücken im Falle d. adj. Possessivpron. gleichzeitig mit d. ~ eine Beziehung zum Spre., zum Angesprochenen u. zu einer Entität aus. […] Somit war d. ~ eine sekundäre Funktion d. Determinanten. Diese werden im Laufe d. Spätgeschichte d. Lat. […] immer häufiger“ (532–533) cf. Artikel; ~ beim V. 101, 195; ~ → Aktualisatoren 532–536 Akzent 1. „D. Abfolge d. Spr.laute ist notwendigerweise linear u. weiter gegliedert durch
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Silben, ~ u. Intonation“ (51) 60–61; „Silben können mit geringerem Stimmdruck ausgesprochen werden o. mit unterschiedlicher Tonhöhe o. mit beidem u. dienen dann d. Ausdruck d. ~“ (72); „D. ~ ist in d. rom. Spr., außer d. Frz., distinktiv“ (144)-145, 152; lexembetonte u. endungsbetonte Formen d. V. 682; Wechsel d. ~ 507 v. klat. musikalischen ~ o. Ton~ („variierende Tonhöhe“ (72)) zum vlt. Druck~ o. Intensitäts~ o. dynamischem ~ („variierende[r] Druck d. Atems auf d. Stimme“ (72)); Druck~ zur Bed.unterscheidung 144, 196 2. bei Erlernung einer Zweitspr. 302 3. graphischer Akzent 671, bei Texteditionen 281, 302 Albanisch „D. Albanische hat nicht dieselbe spr. Grundlage wie d. Rum.“ (492); „Eine östliche Latinität setzt sich bis heute im ~ fort, aber nicht als rom. Spr., sondern als Kontaktvarietät mit zahlreichen Residualelementen“ (556) 497, 559, 619 Alemannen = Germ. überschreiten d. Limes 498; Kontakte mit d. Rom. im Rhein- u. Illtal 557 sowie zw. Bodensee u. d. Alpenraum 639 Algerien als röm. Provinz latinisiert 485, seit 1830 frz. kolonisiert; seit Unabhängigkeit Frz. rückläufig 703 cf. Afrika Allophon „D. Phonemvarianten werden auch, nach d. griech. Wörtern állos, ein anderer‘ u. phoné ‚Stimme‘, ~ genannt“ (140–141); bei d. Neutralisierung v. Phonemen „sind ihre ~ zu berücksichtigen“ (143–144); Reduktion d. hispanoam. Phonemsystems 321, Brasil. 328 frz. 150; sp. 153, 157; kat. 161; pt. 166, 169; it. 173 Alltag als Bedingung d. Spre. 354; ~riten im Diskurs 350–351; regionalspr. ~wissen 329 Alpenromanisch (Gamillscheg) Oberbegriff für Frl., Lad. u. Bündnerrom. 631–632; Raum mit dt. Spr.kontakt mit gemeinsamen Konservationen, „nicht so sehr gemeinsame[n] Innovationen“ (556)-557, 645 Alphabet alphabetische Schrift über d. gr. ~ v. Cumae übernommen v. Etruskern u. Lateinern 51, 467; wird zum Model für neu zu verschriftende Spr. in d. Romania außer auf d. Ib. Halbinsel: nach 711 sind nur im ar. o. hebräischen ~ geschr. Texte überliefert 180; Rum. 183 wird kyrillisch verschriftet u. erst ab d. 18. J. im lat. ~ 651, 654; ~isierung indigener Spr. 317, 719; durch Schulen in d. Nationalstaaten F. 698, It. 609, 612–613,
617; Gal. 776 u. in Hispanoam. 719, 740, in ehemaligen pt. Kolonialgebieten 788; ~isierte Spre. d. Lat. 570; ~isierungsrate in Mailand u. Lombardei 612, 617, im okz. Spr.gebiet 711 cf. Analphabet Alterität Universale 20–21, 30–37; (Humboldt) „D. Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem anderen“ (30); „~u. Identität gehören zusammen […] Am besten gelingt dies mit Namen“ (32) 346; Eingrenzung unserer spr. Freiheit, bes. d. Kreativität durch d. ~ 33, 55, 268; ~ u. Reflexivität 57, 59; ~d. Textes 338; im Dialog 346–347, 403; Personaldeixis 360 Amalgam (Martinet) ein einziger Ausdruck drückt mehr als einen Inhalt aus 194, 197, 199, 202, 220 Amerika = Lateinamerika 1. Hispano~727–734, 740–773 2. Brasil. Amtssprache Latein im Imperium 470, Lat. 498, 557; Gebieten d. arag. Krone 732, Arag. 726; Ast. neben Sp. 763; Dt. SO F. 668; Frz. 668, 710; Gal. im Mittelalter 767, neben Sp. 773–774, Wiedereinführung in autonomen Regionen Sp.; It. in Venedig 305; Balearen u. Kat. 738, 743, 748, 749–750, 752; Sard. 626, 726; Lad. 637; Okz. 708; Pt. in Expansionsgebieten 780, 787; pt. Kreolspr. 788; Quechua in Peru 317, 741; Rumantsch Grischun 644; Rum. 651, 654 Analogie(n) zwischen Dingen, Metaphern 76, 82, 416; ~bildungen u. -verfahren 123, 677, 680– 681, 683, 690 Analphabet lector d. frühchr. Kirche 53; Kaiser Justinian „unterschreibt“ durch Schablone 500; 563, 570; ~rate in Brasil. 786, 788 cf. Alphabet analytisch als Methode d. Forschung u. Darstellung 83–84, 99, 144, 340; spr.~ Philosopie 398–399; A.W. Schlegel ~ vs. synthetische Spr. 521–523 Anapher Rückverweis im Diskurs vs. Katapher Vorausverweis 367, 383, 395,533; stellen Textkohäsion her 383, 391–392 cf. endophorisch, Kohärenz, Kohäsion Andalusisch Romanisierung u. Latinisierung 479, 780; Dialekt 293, 315, 317, 717–719, 724, 740, 766, 768; Ausspr. 63, 320–322, 724 → Hispanoam. 158–159, 728–729; Al-Andalus 504, 570 Angaben = Zirkumstanten sind „weitere, zusätzliche Bestimmungen“ (209) obligatorische
vs. fakultative vs. Ergänzungen 207–210; Sinn 209 cf. Valenz; gr. ~ → V.bildung 244; Wörterbücher Bed.~ 253–266 cf. Valenz, Sinn Anglisierung d. hispanoam. Wortschatzes 741 Anglonormannisch koloniale Varietät d. Normannischen 315, 666 Anpassung o. accomodation „Übernahme v. spr. Merkmalen eines Anderen in d. eigene Spr.“ (36) cf. Spr.wandel Anrede als Kategorie d. Alterität: „Spre. ist auf ~ u. Erwiederung gestellt“ (Humboldt) (32)); 34, 42, 85, 385, 427, 676: ~ im Vokativ 109; Höflichkeitsfom 280–281, 322–324, 361 cf. voseo vs. tuteo Anspielung o. Anregung o. Andeutung (Coseriu) was im verbalen Diskurskontext nur angedeutet, nicht gesagt wird 357; als Kategorie d. Lit. 368 u. d. Intertextualität 377 Antonymie entgegengesetzte Wortbed. vs. Synonymie 253 cf. Polysemie Aorist „D. ~ (griech. für ‚unbestimmt‘) drückt d. fortschreitende Erzählung, d. Konstatierung einer Tatsache in d. Vergangenheit u. d. Beginn o. d. Ende einer Hdlg. aus“ (684) 536, 543 Appendix Probi „D. ~ schlägt Fehlerkorrekturen vor, die sich ebenso auf d. gespr. wie auf d. geschr. Spr. beziehen“ (433); wichtige Quelle d. Vlt. 505, 515, 520, 525–526, 528, 551 cf. Bibliographie Asperti/Passalacqua Araber o. Mauren eroberten Afrika u. d. Ib. Halbinsel (ab 8. J.), It. im 8. o. 9. J. „Sie traten ihre Herrschaft in d. rom. Gebieten an, nachdem d. röm. Einheit bereits durch d. Germ. zerschlagen worden war. […] [Sie] arabisierten u. islamisierten […] d. eroberten Gebiete, die dadurch d. Romania zu einem großen Teil verloren gingen“ (502) 180, 456, 498, 502–504, 716–717, 721, 725, 745, 747; Romania Arabica 502–504 cf. Mozar. Aragonesisch Primärdialekt d. Sp. 317; Spr. d. kat.-arag. Staatenbundes unter d. ~ Krone 503, 581, 664, 747–748, 755–759; Probleme d. spr. Identität, Abgrenzung, Verschriftung 577, 583, 596, 598, 719, 724–726, 730, 732, 737, 742–745, 759; im O Spre.orientierung am Kat. 758; Autonome Gemeinschaft 742; Navarro~ 718 Arbitrarität o. Willkürlichkeit d. Beziehung zw. einem Spr.zeichen zum Bezeichneten ist arbiträr, d. h. unmotiviert, ebenso d. Beziehung zw. signifié u. signifiant 41,51, 76, 130 cf. signe
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Archaismen (Flydal) ältere Spr.zustände, die im Bewusstsein d. Spre. als gleichzeitig betrachtet werden 286–287 Archi „D. Element Archi- drückt ganz allgemein […] Überordnung innerhalb einer Hierarchie aus“ (143); ~lexeme 258, 260, 262, 264, 266; ~ phoneme 163, 167–169 cf. Neutralisierung Argentinien 219, 318, 321, 323, 729, 737 Argument 1. An jeder Stelle eines Diskurses entscheidet man sich z. B. zw. „d. Erzählen, d. Beschreiben, d. Argumentieren“ (353), die „man mit Adam Diskursgattungen nennen“ kann (402)403, 408; Argumentationssequenz 413, 418– 420, 427; Argumentation stützt sich auf ~ vs. Gegen~ 419–420; „Eine Argumentation bedarf d. Einbettung, die d. Hintergrund liefert“ (418)-419; Adv., die als Diskursmarker d. Argumentations zshg. explizit machen 386 2. Partizipant beim Prädikat (Daneš) 91, 384 cf. Sachverhalt, Aktant Aromunisch in Teilen v. Griechenland, Albanien, d. ehemals jugoslavischen Makedonien u. Bulgarien verbreitet 575; rom. Spr.nimmt früh (9.–10. J.) slav. Elemente auf; 19. J. Übergang v. d. kyrillischen zur lat. Schrift 656, 559, 647 ars grammatica Übersetzung d. griech. téchne grammatiké: Kunst d. Lesens u. Schreibens 24–25 Artikel Wortart 102, gr. Wort u. freies Morphem 191, Synsemantikon 192; „D. ~ determiniert, delimitiert u. aktualisiert“ (103); „Beim ~ tritt d. Funktion d. Aktualisierung allein u. ausschließlich auf, sie ist daher als Grundfunktion d. ~ zu betrachten“ (533); ~ „markiert auch die nominalen Kategorien“ (678); bestimmter ~ spezifische Funktion vs. generische in rom Spr. 41, 95, 535, 679; Form d. ~134–127, 522, 676–678; nachgestellt im Rum. 193, 200, 497, 528; unbestimmter ~ 391 vs. frz. Teilungsartikel 210, 678–679; ~ in Wortbildung 689; ~ Innovation d. rom Spr. aus lat. Demonstrativpron. 102, 532–535, 546, 627 Artikulation 1. d. Laute 11, 49, 61–63, 66–70, 72, 153, 157–158, 174, 321, 328; ~arten o. -modi 64, 70, 163; ~bereich 147, 153, 167, 175; ~organe = Sprechwerkzeug 63 66, 68, 70; ~stellen o. ~ort 63–65, 66, 68, 70, 158, 163, Klat. 507, 516, Frz. 674; 2. doppelte o. zweifache~ (Martinet) = Gliederung d. Spr. 37, 49; Ko~ greifen ineinander u. „bilden ein lautliches Kontinuum“ (72); ~ im Hiat = Synärese 154
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Aspekt (Varro) ~unterschied im V. zw. infectum u. perfectum 537–544; „Betrachtungsweise d. Sachverhalts, der durch d. V. ausgedrückt wird“ o. „eine gr. Bed., die durch d. V.moneme ausgedrückt wird“ (212) kursiver vs. komplexiver ~ 214–215; ~bed. durativ 227, 627, 685, iterativ 227, 539, 541 u. konklusiv 227; ~periphrase 544– 545, 685 cf. V.periphrasen, Perspektive Aspiration bzw. Spirantisierung, v. /-s/ in implosiver Stellung im Sp. 154, 159, 321, 328 Asturianisch o. bable 755, 759–764; häufig negativ konnotiert → asturiano 762; ~ Primärdialekt d. Sp. in Ast. 759; Asturleon. spr.wiss. Bez. f. ~ u. Leon. u. ~ 317, 759; d. Spre. kennen nur ~ o. Leon., das d. Sekundärdialekt d. ~ ist: 317, 504; als Dialekt d. Sp. 718–719; kst. Überdachung 723–724; Kodifizierungsbemühungen 577, 581; Conceyu Bable standardspr. u. lit. Ausbau 724, 762; Normalisierung 596, 742–743 Aufklärung 401; frz. ~ brachte d. it. Literaturspr. in eine Krise 607; Schulreform Josephs II. in Oberit. 612; rum. ~ Einfluss d. Siebenbürger Schule u. Maria Theresias Schulreform 646, 651, 653; sp. ~ → Spr.politik u. kulturelle politische Einheit → Neugliederung Hispanoam. 732–733; pt. ~ 786 Augmentativbildung vs. Diminutivierung cf. Wortbildung Ausbau 1. cf. Kodifizierung 562, 568–569, 573, 581; ~ in Kat. Normalisierung 593; rom. Spr. 24, 317, 441; Gal. 584, 773, 775–776; It. 597, 602, 604–605, 608; Kors. 623; Sard. 626, 628–630; Frl. 631, 634–635; Bündnerrom.; 640; Rum. 651, 655; Frz. 663–665; Sp 715; Kat. 745, 750, 753; Arag. 758; Ast. 762 2. Ausbau vs. Abstandspr. (Kloss) 593, 631, 636 Ausdruck 1. ~ d. Gedankens durch Worte (Humboldt) 9, 24, 37, 50, 336 2. mit d. wir über d. Welt spre. 13, 54; spr. ~ signifiant 96; „~ u. Inhalt sind solidarisch- sie setzen sich notwendigerweise gegenseitig voraus“ (49) 42, 132–135, 198, 201 wie Morpheme 187–189 u. Moneme 193–194, 196 u. Wort 197; ausdrucksbasierte Gr. 201 3. „Allgemein-spr. ~: Die Laute“ (60)-73 cf. Materialität Äußerung „Eine Äußerung ist eine minimale (nicht abgebrochene) Ausdruckseinheit in einer Redesituation“ (101) vs. Satz Äußerungskategorie o. Satzarten 102, 106–110; Kategorien d.
Sagens 101, 426, 428; Assertiv auch affirmativer, Deklarativ- o. Aussagesatz, „Normalfall“ eines Satzes 107 „In einem Assertivsatz wird ein Sachverhalt dargestellt […] als würde er [d. Spre.] sagen: ‚So ist es‘“ (107)-108, 373, 547; Exklamativ, Interrogativ, Imperativ, Optativ 108–110 Ausgliederung d. lat. Spr.räume → Vergrößerung spr. Abstand → neue hist. Spr. u. rom. Dialekte 448–449, 466; auf Ib. Halbinsel 499; frühe ~ d. Rum. 558–560; lautliche ~ 557 Autosemantika sind V., Subst., Adj. o. Adv. mit lex. Bed., die unabhängig v. einem Satzzshg. genannt werden u. d. Funktion v. Satzgliedern übernehmen können vs. Synsemantika 192 Azoren Entdeckung 782, pt. Dialekte d. ~ heben sich v. denen auf Festland ab 326 Balkan Grenze Latein u. Griech. → rom. ~ 498, 557–558, 583, 646, Konstantinopel Hauptstadt 500–501; Einwanderung v. Slaven 498 → nachgestellter Art. u. Adj. im Rum., ~isches Merkmal 497, 557; Judensp. 727 Basken „sind ein eigenes Volk mit eigener Spr.“ (478), vor d. Ib. auf Halbinsel ansässig 477–478; Diglossie u. Bilingualismus 298, 448; Kontakt mit Sp. 723, 740; „wurden in Am. zu Sp.“ (729)730; spre. 1/3 d. Bewohner d. ~lands 589; Identitätssuche 595, 742–743,773 Bedeutung (Coseriu) Spr. hat Bez., Bed., Sinn 38, 47–48, 20–21, 98; ~ geht Bez. voraus 41–42, 46, 79; „D. Beziehung zw. zwei signifiés nennen wir ~beziehung, ~relation o. einfach ~“ (131); Einzelsprachlichkeit d. ~ (signifiés) 15, 41–43, 45, 50–51, 53, 74–75, 85, 96; ~ (signifié) vs. Laut (signifiant) 33, 37, 49–50, 58, 60, 182; Unterschied zw. ~ u. Bez. 39–40, 44, 55, 57–58, 74, 81, 397; kategoriale ~ v. Wörtern u. Äußerungen 101, 104, 108–110; instrumentale ~ 201; lex. ~ 105, 190–192, 243, 396; propositionale ~ 384; Wortbildungs ~ 96, 245–247 vs. Wortschatz~ 243; Diskursbed.typen 254, 424–425; Theorie d. ~ 80–81, 98; ~unterscheidendes Merkmal 36 cf. Sem. Bedingung allgemeine ~ d. Spre. u. Schreibens: Alltag, Situation, Sachverhalt 58, 60, 182, 354, 376, 400; Kommunikations~ Nähe- u. Distanzspr. (Koch/Oesterreicher) 345–346 Begrüßung Formen v. ~ im Diskurs, stark konventionalisiert 35, 238 Belgien 152, 328–329, 699, 703 cf. Brüssel
Beschreibmaterial röm. = Schreibmaterial gibt „Hinweise auf d. möglichen Autoren u. ihren sozialen Status“ (434)-437: Holz mit Wachs beschichtet u. Stilus, 434; geweißte Holztafel mit Tinte beschrieben 435; Holztäfelchen aus Vindolanda (England) u. Vindonissa (Schweiz) 435, wahrscheinlich im gallischen Krieg tabulae 488; Papyrus/pl. -i aus Archiven d. röm Heeresverwaltung 436; Pergament als Codex gebunden 436; Blei für Fluchtäfelchen 436; Steininschrift 431, 466; gemeißelte Inschriften auf Gebäuden, Graffiti in Pompei 436–437 cf. Urkunden, Edition Bezeichnung o. Bezeichnetes Zweite Art d. Bed. „diejenige [Beziehung] zw. einem Zeichen insgesamt u. d. Bezeichneten o. d. bezeichneten Sache [nennt Lüdtke] ~beziehung, ~relation o. eben einfach ~“ (131), 15, 38–39, 73–76, 98, 130, 347, 360; „D. begriffliche Unterschied zw. Bed. u. ~ […] ist ein klarer Unterschied“ (55); ~funktion 44, 53, 73, 77, 96, 363, 425; ~innovation 459; ~akt 359; ~vorgang 23; ~kategorie 210; ~klassen 97; ~element 97; ~ebene 54, 79, 81; ~korrelation 92, 94, 106; ~relation 82, 131, 340, 364, 459 cf. Denotation, Referenz Beziehung paradigmatische vs. syntagmatische ~ 136–138 Bilingu(al)ismus individuelle Zweisprachigkeit vs. Diglossie 297–298 partieller ~ o. Polylinguismus 289; Lat. 461, Sard. 628 bon usage vs. mauvais usage richtiger vs. falscher Spr.gebrauch v. lat. usus, (Quintilian) 694; Vaugelas 60, 235, 691, 693, usage déclaré vs. douteux 695–697, Beginn d. Neufrz. 659, 671, 684,705→ Grevisse 60, 235, 296, 698; Durchsetzung d. langue correcte 60, 113–114, 657–658, 690–698; → Eingrenzung d. Spr. 251, 296 cf. Académie Française Brasilien pt. Dialekte d. Atlantikinseln „für die weitere Expansion nach ~ wichtig“ (326); Entdeckung u. Eroberung 783; Expansion 729, 785; 1763 Vizekönigreich 787; Unabhängigkeit u. Entkolonisierung 779; Verlegung d. pt. Hofes 1807– 1821 nach ~, 1822 Unabhängigkeit, Kaiserreich 1822–1889, Rio de Janeiro Hauptstadt bis 1960 787; Unterschiede zw. ~ u. europäischem Pt.: 326–328, 786, 788, Abstand geschr. zu gespr. Spr. 787, 788; geringe Alphabetisierungsrate 788; spr. Emanzipation drückt sich durch Bez.
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brasil(i)ense u. língua brasileira aus 787; Pt. Spr. vermittler Tupi Guaraní 783 → língua geral 784; Pt. „als Staatsspr. zur Weltspr.“ 778 cf. Pt. Bretonisch kelt. Spr. in d. Bretagne 471 Verteilung d. Frz. u. ~ 298, 329 cf. Gallier Britannien 487, 489, 495 röm. Feldzüge 490, 493, 495, 541; Spr.kontakträume 448, 462–463, 506; ~ Spr.471; Angelsachsen 498 → ~ germanisiert u. kelt. Briten nach Cornwall, Wales, Schottland zurückgedrängt 557 → ~ geht Romania verloren Brüssel fl. Region Burgunds ab 15. J. Frz. spre. 666 → Konflikte zw. Fl. u. Wallonen 702–703; frz. spr. Hauptstadt d. neuen Staates Belgien 702 Buchdruck Stützung d. dominanten Spr. durch ~ 562; Rum. 651; Frz. 670–672; Sp. 723, 726 Bulgaren slav. Anteil im Rum. 559 Bündnerromanisch Dialekte d. ~ in Graubünden: Lad. im Unter- u. Oberengadin, Surm., Suts. u. Surs. 638–645; gesamt~ Schriftspr. rumantsch grischun 642–644; seit 1938 vierte Landesspr. d. Schweiz 641–642; 1996 Amtsspr. d. Bundes für rom. Bündner, 2001 Amts- u. Verwaltungsspr.; an Primärschulen u. Gymnasien unterrichtet 644; Einfluss d. Dt. 639–640; 120, 298, 517, 526, 528, 530, 557, 562, 576, 578, 586, 596, 619, 631–632, 634 cf. Lia Rumantscha Burgundisch o. Frankoprov. (Ascoli) geschr. Volksspr. im Herzogtum Burgund 557, 666–667 Cádiz (< punisch GADES 478) geopolitische Bed. für Expansion Roms 466–467; übernimmt 1718 v. Sevilla Handelsmonopol 732, Cortes de ~ arbeitet 1810–1812 erste sp. Verfassung aus 732, 740 castellano offizieller Spr.name 716, 722, 742, 769, 778 für español vs. andere Spr. in Sp.; Benennung d. Kst. in d. Randgebieten 113, 716– 717; in Peru, um sich spr. v. Mutterland abzugrenzen 576, 729–730; Umbenennung Akademie 735 Chile Eroberung 729; spr. Besonderheiten 320– 325, 740: Orthografie Bellos 737 China pt. Handelsfaktoreien, → Kreol 783; pt. Verkehrsspr. in ~ 783; „Als pt.spr. Gebiete sind Goa in Indien, Macau in China u. d. nunmehr unabhängige Ost-Timor geblieben“ (780) Christianisierung d. Röm. Imperiums u. Latinisierung, um 600 abgeschlossen 453–457, d. Rum. schon im 3. + 4. J.; d. Spr. d.~ hellenisierten Juden wird zur Koine 470
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code parlé vs. code écrit gespr. vs. geschr. Spr. 347–348 Dachsprache (Kloss) Schriftspr., die d. anderen Spr. überlagert: Lat., Gr., Altkirchenslav., Ar., Dt. 562, Tosk. 621 Dakisch indogerm. Spr. 496–498; Röm. Reich 457–458, 463, 473, 533, 552; nachröm. Völker → Dakorum. 558–559,575, 649, 652; Weigand Spr. atlas 311 cf. Rum. Dalmatisch Spr. d. Latinität im O. Illyriens; erloschen 1898 XII, 506, 556, 583 Datenerhebung 7, 29, 296, 344 cf. Edition Deixis „für das Zeigen auf ein Bezeichnetes“ (359)-367; Pl. Deiktika = Zeigwörter (Bühler) gehören „zum Spre. im Allgemeinen […] u. zum Diskurs […] ausgehend v. Ich, Hier u. Jetzt [Origo] d. Spre. Weil man auf diese Gegebenheiten d. Spre. zeigen kann, nennt man sie deiktisch“ (359); Zeigfeld liegt d. Spre. u. Schreiben zugrunde 347, 355; unmittelbares Zeigfeld vs. „Deixis am Phantasma“: „d. Spre. kann sich ein Zeigfeld bzw. eine Situation in d. Phantasie vergegenwärtigten“ (357); ~ gestaltet d. Umfelder 355; Personal~ 360–362, Lokal~ 362–363; Demonstrativpron. 364–365, 533; Temporal~ 365–366, Modal~ 366–367 cf. exophorisch Dekolonisierung cf. Entkolonialisierung Demonstrativpronomina 1. deiktische Funktion 364–365, 533 2. textphorische Funktion „D. anaphorische Verweis auf schon Gesagtes o. d. kataphorische Verweis auf noch zu Sagendes musste im Lat. mit Demonstrativ-, Intensiv- u. Identitätspron. geleistet werden. Damit ist aber d. lat. Verwendung dieser Pron. nicht mehr mit d. roman. vergleichbar“ (535–536) 367, 395 3. Aktualisierung 533 cf. Artikel Denotation „D. Bezug zur außerspr. Wirklichkeit sei je nach spr.wiss. Tradition Bez., Referenz o. Denotation genannt“ (39) Dependenzgrammatik 91, 204–211 cf. Valenztheorie Determinans-Determinatum-Struktur (Zweigliedrigkeit) eines Syntagmas „D. eine ist bestimmend (determinierend), d. andere ist bestimmt (determiniert)“ (97); Wortbildung lat. 547, rom. 248, frz. 241 Deutsch Gebrauch v. ~ statt rom.-lat. Volksspr. 565, 660–661; Kontakt zwischen germ. u. rom. Spr. 638–641 → Bündnerrom. u. Lad. in d.
Schweiz 298, 557, 562, 586, 632, 637, 639–642; F.: Lothringisch u. Elsässisch 330–331, 352, Überdachung im Elsass 620, 622; Rum. 646– 649, 651, 654–655; Status in d. Schweiz 668, 702 Diachronie vs. Synchronie 120–128, 334 (Saussure): „linguistique évolutive“ u. „linguistique statique“ 121; „D. synchronischen Fakten sind d. ‚simultanéités‘, d. ~ Fakten d. ‚successivités‘“ (122–123), prospektiv vs. retrospektiv 124; spr. wissen. Perspektiven: synchronische u. diachronische 81, 123 u. ihre Überwindung 128; diachronische Spr.wissen 127 cf. Spr.geschichte, Spr. wandel Dialekt vs. Standardspr. 12; (Coseriu)„D. dialektale (‚räumliche‘) Verschiedenheit“ d. Spr. = diatopische Unterschiede 292; primäre ~ sind älter als d. Gemeinspr., sekundäre ~ entstehen innerhalb d. Gemeinspr. → Kolonialdialekte; tertiäre ~ sind Unterschiede im Raum einer Standardspr. 292–296, 308; sozialer ~ 309; angloam. Gebrauch für Spr.niveau 309; Dialektologie Disziplin, die ~ erforscht u. beschreibt 19, 128, 284, 291, 303–304, 308, 311, 314, 325, 328, 334, 587, 667, 756; ~wort 34 → ~wörterbücher, ~monographien, Spr.atlanten 272, 303, 310–312, 317, 318–320, 334, 348, 438,628, 634; ~literatur 304, 310, 604, 611, 621, 651, 670, 712, 770 cf. Reflexlit.; Dialektalisierung d. Lat. 448, 463–466, Gal. 584–587, 661–663, 768,776 It. 603–604, d. Galloromania 661–663, d. Frankoprov. 667 668, Kst. 717–718, Ast. u. Arag. 719, Kat. 732, Leon. 760, Pt. 781 cf. diaphasisch, diastratisch, funktionelle Spr., Kontaktvarietäten, Variation, Varietät, Spr.wandel Dialog 1. Typ v. Diskursgattung o. Textsequenz Dialog- o. Gesprächssequenz (Adam) 402–407 „~ eine hierarchisierte Abfolge v. einander abwechselnden Sequenzen“ (406) einbettender u. eingebetteter Spre.wechsel 406; kleinste Einheit d. ~ = Turn o. Spre.wechsel (404); als Diskurs 14, 357; Diskursmarker gliedern d. ~ 393–394 cf. Alterität 2. „Auseinandersetzung divergierender Standpunkte“ (Bachtin) Dialogizität → Kristeva Intertextualtät 368 cf. Polyphonie diaphasisch Unterschiede vs. symphasisch Gemeinsamkeiten d. Typen v. Ausdrucksweisen, Spr.stile (Coseriu) 159, 237, 287, 289, 291–293, 295, 297, 307–310, 312, 331, 335, 348, 443, 446,
450–452, 464, 505, 550, 564, 570, 664, 695, 788 cf. diastratisch, diatopisch, Variation diastratisch (Flydal) Unterschiede vs. synstratisch Gemeinsamkeiten d. sozialen Schichten d. Spr.gemeinschaft, Spr.niveau (Coseriu) 159,237, 287–288, 291–294, 297, 307–310, 450, 464, 505, 550; Soziolekt 115 cf. diaphasisch, diatopisch, Variation Diasystem (Weinreich) umfasst heute alle diatopischen, diastratischen u. diaphasischen Unterschiede 290–291 cf. Spr.architektur Diathese o. Vox 100–101 o. Genera verbi, 545–546 „Bei d. bivalenten [o. transitiven] V. wird weiterhin unterschieden, ob eine Hdlg. […] v. einem Aktanten auf d. anderen ‚übergeht‘, o. nicht. Dieser Unterschied wird Vox o. ~ genannt“ (205); aktive vs. passive vs. reflexive vs. rezi proke ~ 205, 545–546 diatopisch Unterschiede vs. syntopisch Gemeinsamkeiten im geogr. Raum, Dialekt (Coseriu) 159, 237, 287–288, 291–294, 295, 297, 307–308, 310, 315, 319, 324–327, 329, 348, 443, 450–451, 463–464, 505, 526, 551–552, 569–570, 617–618, 621, 623, 626, 637, 640, 651, 656, 661–63, 765, 786–787 cf. diaphasisch, diastratisch, Variation Diglossie = gesellschaftliche Zweisprachigkeit; „für d. Koexistenz v. zwei o. mehr Spr. hat sich in d. Folge v. Ferguson (1959) Diglossie eingebürgert“ (297); Kreuzklassifikation bei Fishman nach d. Kriterium d. Vorhandensein o. nicht v. Bilinguismus u. ~ 297–298; ~ u. Spr.kontakt 299–307; ~situation 301, 304, Röm. Reich 556, karolingische Renaissance 565, 660, Tosk. als gespr. Spr. 608, Kors. 621, Sard. 628, Gal. 767 cf. Kontaktvarietät, Mehrsprachigkeit Diminutivbildung o. Diminutivierung, Verkleinerung „bildet zusammen mit d. Augmentativbildung […] einen eigenen Bereich [d. Wortbildung]. [Diese] Bed. [sind] keiner Funktion im Satz ähnlich“ (249) 452; in d. rom. Spr. können diminutiviert werden Subst. 164, 249, 483, 551, 556, 689, 736; V. 249, Adj. 452, 556, Adv. 249, 452; Diminutivsuffix 100, 769 Diphthong cf. Vok., Einzelspr. Diplomatik 438 cf. Edition Diskurs eine d. sprachl. Ebenen, Diskurs vs. Text „verwende ich für Rede als Tätigkeit ‚Diskurs‘ u. für Rede als Ergebnis o. Produkt dieser Tätigkeit ‚Text‘“ (341); „D. Spr. als Rede
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o. Schreiben d. Einzelnen […] schließt Mündlichkeit u. Schriftlichkeit ein“ (14) 336–428, 20, 25–26, 35–36, 43–44, 48, 52, 56–58, 62, 72, 74, 78, 81–83, 85–86, 89, 91, 96, 98–99, 102, 105, 108, 110–111, 113–115, 117–119, 133–134, 136, 145, 166, 174, 201, 237–238, 240–242, 269, 273, 284, 293–294, 304, 309, 333, 338, 343, 423, 431, 442–443, 523, 599, 601, 603, 671, 731; im ~ „Verwendung v. einer o. v. mehreren Varietäten“ (113)-115; ~ untersucht in Textlinguistik, Textgr., Textwissen., Kommunikationswissen., ~analyse, Konversationsanalyse, Pragmatik, Ethnolinguistik, Soziolinguistik, Rhetorik, Stilistik 15–17, 98–99, 341, 337, 344; Herstellung v. ~zshg. 136, 187; ~bed. 85, 221–222, 228, 230, 232, wird „nur im Diskurs o. Text geschaffen“ (425) 689, ~ bed. typ 219, 232, 253–258, 267, 425, 538–543, 546 cf. Sinn; ~gattung 340, 353; Adam: 400–423; ~inhalt 219, 380–382, 385–387; ~kontext „d. schon Gesagte u. d. noch zu Sagende“ (44); „Beim Schreiben liegt ein ~ mit mittelbarer räumlicher u. zeitlicher Orientierung vor“ (346); deiktischer Verweis im ~ 391; 78, 81, 353–359, 369, 371, 373, 375–376, 387, 391, 393, 426 cf. Sinn; ~marker „Äußerung, als Element d. Textverknüpfung, als Steuerung d. Verständnisses einer Äußerung zw. Spre. u. Hörer“ (393) 383, 386, 393–395, 426, 428; „D. einzelspr. Klassifikation in Gr. u. Wörterbüchern zufolge handelt es sich um Adv., adv. Redewendungen, Konjunktionen, Pro-Formen, kurze Sätze o. Interjektionen“ (393), Gliederungssignale 376; ~tradition 56–57, 339–340, 348–353, 358, 397, 535, 603, 655, 665; „Nähe-“ u. „Distanzkurstradition“ 345–346; ~universum 353–359, 392, 426, 573 cf. Theorie d. Umfelder Distribution „D. jeweilige Art u. Weise, wie ein bestimmtes Phonem im Wort o. in d. Silbe verteilt‘ ist, nennt man seine ~“ (144); im Lat. 516 u. d. rom. Einzelspr. 140–179, 520, 627; ~ d. freien u. gebundenen Morpheme 188–191, v. Monemvarianten 196; v. Pron. 135; v. Altersadjektiven 262; ~alismus 98, 135, 138–139 Dolmetscher Verständigung d. Römer mit Umbrern u. Samniten 474; bei Eroberung Einsatz v. ~ 373, 487–488; Gallier als ~ 488–491 Druckakzent cf. Akzent Ebenen 1. d. Spr. „D. Spr.vermögen umgreift alle spr. Ebenen“ (13) 7–8, 12–16, 18, 38, 56,
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59, 423–428: „Bez., Bed., Sinn“ (38); „d. Universelle, d. Einzelspr. u. d. Diskursive in d. Spr. [sind] gleichzeitig gegeben“ (99) 111, 133, 273, 333, 339, 345, 351, 357–358, 397–398 2. ~ d. Spr.beschreibung u. d. Strukturierung 100–101, 106, 121, 201, 238 3. Zeit~ 213–231 Edition auch Text~, kritische ~, philologische ~, mit ~kriterien u. ~prinzipien 278, 431–439 cf. Quelle, Datenerhebung, Spr.atlas Einheit 1. spr. ~ auf Ausdrucks- u. Inhaltsebene 134–135, 193–194 (Amalgam), 396; Aneinanderreihung: Syntagma 136, minimale Einheiten 100, 201; Phonem 142–143, Morphem 187–188 2. diachronische ~ 124 Einzelsprache 1. „D. ~. […] enthält auch Dialekte, soziale Unterschiede, Spr.stile, d. h. Spr. variation u. Varietäten, während d. langue v. Saussure als homogen gedacht wird, als System, das d. Voraussetzung für d. Realisierung d. Spre. d. Einzelnen in d. parole ist“ (12)-14, 3, 8–10, 15–20, 24, 38, 33–35, 39–43, 48, 50–52, 54–58, 102, 201; Spr.beschreibung u. Spr.geschichte als grundlegende Bereiche d. ~ Forschung 121 2. „Unter ~ sei hier diejenige Spr. verstanden, die einem mehr o. weniger homogenen Wissen entspricht“ (269). „wie in Saussures Äußerungen zum Systemcharakter d. langue“ (112)-113; als Varietät 291 cf. hist. Spr. Elsässisch Zuordnung als Außenmundart d. Dt. o. dialecte germanique o. patois 330; Spr. 348; Überdachung durch d. Frz. 352, Außenüberdachung durch d. Dt. 620 Endophorisch cf. exophorisch Endung cf. Monem, Morphem, Suffix enérgeia vs. érgon schon Humboldt weist auf d. Unterschied zw. Spr. als Tätigkeit (enérgeia) u. Werk (érgon) hin 7, 21, 23–24, 193, 240, 336, 358 Entität weiter differenziert durch Merkmale in Klassen v. Gegenständen bzw. ~, Schema 255, 254–268; 1.–3. Ordnung „D. Entitäten erster Ordnung sind d. bekannten Gegenstände […] Unter Entitäten zweiter Ordnung sind Ereignisse, Vorgänge, Sachlagen u. dergleichen zu verstehen, die in d. Zeit bestehen o. stattfinden, u. unter Entitäten dritter Ordnung Propositionen, die außerhalb v. Raum u. Zeit stehen“ (93) 92–95 cf. Sachverhalte Entkastilisierung d. Kat.750–751, Enthispanisierung d. Gal. 767
Entkolonialisierung 1. o. Dekolonisierung Ideologie d. eigenen kulturellen Identität 622, 703, 715 2. Trennung v. d. Kolonialmacht → Auswirkung auf Spr. 779, 788–789, 793 Entlehnung „eine Quelle d. Erweiterung d. Wortschatzes“ (241); aus Substratspr. 461, 472, 740; aus Superstratspr. 499, 503, 665; aus Mundart 287; syntaktische ~ 468 cf. Kontaktvarietät Ereignis Entität zweiter Ordnung 93; Untergruppe v. Sachverhalt: ~ +momentan vs. Vorgang -momentan 86–88; ~träger 92 Ergänzungen vs. Angaben heute für Tesnières Aktanten u. Zirkumstanten 207–210 érgon cf. enérgeia Ertrag D. „Häufigkeit, mit d. eine Opposition d. Bed.unterscheidung dient, nennt man ihren funktionellen ~“ (142) sp. 142, yeísmo 321; frz. 146, 148, 151; it. 170, 173; Kontaktvarietäten 640 Erzählen u. Erzählung als Diskursgattung 353, 402–403, 408–412; Erzähler 369, Erzählsequenz 407–412, 415 español im 15. J. Bewohner d. Ib. Halbinsel incl. Pt. 716; Name für Bevölkerung u. Spr., auch in Am. 729–730 cf. castellano Etruskisch indogerm. Spr.im Kontakt mit Latein 464 → gr. Alphabet über ~ 467; großer spr. Abstand → gute Erlernung d. Lat. durch d. ~ 474 Eulaliasequenz afrz. dialektaler Text 542, 566, 568–570, 661, 721–722 Evolution Entstehung d. Differenzierung d. Spr. 22, 122, 460, 653 cf. Spr.wandel exophorisch = deiktischer Verweis vs. endophorischer = anaphorischer u. kataphorischer Verweis im Diskurskontext 391 Florentinisch cf. Tosk., It. frame o. script o. Szenario o. Schema „unmittelbar zusammengehörige Sachverhalte“ (85) français cultivé vs. ~ courant, ~ familier,~populaire, ~vulgaire 331; ~ populaire in ganz F. gespr. 331, 673 vs. ~ régional räumlich differenzierte Umgangsspr. 329–330; „D. Grenzen zw. d. Spr.stilen sind nicht scharf“ (331) cf. code parlé, patois, Varietäten Franken besiedelten Gallien u. verlagerten d. politischen Schwerpunkt nach N 495, 498–499, 660, ~reich 565, Chur 639; Frz. d. Ile-de-France wird Spr.norm 661–662; Rückeroberung d. ib. Halbinsel 502
Frankophonie 1. francophone → francophonie 152, 313, 330, 333 702–705; pieds-noirs Bez. europäisch stämmiger Bewohner Algeriens 703 2. „d. gesamten frz. Spr.raum umfassende Sicht […] bezieht sich aber auf d. Verbreitung d. frz. Norm v. F. in postkolonialer Zeit u. strebt […] eine Verbesserung d. Position d. Frz. unter d. Spr. d. Welt an“ (659); vs. Entkolonialisierung 703–704 Frankoprovenzalisch (Ascoli) 577, 583, 667–670 cf. Okz. Französisch Eroberung Galliens durch Caesar → Zweisprachigkeit 487–491; Gründung v. Kolonien 492, 636; karolingische Reform d. Lat. 449; rom. Spr. lingua latina 561–561, gespr. lingua romana rustica vs. theotisca (Konzil v. Tours 813) 565–566; bis 14. J. Altfrz., Mittel- u. Neufrz. ab le bon usage 658–659; tiefgreifender typologischer Wandel v. Alt- zum Neufrz.: D. Wort als autonome spr. Einheit entsteht; d. Frz. gibt d. syntagmatischen Bestimmung im Zweifelsfall d. Vorzug; jedoch drückt „d. frz. Orthographie immer noch d. alten gr. Kategorien aus, die in d. gespr. Spr. schon seit Langem nicht mehr erscheinen“ (672) 298, 601; latinisiertes ~ 665; Französierung d. Scriptae d. langue d’œïl 664, d. lenga d’oc o. occitana 707; Ordonnance de Villers-Cotterêts 1539: Anordnung Franz I., dass alle Entscheide d. Gerichte in frz. Mutterspr. zu verkünden seien 670, 668; Franzisch u. francien irreführende Termini für mittelalterliches Frz. d. gesamten Gebiets d. langue d‘œïl: franceis bzw. romanz u. françois 662–663; ~ als Spr. d. evangelischen Theologie u. d. Wissen. 671; Ausbreitung d. ~ u. Standardisierung 657–658 (la langue correcte) 670, 697, 704, sogar in d. Suisse romande mit Verdrängung d. Dialekte 702; „Dialektalisierung“ d. syntopischen Varietäten 662; frz. Revolution „Vernichtung d. Dialekte u. d. sonstigen in F. gespr. Spr. u. d. Durchsetzung d. frz. Spr.“ (701); Brunot, Grevisse Le bon usage 696–697; Regionalfrz. 622; Ausbreitung → Kolonisierung 700–703 „Man kann am besten am Wortschatz erkennen, dass Wörter aus allen Kolonien in diesem Kolonialfrz. zusammentreffen […] In allen diesen frankophonen Staaten ist d. Verwendung d. Frz. im Allgemeinen rückläufig“ (703) Friaulisch o. Friulanisch im äußersten NO It. 619, Eigenbenennung furlan 632„war u. ist keine einheitliche Spr.“ (634); keine dominante Varietät,
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aber ein Bewusstsein v. einem friulano comune (635) 631–636 cf. Alpenrom. Funktion „Unter ~ ist hier ganz allgemein d. Aufgabe zu verstehen, die etwas erfüllt“ (15) → Funktionalismus o. funktionelle Spr.wissen.; Benennungs~ 42 u. Bez.~ 44, 53; Darstellungs~ (Bühler) u. deskriptive ~ (Lyons) 73; ~ im Satz 202, interne u. externe ~ 673; distinktive ~ 140, 142 → D. „Häufigkeit, mit d. eine Opposition d. Bed.unterscheidung dient, nennt man ihren funktionellen Ertrag“ (142) 640, sp. 142, yeísmo 321; frz. 146, 148, 151; it. 170, 173; relationelle ~ 522–524; sem. ~ d. Diskurses 338–339; Form u. Funktion einer Spr., Kreuzklassifikation (Haugen) 592 cf. funktionelle Spr., Artikel Funktionale Satzperspektive (Mathesius) Satz besteht aus Thema-Rhema Strukturen 385–386, 546–547 cf. Informationsstruktur Galicisch Gal.-Pt. galego-português 325, 587–588, 777, 789; nach d. Reconquista ~ u. Pt. getrennte Wege 780; als Standardspr. 584–590, 764; Abstand zu Sp. u. Pt. 589; castrapo wie chapurrao Bez. für stark hispanisiertes Gal. 587, 769; seit 1916 Normalisierung 774; Autonomiestatut, Normierung, Reintegrationisten 588–590, 774–777: Lapa empfiehlt „vernünftige Integration d. Gal. ins Pt.“ 776 Gallier = Kelt. „d. ~ sind durch d. Eroberungsbericht De Bello Gallico [Caesars] am besten bekannt“ (471) 474, 487–495 cf. F. Gattung 1. Text~ u. Diskurs~ 127, 318, 337, 340, 353, 358, 376–377, 381–382, 400–403, 408, 426, 427, 446, 462, 566, 581, 602, 605, 635– 636, 655, 722, 749 2. cf. Genus Gemeinsprache o. Koine 34, 293 298; Primärdialekt → ~ 295; koloniale Varietäten 315, 319, 458; gr. 458, 469; lat. 440, 443, 450, 452, 454, 457–458, 464–466, 504, 522; rom 569, 577–578, 661; it. 598, 601, 608, 611; frl. 634–635; frz. 662; frankoprov. 667; sp. 717, 727, 736; arag. 757– 758; pt. 781; Amerika 319, 728–730; indianische 784, 786–787 Genus 1. ~ mit Numerus u. Kasus Gestaltungsprinzip d. rom. Spr. 53, 522; Wandel im Vlt. u. in d. rom. Spr. 524–526; u. Geschlecht 105–106, 362; Numerus u. ~ 233–234, 514; 535, 681 u. Endung 193–194; Kongruenz 203, 332–333, 360, 362; lat. Deklination u. Flexion 524–527; Verlust d. Kategorie ~ im Frz. 675, 677–678
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2. Verwendung d. generischen Artikels (v. genus ‚Gattung‘), „er aktualisiert d. Gesamtheit d. Elemente einer Klasse o. Unterklasse“ (41); ~ vs. spezifisch 95–96, 679 Glossen Reichenauer ~ 8. J. lat.; rom. 10.–11. J. setzen Schreibtradition voraus 721; Glosas Emilianenses aus San Millán de la Cogolla erster Beleg für Bask. u. Manifestierung d. Spr.bewussteins d. Rom. 478, 571, 721 u. Glosas Silenses aus Santo Domingo de Silos 721 Gradatum abgestuft, zeitlich folgend 269 cf. Kontiunuum Grammatik = Morphologie u. Syntax Diszi plin d. Untersuchung d. Einzelspr. 18–19, 48; „D. Unterschied zw. sagen u. nennen […] ist wesentlich für d. Grenzziehung zw. Wortschatz u. ~“ (186), 101–102, 184, 187, 192, 290; ~ u. Wortbildung 196, 239 243, 245; u. Phraseologie 236–239; gr. Inhalte 200–239; ~ d. Subst., Adj. u. Adv. 232–236; „~ ist d. Kunst, richtig zu sprechen“ (25), 24, 347, hist. vergleichende o. diachronische ~ 120, 127–128, 270, 277, 505, 790; Junggrammmatiker 271–273, 303, 311, 438, 581; deskriptive ~. 73, 112, 127, 235, kontrastive ~ 99, 236; generative o. Transformations~ 17, 119, 198, 236; transphrastische ~ bzw. Text~ 383; Dependenz~ 91, 205–206, 211; ~alisierungsprozesse u. -phänomene 395, 432, 544 Graphem 179, 186, 188, 569, 623, 630 651, 653, 751; frz. /ε/ 214, lat. 183, ae u. au 515 cf. Schrift, Orthographie Griechisch bedeutende Kontaktspr. im röm Reich 466; Verbreitung durch Kolonien 468 u. als Kulturspr. 467–470; ~ Gemeinspr. als Koine 458, 469; starke Präsenz in Rom u. im Reich 451, 453–45, 458, 476; Kenntnis d. ~ 478, 488, 501; Gräzismen in lat. Standardspr. 446, 455–456; „D. meisten Entlehnungen sind aus d. Lat. bzw. in lat. Gestalt aus d. ~ in d. rom. Spr. gelangt“ (241) 420, 468, 501 Haiti auf Hispaniola 75; frz. Kreol 580, 700; frz. Lit.spr. 704 Hellenisierung Einfluss d. griech. Kultur u. Spr. auf d. röm., lat. o. andere Spr. 453, 458 → Hellenismen 469 Hermeneutik „D. ~ ist d. Kunst d. Auslegung, sie bedarf d. Spr. u. macht d. Verstehen erst zugänglich“ (6) „Aus d. Verständnis d. Ganzen d. Spr. wird d. Verständnis d. Einzelnen hergeleitet
und, was wir v. Einzelnen verstehen, fügt sich wieder in das Ganze ein. Dies wird hermeneutischer Zirkel genannt“ (74), 403; Exegese in d. Theologie, Auslegung, Deutung, Interpretation, Schleiermacher 424, Gadamer 425; → Sinn „D. Ich d. Lesers u. d. Alterität d. Textes treten in ein dialektisches Spannungsverhältnis, das eine ~ Erfahrung ist“ (338)-339, 424–425 Heterogenität (Coseriu) spr. ~ o. Uneinheitlichkeit 269 vs. Homogenität 113, 290, 292, 307 cf. Variation Hiat cf. Vok. Hispanien röm Bez. d. gr. Iberien 476–479, Unterwerfung durch Rom im 2. Punischen Krieg 462 → Latinisierung u. Romanisierung 479–482; Hispania Citerior u. Ulterior 197, 480; „bedeutendes Substrat war d. Kelt. […] Superstrat d. Wgotische“ (125) 472, 492, 499 → Wrom. Gemeinsamkeiten 448, 473; Schullatein bis Einfall d. Ar. 456, 502; Hispanisierung o. Kastilisierung vs. Enthispanisierung 767 Hispaniola = La Española heutige Dominikanische Repubik u. Haiti 74, 410–412; ab 1493 kolonisiert 727; v. dort Expansionswege → Spr. modell 727–728; 1503 verfügt Krone Erlernung d. Sp. durch d. indios 731 Hispanoamerika Entdeckung u. Eroberung 402, 416–417, 719, 727, 783–784; Bed. v. Dolmetschern bei Eroberung 487; Kolonisierung 326, 459, 596, 727–733; Unabhängigkeit 387; nach d. Unabhängigkeit 594–595, 719–720; „Da d. Expansionswege fast immer zuerst v. La Española ausgingen, […] muss man sich d. Sp. Am. als eine Spr. vorstellen, die ihre erste Prägung auf den Antillen erfuhr u. sich auf d. Expansionswegen durch d. späteren Spr.kontakte u. internen Entwicklungen wandelte“ (727–728); Spre. 280, 293, 298, 304, 314, 316, 590–591, 596, 716–717, 719, españoles, criollos in ~ Geborene 730, 733; Bilinguismus 298; Sp. 36, 218, 235, 307, 313–316, 317–325, castellano, lengua nacional 576, 590, 716–717, 724, 727–734, Adaptationen sp. Wortschatz u. Neuschöpfungen 728–729; Dialekte 293, 318–319, 730; Unterschiede zw. ~ Sp. u. Sp. seseo, voseo, yeísmo 219, 320–325, 363, 724, 740–741, 744, Phoneme 63, 152, 158, 160, 320–322; Pron. 34, 317–325; korrespondierende Akademien → DRAE 736–737; Gr. Bellos 60, 739; Spr.politik 731–733, 738; Status
730, 792; einspr. sp. – vs. zweispr. Regionen 318; andines u. yukatekisches Sp. 318, mexikanisches Sp. 319 cf. Indianer Chile, Panama, Peru Historizität o. Geschichtlichkeit „D. Universale d. ~ beinhaltet, dass Spr. nur als Einzelspr. vorkommt. Jeder Mensch realisiert also sein allgemeines Spr.vermögen mit Hilfe d. Dt., Frz., It., Sp. usw.“ (53)-57, 20–22, 40, 47; „in jeder Erscheinungsform v. Spr.“ (351); „Auf universeller Ebene gibt es eine jeweils eigene Geschichtlichkeit d. Mündlichkeit o. d. Schriftlichkeit“ (348) 426, ~ d. Diskurses 348–349, ~ d. Einzelspr. 115 u. ~ d. Diskurstraditionen (Koch/Oesterreicher) 351 Homogenität vs. Heterogenität (Coseriu) 1. Annahme, dass eine Spr. „statisch u. einheitlich sei“ (112)-118, 269–273, 284, 292, 307–308, cf. Varietät, funktionelle Spr. 2. ~annahme o. ~hypothese 270–271, 568–569 Homophonie einer Lautung entsprechen unterschiedliche signifiés 182, 257 Homonymie „D. Synonymie besteht in einem geringen sem. Unterschied zw. lex. Spr.zeichen. Polysemie ist demgegenüber d. Tatsache, dass ein signifiant mehrere signifiés hat. Diese werden als Diskursbed.typen ein u. desselben Spr.zeichens betrachtet. Wenn dies nicht d. Fall ist, liegt ~ vor“ (253) Iberer Bewohner d. ib. Halbinsel mit eigener Spr. aber keiner eigenen Schrift 471, 477–478 cf. Kelt. Identität spr. „Alterität u. ~, du u. ich, ihr u. wir, gehören zusammen“ (32) 31, 346, 590–591 644; d. rom. Spre. 439, 558, 561; nationale u. regionale ~ 183, 281, 329, 344, 462, 590, 575–576, 579, 591, 610–611, 620–622, 640, 644–646, 654, 712, 741, 761, 766, 772, 775–776; ~ in Latam. 590, 596, 787; Bed. für d. Ausbildung v. Ast., Gal., Kat., Okz., Sard., Kreolspr. u. Verlust v. ~ cf. Einzelspr. Île-de-France geogr. Bez. d. Gebiets um Paris, „Stammland“, v. d. aus Ausbreitung d. Frz. 303, 660–663, 660, 670 Imperativ Äußerungskateorie: „D. Spre. [verlangt] v. Hörer, dass ein Sachverhalt durch ihn eintrete“ (109)-110, 426, 428, 467; Form 674, 782; Gebrauch in d. Anrede 34 Imperialismus „D. spr. ~ o. d. Kolonisierung haben zwei Stoßrichtungen […] Durchsetzung im
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Herkunftsland […] D. Kolonisierung außereuropäischer Territorien“ (596)-597, 618 Indianer = indios 1. in Hispanoamerika: Las Casas 370–371, 373; Untergang auf d. Antillen 402, Kuba 410–412, 418; Kolumbus Referenz auf Bekanntes auf Guanahaní 416–417; 2. in Brasil. 783–784; Indianersprachen Untersuchung v. ~98–99; 1.„Die Spracharchitekur eines hispanoam. Landes hat zu berücksichtigen, ob neben Sp. Indianerspr. gespr. werden o. nicht“ (317); Evangelisierung in d. lenguas generales mit d. Ziel d. Segregation d. Indianer u. d. Sp. 731; 1503 Hispanisierung d. Indianer verfügt 731; Alphabetisierung 317; indigenismos o. Indigenismen = Entlehnungen aus ~spr. heute relativ unbedeutend 576, 740–741; lenguas generales = mit d. größten Verbreitung 731: Quechua in den Andenstaaten Ecuador, Peru, Bolivien, NW Argentinien mit Aymara (Kontaktvarietät: interlecto, interlenguaje, interlengua) → andines Sp. 302, 317–318, 731, zeitweise Amtsspr. in Peru 317, Mexico 729; Chibcha Neues Königreich Granada 731; Tupinambá u. Guaraní aus Gruppe d. Tupí Spr. Brasil. 783–784, Paraguay 318, 729, Rio de la Plata 731; „sp. Kontaktvarietäten in d. Regionen ehemaliger Hochkulturen“ d. Mayas, Inkas (316), yukatekisches Sp. 318; Náhuatl Spr. d. Azteken 729; 2. „In Brasil. werden heute noch 170 Indianerspr. gespr.“ (788); Tupinambá → língua geral 784; Pt. zahlreiche Entlehnungen aus Kontaktspr., auch aus ~ 783; ~ ohne „nennenswerten Einfluss auf d. regionale Pt.“ (788) 170 Indochina 1885 frz. Protektorat in ~ → Wortschatz 703 Verwendung Frz. rückläufig 703 cf. Entkolonisierung Industrialisierung „Bilinguismus ohne Diglossie besteht bei Arbeitsmigranten unter Bedingungen starker ~“ (298); bei ~ Übernahme Ast. 761, Frz. 702, Gal. 589, 768, 773, Kat. 749 Informationsstruktur 386, 393, 686 cf. ThemaRhema-Struktur, funktionale Satzperspektive Inhalt signifié vs. Ausdruck gr. ~ 197–198, 200; Redetypen 201; Wortbildungs~ 198, 239–250; Wort~ 198, 251–268 cf. Zeichen Innovation o. Neuerung = Schaffung neuer Wörter u. Strukturen u. ihre Übernahme im Diskurs → Verallgemeinerung einer spr. ~ o. eines spr. Verfahrens 25–29, 33, 82, 240, 324, 351, 499, 553; durch Entlehnung 461 vs. Konser-
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vation 485, 506, 555 cf. Spr.wandel, Spr. kontakt, Neologismus Interferenz 299–300, 304–306, 451, 461, 472, 474, 494, 572, 668, 768–770, 778, cf. Kontaktvarietät International Phonetic Alphabet (IPA) = Alphabet Phonétique International (API) v. Lüdtke verwendetes Transkriptionssystem 63, 65, 321 Interpretator (Lüdtke) trägt „zur Sinndeutung in spr. expliziter Weise“ bei (427)-428 idée, fait usw. 209, 379, 420 Intertextualität = Beziehung eines Textes zu einem anderen 339–340, 367–368, 371, 376– 377, 422; Kristeva akzentuiert Bachtins Idee zu ~ 368; „Erscheinungsform d. Diskurstraditionen“ (353); Intertext 377, 379–380: „wenn sich jemand auf Texte u. -segmente eines anderen bezieht […] brauchen wir ~marker“ (428) cf. Interpretator Intonation u. Silben u. Akzente gliedern Spr. laute 51, 61, 382 Invariante „Wir realisieren diejenigen Phoneme einer Einzelspr., die ~ sind, immer als Varianten im Diskurs bzw. in d. parole u. hören d. Varianten immer als ~, d. h. als Phoneme einer Einzelspr., also einer langue“ (62); ~ als Einheit 133–136, 139–140 Isoglosse „ist in d. Spr.geographie eine gedachte Linie, die d. Verbreitung eines Phänomens auf einer Spr.karte abgrenzt“ (292) 295; v. Dialekten 308, 314, 319, 325, 466, 587, 618 cf. Spr.atlanten Isotopie (Greimas) Wiederholung v. sem. Strukturen (Lüdtke) 83, 392, 396–397 Italienisch geringer Abstand zw. Lat. u. Tosk. 474; „D. it. Standardspr. hat sich durch d. Verwendung d. tosk. Spr. d. Dichter in einem komplexen Prozess herausgebildet“ (289) 597–618; im 15. J. Tosk. regionale Koine: Ariost verfasst Orlando furioso 1516 in Ferrara auf Tosk. 282, 603; 1601 Cittadini verbreitet Kenntnis lat. Inschriften in It. 432, 440; Gerichtsreden in Neapel im 17. u. 18. J. auf It. 614; 1840 Manzoni Bed. für it. Standardspr. 282, 600; „da also ~ Standardspr. u. it. Dialekte keinen unmittelbar gemeinsamen Ursprung haben [außer Tosk.], weisen sie auch keine strukturellen Gemeinsamkeiten auf – außer denjenigen natürlich, die sich durch d. gemeinsame Herkunft aus d. Lat. erklären lassen“ (598); 1953 periodisiert Devoto
d. lingua o. d. italiano 598,616; „Dialektlit., die bewusst als Reaktion auf d. ~. Lit. u. in Distanz zu ihr geschrieben“ wird, nennt Croce letteratura dialettale riflessa (604) 304, 310; Ausbreitung gespr. ~ in It. 599 u. Kolonien, aber keine Amtsspr. dort 619; Italianisierung → Varietäten d. ~ Umgangsspr., Schriftspr. 611–614; Phoneme 170–175 Jesuiten 1762 Vertreibung aus F. → Ablösung d. Lat. durch Frz. als Unterrichtsspr. 699; 1767 Vertreibung aus Sp. u. Übersee → Folgen für Ausbildung, Wirtschaft u. Missionierung im sp. Imperium 732; 1759 Vertreibung aus Brasil. 786–787 Jonasfragment erster altfrz. Predigttext 566, 568, 661 Juden 1492 Vertreibung d. ~ aus d. sp. Territorien (außer Kanarischen Inseln) → Diaspora → europäischem, lateinam.- u. nordam. ~sp. als Gemeinspr. 293, 727 Kanarisch auf ~ Inseln Sekundärdialekt d. sp. Gemeinspr. 293, 317, 733; Entdeckung, Eroberung u. Besiedlung Am. 727; Expansion Sp. 718– 719, 727–728, 730–731, 744; „haben d. Altkst. […], d. Kanarische u. d. Varietäten d. am. Sp. d. gleichen Ursprung“ (718); pt. Zuwanderung 782–784 u. spr. Einfluss 326; Ausspr. 158–159, 724 Kapverdische Inseln Besiedlung durch wenige Portugiesen u. schwarze Sklaven 783 → pt. Kreol 326, 790; 1975 unabhängig: Amtsspr. 580, 780, 788 Karthago punische Metropole in NAfrika; in 3 Kriegen v. Rom erobert 476–480, 485; Spr. erhielt sich bis 4. J. n. Chr. 466–467; chr. Latinität 454; Ausbreitung Lat. 463 Kastilisierung o. Hispanisierung 716–717, 723, 743; Arag. 726, 756; Ast. 760–761, 763; Gal. 767–768, 772, 775: Leon. 760; Navarresisch 743; Kat. 289, 726, 748–749, 752–753; Siz. 726; ~ d. indios 317, 731, 740–741 Kasus 1. „D. ~ gibt d. Verhältnis eines Subst. o. einer anderen nominalen Form zu einem anderen Element im Satz an“ (106) „D. ~ ist eine typisch relationelle Funktion. Er bedeutet eine Beziehung zw. einem determinierten Satzglied u. einem o. mehreren weiteren Satzgliedern“ (527) 109, 453, 522–525, 549, 678; Personalpron. 203–205; Abbau d. ~systems im Lat. u. d.
rom. Spr. 515, 527–530, 535, 676; Altfrz., Altokz. casus rectus (Subjektskasus u. Vokativ) vs. casus obliquus (Objektskasus) 203, 233, 517, 527, 678; ~monem im Rum. 204, 233–234, 245; Frz. „Verlust d. Kategorien Numerus, Kasus u. zum Teil Genus“ (675)-676, 681–682, 685–686 cf. Wandel d. Spr.typs, Vokalismus 2.„d. Tiefen~ gehören in d. Bereich d. Bezeichneten“ (106); (Fillmore) ~theorie Uminterpretation d. lat.~ 210 cf. sem. Rollen Katalanisch heute gespr. in Katalonien, im Valencianischen Land u. auf d. Balearen 298; modernes ~ 745; Phoneme 160–165; Jakob I. v. Aragonien 13. J. Ausdehnung d. kat.-aragon. Herrschaftsbereichs 745; Llull maßgeblich für Herausbildung d. Kat. als Lit.spr. u. Standardspr. 749; Decreto de Nueva Planta 1715 Sp. wird Amtsspr. neben Lat. auf Balearen 737; Zeit d. Destandardisierung o. decadència 745; 19. J. Verdaguer u. Maragall spr. Vorbilder d. kat. Lit.spr. → Standardspr. 750; Kastilisierung u. Entkastilisierung 298, 716, 726, 748–749,751–753; 1859 Generalitat de Catalunya Rückgriff auf mittelalterliche Namen wie Jocs Florals 595, 753; Fabra moderne kat. Spr.norm 183, 235, 750; 1907 Institut d’ Estudis Catalans: Schaffung einer kat. Sprachnorm u. Entkastilisierung d. Kat. 750–751,165, 183, 235; Regionalsp. d. Kat. 748; Renaixença, Normalisierung, 2006 Autonomiestatut 745–755 Katapher vs. Anapher Kategorie spr. 99, 102, 354; gr. u. lex. ~ 78, 81; onomasiologische ~ 97; ~wechsel 104; Kategorisierung 77–78, 85, 98, 106 cf. Äußerungs~, Wort~, Sem. Keltisch Kelten Keltoí 471, Gallier, Galater 471, Keltiberer 471, 479–484, in Oberit. 448, 475; Festland~ (Gallisch, Lepontisch) u. Insel~ (Keltib. auf d. Ib. Halbinsel, britannische Spr. in Britannien, Bretonisch in d. Bretagne) 471, 479; keine eigene Schrift 471; ~ Substrat 125; kelt. Kontakt mit Lat. (Tovar) → Herausbildung d. Wrom. Spr. durch ~ 448,461, 470–473, 478–479, 481–484, 506; ~these 470–471 Klasse determinierende u. determinierte~, bei V. transitiv u. intransitiv 210; kognitive Sem. 77–79; ~ d. Substantive 210, 254–255; Deklinations~ 524–525, 676; Klassem „Ein Merkmal, das einer, Klasse‘ gemeinsam ist“ (255)-257 210, 263–267, 396–397 cf. signifié
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Kodifizierung mit Ausbau, Selektion u. Übernahme Kriterien für die Herausbildung v. Standardspr. (Haugen) 592–594; „Entwicklung einer Spr.norm im Bereich d. Orthographie u. Phonologie, d. Gr. u. d. Wortschatzes, die ihren Ausdruck in einer normativen Orthographie, einer normativen Gr. u. einem normativen Wörterbuch findet“ (592–593), 334, 446, 577–578; als Ergebnis kodifizierte Spr., am strengsten Frz 658, 671–672, 690, 697–699, am frühesten Okz. 706, 712–713 715; It. 604, 612; Kst. 715–716, 726, 730, 733, Sp. 734–735, 739, 743; Kat. 750–753; Ast. 761, 763; Arag. 757; Pt. 785–788, Brasil. 787–788; Kreol 789, 791–792; Sard. 627–630; Frl. 634; Kors. 623–624; Bündnerrom. 642–645; Rum. 646, 656; → hist. Spr., Spr.architektur 594 cf. la langue correcte Kohärenz inhaltliche Verbindung u. Kohäsion formale Verbindung v. Textsegmenten durch Textverweise, Anapher, Katapher u. Isotopie 390–397 cf. Textsem. Koine o. Gemeinspr.; gr. 458, 469, lat. 443, 458, 464–466, 504–505, rom 559, frl. 634–635, frz. 662; it. 603, 618, sard. 628, 629; Koinisierung 450, 458 Kolonisierung o. spr. Imperialismus 596 1. Lat.: 458–458, 466–467, 470, 478–479, 481, 598; Kst. 325, 717–719, 722, 747, 760–761; Pt. 165, 325, 504, 780–781; Kat. 504, 747; It. 617; Frz. 274, 622, 664; Ast. 759–760; Arag. 745 2. Expansion v. Kolonialspr. außerhalb Europas 307, 315–316, 460–462 793: Sp.: Ausstrahlung d. Dialekte d. Atlantik- u. Kanarischen Inseln für überseeisches Sp. u. Pt. 326; 717–719, 727–731, 782; Expansion Sp. 727–728, 782 u. Pt. 165, 326, 729, 778–780, 782–784, 789: Dialekte d. Atlantikinseln: São Tomé, Príncipe, Kapverd. Inseln, Ano Bom u. in Guinea-Bissau 326 → Kreolspr. 580, 596–597, 782–784, 787, 789–792; Expansion Frz. Canada 329, Afrika 699–700, 702–704 u. It. 618–619; → Kolonialdialekt = sekundärer Dialekt ab d. kolonialen Expansion durch Spr. kontakt 298, 315–316, 325, 458, 717–719, 722, 724, 730, 759–761, 780–781, 785. 789; Rückwirkung d. Kolonialdialekte auf Spr. d. Mutterlandes 596 cf. Kontaktvarietät Kommunikation „miteinander u. über etwas“ spre. (31), 338; ~bedingungen (Koch /Oesterreicher) 345; Alltags~ vs. Meta~ 59; ~ innerhalb
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einer Gesellschaft 592; d. Spre. in Situationen v. Mehrsprachigkeit 567, 591, 620, 644, 783, 789; ~räume 447, 500, 591, 704–705, 733; ~wissen. 337; ~modell (Saussure) 12 cf. Alterität Kommutationsprobe o. Kommutation = Substitutions- o. Ersatz- o. Permutationsprobe im Distributionalismus; Substitutions- u. Ersatzprobe = Ersetzung v. Ausdruckselementen; Permutationsprobe u. Kommutation = Umstellung v. Einheiten sind „Techniken zur Feststellung d. Elemente o. Glieder eines Paradigmas“ (139) „Ob ein Laut eine distinktive Funktion hat o. nicht, wird durch d. ~ festgestellt“ (140) 144, 189–190, 224–225, 263 Komparativ d. Adj. im Rom. 234; paradigmatischer ~ d. Lat in d. Regel in rom Spr. durch syntagmatischen ~ ersetzt 453; magis vs. plus 530, 553, 679 ~ + Art. → Superlativ 678–679 Kompetenz (Chomsky) spr. Wissen = competence vs. performance 17–18 146 cf. langue, Spr.~ Konditional Tempus d. inaktuellen Zeitebene, d. primären, retrospektiven Perspektive 214, 216, 220, 232, 373; ~ u. Imperfekt 214, 222, 224–232, 324; ~ u. Futur 148, 219, 376; ~ statt Konjunktiv 324; Ausbau d. lat periphrastischen ~ 536, 543 Kongo 1885 belgische Kolonie 703 Konjunktion Wortart verbindet Wortkategorien 102–103, 191, 394; koordinierende u. subordinierende ~ 383, 500; als Diskursmarker 393–394 cf. Synsemantika Konklusion 1. Aspektbed. im Perfekt 227–228 2. in Argumentationssequenz 419 Konnektor Partikel verknüpft Sätze o. Propo sitionen zu Texten u. steuert d. Sinnverstehen 394 Konservation 446, 448, 461, 471, 485, 499, 506, 515, 518, 529, 530, 536, 557, 555–556, 559, 627, 633, 677, 679, 687 vs. Innovation cf. Spr. wandel Konsonant(e) „kommen dadurch zustande, dass d. Artikulationsorgane d. Phonationsstrom ein Hindernis bereiten“ (63)-66, 68–72, Halb~ 68, einzelspr. Phonemsysteme 140–179; Konson. vs. Vokalismus Wandel v. Lat. zu rom. Spr. 515–520; Akzent, Vokalismus, ~ u. Orthographie sind im Vlt. großen Veränderungen unterworfen; „D. Wandel d. ~ hat ganz andere Auswirkungen als d. Wandel d. Vok. […] D. Wandel d. ~
dagegen schafft, spr.geographisch betrachtet, Neuerungsareale gegenüber Spr.räumen, die d. Neuerung nicht mitmachen. Ein neuer Spr. raum kann sich also sowohl durch gemeinsame Innovationen im ~ konstituieren als auch durch gemeinsame Konservationen“ (515) → Herausbildung v. Abstand 516 Kontaktvarietät Primärdialekte kommen im Falle ihrer Ausbreitung mit anderen Spr. bzw. Varietäten in Kontakt u. bilden ~ 295 „~ sind das Ergebnis v. Zweisprachigkeit“ (297)–308 cf. Spr. kontakt, Indianerspr. Kontext bzw. Kotext = Diskurs~ (Lüdtke) 44; Abgrenzung Situation zu ~ 354–359; „D. praktischen o. okkasionellen ~ nennen wir in spezifischerer Weise praktischer o. okkasioneller Situations~“ (356) cf. Umfeld Kontiguität vs. Similarität (Jakobson) „d. räumliche o. zeitliche Zusammentreffen v. zwei Elementen auf d. Ebene d. Bezeichnetem, die assoziiert werden; es gibt aber auch d. ~ v. Begriffen“ (76); Grundlage d. Metonymie 25–26, 82, 84 cf. Kreativität Kontinuum vs. Gradatum ineinander übergehend, gleichzeitig vorhanden: v. Variation d. Rede, d. Spr. im Diskurs 115, 269, 345; Lat. 567; zw. Sekundär- u. Tertiärdialekten in Lat.am. 318; Dialekt~ 620; lautliches ~ = Koartikulation 72 cf. Varietät Konversation Typ v. Dialog 407; frz. ~ → Standardfrz. 607, 695, 697; ~analyse 15, 337, 407; ~maximen (Grice) 35 Konversion Übergang zw. Wortkategorien ohne Ausdruckselement 105, 243–244; syntagmatische vs. paradigmatische ~ 523, 688–689 cf. Wortbildung Korpus Korpora schriftlich u. mündlich 135, 269, 344, 368, Sp. 735; ~planung vs. Statusplanung 34, 581, 588, Gal. 588, 774, 778, Kors. 623; digitales ~ 52, 135 Korsisch zusammen mit Sard. d. am frühesten ausgegliederte rom. Spr. 620; „Auf Kors. als Kommunikationsraum greifen heute d. it. u. d. frz. Spr.architektur ineinander“ (620); Dekolonisierung 622; dialecte → langue corse u. Kontaktvarietäten d. ~ Regionalfrz. u. francorse „ein französiertes ~“ (623) 448, 457, 462, 467, 473, 476, 478–479, 506, 598, 616, 620–624; 1985 in Loi Deixonne aufgeführt 622
Kreativität 1. Universale 20–25; ~ begrenzt durch Alteriät 25–31, 33, 55, 268; einzelspr. Geschaffenes 82; Spr.wandel 268, 350 2. frankophoner Autoren 704 cf. Innovation Kreol(spr.) < criollos Typ v. Kontaktvarietät „auf rom. Grundlage entstanden“ (789) u. zur Standardspr. entwickelt 580–581, 789–792: frz. basiert 329, 790, pt. basiert 326, 783, 788, 791; sp. basiert 790; Verbreitung 75; Gegenstand d. Romanistik 580–581 u. Kreolistik 790–792 cf. Spr.kontakt, Kolonisierung Ladinisch 631–632, rom. Spr. rund ums SellaMassiv 636–638; questione ladina 619 ladino 1. „Wenn d. Mauren eine rom. Spr. d. Ib. Halbinsel konnten, wurde v. ihnen gesagt, sie seien ladinos o. muy ladinos, so übrigens auch im Falle v. außereuropäischen Kontakten“ (573) Dies betrifft auch Sepharden. 2. Bez. für schon transkulturierte Schwarze in d. Neuen Welt 731 langage 1. = faculté du langage = Spr.vermögen 336 vs. langue u. parole (Saussure) 10–13, 16, 37–38, 49, 58, 62, 111, 122–123, 307, 311 2. méta~ 59; acte de ~ 398, ~ populaire 673 langue vs. parole „Saussure unterscheidet parole, langue u. ~ bzw. faculté du ~ […] langue [ist] nicht das Gleiche wie Gabelentzens Einzelspr.“ (10)-13, 16, 38 (Martinet Einzelspr.), 58, 62, 111–112, 116 (Coseriu funktionelle Spr.)-117, 122–123, 129, 272–273, 284–286, 307 336–337, 442 cf. Kompetenz Latein Latinum, lingua Latina, Latine loqui d. h. Klat. vs. Latein vs. Lat. „D. Leser wird wahrgenommen haben, dass ich ‚Latein‘ als traditionellen Ausdruck verwende u. es vorziehe, in d. neuen Perpektive v. Lat. zu sprechen“ (441–442); als Varietätengefüge 442–443; Periodisierung chr. ~ 453–456, Spät~ 445, 447–448, 456–457, 481, 520, 561, Vlt. 439–441, Mittel~ 449, 567, 570, 572, 602; Neu~ bzw. Lat. 442–449; archaische Zeit 445, Verschriftung; d. vorklat. Zeit: Standardisierung u. Kodifizierung d. Grammatiker → Klat; Tempusverwendung Varro 537–538; Caesar schreibt Klat. aber andere Norm als Ciceros Spr.niveau d. honestiores 442; Spr. d. urbanitas (Rom) 445, 450–451, Quintilian, lat. Rhetoriker, dazu bono vs. mala consuetudo 450 vs. lingua rustica romana, rusticitas vs. peregrinitas Umland (im Imperium alle Andersspre.) 449; unter Augustus Standardisierung d.
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~ 445 u. Neuordnung d. Reichs 492, 496, 498; Res gestae 538; Plinius d. Ältere Wortschatz d. Bergbaus 483; Christianisierung → Latinisierung 453; Kirchenväter um 400, Etablierung d. chr. ~ als Schriftspr. 447 → erhöhte Anforderungen an Norm 449; zw. 200 u. 600 in neuen Spr.räumen, Koinisierung u. Regionalisierung, auch Dialektalisierung 448, 463 → Zwei- u. Mehrsprachigkeit als Normalität, Ausbildung rom. Dialekte 459–66, 452–453; Unterordnung d. rom. Spr. unter d.~, dafür gibt es keine Belege 463–464; Kaiser Justinian (527–567) Codex Justinianus → Fachspr. d. Rechts 501, 529; „D. angelsächsische Gelehrte Alkuin (um 735–804) reformierte d. im Frankenreich geschr. u. gespr. Lat., das sich […] besonders weit v. traditionell geschr. Lat. entfernt hatte. Dadurch wurde d. gespr. Lat. […] weniger verständlich“ (660) 565; als Reaktion darauf schrieb 813 d. Konzil v. Tours Predigten in dt. u. rom. Volksspr. vor 660; Latinisierung cf. Romanisierung Lateinamerika 1. Hispanoamerika 2. Brasil. bozales vs .ladinos Schwarze in d. Neuen Welt, die noch nicht Pt., Sp. o. ein Kreol spr. 731 Laut 36, 50–51, 60–73, 129; ~erzeugung= Phonation 60, 62–63, 66; ~perzeption 60–62; ~übermittlung 62; ~wandel 29, 55, 271–272, 321, 508, 519, 526, 674, 688; ~gesetze 28–29, 113, 271–273, 303, 569 cf. Phonem, Artikulation Lenition „Sonorisierung d. stimmlosen intervokalischen Verschlusslaute“ (473) unter kelt. Einfluss Leonesisch hispanisierter Kolonialdialekt d. Ast. 723, 760; Entlehnungen aus Kelt. 482; „D. im Mittelalter sich als hispanisierte Kontaktvarietät ausbreitende Leon. bildete erneut weiter südl. eine Kontaktvarietät, d. extremeño, heraus, das d. Sp. angehört, jedoch leon. Merkmal beibehält. […] D. drei Kontaktvarietäten stellen unterschiedliche Phasen d. Hispanisierung dar, die beim extremeño dazu führte, dass es im Wesentlichen ein sp. Dialekt wurde, während d. Leon. einer Phase d. geringeren Hispanisierung bei gleichzeitiger Unterordnung unter d. Sp. entspricht u. d. Ast. heute zwar auch hispanisiert ist, aber nicht so stark, dass es nicht d. Anspruch erheben könnte, eine eigene Spr. zu sein. Leon. ist nur ein Terminus d. Spr.wiss., der d. v. Ast. bis zur
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Extremdura gespr. Varietäten zusammenfasst“ (760) 284, 571–572, 583, 598, 718, 723–724, 759–760, 780; Asturleon. 317, 759 Lexem „Minimale Einheiten o. Moneme, die einen lex. Inhalt haben, werden Lexeme genannt, minimale Einheiten o. Moneme, die eine gr. Bed. haben, gr. Moneme o. auch Morpheme“ (192) 91, 97, 182, 191–194; Inhalt 192, 199, 254–255, 257, 259–262, 264, 266; Verb(al)~ 202, 209; ~zusammensetzung o. ~komposition 97, 248; Archi~ 258, 260, 262, 264, 266; ~varianten 196, rum. 183, surs. 644; ~alternanz 682–683; Lexematik 48 cf. Wort, Sem. Limes Grenze zwischen Dekumatland u. Röm. Reich 492; germ. ~ 498, 659 Linie La Spezia-Rimini 448, 506 cf. Ost- u Westromania Linguistik o. Spr.wiss. (Lüdtke macht keinen Unterschied im Gebrauch) 7, 16; deskriptive ~19, 119, 296 vs. hist. 19, 120, 126, 128 vs. normative 285 vs. diachronische 334; kognitive ~ 77–79, 82–83, 85, 98–99, 459; kontrastive ~ 211; einzelspr. ~ 58, 111, 118, 126; System~ 126; Variations~ 19, 128, 291, 333–335; Varietäten~ 19, 128; Text~ 15, 48, 126, 337–338, 340–341,354, 380, 396, 425–426; Sozio~ 15, 19, 126, 128, 334–335, 337, 462–463, 571, 624, 636, 705; Ethno~ 45, 337; Computer~ 146 Loi Deixonne 1951 erlaubt d. frz. Regionalspr. fakultativen Unterricht in Gymnasien u. an Universitäten 702, 713; Kors. erst 1985 622 Lusitanier indogerm. Spre. Hispaniens nach Aufständen gegen Römer erobert → Lusitanien 479–480 markiert cf. unmarkiert Marokko Judensp. in ~ 727; 1912 frz. Protektorat, 1956 unabhängig 703 Materialität Universale(ien) 20–21, 49–52, 54, 61–62, 272 Mehrsprachigkeit = Polylinguismus 462; „Zweiu. ~ war im Röm. Reich d. Regel“ u. d. Bedingung für d. Übernahme d. Lat. (464) cf. Bilinguismus Merkmal distinktives ~ 142, 146, 173 264 cf. Opposition, Zug Metapher Redefigur 76–77, 416 → Spr.wandel 29, 82–85, Metaphorisierungsprozess 256 cf. Kreativität, Similarität, kognitive Linguistik Metaphonie o. Vok.harmonie o. Umlaut 168, 178, 283, 484, 526; durch kelt. Einfluss 473
Metonymie Redefigur 25–26,416 → Spr.wandel 29–30, 76–77, 82, 84–85 cf. Metapher, Kontiguität Metasprache 59, 105, 308, 349; ~ Äußerung, Aussage 269, 299, 433, 586; ~ Wortschatz 58 Minimalpaare Wortpaare, die sich nur durch ein minimales lautliches Merkmal unterscheiden zur Feststellung d. Phonemsystems einer Spr. 141– 142, 148, 150–151, 170 Missionierung d. Juden 453; d. Morisken in Sp. 731; d. Indianer in ihrer Indianerspr. 731 Modus 100–101, 109–110, 195, 202, 211–212, 214, Konditional 232, Wortbildung 246 cf. Tempus Morphem (Bloomfield, Nam. Strukturalismus) mit einem signifiant u. signifié 100, 187–191 o. Monem (Martinet) erste Gliederungssebene d. Spr. 37–38, minimale „spr. Einheit mit Ausdruck u. Inhalt“ (196) 182–183, 192; freie u. gebundene ~ 188–191, 201; gr. vs. lex. ~ 106, 192–193, 297, 323, 332, 525–526, 535, 541, 546, 549, 643, 673, 682, 689; Wortbildungs~ 192–196 cf. Lexem, Affix Morphologie (Goethe) biologischer Terminus auf spr. Formen übertragen = Formenlehre; „D. Teildisziplin, die sich mit d. Struktur d. Wörter beschäftigt, ist d. ~. Man unterscheidet ferner d. Flexionslehre […] als ~ in d. Gr. u. Wortbildungslehre als ~ im Wortschatz“ Ausdruck u. Inhalt (Lüdtke) (198) 48, 102, 184, 186, 193 198–199, 200–239; Wortbildungsinhalte 195, 239–251; gr. Inhalte 184, 190–191, 200–201 cf. Syntax Motivation = Motiviertheit begriffliche u. referentielle d. Metapher 83, relative ~ 41, 130; Wortbildung 97, 188–189 Mozaraber Chr. o. zum Islam konvertierte rom. Spre. in ar. beherrschten Gebieten 503–504, ihre Spr. latinus 570–571 vs. mudéjares 503 „Muslime unter chr. Herrschaft“ (721) vs. moriscos o. cristianos nuevos 503 nach 1502 zwangschristianisierte Muslime 721, 725,731, ihre Spr. aljamiado = Kontaktvarietät d. Sp. 503 cf. Ar., ladinos Mundart regionale Spr. o. Dialekt 116–117, 270, 294, 333, 582–583; rom. 582; Bündnerrom. 298, 639, 644; Frz 311, parler vs. abwertendem patois 330, 329–339, 333; SO Frz. 583, 667–670, 706; It. 617–618; Sp. 760 Mündlichkeit u. Schriftlichkeit Beziehung zwischen geschr. u. gespr. Spr. 14, 305, 339, 342–
350, 366, 376, 400, 440, 535, 570, it. 599, 608, 612; Nachahmung d. Mündlichkeit 349. 376, 570; Übergang zw. ~ 400–401 cf. Diskurs Nationalsprache „Ich ziehe es vor, v. Spr. v. Nationalstaaten u. nicht v. ~ zu spre.“ (575) 313–314, 576, 595, 608, 611; Minderheitenspr. gegenüber ~ 183, 628 cf. Standardisierung Nennen u. Sagen (Platon) 101–102, 184, 186, 202, 206, 219, 524 Neologismen 29, 34, 177, 240, 630, 655–656, 665; Neuerung cf. Innovation Neutralisierung 143–144, 151, 157–158, 163– 164, 167–169; Tempus 221, 225–226, 231–232, 539; Gr. 233; Sem. 258–259, 262, 264 cf. Phonem, Opposition Nomenklatur cf. Terminologie Nominalisierung 1. Entitäten zweiter Ordnung durch ~ ausgedrückt 93; Gr. ~ u. Syntax 93, 550, 384–385; Sachverhalt als lexikalisierte ~ 92; Wortbildung 95, 194, 241, 245–246, 523 2. Entitäten dritter Ordnung 93–94 Norm präskriptive ~ 112, 115, 180, Spr.~ findet „in einer normativen Orthographie, einer normativen Gr. u. einem normativen Wörterbuch“ ihren Ausdruck (593) 592–594; Status u. Norm 584 cf. Kodifizierung Normalisierung (Katalanistik) Verbreitung einer Spr. in alle gespr. u. geschr. Bereiche vs. Normierung 593, 571 cf. Ausbau Normannisch als Kolonialspr. d. Normandie 315, 568; 1066 nach England gebracht: Zweisprachigkeit: Anglo~ bis 14./15. J. 666; auf Sizilien 476, 502 Normierung v. Standardspr. 113, Pt. 328, Lat. 447, 450, Kat. 585 vs. Normalisierung 593 cf. Kodifizierung Numerus generell Sg., Pl., Dual, Trial 106; Determination d. Subst. 535; Endung 202, 233– 234, Verlust d. Endung 685–686; Kongruenz 332–333, 362; lat. Deklination u. Flexion 524– 527; Verlust d. Kategorie im Frz. 675–677; aktualisierende Kategorie wie Aspekt, Modus, Person 211 cf. Genus, Kasus Objekt „stehen d. Funktionen d. Sb., d. direkten ~ u. d. indirekten ~ mit d. V. in Zshg. […]. Sie kommen nur im Verhältnis zu einem V. vor“ (202) 135, 153, 202–206, 324, 332–334, 385, 522–524, 545–546, 548, 686–687, 784; ~spr. vs. Metaspr. 59 cf. Aktant
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Okzitanisch Bez. romanz, lemosi, lenga romana, Provenzale; heute verwenden d. Spr. normierer lenga occitana o. lenga d’oc 707; kein geschlossenes Spr.gebiet 329, 706–707, 706– 716; Alt~ 52, 203, 229, 233, 270, 519, 530, 535, 574, 706–715, früher Provenzalisch 577, 581– 583, 602, 707, 712, 771; erste rom. Lit.spr. im 12. J.; v. 13. J. an Eingliederung in frz. Gebiete; seit 1539 systematische Verdrängung als Amtsspr. 708; Dialekte 664, 706–707; Französierung francitan Lernervarietät d. Frz. v. okz. Spre. (nach Schulpflicht 1883) 623, 711, 714; Reflexlit. in frz. Orthographie 710; nach 1800 ~ Renaissance 289 → Ansteigen d. lit. Produktion (félibres) u. Kodifizierungen (Mistral) 712–713; Rückgang d. Spre. trotz freiwilligen Unterrichts 714–715 cf. Frankoprov. Onomasiologie vs. Semasiologie Methoden d. Erforschung d. Spr.: ~ v. signifié zum signifiant, 75, 77, 48; Wortbildung 96–97, Gr. 235, Spr. atlanten 327 Opposition Gegenüberstellung v. zwei Einheiten141–143, 425; Tempus 216, 220–222, 224–225, 228, 233; Wortfeld 258–259, 262–267 polare ~ 253, 256 cf. Neutralisierung, Zug Origo (Bühler) „Universell liegt d. Spre. wie d. Schreiben d. ~ d. Ich, Hier u. Jetzt […] zugrunde“ (347) 260; „Durch d. Orientierung am Ich, Hier u. Jetzt erhält jedes Spre. seine Perspektive“ (39); „~ d. Zeigfelds“ (355); Umfelder 355–357, 404 cf. Deixis Orthographie „D.~ ist [im Gegensatz zur Schrift] d. präskriptive Norm, nach d. entweder ganze Wörter geschr. werden, relativ unabhängig v. deren signifiant in seinen einzelnen Komponenten, o. sie ist d. Menge d. Regeln, mit denen Laute o. besser Phoneme durch Buchstaben wiedergegeben werden“ (180) 182–183, 345, 593; „D. Kontinuität d. ~ verdeckt zum Teil d. Wahrnehmung einer Variation in d. Distribution d. Phoneme […] Es gibt Hinweise darauf, dass d. Schreibung mit einem gewissen Abstand d. Wandel d. Aussprache folgte“ (520); Lat. 511, 566–567; nach Ende d. Röm. Reichs ~reform nötig, um d. rom. Phoneme zu repräsentieren 440, 565–568; Arag. 758; Ast. 763; Bündnerrom. 641–642; Frl. 634; Frz.179, 191, 233, 347, 522, 671–672, 710, 712; Gal. 589–590, 767, 771, 775–778; It. 171, 621; Kat. 161, 163, 751, 757;
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Kors. 623; Okz. 710, 712; Pt. 589–590, 786, 789; Rum. 182–183, 650, 654–656; Sard. 628, 630; Sp. 143, 152, 571, 722, 724, 736–737 Ostromania „umfasst It. S d. Linie La SpeziaRimini, Siz., Dalmatien u. d. Gebiete d. rum. Spr.“ (448) 505, 513, 527 cf. Wromania Panama „Zentrum, v. d. d. Kolonisierung d. d. Pazifik zugewandten Regionen Sam. ausging“ (729); Anredeformen 323 Paradigma griech. ‚Beispiel‘~ statt „rapports associatifs“ (Saussure) 136; ~ „zunächst Beispiel eines Deklinations- u. Konjugationsmusters“ (136) (Hjemslev) → alle ähnlichen Beziehungen auch zw. Invarianten „Auf syntagmatischer Ebene u. in syntagmatischer Beziehungen befinden sich Elemente in praesentia (sie sind ‚anwesend‘), auf ~ Ebene dagegen diejenigen ‚abwesenden‘ Elemente, zw. denen ein Spre. wählen kann, d. Elemente in absentia“ (136)138,146, 191; ~ Wortfeld 258–268; Ersatz eines ~ Ausdrucks durch syntagmatischen 453; Vok. auf ~ Achse 509; Kasus 524, Genus 525, Numerus 526–527; Wandel d. Spr.typs 529–530, Adverbialisierung 531–532; Entwicklung d. V.systems 536–546 Paragrammatikalisierung „Anwendung eines inhaltlichen Wortbildungsverfahrens. d. implizierte Terminus Paragrammatik rührt daher, dass d. Wortbildung so ähnlich wie d. Gr. funktioniert“ (243) 243–250 cf. Wortbildung Paraphrase in d. Wortbildung explizitieren d. Wortbildungs- u. d. Wortschatzbed. 194, 242– 243, 245, 247 cf. Paragrammatikalisierung Paris galloröm. Lutetia Parisiorum; kleiner Raum, der erst durch d. Frankenreich ab 486 zum Spr.zentrum wurde parole vs. langue (Saussure) 10–13, 17,58, 62, 111, 116–117, 123, 272–273 (Ebene d. Diskurses parole), 337 Passiv cf. aktiv, Diathese patois sozial abwertende Bez. für Dialekt vs. Standardspr. 330–331, 577, 585, 669, 701, 705, 707, 711, 758 Performanz (Chomsky) „Gegebenheiten d. Spr.verwendung“ (17) vs. Kompetenz 18, 146 cf. parole Performativ cf. Sprechakt Periphrase Umschreibung; periphrastisches Verfahren vs. syntagmatisches bei V. zur Bildung
d. Tempora 190, 193, 526, 542–543, 545, 672, 685, 689–690; Passiv 536, 545; Steigerung d. Adj. 530; Adv.bildung 531 Permutationsprobe cf. Kommutationsprobe Personaldeixis „Bei d. ~ geht d. Bez. zu anderen am Spre. beteiligten Personen v. spre. Ich aus“ (360)-362; „d. Beziehungen zwischen d. Lokaldeixis u. d. ~ in d. Einzelspr. [sind] sehr verschieden“ (363) cf. Deixis Perspektive o. Gesichtspunkt aus d. ein Sachverhalt betrachtet wird→ ~ivierung 414; im rom. Tempussystem ist d. grundlegende ~ d. primäre 213; parallele, retrospektive u. prospektive ~ → Abgrenzug v. Zeiträumen 213–220; „Im Rom. gibt es als grundsätzliche Möglichkeit d. Realisierung d. sekundären ~ in sechs Zeiträumen“ (230); „Schließlich ist noch eine tertiäre Perspektive möglich“ (216); retrospektive vs. prospektive ~ d. hist. Spr.wissen. 124–126 Peru Eroberung 729; Kontaktvarietät d. Quechuaspre. „interlecto“ 302, 318; Quechua Amtsspr. 317, 741; Bez. für Sp. castellano 576; yeísmo 159; Anredeformen 323 Philippinen ab 1565 sp. Eroberung 729; 1770 obligat. Erlernen d. Sp. 738 Philologie „Disziplin, die sich mit d. Texten beschäftigt“ (437) 8, 52, 237, 273, 431–439; rom. ~ 30, 52, 119, 440–441, 646–647, 712 cf. Edition Phonem 15, 28, 51, 55, 61–62, 68, 71–72, 129, 131, 133–134, 140–146, 181–183, 188; frz. 146– 152, sp. 152–160, kat. 160–165, pt. 165–170, it. 170–174, rum. 175–179; distinktive Funktion 140–146; Archi~ 143 cf. Allophon, Morphem Phonetik 50–51, 61–63, 73, 146, 148, 152, 283, 311, 320, 506, 559, 787; lat. 464, 473, 506–507, 510, 514; pt 170, 487 frz. 152; sp. 160; kat. 165; it. 174; akustische, artikulatorische, auditive ~ 61, 73; ~ Transkription 134, 148, 151–152, 171, 174, 181, 273, 630, mot phonétique o. phonique 145, 197 cf. Phonologie Phönizisch o. Punisch 466–467 Phonologie 18, 51, 55, 62, 73, 139, 143, 146, 152, 154, 211, 285, 290, 593 funktionelle ~ 165, generative ~ 98, 132, 146; 152, 169, 165, 174; lat. 473, 508, sp. 160, pt. 169, it. 174, frz. 179, 182, gal. 590, rum. 645, kreol. 789 ~ relevanter Akzent 155, 162, 170; segmentierbare Laute 72; ~ Transkription 130, 143 cf. Phonetik, Schrift
Polylinguismus 288 cf. Mehrsprachigkeit Polysemie 234, 253–258 cf. Homonymie Portugiesisch „räumlicher Schwerpunkt deutlich außerhalb d. Mutterlandes“ (780); Spr. mehrerer Nationalstaaten 119; Gal. u. ~ 325, 482, 574, 583–588, 765–768, 775–779, 789; Kelt. 482 u. mozar. Einfluss 503, 573, 596, 717, 781; nach d. Reconquista Pt. u. Gal. getrennte Wege 780; politische u. spr. Einheit mit Sp. 784–785: Einfluss d.~ auf Spr. v. Kolumbus 784; Vicente schrieb Pt. u. Sp. im 16. J 784; Alt~ u. Neu~ ab 16. J. 778– 779; Vergrößerung Abstand Gal. u. Pt. 785; lat. Einfluss durch Humanismus 786; Kodifizierung Schriftspr., Wortschatz 1712 u. 1813, Gr. 1536 u. 1770 782, 785, 789; Expansion 313, 315; Atlantikinseln 326, 782–784; Hispanoam. 782–784; Brasil. 327–328, 1759 Amtsspr. 786–787; zahlreiche Gr. auch d. gespr. Brasil. 593, 733, ladinos 731; Afrika u. Asien → Verkehrsspr. u. Entlehnungen → Differenzierung gegenüber anderen rom. Spr. 783, „~ Kreolspr. werden durch d. ~ als Amtsspr. auf d. Kapverdischen Inseln, auf São Tomé u. Príncipe überdacht“ (788); Entkolonialisierung d. pt. Gebiete 703–704, 788; Akzent 144, 196; nur Frz. u. ~ Nasalvok. 149; Phoneme 152, 165–170, 181, 506, 509, 514; Orthographie 183; Pron. 364–365, 681; Tempora 214–215, 229, 232, 235–236, 542–543 Pragmatik (Morris) „Sie hat d. Benutzer v. Zeichen, d. Situationen u. Kontexte d. Zeichenbenutzung zum Gegenstand“ (132); „linguistische ~, die sich mit d. Benutzung spr. Zeichen befasst“ (132) 337–338; „D. ~ u. d. Soziolinguistik betrachten d. Spr. unter Berücksichtigung außerspr. Gegebenheiten v. ihrer konkreten Realisierung her“ (15), ~ u. Textlinguistik 340; ~ u. Umfelder 346, 354 Präposition Wortart 102, gr. Wort, Synsemantikon 166, 191–192; „D. Beziehungen zw. d. V. u. seinen weiteren Bestimmungen werden in d. rom. Spr. durch d. Satzgliedstellung u. durch ~ ausgedrückt“ (203) 209, 230, Situierung 103; Lat.: „D. Verlust d. Kasusparadigmas wurde syntagmatisch kompensiert durch d. Ausbau d. Verwendung v. ~“ (529) 504, 515, 519, 527–529, 531, 550; Wortbildung: „D. v. einer ~ Ergänzung ausgehende Entwicklung ist in allen rom. Spr. ein besonders produktives Verfahren“ (244)245; ~ Wortgruppe (397); ~ direktes Objekt 784;
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Ortsadv. 363; Textverknüpfung 394, frz. 676, sp. 725 Primärdialekt (Coseriu) entsprechen „syntopischen rom. Varietäten, die Entwicklungen d. Lat. in situ gewesen sind“ (502–503); ~ sind älter als d. Gemeinspr. 293–295, 298, 300–301, 308, 312, 315, Sp. 317–319 cf. Sekundär-, Tertiärdialekte Progression thematische ~ (Daneš) 387–390, ~ v. neuen Informationen im Diskurs o. Text 385 cf. Thema-Rhema-Struktur Pronomen Personal~ 101, 134–135, 138, 153,191, 200, 220, 278; lat. Demonstrativ~, Intensiv~, Identität~ → Aktualisatoren 532–533, 535–536, 546; Possessiv~ 681; Indefinit~ 191; Subjekt~ 190, 287, 324; Funktionen: interrogative ~, exklamative ~ 110, ~ im Text 383, 391, 397 Proposition Entitäten dritter Ordnung 93, 208–209; „~ sind Aussagen, die unabhängig v. einem zeitl. Bezug wahr sind o. als wahr gedacht werden (90)-92; Ad-hoc-~ vs. usuelle ~ 90–91; kleinste Textkonstituente 383, 413 Prosodie „Dauer, Tonhöhe, Druck u. Intonation […] stellen d. ~ einer Spr. dar“ (72) 144–146, 382 Prototyp kognitive Sem. 78–81; Ursprung 124; Textlinguistik 410, 413 Provenzalisch cf. Okz. Purismus spr. Einhaltung d. Norm einer Spr. 33–34; Lat. Appendix Probi, Consentius, Victorinus 433, 445–446, 450, 452; Frz. 56, 60, 332, 612, 658; It. 605, 607, 612–614; Kat. 750–751; Rum. 655 cf. Kodifizierung Québec frz. Kolonie in Nam. seit 1608 700, 704 Quelle Bed. v. ~ für spr.wiss. Forschung, sorgfältige Edition v. ~ 431; Texte als ~: nodicia de kesos 571, 721–722, Käseliste (10. J.) mit latinisierender Orthographie aber rom. Morphologie, Syntax u. Wortschatz; Urkunden 54, 71–72, 433– 434, 437–438, 563, 650, 661, 667–668, 765, 782; Kolonialzeit 279, Rechtsurkunden 431, 670 Inschriften 85, 432, 436–437, 439, 443–445, 462–464, 466, 470–471, 473, 475–477, 479– 481, 486, 496–497, 511–512, 516, 520, 562–564, 638 Rede 1. ~, Einzelspr., Spr.vermögen (Gabelentz) 8–9; ~ = Diskurs 7–10 13–15, 24, 36, 43, 86, 96, 107, 121, 144, 182, 186, 273, 289, 294, 336–337, 341–344, 349, 353, 395; ~akt 273, 307, 355–356, 309–310; ~ bzw. Diskurskontext 356; freie vs. wiederholte ~ 237–238, 242; ~teile = Wortarten
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102, 106, 233; ~universum 358 2. ~wiedergabe frz. discours rapporté, it. discorso riportato, sp. discurso reproducido o. discurso referido 219, 339, 367, 369, 371–375: direkte vs. indirekte ~ 217, 342, 372–373, 391, 412, 419, 490–491, 543, 664–665; erlebte vs. erzählte ~ 357, 372–376 3. öffentliche ~ o. Vortrag 46, 269, 339, 443, 695, 697 Referenz 1. 39, 73; ~sem. 48 cf. Bez., Denotation 2. ~punkt 230 Reflexivität Universale 20–21, 31, 43, 57–60, 74, 427, besonders beim Schreiben 305, 344– 345, 349, 462 Reflexliteratur letteratura dialettale riflessa (Croce) 304, 310, 604 vs. Dialektlit. 569; Ast. 761; Gal. 770–771; Kors. 621–621; Okz. 710–712 Regional- 1. Regionalspr. langues régionales in F. Baskisch, Bretonisch, Flämisch, Kors., Dt., Okz. 329–330, 620, 693. 713–715; in Sp. Gal., Kat., Baskisch 584, 748–749, 778 2. Tertiärdialekte: ~frz. français régional 329–330, 333, 622– 623, 693; ~it. 300, 584–585, 614–615, 617–618, 628; ~kat. 748–749; ~sp. 740, Latam. 743 Rekonstruktion v. früheren Varietäten durch Spr.vergleich 22, 124–125, 270, 437–438, 444, 456, 515, 582, 592, 790 interne ~ 505–506 cf. Gr., Spr.geschichte Relations- 1. ~adj. 246, 247, 456, 482, 565 2. ~komposita 247 3. ~element 244–245 cf. Wortbildung Renaissance Rückbesinnung auf ältere Spr. u. Varietäten u. ihre Lit. 278, 353, 530; karolingische ~ 449,560, 565–567, 658, 660; frz. 672; gal. Rexurdimento 770; it. 401; kat. Renaixença 745, 748; okz. 707, 711–712 Rhema cf. Thema Rhetorik Persuasionstechnik im Diskurs 35, 76–77, 82, 84, 343; Disziplin 337, 401, 450–451, 468, 690, 693–695, 698–699 Rom „Mit d. röm. Herrschaft verbreitete sich d. Spr. ~“ (462) 346, 442–444, 450–451, 454, 459, 462, 464, 467–468, 470, 474–476, 479, 486, 491, 496, 505–506, 552; it. 610–611, 615–616; Ost~ 469–470, 497–498, 500–501, 505, 557, 562 Romania Arabica v. Ar. zurückeroberte Gebiete: Siz. u. d. Ib. Halbinsel → Einfluss Ar. auf rom. Spr. 502 Romania Germanica 498; Gründung v. Kolonien in Germ. 492
Romanisierung u. Latinisierung „Die Latinisierung ist d. Übernahme d. lat. Spr., die ~ d. Übernahme d. röm. Kultur“ (460), 437, 458–459, 466, 473, 572; ~ = Transkulturation 460, 493; „d. Latinisierung u. ~ d. Röm. Reichs sind nicht systematisch untersucht worden“ (793); Chronologie d. ~ 448, 460, 462, 466; Alpenromania 556, Frl. 633, Rätien 492, 638–639; Gallien 486–487, 491– 495, F. 659, Okz. 707; Hispanien 473, 479–481, 485, 765, Sp. 715, 725, Gal. 584–590, Kat. 751; It. 475, 506; Kors. u. Sard. 476, 620, 627; Pt. 785; Dakien 496, Rum. 558, 654; Illyrien 556; Kreol. 790; Germ. 492, Britannien 495 Romanische Sprachen Bez. für v. d. Spr. Roms abgeleitete Spr. langue romane pt. línguas românicas, rum. limbi romanice, it. lingue romanze u. lingue neolatine, sp. lenguas romances u. lenguas románicas; Homogenitätsannahme v. Raynouard: Okz. = rom. 270, 712; Schlegel u. Dietz 574, 211, 315, 560–564 „D. Weg d. ~ war durch d. Fortleben d. Lat. vorgezeichnet“ (573); „leiten sich also v. d. Spr. Roms, v. Lat. her“ (575); d. Zeitpunkt d. Entstehung d. ~ ist nicht gesichert 560; geschr. ~ romanz, romant, lengua romana 564, was d. Bewusstsein einer lat.-rom. Einheit belegt 573; „bleibt d. Name d. ~ an d. Rändern d. Romania entweder latinum, romanice o. lingua romana“ (573)-574; „Eine ~ ist eine solche, die d. Spre. als ~ anerkennen. Das tun sie, indem sie ihr einen Namen geben: langue française, lengua española o. castellana, llengua catalana, lingua italiana, língua portuguesa, limba română usw.“ (575); „eine kodifizierte Standardspr., die eine Fortsetzung d. Lat. ist“ (578) „D. Standardisierung ist Ausdruck einer Identität, deren Grundlage wir in d. Geschichte d. jeweiligen Spr. gemeinschaft suchen müssen“ (578); deshalb präsentiert Lüdtke „d. Spr. zunächst aus d. Sicht derer […], die ihre Existenz als Standardspr. behaupten u. […] durch ihren Spr.gebrauch anerkennen“ (580), auch d. Kreolspr. = ~; Katalog d. ~ 574–584; Gemeinsamkeiten im Vokalismus 507–515, Konson. 515–520, Tempussystem 211–230, d. Gr. d. Subst., Adj., Adv. 232–236, in Idiomatik u. Phraseologie 230–239, Wort- u. Wortbildungsinhalten 239–250 cf. Zweisprachigkeit, Abstand, Ausbau Rumänisch aus ~ Sicht gehören zum ~ d. in Rum. gespr. Dako~ 558–559, 575, 649, 652, Istro~
558, 560, 575, 647, 649 auf d. Halbinsel Istrien; d. Megleno~ 560, 575 in Gr. NW. v. Saloniki u. in einem Teil d. ehemals zum jugoslav. gehörenden Makedonien; Aromunisch 575 in N Gr., Albanien, ehemals jugoslav. Makedonien, SW Bulgarien; Makedo~ 559; Moldauisch 656; Rückzug d. röm. Legionen aus Dakien unter Aurelian, Dakisch 496; frühe Ausbildung ~ ab 4. J., kaum Kontakt zur lat. Schriftspr., keine direkten o. metaspr. Zeugnisse, Ausgliederung ~ 558; Gemein~ (româna comună) o. Ur~ (româna primitivă) 558; zw. d. 5. u. 8. J. v. Lat. sich unterscheidende Varietäten, stark beeinflusst v. nachröm. Völkern: Westgoten, Wandalen, Gepiden, Hunnen, Langobarden, Awaren, besonders Slav., die im 6.–7. Jh. d. Balkanhalbinsel erobern: Bulgarisch, Serbisch, Kroatisch 557–560, 645–648; Reromanisierung d.~ durch Entlehnungen 647; Entstehung d. Schriftspr.: Altkirchenslav. im ~ Spr. gebiet 181, 306, 455, 562, 649–651; ~ Kirchenspr. 651; Modernisierung über Transkulturation durch d. Ungarische u. d. Dt. in d. zweiten Hälfte d.18. J.; Kodifizierung in lat. Schrift -Ablösung d. Kyrillischen- bis 19. J. 651; 1780–1828 Gründerzeit d. ~ Standardspr. 653; Gr. Rădulescu 654; Orthografiereform; Unabhängigkeit 1878 655; Weigand Spr.atlas; 1918 Gründung Nationalstaat România 655; Gr. 1954 655; Spre.wissen um Romanität u. Latinität (Cantemir) 557, 645–646, 652; lat. Kasus im ~ 109, 233, 528; Phoneme 175–179; slav. Wortschatz 659 rumantsch grischun cf. Bündnerrom. rusticus ‚ländlich‘ sermo rusticus 505; lat. Volksspr., Mittellatein lingua romana rustica 449, 561, 565, 568, 661; Ausbreitung d. Spr. d. Landleute aus Latium = rustici → rusticitas vs. peregrinitas (peregrinus ‚fremd‘) vs. urbanitas im Lat. 450–451 Sachen u. Wörter Forschungsrichtung, d. Beziehung. zw. d. spr. Zeichen u. d. Bezeichneten behandelt 550 cf. Spr.geographie Sachverhalt „D. spr. Darzustellende wird in Gegenstände u. Sachverhalte eingeteilt“ (86) 13, 25, 37, 107–109, 139, 145, 170, 199, 207–209; 211–215, 219, 221–222, 226, 228, 230–231, 254, 345, 354, 360, 397–398, 407–408, 452, 539– 541, 543, 545, 679, 685; ~darstellungen sind die spr. Repräsentierung d. ~ aus d. Perspektive eines Spre. o. Schreibers 85–86: ~typen (Lyons
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u. Lüdtke) 86–91; ~ u. sem. Rollen 91–92; „~ enthalten Entitäten“ (93) 85–95, 255 Sanskrit Rekonstruktion indogerm. Urspr. mit Hilfe d. ~ (Bopp) 22, 124 São Tomé, Príncipe u. Kapverdische Inseln vor d. afrikanischen Küste unbewohnt, v. Pt. mit schwarzen Sklaven besiedelt → Kreolspr. 783; Unabhängigkeit u. Entkolonialisierung 788, 790 Sardisch 120, 620–631, 636; D. ~ ist keine lingua aber „für Linguisten eine eigene hist. Spr., da sie keiner anderen hist. Spr. zugeordnet werden kann. Sie ist außerdem kodifiziert worden“ (624); ~ Pisanisch beeinflusste Dialekte Logudoresisch mit Nuoresisch als Varietät, Campidanesisch 624–626; ein ligurischer Dialekt 627; Kat. 627; Geschichte 626–627; Kodifizierung u. Anerkennung 628; Status 315; „Eine Legge Regionale v. 15. 10. 1997 soll Kultur u.Spr. Sard. fördern“ (630) 627–631; Phonemsystem 506, 510, 512–513, 516; Gr. 527, 535, 561, 577, 579, 582–583, 596, 618 Satz Eine Strukturierungsebene d. Spr., 100– 103, 201; in einem ~ sind „d. gr. Bestimmungen in Abhängigkeit v. einem Prädikat organisiert“ (101) vs. Äußerung 85–87, 91, 107–109, 201–211, 219, 235, 237–239, 242, 245, 247–249, 324, 351, 376, 384–385, 394, 396, 522–523, 544, 548– 550, 673; Äußerungskategorien: ~arten, ~typen, ~modalitäten, ~modi 102, 107; ~klammer o. ~rahmen (Germanistik) = ~kern (Coseriu) 546– 547; ~gliedstellung „D. Beziehungen zw. d. V. u. seinen weiteren Bestimmungen werden in d. rom. Spr. durch d. ~gliedstellung u. durch Präp. ausgedrückt“ (203), „Für eine typologische Betrachtung d. ~ kommt es auf d. Stellung d. Satzglieder an. D. Grammatiker unterscheiden dabei eine ‚gr.‘ u. eine ‚rhetorische‘ Wort- u. ~gliedstellung“ (546); lat. ~gliedstellung 686; direkte ~gliedfolge 608 Dependenzgr = Analyse d. Syntagmatik d. ~ 205–206; Assertiv~ als Normalfall d. Syntax 107; konstative ~ 398 vs. performative ~ 398; cf. Informationsstruktur, funktionale ~perspektive Schrift 1. ~ vs. Laut „D. ~ ist ein System v. graphischen Zeichen, das in Wörtern realisiert wird. […] ~system, mit d. eine Einzelspr. verschriftet wird, u. als Graphie d. einzelnen Wörter, die d. Anwendung eines ~systems darstellen“ (180) 7, 51, 53, 137, 183, 197, 272, 326, 341–342, 344,
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347, 351, 436, 471, 486, 488, 491, 511, 562, 654, 656; phonologische o. phonographische ~ „Wenn ein Phonem durch einen Buchstaben o. eine Buchstabenfolge repräsentiert wird, wendet man d. phonographische Prinzip an“, besonders in rom. Spr. (181)-183, 51, 630, 637; Rum. stark phonographische Orthographie 182–183 vs. ideographische o. logographische ~ „ein spr. Zeichen [wird] durch d. Schrift als Ganzes dargestellt“ (181); ~ spr. als Norm 179 2. Silben~ 477; keltib. ~ 479; kyrillische ~ 650–651; tartessische ~477 3. Heilige ~ 568 4. Druck~ 671 cf. Schriftlichkeit Schriftlichkeit Übergang v. Mündlichkeit zu rom. ~ 440, 535, 560 cf. lingua rustica, scripta, Mündlichkeit Schulpflicht allgemeine ~ 34; 1857 in Sp. 740, 760 u. Amerika 740 → Durchsetzung d. Sp.; 1882 in F. 701, 711 → Durchsetzung d. Frz. gegenüber Dialekten u. Regionalspr. 623, 701 → Identitätsprobleme auf Kors. 621–622 u. Okz. francitan 711, 714; Notwendigkeit v. Wörterbüchern 698 Schweiz Römer 485, Kelten 471; hist. Soziolinguistik d. ~ 705; frz.-germ. Spr.grenze 557 1. ~dt. Dialekt 298, 702; Spre. wechseln zw. Dt. u. Rom. 639 2. Suisse romande frz. Varietäten d. Standardpr. 328–329, 668–669, 699, 702 3. It. 620, 632, 637; lombardischer Dialekt im Tessin 617 4. Bündnerom. 576, 596, 641–642, 644; Kontakt Bündnerrom. mit Dt. 596 u. It. 632 cf. Alpenromania Scripta/ae bzw. mittelalterliche „diatopisch variierende Schreibspr.“ (661) 310, 661, 781: anglonormannische 666; franzische ~ v. Ende d. 12. J. an 274 mit überregionaler Verständlichkeit 664, 666, frankoprov. 667–668, 670; kst. 723, gal./pt. 781; leon. 724; als Koine 662 cf. Schriftspr. Sekundärdialekte Dialekte, d. nach d. Herausbildung d. Gemeinspr. entstanden sind 293–295, Kolonialdialekt 298, 315 Kontaktvarietät 300, 308; lat. 458; sp. 317, 717, Lateinam. 318–319 (320); pt. 325, Bras. 326–326; cf. Primär-, Tertiärdialekte Selektion cf. Kodifizierung; Auswahl eines Elementes aus mehreren Varianten 29–30, 137; Lat. 438, 446, 450, 464; Kors. 623; Sard. 629; Frz. 251, 663, 675, 689, 695–696; Ast. 764; It.585
599, 601, 603–605; Frl. 634; Rum. 646; Kst. 715; Gal. 770, 774–775; ~ d. Norm 251, 464, 592–593, 646; ~ d. regionalen Schriftspr. 601–603 Sem minimal distinktives Bed.element 264–267 cf. Opposition Semantik Begriff (Bréal) ~ 48, 76; spr.wiss. Disziplin, die d. Bed. u. Bez. untersucht 55, 47–48; „Ich lege grundsätzlich einen weiten Begriff v. Bed. zugrunde“ (48): ~ d. Spre. im Allgemeinen o. Universal~ (Referenz~), einzelspr. ~ (bzw. Gr., Wortbildungslehre u. lex. ~ o. Wort~), ~ d. Diskurses, d. h. eine Untersuchung d. Sinns, zu d. d. Bez. u. d. Bed. beitragen 47–48, 55; zwei Perspektiven d. ~ d. Spre. im Allgemeinen: v. d. Einzelspr. o. d. außerspr. Wirklichkeit, über die gespr. wird 73; Arten v. Bed.: Bez. o. Bezeichnetes, einzelspr. Bed. (signifié) u. Sinn 48; kognitive, strukturelle u. einzelspr. ~ 48, 76–81, 84, 550; Prototyp 77–78;~ d. Diskurse u. Texte: Sinn 338, 550; lex. ~ 18, 554; ~ Wortinhalt 47–48, 251–268; 47–49, 73–76, 98–99; Autosemantika vs. Synsemantika 192; Wortbildung referentielle ~ 96; sem. Rollen „Bei Tätigkeit u. Akt kann neben d. Agens, der typischerweise ein Verursacher ist, noch ein Patiens o. Adressat sowie ein Benefaktiv o. ein Empfindungsträger (engl. experiencer) beteiligt sein“ (92) 91–93, 210 Semantizität Universale „Bed.haftigkeit“ (20)21, 37–48, Spr. hat „Bed., Bez. u. Sinn“ (38), 50–51, 57, 73, 85; ~ vs. Materialität 133 Semasiologie v. signifiant zum signifié 75 cf. Onomasiolgie Semiotik o. Zeichenlehre 129, 340, 425; Semiotiker Peirce 75 u. Morris 132; Kultur~ 54 Sequenz (Adam) 403–423; ~ = Verbindung v. Propositionen 384; ~typ: Dialog- o. Gesprächs~ 403–407; „ein Dialog [ist] eine hierarchisierte Abfolge v. einander abwechselnde[r] ~“ (406); Erzähl~ 407–412; Beschreibungs~ 413–418; Argumentations~ 418–420; Erklärungs~ o. explikative ~ 420–423; ~einschaltung u. ~dominante 402–403 cf. Diskursgattung seseo vs. ceceo Sp; bei ceceo. /s/ u. /θ/ fallen in /θ/ zusammen, bei ~ in /s/ 158–159, 724; Andalusien → Hispanoam. 320–321; Gal. 768–769 signe (Saussure) spr. Zeichen bestehend aus signifié u. signifiant 129–130; ~ u. d. Verbindung zw. signifié u. signifiant sind arbiträr 41, 130
signifiant vs. signifié (Saussure) signifié = inhaltliche Seite, Bed. u. signifiant = lautliche o. materielle Seite, spr. Ausdruck d. signe bzw. Vorstellung d. beiden Seiten 15, 96, 129–131, 182, 191; Morphem o. Monem bestehen aus „e i n e m signifiant u. e i n e m signifié“(100), (Hjelmslev) Ausdruck statt signifiant u. Inhalt statt signifié 133; ~ im Text u. Diskurs 382, 391, 423, 425; signifiant ~ u. Terminus 47;, ~ graphique vs. ~ phonique 182; ~ u. Orthographie 180; ~ u. Morphem 199; ~ u. Sinn 340; ~ im Wortschatz 554; signifié = „D. Bezug zur außerspr. Wirklichkeit wird mit Hilfe v. Bed. (Saussure) hergestellt“ (40); ~ vs. Terminus u. Bez. 46–47, 57, 96; ~ u. Themavok. 197 cf. Zeichen Silbe(n) 61, 144–145; offene u. geschlossene ~ 145; ~anlaut, ~auslaut, ~inlaut 144; ~schrift 51 Similarität vs. Kontiguität (Jakobson) Ähnlichkeit zwischen d. Bezeichneten 76; Grundlage d. Metapher 82 cf. Zeichen Sinn 1. Dritte Art d. Bed. im Diskurs o. Text 15, 38, 43–44, 48, 110,425, 423–428, 338–340, 383, 388, 394, 403, 405; „D. ~ eines Diskurses bzw. Textes wird demnach mündlich u. schriftlich anders geschaffen. Im geschr. Text muss all d. ausdrücklich versprachlicht werden, was beim Spre. als unmittelbares Umfeld implizit bleiben kann“ (347) 353, 356; Spre.akt 398–399 cf. Sem. 2. „Angaben d. ~ sind kausal, final, konsekutiv usw.“ u. freie Angaben (209) cf. Sachverhaltsdarstellung; Interpretator d. ~ 209, 379 Situation (Coseriu) situationeller Kontext vs. spr. Kontext vs. Situation vs. Sachverhalt u. Umfeld 44, 346–359; dargestellte ~ vs. ~ als Umfeld 86; situationelles Umfeld 346, unmittelbare vs. mittelbare ~ 355–356, 359, 367, 369 Sizilianisch Romania Arabica 180, 502; Primärdialekt 502; Normannisch auf ~ 502; überregionale Schreibspr. 599; Literaturspr. 601–602; Einheitlichkeit ~ Dialekte 618; Sp. in Königreich Siz. 726; Phonemsystem 506, 510; Metaphonie 514 Slavisch 102, 287, 455, 497, 556; rum.-~ Spr. kontakt 506, 559, 645–646; frl. 633; rum. Altkirchenslav o. Slavonisch 181, 306, 562, 649–651 Soziolinguistik „D. Pragmatik u. d. ~ betrachten d. Spr. unter Berücksichtigung außerspr. Gegebenheiten“ (15), 19, 126, 128, 337; Spr. in ihrem sozialen Kontext, ~ beschäftigt sich mit Variation (Labov) 334; synchronische u. diachronische ~
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335; ~ u. Spr.kontaktforschung 462; kat. 571; Soziolekt o. sozialer Dialekt 32, 115, 309, 452 cf. Spr.niveau, diastratisch Spanisch 716–745; Vertrag v. Cabreros 1206, Sp. als Kanzleispr. 572; Reconquista 722, 747; 1492 erste ~ Gr. Nebrija 60, 715; vorklassisches Sp. u. Siglo de Oro 723; unter Philipp V. 1713, 1714 wird Sp. Amtsspr. 732; 1726–1736 Kodifiziung d. Wortschatzes 736; uneinheitlicher zeitgenössischer Usus d. Orthogrphie737; Isabella II. „trug dafür Sorge, dass Sp. 1844 eine offizielle Orthographie bekam, die sich letztlich im ganzen sp. Spr.raum durchsetzte“ (737); sp. Verfassung v. 1978 erkennt 19 Autonome Gemeinschaften an; Normalisierung als Ergebnis d. Autonomiebewegungen 742; Zweisprachigkeit in kat. Regionen 738–739; ~ in Gal. 769; Kontakt mit Pt. 782, 784; habla culta gehobene Sp. d. Gebildeten 296, 318, 327; Spre. d. ~ in Hispanoam. 36, 293, 318, 737; andines ~ 302; mexikanisches ~ 80, 319; Phoneme 152–160; Anredeformen 322–324; Ortsadv. 363; Demonstrativpron. 365 Spirantisierung cf. Aspiration Sprache „ist ein dynamisches System“ (25); ist mehr als Kommunikation 31; (Jakobson) „Spr. unterscheiden sich im Wesentlichen durch d., was sie ausdrücken müssen, u. nicht durch d., was sie ausdrücken können“ (40) cf. Universalien, enérgeia; „was überhaupt mit einem Eigennamen für eine ~ benannt wird, nennt er [Coseriu] hist. ~“ (116); „Eine hist. ~ ist durch ihre diatopischen Unterschiede u. ihre syntopischen Gemeinsamkeiten, ihre diastratischen Unterschiede u. ihre synstratischen Gemeinsamkeiten sowie ihre diaphasischen Unterschiede u. symphasischen Gemeinsamkeiten zu charakterisieren“ (348) 111, 285; funktionelle ~ (Coseriu) o. Varietät (Lüdtke) 111, 116–117; betrifft d. Spr. strukturen durch syntopische Einheiten bzw. Typen v. Dialekten, synstratische Einheiten bzw. Spr.niveaus, symphasische Einheiten bzw. Spr. stile 159, 289–294, 352 Sprachen indogerm. 464, 477–479; germ. 159, 672; kelt. 470; italische 474; slav. 102; rom ~ 564; „Sprachennamen benennen u. stiften Identitäten“ (439) 81, 112–113, 115–116, 160, 325, 439, 442–443, 466, 474, 564,-565, 582–583, 587–588, 645–646, 662–663, 707, 716, 722, 735, 743, 747, 762, 766, 777, 778 cf. Spr.bewusstsein; Spr.planung 34,
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581, 594, 647, 652, 653–654, 657, 764, 774; Spr. politik 34; 565, 590, 595, 618, 635, 647, 699, 700–702, 710–711, 719, 731, 733 cf. Schulpflicht, Korpus, Status Spracharchitektur (Flydal); Lüdtke benutzt d. Begriff anders „da wir damit d. Gefüge d. Varietäten einer hist. Spr. in ihrer Gesamtheit u. auch d. mit ihnen interagierenden Varietäten anderer hist. Spr. bezeichnen“ (286) 285–290 cf. Diasystem Sprachbeschreibung = deskriptive Linguistik o. Spr.wiss. 19, Spr.geschichte u. ~ Disziplinen d. einzelspr. Spr.wissen. 19, 112, 114, 120–121, 123, 126, 128, 233, 269, 296, 426, 428, 444, 751 Sprachbesitz individueller 26, 29, 37 Sprachbewusstsein 44, 113, 286, 288, 290; Bewusstein einer lat. lingua 560, 661; lat.roman. Einheit 568, 573, 579, 721; Afrz. 660; Frz. 666, 671, 707; Ast. u. Leon. 723, 759–760; Arag. 758; Bündnerrom. 576, 586, 640; Frl. 632, 635; Gal. 586–588, 766; It. 582; Kat. 747; Kors. 623; Okz. 706; Pt. 766, 785; Rum. 645–646; Sp. 721; reflexives ~ 118, 561; Spre.bewusstsein 118, 122, 124, 187, 285, 297, 303–304, 307–308, 325, 329, 740 Sprache gespr. (Umgangsspr.) vs. geschr. 115, 273–284, 344–350, 444; lat. 433, 441, 443–446, 449–450, 452, 512, 563–564; It. 610–611, 614, 616–617; Frz. 329–330, 347–348, 441; Sp.157– 158, 160, 407, 736; Brasil. 788; geschr. besondere Anforderungen: reflexiv, hoher Planungsgrad 304, 339, 342–343, 344; Unterschied zw. ~ u. geschr. 310, 331, 339 cf. Mündlichkeit Sprachgemeinschaft „Eine ~ bilden alle diejenigen, die eine gemeinsame Spr. spre. D. Grenzen d. Gemeinschaft hängen dann v. d. Grenzen d. Verwendung d. Spr. ab, die diese Gemeinschaft stiftet“ (312)-313, 25, 30, 32–34, 38, 42, 81, 90, 112, 116, 124–125, 179, 183, 288, 298, 292, 295–296, 301, 309, 348, 352, 381, 578, 588, 590–592, 644, 646, 758, 792; Soziolinguistik 334; schriftspr. u. mdl. Traditionen 343, 348, 350; 642; ~ u. Textsorten 377, 401, 405; Übernahme einer Standardspr. durch ~ 593–594; ~ u. Nationalstaaten 595; kleinere ~ 619 Sprachgeographie Untersuchung d. räumlichen Variation 48, 160, 284, 323, 334, 466, 515, 550, 662; Spr.atlas als Forschungsinstrument 311; Isoglossensysteme 292
Sprachgeschichte vs. Spr.beschreibung Disziplinen d. einzelspr. Spr.wissen. 19; hist. Gr. u. ~ 29, 120; Auffassungen v. ~ 590–597; ~ u. Spr. ursprung 22–23, 270–271; Entstehung d. rom Spr. aus d. Vlt. 457, 505; Quellen 432 cf. Diachronie Sprachkompetenz = spr. Wissen 7–8, 16–20, 24, 146, 373, 533, 702; fremdspr. ~ 658; Gattungskompetenz 376–377 cf. langue Sprachkontakt 299–302, 318, 359; hist. ~ 125, 437, 448, 458, 460–473 ~ räume 473–497 auch ~zonen während d. Völkerwanderungszeit 556–559; ~situationen 125, 269, 297–299, 301, 307, 348, 570; Kontaktsituation koloniale 316; heutige ~situationen 125 cf. Superstrat, Hispanoam., Indianerspr., Kontaktvarietät, Diglossie Sprachniveau (Coseriu) 292–294, 309; ‚Spr. norm d. Gebildeten‘ in hispanoam. Spr.gebiet 318; français populaire 331; Spr. d. honestiores in Rom 442 cf. synstratisch Sprachnorm 62, 113–115, 240, 593–595; Lat. 443, 449–450, 454, 464, 567; Rom. 561; Frz. 113, 332, 658; Sp. 318, 719, 730; Kat. 750; Gal. 590, 775; It. 616; Rum. 648, 657; Pt. 326, 786; Okz. 707, 714 cf. Kodifizierung, Norm Sprachraum „Was in d. Zeit als Wandel wahrgenommen wird, stellt sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem ~ […] als Variation dar“ (30), 118; lat. 458, 478, 495, 505–506, 515, 553; Urbanisierung u. ~ 460; Verkehrswege 466; rom. ~ 583, ~ d. Ost- u. Westromania (Wartburg) 448; Germ. 498; Alpenrom. 557; Ast. 723; Frz. 333, 659–661; Gal. 764–765; It. 598; Kat. 160, 747; Okz. 707, 710, 713; Pt. 281, 325–326; Rum. 558, 649; Sp. 113, 158–159, 281, 315, habla culta 296, 719, 737, 740; Spr.geographie 466 Sprachstil 12, 59, 309 cf.geschr. vs. gespr. Spr., code parlé Sprachstruktur 144, 286–289, 291, 639–640 Sprachtheorie „Jede Antwort auf d. Frage, was Spr. ist, ist bereits ~“ (4)-8, 14–15, 17, 75, 99, 117, 291, 600; Bühlers ~ 19 Sprachtyp „D. ~ ist eine Gestaltungsebene […], die verschiedene Paradigmen d. Gr. zusammenfasst. So stellt man z. B. unterschiedliche Verfahren im Bereich d. Subst. u. d. V. fest“ (523); Wandel d. ~: bei einem „typologischen ~ geht es um Veränderungen in verschiedenen Systembereichen, die einem gemeinsamen Prinzip
folgen“ (521) 184, 458, 521–556, 673; (Schlegel) Latein synthetisch vs. rom. Spr. analytisch 521, 523; rom. ~ 361, nicht relationelle Funktionen paradigmatisch, relationelle Funktionen syntagmatisch 522–523; Frz. ~ 499, 523, 673; Spr. typologie 521 Sprachvergleich Methode d. Spr.wiss. 22, 77, 99, 515, 790 Sprachvermögen (Gabelentz) 9–10, 12–13, 43, 84, 123, 268, 277 „d. ~ [langage] kann nur mit Hilfe einer Einzelspr. u. mit ihrer Kenntnis (langue) im Diskurs verwirklicht werden u. dieser ist ein individueller Akt d. Spre. u. Schreibens“ (336) cf. faculté du langage Sprachwandel 25–30; „~ u. Spr.variation sind Folgerungen aus d. diskursiven Grundlage d. Kreativität“ (25); Wandel = „Übernahme einer Innovation durch einen Spre. […] ist nichts anderes als d. Beginn einer einzelspr. Tradition“ (28) 55–56; „unsichtbare Hand“ (Keller) 350; gesicherte Quellen 432; Varianten 445; Lat. 456, 458–459; Vlt. 516, 524; Übergang lat. in rom. Spr. 508–509 cf. Diachronie Sprachwissenschaft o. Linguistik 16; reflexive Beschäftigung mit Spr. als Grundlagenwiss. 5–6, 74; ~ „ist viel umfassender als Spr.theorie u. beinhaltet insbesondere auch eine Vielfalt v. Methoden d. Datenerhebung, d. Theorien d. Beschreibung u. anderes“ (7) 126; sprachlich vs. spr.wiss. = linguistisch 16; allgemeine ~ 7, 10, 13–14, 129, 284; deskriptive o. synchronische ~ vs. hist. o. diachronische ~ 19, 124–126, 128, 285, 291; einzelspr. ~ 14, 126; funktionelle ~ 15, Saussure → strukturelle o. strukturalistische ~ 290–291, 334 cf. Spr.beschreibung, Spr.geschichte, Gr. Sprachzustand (Saussure) états de langue 122–123, 285–286, 238, 523, 591; Unterscheidung zw. ~ u. Spr.struktur 288 cf. Synchronie Sprechakt (Searle) „Äußerungen, mit denen Hdlg. vollzogen werden“ (398) „Nach d. Art d. Beteiligung d. Zeit lassen sich wie bei d. Hdlg. d. Sprechtätigkeit u. d. ~ unterscheiden. Mit ~ ist ein Gebrauch im Diskurs gemeint, in d. d. Spre. mit d. Handeln zusammenfällt“ (89) 92, 221, 340, 350, 353, 369; direkter u. indirekter ~ 397–400, 426; Illokution 426–426; performativer ~ (Austin, Searle) 398–400, 219–220; ~ vs. Äußerungskategorie 106–107, 110; ~v. 399 cf. Diskurs
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Sprechen „D. ~ ist eine Tätigkeit, die andere Tätigkeiten erst möglich macht“ (5); Coserius Theorie d. ~: im Allgemeinen, einzelspr. u. individuell 13–15 cf. Spre.akt Sprecher 1. ~perspektive 3, 15, 74–75, 81, 116, 366, 586; ~wechsel = Turn „kleinste Einheit d. Dialogs“ (404), einbettender u. eingebetteter ~wechsel 406 2. ~ vs. locuteur (Ducrot) „[Wir nennen] sujet parlant d. Redenden, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass es ein Einzelner ist, der aktuell u. konkret in einer unmittelbaren Situation spricht. D. ~ hingegen übernimmt d. Verantwortung für d. Gesagte“ (369) cf. Polyphonie Standardisierung 592; Lat. 443, 445, 458; rom Spr. 303, 578–580 vs. Destandardisierung decadència 745 cf. Kodifizierung Standardsprache „entsteht durch […] Spr. planung“ (34), 33, 112–115, 273; Dialekt vs. ~ 56, 118–119, 301–306; „künstliche Spr.“ vs. „natürliche Spr.“ = Dialekt (Paul) 302–303; nicht-standardspr. Varietäten 19, 128: arag. 757, ast. 760, frz. patois 701, 707, gal. 770, it. 620, okz. 713, pt. 785, rum. 649, sp. 314 Status 1. sozialer Status v. Spr. 354, 317, 330, 580; ~bezeichnung 361; ~ d. Varietäten 307– 310, 314–317, 330; Korpus- u. ~planung → Streitfrage 34, 581, Arag. 755, Frl. 635; Gal. 584–589, 774, 778; Kat. 754; Kors. 620, 622–623 cf. Spr. politik 2. Phonem~ Stellung im System 140–141, 148–150, 162–163, 176–177, 195 Stigmatisierung v. Spre. 303, Gal. 768, Okz. 711, Sp. 730 Stilistik 1. Disziplin d. Spr.wissen. 19, 128, 289, 334–335, 337 2. Redefiguren 82 Stimme 1. Relevant für Äußerung: Klangfarbe d. ~, Tonhöhe u. Sprechtempo 15, 51–52, 72 2. Stimmhaftigkeit 63, 151 3. Redewiedergabe im Diskurs: Vielstimmigkeit o. Polyphonie 368, 371 Straßburger Eide (842) „kontrastierten Eide in germ. u. rom. Spr. in einem lat. Text, ohne dass wir d. beiden Eide einer bestimmten Region d. Frankenreiches zuordnen können“ (661) 180, 432, 566–573 Strukturalismus 20, 114, 119, 133, 146, 187, 235–236, 739; Nam. ~ 187–188, 192–193, 196, 198; europäischer ~ 192, 285: Kopenhagener Schule 132–133, 285, 289, Prager Schule 142
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style simple nach Spr.modell d. Hofes gespr. Frz. in d. Konversation u. als Fortsetzung in Briefen benutzt 695 Subjekt im Zshg. mit V. 202, in Kongruenz mit Person d. V. 203; ~kasus o. casus rectus 203; ~ nachgestellt 204; als Erstaktant 204; ~pron. 190, 324, 362–361; als Grundlage einer V.bildung 244; ~lose Sätze 287; hermeneutisches ~ 338 Substantiv Wortart u. Wortkategorie 99, 102– 104, 135–136, 138, 185,192-, 533; Kategorie d. Nennens 101, 379, Anrede 34, 109, 322, 385; Gr. d. ~ 232–236, 448, 519, 679; Numerus u. Genus 53, 193, 268, 448, 519, 535; ~ivierung 105; ~ivität 103–105; generische Bed. 41, 135, 138; d. attributive Adj. determiniert ~ in Nominalgruppe 234; Kasus vs. Tiefenkasus bzw. sem. Rollen 92, 106; Klassematik d. ~ 210; funktionelle ~ 210; ~ u. Entitäten (Lyons) 93–94; ~ in Wortbildung 97–98, 194, 242, 244, 246–249, 268, 531, 688–689; lat. Deklination bei ~ 524–525, 528; im Frz. 190–191, 675–678, 682, 685–686; Bündnerrom. 643; Rum. 204, 652; Textlinguistik 413 Substitutionsprobe cf. Kommutationsprobe Substrat „Man nennt d. „dominierte Spr. meist Substratsprache, d. später hinzugekommene Superstratspr.“ (460)-461 120, 124–125, 307, 740; Bed. für d. Entstehung d. rom. Spr.: ~ (Ascoli u. Křepinský) vs. Superstratspr. (Wartburg) 469; Kreolspr. 790–791 cf. Adstrat, Spr.kontakt Suffix 1. Wortbildungsmonem 100, 122, 155, 171–173, 177, 187, 188, 192, 194–196, 199, 234, 239, 245, 250, 261, 482, 499, 503, 510, 531, 560, 565, 674–675, 679, 769; Null~ 689 2. ~ statt Endung 193 Superlativ u. Elativ d. Adjektivs 234, 530–531; ~ u. Komparativ 678–679 cf. Adjektiv Superstrat cf. Substrat symphasisch, synstratisch, syntopisch werden nicht mehr verwendet 291–292; 288–289, 291– 294, 296, 307, 309, 331, 348, 356, 443, 550, 657, 665, 695, 697–698 cf. diaphasisch, diastratisch, diatopisch Synchronie deskriptiv cf. Diachronie, Spr. beschreibung Synkope „Ausfall d. Mittelsilbe zw. zwei Konsonanten“ (517) im Vlt. 515–517 Synonymie (Girard) 251–253 cf. Antonymie, Homonymie, Polysemie
Synsemantika Wörter mit gr. Bed.: Pron., Artikel, Präpositionen, Konjunktionen 192 vs. Autosemantika synstratisch cf. symphasisch Syntagma 136–138; Aneinanderreihung spr. Elemente, „D. Beziehung d. kombinierten Elemente im Text o. Diskurs untereinander werden ~ Beziehungen genannt“ (Saussure u. Hjelmslev) (136); generative Phonologie unterscheidet nicht zw. ~ u. paradigmatisch 145–146; Determinans-Determinatum-Struktur eines ~ 97, 241, 248; Tempus: 228, 231; Adv.: 234; Sprachtyp: ~ vs. paradigmatische Bestimmung 191, 521–523, 529, 544, 673; Syntagmatik 138, 153–154, 205, 208, 210 Syntax o. Morphosyntax, Satzlehre vs. Morphologie o. Formenlehre; „~ behandelt Kombination v. Wortformen auf d. Ebene d. Satzes [u.] d. Wortgruppe“ (200)-201, 48, 93, 209, 289; Tesnières strukturelle ~ 202, 206; Chomsky 98; Auswirkung d. reflexiven Spr.gebrauchs auf ~ in d. Schriftlichkeit 349; parataktische vs. hypotaktische ~ 664; Kasus vs. ~ 676; Lat. 434, 453, 456; Rom. 503, 568, 571, 581; Ast. 764; Bündnerrom. 643; It. 608; Kat. 752; Pt. 786; galicisiertes Sp. 769 cf. Satz, Syntagma synthetisch vs. analytisch 521–523 cf. Spr.typ syntopisch cf. symphasisch Tartessisch in Tartessos im SW d. Ib. Halbinsel; vorröm Inschriften: nicht-indogerm. Spr., nicht enträtselt, Silbenschrift aber fast vollständig entziffert 477 Tätigkeit (Humboldt) Spre. ist ~ (enérgeia) u. kein Werk (érgon) 7, 23–24, 193, 269, 339, 426; (Coseriu) Spre. ist ~ u. kein Produkt 339, 341, in d. Wortbildung 240; „D. Spre. ist eine universelle allgemein-menschliche ~“ (13) u. wird individuell vollzogen (14); D. drei Ebenen d. Sprech~ stehen drei Ebenen d. spr. Wissens gegenüber 18, 74, 86–89, 92 cf. Agens Tempus Pl. Tempora vs. Zeit 101, 202, 206, 246– 537; rom. ~system 211–232; aktuelle vs. inaktuelle ~ 217–219, 230–231, 376, 540–541 lat. → rom. 536–544; periphrastische ~ 542–544, 684; ~ d. periphrastischen Perfekts 542 u. Plusquamperfekts 543; ~formen 199, 683–684, temps o. formes surcomposés im gespr. Frz. durch d. tertiäre Perspektive d. ~ entstanden 216, 684; ~ Angaben 207–208; ~deixis 365–367; Propositionen u. ~ 90 cf. V., Aspekt, Modus
Terminologien u. Nomenklaturen Verhältnis Sache u. Spr. 45–48, 73, 130, 309, 340; „Saussure lehnt ausdrücklich die Annahme ab, eine Spr. sei eine ~[…] also eine Gesamtheit v. Termini, die d. Wirklichkeit im Verhältnis eins zu eins zum Ausdruck bringt“ (130); Prototypentheorie 78–81; landwirtschaftliche ~ 497, chr. ~ 454–455 cf. Wortschatz Tertiärdialekt vs. Primär- u. Sekundärdialekt „wenn innerhalb d. Spr.gemeinschaft eine Spr. form als exemplarisch, als Standardspr. etabliert wird, kann auch diese Unterschiede im Raum ausbilden u. daher regionale Varietäten aufweisen, die man dann als ~ bezeichnen kann“ (293) 294, 298, 318–319, 508, 618; „D. als Zweitspr. bezeichnete Varietäten nenne ich [Lüdtke] Kontaktvarietäten. Diese entsprechen d. ~ Coserius“ (300) cf. RegionalText „Diskurs u. ~ sind Termini für Betrachtungsweisen desselben Gegenstands“ (341)-344; Ebene d. Spr.strukturierung 100–101; Quellen: philologische ~edition 432, 438, 52; ~kritik 432; ~funktion (Coseriu, Lüdtke) 394, 425; ~konsti tution 353, 382–397; ~gattung, ~sorte, ~typ 400–401; ~sem. 391–392; ~gr. 15, 383; ~kompetenz 18, 358; ~philologie 273; ~plan 413, ~thema 380, ~verknüpfung 394; ~verweis 392, 395–396 Textlinguistik o. Textwiss. beschäftigt sich mit d. Bed. als Sinn im Diskurs 43, 48; setzt fort d. Disziplinen d. Rhetorik, Stilistik, Gattungstheorie 337; „tritt zugleich in einen Dialog mit anderen Richtungen wie d. am. u. europäischen Diskursanalyse“ (337), Konversationsanalyse, Pragmatik, Textgr. 15, 126, 380; (Coseriu) Hermeneutik d. Sinns 338, 425–426 Thema-Rhema-Struktur d. Satzes = funktionale Satzperspektive (Mathesius); Thema: „Ausgangpunkt d. Äußerung […], Rhema [besteht] in d., was ein Spre. über d. Thema sagt“ (385) „Generell stehen Themaelemente am Anfang, Rhemaelemente folgen“ (386) 385–390, 546– 547; „Eine Thema-Rhema-Gliederung ist d. traditionellen Analyse eines Satzes in Sb. u. Prädikat ähnlich. Sie unterscheidet sich v. einer solchen Analyse aber darin, dass sie nicht durch d. gr. Struktur motiviert ist, sondern sich auf d. Informationsstruktur bezieht“ (386) cf. Progression
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Themavokal „Bestandtteil d. Lexems“ (197) 138, 190, 220, 524 Theorie „Ich verwende also ~ in d. Sinne, dass jeder Tätigkeit, in unserem Fall d. Spre., eine ~ zugrundeliegt […] Wenn man eine Tätigkeit ausübt, verfährt man immer in einer bestimmten Art u. Weise“; „~ ist für die Spr.wiss. fundamental, weil d. Spr.wiss. eine Grundlagenwiss. ist“ (5)-7, 13, 17, 29–30, 80, 111, 202, 204, 206, 232, 271, 284, 355 Thrakisch indogerm. Spr.; Romanisierung → Rum. 496–497 cf. Dakisch Tiefenkasus (Fillmore) 106, 210 cf. sem. Rollen token „zwischen einer spr. Einheit o. Invariante (engl. type) im Gegensatz zu seinem Vorkommen (engl. token)“ 135, 185–186, 740; Zeichen~ 54 cf. Variante vs. Invariante Toskanisch Ausspr. d. it. Standardspr. aus ~170, Vok. 515; Schrift- u. Literaturspr. 273, 284, 289, 600, 602, 604–605, 608, 614; ~-florentinische Standardspr. 282–283, 363–364, 597–599, 603; geringer Abstand zum Lat. 474; ~ Kontaktvarietät in Rom: romanesco 611, 617; Einfluss d. ~ 615, 621, 624, 626, 629 Transformationsgrammatik o. generative Gr. 17, 119, 198, 236; Reaktion auf Distributionalismus bzw. Kritik am am. Strukturalismus 98, 119 Transkription v. Lauten: phonetische Umschrift / Lautschrift 62–63, 66, 130, 134, 139, 143, 148, 151–152, 160, 163, 171, 174–175, 181, 273, 282, 321, 630; ~ u. Textedition im 19. J. 273–274 Transliteration Spr. wird „in d. übliche Orthographie einer Standardspr. umgesetzt“, was zur Aufgabe v. Variationsphänomenen (273) u. ~fehlern führt 280 Triphthong cf. Vok. Tunesien 1881 frz. Protektorat, 1956 Unabhängigkeit 703 Türkisch agglutinierende Spr. 510; kein Genus wie d. Quechua 106, 362; synchronische Vok. harmonisierung 509; spr. Einfluss auf d. Rum. 560, 645–647, 649 tuteo (tú) cf. voseo (vos) type vs. token Übernahme cf. Kodifizierung; ~ v. Neuerungen 25–26, 28–30, 36, 55, 240, 288–289, 701; Lat. 460, 462, 467, 494, 535, 550; ~ in beide Richtungen Lat. u. Rom. 550, Slav. u. Rom. 559; ~ d. dominierenden Spr. Frz. 661, 663, 665–666,
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700–702, Kst./Sp. 715–716, 723, 726, 730; ~ d. Standardspr. 295, 593; ~ d. gespr. u. geschr. Spr. Florentinisch/ Tosk. 282, 601–617; ~ d. Schrift durch Keltib. 471 Umfeld (Coseriu) 353–359; „Ein Umfeld besteht in d. Umständen d. Spre. u. Schreibens“ (355), 313, 339; Typen v. Umfeldern: Situation, Diskurskontext, Wissen, Diskursuniversum 355, „d. praktische bzw. okkasionelle situationelle ~“ (355); „Für d. Spre. ist d. situationelle ~ besonders relevant […] D. zum Verständnis notwendigen ~ müssen versprachlicht werden“ (346), 343, 535; mittelbares u. unmittelbares ~ 347 Unabhängigkeit „Nach d. ~ erhielten d. regionalisierten hispanoam. Standardspr. unter d. Einfluss d. Spr.norm Sp. zum Teil d. Status v. eigenen Standardspr. Dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen“ (730) 719; Gründung v. korrespondierenden Spr.akademien 736, 740–741; d. pt. Kolonialgebiete 580, 779, 787–789 Universalien, Sg. d. Universale 1. Eigenschaften einer Spr., die sie mit allen Spr. teilt: Kreativität, Alterität, Bed.haftigkeit = Semantizität, Stofflichkeit = Materialität, Geschichtlichkeit = Historizität u. Reflexivität 16, 18, 20–21, 60, 63, 77, 85, 129, 43, 345–346 2. ~ in kognitiver Sem. 77 Universalität d. Spre. 4; ~ d. spr. Kategorien als Möglichkeit 99, 102, 105 unmarkiert vs. markiert Phoneme 143, 147, 155; in d. Orthographie 161, 170–171, 174, 281; morphologisch 92, 138, 220–221,213, 276, 281 362, 514, 527, 676–678, 683; Tempus 221; syntaktische Funktionen durch Präp. 203; Lexeme 259–260; diastratisch 320–321, 328; diaphasisch 331–332 cf. Opposition Urbanisierung → rom. Spr.räume 460, 480; ~ Lateinam. 787 urbanitas gespr. Spr. d. urbs, vs. rusticitas 445– 446, 450–453 cf. rusticus usage vs. raison Gebrauch = Kriterium für d. frz. Standardspr. 691–693 cf. bon usage usted u. Pl. ustedes Anrede im Sp. aus vuestra merced 34, 323, 361 Valencianisch ~ kat. Spr.gruppe im ~ Land 315,747; spr. Besonderheiten 161, 229, 542, 747, 751–752; Normalisierung 753; Amtsspr. in d. ~ Gemeinschaft 743, 753; Kontakt mit Sp. 298, 754
Valenz o. Wertigkeit „Ein V. kann unterschiedlich viele Aktanten zu sich nehmen. Diese Eigenschaft wird Valenz o. Wertigkeit genannt“ (204) 207– 208, 211; Tesnières ~theorie 202–205, 207; sem. vs. syntaktische ~ 206–207; nur Ergänzungen gehören zur ~ d. V. 210; ohne Aktant = avalent o. nullwertig, mit einem Aktanten = monovalent o. einwertig, mit zwei Aktanten = bivalent, divalent o. zweiwertig, mit drei Aktanten trivalent o. dreiwertig 204 cf. Angaben, Zirkumstant Variante Beschreibung d. ~ „in ihrem Verhältnis zu d. Invarianten“ (62) Variation Verschiedenheit, spr. Unterschiede, spr. Heterogenität 19, 112–118, 140, 268–285, 289, 291, 294, 297, 333; Termini, die d. ~ betreffen, nennt Coseriu diatopisch, diastratisch u. diaphasisch 237, 291–293, 438, 550; „Spr. einschließlich d. Standardspr. [existiert] real nur in d. Spre.tätigkeit u. somit in ihrer ~ […] Mehr noch, durch d. Entwicklung v. Standardspr. entsteht in einer hist. Spr. eine neue ~ […] ~ stellt man zunächst bei d. Beobachtung d. Spr. im Diskurs fest“ (269); → Neuerungen → Spr. wandel 30, 56, 592–594; Eleminierung v. ~ → Vereinheitlichung → Standardspr.: Frz. 273–278, Sp. 278–281, It. 282–283; Kontinuum d. Rede vs. Gradatum d. spr. Wissens 269 cf. Varietät, Kreativität Varietät spr. Homogenität 294; „Was ich hier ~ nenne, erscheint bei Coseriu in einer sehr strengen Begriffsbestimmung als ‚funktionelle Spr.‘“(292) 111, 117–118, 336, 343, 352, 442– 443; syntopische, synstratische, symphasische Einheiten (293) „eine ~ [wird] durch Gemeinsamkeiten im Raum, in einer sozialen Schicht u. bei einem Rede- u. Schreibanlass zusammen konstituiert“ (307) 12, 19, 33, 37,111, 117–118, 270, 300; ~ vs. Variation 268–335, 270–273, 289, 290; koloniale ~ 315; Whitney überträgt d. Terminus „varieties“ auf „alle Arten v. ~ im heutigen Sinne“ 271 cf. Diasystem, Kontaktvarietät; Varietätenlinguistik o. Variationslinguistik 19, 128, 333–335 Verb „Aus d. Leistung d. ~, d. Nennen zum Sagen zu machen, ergibt sich seine Sonderstellung im Satz, denn d. Inhalte, die am ~ ausgedrückt werden wie Tempus, Vox u. Modus gehören eigentlich zum Satz“ (101) 99–104, 109–110, 202–212, 220; Ausbau d. lat. Konju-
gation in d. rom. Spr.: periphrastisches Futur u. Konditional → im Rom. paradigmatisch, Umbau d. lat. Perfekt, d. Plusquamperfekt u. d. Passiv 536–546; ~bildung 98, 244–245; Wortbildung ~ + Ergänzung 688–689 cf. Aspekt, Perspektive, Periphrase, Valenz Verkehrssprache 477, It. 617, Pt. 783, 788 Verschriftung einer Spr. 180–183, 186, Probleme bei ~ 181–183, 186, 310 vs. Verschriftlichung d. Lat. 445, 520, 570; d. Keltib. 479; d. Volksspr. u. Übergang zu d. rom Spr. 310, 561, 564–566, 570, 572, 568, 660, 722; d. rom Einzelspr.: Frz. 568–569, It. 601–603, Sard. 626, Bündnerrom. 639, 641–642, Rum. 182–183, 650–651, Sp. 721–722, Ar. 756, Gal. 770–771, 774, Kat. 772, Pt. 789; nicht verschriftet: Dialekte 298, gespr. Volksspr. im 8. J. 564 cf. Quellen, Schrift Verweis endophorischer (anaphorischer u. kataphorischer) vs. exophorischer o. deiktischer ~ im Diskurskontext 391; Text~: 392, 395–396 cf. Kohärenz, Wiederholung Vetus Latina o. Itala 454, 548–549 cf. Vulgata Vizekönigreich sp. 1535 Mexiko, 1544 Lima→ Verbreitung d. Nsp. Standardspr. 729; pt. 1763 Brasil. 787 Vokal Halb~ 70; „Zwei ~, die zu ein u. d.selben Silbe gehören, bilden einen Diphthong“ (67) o. Doppellaut vs. Hiat 155, 162; „Werden zwei aufeinanderfolgende Vok. als zwei verschiedene Silbengipfel artikuliert, nennt man diese Erscheinung Hiat“ (145); „Wenn d. Silbengipfel ein ~ mit geringerer Klangfülle vorausgeht u. folgt, spricht man v. einem Triphthong“ (68); einzelspr. Phonemsysteme 140–179; ~harmonie o. Metaphonie 168; ~harmonisierung 509; vlt. ~system 153; „D. ~ stehen in einer Wechselwirkung zum Kasussystem, da ihre Quantität einige Kasus unterscheidet. D. Abbau d. Quantität führt zum Abbau d. Kasusunterschiede u. zum Ausbau u. zur häufigeren Verwendung v. Präpositionen“ (515); Quantitätenkollaps 507–509 unterzieht Krefeld einer kritischen Revision 509; Vokalismus vs. Konson. Wandel v. Lat. zu rom. Spr. 507–515; Mexiko 320; Brasil. 327; Kors., Siz. u. Sard. 506, 627; Kat. 162 cf. Metaphonie Vokativ 34, 109, 233, 527–528 Altfrz. u. Altokz. 203; Rum. 528 Volgar(e) Bewusstsein einer lat.-rom. Einheit 573; Lat. o. Volgare 602; Ausbau u. Kodifi-
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zierung d. It. 604, d. Sard. zu volgare illustre durch Latinisierung 626–627; Benennung Okz. 707 Völkerwanderungszeit D. Röm. Reich wird überrannt u. geht zu Ende → Kontaktzonen insbesondere mit (teilweise schon romanisierten) Slav. u. Germ. 556–557 → Ausbildung d. rom. Spr. 556–573 Vorgang (Lyons) „Sachverhalte, die geschehen o. stattfinden […] für – momentan also ~ (Vorgang), für + momentan Ereignis“ (87) „So ist ein ~, an dem ein Agens beteiligt ist, eine Tätigkeit“ (86)-88, 91–92 voseo (vos) vs. tuteo (tú) Anrede in der 2. Person 34, 280, 322–324 vulgaris sermo ~ (Cicero) „übliche Ausdrucksweise“ Varietät d. Klat. 451–452 cf. theotiscus Vulgärlatein seit Vulgärhumanismus Bez. für gespr. lat. Gemeinspr. d. Röm. Reichs 433, 440– 443, 446, 457, 504–565, 575, 577; v. Cittadini 1601 „in 1. Synthese gebracht“ (440); als Koine nach Klat.: es „kann alle Erscheinungen umfassen, die in diesen Varietäten vorkommen u. auch im Standard vorkommen u. schließt unter d. klassischen Elementen nur diejenigen aus, die nur d. Standardspr. allein eigen sind“ (505); „D. Phonologie d. ~ musste aus Mangel an Belegen rekonstruiert werden“ (508); im Wortschatz, d. Phonetik u. Phonologie besteht keine Einheitlichkeit. Deshalb werden im Handbuch d. Elemente hervorgehoben, die zu rom. Standardspr. führen: am ~ Vok.- u. Konsonantensystem erläutert 153, 506–520; in rom Spr. Verallgemeinerung d. Vlt. Vok.systems. außer Sard., Siz. u. Südit., die sich vor d. Konstituierung d. allgemeinen ~ Vok.systems gebildet haben 510; Wandel d. Spr. typs 521–556, 672 diatopische u. diastratische Unterschiede im Wortschatz 551–553 cf. Latein, Lat. Vulgata Übersetzung d. Neuen Testaments durch Hieronymus 454, Modellcharakter für Syntax 434 cf. Itala o. Vetus Latina Walachen „D. Rom. o. romanisierten Kelt. wurden entlang d. Spr.grenze v. d. Germ. Walen, Welsche o. ~ (rum. vlahi) genannt“ (557) Wallonen frz. Spre. Belgiens vs. fl. Spre. in Fl. u. in F. 702 Werk Spr. als ~ o. ergón (Humboldt) o. Produkt (Coseriu) vs. Tätigkeit
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Wertigkeit v. V. cf. Valenz Westromania vs. Ostromania grundlegende Einteilung d. Spr.räume (Wartburg); ~ konserviert –s u. Sonorisierung 448 473, 527 cf. Linie La Spezia-Rimini Wiederholung ~ als Wortbildungsbed. 250, 545; ~ in gespr. Spr. 404; ~ o. Rekurrenz im Text 385, einfache vs. partielle ~ → Textverweis 395–397; wiederholte vs. freie Rede (Coseriu) 237–238 cf. Phraseologie Willkürlichkeit cf. Arbitrarität Wirklichkeit außerspr. ~ meint, „dass wir in unserem alltäglichen Spre. d. Welt, über die wir spre., als wirklich gegeben voraussetzen“ (38– 39)-40 57, 75–76, 101–102, 104–106, 185–186, 426; ~ „als tatsächlich existierend“, wirklich repräsentiert durch Sachverhaltsdarstellungen 86, 89, 93–94, 210 vs. „möglich […] fiktiv o. erlogen“ (74) „vorgestellt, erfunden,“ (39) konstruierte Welt 42, 44, 46–47, 57, 59, 93, 104, 133, 185–186, 310, 351, 359; Bez. d. ~13, 15, 51, 53–55, 59, 73–75, 77, 81, 96–97, 129–130, 133, 242, 310, 325, 347, 351, 353–354, 359, 398, 425–426, 533; spr. Wirklichkeit 296–297, 308, 333, 375, 460, 464, 522, 579, 581, 600–601, 606, 623, 658, 731, 741 cf. Bed., Denotation, Referenz Wissen Vor~ d. Spre. X–XI, 3–7, 42–43, 59, 74, 79, 357, 388, 431; ~ als negativer Diskurskontext 357; Spr. ~: 1. elokutionelles, 2. idiomatisches u. 3. expressives Wissen (Coseriu) 18, 339, 358 cf. Kompetenz, Ebenen d. Sprache; Sach~ = Sachkenntnis, die sich in Spr. äußert 44–46; Verbindung Spr.~ mit enzyklopädischem ~ 45 (Comenius), Spr. ~ vs. Sach~73–76, 78–79 ~ als Umfeld 357–358; ~kontext 367, 387–388 cf. kognitive Linguistik Wissenschaft „d. Bekannte zum Erkannten […] machen“ (3); klat. Entlehnungen in ~ 440; lat. Entlehnungen in Rum. ~ 655; Arabismen über d. ~ ins Sp. 503; ~spr. lat. 562; in ~ mit praktischer Zielsetzung 605 Wort Benennungs- o. Bez.funktion d. ~ 41–43, 73–75, 78–80, 96, 129–130; eine Strukturierungsebene d. Spr. 100–101, 673; ~inhalt 251– 268; ~struktur Gegenstand d. Morphologie 178, 198; Bestimmungen am Wort 138, 191; ~sem. 18,48, 99, 198; Provinzialismen 287, 446; Vulgarismen 446; Tabu~ u. tabuisierte Ausdrücke 27,
45–46, 54 cf. Dialekt, Wörterbücher, Neologismen, Entlehnungen Wortart 102–103, 239, 394 cf. Wortkategorie Wortbildung Wortschöpfung 96–98, 93–94, 242–243; diachrone ~ „Zu d. lat.-rom. Gemeinsamkeiten gehören d. Verfahren d. ~. Zwar werden d. Verfahren d. Komposition deutlich reduziert, aber d. Ableitung dominiert weiterhin in d. rom. Spr“ (550); Gemeinsamkeiten mit Gr. u. Wortschatz 187, 243; ~ vs. Phraseologie 238–239; ~ vs. wiederholte Rede u. Entlehnungen 242; ~bed. vs. Wortschatzbed. 243, 245; ~inhalte 192, 239–250; ~lehre 96, 239, 242, als Morphologie im Wortschatz vs. Flexionslehre in d. Gr. 198; „Minimale Einheiten, die zur ~morphologie gehören u. zur Schaffung v. neuen lex. Einheiten führen können, sind […] moneme o. ~morpheme bzw. Affixe vs. gr. Moneme“ (194) 192–196; ~muster o.~prozess o. ~typ 239, 241, 246; ~paraphrase gibt „d. geschaffene Wort in einer sehr allgemeinen aber angemessenen Weise wieder“ (242); ~produkt 240–241; ~verfahren 194, 242, 250: materielle ~ 240: Konversion, Derivation o. Ableitung o. Affigierung (Suffigierung, Präfigierung 98, 194–195, 199, 239, 245, 250), Wortzusammensetzung vs. inhaltliche Wortbildungsverfahren 243–250: Transposition o. Entwicklung mit Wechsel d. Wortkategorie (Konversion 243–246, V.bildung u. Prädikatnominalisierung) 194, 243–247, 689, Komposition (generische Komposition, Relations- u. Lexemkomposita) 247–248, 250, 468, 550, 688, Modifizierung ohne Wechsel d. Wortkategorie (Motion o. Feminin-, Kollektiv-, Diminutiv-, Augmentativbildung, Intensivierung, Negierung, Wiederholung u. Situierung) 104–105, 248–250, 325, 736; mögliches Wort als Gegenstand d. Wortbildungslehre 241 cf. Paragrammatikalisierung Wortfeld Zusammenstellung bed.ähnlicher Wörter (Trier, Weisgerber) 258–268, Vorläufer Abbé Girard 251–253; „Ein ~ ist eine paradigmatische Struktur, die aus lex. Einheiten besteht, die sich eine gemeinsame Bed.zone teilen u. in unmittelbarer Opposition zueinander stehen“ (Coseriu) (258) 255, 380, 401; relationelles ~ 260:Tageszeiten 258–260, Verwandtschaft 260–262, 554, 556; Altersadj. Frz. 262–266, Sp. 266–267
Wortgefüge fixiertes 238 cf. Phraseologie Wortgruppe eine Strukturierungsebene d. Spr. 85, 100–101, 103, 105, 134, 145, 197, 200, 210, 238, 366, 380, 396–397, 554, 682–683, 689– 690; subst. ~ o. Nominalsyntagma 92, 203, 234; definite ~ 391 Wortkategorie vs. Wortart 102–103, 239; „D. Wortkategorien sind Subst., Adj., V. u. Adv.; besser wäre es allerdings v. Substantivität, Adjekivität, Verbalität u. Adverbialität zu spre., denn auf diese Weise käme d. abstrakte Charakter dieser Bed. besser zum Ausdruck“ (103) 105–106, 201–202, 234, 239; Wechsel d. ~ in Wortbildung 97, 104, 239, 242–243, 688 Wortschatz 36, 76–85 „d. Unterscheidung zw. nennen u. sagen“ entspricht d. Unterscheidung zwischen ~ u. Gr. (184) 186, 192, 251–255; Erweiterung d. ~ durch Entlehnungen u. Wortbildung 241; ~ als Spre.wissen 101–102; „einzelspr. Bed. im ~: strukturelle Sem. bzw. Lexematik o. Wortsem.“ (48) 81; Lexikologie 550; Fach~ o. Terminologien, Nomenklaturen 4, 46–47, 73, 80–81, 338, 503, 554, 613, 698, 735; metaspr. ~ 58; Spr.atlas 311–312, 318 cf. Wörterbücher yeísmo „Opposition zw. /ʎ/ und /j/ ist v. d. Mehrheit d. Spre. im ganzen sp. Spr.raum aufgegeben“ (159) 280, 321; kann phonetisch als žeísmo o. rehilamiento (Rio de la Plata) vorkommen 159–160, 321 cf. diastratisch, diaphasisch Zeichen spr. ~ (Saussure) 11, 41, 347 bestehend aus signifié u. signifiant 100, 124, 129–133, 340, 425–426; einzelspr. Perspektive: d. Bezeichnete setzt ein ~ voraus 73, 38, 111, 550; Index, Ikon u. Symbol (Pierce) 75–76, 82; Typen 187–198; Kombinationen 199, 242; gr. Inhalte 201; Polysemie 253; verbaler Diskurskontext 357; graphisches ~ o. Schrift~ 50–52, 180–182; 423 cf. signe, Arbitrarität Zeichensystem langue als ~ 11; Spr. = künstliches ~ 111, 132; Laut vs. Schrift 347 Zeit vs. Tempus 211 ~ebene aktuelle ~ vs. inaktuelle ~ 213–214, 220, 230–231; erlebte Rede: Wechsel -d. Tempora v. d. aktuellen → inaktuel-
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len ~ 376; Strukturierung d. ~ebenen: parallel, retrospektiv, prospektiv 213–217, 230: retrospektiv 213–215, 221, 226–228, 231, 541–542 vs. prospektiv 213, 221, 228, 231; Abgrenzung in d. Vergangenheit 227; d. Einteilung d. ~räume konstituieren d. rom. Tempora 213–217: primäre Perspektive 220–230: Präsens 220–222, Imperfekt 222–226, Perfekt 226–228, Futur 228–229, Konditional 229, Plusquamperfekt 229–230; sekundäre Perspektive 230–232: zusammengesetztes Perfekt 230–231, Plusquamperfekt 231 u. Futur 231–232; tertiäre Perspektive formes surcomposées 216; Perspektive u. Aspekt (Coseriu) Tempus-Aspekt-System 215 Zirkumstant „d. Elemente, die d. Umstände eines durch ein V. ausgedrückten Sachverhalts angeben, [werden] ~ genannt. Dazu gehören d. Umstände d. Zeit, d. Orts u. d. Art u. Weise“ (204) 91, 207 cf. Aktant, Angaben, Valenz Zitat „Bezüge zw. Einzeltexten“ (368); bei Kristeva Intertextualität 368, 377; ~ als Intertext 379–380; Deixis am Phantasma 356–357 Zug „Eine lautliche Eigenschaft ist folglich ein unterscheidender ~ o. ein distinktives Merkmal, wenn sie d. Funktion hat, Bed. u. damit Phoneme zu unterscheiden“ (142) 263–264 cf. Opposition, Minimalpaare, Sem Zustand statischer Sachverhalt 87, 104, 205, per definitionem nicht momentan vs. Vorgang, Ereignis, Tätigkeit, Akt 87; ~ u. Diskursgattungen 408; ~ u. Imperfekt 541; ~träger 92–93; ~ als Dimension 265, 267 Zweisprachigkeit individuelle ~ vs. gesellschaftliche ~ 297, 348; „Kontaktvarietäten sind d. Ergebnis v. ~“ (297); Modell d. Entstehung v. ~ 299–301, 562; Vorgänge 297–307; Hispanoam. 318; Lat. u. vorröm. Spr. 448, 451, 461–462; Lat. u. Rom. 310; Inschriften 437; It. 475; im Ebrotal 481; Gallien 487–488; v. Sklaven u. Geiseln 489–490; fränkisch-rom. 534; dt.-rom. 645; arab. u. rom. Spr. 721; Kat. u. Sp. 348, 749; lat.pt. 786 cf. Bilinguismus, Diglossie