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German Pages 254 Year 2020
Stephanie Catani (Hg.) Roberto Bolaño: Autor und Werk im deutschsprachigen Kontext
Lettre
Stephanie Catani (Prof. Dr. phil.) leitet den Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft/Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten der Literatur der Gegenwart und der Moderne, kulturwissenschaftlichen (Gender, Diversität, Transkulturalität) und intermedialen (Literatur und Film, Fotografie, digitale Medien) Ansätzen sowie Fragen zu kreativer künstlicher Intelligenz.
Stephanie Catani (Hg.)
Roberto Bolaño: Autor und Werk im deutschsprachigen Kontext
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Inhalt
Roberto Bolaño im deutschsprachigen Kontext: Literatur – Kultur – Geschichte Eine Einleitung Stephanie Catani.................................................................... 9
Über Bolaño: Stimmen aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Und so weiter Über Roberto Bolaños Roman Die wilden Detektive Jens Steiner ........................................................................ 19
Die unerhörten Schreie der Toten Sibylle Lewitscharoff ............................................................... 27
Bolaño und die deutschsprachige Literaturgeschichte Hans Reiters tumpheit Bezüge zwischen Roberto Bolaños 2666 und Wolframs von Eschenbach Parzival Reinhard Berron.................................................................... 35
Roberto Bolaños Novelle Nocturno de Chile (2000) und Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil (1945) Gabriele Eckart .................................................................... 57
Josefines Erbe Roberto Bolaño und Franz Kafka Stephanie Catani.................................................................... 71
Dichter in Wehrmachtsuniform Zur literaturgeschichtlichen Position des ›deutschen Autors‹ bei Roberto Bolaño Timm Reimers ..................................................................... 89
»Ein völlig deutscher Gegenstand« Roberto Bolaños lunare Ästhetik des Vertikalen aus dem Geiste Ernst Jüngers Susanne Klengel ................................................................... 111
Die Offenheit des Erzählten Roberto Bolaño als Ermutigung für Daniel Kehlmann Joachim Rickes ................................................................... 135
Bolaño und die deutsche Geschichte Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños Nazi-Geschichten aus Lateinamerika an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Héctor Hoyos.......................................................................147
Der Ernst des Spiels und blinde Spiegel in El Tercer Reich von Roberto Bolaño Arndt Lainck ...................................................................... 167
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños Sascha Seiler ..................................................................... 185
Bolaño – deutsch gelesen Der Teil der Kritiker Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption zwischen Exotismus-Perpetuierung und globaler Prestige-Ökonomie Benjamin Loy ...................................................................... 211
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur Versuch, Bolaño im Kontext der Kritischen Theorie zu verstehen Chris W. Wilpert ................................................................... 231
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger ......................... 249
Roberto Bolaño im deutschsprachigen Kontext: Literatur – Kultur – Geschichte Eine Einleitung Stephanie Catani
Das internationale Ansehen des chilenischen Autors Roberto Bolaño ist nach seinem frühen Tod im Jahr 2003 geradezu sprunghaft angestiegen – aus dem bereits zu Lebzeiten zu einer Legende stilisierten Underdog der spanischsprachigen Literaturszene ist ein literarischer Weltstar geworden. Während im Heimatland Chile und in der Wahlheimat Spanien spätestens mit dem Erscheinen des Romans Los detectives salvajes (1998) die ersten literarischen Auszeichnungen und Würdigungen einsetzten, ließ der internationale Ruhm zunächst auf sich warten. Inzwischen aber werden Bolaños Texte, allen voran sein postum erschienenes opus magnum, der Roman 2666 (2004), als Meilensteine einer Weltliteratur wahrgenommen, die sich nationalliterarischer Schreibweisen und Erzähltraditionen bedient und sich zugleich souverän darüber hinwegsetzt. Insbesondere die deutschsprachige Literaturkritik überschlägt sich in ihrem Lob auf den Autor, scheint sich mit jeder neuen postumen Veröffentlichung dieser »süchtig machenden Zauberprosa«1 nicht entziehen zu können und feiert den Chilenen als, so formuliert es Ijoma Mangold in Die Zeit, »die große weltliterarische Entdeckung«2 des dritten Jahrtausends. Freilich – solche und andere emphatisch vorgetragenen Lobeshymnen zeugen gelegentlich auch von einer eurozentrischen Vereinnahmung der Figur Bolaños 1
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Teutsch, Katharina: Der ganz große Giftzwerg. In: Die Zeit v. 27.3.2013, online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2013/14/roberto-bolano-ausstellung-barcelona (letzter Zugriff: 30.5.2020). Mangold, Ijoma: »Wie ein bekiffter Zuhälter« (Rezension zu Bolaños Roman 2666). In: Die Zeit v. 10.9.2009, online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2009/38/L-B-Bolano (letzter Zugriff: 20.5.2020).
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und seiner Texte, die nicht immer frei ist vom Reiz des Exotismus, auf den man Bolaños Texte mitunter reduziert. Neben dem Feuilleton setzten sich auch deutschsprachige Autorinnen und Autoren, insbesondere die jüngere Generation, intensiv mit seinem Werk auseinander und bekennen sich zu der starken Einflussnahme des chilenischen Autors auf die deutschsprachige Literatur der Gegenwart. Daniel Kehlmann etwa verweist auf Bolaño als Paten seines jüngsten Romans F 3 und hat seine »großen und rätselhaften«4 Bücher mehrfach euphorisch besprochen. Bolaños Texte sind für Kehlmann durch keine literarische Stilrichtung zu vereinnahmen, »mit traumwandlerischer Leichtigkeit« treffe dieser Autor wie kein zweiter im Grunde jeden Stil: »Vielleicht hat noch nie ein Schriftsteller solch eine Beherrschung der Erzählkonventionen mit einer solchen Gleichgültigkeit gegen ebendiese Konventionen verbunden.«5 Nicht minder begeistert zeigt sich der österreichische Autor Thomas Glavinic, der seinem Erfolgsroman Das Leben der Wünsche6 ein Bolaño-Zitat vorausschickt, den Chilenen in seinen Bamberger Poetikvorlesungen neben Denis Johnson und John Burnside als den zeitgenössischen Autor, der ihm »am nächsten« stehe, bezeichnet7 und den Erzählband El gaucho insufrible als »eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe«, feiert.8 Die Wirkungsmacht der literarischen Texte Bolaños unterstreicht auch der deutsche Schriftsteller Feridun Zaimoglu, wenn er auf die Frage, nach welchem Buch er »ein anderer« war, ohne zu zögern Bolaños Roman La literatura nazi en América (1996) angibt.9 Der Schweizer Schriftsteller Jens Steiner 3
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von Lovenberg, Felicitas: Wie fünf Professoren auf Red Bull. Begegnung mit Daniel Kehlmann. In: FAZ v. 27.8.2013, online verfügbar unter: https://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/autoren/begegnung-mit-daniel-kehlmann-wie-fuenfprofessoren-auf-red-bull-12547834.html (letzter Zugriff: 30.5.2020). Kehlmann, Daniel: Kehlmann liest Roberto Bolaño. In: Cicero v. 24.10.2007, online verfügbar unter https://www.cicero.de/kultur/kehlmann-liest-roberto-bola %C3 %B1o/38284 (letzter Zugriff: 30.5.2020). Kehlmann, Daniel: Vier Kritiker bereisen die Hölle. Roberto Bolaño: 2666. In: ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek 2010, S. 51-56, hier S. 54. Zuerst abgedruckt in: FAZ v. 14.10.2009. Glavinic, Thomas: Das Leben der Wünsche. München 2009, Motto. Glavinic, Thomas: Meine Schreibmaschine und ich. München 2014, S. 25. Thomas Glavinic über das Handwerk des Romans. In: Akzente (2008), H. 4, online verfügbar unter: www.thomas-glavinic.de/2009/06/der-roman/(letzter Zugriff: 30.5.2020). Fragen-Tombola mit Feridun Zaimoglu. In: Kiepenheuer & Witsch Blog v. 14.10.2015, online verfügbar unter: https://www.kiwi-verlag.de/blog/2015/10/14/fragen-tombolamit-feridun-zaimoglu-fbm15 (letzter Zugriff: 7.8.2018).
Roberto Bolaño im deutschsprachigen Kontext: Literatur – Kultur – Geschichte
hätte Bolaños Roman Los detectives salvajes, diesen »äußerst rätselhaften Wälzer«, nach eigenem Bekunden am liebsten selbst geschrieben: »Große Kunst, aufrichtiger Neid.«10 Und Fritz Rudolf Fries schließlich, der 2014 verstorbene spanisch-deutsche Autor, schreibt in seinem letzten Roman Last Exit to El Paso (2013) die Geschichte der berühmtesten Figuren Bolaños aus seinem Roman 2666 einfach weiter. Auch der österreichische Autor Norbert Gstrein lässt Roberto Bolaño nicht nur als Lieblingsautor seiner Hauptfigur im Roman In der freien Welt (2016) auftreten, sondern gibt sich selbst als großer Bewunderer des Chilenen zu erkennen. In seiner Laudatio auf Andreas Breitenstein anlässlich der Verleihung des Alfred-Kerr-Preises an den Schweizer Literaturkritiker hebt Gstrein als besonderen Verdienst Breitensteins dessen frühe Wertschätzung der Texte Bolaños hervor und äußert sich in dem Zusammenhang zum leitmotivischen Auftauchen von Figuren aus dem (nicht selten deutschsprachigen) Literaturbetrieb im Werk Bolaños: »Ein Charakteristikum von Bolaños Werk ist, dass er ins Zentrum seiner Erzählungen immer wieder Schriftsteller und, ja, auch Literaturkritiker und sogar – horribile dictu – Germanisten setzt und sie den Kampf gegen die Windmühlen oder den Kampf gegen das Nichts aufnehmen oder sie sich rettungslos ins Nichts verstricken lässt. Es sind Wesen, die […] am ehesten über den Bruch hin- und herzuwechseln vermögen, der sich zwischen Leben und Schreiben auftut, und die deswegen doch interessanter sind, als sie mit ihren Schreibexistenzen auf den ersten Blick erscheinen mögen.«11 Die hier von Gstrein pointiert in den Blick genommenen Bezüge zu einer häufig deutschsprachigen Literaturgeschichte und ihren unterschiedlichen Vertretern sind es, die auch im Zentrum dieses Bandes stehen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, allen voran der germanistischen, sind diese Referenzen ungeachtet der enormen Popularität Bolaños noch zu wenig thematisiert worden. Abgesehen von Einzelstudien zu ausgewählten Texten, vorrangig seinen wirkungsmächtigsten Romanen 2666 und Los detectives salvajes, ist eine Beschäftigung mit dem bislang veröffentlichten Gesamtwerk ausgeblieben. Diesem Desiderat will der geplante Sammelband nachkommen und
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5 Fragen an Jens Steiner. In: Neue Wörtlichkeit v. 23.9.2014, online verfügbar unter: www.neuewoertlichkeit.de/5-fragen-an-jens-steiner/ (letzter Zugriff: 30.5.2020). Gstrein, Norbert: Der Kritiker darf auch von Mathematik etwas verstehen. Laudatio auf Andreas Breitenstein. In: Neue Zürcher Zeitung v. 25.3.2017.
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das Gesamtwerk Bolaños gerade im Hinblick auf seine Bezüge zur deutschsprachigen Literatur, Kultur und Geschichte durchleuchten. Tatsächlich lassen sich die vielen Figuren deutscher oder deutschsprachiger Herkunft in Bolaños Texten ebenso wenig übersehen wie explizite Verweise auf die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte. Klassiker philosophischen Denkens wie Nietzsche, Kant, Hegel, Schelling, Heidegger oder Wittgenstein bevölkern Romane, Erzählungen und Essays gleichermaßen. Der Autor selbst wie auch seine Figuren erweisen sich als genaue Kenner des deutschsprachigen Literaturkanons, haben Grass’ Blechtrommel ebenso wie Goethes Wahlverwandtschaften gelesen, kennen Heinrich und Thomas Mann, Hermann Hesse, Walter Benjamin, Stefan Zweig oder Anna Seghers. Mit Kleist streift der Essayist Bolaño durch das nächtliche Berlin, paratextuelle Ausweisungen seiner Texte zitieren Autoren wie Dürrenmatt oder Kafka. Auffallend ist darüber hinaus das binnenfiktionale Personal deutschsprachiger Herkunft, das die Romane und Erzählungen Bolaños durchstreift. Der berühmteste von ihnen ist sicherlich der deutsche Schriftsteller Benno von Archimboldi alias Hans Reiter aus dem Roman 2666. Zu ihm gesellen sich Figuren wie Heimito Künst aus Los detectives salvajes, dem der Protagonist im Anschluss an ihre Begegnung aus Israel nach Wien folgt. Überhaupt entfaltet Bolaños Werk eine Welttopografie, die regelmäßig deutsche Städtelandschaften verzeichnet – so verschlägt es seine Figuren nach Hamburg, nach Stuttgart, nach Frankfurt oder Berlin. Prominent ausgestellt finden sich deutsche Figuren im Roman El Tercer Reich (2010): An der Seite des Protagonisten Udo Berger, eines kriegsspielbegeisterten Spanien-Urlaubers, begegnen weitere Prototypen deutscher Touristen und Auswanderer an der spanischen Costa Brava. Der Roman La literatura nazi en América präsentiert mit Franz Zwickau und Willy Schürholz »zwei Deutsche am Ende der Welt« – beide Söhne nach Chile ausgewanderter Nationalsozialisten, die im Exil die menschenverachtende Ideologie der Elterngeneration literarisch weitertragen. Unübersehbar bildet der deutsche Nationalsozialismus einen gewichtigen Bezugspunkt in Bolaños Gesamtwerk: Von frühen Texten wie La literatura nazi en América oder Estrella distante (1996) bis zu den postum veröffentlichten Romanen 2666 und El Tercer Reich (2010) finden sich zahlreiche Bezüge zum Hitlerfaschismus, der als historisches Symbol des Bösen Eingang in zahlreiche Texte Bolaños gefunden hat. Ausgehend von diesem hier kursorisch vorgestellten, dichten Geflecht an Beziehungen stehen im Zentrum dieses Bandes Fragen nach (expliziten wie impliziten) intertextuellen Bezügen zwischen Bolaños Werk und der deutsch-
Roberto Bolaño im deutschsprachigen Kontext: Literatur – Kultur – Geschichte
sprachigen Literatur, nach der Rezeption seiner Texte und der Auseinandersetzung mit seiner Person durch den deutschsprachigen Kultur- und Literaturbetrieb sowie Fragen nach dem auf den deutschsprachigen Kontext bezogenen Setting der von Bolaño entworfenen fiktionalen Welten. In den Blick genommen werden seine Romane und Erzählungen ebenso wie Essays, Vorträge und Reden und darin enthaltene poetologische Äußerungen.
Über Bolaño: Stimmen aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Stellvertretend für die von Bolaños Texten unübersehbar beeinflusste Literatur der Gegenwart eröffnet der Schweizer Buchpreisträger Jens Steiner den Band mit einer persönlichen Lektüre von Bolaños Roman Los detectives salvajes, die Bolaño als »Literatur-Vagabunden«, als Grenzgänger zwischen einer europäischen und einer lateinamerikanischen Literatur begreift. Sibylle Lewitscharoff, die 2013 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete deutsche Autorin, ergänzt die Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, wenn sie Bolaños opus magnum, den Roman 2666, in den Blick nimmt. Durchaus kritisch liest Lewitscharoff diesen »ungeheuerlichen Wal von einem Roman«, dessen Sog sie sich am Ende aber nicht entziehen kann.
Bolaño und die deutschsprachige Literaturgeschichte Bolaños postum erschienener Jahrhundertroman 2666 steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Reinhard Berron, der die intertextuellen Bezüge des Romans zu Wolframs von Eschenbach Parzival untersucht. Berron weist die Referenzen auf den mittelhochdeutschen Prätext zum einen dort nach, wo Parzival als Lektüreerfahrung des Protagonisten Hans Reiter explizit genannt und für seine Verwandlung in die Autorfigur Benno von Archimboldi mitverantwortlich gemacht wird, zum anderen auch mit Blick auf die Verwendung von Leitmotiven und Handlungselementen aus dem mittelalterlichen Versroman, die konstitutiv für Bolaños Text sind. Gabriele Eckart widmet sich in ihrem Beitrag Bolaños im Jahr 2000 veröffentlichten Roman Nocturno de Chile, den sie Hermann Brochs 1945 zeitgleich als deutsche und englische Ausgabe erschienenem Roman Der Tod des Vergils gegenüberstellt. Obgleich Bolaños Broch-Lektüre nicht nachgewiesen ist, werden die Analogien der Texte allzu deutlich dort, wo beide das gleiche retrospektive Erzählmodell bemühen und mit ihren Romanen einen metaliterarischen und äußerst kritischen Kommentar formulieren.
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Stephanie Catani untersucht die intertextuellen Beziehungen zwischen Roberto Bolaño und Franz Kafka, die sowohl in gemeinsamen ästhetischen Merkmalen, poetologischen Konzepten und durch explizite Bezüge Bolaños zu Kafka und seinen Texten sichtbar werden. Eine vergleichende Analyse von Kafkas letzter Erzählung, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, und deren Fortschreibung durch Bolaño in dessen Kurzgeschichte El policía de las ratas zeigt abschließend, wie beide Texte über ihre tierischen Protagonisten die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft reflektieren. Timm Reimers geht der zentralen Figur des »deutschen Autors« nach, die dort, wo sie in den Texten Bolaños auftaucht, den Zusammenhang von deutscher Literaturgeschichte und Militärkarriere auszustellen scheint. Am Beispiel der Figur Ernst Jüngers in Nocturno de Chile und der fiktiven Autorfigur Benno von Archimboldi alias Hans Reiter in Bolaños Roman 2666 analysiert Reimer diese Analogie und zeigt, wie Bolaño mit ihrer Hilfe den Zusammenhang von Gewalt, Politik und Literatur literarisch ausleuchtet. Susanne Klengel führt die Auseinandersetzung mit Bolaño und Ernst Jünger fort. Sie zeigt, wie Jüngers poetologischer Essay Sizilischer Brief an den Mann im Mond (1930) den chilenischen Schriftsteller unmittelbar beeinflusst und zu einer »lunaren Ästhetik« und wiederholt eingesetzten stellaren Erzählperspektiven in seinen Texten führt. Joachim Rickes nimmt die bereits erwähnten Aussagen Daniel Kehlmanns zum Einfluss Bolaños auf sein eigenes Werk zum Anlass, intertextuelle Bezüge zwischen Bolaños Erzählband El gaucho insufrible und Kehlmanns Schreiben herauszustellen, insbesondere mit Blick auf Kehlmanns Konzept ›erzählerischer Offenheit‹.
Bolaño und die deutsche Geschichte Héctor Hoyos liest Bolaños Texte, insbesondere den 1996 erschienenen Roman La literatura nazi en América, im Kontext der deutschen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. Damit fügt er der transnationalen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus und Faschismus eine im Diskurs häufig marginalisierte, spezifisch lateinamerikanische Perspektive hinzu. Das nationalsozialistische Deutschland bleibt auch Thema des sich anschließenden Beitrags von Arndt Lainck, wenn er sich Bolaños postum veröffentlichten Roman El Tercer Reich (2010) zuwendet. Lainck analysiert das Netz an intertextuellen Bezügen, das von Goethe über Jünger zu Friedrich Dürren-
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matt führt und ein Spiel mit literarischen Einflüssen verantwortet, das sich – ebenso wie das Leitmotiv des Brettspiels – in eine poetologische Auseinandersetzung mit Literatur als Erkenntnissystem übersetzt. Sascha Seiler untersucht die Figur des ›unheimlichen Deutschen‹, die er in zahlreichen Texten Bolaños entdeckt: vom erst 2016 postum veröffentlichten Frühwerk El espíritu de la ciencia ficción über die wirkungsmächtigen Romane La literatura nazi en América, El Tercer Reich und 2666 bis zum Erzählband Los detectives salvajes. Das Unheimliche, Unaufgelöste dieser Leitfigur in den Texten des Chilenen versteht Seiler als zentralen Bestandteil einer Poetologie, die sich gerade über das Fragmentarische, bewusst nicht Abgeschlossene definiert.
Bolaño – deutsch gelesen Benjamin Loy blickt auf die deutschsprachige Bolaño-Rezeption und diskutiert diese im Kontext der internationalen, d.h. primär der spanisch- und englischsprachigen Literaturkritik. Auf problematische Weise vereinnahmend sei, argumentiert Loy, die deutschsprachige Kritik dort, wo sie Bolaños Texte auf biografische Bezüge und ihren vermeintlichen Exotismus reduziere und die Autorfigur damit einer problematischen ›Che-Guevarisierung‹ aussetze. Abschließend nimmt Chris W. Wilpert die zahlreichen Bezüge zu deutschen Schriftstellern im Werk Bolaños zum Anlass, seine Texte nach ihrer impliziten Auseinandersetzung mit den gesellschaftskritischen Reflexionen der Kritischen Theorie zu durchleuchten. Am Beispiel der vier Romane Los detectives salvajes, Estrella Distante, El Tercer Reich und Los sinsabores del verdadero policía zeigt Wilpert, wie Bolaño ein dialektisches literarisches Verfahren etabliert, das am Ende das konsequent formulierte Misstrauen nicht über den Optimismus siegen lässt. Der vorliegende Band ist über einen Zeitraum von mehreren Jahren entstanden – für ihre Ideen, ihren Einsatz und ihre besondere Geduld auf dem Weg zum abgeschlossenen Manuskript sei allen Beiträgerinnen und Beiträgern gedankt. Ein besonderer Dank gilt David Selzer, der die Redaktion des Bandes sorgfältig, engagiert und mit dem nötigen Überblick begleitet hat.
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Über Bolaño: Stimmen aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Und so weiter Über Roberto Bolaños Roman Die wilden Detektive Jens Steiner
Damit die Freiheit der Literatur gewährleistet sei, so der Konsens in Literaturwissenschaft und -kritik, hat ein Buch das Recht, jegliche Antwort auf die Fragen seiner Leser zu verweigern. Nicht einmal die grundlegendste aller Fragen, die man ihm stellen kann – die Frage, wovon es handle –, hat Anspruch auf eine Antwort. Der Kanon der literarischen Moderne nimmt dieses Grundrecht gerne und oft in Anspruch. Roberto Bolaños Die wilden Detektive indes gehört zu jenen Büchern, die auf die Frage nach dem Was sehr materialreich Auskunft zu geben scheinen. Bolaños fünfter Roman, um dies hier einigermaßen knapp zu halten, handelt von Arturo Belano und Ulises Lima, den zwei Anführern einer literarischen Untergrundbewegung im Mexiko der 1970er Jahre, einer Handvoll Menschen, die dieser Bewegung angehören, einer weiteren Handvoll Menschen, die sich im näheren Dunstkreis der Bewegung aufhalten, einer Handvoll Menschen, die sich zu den Gegnern der Bewegung zählen, und so weiter, also einer ziemlich großen Anzahl von Menschen und Beziehungen, womit das Buch gewissermaßen zu einem Porträt der Stadt Mexico DF wird, darüber hinaus auch zu einem Porträt des von zahllosen Juntas und Putschisten gebeutelten Lateinamerika jener Epoche. Aber es geht in dem Buch um noch viel mehr: um die Zukunft der mexikanischen Lyrik, um das Sprechen über Literatur, um Cesárea Tinajero, die quasi-mythische Übermutter der Realviszeralisten um Belano und Lima, um einen dem Wahn anheimfallenden Architekten, um das Klauen von Büchern, um Schriftsteller, Buchhändler und Verleger, um das Exil des Arturo Belano in Katalonien, um die weltumspannende Odyssee des Ulisses Lima, um Paris und seine Exilanten, um Afrika und seine Kriegsschauplätze, um einen Aufbruch in die Wüste, der eine Suche in der Vergangenheit ist. Und so weiter, und so fort. Es geht um so viel in dem Buch, dass Literaturwissenschaft und -kritik versuchen, die Themen auf einige grundle-
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gende Motive herunterzubrechen, wobei auch dann immer noch eine kaum überschaubare Fülle bleibt: Jugend, Utopie, Sex, die Suche nach Idealen, die Suche nach Selbstermächtigung in einem hoffnungslosen Land, die Flucht in die Sinnfreiheit, politische Resignation, Exil, Tod. Und so weiter. Man könnte sich ob dieses nicht zu bändigenden Und-so-weiter die Haare raufen. Man kann sich aber auch fragen, ob ihm neben der offensichtlichen Problemhaftigkeit nicht auch eine Lösungshaftigkeit innewohne. Tatsächlich scheint dieses Und-so-weiter der elementarste Impetus des Schreibens und des Sprechens in den Wilden Detektiven zu sein, eine Energie, die nichts antreibt als sich selbst, ein verbales perpetuum mobile. Die Grundeinheit des Buchs, der Monolog, erzeugt da bereits einen ersten Zwang: Redepausen sind aufgrund dieser Struktur nicht möglich. Doch es ist nicht nur die Struktur des Buchs, die dem Und-so-weiter diese schiere Wucht verleiht. Die meisten der monologisierenden Figuren neigen zur Detailversessenheit, zur manischen Logorrhö. Wäre nicht der Autor, der seine Schnitte vornähme, sie würden immer weitersprechen. Schwadronierend greifen sie in alle Richtungen aus, betreiben eine ständige Rückholung des Vergangenen, frönen aber auch der Lust an der Gegenwart, sie taumeln nächtens durch die Stadt, sie suchen nach Freunden, Verbündeten, Büchern, Gedichten, Autoren, und schließlich gehen zwei von ihnen ins Exil, das selbst auch kein Ende nimmt. Jedoch: Was wie ein jugendliches Ausschlagen anmutet, ist immer auch krebsartiges Wuchern. Womit sich die Lösungshaftigkeit des Und-so-weiter gleich wieder aufhebt. Als Bewegung nach hinten und nach vorne, als Hineingreifen in die Fülle von immer neuen Nebengeschichten, Beziehungen, Büchern, Fluchten, Suchen, ist das Und-so-weiter der wilden Detektive, aber auch der Nebenfiguren bei näherer Betrachtung von einer verstörenden Ambivalenz. So erzählt der Pound-Spezialist Joaquín Vázquez Amaral, wie seine Begegnung mit Belano und Lima nach fast endlosem Geplauder in Schweigen endete: »… und es kam der Moment, als wir nur noch zu fünft ziellos durch Mexikos Hauptstadt gingen, kann sein in tiefstem Schweigen, einem poundianischen Schweigen, obwohl der Meister, nicht wahr, obwohl der Meister weit entfernt davon ist zu schweigen, nicht wahr, seine Worte sind die Worte des Stammes, die unaufhörlich forschen, erschließen und sämtliche Geschichten erzählen.
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Und das, obwohl alle diese Worte umschlossen sind vom Schweigen und von Minute zu Minuten von diesem Schweigen aufgezehrt werden, stimmt’s?«1 Zwar haben wir hier, im Gegensatz zu den Realviszeralisten, die nach der stummen Urmutter Cesárea Tinajero suchen, einen Meister, der sehr beredt ist, doch hier wie dort werden die fallenden Worte nach und nach vom Schweigen aufgezehrt. An einem gewissen Punkt scheint sich das Undso-weiter in eine Art Auslöschung umzukehren. Die Auslöschung, von der der argentinische Dichter Fabio Ernesto Logiacomo berichtet, ist weniger fassbar und zugleich bedrohlicher: »Und ich hatte ein merkwürdiges Erlebnis mit diesen Typen, oder mit dem Milchkaffee, zu dem sie mich einluden, irgendetwas Eigenartiges an ihnen fiel mir auf, so als seien sie da und zur gleichen Zeit plötzlich nicht mehr da, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …«2 Von der imaginären zur realen Auslöschung, beziehungsweise in deren Nähe, kommt es dann in den Berichten von Arturo Belanos Zeit in Afrika. Dieser geht nach Angola mit dem ausdrücklichen Wunsch, getötet zu werden, kommt aber mit heiler Haut davon, und dass dies so ist, scheint ein Hinweis darauf, dass die Helden weniger auf eine Auslöschung als auf eine Verausgabung zustreben. Das Und-so-weiter ist ein ständiges Sich-Anfüllen und gleichzeitiges Sich-Entleeren, eine Bewegung auf das Leben zu, und zugleich ein Sterben, ohne je im Tod zu enden. Auch die eigentliche Detektivgeschichte, die Suche nach Cesárea Tinajeros einzigem erhaltenen Gedicht, ist von dieser Ambivalenz geprägt. »Also los«, sagt Amadeo Salvatierra, der Belano und Lima das Gedicht aushändigt und von ihnen wissen will, was sie davon halten, »wo liegt nun das große Geheimnis? Da sahen die Jungs mich an und sagten: Es gibt kein Geheimnis, Amadeo.«3 Es gibt kein Geheimnis in dem Gedicht, das Ende der Suche ist eine Leerstelle. Arturo Belano und Ulisses Lima tun dies kund, als ob sie es schon immer gewusst hätten, wobei die Einsicht sie nicht von ihrer Suche abhalten konnte. Was die Autorin des Gedichts angeht, wird sie nach langer Suche zwar ebenfalls gefunden, doch sie ist bloß ein Schatten des Bilds, das die Realviszeralisten von ihr heraufbeschwörten. Als reale Figur ist sie grotesk, fast stumm, und man kommt als Leser nicht umhin, sie als das paradoxe Ergebnis 1 2 3
Bolaño, Roberto: Die wilden Detektive. München 2010, S. 255. Ebd., S. 185. Ebd., S. 477.
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von Belanos und Limas ständigem Fabulieren zu betrachten. Cesárea Tinajero wurde von den Realviszeralisten quasi leergeschwafelt. Dass sie dann einen absurden und sehr mexikanischen Tod stirbt, ist nur noch bitter-ironische Beigabe. Das Muster von Erfüllung und gleichzeitiger Verausgabung ist auch im Exil von Belano und Lima zu finden. Auch hier gibt es keinen Fluchtpunkt, das Exil ist vielmehr eine Bewegung, die vom Verlust angetrieben wird und sich selbst nicht erlauben kann, zu einem Ende zu kommen. Daniel Grossmann über ein Gespräch, das er mit Norman Bolzman über den gemeinsamen Freund Ulises Lima führte: »Da sagte Norman: Es geht mir nicht um die Realviszeralisten, du verstehst überhaupt nichts, du Idiot. Und darauf ich: Und worum geht es dann, bitte schön? Da wandte Norman zu meiner Erleichterung endlich den Blick von mir und konzentrierte sich wenigstens für ein paar Minuten auf die Straße, ehe er sagte: Ums Leben, um das, was wir, ohne uns darüber klarzuwerden, verloren haben und was wir davon wieder zurückgewinnen können. Und was können wir zurückgewinnen?«4 Diese Frage vermag Norman allerdings nicht zu beantworten. Die Sache, die verloren ist und zurückgewonnen werden kann, scheint das innere Zentrum des Und-so-weiter, das die Helden antreibt, aber auch das innere Zentrum des Und-so-weiter, das das Buch antreibt. Der Drang der Helden nach Fülle und ihre Verausgabung bedingen sich hier gegenseitig. Das eine ist die Matrize des anderen. Der Autor Bolaño kann nicht von der Verausgabung sprechen, ohne ständig auf die Fülle zu zeigen. Auch der Weg des Buchs Die Wilden Detektive selbst ist ein Weg in die Fülle und zugleich ein Weg in die Verausgabung. Hierzu gibt der Kritiker Iñaki Echavarne quasi einen Selbstkommentar im Sinne des Buches ab: »Über einen gewissen Zeitraum hinweg begleitet die Kritik das Werk, ehe sie entschwindet und die Leser seine Begleiter werden. […] Danach sterben die Leser einer nach dem anderen, und das Werk setzt einsam seinen Weg fort, obwohl sich immer wieder neue Kritiken, neue Leser seiner Reise anschließen. Dann stirbt die Kritik ein weiteres Mal, es sterben die Leser, und auf dieser nach und nach mit von Gebeinen bedeckten Straße setzt das Werk
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seine Reise in die Einsamkeit fort. […] Und eines Tages stirbt es, so wie alle Dinge sterben … .«5 Und so weiter, und so fort. Eine sich perpetuierende Paradoxie als Grundmotiv also. Schön und gut, aber ist dies nicht zu europäisch gedacht? Kann das wirklich eine produktive Lesart dieses sehr lateinamerikanischen Romans sein? Das Lateinamerika des 20. Jahrhunderts ist ein Kontinent der Verschwundenen. Militärdiktaturen von Chile und Argentinien, Brasilien und Peru bis El Salvador und Guatemala haben Zehntausende von Menschen verschwinden lassen, das Thema ist auch heute virulent. Demensprechend zentral ist die Rolle des Verschwindens in der lateinamerikanischen Literatur. Roberto Bolaño, der Chilene, der in Mexiko zum erwachsenen Mann und in Spanien zum Schriftsteller wurde, scheint das Verschwinden allerdings mehr in der europäischen als in der lateinamerikanischen Tradition zu verarbeiten. In den Wilden Detektiven, diesem Buch voller Lateinamerikaner, erleidet kein einziger das Schicksal des desaparecido, des aus politischen Gründen zum Verschwinden Gebrachten, nicht einmal Ulises Lima, der zwar in Nicaragua abhandenkommt, zwei Jahre später aber wiederauftaucht. Auch erleidet, abgesehen von Cesárea Tinajero, niemand einen gewaltsamen Tod. In ihrer Rastlosigkeit, ihrer Verausgabung neigen die Helden vielmehr zur Selbstauslöschung und zeigen darin eine Verwandtschaft mit einer Reihe von Helden in der deutschsprachigen Literatur, die sich selbst und der Welt abhandenkommen. Karl Rossmann und der Landvermesser K. aus Franz Kafkas Der Verschollene bzw. Das Schloss fallen einem da ein, auch Armin Schildknecht aus Hermann Burgers Schilten, Carl alias Polidorio aus Wolfgang Herrndorfs Sand und vielleicht auch Josef Mazzini aus Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Nun wissen wir freilich nicht, was für ein Autor Bolaño geworden wäre, wenn er nicht eines Tages Lateinamerika für immer verlassen hätte. Noch weniger wissen wir, wie ein in Spanien gebürtiger Roberto Bolaño geschrieben hätte. Wir sind uns aber fast sicher, dass kulturelle Überblendungen die Literatur grundsätzlich bereichern: Pakistanische Autoren und Autorinnen in Großbritannien, bosnische in Deutschland, tunesische in Frankreich, griechische in Schweden demonstrieren dies Buch um Buch. Auch Roberto Bolaño verfügt dank seiner Biografie über jene Doppelperspektive. Man kann
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Ebd., S. 615.
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ihn darum beneiden, doch es ist nicht dieser Umstand, der so viele dazu veranlasst, ihn heimlich oder öffentlich zu ihrem Idol zu erklären. Da ist erstens sein handwerkliches Talent, zweitens ein anderer Aspekt seiner Biografie: Roberto Bolaño hat nie eine Schule abgeschlossen, keine Ausbildung absolviert, schon gar keine schriftstellerische. Er hat viele Jahre geschrieben, ohne davon leben zu können. Sein spätes Auftreten auf der großen Bühne erteilte der lateinamerikanischen Literaturszene dann eine gehörige Lektion. In einem Kulturkreis, in dem es nach wie vor wenige Autoren und Autorinnen gibt, die nicht aus einer der privilegierten Schichten stammen, hat dieser Autor, der aus dem gesellschaftlichen Nichts kam, eine kleine Revolution ausgelöst. Unsere Lektion ist eine andere, und doch scheint sie verwandt mit der lateinamerikanischen. Mit seiner Biografie verkörpert Bolaño für uns eine Wildheit, eine Ungeschliffenheit. Ein Umstand, der nach seinem Tod einen marketingtechnischen Vorteil darstellte, was nicht unwesentlich auf seinem Weg nach oben war. Wir versuchen, uns von der PR-Maschinerie der Verlage nicht blenden zu lassen, und sehen die außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit dieses Autors, seine schriftstellerische Risikobereitschaft, die wahrhaft existenzielle Grundierung seines Schreibens. Eigenschaften, die es bei uns, wo Schreiben und Selbstvermarktung an ein und demselben Ort gelehrt werden und zu einem gefälligen akademischen Abschluss führen, kaum noch zu geben scheint. Um die Gravität dieser Lektion bringt uns Bolaño in einem schelmischen Manöver gleich selbst. In einem postum erschienenen Text mit dem Titel »Die Verlorenen«, der vom chilenischen Lyriker Rodrigo Lira im Speziellen und von lateinamerikanischen Schriftstellern im Allgemeinen handelt, schreibt er: »Wir versuchen, ein paar arglose Europäer und ein paar unwissende Europäer mit miserablen Werken zu täuschen, in denen wir an ihren guten Willen appellieren, an ihre political correctness, an die Geschichten vom edlen Wilden, an die Exotik.«6 Zweifellos ist Bolaño als Schriftsteller stark von der europäischen Literatur geprägt, aber zugleich kommt er in den Bildern, die er von sich abgibt, wie seine beiden Romanhelden als lateinamerikanischer Wilder daher. Dass eine Diskussion, ob er es nun wirklich ist oder ob er es nur spielt, wenig Sinn machen würde, zeigt die ironisch gebrochene Heroisierung der wilden Detektive Belano und Lima. Als Beispiel dafür der Bericht des französischen 6
Bolaño, Roberto: Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie. Berlin 2008, S. 52f.
Und so weiter
Beat-Poeten Michel Bulteau über eine merkwürdige Begegnung mit Ulises Lima: »… während der Mexikaner in einem zeitweise unverständlichen Englisch damit beschäftigt war, eine Geschichte hervorzusprudeln, der ich nur mit Mühe zu folgen vermochte, eine Geschichte über verschollene Dichter, verschollene Zeitschriften und Werke, zu deren Existenz niemandem auch nur entfernt ein einziges Wort eingefallen wäre, inmitten einer Landschaft, die vielleicht in Kalifornien oder Arizona lag oder in irgendeiner an diese Staaten angrenzenden mexikanischen Gegend, einer imaginären oder wirklichen Region, jedenfalls von der Sonne versengt und in einer längst vergangenen Zeit, vergessen und, zumindest hier, im Paris der siebziger Jahre, ohne jede Bedeutung. Eine Geschichte von den Randbereichen der Zivilisation, sagte ich. Und er, ja, ja, offensichtlich, ja, ja, ja.«7 Der lateinamerikanische Literatur-Vagabund, den man als Europäer letzten Endes nicht versteht, ist in den Wilden Detektiven eine stets von Neuem behauptete, aber auch eine stets sich entziehende Figur. In Mexiko sind Arturo Belano und Ulises Lima die Helden einer Avantgarde, welche die Literatur über ihre eigenen Ränder stoßen will. In Europa hingegen geben sie sich als nuschelnde, schmutzstarrende Freaks, die in ihrer Anwesenheit durch Abwesenheit glänzen. Der ständige Aufschub, den Bolaño dem Leser zumutet, dieses ständige ›Herzeigen-und-wieder-Entziehen‹, ist freilich seiner Poetik des Und-soweiter geschuldet. Seine Figuren sind in ständiger Bewegung, immer schon weiter. Das Leben ist Exil, für Bolaño bekanntlich kein lamentabler, sondern ein geradezu idealer Zustand, wie er in seinem Essay »Exile« andeutet: »Ins Exil zu gehen bedeutet nicht, dass man verschwindet, man macht sich klein, reduziert sich, langsam oder in rasender Geschwindigkeit, bis die wahre Größe erreicht ist, die wahre Seinsgröße.«8 Ja, Bolaño war ein fröhlicher Exilant, und genauso darf man das von seinen Helden behaupten. Die Versetzung, der Aufschub, die das Exil mit sich bringt, sind für sie keine Verhinderung von Gegenwärtigkeit, sie sind im Gegenteil deren Bedingungen. Das Und-so-weiter ist eine grundlegendere Beschaffenheit des Daseins als das Ankommen. Eine Einsicht, die sie mit europäischen Romanhelden wie Kafkas Landvermesser K. oder Burgers Armin 7 8
Bolaño: Die wilden Detektive, S. 301. Bolaño: Exil im Niemandsland, S. 12.
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Schildknecht teilen mögen, doch was in deren Universen gärt und sich schleichend entfaltet, die Furcht, scheint es in Arturo Belanos und Ulises Limas Welt kaum zu geben. Sie gehen in die Wüste, Belano in den Krieg nach Afrika, Lima taucht in Nicaragua ab, sie verlieren sich ständig, aber nie fürchten sie sich. Und als (europäischer) Leser fragt man sich: Sind sie so mutig oder sind sie naiv? Oder sind sie einfach nur Lateinamerikaner? Es ist Bolaños schriftstellerischem Banditentum, seinem Schalk, aber auch seiner philosophischen Nüchternheit zu verdanken, dass wir diese Fragen nie erschöpfend beantworten können. Für die Frage, ob und inwieweit Bolaños Schreiben europäisch ist, wie auch für die Frage, wovon Die wilden Detektive handeln, gilt das Gleiche wie für obige Fragen: Dieses Buch gibt dem Leser viele Antworten, doch mit keiner hört die Wechselrede auf. Sein Autor interpretiert das Recht der literarischen Moderne auf Widerspenstigkeit in einer sowohl der Ironie wie auch dem heiligen Ernst verpflichteten Weise und lädt seine Leser ein zu einem bodenund zugleich furchtlosen Katz-und-Maus-Spiel. Nicht-europäische Literatur hat europäischen Lesern so manche Lektion zu bieten. Literatur wie jene des Roberto Bolaño, von der man nicht weiß, ob und inwieweit sie europäisch ist, noch viel mehr. Ihre Lektionen nehmen kein Ende. Und so weiter. Und so fort. Zürich, 20. Januar 2017
Die unerhörten Schreie der Toten1 Sibylle Lewitscharoff
Riefe man die Bücher, die er geschrieben hat, zu Charakterzeugen seines Lebens auf, käme heraus: Roberto Bolaño war ein Frechdachs, ein Empörer, ein Mann mit einem noblen Herzen, ein hoch amüsanter, wild verzwirbelter chilenischer Macho, der die Frauen und die Bücher liebte. Leider musste er mit 50 Jahren sterben. Seine eigenen Bücher fassen nach dem kalten Glutkern der Hölle, dem zuckenden Herzen der Grausamkeit. Der Mann aber, der danach fasst, ist empfindsam, voller Abscheu gegenüber Brutalitäten, ein Empörer, der sich nie damit abfinden will, dass die Welt so scheußlich ist, wie sie ist. Ich folge dem Erzähler Bolaño meistens bedingungslos. Seine Bücher haben bei mir von Anfang Vertrauen erweckt. Bei ihm schleppen die Helden Bücher so selbstverständlich mit sich herum, als wären sie selbst Kinder und die Bücher ihre Teddybären. So unangestrengt, so wenig mit Imponiergehabe behaftet, hat kaum je ein Schriftsteller seine Figuren mit einem intellektuellen Rüstzeug ausgestattet. Bolaños Helden werkeln mit Büchern herum, um sich damit über Wasser zu halten, nicht, um den Leser einzuschüchtern. Was seinen Umgang mit Büchern betrifft, ist Bolaño der augenzwinkernde Erbe von Jorge Luis Borges. Man könnte denken, von Buch zu Buch erzähle hier ein schlauer Frechdachs mit Heiterkeit fort. Dem ist aber nicht so, schon gar nicht in dem postum erschienenen Roman 2666. Worum geht es? Um Mord. Nicht einen, sondern viele, viele, viele. Was genau geschieht, ist nicht in einem Satz zu sagen, denn der große Roman gleicht einem Steinbruch mit einem kompakten Mittelstück, das auf alle anderen Teile seinen bösen Schatten wirft. Im ersten Teil wandeln vier Germanisten – ein Italiener, ein Spanier, ein Franzose und eine Engländerin – auf
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Zuerst erschienen in: Die Welt v. 19.12.2009, Abdruck mit Genehmigung Sibylle Lewitscharoffs, bei der die Abdruckrechte für den Text liegen.
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den Spuren eines verborgenen Autors, der Deutscher ist und das etwas alberne Pseudonym Benno von Archimboldi trägt. Der Mann taucht im fünften und letzten Teil dann selbst auf. Die Literaturwissenschaftler werden alle in amouröse Abenteuer mit der einzigen Frau unter ihnen verwickelt. Wie das geschieht, ist mit unheimlicher, auf leisen Sohlen daherschleichender Eindringlichkeit erzählt. Auf der Suche nach Archimboldi landen die Germanisten schließlich in Santa Teresa, einem Ort an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, dem wahren Herzen der Finsternis. Leider hören wir von diesem intrikaten Germanistenquartett im weiteren Verlauf des Buches nie wieder. Santa Teresa gleicht Ciudad Juárez zum Verwechseln genau. Das ist die Stadt, die weltweit Aufsehen erregt hat, da in ihr seit 1993 eine schwindelerregende Serie von Frauenmorden stattgefunden hat und stattfindet – fast alle bis heute unaufgeklärt. Nach einem Vorspiel in Spanien befinden wir uns in den Teilen Zwei, Drei und dem langen Block von Teil Vier in jener verkommenen Grenzstadt im Norden Mexikos. Zunächst lernen wir den Philosophieprofessor Oscár Amalfitano kennen, der mit seiner halbwüchsigen Tochter Rosa dort lebt, in einem halb wahnhaften Exil zwischen Staub, Tequila, Stimmenhören, Philosophie und blutroten Sonnenuntergängen. Einer Idee von Marcel Duchamp folgend, der ein unglückliches Readymade seiner Schwester zum Hochzeitsgeschenk gemacht haben soll, hängt er das Geometrische Vermächtnis des spanischen Dichters Rafael Dieste draußen an die Wäscheleine. Beim Betrachten, wie Wind und Wetter das Buch zausen, schmiegt sich um den auf verlorenem Posten stehenden Mann eine knisternde Vergeblichkeitshülle. Dann folgt das Herzstück, Mordstück. Sehr sachlich, sehr nüchtern wird eine Tote nach der anderen aufgelistet, welche Verstümmelungen sie erlitten hat, welche Kleidungsreste an ihr gefunden werden. Meistens sind es junge Arbeiterinnen, oft Kinder noch, die in den Maquiladoras, billigst produzierenden grenznahen Kleinbetrieben, ihren Hungerlohn verdient haben; einige arbeiteten als Kellnerinnen oder Prostituierte. Bolaño schafft es, in wenigen dürren Sätzen, Frau für Frau, Mädchen für Mädchen, wieder zum Leben zu erwecken und ihnen, wenigstens behütet und umzirkt von der Schrift, ein Minimum an Würde zurückzugeben. Das Ganze wird durchkreuzt von Figuren, die sich mehr oder minder um Aufklärung bemühen: korrupte Polizisten, eine TV-Hellseherin, ein ehemaliger Black-Panther-Aktivist, ein amerikanischer Kleinstadtsheriff, mexikanische Journalisten, samt und sonders Leute, denen es allenfalls gelingt, vom
Die unerhörten Schreie der Toten
mörderischen Morast eine winzige Kruste abzuheben. Nur zwei Polizisten wollen es wirklich wissen: der schweigsame Außenseiter Lalo Cura und ein eher unmaßgeblicher Kommissar, hinter dem sich vielleicht ein bisschen der Autor versteckt. Er trägt den schönen Namen Juan de Dios Martínez. Auch er will’s wissen, unbedingt. Kommt aber nicht weit. Er ist kein abgebrühter Mann, sondern ein fast zittriger Ausnahmemensch, über den die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen seelisch transportiert wird. Der Anblick von zwei kleinen geschundenen Schwestern, beide Leichen fast noch im Kindesalter, setzt ihm derart zu, dass ihm schwindlig wird, er lange braucht, sich zu beruhigen. Alles, was sich in Santa Teresa zuträgt, ist mit einer Eindringlichkeit geschildert, die ihresgleichen sucht. Die Landschaft, das Wetter, die Müllkippen, die staubigen Wege, verrotteten Bars, das Sexgesindel, Drogenprotze und Schlepperbanden, das lebt derart habhaft, dass einem beim Lesen förmlich der trockene Wind ins Haar greift. Der Chilene Roberto Bolaño, der vor dem Diktator Pinochet floh, hat viele Jahre in Mexiko verbracht und kannte sich dort aus. Auch sein anderer Großroman – Die wilden Detektive – spielt in Mexiko. Additive Erzählverfahren sind in aller Regel unglücklich. Ich liebe sie eigentlich nicht. In Bolaños Roman gibt es sie vielfach. Gleich eingangs tourt die Gruppe der Literaturwissenschaftler von Germanistenkongress zu Germanistenkongress. Das ist ein ziemlich zäher, wenig verlockender Anfang, und es sind mindestens zehn Kongresse zu viel. Die pure Addition besitzt aber Kraft, da es um die Frauenmorde geht. Die Aufzählung, wer wann wo von wem gefunden, mit Namen oder namenlos, zwölf, 13, 16 oder 33 Jahre alt, dazwischen all die rauchenden, sich Tequila hinter die Binde kippenden Polizisten, Müllreste, Tierkadaver, die ärmlichen Plastikkleidchen, die an den Frauenleichen kleben, das Chaos, die Dummheit, Schlamperei und Untätigkeit der Behörden, das alles entfaltet seine böse, böse, alles durchdringende Kraft. Und zu ganz großer Form läuft die Addition auf, da hintereinander Polizistenwitze aufgelistet werden, einer brutaler und vulgärer als der andere. Allerspätestens da weiß man Bescheid, dass von solchen Gesetzeshütern keinerlei Hilfe zu erwarten ist. Sie sind so verroht wie die Frauenschlächter selbst. Trotz der berstenden Fülle an Personen, die seinen Roman bewimmeln, Toten wie Untoten, gelingt es Bolaño, exakte Skizzen der Figuren aufs Papier zu werfen. Um ihre Kurzauftritte, sei es auch nur für einen Abschnitt, ist eine dichte Atmosphäre gewoben. Seine Toten leben und wollen uns unbedingt
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noch etwas sagen. Man hört ihr Geschrei, während sie verscharrt werden und sich die Aktendeckel über ihnen schließen. Sie vibrieren förmlich. Metaphernsicher, mit Sinn für rasante dramaturgische Schnitte (auch den locker eingestreuten Kürzestdialog beherrscht er hinreißend), dabei höchst ambivalent zwischen Frechheit, Wahn, Zynismus, Trauer, Wut und Komik schwankend, berichtet dieser chilenische Vielfraß und Alleskönner vom Bösen. Der deutsche Übersetzer Christian Hansen ist ebenfalls hoch zu loben. Er hat Bolaños rasch dahineilende Sätze in ein sehr gelenkiges Deutsch überführt und sich vor affigen Floskeln gehütet. Doch eine Crux gibt es. Sie betrifft den fünften und letzten Teil, worin die Biografie des deutschen Wehrmachtssoldaten Hans Reiter nachgereicht wird, der nach dem Krieg Buch um Buch unter dem Pseudonym Benno von Archimboldi veröffentlicht. O weh – das ist derart überstopft mit Sonderbarem, schon allein Mutter und Vater (sie einäugig, er einbeinig) sind überaus sonderbar, ganz zu schweigen der Held selbst. Auch alle mit ihm in Verbindung tretenden Figuren sind sonderbar und wirken dadurch erfunden, womit jeder Wahrscheinlichkeit der Boden entzogen wird. Man merkt, dass Bolaño Deutschland nur aus Filmen, Büchern und Wikipedia kennt. Deshalb zettelt er im fünften Teil eine nervöse Kolportageorgie an. Gegen Erfindung ist grundsätzlich nicht das Geringste einzuwenden. Aber Erfindung braucht Ruhe, sie muss im Autor selber wachsen und sich anreichern dürfen. Diese Erfindung aber zickzackt hektisch durch so ziemlich alle Schauplätze des Zweiten Weltkrieges (gottlob nicht auch noch den afrikanischen); alles, aber auch wirklich alles soll irgendwie mitgenommen werden – die Vernichtung der Juden, die Vita eines jungen Sowjetophilen, Beichte eines SS-Schergen, Beichte eines bayerischen Bauern, der seine Frau in die Schlucht gestoßen haben will, zertrümmerte Städte, Gefangenenlager, die Nachkriegszeit, Adelskreise, das Verlagswesen, ja, sogar noch die deutsche Wiedervereinigung. Schier grotesk, wenn die Figuren aus unerfindlichen Gründen plötzlich zu Monologarien anheben und eine Beichtschallplatte nach der anderen abgespielt wird. Der Erzähler, der vorher das meiste diszipliniert im Griff hatte, über dessen Anfälle von Geschwätzigkeit man gutmütig hinweglesen konnte, hat hier nichts mehr im Griff. Kurzum: Murks. Welcher vermutlich dem frühen Tod Bolaños geschuldet ist, der den Schlussteil bestimmt nicht sorgfältig überarbeitet hat, vor allem aber keinen Abstand mehr zu ihm gewinnen konnte. Deshalb mein Rat: Stellen Sie auf Seite 769 einfach das Lesen ein. Sie müssen nicht unbedingt wissen, was es mit Benno von Archimboldi auf sich hat.
Die unerhörten Schreie der Toten
Er ist bloß ein Papierwicht aus Papierdeutschland und ein alberner Schriftsteller obendrein, wie die idiotischen Titel seiner Romane beweisen. Der Philosophieprofessor Amalfitano räsoniert mit einem lesebegeisterten Apotheker darüber, ob die abgeschlossenen Meisterwerke den rostigen Romanschlachtschiffen vorzuziehen seien – eine Diskussion Bartleby versus Moby Dick. Der Apotheker schätzt Bartleby höher. Bolaño, der im Hintergrund eindeutig für Moby Dick votiert, führt den Apotheker als einen gebildeten Banausen vor, womit er indirekt sein eigenes ästhetisches Programm bekräftigen will. Die Trümmerstätte ist für ihn das Anziehende, nicht das Meisterwerk, welches Perfektion anstrebt und suggeriert. Ich denke da anders: Das Unfertige, Fragmentarische, Geschwätzige hat längst die Alleinherrschaft übernommen. Ein Meisterwerk benötigt absolute Konzentration, und die ist in auseinanderschwirrender Zeit schwer zu gewinnen. Perfektion wird kaum mehr angestrebt, geschweige denn erreicht. Schon um ihrer Seltenheit willen sollte man sie höher schätzen. Das Interessante an ästhetischen Konzepten ist jedoch: Wann immer man sich zu einem bekennt, spaziert eine Ausnahme vorüber und lacht einen aus. Theorie her oder hin, 2666 ist ein ungeheuerlicher Wal von einem Roman, er bläst seine Fontänen hoch in den Äther. Sehr zu empfehlen!
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Bolaño und die deutschsprachige Literaturgeschichte
Hans Reiters tumpheit Bezüge zwischen Roberto Bolaños 2666 und Wolframs von Eschenbach Parzival Reinhard Berron
Im fünften Teil von Roberto Bolaños Roman 2666 wird als erste literarische Leseerfahrung und wichtiger Schritt auf dem Weg zum Schriftsteller Hans Reiters Begegnung mit Wolframs von Eschenbach Parzival, einem der bedeutendsten Werke der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, geschildert. Dort finden sich Informationen und Wertungen zu diesem Werk, die zum Teil im Zuge der Lebensbeschreibung des Protagonisten wiederholt oder zitiert werden. Es handelt sich dabei um intertextuelle Bezüge auf drei Ebenen: das direkte Zitat, die Verwendung von Schlüsselworten und der Verweis auf einen bestimmten Vorstellungshorizont. Diese Bezüge und deren Bedeutung für den »Teil von Archimboldi« und den Gesamtroman 2666 werden im Folgenden untersucht.1
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Soweit ich sehe, hat sich bisher nur Peter Elmore mit den Bezügen zum Parzival befasst. Vgl. Elmore, Peter: 2666: La autoría en el tiempo del límite. In: Paz Soldán, Edmundo; Faverón Patriau, Gustavo (Hg.): Bolaño salvaje. Barcelona 2008, S. 259-292, hier S. 266. Elmore spricht Parzival als erstes Vorbild Reiters an, dem er seine heldenhafte Verwegenheit im Krieg verdanke. Elmore nennt die erste Nennung der Narrenkleider, verfolgt sie aber nicht weiter und stellt sie ebenfalls in den Kontext kriegerischer Bewährung: Parzival habe sie »sin disminución de su coraje« getragen. Von Parzival zieht er dann eine Parallele zu Don Quijote und verweist auf die karnevalistische Deutung von Archimboldis Werk: »No parece descabellado, entonces, que dos iniciados en el culto de la obra de Archimboldi encuentren en ésta una poética radicalmente irracionalista y paródica«.
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Reinhard Berron
I.
Reiters Begegnung mit dem Parzival
Die erste Begegnung mit dem Parzival ergibt sich für den dreizehnjährigen Hans Reiter im Landhaus eines preußischen Barons, für den er arbeitet (wohl um 1933). Mit dessen zwanzigjährigem Neffen, Hugo Halder, knüpft er freundschaftliche Bande, nachdem er dessen Diebstähle entdeckt hat. Der belesene Halder verwickelt den schweigsamen Einzelgänger Reiter in verschiedene Gespräche, schließlich auch über Literatur; er nennt die Namen von Klassikern des 19. Jahrhunderts. Nachdem sie sich nicht einigen können, mit welchem Buch Reiter seine literarische Bildung beginnen solle, lässt ihn der Baronsneffe ein Buch aus der Bibliothek seines Onkels auswählen. Reiter entscheidet sich für den Parzival Wolframs von Eschenbach, worüber sich Halder amüsiert, da er meint, dass Reiter den Roman nicht verstehen würde.2 An dieser Stelle setzt die etwa anderthalb Seiten umfassende Auseinandersetzung mit dem Parzival ein (im Folgenden als Parzival-Passage bezeichnet); sie enthält keine direkte Rede, sondern stellt Aussagen Halders und Leseeindrücke Reiters nebeneinander. Der entscheidende Abschnitt, in dem sich zentrale Informationen zu Autor und Werk sowie direkte Zitate finden, lautet wie folgt: »Wolfram, erfuhr Hans, sagte von sich selbst: Mit Gelehrsamkeit hab ich nichts im Sinn. Wolfram, erfuhr Hans, bricht mit dem Archetyp des höfischen Ritters, und die Ausbildung, die Klosterschule, bleibt ihm versagt (oder versagt er sich selbst). Wolfram, erfuhr Hans, lehnt im Gegensatz zu den anderen Troubadouren und Minnesängern den Minnedienst ab. Wolfram, erfuhr Hans, behauptet von sich, kein Wissen und kein Können aus Büchern zu besitzen, nicht, damit man ihn für ungebildet hält, sondern um auszudrücken, dass er frei sei von der Bürde lateinischer Bildung, ein Laiendichter und freier Ritter. […] Wolfram besaß keinen Grundbesitz.
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Zu bemerken ist, dass im spanischen Original die Schreibung »Parsifal« verwendet wird. Im Spanischen wird sonst die deutsche Schreibweise verwendet, z.B. in der einzigen Übersetzung des Romans ins Spanische: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hg. u. übers. v. Antonio Regales. Madrid 2 2001; Regales bezeichnet seine Übersetzung in der »Nota sobre la traducción« (ebd. S. 19) als »primera traducción al castellano«. Die Schreibweise könnte also darüber Auskunft geben, dass Bolaños Begegnung mit dem Stoff auf Richard Wagners Oper Parsifal zurückgeht.
Hans Reiters tumpheit
Wolfram war daher auf den Vasallendienst verwiesen. Wolfram hatte Gönner, Fürsten, die ihren Vasallen, oder wenigstens einigen ihrer Vasallen, Sichtbarkeit zugestanden. Wolfram sagte: Ritterdienst ist mein Beruf«.3 Die in dieser Passage mitgeteilten Informationen lassen sich auf mehrere Hauptaspekte verteilen, die im Folgenden einzeln in den Blick genommen werden. Gegenüber dem Schulabbrecher Hans Reiter zeichnet sich der junge Halder durch eine mutmaßlich ordentliche Schulbildung und den Status als Berliner Student aus. Sein etwas besserwisserischer Duktus wird durch die beiden anaphorischen Reihungen nachgezeichnet. Reiter hatte dagegen bis dahin, außer mit einem botanisch-zoologischen Werk, keine weiteren Leseerfahrungen gesammelt.4 Umso mehr müssen ihn die Selbstauskünfte Wolframs beeindrucken, dieser habe »mit Gelehrsamkeit […] nichts im Sinn«, habe keine Klosterschule besucht und besitze »kein Wissen und kein Können aus
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Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 799. – »Wolfram, descubrió Hans, dijo sobre sí mismo: yo huía de las letras. Wolfram, descubrió Hans, rompe con el arquetipo del caballero cortesano y le es negado (o él se lo niega a sí mismo) el aprendizaje, la escuela de los clérigos. Wolfram, descubrió Hans, al contrario que los trovadores y los minnesinger [sic!], rechaza el servicio a la dama. Wolfram, descubrió Hans, declara no poseer artes, pero no para ser tomado como un inculto, sino como una forma de decir que está liberado de la carga de los latines y que él es un caballero laico e independiente. […] Wolfram no poseía hacienda. Wolfram por lo tanto estaba sometido al servicio de vasallaje. Wolfram tuvo algunos protectores, condes que concedían la visibilidad a sus vasallos o al menos a algunos de sus vasallos. Wolfram dijo: mi estilo es la profesión del escudo« (Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 7 2011, S. 822). Die Kursivierungen hier und an anderer Stelle (»yo huía de las letras, yo no poseía artes«, ebd.) erwecken den Eindruck, sie seien direkt einer Übersetzung des Parzival entnommen. In der Übersetzung von Antonio Regales enthält der entsprechende Abschnitt allerdings ganz andere Formulierungen: »Propio de mi ser es el oficio de las armas. La que no aprecia mi valor de caballero y me ama por mi arte poética, me parece que tiene pocas entendederas. […] Pero quien desee que continúe, no tenga esta narración por un libro culto, pues no conozco las letras. Muchos hacen nacer la poesía en la erudición. Esta historia navega sin el timón de los libros« (Parzival. Hg. v. Antonio Regales, S. 72f.). »Auch war Halder der Erste, der ihn dazu brachte, etwas anderes zu lesen als das Buch Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten« (Bolaño [D], S. 796). – »Halder, además, fue el primero que le hizo leer algo que no fuera el libro Algunos animales y plantas del litoral europeo« (S. 820).
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Büchern«.5 Mit der Lektüre des Parzival setzt ein Vorgang ein, an dessen Ende seine Karriere als Schriftsteller steht. Reiter pflegt aber stets das unkonventionelle Verhalten eines Autodidakten, nicht zuletzt durch die Wahrung seiner Anonymität.6 Die in der Passage mitgeteilten Informationen stammen aus der sogenannten Selbstverteidigung Wolframs, einer Reihe von Versen im zweiten Buch des Parzival, die aufgrund ansonsten spärlich gestreuter Informationen über das Leben des Autors »lange Zeit von der Forschung als Anhaltspunkte für Wolframs Biographie angesehen«7 wurden. Die Verse, auf die Bolaño seine Figuren anspielen lässt, sind folgende: »schildes ambet ist mîn art: swâ mîn ellen sî gespart, swelhiu mich minnet umbe sanc, sô dunket mich ir witze kranc. […] ine kan decheinen buochstap. dâ nement genuoge ir urhap: disiu âventiure vert âne der buoche stiure.« (115,11-14; 27-30)8
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Bolaño (D), S. 799. Der Übersetzer Christian Hansen bezieht sich auf Dieter Kühns Übertragung des Parzival ins Neuhochdeutsche, wie auch auf S. 4 angegeben. Die wörtliche Übersetzung müsste im ersten Fall ›ich mied die Buchstaben‹ oder ›ich floh vor der Bildung‹ lauten und im zweiten Fall ›nicht über Kenntnisse in den sieben freien Künsten verfügen‹. Neben Hans Reiter wird auch im dritten Teil mit Seaman, dem Interviewpartner Oscar Fates, der Werdegang eines Autodidakten geschildert; dessen Lebensgeschichte weist daneben auf das im vierten und fünften Teil geschilderte Leben im Gefängnis von Reiters Neffen voraus (wie auch die Irrenhaus-Szenen im ersten und zweiten Teil). Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass Roberto Bolaño selbst als Autodidakt bezeichnet werden kann, der mit 16 Jahren die Schule verließ, um sich ganz der Lektüre und dem Schreiben zu widmen: »En Fuera de quicio, Villalobos sostiene que Bolaño era un autor autodidacta« (Candia Cáceres, Alexis: La Universidad (Des)conocida de Roberto Bolaño. In: Mitologías hoy 5 (2013), S. 19-28, hier S. 21). Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart 8 2004 (Sammlung Metzler, Bd. 36), S. 53. Alle Zitate aus dem Parzival sowie die Übertragung ins Neuhochdeutsche folgen der Ausgabe Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn. Frankfurt a.M. 2006. »Ritterdienst ist mein Beruf. Wenn eine meinen Mut nicht fordert, mich
Hans Reiters tumpheit
Während die ältere Forschung den Angaben Wolframs über seine spärliche Bildung und seinen Ritterstand Glauben schenkte, wollte er nach der heute mehrheitlich vertretenen Auffassung durch seine Äußerungen auf den milesclericus-Streit9 anspielen und ein gesteigertes Selbstbewusstsein des Laienstandes zum Ausdruck bringen: »Der Vers: schildes ambet ist mîn art (Pz. 115,11) wurde häufig als Beweis seiner Ritterbürtigkeit angesehen. Im Zusammenhang der literarischen Polemik gegen die bildungsbewußten Dichter ist der biographische Aussagewert jedoch unsicher.«10 Das Selbstbewusstsein nicht-geistlicher Bildung steht vielleicht in einem Kontext mit Wolframs Zeitgenossen Hartmann von Aue, der im Gregorius und im Armen Heinrich seine schriftliche Bildung herausstellt, und Gottfried von Straßburg, bei dem mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine geistliche Bildung angenommen werden kann.11 Hugo Kuhn versteht denn auch die Aussage »schildes ambet ist mîn art« als künstlerische Aussage, als »WaffenKompetenz seiner literarisch-›artistischen‹ Erzählung.«12 Das wortwörtliche Verständnis der Selbstverteidigung führt zwangsläufig zur Schwierigkeit, die Belege, die für eine umfassende Bildung Wolframs sprechen, zu erklären: »er besaß sehr genaue Kenntnisse auf den Gebieten der Medizin, Astronomie und Kosmologie, Geographie, Tier- und Pflanzenkunde, aber auch der Theologie und der Rechtswissenschaft.«13 Auch die Arbeit mit seiner Quelle, Chrétiens de Troyes Perceval, oder das Ersinnen der Vorlagen-
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wegen meiner Liedkunst liebt, so scheint die mir nicht klar im Kopf. […] denn ich bin nicht schriftgelehrt! Schriften: Sauerteig für viele, doch sie lenken nicht bei mir den Ablauf der histoire!« Vgl. Jackson, William Thomas Hobdell: Der Streit zwischen miles und clericus. In: ZfdA 85 (1954/55), S. 293-303. Bumke, Joachim: Art. Wolfram von Eschenbach. In: Ruh, Kurt; Wachinger, Burghart u.a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. Berlin/New York 1999, Sp. 1376-1418, Sp. 1377. Vgl. Kuhn, Hugo: Wolframs Frauenlob. In: ZfdA 106 (1977), S. 200-210, S. 208f. Ebd., S. 204. – »Ein litteratus wie Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg war Wolfram sicherlich nicht. Er hat sich mehrfach auf Gewährsleute und auf mündliche Vermittlung berufen. […] Auch das, was aus lateinischer Tradition stammt, muß nicht notwendig durch eigene Lektüre erworben worden sein. Es gab viele Wege, um mit lateinischer Bildung bekannt zu werden« (Bumke: Wolfram, S. 6). Bumke: Art. Wolfram, Sp. 1377.
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fiktion von Kyot und Flegetanis (453,11-455,22) sind mit der Aussage »ine kan decheinen buochstap« schwer zu vereinen.14 Des Weiteren wird das Werk Wolframs in die mittelalterliche deutsche Literatur situiert: Die Aussage geht wohl auf Halder zurück, ohne dass er explizit genannt würde: »Selbstverständlich gab es bedeutendere mittelalterliche Dichter als Wolfram von Eschenbach. Friedrich von Hausen war einer, Walther von der Vogelweide ein anderer.«15 Diese Aussage lässt sich weder aus den zeitgenössischen Zeugnissen belegen, noch spiegelt sie die Position der germanistischen Mediävistik wider. Es stellt sich daher die Frage, ob sie auf unzureichenden Informationen Bolaños beruht, seinen Umgang mit realen wie fiktiven Autoren demonstriert (tatsächlich dürfte für die meisten Leser Wolfram genauso fiktiv sein wie Archimboldi) oder die literarische Bildung des Baronsneffen Halder entlarven soll. In jedem Fall ist der Vergleich ungünstig gewählt, da Wolfram üblicherweise zusammen mit den beiden anderen großen Epikern des Hochmittelalters, Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg, genannt und verglichen wird. Unter diesen drei hat Hartmann die Rolle des Vorreiters inne, da er der erste ist, der Artusstoffe aus der altfranzösischen Literatur im Allgemeinen und mit dem Erec und dem Iwein Romane von Chrétien de Troyes im Besonderen ins Deutsche überträgt. Um die Rolle des größten Epikers konkurrieren Wolfram und Gottfried, wobei für ersteren nicht nur die weitaus größere Zahl an sein Werk überliefernden Handschriften spricht (87 gegenüber 30), sondern auch die Abgeschlossenheit seines opus magnum, des Parzival, im Gegensatz zum nach knapp 20000 Versen abbrechenden Tristan Gottfrieds. Die »bedeutendere[n] mittelalterliche[n] Dichter« sind dagegen beide nur als Lyriker (und Spruchdichter) bekannt. Dabei ist die Bedeutung Walthers von der Vogelweide natürlich unbestreitbar; Friedrich von Hausen gilt »als Haupt des rheinischen Minnesangs, der sich im Umkreis des staufischen Ho-
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»Textdetails verraten […] eine genaue Kenntnis seiner Vorlage, und es ist wohl auch von einer hohen fremdsprachlichen Kompetenz Wolframs und seiner Helfer auszugehen« (Velten, Hans Rudolf: Komik im Transfer. Zu Chrétiens ›Le Conte du Graal‹ und Wolframs ›Parzival‹. In: Ridder, Klaus (Hg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext: Tübinger Kolloquium 2012. Berlin 2014 (Wolfram-Studien, Bd. 23), S. 411-430, hier S. 412). Bolaño (D), S. 799. »Por supuesto, hubo poetas medievales alemanes más importantes que Wolfram von Eschenbach. Friedrich von Hausen es uno de ellos, Walther von der Vogelweide es otro« (S. 822).
Hans Reiters tumpheit
fes entwickelte«16 , einer Bewegung, die am Beginn, und, so die gängige Auffassung, vor dem eigentlichen Höhepunkt des deutschen Minnesangs mit Walther, Reinmar und Heinrich von Morungen steht und sich noch stark an das romanische Vorbild anlehnt. Doch auch Wolfram hat ein lyrisches Werk hinterlassen: Von ihm sind neun Minnelieder, davon fünf Tagelieder, überliefert, die somit zwar insofern eine gewisse Sonderrolle im mittelhochdeutschen Minnesang darstellen, nicht aber wie z.B. die Mädchenlieder Walthers und erst recht nicht die Sommerlieder Neidharts das höfische Ideal des Frauendiensts aufkündigen.17 Durch die Einführung des Wächtertagelieds in Deutschland kommt Wolfram auch als lyrischem Dichter eine herausragende Rolle zu; noch von den Meistersingern wurde er »zu den 12 Begründern ihrer Kunst«18 gezählt.19 Die erste Reaktion Halders auf Reiters Wahl ist, dass er das Buch nicht verstehen würde. Damit spielt er vermutlich nicht auf die historische Distanz zu der Entstehungszeit oder die altertümliche Sprache an (von einer mittelhochdeutschen Ausgabe ist kaum auszugehen), sondern bezieht sich auf den dunklen Stil Wolframs, den schon sein Zeitgenosse Gottfried von Straßburg parodierte, oder schlicht auf die mangelnde Bildung Reiters.20 Dessen ungeachtet liest dieser den Parzival mit Vergnügen: »Und während Halder ihm all diese Dinge über Wolfram erzählte, […] las Hans den Parzival von Anfang bis Ende durch«.21 Halder zieht darüber hinaus eine Parallele zwischen Wolfram und Reiter, indem er sagt, die beiden hätten mehr gemeinsam, als Reiter vielleicht jetzt
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Schweikle, Günther: Art. Friedrich von Hausen. In: Ruh, Kurt; Wachinger, Burghart u.a. (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 2. Berlin/New York 1980, Sp. 935-947, hier Sp. 939. »Die übrigen 4 Lieder sind Minnelieder, Werbungslieder im Stil des hohen Sangs, die sich vor allem durch ihre originelle Bildersprache auszeichnen« (Bumke: Art. Wolfram, Sp. 1381). Ebd. Bolaño muss Wolfram auch als lyrischer Dichter bekannt gewesen sein. Während seiner Zeit als Wehrmachtssoldat träumt Hans Reiter davon, dass der Reichsschriftsteller Hoensch ein Gedicht von Wolfram von Eschenbach rezitiere (s.u.). »Die Annahme einer ›Dichterfehde‹ zwischen Wolfram von Eschenbach und Gottfried hängt davon ab, ob man Gottfrieds Polemik gegen die vindaere wilder maere (Tristan 4663) im ›Literatur-Exkurs‹ des ›Tristan‹ auf Wolfram von Eschenbach bezieht« (Bumke: Art. Wolfram, Sp. 1379). Bolaño (D), S. 799. »Y mientras Halder le contaba todas estas cosas de Wolfram, […] Hans leyó de principio a final el Parsifal« (S. 822f.).
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bewusst sei. Die Aussage erweist sich im folgenden Erzählverlauf als »epische Vorausdeutung«, da Reiter sich später in den weltweit erfolgreichen und mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagenen Autor Benno von Archimboldi verwandelt. Durch sein Geschenk, dem weitere Bücher folgen, hat Halder jedenfalls großen Anteil an Reiters zunehmendem Interesse für Literatur. Der Parzival stellt in Reiters Leben den zweiten Schlüsseltext nach dem (fiktiven) Buch Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten (das einzige Buch im Kriegstornister, Bolaño [D], S. 811) und vor den Aufzeichnungen Anskys, die er in einem verlassenen Haus in der Ukraine findet, dar. Im Gedächtnis bleibt Reiter vor allem das Bild des unter seiner Rüstung Narrenkleider tragenden Parzival. Als der junge Königssohn nach der Begegnung mit drei prächtig gerüsteten Rittern aus dem Wald Soltâne, in dem er mit seiner Mutter Herzeloyde gelebt hat, aufbricht, zieht diese ihm Narrenkleider an, in der Hoffnung, er werde sich dadurch zum Gespött machen und zu ihr zurückkehren22 : »›der liute vil bî spotte sint. tôren kleider sol mîn kint ob sîme liehten lîbe tragn. wirt er geroufet unt geslagn, sô kumt er mir her wider wol.‹« (126,25-30)23 Herzeloyde hatte sich mit ihrem Sohn nach Soltâne zurückgezogen, weil sie aus Trauer über den Tod von Parzivals Vater Gahmuret im Turnier verhindern wollte, dass sich auch ihr Sohn dem gefährlichen Ritterdienst widmete.24 Aus dessen Aufwachsen fernab der höfischen Welt resultiert die tumpheit Parzivals, die bis zur Belehrung durch Gurnemanz sein Handeln bestimmt.25 Parzival tötet den Ritter Ither, da er meint, dessen Ausrüstung mache ihn zum 22 23 24
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Das Anlegen der Narrenkleider ist im Übrigen ein Zusatz Wolframs gegenüber seiner Quelle, dem Conte du Graal Chrétiens de Troyes (vgl. Bumke: Wolfram, S. 61). »›Die Leute spotten allzu gern – Torenkleider soll mein Sohn auf seinem schönen Körper tragen. Wenn er geknufft, geschlagen wird, kommt er vielleicht zu mir zurück.‹« »ê daz sich der [Parzival] versan,/ir volc si gar für sich gewan:/ez wære man oder wîp,/den gebôt si allen an den lîp,/daz se immer ritters wurden lût« (117,19-23). – »Bevor der denken lernte, rief sie ihre Leute zu sich, verbot den Männern wie den Frauen bei Todesstrafe, daß sie je von Rittern vor ihm sprächen.« In der Begegnung mit den Rittern begegnet erstmals der Ausdruck der tumpheit in der Beschreibung Parzivals: »Die ritter zurnden daz er [der Fürst] hielt/bî dem knappen der vil tumpheit wielt« (124,15f.). – »Die Ritter wurden ungeduldig: hielt sich mit dem Tölpel auf!«
Hans Reiters tumpheit
Ritter. Er lässt sich von dem Knappen Iwânet dessen Rüstung über seine Narrenkleider anlegen: »zwuo liehte hosen îserîn/schuohterm über diu ribbalîn« (157,7f.).26 Auf den Protest Iwânets, dass sich diese Kleidung für ihn nicht schicke, entgegnet er, dass von seiner Mutter stammende Gegenstände nicht schlecht sein könnten.27 Erst Gurnemanz, der »houbetman der wâren zuht« (162,23)28 , der ihm zentrale höfische Lehren mit auf den Weg gibt, kann ihn dazu bringen, diese abzulegen:29 »Parzival muß jetzt lernen, daß man erst durch ritterliche Erziehung zum Ritter wird.«30 Die Kombination von Rüstung und Narrenkleidern begleitet Parzival also auf seinem Weg von Nantes nach Graharz; im Roman umfasst diese Episode nur wenige Verse (die Abschnitte 161-165). Für Hans Reiter bieten diese Ereignisse den größten Anlass zur Belustigung: »Und was ihm am meisten gefiel, was ihn zu Tränen rührte und veranlasste, sich vor Lachen im Gras zu wälzen, war, dass Parzival gelegentlich sein Pferd bestieg (Ritterdienst ist mein Beruf ), unter seiner Rüstung aber sein Narrenkleid trug«.31 Auf die »tôren kleider« wird an zwei weiteren Stellen im »Teil von Archimboldi« wieder direkt Bezug genommen. Die erste Erwähnung findet sich in der Schilderung des Vordringens in Polen, kurz nach dem deutschen Einmarsch im Herbst 1939: »Es war in jenen Tagen, als sie unter der Sonne oder unter den ersten grauen Wolken, riesigen, unermesslichen Wolken, die einen denkwürdigen Herbst ankündigten, dahinmarschierten und sein Bataillon ein Dorf nach dem an-
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»Er streifte Ringelpanzerstrümpfe über seine Bauernstiefel.« »Iwânet sprach ›diu ribbalîn/sulen niht underem îsern sîn:/du solt nu tragen ritters kleit.‹ […] ›swaz mir gap mîn muoter,/des sol vil wênic von mir komn,/ez gê ze schaden odr ze fromn‹ (156,25-157,2). – »Iwanet: ›Bauernstiefel sehen unterm Eisen nicht gut aus – du mußt dich wie ein Ritter kleiden.‹ […] ›Was mir meine Mutter gab, das lege ich höchst ungern ab, egal, ob’s schadet oder nützt.‹« »Meister wahrer höfischer Erziehung.« Als Parzival an Gurnemanz’ Hof ankommt, erschrecken dessen Bedienstete: »schiere er muose entwâpent sîn./dô si diu rûhen ribbalîn/und diu tôren kleit gesâhen,/si erschrâken die sîn pflâgen« (164,5-8). – »Man zog ihm rasch die Rüstung aus; als nun seine Helfer die groben revelins entdeckten, das Torenkleid, erschraken sie.« Bumke: Wolfram, S. 60. Bolaño (D), S. 799. »Y lo que más le gustó, lo que lo hizo llorar y retorcerse de risa, tirado sobre la hierba, fue que Parsifal en ocasiones cabalgaba (mi estilo es la profesión del escudo) llevando bajo su armadura su vestimenta de loco« (S. 823).
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deren hinter sich ließ, dass Reiter dachte, unter seiner Wehrmachtsuniform trüge er ein Narrenkleid oder einen Narrenpyjama«.32 Die zweite Erwähnung steht im Kontext der Zurückbeorderung Reiters zu seiner Division im Jahr 1942 nach einem längeren Aufenthalt in dem ukrainischen Dorf Kostekino, in dem er die Aufzeichnungen des jüdischen Autors Ansky gefunden hatte: »Er zog durch den Kaukasus bis Budennowsk und durchquerte mit seinem Bataillon die Kalmückensteppe, Anskys Heft immer unter seinem Waffenrock verborgen, zwischen seiner Narrenkleidung und seiner Soldatenuniform«.33 Nun ist es Reiter selbst, der das Narrenkleid unter seiner Uniform trägt, wie Parzival unter seiner Rüstung. Die Bedeutung dieser Parallelität erscheint zunächst rätselhaft, zumal in der Parzival-Passage nur Parallelen zwischen Wolfram und Reiter, nicht zwischen Parzival und Reiter gezogen wurden. Anders als bei Parzival ist es im Falle Reiters nicht seine Mutter, die sich um ihn sorgt und ihm deshalb das Narrenkleid anzieht; Reiters Mutter bleibt insgesamt eine eher blasse Figur. Bei seinem Einzug zum Heer, der wiederum im Gegensatz zu Parzivals freiwilligen Auszug steht, wird er nicht einmal von seinen Freunden verabschiedet. Das Narrenkleid, das im Unterschied zu dem Parzivals nicht sichtbar ist, trägt er möglicherweise als Zeichen seines außergewöhnlichen Charakters, der sich zu dieser Zeit noch darin äußert, dass er sich bewegt, als ginge er auf dem Meeresgrund.34 Die beiden Narrenkleid-Stellen finden sich jeweils kurz nach der Schilderung des Einmarsches in Polen und in die Sowjetunion; während bei ersterem für Reiter alles ruhig verläuft und er kaum in Gefahr gerät, marschiert er beim zweiten Kriegszug trotz seiner Größe in den vordersten Reihen, lange
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Bolaño (D), S. 813. »Fue durante aquellos días, mientras caminaban bajo el sol o bajo las primeras nubes grises, enormes, interminables nubes grises que anunciaban un otoño memorable, y su batallón dejaba atrás aldea tras aldea, cuando Hans pensó que bajo su uniforme de soldado de la Werhmacht [sic!] él llevaba puesta una vestimenta de loco o un pijama de loco« (S. 837). Bolaño (D), S. 895. »Recorrió el Cáucaso hasta Budenovsk y viajó junto a su batallón por la estepa Kalmuka, siempre con el cuaderno de Ansky bajo la guerrera, entre su ropa de loco y su uniforme de soldado« (S. 923). »Hin und wieder tat er allein oder in Gesellschaft von Kameraden so, als wäre er ein Taucher und spazierte wieder über den Meeresgrund« (Bolaño [D], S. 816). – »En ocasiones, cuando estaba solo o con sus compañeros, fingía que era un buzo y que estaba otra vez paseando por el fondo del mar« (S. 841).
Hans Reiters tumpheit
Zeit ohne Verwundung. Somit könnte das Narrenkleid auch eine schützende Funktion haben.
II.
Reiters Lebenszeit und das Mittelalter
Die über den Parzival erfolgte Evokation des Mittelalters könnte als bewusste Kontrastsetzung zur Lebenszeit Hans Reiters gesehen werden: Während er seine Kindheit und frühe Jugend in einem preußischen Dorf in der Nähe des Meeres verbringt, kommt er nach seinem Schulabbruch zur Arbeit in das Landhaus des Barons von Zumpe, das bereits durch den adligen Besitzer, Bedienstete und die riesige Bibliothek mit alten Büchern einen schlossähnlichen Eindruck macht; die Beschreibung als Haus, »das mitten in einem Wald an einem See mit pechschwarzem Wasser lag«35 , stimmt sogar zum Teil mit der der Gralsburg Munsalwaesche überein.36 Mit dem Ende seines Dienstes verschlägt es Reiter erst in die Großstadt Berlin, dann auf die Schlachtfelder des zweiten Weltkriegs in die Ukraine, nach Polen und Russland, bis zur Kalmückensteppe am Kaspischen Meer und später im Nachkriegsdeutschland in die zerstörten Städte Köln und Hamburg. Mit den Weltkriegsschauplätzen und dem Chaos in den deutschen Städten der Nachkriegszeit kontrastiert der weite und zumeist menschenleere Raum, durch den sich Parzival und Gawan bewegen und in dem sie von Zeit zu Zeit einzelnen Rittern und einem Einsiedler begegnen oder auf ein Schloss stoßen. Es ist somit keine Überraschung, dass sich neben den bereits erwähnten Bezügen auf die Parzival-Passage entsprechende Assoziationen bei Hans Reiter einstellen, während er als Soldat an das rumänische Schloss abgestellt ist, in dem einst Graf Dracula gelebt hatte: »Er träumte, dass [Reichsschriftsteller] Hoensch ein Gedicht von Wolfram von Eschenbach rezitierte und dann Blut spuckte«37 . Die Verbindung zu der fiktiven Figur Hoensch erklärt sich auch durch die Begeisterung der Nationalsozialisten für Wagner und dessen Mittelalterrezeption, auf die in der35 36
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Bolaño (D), S. 792. »la casa de campo de un barón prusiano, una casa que quedaba en medio de un bosque, junto a un lago de aguas negras« (S. 814f.). »mit gewalt den zoum daz ros/truog über ronen und durchez mos:/wandez wîste niemens hant. […] er kom des âbnts an einen sê« (224,19f.; 225,2). – »Sein Roß ließ wild die Zügel schleifen über Stämme und durch Sumpf – es war da keine Hand, die lenkte. […] Er kam des Abends an einen See«. Bolaño (D), S. 825. »Soñó que Hoensch recitaba un poema de Wolfram von Eschenbach y que luego escupía sangre« (S. 850).
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selben Passage Bezug genommen wird; mit Wolframs Parzival taten sich nationalsozialistisch geprägte Philologen wegen der französischen Vorlage und den christlich-utopischen Aspekten allerdings schwer.38 Bemerkenswert ist an dieser Stelle auch, dass Hoensch eben nicht den Parzival rezitiert, sondern ein Gedicht. In der gleichen Episode werden im Zuge einer Diskussion über das Wesen Draculas durch den rumänischen General Entrescu wieder die deutschen Minnesänger und ein weiteres Werk der mittelalterlichen Literatur erwähnt: »ein stoischer Dracula, der Seneca las oder sich an den Liedern der deutschen Minnesänger erfreute und dessen Heldentaten im Osten Europas nur jene gleichkamen, die in der Chanson de Roland besungen werden«.39 Die Narrenkleider, die, statt unter der Rüstung Parzivals, unter der Wehrmachtsuniform Reiters getragen werden, erinnern über das tertium comparationis des Mittelalters an die in der höfischen Literatur geschilderten Schwertkämpfe und Turniere, die einen starken Gegensatz zu den Materialschlachten der beiden Weltkriege herstellen. Angesprochen werden auch der dem Hochmittelalter eigene Minnebegriff und die Glorifizierung der Frau im damit zusammenhängenden Minnedienst. Doch die Narrenkleider stehen im Parzival auch im Zusammenhang mit der Gewalt gegen Frauen. Bereits in der ersten Begegnung mit anderen Menschen außerhalb des Waldes Soltâne raubt der noch nur in Narrenkleidern gewandete Parzival40 Jeschute gegen ihren Willen Ring und Kuss, was dazu führt, dass sie von ihrem Ehemann Orilus des Ehebruchs verdächtigt und daher misshandelt wird (129,18-137,30). Hier ist einer der Belege für Parzivals 38
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Nationalsozialistische Altgermanisten bemühten sich zum Teil, »Parallelen zur alten nordischen Heldensage [zu] konstruieren, zweitens Aspekte aus der Heldensage heraus[zu]arbeiten, die für das Germanische typisch sein sollen und drittens [zu] zeigen, wie in Werken Wolframs alle diese Dinge miteinander zu einem großen Kunstwerk verbunden werden und somit die positiven Aspekte der höfischen Kultur durch Wolframs Umarbeitung nichts mehr mit der französischen Vorlage zu tun haben« (Wagemann, Holger: Die Marburger Deutsche Philologie des Mittelalters. In: Köhler, Kai; Dedner, Burghard u. Strickhausen, Waltraud (Hg.): Germanistik und Kunstwissenschaften im ›Dritten Reich‹: Marburger Entwicklungen 1920-1950. München 2005, S. 233-250, hier S. 245f.). Bolaño (D), S. 832. »un Drácula que leía Séneca o que se complacía en oír a los Minnesänger alemanes y cuyas hazañas en el este de Europa sólo tenían parangón con las gestas descritas en La chanson de Roland« (S. 858). In Jeschutes Erzählung: »dâ kom ein tôr her zuo geriten« (133,16). – »ein Irrer kam hierher geritten!«
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tumpheit zu finden: »Parzivals gewalttätiges Verhalten gegenüber der Herzogin illustriert seine tumpheit und seine Unfähigkeit, die Minnelehre der Mutter richtig anzuwenden.«41 Auch dem Fräulein Cunneware verursacht Parzival Leid, da sie bei seinem Eintreffen entgegen ihres Schweigegelübdes lächeln muss und vom Seneschall Keie gezüchtigt wird: »allez lachen si vermeit, unz daz der knappe für si reit: do erlachte ir minneclîcher munt. des wart ir rükke ungesunt« (151,17-20).42 Parzival verschafft Cunneware später Genugtuung, indem er alle auf seinen Reisen besiegten Ritter zu ihrem Dienst verpflichtet. Auch innerhalb der Gawanhandlung werden mehrfach Gewalttaten gegen Frauen thematisiert, vor allem in der Person des Fürsten Urjans, den Gawan der Vergewaltigung beschuldigt und den er selbst gefangen genommen und vor Artus geführt hatte: »von schildes ambet man dich schiet und sagte dich gar rehtlôs, durch daz ein magt von dir verlôs ir reht, dar zuo des landes vride« (524,24-27).43 Sarah Westphal-Wihl arbeitet heraus, dass Gawan Urjans an dieser Stelle nicht nur der Vergewaltigung anklagt, sondern auch der Verletzung des »peace of the realm«, der vor bestimmten Delikten schützte. Zu diesen 41
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Bumke: Wolfram, S. 57f. Albrecht Classen weist darauf hin, dass Parzival später sein Verhalten bedauert und in der erneuten Begegnung mit Jeschute und Orilus zeigt, »dass der Protagonist hier als Verteidiger der Frauen sogar gegen deren Ehemänner auftritt, denn er zwingt Orilus, nachdem er ihn glorreich besiegt hat, sich wieder mit Jeschute zu versöhnen, die er fraglos furchtbar gequält hat.« Vgl. Classen, Albrecht: Diskursthema ›Gewalt gegen Frauen‹. In: Greule, Albrecht (Hg.): Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag gewidmet. St. Ingbert 2008, S. 49-62, hier S. 56. Classen schließt daraus, dass der Erzähler im Parzival »sehr bedacht darauf [insistiere], dass Mann und Frau einander anerkennen und gleichwertig behandeln müssen, bevor sie ein erfülltes Eheleben zu führen vermögen« (ebd., S. 58). »Drum hatte sie noch nie gelächelt – bis dieser Junge vor sie ritt: ihr schöner Mund begann zu lächeln. Das war für ihren Rücken schlimm.« »Man stieß dich aus dem Ritterstand, das Ritterrecht ward dir entzogen, denn einer Jungfrau raubtest du ihr Recht, den Schutz des Landesfriedens.«
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zählten u.a. »attacks on women, particularly attacks of a sexual kind, since women were a protected group under the peace.«44 Gawans Weg führt ihn zur Befreiung von vier Königinnen und vierhundert Jungfrauen, die in Schastel marveile von Clinschor gefangen gehalten werden.45 Dieser Umstand war bereits durch Kundrie berichtet worden, gleich nach ihren Anschuldigungen gegen Parzival wegen der versäumten Frage am Gralshof. Auch dieser Bericht enthält einen Vorwurf an die Artusritter: »si sprach ›ist hie kein rîter wert, des ellen prîses hât gegert, unt dar zuo hôher minne? […]‹« (318,13-15).46 Obwohl Gawan nicht unverzüglich zur Befreiung der Gefangenen aufgebrochen ist, kommt es dennoch zu einem versöhnlichen Verlauf. Insgesamt verläuft der Komplex der Gewalt gegen Frauen im Parzival daher letztlich ordnungsstabilisierend: Zwar wird Frauen mehrfach Gewalt angetan, es ist aber eindeutig markiert, dass es sich um einen Ordnungsverstoß handelt, der sanktioniert werden muss. Gewalt gegen Frauen ist wiederum der Inhalt des umfangreichsten Teils im Gesamtroman 2666, des »Teils von den Verbrechen«. Und tatsächlich scheint bereits in der Einleitung der Parzival-Passage die Anbindung an diese Thematik auf, wenn es heißt, Reiter habe sich dafür entschieden, aus der Bibliothek des Barons den Parzival auszuwählen, »wie es der Zufall oder der Teufel wollte«47 , und die Unterweisung Halders erfolge, »um ihn, sagen wir, an den Ort des Verbrechens zu versetzen«48 .
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Westphal-Wihl, Sarah: Orgeluse and the Trial for Rape at the Court of King Arthur: Parzival 521,19 to 529,16. In: Arthuriana 20 (2010), H. 3, S. 81-109, hier S. 86. Interessant ist hier wieder der Vergleich mit Chrétiens Conte du Graal: In der französischen Vorlage sind es »500 Edelfrauen und 500 Männer«, die darauf warten, »daß ein Ritter kommt, der den Zauber bricht und Herr des Landes wird« (Bumke: Wolfram, S. 101). »›Ist hier denn kein edler Ritter, dessen Mut den Ruhm begehrte und dazu noch Hohe Liebe? […]‹« Bolaño (D), S. 798. »El azar o el demonio quiso« (S. 822). Bolaño (D), S. 799. »como si dijéramos para situarlo en el lugar del crimen« (S. 823).
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Die Schilderung der Frauenmorde in Santa Teresa49 , der »Teil von den Verbrechen«, steht im Zentrum des Romans 2666. Die drei vorausgehenden Teile laufen darauf zu: Im »Teil der Kritiker« gelangen Pelletier, Espinoza und Norton auf den Spuren Archimboldis nach Mexiko und erfahren dort von den Morden, was für Norton der Grund für ihre Abreise ist; im »Teil von Amalfitano« stehen die Morde im Hintergrund und werden vor allem durch seine Wahrnehmung der Stadt und seine Sorge um die Tochter offenbar; im dritten Teil gelangt der Journalist Fate in die Stadt, weil er über einen Boxkampf berichten soll, wo er über die Kollegen Guadalupe Roncal und den möglicherweise nicht ganz unbeteiligten Chucho Flores von den Morden erfährt. Bereits in diesen drei Teilen demonstrieren verschiedene Episoden das Misslingen von Liebesbeziehungen sowie die sexuelle Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen. Begonnen wird diese Reihe mit der Dreiecksbeziehung von Pelletier, Espinoza und Norton und der ›Huren-Episode‹ der beiden Männer;50 nach der Abreise Nortons aus Santa Teresa lernt der Literaturprofessor Espinoza die junge Straßenverkäuferin Rebeca kennen, was zunächst in eine gleichberechtigte Beziehung zu münden scheint. Bei zunehmender Annäherung behandelt er aber auch Rebeca wie eine Prostituierte, indem er sie 49
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Der Name Santa Teresa wird bereits in Bolaños Roman Die wilden Detektive (Los detectives salvajes) verwendet und steht für die nordmexikanische Stadt Ciudad Juarez, in der die realen Frauenmorde stattfanden, die die Vorlage für den »Teil von den Verbrechen« bildeten. Bei Bolaños sonstiger sorgfältiger Namensgestaltung liegt es nahe, auch hier die Wahl des Namens zu betrachten. Die Namenspatronin, die heilige Teresa von Ávila, ist für ihre besondere Unschuld bekannt. Möglicherweise beabsichtigt Bolaño damit, einen weiteren Hinweis auf die Unschuld der getöteten Frauen an ihrem Schicksal zu geben, die von den Ermittlern in seinem Werk so oft bestritten wird. Die heilige Theresa ist zudem die Patronin der hispanischen Schriftsteller und stellt somit auch eine Verbindung zur Literatur als wichtigem zweiten Schwerpunkt des Romans her. Dieser Befund lässt sich auch für den Roman Die wilden Detektive bestätigen: »Bolaños Texte und insbesondere dieser Roman reflektieren das Schreiben, das Lesen, die Literatur nahezu obsessiv mit« (Kottow, Andrea: Der literarische Kanon als Vexierspiel im Werk Roberto Bolaños. In: Broggi-Wüthrich, Francesca; Matthey, AnneChristelle; Necker, Heike u.a.: Konstruktionen, Dekonstruktionen, Rekonstruktionen [Akten 2. Dies Romanicus Turicensis (Zürich, 26. – 27. November 2004)]. Aachen 2006, S. 257-269, hier S. 260). »Das Erlebnis mit den Nutten, eine neue Erfahrung in ihrem Leben, wiederholten sie in verschiedenen europäischen Städten, und schließlich wurde es auch zu Hause Teil ihres Alltags« (Bolaño [D], S. 106). – »La experiencia con las putas, algo nuevo en sus vidas, se repitió varias veces en distintas ciudades europeas y finalmente terminó por instalarse en la cotidianidad de sus respectivas ciudades« (S. 110).
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wie eine solche kleidet und ihr nach gemeinsam verbrachter Nacht Geld zusteckt.51 Im »Teil von Amalfitano« wird die schwärmerische Selbstauslieferung von Amalfitanos Frau an einen geisteskranken Dichter geschildert, an der sie zugrunde geht. Im »Teil von Fate« zeigt sich bei mehreren Begegnungen mit Bewohnern von Santa Teresa ein gleichgültiger, machistischer und teilweise gewaltsamer Umgang mit Frauen u.a. in der Szene in einer Diskothek nach dem Boxkampf.52 Neben Hans Reiters Beziehung zu Ingeborg kann Fate als einziger positiver Gegenentwurf zur sonstigen Behandlung von Frauen durch Männer im Gesamtroman 2666 gelten. Auf gleichsam ritterliche Weise rettet er Amalfitanos Tochter Rosa aus den Händen mehrerer Männer, die möglicherweise in die Produktion von Snuff-Movies und vielleicht sogar in die Mordserie in Santa Teresa verwickelt sind. Einen Bezug von Fates Handeln zu mittelalterlichen Tugendvorstellungen ergibt sich über die Selbstbetrachtung Amalfitanos, der sich auf seinem Anwesen als Feudalherr und seine Tochter als Prinzessin sieht: Er erinnert sich später an den Nachmittag, »da er wie ein mittelalterlicher Feudalherr die Brache seines geschrumpften Grund und Bodens abschritt, während seine Tochter wie eine mittelalterliche Prinzessin vor dem Badezimmerspiegel ihre Toilette verrichtete«53 . Dass sich Amalfitano in 51
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Die Schilderung der gemeinsam verbrachten Nacht zeigt durch die Art der Aufzählung sowohl gleichgültige als auch brutale Züge: »An diesem Abend nahm er Rebeca mit ins Hotel, und nachdem sie zusammen geduscht hatten, zog er ihr einen Tanga an, Strapse, schwarze Seidenstrümpfe, einen schwarzen Body, schwarze hochhackige Stöckelschuhe und vögelte sie, bis sie nur noch ein kleines zitterndes Etwas in seinen Armen war« (Bolaño [D], S. 195). – »Esa noche se llevó a Rebeca al hotel y después de ducharse juntos la vistió con un tanga y ligueros y medias negras y un body negro y zapatos de tacón de aguja de color negro y la folló hasta que ella no fue más que un temblor entre sus brazos« (S. 201). – Auch die Beziehung von Rosa Amalfitano zu Chucho Flores läuft nach anfänglich gleichberechtigter und romantischer Beziehung auf eine von Eifersucht und einseitiger Fixierung geprägte Dominanz des Mannes hinaus (Bolaño [D], S. 401-414). »Fate […] sah, wie in einer Ecke des Raums ein Mann eine Frau ohrfeigte. Die erste Ohrfeige riss den Kopf der Frau brutal herum, die zweite warf sie zu Boden. Ohne nachzudenken, versuchte Fate, dorthin zu gelangen, aber jemand hielt ihn am Arm fest« (Bolaño [D], S. 391). – »Fate […] vio que en una esquina de la sala un hombre abofetaba a una mujer. La primera bofetada hizo que la cabeza de la mujer girara violentemente y la segunda bofetada la lanzó al suelo. Fate, sin pensar en nada, intentó moverse en esa dirección, pero alguien lo sujetó de un brazo« (S. 401). Bolaño (D), S. 237. »en que recorrió como un latifundista medieval su reducido fundo baldío, mientras su hija, como una princesa medieval, se terminaba de maquillar ante
Hans Reiters tumpheit
eine mittelalterliche Szenerie versetzt sieht, wird auch dadurch deutlich, dass er die Mauer zum Grundstück seines Nachbarn, den er als »Feudalherr des Nachbarhauses« bezeichnet, »Brustwehr« nennt.54 Wenn der Parzival eine entscheidende Wirkung auf Hans Reiter ausgeübt hat, dann ist sein Verhalten gegenüber seiner Freundin Ingeborg eine Nachahmung des wahren Minnedienstes, wie er im Parzival mehrfach, vor allem aber durch das Verhältnis zwischen Sigune und Schionatulander, bezeugt wird. Im Gegensatz zu Sigune bleibt Reiter nach Ingeborgs Tod allerdings nicht trauernd zurück, sondern unterhält eine jahrelange Affäre mit der Baronesse von Zumpe. Auch Gawan, der Protagonist der Bücher VII-VIII und XI-XIV, erweist sich immer wieder als vollendeter Minneritter, der verschiedenen Frauen dient und erst am Ende des Romans die Ehe mit Orgeluse eingeht. Parzival verlässt zwar seine schwangere Frau Condwiramurs, wie einst auch sein Vater Gahmuret seine erste Frau, die Heidin Belakane, deren Liebestod er damit verschuldet hat (750,24f.), kehrt aber zu ihr zurück und macht sie zur Gralskönigin. Mit Parzival teilt Hans Reiter auch die Änderung seines Namens in Verbindung mit einem Mord. Parzival zieht zunächst aus dem schützenden Wald Soltâne, in dem er mit seiner Mutter gelebt hat, aus, ohne seinen eigenen Namen zu kennen. Er begegnet Sigune, die ihm seinen emblematischen Namen mitteilt: »ir rôter munt sprach sunder twâl/’deiswâr du heizest Parzivâl./der nam ist rehte enmitten durch« (140,15-17).55 Vor dem Artushof trifft er auf Ither, den er mit einem Wurfspieß tötet, um seine Rüstung zu erhalten. Von Ither übernimmt er nicht nur die rote Rüstung, sondern ihm wird auch der ehemals von jenem geführte Beiname ›Roter Ritter‹ übertragen (170,6).56 Reiter dagegen tötet den ehemaligen Regierungsbeamten Leo Sammer, nachdem
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el espejo del baño« (S. 244). Die Formulierung findet sich schon ein paar Seiten vorher, als Amalfitano auf den Hof seines Hauses tritt »wie ein Feudalherr, der ausreitet, um die Herrlichkeit seiner Ländereien zu begutachten« (Bolaño, S. 232). – »como un señor feudal sale a caballo a contemplar la magnitud de sus territorios« (S. 239). Bolaño (D), S. 252f. Die spanischen Entsprechungen lauten »el señor feudal de la casa vecina« und »barda« (S. 259). »Sie sagte gleich mit rotem Mund: ›Wahrlich, du heißt Par-zi-val, und dies bedeutet: Mit-ten-durch!« »Das visuelle Signum des Roten Ritters, die rote Rüstung, in der Parzival über weite Strecken seine Heldentaten vollbringt, erinnert (schon in den Diskursen des Romans etwa Parzivals Oheim Trevrizent) an das Kainsmal, das seinen Träger aus der menschlichen Kommunikationsgemeinschaft ausschließt, denn als Roter Ritter bleibt jener Verwandtenmord im Gedächtnis, durch den Parzival in Besitz der roten Rüstung kam«
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ihm dieser von seiner Verwicklung in die Schoah erzählt hat, und wählt danach als Tarnnamen das Pseudonym Benno von Archimboldi.57 In verschiedenen Gesprächen wird die Wahl dieses Namens diskutiert, wobei stets die Verbindung zu dem italienischen Maler des Manierismus Arcimboldo hergestellt wird.58 Die Kenntnis desselben wird Reiter durch die Aufzeichnungen Anskys vermittelt, von dem es heißt: »Wenn er nicht mehr konnte, kam Ansky auf Arcimboldo zurück«.59 Wenn nun bereits der Nachname literarisch beeinflusst ist, so könnte dies auch für die Annahme des Adelsprädikats gelten. Wenn davon ausgegangen wird, dass Wolframs Parzival den zweiten wichtigen literarischen Einfluss auf Reiter ausgeübt hat, so kann durchaus vermutet werden, dass die dreigliedrige Form seines Pseudonyms auf Wolfram von Eschenbach zurückgeht. Entsprechend vehement verteidigt Reiter die Integrität seines Namens: »›Mein Name ist Benno von Archimboldi‹, sagte Reiter, ›und wenn Sie glauben, ich mache Witze, ist es wohl besser,
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(Roussel, Martin: Parzivals Name. In: Börnchen, Stefan; Mein, Georg u. Roussel, Martin (Hg.): Name, Ding. Referenzen. München 2012, S. 19-37, hier S. 19). Elmore: 2666, S. 290f. stellt einen Zusammenhang von Reiters Namen zu dem eines im NS-Gesundheitsministeriums beschäftigten Beamten her: »El escritor que crea Bolaño es, curiosamente, homónimo de un intelectual y funcionario nazi.« Er gesteht zwar zu, dass Reiter »ni la biografía ni las ideas« mit jenem teile, schreibt aber: »Sin embargo, el motivo de la salud y la problemática del cuerpo calan profundamente tanto a 2666 como al personaje de Bolaño.« Diesem Urteil kann ich mich nicht anschließen. Vielmehr scheint mir auch im Namen Reiters ein Zusammenhang mit der Welt Parzivals aufzuscheinen: »nhd. reiter geht zurück auf mhd. rîtære, rîter, ahd. rîtari« (DWB 14,777). Als die Literaturwissenschaftlerin Liz Norton das erste Buch von Archimboldi liest, macht sie sich Gedanken über seinen Namen: »Wie war es möglich, fragte sie den Freund, dass ein deutscher Autor wie ein Italiener hieß und trotzdem ein von vor dem italienischen Nachnamen trug, was auf adlige Abstammung hindeutete?« (S. 20, Kursivierung im Original) – »¿cómo era posible, le preguntó a su amigo, que existiera un escritor alemán que se apellidara como un italiano y que sin embargo tuviera el von, indicativo de cierta nobleza, precediendo al nombre?« (S. 22). Bolaño (D), S. 890. »Cuando ya no podía más, Ansky volvía a Arcimboldo« (S. 917). Elmore: 2666, S. 272 führt die Namensfindung ausschließlich auf Ansky zurück: »Benno von Archimboldi descubre su vocación y hasta su nuevo nombre leyendo el cuaderno del desaparecido escritor judío Boris Abramovich Ansky.« Fragero Guerra, Carmen: La novela popular y 2666 (2004) de Roberto Bolaño. In: Anales de Literatura Hispanoamericana 41 (2012), S. 245-264, hier S. 257 erkennt dagegen »una simbología, aunque más rebuscada y sofisticada, ya que el pintor Archimboldo en sus pinturas funde lo vegetal con lo humano, al modo de Reiter en su persona.«
Hans Reiters tumpheit
ich gehe wieder‹«60 . Auch sein Verleger Bubis bezweifelt die Echtheit seines Namens: »›Sie wollen mir Ihren wahren Namen also lieber nicht sagen?‹ ›Benno von Archimboldi‹, sagte Archimboldi und sah ihm ins Gesicht«61 . Der von Reiter begangene Mord, der ihn später zu Archimboldi werden lässt, ist zweifellos der gerechtere. Für beide, Archimboldi wie Parzival, hat der Mord aber eine initiationsartige Bedeutung, denn auch Parzival wird erst durch den Mord an Ither zum Träger einer Rüstung und eines Schwertes, das er bis zum Kampf gegen seinen Bruder Feirefiz, also kurz vor der Berufung zum Gralskönig, verwendet. Auch wenn er seinen Namen schon erfahren hatte, bevor er Ither begegnet ist, erhält er daraufhin einen neuen. Für beide Protagonisten sind (erster) Mord und Namensänderung wichtige Schritte auf dem Weg zu ihrer jeweiligen Bestimmung.
III.
Die Suche als Oberthema im Parzival und in 2666
Mit dem Motiv der Suche gibt es neben der Parzival-Passage, den darauf verweisenden Zitaten und sonstigen Anklängen an das Mittelalter eine weitere Verbindung zwischen den beiden Romanen. Wie Bolaños 2666 besteht auch Wolframs Parzival aus mehreren Teilen: Auf die Geschichte von Parzivals Vater Gahmuret (Buch I und II) folgt die Geschichte Parzivals (Buch III-VI, IX-XII und XV-XVI), die durch die Abenteuer Gawans durchflochten ist. Im letzten Buch tritt Feirefiz als gleichberechtigte Hauptfigur neben Parzival, so dass man von insgesamt vier Protagonisten sprechen kann. Die Suche ist damit ein zentrales Thema im Parzival: Nach Parzivals Auszug aus dem Wald, in dem er mit seiner Mutter Herzeloyde gelebt hatte, verschlägt es ihn an den Gralshof, einen mystischen Ort, an dem er versäumt, dem schwerverwundeten Anfortas die Frage zu stellen, die zu seiner Heilung führen würde. Bei seiner Rückkehr an den Artushof wird er von der zwischen den Welten der Grals- und der Artusgesellschaft wandernden Gralsbo60
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Bolaño (D), S. 951. »–Mi nombre es Benno von Archimboldi, señor –dijo Reiter–, y si usted cree que estoy bromeando lo mejor será que me vaya« (S. 981). – Den Namen legt sich Reiter zu, als er eine Schreibmaschine leihen möchte, um seinen ersten Roman abzutippen. Im Roman wird im Anschluss an dieses Gespräch der Name Reiter nicht mehr verwendet. Bolaño (D), S. 983 (Kursivierung im Original). »–¿De verdad no prefiere decirme su verdadero nombre? – Benno von Archimboldi –dijo Archimboldi mirándolo a los ojos« (S. 1013).
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tin Kundrie aufgesucht und beschimpft. In seiner darauffolgenden Depression beginnt er seine Suche, die über acht Bücher erzählt wird und mit dem Wiederfinden des Gralshofs – dorthin geführt durch Kundrie – endet. Auch Gawan, der ursprünglich kurz nach Parzival vom Artushof aufgebrochen war, um einer Forderung zum Zweikampf (durch Kingrimursel) nachzukommen, wird nach verschiedenen Verwicklungen auf die Suche nach der Gralsburg verpflichtet: »dâ wart diu suone gendet unt Gâwân gesendet an dem selben mâle durch strîten nâch dem grâle« (428,23-26).62 Die beiden Freunde und Artusritter vereint somit die Suche nach der Gralsburg, gemeinsam mit den besiegten Gegnern Parzivals, die dieser nach siegreichem Lanzengang ebenfalls auf dieses Ziel verpflichtet (Vergulaht, Liddamus). Bolaño hatte ursprünglich geplant, seinen Roman in fünf Einzelbänden zu veröffentlichen. Sein Verlag sowie seine Familie und seine Freunde entschieden sich jedoch nach seinem Tod für eine Gesamtausgabe. Die einzelnen Teile werden einerseits durch die Figur des Autors Benno von Archimboldi verbunden, der allerdings erst im letzten Teil selbst in Erscheinung tritt. Doch ist er im »Teil der Kritiker« als Referenz der vier Protagonisten stets präsent. Durch ihre Reise nach Mexiko und den im dritten Teil eingeführten Klaus Haas, dessen Verhaftung im vierten Teil berichtet und von dem erst im fünften Teil mitgeteilt wird, dass er Archimboldis Neffe ist, werden nicht nur diese scheinbar abgekoppelten Teile an den ersten und letzten Teil angeschlossen, sondern auch eine räumliche Annäherung vollzogen, indem der Autor selbst sowie die ihm nachreisenden Kritiker nach Mexiko gelangen.63
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»Und so fand die Versöhnung statt. Zum gleichen Zeitpunkt wurde Gawan auf den Weg geschickt, weil er den Gral erkämpfen sollte.« Eine Verbindung zwischen Amerika und Europa wird zudem hergestellt durch den aus Chile zunächst nach Spanien und später nach Mexiko ausgewanderten Philosophieprofessor Amalfitano, Hauptfigur des zweiten Teils, der als »Fachmann für Benno von Archimboldi« (Bolaño [D], S. 146 – »experto en Benno von Archimboldi«, S. 150f.) vorgestellt wird; durch dessen Wohnort in Santa Teresa und die Furcht um seine Tochter vollzieht sich die Überleitung zum »Teil von den Verbrechen«, dem der »Teil von Fate« zwischengeschaltet ist, welcher eher als Fortsetzung des »Teils von Amalfitano« wirkt.
Hans Reiters tumpheit
Andererseits spielt hier das Moment der Suche eine entscheidende Rolle: Der gesamte vierte »Teil von den Verbrechen« schildert die Suche nach dem oder den Verantwortlichen für die nicht abreißende Serie von Frauenmorden. Doch auch im »Teil der Kritiker« steht eine Suche im Mittelpunkt, die zunächst die interpretatorische Annäherung der vier Literaturwissenschaftler an das Werk Archimboldis bedeutet, schließlich aber in »die (diesmal definitive) Suche«64 nach der Person Archimboldis mündet: »se involucran (con la sola excepción de Morini) en un peregrinaje hacia la oculta presencia del Autor.«65 Die Suche nach dem Autor ist auch ein Ergebnis der akademischen Konkurrenz zur vermeintlich zweitbesten Forschergruppe in der ArchimboldiForschung, den Deutschen Schwarz, Borchmeyer und Pohl. Die Kritiker finden in Santa Teresa nicht den Schriftsteller, sondern erfahren von den Verbrechen. Trotz der unheimlichen Stimmung in der Stadt können sich Pelletier und Espinoza nicht von ihr lösen, was mutmaßlich auch zur endgültigen Entscheidung von Norton führt, sich von den beiden zu trennen. Während die Protagonisten im »Teil der Kritiker« in ihrem wissenschaftlichen Ehrgeiz das Geheimnis des anonym bleiben wollenden Schriftstellers Archimboldi lüften wollen, wird die im »Teil von den Verbrechen« geschilderte Suche nach den für die Morde in Santa Teresa Verantwortlichen von den Behörden nur sehr zögerlich vorangetrieben. Parzival dagegen tritt nach der Erkenntnis seines folgenschweren Fehlers in der Gralsburg eine Suche an, die eigentlich nicht erfolgreich sein kann, da es üblicherweise nur eine Chance auf das Stellen der erlösenden Frage gibt.
IV.
Konklusion
Die Kenntnis des Parzival bedeutet für Hans Reiter den ersten Kontakt mit narrativer Literatur und damit einen ersten Schritt auf dem Weg der Verwandlung in Benno von Archimboldi. Die durch die Lektüre empfangenen Einflüsse schlagen sich auf verschiedene Weise in seinem Charakter nieder. Das aus dem Parzival entnommene Bild der Narrenkleider steht auch bei Hans Reiter für die Phase der tumpheit – mit dem Unterschied, dass bei Reiter der Mord am Ende dieser Phase steht, da er eine eigenständige Haltung
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Bolaño (D), S. 139. »la búsqueda, esta vez definitiva« (S. 144). Elmore: 2666, S. 267.
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symbolisiert. Parzival entwickelt sich in der Zeit der tumpheit zum Ritter, Reiter zum Schriftsteller. Zu dieser Entwicklung trägt auch die Kenntnis des von Wolfram vermittelten autodidaktischen Autorbildes entscheidend bei, auch wenn davon auszugehen ist, dass dieses Autorbild als zum Teil ironisch und überzeichnet zu verstehen ist. Durch die Miteinbeziehung des deutschen Mittelalters wird der universale Anspruch des Romans 2666 bekräftigt, der bereits im Titel mit Hilfe der bekannten und von Ignacio Echevarría in seiner Anmerkung zur spanischen Erstausgabe genannten Erwähnung in Bolaños Amuleto deutlich wird.66
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Das Jahr 2000 mit der Jahrtausendwende war mit zahlreichen Ängsten und Befürchtungen verbunden. Die Verbindung mit der biblischen Zahl des Bösen (Offenbarung 13,18) könnte auf eine apokalyptische Vision verweisen: »The number on the title evokes apocalyptic evil« (Barberán Reinares, Laura: Globalized Philomels: State Patriarchy, Transnational Capital, and the Fermicides [sic!] on the US-Mexican Border in Roberto Bolaño’s 2666. In: South Atlantic Review 75 (2010), H. 4, S. 51-72, hier S. 70, Fußnote 6). Hans Reiter ist im Jahr 1920 geboren; im Jahr 2000 ist er folglich 80 Jahre alt. Da dies in vielen Fällen als das höchste natürlich zu erreichende Alter gesehen wird, ergibt sich auch für ihn eine besondere Bedeutung des Jahres 2000. Zum Zeitpunkt seiner Reise nach Mexiko wird er als über achtzig bezeichnet (vgl. S. 138).
Roberto Bolaños Novelle Nocturno de Chile (2000) und Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil (1945) Gabriele Eckart
Dieser Beitrag ist ein Versuch, Roberto Bolaños Beziehung zu Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil zu umreißen. Der chilenische Autor bezieht sich m.E. nirgendwo direkt auf Hermann Broch, er war jedoch ein eifriger Vergil-Leser und eine parallele Lektüre der Romane Der Tod des Vergil1 und Nocturno de Chile lässt keinen Zweifel daran, dass er Brochs Text kannte und kreativ rezipierte. Dass er Vergil-Texte verschlang, sagt er in einem Interview: »Leo con mayor placer a Virgilio que a Dante«.2 Dass er sicherlich bei seinem starken Interesse für Vergil auf Hermann Brochs Roman gestoßen ist und ihn mit Gewinn gelesen hat, wird deutlich an der Struktur beider Texte (auf dem Sterbebett blickt ein Autor im Fieberdelirium auf sein Leben zurück) sowie an der sehr ähnlichen kritischen Diskussion des Themas Ästhetizismus. Beide Texte beschreiben eine Rückschau auf bewegte Leben im Fieber. Brochs etwa 530 Seiten langer Roman handelt von der Rückkehr des lungenkranken, bluthustenden römischen Dichters Vergil nach Brundisium nach einer anstrengenden Seereise und die Stunden bis zu seinem Tod. Diese Stunden sind gefüllt mit Erinnerungen an sein Leben, Reflexionen über Leben, Tod und die Aufgabe der Kunst sowie mit Gesprächen mit Sklaven, Freunden und dem Kaiser Augustus. Bolaños etwa 150 Seiten lange Novelle stellt die Rückschau eines chilenischen Dichters, der auch Kritiker und Priester ist, auf des1
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Die erste spanische Übersetzung von Brochs Roman (Übersetzer Arístides Gregori) erschien bereits 1946 in Buenos Aires unter dem Titel La muerte de Virgilio. Bolaño hat wahrscheinlich die Neu-Übersetzung von J.M. Ripalda gelesen, die 1979 in Madrid erschien und teilweise auf Gregoris Übersetzung basiert. Braithwaite, Andrés (Hg.): Bolaño por sí mismo. Entrevistas escocidas. Santiago de Chile 2006, S. 103.
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sen Leben dar. Auch er liegt auf dem Sterbebett, während er Rückschau hält. Neben den fieberhaften Erinnerungen und Reflexionen gibt es kurze Dialoge mit einem vergreisten Knaben, der ihm fehlende Verantwortung im Leben – vor allem während der Diktatur von Augusto Pinochet – vorwirft. In beiden Texten geht es hauptsächlich um die Berechtigung der Literatur; sie sind metaliterarische Kommentare. Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden sterbenden Männern, Vergil und Sebastián Urrutia Lacroix, besteht darin, dass Vergil beim Nachdenken über die moralischen Grenzen der Literatur selbstkritisch ist. Wie Paul Michael Lützeler zu Recht sagt, überhäuft sich Brochs Vergil »mit Selbstvorwürfen, dass er ein Leben abgetrennt von den sozialen und politischen Konflikten seiner Zeit geführt habe, dass er nur innerhalb eines ästhetisch-literarischen Bereichs und dessen Wertvorstellungen verblieben sei«.3 Statt etwa gegen die grausamen Volksbelustigungen in der Arena Roms, mit Gladiatorenkämpfen und wilden Tieren, die Menschen zerreißen, aufzubegehren, nicht zu reden von den zunehmenden brutalen Kreuzigungen unbotmäßiger Sklaven, verkapselte er sich in seiner literarischen Arbeit, deren Ergebnis er als »Plunder«4 bezeichnet. Urrutia Lacroix dagegen ist nicht selbstkritisch; er versucht sich über sein Schweigen angesichts der grausamen Folterung politischer Gefangener herauszureden, etwa so: »Yo hubiera podido decir algo, pero yo nada vi, nada supe hasta que fue demasiado tarde. ¿Para qué remover lo que el tiempo piadosamente oculta?«5 Bolaño sagt in einem Interview über diesen Text: »lo que me interesaba era la falta de culpa de un sacerdote católico. La frescura admirable de alguien que por formación intellectual tenía que sentir el peso de la culpa.«6 Im gleichen Interview fügt er hinzu: »Vivir sin culpa es abolir la memoria, perpetuar la cobardía.«7 Als eine Folge davon strotzt Urrutia Lacroix’ Rückschau auf sein Leben, ganz im Gegensatz zu der Rückschau Vergils, von Erinnerungslücken und Ausflüchten. Wie aber
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Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch und die Moderne. München 2011, S. 17. Broch, Hermann: Der Tod des Vergil. Frankfurt a.M. 1976, S. 230. Bolaño, Roberto: Nocturno de Chile. Barcelona 2000, S. 142. »Ich wäre imstande gewesen und hätte etwas gesagt. Aber ich habe nichts gesehen. Ich habe nichts gewußt, und dann war es zu spät. Warum hervorzerren, was die Zeit gnädig verbirgt?« (Bolaño, Roberto: Chilenisches Nachtstück, Übs. v. Heinrich von Berenberg. München 2010, S. 149). Braithwaite (Hg.) : Bolaño por sí mismo, S. 114. Ebd.
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
kann ein Erinnerungsdiskurs, der die Komplizenschaft mit einem diktatorischen System (die Komplizenschaft dessen, der sich erinnert) zu verbergen versucht, gültige Metaliteratur sein? Es geschieht dadurch, dass Bolaño Urrutia Lacroix’ Erinnerungen gegen den Strich bürstet; der Protagonist parodiert sich unfreiwillig selbst; und Bolaños Erzähler fügt am Ende nur die acht Worte hinzu: »Y después se desata la tormenta de mierda.«8 Das unterdrückte Gewissen platzt sozusagen vor Überdruck und entlädt sich. Dies ist schwarzer Humor. In einem Interview mit Melanie Jösch kommentiert Bolaño diese acht Worte als den Ausdruck der plötzlichen Erkenntnis eines verpfuschten Lebens. Er fügt hinzu: »Cuando eso ocurre y se sigue viviendo, lo que viene a continuación es la tormenta de mierda, el apocalipsis individual«9 (siehe Jösch). Seinen eigenen Worten zufolge ist es ein humorvoller Text. Der Autor gibt zu, dass er, als er Nocturno de Chile schrieb, laut lachen musste, »incluso en los momentos más teribles de la novela hay sentido del humor, del ridículo […] ridículo espantoso«10 (Jösch). Auch Brochs Roman ist nicht ohne Humor. Das Lachen ist aber hier auf der Seite Vergils, des Sterbenden, der sich erinnert; im Unterschied zu Bolaños Ich-Erzähler wird er nicht ausgelacht. Vergils Lachen meldet sich z.B. im Dialog Vergils mit Cäsar Augustus, wenn sie sich über die Erkenntnisaufgaben von Kunst und Philosophie streiten. »Irgendwo lachte etwas, stumm und besserwisserisch. War es der Sklave? oder kündigten sich Dämonen lachend zur Rückkehr an?«11 Der Ort des Lachens, stellt sich heraus, ist in Vergil, in »seiner eigenen Brust«12 ; und es ist ein Lachen, das »geheimnisvoll schmerzhaft«13 ist. Schmerzhaft ist ohne Zweifel auch das Lachen Bolaños. Über den Zusammenhang von Lachen und Weinen sagt er in einem Interview auf die Frage »¿Qué cosas lo hacen reir a mandíbula batiente? – Las desgracias propias y ajenas.« Und auf die Frage: »¿Qué cosas lo hacen llorar? – Lo mismo: las desgracias propias y ajenas.«14 Vergils innere Stimme lacht und weint über die Absurdität seines Dialogs mit
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Bolaño: Nocturno, S. 150. »Und am Ende bricht er los, der Orkan aus Scheiße« (Bolaño: Nachtstück, S. 157). Jösch, Melanie: Roberto Bolañopresentó su nueva novela en España. In: www.letras. s5.com/bolao21.htm (letzter Zugriff: 12.5.2016). Ebd. Broch: Vergil, S. 324. Ebd., S. 327. Ebd. Braithwaite (Hg.): Bolaño por sí mismo, S. 70.
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Augustus, in dem er den römischen Machthaber über Kunst und Moral zu belehren versucht. Dabei lacht er auch bitter darüber, dass er sich auf so einen Dialog überhaupt einlässt. Später erinnert er sich an einen früheren Streit mit Augustus, während der Schiffsreise von Athen nach Brindisium. Vergil hatte beklagt: »Der Erkenntnisgrund ist abhanden gekommen und sehr viel leeres Geschwätz ist auf dem Schiffe.« Vorsichtig fügte er hinzu: »du merkst es vielleicht nur nicht so genau wie ich, weil du nicht durch Seekrankheit hellsichtig geworden bist.«15 Hellsichtig werden durch Seekrankheit! Das rührt an das »ridículo espantoso«, von dem Bolaño spricht. Nur ist Brochs Lachen, da Vergil sein Verhalten ja selbstkritisch hinterfragt und fähig ist, über sich selbst zu lachen, nicht so laut. Bolaño parodiert Urrutia Lacroix; Broch parodiert Vergil nicht. Mit der Stilfigur der Antimetabole spielend, die Bolaño und Broch gleichermaßen mögen, sagt der chilenische Autor: »La relación del arte con el mal es numerosa. O del mal con el arte.«16 Er unterscheidet zwischen dem Bösen aus Feigheit und dem Bösen aus Übermut. Vater Urrutia Lacroix, der sich die offene Parteinahme für Pinochets Diktatur versagt, aber angesichts der Verbrechen schweigt, gehört in die erste Kategorie. Die meisten der fiktiven Schriftsteller in Bolaños Textcollage Historia de la literatura Nazi en América (1996), die zu den Tätern gehören, in die zweite. Weil uns das, was sie tun, unmenschlich erscheint, ist es dem Autor zufolge »un mal que puede llegar a paracernos extraterrestre«17 . Mit ihnen, diesen Tätern, verglichen, erscheint Urrutia Lacroix fast gut. »Worin besteht seine Schuld?«18 , fragt Andeas Breitenstein in seiner Besprechung der deutschen Übersetzung des Textes. Er antwortet: »Seine Kunstreligion elitär gelebt, sich mit seinen Gedichten zu frivol an der Seite der Freiheit und der Geschichte gewähnt zu haben.«19 Das ist der Vorwurf eines unmoralischen Ästhetizismus. In beiden Texten spielt ein Knabe eine wichtige Rolle. Vergils Lysanias, ein Bauernjunge aus Griechenland, scheint sein Diener und Vertrauter zu sein; später stellt sich heraus, die Figur ist fiktiv und stellt Vergils eigenes Selbst als Jugendlicher dar. Auch in Bolaños Text ist die Figur des Knaben, des »joven envejecido«20 , fiktiv und repräsentiert Urrutia Lacroix’ eigenes Selbst, als er 15 16 17 18 19 20
Broch: Vergil, S. 325. Braithwaite (Hg.): Bolaño por sí mismo, S. 122. Ebd. Breitenstein, Andreas: Chilenisches Nachstück. In: Neue Zürcher Zeitung v. 10.4.2007. Ebd. Bolaño: Nocturno, S. 11. »den vergreisten Grünschnabel« (Bolaño: Nachtstück, S. 9).
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
jung war. Der Dialog zwischen beiden bleibt deshalb wie in Brochs Roman imaginär. Der wichtigste inhaltliche Unterschied zwischen den beiden Dialogen ist, dass Vergils Knabe den Dichter mag; er versucht ihm zu schmeicheln, indem er ihm z.B. Verse aus Äneas vorliest. Bolaños Knabe dagegen mag Urrutia Lacroix nicht und provoziert ihn ständig; der Alte antwortet dem Jungen stur mit Rechtfertigungen und Ausflüchten und versucht ihn loszuwerden: ein Psychodrama. Bevor Vergil stirbt, vermacht er seinem Knaben testamentarisch seinen Siegelring, ein Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und der Knabe steht am Bug, wenn Vergils Lebensschiff in den Tod/in die Zukunft fährt. Urrutia Lacroix’ Knabe erbt nichts. Die Zuversicht auf eine menschlichere Gesellschaft in der Zukunft fehlt in Bolaños Novelle. Neben der imaginären Auseinandersetzung mit dem Knaben, die den Text in Bewegung hält, gibt es hier und da Einschübe von erinnerten Dialogen mit verschiedenen Personen, etwa Augusto Pinochet, dem und dessen Generälen Vater Urrutia Lacroix nach dem Putsch Unterricht über das Thema Marxismus gab; die Ideologie seiner Feinde müsse man ja kennen. Beim Parallellesen beider Texte, Brochs und Bolaños, kommt der Leser nicht umhin, sich Bolaños Gesichtsausdruck vorzustellen, wenn er an Pinochets Vornamen und den Namen des römischen Kaisers in Brochs Text denkt. »O Augustus«21 , spricht Vergil ihn an, wenn der Herrscher ihn am Totenbett besucht. Urrutia Lacroix spricht Pinochet nicht mit »O Augusto« an, doch der salbungsvolle Ton dieser Anrede schwebt über dem Gespräch, in dem Dichter und Diktator sich über Literatur unterhalten. Trotz der Anrede sind Vergils Worte an den Kaiser herausfordernd, etwa wenn er sagt, dass gute Dichtung Grenzen der Erkenntnis überschreiten müsse, und Dichtung, die nur das Bestehende preist oder Machthaber lobt, das nicht tue. Wenn der Kaiser Vergils Äneas lobt, weiß der Dichter, es sind »bloß hohle Worte«; der Machthaber verteidigt damit »nur sein eigenes Werk«22 . Vergils selbstkritischer Meinung nach überschreitet sein Gedicht keine Grenzen; er hält es für einen Text »der Oberfläche«23 und einen »Absturz in die Erkenntnislosigkeit«24 und will ihn vernichten. Damit provoziert er den Kaiser, der den Text als eine Huldigung an ihn versteht. Danach spricht Vergil über die Verantwortung, die des Dichters und die des Machthabers, die Verantwortung beider den Mitmenschen
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Broch: Vergil, S. 357. Ebd., S. 329. Ebd. Ebd.
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gegenüber. Dem Kaiser wird es zu viel der Kritik; er schreit schließlich aufgebracht. Im Gegensatz dazu provoziert Urrutia Lacroix seinen August nicht. Er hört sich an, was dieser zu sagen hat, und nickt aus Feigheit, sogar dann, wenn Pinochet damit prahlt, besser gebildet zu sein, als Salvador Allende es war. Dass Urrutia Lacroix nicht nur Dichter, sondern auch Priester ist, macht die Sache noch schlimmer, denn Brochs Vergil zufolge sind »im Erkenntniseid […] Gott und Mensch aneinandergebunden.«25 Da neben Äneas auch Brochs Roman Die Schuldlosen (1950) in spanischer Übersetzung erschienen ist, hat Bolaño, beeindruckt von Brochs Interpretation Vergils, vielleicht auch diesen Roman gelesen – ein Text über unpolitische Menschen, die nicht unmittelbar am Ausbruch des Faschismus in Hitlerdeutschland schuldig sind, doch mittelbar; wie Vater Urrutia Lacroix sind sie, so könnte man sagen, schuldlos schuldig. Lützeler schreibt über diesen Roman: »disappointed with the developments in postwar Germany, in which he saw an absence of contemplation, change and atonement, Broch wanted to provide the Germans with a mirror.«26 Bolaños Absicht mit Nocturno de Chile können wir in ähnlicher Weise verstehen: Enttäuscht darüber, dass viele Chilenen nach dem Ende der Pinochet-Diktatur sich nicht fragen, inwieweit sie an den Menschenrechtsverletzungen, die sie schweigend hingenommen haben, mitschuldig sind, parodiert er den »schuldlos schuldigen« Dichter, Kritiker und Priester Urrutia Lacroix – mit aufklärerischer Absicht. Obwohl der Mann durchblicken lässt, dass er von der Folter der Gefangenen wusste, verteidigt er sein Schweigen mit den Worten: »Mis silencios son inmaculados. Que quede claro. Pero sobre todo que le quede claro a Dios.«27 Wie eingangs erwähnt, enthalten beide Texte eine sehr ähnliche kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Ästhetizismus. Beide Autoren kommen zu dem Schluss: Die Ethik kommt vor der Ästhetik. Vergil fühlt eine steigende Abneigung gegen die Literatur – Erich Hellers Interpretation zufolge »the
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Ebd., S. 332. Das verlogen Doppeldeutige der Sprache des Dichters/Priesters Urrutia Lacroix zeigt Adriana Castillo-Berchenko überzeugend in Dobles y Dobleces: Los Indicios del Héroe en Nocturno de Chile. In: Vásquez, Carmen (Hg.): Écritures des Dictatures, Écriture de la Mémoire. Paris 2007, S. 13-28, hier S. 24. Lützeler, Paul Michael: Hermann Broch writes a narrative entitled The Return of Virgil thus beginning an eight-year project that culminates in the novel The Death of Virgil. In: Gilman, Sander L.; Zipes, Jack (Hg.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1096-1996. New Haven 1997, S. 537-542, hier S. 542. Bolaño: Nocturno, S. 11f. »Meines [Mein Schweigen] übrigens ist ohne Makel. Damit das klar ist. Vor allem Gott sollte das wissen« (Bolaño: Nachtstück, S. 10).
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
domain of vanity and mendacity«28 . Wenn Vergil den Text der Äneas zerstören will, so nicht etwa, weil er unfertig ist, sondern weil es nur Literatur ist, ein Haufen von Gleichnissen, nicht Wissen. Wortreich kritisiert er die »ScheinGöttlichkeit der Schönheit«29 , die nicht zur Erkenntnis von beidem, des Lebens und des Todes, führe. Der Schriftsteller habe aber eine »Pflicht zur Hilfe«30 seinen Mitmenschen gegenüber, und diese Pflicht sei ohne Erkenntnis nicht zu erfüllen. Daraus folgt Vergils Unterscheidung zwischen Kunst und Unkunst. Urrutia Lacroix hat nichts gegen die Literatur; ganz im Gegenteil. In seiner zynischen Naivität hält er, wie Breitenstein formuliert, »die Literatur für die Lösung der Probleme des Lebens«31 . Mit dem politisch angepassten chilenischen Literaturbetrieb, in dem Urrutia Lacroix eine wichtige Rolle spielt, rechnet Bolaño ab, wenn er die schon erwähnten Tertulias in der Villa einer Schriftstellerin stattfinden lässt, in deren Keller unter Anleitung ihres Ehemannes Regimegegner gefoltert werden. Urrutia Lacroix erfährt von den grauenvollen Vorgängen, schweigt. Dass er, um der Menschlichkeit willen, etwas hätte sagen müssen, kommt ihm nicht in den Sinn. Das ist für einen Dichter, der auch noch Priester ist, ungeheuerlich. Wie Broch aus den Gedichten Vergils, zitiert Bolaño aus den Gedichten Urrutia Lacroix’ – er präsentiert sie als ein Beispiel dafür, was Vergil in seinen metaliterarischen Reflexionen Unkunst nennt, d.h. als etwas, das in seiner Selbstgefälligkeit nicht nur Verrat an der Kunst, sondern auch »Verrat an der Göttlichkeit«32 ist. Urrutia Lacroix’ Huldigungsgedicht an Ernst Jünger ist seiner Erinnerung nach ein Text, »en donde se cantaba la presencia o la sombra áurea de un escritor dormido en el interior de una nave especial, como un pajarito en un nido de hierros humeantes y retorcidos«33 . Jünger ist – so stellt sich im weiteren Verlauf heraus – dieser schlafende Schriftsteller; das Raumschiff, in dem er schläft, ist in den Anden abgestürzt. So geht es weiter: »el cuerpo impoluto del héroe sería conservado entre los hierros por las nieves enternas, y que la escritura de los heroes y, por extensión, los amanuenses de
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Heller, Erich: Hitler in a very Small Town. In: New York Times v. 25.1.1987. Broch: Vergil, S. 300. Ebd., S. 313. Breitenstein: Chilenisches Nachtstück. Broch: Vergil, S. 134. Bolaño : Nocturno, S. 50f. »in welchem die Gestalt oder der in goldenem Glanz erstrahlende Schatten eines Schriftstellers besungen wird, eines Schriftstellers, der im Innern eines Raumschiffs hockt, wie ein Vogel in einem Nest aus qualmendem, verbogenem Metall« (Bolaño : Nachtstück, S. 52).
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la escritura de los héroes, eran en sí mismos un canto, un canto de alabanza a Dios y a la civilización.«34 Bolaño parodiert hier, neben der peinlichen Tatsache, dass der chilenische Dichter/Kritiker/Priester Urrutia Lacroix Ernst Jüngers Vermächtnis in den Anden Südamerikas für immer aufbewahrt sieht, ohne Zweifel Urrutia Lacroix’ unangemessen pathetische Sprache. Da die Erinnerung an das Gedicht in die Zeit vor der Pinochet-Diktatur zielt, zeigt sie, dass Jüngers unmoralischer Ästhetizismus für ihn schon damals kein Problem war und er nicht willens war, das damit verbundene historische Unheil zu sehen. Deshalb war er anfällig dafür, in Jüngers Fußstapfen zu treten. Vergils kritische Gedanken über Unkunst und die Literatenszene (der Schriftstellerkreis um den Hof des Kaisers) spiegeln sich in Bolaños Parodie der chilenischen Literaturszene während der Pinochet-Diktatur. Brochs Vergil nennt die Sprache des römischen Literaturbetriebs seiner Zeit »die Sprache des literarischen und philosophischen Dahindämmerns, die Sprache der erstarrten, der ungeborenen und vorgestorbenen Worte.«35 Selbstkritisch gibt er zu, dass sie auch ihm einst »mundgerecht« gewesen war: »sicherlich hatte er damals an das, was sie ausdrückte, geglaubt oder zu glauben vermeint, während sie ihm jetzt fremd, beinahe unverständlich klang.«36 Dieser selbstkritische Zug fehlt bei Urrutia Lacroix; seine Sprache ist auch fünf Minuten vor dem Tod noch die des chilenischen Literaturbetriebs. Mit dem Literaturbetrieb hängt für beide Autoren das Problem der Mittelmäßigkeit zusammen. Vergil steigert sich im Gespräch mit seinen Freunden in die Idee einer Bücherverbrennung hinein, um mit der Mittelmäßigkeit aufzuräumen. Urrutia Lacroix’ Gedichte sind auch mittelmäßig; er ahnt es und kann deshalb ohne den Beifall der chilenischen Literaturszene (vor, unter und nach Pinochet), der ihm das Gegenteil versichert, nicht leben. In einem Interview sagt Bolaño: »Generalmente la chatura va acompañada de miedo o malevolencia. Yo prefiero creer que la chatura de Chile va acompañada de una desesperación infinita.«37 Welche Eigenschaft begleitet Urrutia Lacroix’ Mittelmäßigkeit? Angst kann es nicht sein; er ist ein Mitglied von Opus Dei, 34
35 36 37
Ebd., S. 51. »des Helden unversehrter Leichnam inmitten des Blechhaufens werde bewahrt vom ewigen Schnee, und die Schriften aller Helden und ihrer Schriftgelehrten wären in sich selbst ein Gesang, ein Gesang zum Lobe Gottes und der Zivilisation« (Bolaño : Nachtstück, S. 52). Broch: Vergil, S. 231. Ebd., S. 231f. Braithwaite (Hg.): Bolaño por sí mismo, S. 115.
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
durch diese Mitgliedschaft geschützt. Böswilligkeit? Oder Verzweiflung, z.B. angesichts der Tatsache, dass man in einem bestimmten historischen Augenblick nicht weiß, was richtig oder falsch ist, wie er es nennt? Im gleichen Interview fügt Bolaño weise hinzu: »La realidad […] nos indica una y otra vez que la chatura va acompañada de malevolencia, en el mejor de los casos de una especie de letargo que puede llevarnos, una vez más, a una cierta esperanza. Podemos recordar el cuento ›La bella durmiente‹ y sacar todo tipo de conclusiones. O la historia de la lámpara maravillosa, que durante siglos permanence oculta, es decir dormida.«38 Diese mildere Form von Böswilligkeit, Lethargie, ein absichtlicher Dämmerschlaf, trifft in Urrutia Lacroix’ Fall zu. Sie ist, so würde Brochs Vergil sagen, das Gegenteil der »Wirklichkeit der Liebe«39 . Er erklärt das so: »es gibt nur ein Gesetz, das Gesetz des Herzens! die Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Liebe! sollte er, mußte er dies nicht laut herausschreien? sollte und mußte er ihnen dies nicht sagen, auf daß sie es begriffen?! – ach, sie würden es nicht begreifen, sie hatten gar nicht den Willen es zu begreifen, und so sagte er bloß: »Schönheit kann nicht ohne Beifall leben; Wahrheit versperrt sich dem Beifall.«40 Urrutia Lacroix’ Selbst als Dichter, dessen Stabilität vom Beifall abhängt und der deshalb auf den Beifall des chilenischen Literaturbetriebs seiner Zeit (auch während der Diktatur) angewiesen ist, verschanzt sich in der Lethargie des Abwartens mit geschlossenen Augen, im Blindsein für Vergils »Gesetz des Herzens«. Susana Draper hat zurecht darauf hingewiesen, dass Bolaño auf Urrutia Lacroix’ in der Forschung vielzitierte Meinung, »Así se hace la literatura«41 schweigend mit nein antwortet: »El joven envejecido, lo que queda de él, mueve los labios formulando un no inaudible.«42 Der allmählich verschwindende Knabe stehe hier für den Autor Bolaño und sein Nein, erklärt die Kritikerin, sei wichtig für Bolaños Unterscheidung »between the protagonist from whose point of view the narrative is recounted and his task as narrator, 38 39 40 41 42
Ebd. Broch: Vergil, S. 232. Ebd. Bolaño: Nocturno, S. 147. »So entsteht die Literatur« (Bolaño: Nachtstück, S. 155). Ebd., S. 148. »Der vergreiste Grünschnabel, das, was von ihm übriggeblieben ist, bewegt die Lippen, die ein unhörbares Nein formen« (Bolaño: Nachtstück, S. 155).
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tortured by that ›no‹«.43 Sie fügt mit Recht hinzu, dass es unbedingt nötig sei, zwischen der Novelle Nocturno de Chile als Urrutia Lacroix’ Rückschau/Beichte und dieser Novelle als Bolaños bitterem Kommentar über das Schweigen – ein Schweigen, das in der chilenischen Gesellschaft auch nach der Diktatur noch vorherrscht – zu unterscheiden. Treffen wir diese Unterscheidung, wird klar, dass der Gedanke, so werde Literatur gemacht, mit dem Urrutia Lacroix sein Gewissen zu beruhigen versucht, ein verzweifelter Versuch ist, etwas so aussehen zu lassen, damit es kein unheimliches Gefühl auslöst. Draper fährt fort: »The (inaudible) ›no‹ insists on bringing the issue out into the open.«44 In Brochs Fall ist die Unterscheidung zwischen dem Roman als Vergils Rückschau und dem Roman als Brochs Kommentar über Literatur nicht so wichtig, da der Autor dem Dichter Vergil seine eigenen Gedanken über das Unmoralische einer angepassten Literatur, die sich Kritik versagt, in den Mund legt. Anders gesagt: Der Ich-Erzähler drückt in Brochs Fall die Gedanken des Autors aus. Die acht Worte über das »Scheißegewitter« am Ende der Novelle sind ohne Zweifel auch ein Witz über Jüngers Buchtitel Stahlgewitter. Wieder hört man Bolaño lachen, wahrscheinlich, weil er nicht umhinkann, sich vorzustellen, wie die Soldaten in den Schützengräben sich während eines Angriffs »in die Hosen« machten. In einem Interview sagt er: »Me río de algunas actitudes, de algunas personas, de ciertos quehaceres y de ciertas gravedades porque simplemente ante tamaños despropósitos, ante tamaños pavos hinchados, no queda más remedio que reírse.«45 Natürlich ist Bolaños Lachen über das Wort »Scheißegewitter« ein schwarzes Lachen, für ihn ein Lachen, das befreit: Der schwarze Humor, sagt er in einem Interview, »nos hace permanecer sanos, es el arma para transformar la vida desde la cotidianeidad.«46 Dass der Autor in dem relativ knappen Text der Novelle Nocturno de Chile Jünger vierzehn Seiten widmet, liegt vielleicht daran, dass der deutsche Autor ebenso wie Urrutia Lacroix in die Kategorie der ›schuldlos Schuldigen‹ gehört. Von einem Knaben auf dem Totenbett zu seiner Teilnahme an Hitlers Verbrechen zur 43 44
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Draper, Susana: Afterlives of Confinement. Pittsburgh 2012, S. 144. Ebd. Auf das chilenische Haus Bezug nehmend, in dem während der Diktatur oben Literaturpartys stattfinden, während im Keller gefoltert wird, schreibt Draper: »Nocturno’s ability to say what has become publicly unsayable […] shows the link between aesthetics and the dictatorship as instituting a perception, an exhaustive vigilance over what was seeable and sayable that persists up to the present day« (ebd., S. 151). Braithwaite (Hg.): Bolaño por sí mismo, S. 119. Ebd., S. 118.
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
Rede gestellt, würde Jünger womöglich antworten, dass er nur Wehrmachtsoffizier, kein Nazi, war und den Faschismus in seinen Büchern keineswegs verherrlichte; dies wäre faktisch korrekt. Doch – wie würde er sich gegen den Vorwurf verteidigen, dass, wie Andreas Huyssen es ausdrückt, seine ästhetizistische Art, den Krieg als eine transzendierende Erfahrung zu glorifizieren, Macht- und Gewaltfantasien nährte – »the kinds of fantasies of power and violence from which the Nazis built much of their mass support«47 ? Huyssen betont zu Recht, dass – obwohl Jüngers Bücher nicht als Naziliteratur geschrieben wurden – sie dennoch für viele Deutsche den Nazismus attraktiv machten. Reflexe der Lektüre Brochs sind auch in Bolaños Erzähltechnik unverkennbar. Teil Zwei »Feuer – Der Abstieg« aus Der Tod des Vergil und Nocturno de Chile (mit Ausnahme der letzten acht Worte) sind atemlose innere Monologe. Es gibt einen stream of consciousness, das Ineinanderverfließen von Lyrik und Prosa, disparate Stilelemente, dazu Träume – eine Erzähltechnik der Moderne, die beide Autoren von James Joyce übernahmen und, jeder auf seine Art, weiterentwickelten. Nicht zu Unrecht wird Broch von manchen Bewunderern der österreichische Joyce genannt; Bolaños Bewunderung für Joyces Roman Ulysses (1922) ist gut bekannt und spiegelt sich in seinem frühen, gemeinsam mit A.G. Porta verfassten Roman Consejos de un discípulo de Morrison a un fanático de Joyce (1984). Und in der Novelle Amuleto (1999) hört die Ich-Erzählerin eine innere Stimme, die ihr sagt: »James Joyce se reencarnará en un niño chino en el año 2124«48 . In Urrutia Lacroix’ fieberhaftem Monolog spielt Brochs Konzept des »Vorgewußte[n]«49 eine große Rolle. Stur behauptet der chilenische Protagonist bis zum Ende seine Unschuld; unter der Oberfläche seines Bewusstseins aber weiß er um seine Schuld. Das lässt ihn ins Schlingern geraten, ein Schlingern, das sich so komisch ausnimmt, dass Bolaño beim Schreiben des Textes offenbar laut lacht. Patricia Espinosa interpretiert den Vorspruch der Novelle Nocturno de Chile – »Quítese la peluca« von Chesterton50 – folgendermaßen: »Exhortación que Urrutia Lacroix parece realizar, pero que queda resonando 47 48
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Huyssen, Andreas: Fortifying the Heart – Totally: Ernst Jünger’s Armored Texts. In: New German Critique 59 (1993), S. 3-23, hier S. 9. Bolaño, Roberto: Amuleto. Barcelona 1999, S. 134. »Im Jahre 2124 wird James Joyce als chinesisches Kind wiedergeboren« (Bolaño, Roberto: Amuleto, Übs. v. Heinrich von Berenberg. Frankfurt a.M. 2009, S. 141). Broch: Vergil, S. 210. Bolaño : Nocturno, S. 9. »Nehmen Sie die Perücke ab« (Bolaño : Nachtstück, S. 7).
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una vez finalizada la novela, como si a pesar de tanto hablar todavía siguiera ataviado con ella y la pregunta por dónde está el mal pesara más ahora que antes.«51 Die Antwort auf die Frage, wo das Böse sitzt, wäre in Urrutia Lacroix’ Fall: in der Feigheit. Dies vermag er bis zum Ende nicht zuzugeben und stirbt sozusagen mit der Perücke auf dem Kopf. Draper kommentiert zu Recht: »With the author’s characteristic humor, the novel stages a ghostly revenge [to the protagonist’s collaboration with the Pinochet regime], a peculiar kind of martyrdom by the imagination that creates a space for what never took place.«52 Beide Texte, Der Tod des Vergil und Nocturno de Chile, wurden im Exil geschrieben, der österreichische in den USA, der chilenische in Nach-FrancoSpanien. Dem Exil vorausgegangen waren in beiden Fällen Gefängnisaufenthalte. Nach Österreichs Anschluss an Hitlerdeutschland 1939 war Broch für drei Wochen in Haft.53 Nach Pinochets Putsch in Chile 1973 saß Bolaño für acht Tage im Gefängnis; beide Autoren waren verdächtigt worden, politisch subversiv zu sein, wurden aber freigelassen und kamen mit dem Schrecken davon. Es ist wahrscheinlich, dass Bolaño sich der Parallelen in ihren Biografien bewusst war, und möglicherweise war es, neben Brochs Ruf, ein österreichischer Joyce zu sein, für den Chilenen der erste Anstoß gewesen, Brochs Roman Der Tod des Vergil zu lesen. War es eines von Bolaños Lieblingsbüchern? Wahrscheinlich nicht – er hätte das sonst an irgendeiner Stelle gesagt. Seinem Geschmack nach sind die größten Werke der Weltliteratur die, »que al mismo tiempo son obras maestros del humor negro«,54 Sternes Tristram Shandy oder Lichtenbergs Aphorismen z.B. Brochs Roman hat Nuancen von schwarzem Humor, vor allem im vorletzten Teil, »Erde – Die Erwartung«, in dem sich der sterbende Vergil mit seinen Freunden Plotius und Lucius über den römischen Literaturbetrieb unterhält, aber es gehört nicht zu den Meisterwerken des schwarzen Humors. Um zusammenzufassen: Roberto Bolaño hat mit großer Wahrscheinlichkeit Hermann Brochs Roman Der Tod des Vergil gelesen und ist, wie Nocturno de Chile zeigt, von der Lektüre existenziell berührt worden. Beim Entwurf der 51 52 53 54
Espinosa, Patricia: Estudio preliminario. In: dies. (Hg.): Territorios en fuga: Estudios críticos sobre la obra de Roberto Bolaño. Coyancura 2003, S. 13-32, hier S. 30. Draper: Afterlives, S. 127. S. Durzak, Manfred: Hermann Broch in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1966, S. 109. Bolaño, Roberto: Entre paréntesis. Ensayos, artículos y discursos (1998-2003). Barcelona 2004, S. 151.
Bolaños Nocturno de Chile (2000) und Brochs Der Tod des Vergil (1945)
Struktur der Novelle (ein auf den Tod kranker Mann schaut, im Dialog mit seinem eigenen früheren Ich, auf sein Leben zurück) und bei der kritischen Diskussion des Themas Ästhetizismus hat ihn die Broch-Lektüre ohne Zweifel inspiriert. In Bezug auf Brochs Roman Der Tod des Vergil betont Lützeler: »Nirgendwo sonst ist in der [deutschsprachigen] Exilliteratur die Ambivalenz gegenüber der Dichtung, ist sowohl ihre Schwäche wie ihre Stärke herausgestellt worden.«55 Auf Bolaños Nocturno de Chile bezogen können wir sagen: Nirgendwo sonst in der lateinamerikanischen Exilliteratur ist das Versagen der Literatur in einer bestimmten Zeit so brillant parodiert worden.
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Lützeler: Hermann Broch und die Moderne, S. 17.
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Subvertir la cotidianeidad – Die Alltäglichkeit umstürzen: So lautet der letzte Satz des 1976 in Mexiko erschienenen manifiesto infrarrealista, veröffentlicht von dem damals 23-jährigen Chilenen Roberto Bolaño.2 Gemeinsam mit dem mexikanischen Lyriker Mario Santiago Papasquiaro hatte Bolaño ein Jahr zuvor die sogenannte infrarrealistische Bewegung ins Leben gerufen, die, so hieß der martialische Schlachtruf, der offiziellen Kultur eine »Kugel durchs Hirn jagen wollte«.3 Aus dem rebellischen Anführer einer literarischen Protestbewegung ist, ungeachtet seines frühen Todes im Jahr 2003, ein literarischer Weltstar geworden. Spätestens sein opus magnum, der postum veröffentlichte Roman 2666 (2004) katapultiert Roberto Bolaño in den Autoren-Olymp und wird als »Meilenstein der literarischen Evolution«4 von Kritik wie Lesern gefeiert. Obgleich Bolaño sich, nachdem er bereits 1977 nach Spanien emigriert, durchaus von seinem ungestümen Auftreten als Infrarealist distanzierte, konnten weder der literarische Weltruhm noch das spanische Exil dem konsequenten Absolutheitsanspruch seiner Prosa etwas anhaben. Dieser Anspruch eint ihn mit
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Bei dem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und aktualisierte Version meines Beitrags: Entgrenzte Texte. Roberto Bolaño und Franz Kafka. In: GermanischRomanische Monatsschrift 67 (2017), H. 2, S. 185-197. Bolaño, Roberto: »Déjenlo todo, nuevamente«. Primer Manifiesto del movimento Infrarrealista (1976). In: Correspondencia infra. Rivista menstrual del movimento Infrarrealista 1 (1977), S. 5-11, hier S. 11. Villagrán, Fernando: Roberto Bolaño habla del infrarrealismo. In: Viento en Vela 5 (2006), S. 27. »Wie ein bekiffter Zuhälter.« Ijoma Mangold über Roberto Bolaño. In: Die Zeit v. 10.9.2009, online verfügbar unter: www.zeit.de/2009/38/L-B-Bolano (letzter Zugriff: 16.4.2020).
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jenem Prager Autor, der, gerade einmal 20 Jahre alt, in einem Brief an den Jugendfreund Oskar Pollak am 27.1.1904 gleichfalls die Wirkungsmacht idealer Literatur beschwört: »Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? […] ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.«5 Beißen und stechen – das können sowohl die Texte Franz Kafkas als auch Roberto Bolaños und sie tun dies, indem sie sich den Erwartungshaltungen ihrer Leser ebenso entziehen wie literaturhistorischen Kategorisierungen, mit denen die Literaturwissenschaft Ordnung in die Weltliteratur, ihre Gattungen, Epochen und Stilmerkmale zu bringen sucht. Bezeichnenderweise ist es ausgerechnet ein lateinamerikanischer Autor, der, so erinnert sich zumindest Milan Kundera, die »ganze Radikalität von Kafkas ästhetischer Revolution« pointiert in Worte fasst: »Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich schon vor zwanzig Jahren mit Gabriel García Marquez geführt habe, der sagte: ›Kafka hat mir beigebracht, daß man anders schreiben kann.‹ Anders, das hieß, indem man die Grenze des Wahrscheinlichen überschreitet. Nicht (in der Art der Romantiker), um der wirklichen Welt zu entfliehen, sondern um sie besser zu machen.«6 Den Texten Bolaños analog scheitern normative literarhistorische Vereinnahmungen des Kafka’schen Werkes: Deutungsansätze im Kontext von Expressionismus oder literarischer Avantgarde greifen bei Kafka ebenso kurz wie Versuche, Roberto Bolaño in fragwürdiger Abwandlung des magischen Realismus zum »manischen Realisten« zu stilisieren oder seine Texte auf Produkte eines verkannten poète maudit zu reduzieren.7 Wie das Werk Kafkas setzt sich auch Bolaños Œuvre über Grenzen literaturhistorischer wie -ästhetischer Kategorien hinweg und macht deren konstruierten Charakter dabei sichtbar. Wenn Bolaño als »glorreicher Bastard der Poesie«8 vom Feuilleton gefeiert wird, dann verrät die Etikettierung möglicherweise weniger über den Autor 5 6 7
8
Kafka, Franz: Briefe I: 1900-1912. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 1999, S. 36. Kundera, Milan: Verratene Vermächtnisse. Essays. Aus dem Französischen von Susanne Roth. München/Wien 1994, S. 55 (Les Testaments trahis, 1993). Vgl. etwa Höbel, Wolfgang: Bastard der Poesie. Über Roberto Bolaño. In: Der Spiegel 37 (2009), online verfügbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-66803977.html (letzter Zugriff: 16.4.2020). Ebd.
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als über die Hilflosigkeit der Literaturkritik, die Prosa des Chilenen mit tradierten Begriffen zu erfassen. Über die konsequente Bezugnahme Bolaños auf das Werk Kafkas hinaus zeigt sich die Verwandtschaft zwischen beiden Autoren gerade dort, wo sich ihre Texte tradierten ästhetisch, biografisch und literaturhistorisch verankerten Grenzziehungen widersetzen.
I.
»Schreiben im freien Fall«: Bolaño und Kafka
Entgrenzt ist die Literatur Bolaños auch, weil sie jenen universalisierten Textbegriff sichtbar macht, den etwa Karlheinz Stierle beschreibt, wenn er den Text als Moment einer Bewegung versteht, die »über ihn hinausdrängt«.9 Die Intertextualität der Prosa Bolaños definiert sich über ein dichtes Netz an Bezügen, das insbesondere die deutschsprachige Literaturgeschichte von der Aufklärung bis zur Gegenwart, von Lichtenberg zu Günter Grass, durchstreift und mit dem eigenen Erzählen verwebt. Aus seiner besonderen Begeisterung für Kafka, den seiner Meinung nach größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts (»el más grande escritor del siglo XX«), macht Bolaño keinen Hehl.10 Kafka und seine Texte, das ist unübersehbar, sind ein dominanter Referenzpunkt für das literarische wie essayistische Werk des Chilenen. An die Seite der öffentlichen Huldigungen treten explizite Kafka-Verweise im Werk sowie paratextuelle Würdigungen, die Bolaño den eigenen Texten voranstellt,11 und schließlich die konkrete literarische Fortschreibung eines Kafka-Textes, nämlich dessen Erzählung Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, die Gegenstand der folgenden Ausführungen sein wird. »Musil, Döblin, Hesse schreiben vom Rand des Abgrunds«, bekennt Bolaño einmal, und fährt fort: »Das ist sehr verdienstvoll, denn fast niemand wagt, von dort zu schreiben. Aber Kafka schreibt aus dem Abgrund heraus. Genauer: während er stürzt.«12 Mit diesem Schreiben im freien Fall ist wohl
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Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität (1984). In: Kimmich, Dorothee u.a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1996, S. 349-359, hier S. 349. Vgl. Bolaño, Roberto: El gaucho insufrible. Barcelona 11 2014, S. 158. Vgl. die Kafka-Passage (Enfermedad y Kafka) im Essay Literatura + Enfermedad = Enfermedad, in: Bolaño: El gaucho insufrible, S. 158, außerdem das dem Band vorangestellte Kafka-Zitat »Quizá nosotros no perdamos demasiado, después de todo.« Unser Teil der Traurigkeit. Gespräch mit dem chilenischen Schriftsteller Roberto Bolaño. In: Neue Zürcher Zeitung v. 27.4.2002, online verfügbar unter: www.nzz.ch/article7ZAC8-1.388933 (letzter Zugriff: 16.4.2020).
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jener Absolutheitsanspruch an ein der Literatur verpflichtetes Leben gemeint, den Kafka etwa in seinen Briefen äußert und der seine Selbstinszenierung als kompromissloser Autor maßgeblich prägt. »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein«13 heißt es etwa in einem Brief Kafkas an Felice Bauer im August 1913 und wenige Wochen später in einem Schreiben an deren Vater Carl Bauer, den er von seinen bescheidenen Qualitäten als Ehemann zu überzeugen sucht: »Mein ganzes Wesen ist auf Literatur gerichtet, die Richtung habe ich bis zu meinem 30[s]ten Jahr genau festgehalten; wenn ich sie einmal verlasse, lebe ich eben nicht mehr. Alles was ich bin und nicht bin, folgert daraus.«14 Diese existenzielle Hingabe Kafkas an sein Schreiben, die in keinem Verhältnis zum geringen Erfolg seiner Texte zumindest zu Lebzeiten steht, weist durchaus auf die Karriere Bolaños voraus, der seinerseits Schubladen mit unveröffentlichten Werken füllt, bevor er vom Literaturbetrieb überhaupt wahrgenommen wird. Wie Kafka wird auch Bolaño durch den anfänglichen Misserfolg keineswegs abgehalten – vom Schreiben nicht und auch nicht vom Lesen: Es sei schließlich immer die Literatur, die ihm (als Leser wie als Autor) sowohl Heimat als auch Exil biete, bekundet Bolaño in einem seiner wenigen poetologischen Statements.15 Auch jenseits dieser Spiegelungen im künstlerischen Selbstverständnis sowie expliziter intertextueller Verweise ist das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Bolaño und Kafka nicht zu übersehen, die mit ihren epochemachenden Texten das 20. Jahrhundert einleiten (Kafka) und im Übergang ins dritte Jahrtausend literarisch verabschieden (Bolaño). Intertextuelle (beabsichtigte wie unbeabsichtigte) Berührungspunkte lassen sich etwa dort entdecken, wo ihre Texte die Grenzen literarischer Ästhetik ebenso ausreizen wie das moralische Empfinden der Leser. Beispielhaft lässt sich Bolaños 1997 veröffentlichter Roman Estrella Distante anführen, der die Karriere des Carlos Wieder, eines Künstlers und zugleich Piloten der chilenischen Luftwaffe unter der Militärdiktatur Pinochets, erzählt. 13 14 15
Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. v. Erich Heller u. Jürgen Born. Frankfurt a.M. 1970, S. 444. Ebd., S. 456. Bolaño, Roberto: Literatur und Exil. In: ders.: Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie, Übs. v. Kirsten Brandt u. Heinrich von Berenberg. Berlin 2 2010, 33-40, hier S. 37.
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Wieder, mit dem Bolaño nach eigenem Bekunden das absolut Böse literarisch zu vergegenwärtigen sucht, etabliert im Verlauf des Romans einen Kunstbegriff, der das Ästhetische mit dem Politischen, die Kunst der Avantgarde und das neue Regime, verschränkt. Was als sogenannte Luftpoesie (»poesía aérea«)16 ihren Anfang nimmt – Wieder schreibt mit dem Rauch seines Militärflugzeugs propagandistische Verse in den Luftraum –, endet im Ausrufen einer neuen Kunst (»nuevo arte«),17 die zugleich politisches Morden bedeutet. Der Künstler (und Mörder) stellt in einer privaten Vernissage Bilder von gefolterten, entstellten, zerstückelten Frauenkörpern aus – vermeintliche Regimegegnerinnen, deren Ermordung im Dienst der Diktatur er zu einem künstlerischen Akt erklärt.18 Eine solche Kunst, die auf brutale und inhumane Weise unter die Haut geht, erklärt den Körper zum Zeichen und erinnert an die grausame Hinrichtungsmaschine in Kafkas Strafkolonie, die dem Verurteilten das Gesetz, gegen welches er angeblich verstößt, in den Körper einschreibt, bis er stirbt. Ästhetisch überhöht wird der inhumane Akt auch bei Kafka – in den Augen eines Reisenden, der den blutigen Akt des Einschreibens wie ein Voyeur beobachtet und ihn dabei poetisch, vor allem aber erotisch besetzt. In beiden Fällen, bei Kafka wie bei Bolaño, wird der Leser vor neue Herausforderungen gestellt: Moralische Bewertungen, etwa durch eine auktorial agierende Erzählinstanz, bleiben aus. Stattdessen werden etwaige Lesererwartungen gerade nicht erfüllt, sondern mit einer Ästhetik konfrontiert, die jenes »Denken des Äußersten« vorführt, das Peter-André Alt in Kafkas literarisch inszeniertem Begriff des »Exzesses« erkannt hat. Exzess bedeutet demnach keineswegs die bloße Provokation geltender moralischer oder religiöser Gesetze, sondern »den Weg zum letzten Punkt intellektueller Autonomie als Voraussetzung für die Reflexion eines aus den alltäglichen Sicherungssystemen entlassenen Selbst.«19 Diese außer Kraft gesetzten »alltäglichen Sicherungssysteme« prägen die Literatur Kafkas wie jene Bolaños – nicht nur deren Figuren, sondern auch ihre Leser müssen darauf verzichten. In einem Beitrag über den anglo-irischen Autor Jonathan Swift zitiert Bolaño dessen poetologisches Bekenntnis, »die Leute lieber aus der Fassung zu bringen, als sie zu unterhalten.«20 Bolaños Begeisterung für diesen »gefährlichen« Schriftsteller,
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Bolaño, Roberto: Estrella distante. Barcelona 12 2014, S. 87. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94-99. Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen. München 2010, S. 440. Bolaño: Jonathan Swift. In: Exil im Niemandsland, S. 81f., hier S. 82.
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der seine Leser »ohrfeigt« und sie »um den Schlaf« bringt,21 legt nicht nur seine eigenen literarischen Wirkungsabsichten offen, sondern konstituiert ein Modell literarischen Lesens, in dem das zentrale Bindeglied zwischen Text und Leser das Moment der Fassungslosigkeit darstellt. Auch für Bolaño, der in einem Interview emphatisch den »gnadenlosen Leser« (lectores a secas) anruft,22 gelten jene Beobachtungen, die Theodor W. Adorno in seinen Aufzeichnungen über Kafka angesichts der gestörten Text-Leser-Bindung in den Texten des Prager Autors formuliert: »Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daβ das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daβ nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daβ sie seine Affekte derart aufrühren, daβ er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solche aggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit des Lesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren.«23
II.
Kafka: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (1924)
Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse24 ist die letzte Erzählung Kafkas: Er schreibt sie im Frühjahr 1924 wenige Wochen vor seinem Tod an den Folgen der jahrelangen Tuberkuloseerkrankung. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass gerade dieser Erzählung seitens der Kafka-Forschung übereinstimmend ein »heiterer Charakter«25 attestiert wird – eine eher seltene Zuschreibung in Bezug auf seine Texte. Nicht nur in dieser Hinsicht handelt es sich bei dieser
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Ebd. Bolaño, Roberto: Stern in der Ferne. Interview mit Monica Maristain. In: ders.: Exil im Niemandsland, S. 138-153, hier S. 147. Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: ders: Gesammelte Schriften, Band 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 2003, S. 256. Kafka, Franz: Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse. In: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Kritische Ausgabe. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a.M. 2002, S. 350-377. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben und Kürzel (J) direkt im Text nachgewiesen. Auerochs, Bernd: Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. In: ders.; Engel, Manfred (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2010, S. 323-327, hier S. 323.
Josefines Erbe
Erzählung um einen Ausnahmefall im Kafka’schen Œuvre: Auch, dass wir es hier mit einer Künstlerfigur, noch dazu aber mit einer weiblichen, als Protagonistin zu tun haben, ist außergewöhnlich. Und schließlich überrascht die Erzählperspektive, die nicht personal auf die Sicht der Titelheldin beschränkt bleibt – wofür insbesondere die Romanfragmente berühmt geworden sind –, sondern einem Ich-Erzähler überlassen ist, der Josefine, ihren Gesang und dessen Wirkung gewissermaßen von außen kommentiert.26 Mag der Eindruck der Erzählung ein heiterer sein, so ist es jenes mit Kafkas Worten »schreckliche Erlebnis« nicht, das er in einem Brief an Felix Weltsch im November 1917 als so genannte »Mäusenacht« rückblickend imaginiert: »[E]s war doch das Grauen der Welt. […] Was für ein schreckliches stummes lärmendes Volk das ist. Um zwei Uhr wurde ich durch ein Rascheln bei meinem Bette geweckt und von da an hörte es nicht auf bis zum Morgen. Auf die Kohlenkiste hinauf, von der Kohlenkiste hinunter, die Diagonale des Zimmers abgelaufen, Kreise gezogen, am Holz genagt, im Ruhen leise gepfiffen und dabei immer das Gefühl der Stille, der heimlichen Arbeit eines gedrückten proletarischen Volkes, dem die Nacht gehört.«27 Aufschlussreich ist dieses Briefdokument, weil es, Motive der Erzählung gleichsam antizipierend, das Mäusevolk als soziale Gruppe entwirft, deren unablässiges Treiben im Bild des gedrückten proletarischen Volkes personifiziert und als markante Eigenschaft der Gruppe vorgestellt wird. Zudem bereitet das Oxymoron des »stummen lärmenden Volkes«, das pfeifend ein »Gefühl der Stille« verbreitet, auf die ambivalente Charakterisierung jener Lautäußerungen vor, die in der Erzählung Josefine wie auch das Volk der Mäuse von sich geben. Tatsächlich, das hat die Kafka-Forschung in ihrer Konzentration auf die Figur Josefines lange Zeit übersehen, ist es in der Erzählung das Mäusekollektiv, das schon im Titel als weiterer Protagonist der Sängerin nicht an die Seite, sondern – versteht man die Konjunktion als ›exklusives Oder‹ – gegenübertritt.
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Vgl. Koelb, Clayton: Kafka imagines his readers: The rhetoric of »Josefine die Sängerin« and »Der Bau«. In: Rolleston, James (Hg.): A Companion to the works of Franz Kafka. New York 2003, S. 347-359, hier S. 347. Kafka, Franz: Briefe III: 1914-1917. Kritische Ausgabe. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt a.M. 2005, S. 365.
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Der Ich-Erzähler gibt sich mit den ersten Worten der Erzählung als Teil dieses Kollektives zu erkennen: etwa durch die häufige Bezugnahme auf ein kollektives »Wir« und dauernde possessive Zuschreibungen (im Sinne von unser Volk, unser Pfeifen, unser Leben). Rasch schärft dieser Erzähler das bereits in Kafkas Brief entwickelte Profil eines hart arbeitenden Mäusevolkes: »[U]nser Leben ist schwer, wir können uns, auch wenn wir einmal alle Tagessorgen abzuschütteln versucht haben, nicht mehr zu solchen, unserem sonstigen Leben so fernen Dingen erheben, wie es die Musik ist. […] eine gewisse praktische Schlauheit, die wir freilich auch äußerst dringend brauchen, halten wir für unsern größten Vorzug« (J 350). Kafkas Mäusevolk tritt als beispielhafter Repräsentant einer Tiergattung auf, die im Kontext von Zoologie und Verhaltensbiologie über ihr ausgeprägtes Sozialverhalten definiert wird. In der Erzählung konstituiert sich die Gruppenidentität nicht nur über die gemeinsame Arbeit, sondern insbesondere über ein kollektives Leiden: »Unser Leben ist sehr unruhig, jeder Tag bringt Überraschungen, Beängstigungen, Hoffnungen und Schrecken, daß der Einzelne unmöglich dies alles ertragen könnte, hätte er nicht jederzeit bei Tag und Nacht den Rückhalt der Genossen« (J 356). Josefine, die Sängerin, repräsentiert das Andere, das fremde Element: An ihr werden die Grenzen der Gemeinschaft sichtbar gemacht, die, im Foucault’schen Sinne, weniger über diejenigen verraten, die ausgeschlossen werden, als über jene, die für die Konstruktion dieser Grenzen verantwortlich zeichnen.28 An Josefine, der Künstlerfigur, die artuntypisch die Musik liebt und ihr Leben der Kunst verschreibt, vollziehen sich Inklusions- und Exklusionsprozesse des Mäusevolkes gleichermaßen: Wird sie gemeinsam mit ihrer angeblichen Kunst im ersten Satz der Erzählung noch von der Gruppe als »unsere Sängerin« vereinnahmt, folgt unmittelbar darauf der Ausschluss und die Markierung als Außenseiterin. »Nur Josefine nämlich«, heißt es, »macht eine Ausnahme; sie ist die einzige; mit ihrem Hingang wird die Musik – wer weiß wie lange – aus unserem Leben verschwinden« (J 350).
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Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1969, S. 9.
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Nun ist die Kunst Josefines nicht ohne Weiteres als solche zu erkennen: Scheint deren Wirkung, nämlich die schon im zweiten Satz beschworene »Macht ihres Gesangs« (J 350) unbestreitbar, so gilt das nicht für dessen ästhetische Qualität. Josefines Vortrag, muss der Erzähler eingestehen, habe im Grunde »nichts Außerordentliches«; vielleicht sei er gar nur ein Pfeifen, also nicht mehr als die ohnehin »charakteristische Lebensäußerung« des Mäusevolkes (J 352). Unklar bleibt, ob dem Gesang Josefines oder aber dem Urteil des Erzählers zu misstrauen ist – schließlich gesteht jener doch unumwunden die generelle Unmusikalität seines Mäusevolkes (J 350/351) und stellt damit die Zuverlässigkeit der eigenen Kunstkritik a priori in Frage. Mit Blick auf Josefines musikalischen Vortrag jedenfalls, so behauptet der Erzähler, ist es allein dessen performativer Aspekt, aus dem seine Wirkungsmacht resultiert. »Aber steht man vor ihr, ist es doch nicht nur ein Pfeifen; es ist zum Verständnis ihrer Kunst notwendig, sie nicht nur zu hören, sondern auch zu sehn. […] Und wenn man vor ihr sitzt, versteht man sie; […] wenn man vor ihr sitzt, weiß man: was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen« (J 553f.). Künstler und Publikum sind über eine derart begründete Wirkungsästhetik untrennbar aneinandergebunden. Josefines Kunst, so ließe sich als poetologische Schlussfolgerung formulieren, ist als solche erst zu erkennen, wo sie zur öffentlichen Performance wird. Indem Josefine zum Anderen der Gemeinschaft wird, weil sie der Gruppe ermöglicht, an ihr das zu bewundern, »was wir an uns gar nicht bewundern« (J 353), wird die Bewunderung ihrer Kunst zu einem stabilisierenden Faktor im Prozess der Gruppenbildung. Tatsächlich hat die vom Ich-Erzähler konstatierte »Macht des Gesangs« ganz entscheidend mit diesem Prozess der Kollektivbildung zu tun. Und so erklärt sich vielleicht auch, warum Josefine »mit Vorliebe gerade in aufgeregten Zeiten« (J 357) singt und das Volk der Mäuse »gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefines Stimme« horcht (J 361). Im Kollektiv der Zuhörenden findet Josefines Publikum einen Schutzraum, der den Gemeinschaftssinn stabilisiert und der identitätsstiftend funktioniert, gerade weil Josefines Kunst die Grenzen der pragmatisierten Gesellschaft der Mäuse sprengt – sichtbar gemacht in dem vom Ich-Erzähler angesprochenen »Gefühle der Menge«, die »warm, Leib an Leib, scheu atmend« (J 356) zuhört. Ihr Gesang erzeugt seine Wirkung im Mäusevolk zudem dort, wo er auf eine »gewisse unerstorbene, unausrottbare Kindlichkeit« stößt, die dem Mäusevolk zu eigen ist, weil es seinen Kindern keine »wirkliche Kinderzeit« (J 364) bieten kann. Diese Kindlichkeit, von der, so der Ich-Erzähler, Josefine »seit je-
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her« profitiert (J 365), wird explizit als Bereich jenseits der Vernunft gekennzeichnet, er steht »im geraden Widerspruch zu unserem Besten, dem untrüglichen praktischen Verstande« (J 365). Die verstandesmäßig nicht nachvollziehbare Kunst Josefines findet damit eine Heimat in der nicht überwundenen Kindheit ihres Publikums – und antizipiert hier Roberto Bolaños ästhetische Standortbestimmung, wenn dieser als das eigentliche Exil des Schriftstellers wie des Lesers den Abschied von der Kindheit begreift: »Wahrscheinlich beginnt für uns Schriftsteller und Leser eine bestimmte Art von Exil, wenn wir die Kindheit hinter uns lassen.«29 Josefine hingegen, deren Figur, darauf wurde in der Forschung hinlänglich hingewiesen, eine (selbst-)ironische Auseinandersetzung mit der Autonomieästhetik ausstellt und die sich »mit der Negation der Primadonnenattitüde gegen einen Ästhetizismus wendet, der sich vom Leben abhebt«,30 besteht auf dem Anspruch individueller Autonomie. Sie entzieht sich bewusst dem Kollektiv – und zwar erneut in einem performativen Akt: »Ich pfeife auf euren Schutz«, stößt Josefine aus und sorgt damit vielleicht für eine der komischsten Passagen der Erzählung (J 359). Insgesamt lässt sich die komplexe Beziehung zwischen Josefines Kunst und der Mäusegesellschaft vielleicht am besten mit jener dialektischen Bestimmung des Kunstbegriffes einfangen, wie sie Theodor Adorno in seiner Ästhetischen Theorie vornimmt, wenn er dort zwischen dem vermeintlich autonomen Status der Kunst einerseits und ihrem Wesen als sozialer Tatbestand, als fait social, unterscheidet: »Der Doppelcharakter der Kunst als eines von der empirischen Realität und dem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang sich Absondernden, das doch zugleich in die empirische Realität und die gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge hineinfällt, kommt unmittelbar an den ästhetischen Phänomenen zutage.«31
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Bolaño, Roberto: Exile. In: ders.: Exil im Niemandsland, S. 12-23, hier S. 14. Vgl. Saße, Günter: Aporien der Kunst. Kafkas Künstlererzählungen Josefine, die Sängerin und Ein Hungerkünstler. In: Becker, Sabina; Kiesel, Helmuth (Hg.): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Berlin/New York 2007, S. 245-255, hier S. S. 248./Schmitz-Emans, Monika: Franz Kafka. Werk – Epoche – Wirkung. München 2010, S. 189. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt a.M. 1970, S. 374f.
Josefines Erbe
Eben diese Dialektik wird auch in der Wirkung der Kunst Josefines sichtbar, die gleichermaßen stabilisierend wirkt (dort wo sie das Publikum zum Kollektiv vereint), wie auch destabilisierend, weil sie zugleich einen Bereich sichtbar macht, der sich dem Selbstverständnis der Mäuse entzieht. Im Volk der Mäuse stiftet Kunst, so lässt sich mit Peter-André Alt schlussfolgern, »Desorientierung in einer Realität, die sich, weil sie normativ geregelt zu sein scheint, über ihre eigene Abgründigkeit betrügt.«32
III.
Bolaño: El policía de las ratas
Wie Kafka schreibt auch Bolaño seine Erzählung El policía de las ratas33 (deutsch: Der Rattenpolizist) im Wissen um die eigene Krankheit – der im gleichen Band wie die Erzählung publizierte Essay Literatura + enfermedad = enfermedad (Literatur + Krankheit = Krankheit) liest sich nicht nur als Auseinandersetzung mit dem zwischen Literatur und Medizin angesiedelten Genre der Pathografie, sondern leicht auch als autobiografische Standortaufnahme. Wenige Wochen vor seinem Tod an den Folgen einer Hepatitis-Erkrankung im Jahr 2003 übergibt Bolaño den Erzählband El gaucho insufrible (deutsch: Der unerträgliche Gaucho) seinem spanischen Verleger. El policía de las ratas, die dritte Erzählung des Bandes, präsentiert als Protagonisten und Ich-Erzähler die Ratte José alias Pepe el Tira, einen Neffen der Sängerin Josefine – imaginiert gewissermaßen den Fortgang des Kafka’schen Mäusevolkes, das seine Künstlerin schon fast vergessen hat, und sorgt damit für einen konkreten Fall intertextuellen Fortschreibens. Der heitere Tonfall der Kafka’schen Erzählung hat sich bei Bolaño, ein knappes Jahrhundert später, verflüchtigt. Aus dem betriebsamen Mäusevolk ist eine in der Kanalisation lebende Rattenpopulation geworden – der Text reiht sich damit in eine weltliterarische Tradition ein, die in Texten wie Boccaccios Novellensammlung Decamerone (entstanden um 1350, Erstdruck 1470), Heines Gedicht Die Wanderratten (entstanden um 1850, Erstdruck 1869),
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Alt, Peter-André: Der ewige Sohn. Eine Biographie. 2., durchges. Aufl. München 2008, S. 664. Bolaño, Roberto: El policía de las ratas. In: ders.: El gaucho insufrible, S. 53-86. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben und dem Kürzel (PR) direkt im Text nachgewiesen.
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Hauptmanns Tragikkomödie Die Ratten (1911) bis zu Texten der Gegenwartsliteratur, etwa in dem »ekelerregend-faszinierenden«34 Roman Die Ratte (1994) des polnischen Schriftstellers Andrzej Zaniewski, die Ratte als Symbol des Ekelhaften, Zerstörerischen, Kranken und Amoralischen aufruft.35 Bei Bolaño kreist der Alltag des Rattenvolkes um das pure Überleben – um die Suche nach ausreichend Nahrung in den unterirdischen Rohren und den Kampf gegen gierige Prädatoren, die versehentlich in die Kanalisation gelangt sind: Marder, Kaimane oder Schlangen. Die Geschichte dieser Rattenpopulation, so lautet die ernüchternde Einsicht des Erzählers, reduziert sich auf »la multiplicidad de formas con que eludimos las trampas infinitas que se alzan a nuestro paso« (PR 69). Die Kunst, die schon durch Josefines Zeitgenossen an den Rand der gesellschaftlichen Akzeptanz gedrängt worden war, hat in dem rauen Alltag der Ratten endgültig keinen Platz mehr, die Erinnerungen an die Sängerin sind fast gänzlich, heißt es, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Die wenigen noch lebenden Zeitgenossen Josefines erweisen sich zudem als unzuverlässige Zeugen, ihre Erinnerungen sind, so formuliert es der Ich-Erzähler, schwerelos wie Zigarettenpapier – »ligeros como papel de fumar« (PR 58). Die Schauplätze der Erzählung, stillgelegte Abwasserrohre mit ihrem unerträglichen Gestank nach Verwesung, ihren furchterregenden Geräuschen (»ruidos atemorizadores«, PR 55) in denen sich entstellte Leichen von Ratten, Rattenkindern und ausgezehrte Körper verirrter, in die Kanalisation gespülter Tiere finden, entfalten eine Topografie des Grauens. Damit erinnern sie an die Kulisse Santa Teresas, jener mexikanischen Grenzstadt aus Bolaños Welterfolg 2666, in deren undurchdringlichem Geflecht von Müllhalden, ausgestorbenen Straßen, stinkenden Hinterhöfen und von Gewaltexzessen geprägten Straßenzügen hunderte Frauenleichen – missbrauchte, zerstückelte, verweste Körper – gefunden werden. In der Gestaltung seiner fiktionalen Verbrechenstopografien, die bei Bolaño immer auch den Verweis auf den »traumatisierten«36 Heimatkontinent Südamerika beinhalten, findet der chi-
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Hirsch, Helga: Freund Leichenschänder. Über Andrzej Zaniewskis Roman »Die Ratte«. In: Die Zeit v. 14.10.1994, online verfügbar unter: www.zeit.de/1994/42/freund-leichenschaender/komplettansicht (letzter Zugriff: 16.4.2020). Vgl. Said, Laura: Lemma »Ratte«. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v. Günter Butzer u. Joachim Jacob. 2., erw. Aufl. Stuttgart 2012, S. 336-337. Bolaño: Literatur und Exil, S. 36.
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lenische Autor die literarische Vorlage einmal mehr bei Kafka: »Kein Ort der Welt«, bekennt er, »ähnelt Kafkas Strafkolonie mehr als Lateinamerika.«37 Wie ihre Vorfahren, die Kafka’schen Mäuse, ist es auch bei den Ratten Bolaños ein charakteristisches Zweckdenken, ein »sentido práctico« (PR 59), das sie in ihrem Kampf ums Dasein als Volk zusammenhält. Das Überleben des Einzelnen ist auf den Zusammenhalt der Gruppe angewiesen: »Vivimos en colectividad y la colectividad sólo necesita el trabajo diario, la ocupación constante de cada uno de sus miembros en un fin que escapa a los afanes individuales y que, sin embargo, es lo único que garantiza nuestro existir en tanto que individuos« (PR 57). Nicht nur Individualität ist in dieser aufs pure Überleben ausgerichteten Gesellschaft zum Luxus geworden, ausgeprägte Gefühle und individuelle, zwischenmenschliche Bindungen sind es auch. So wird ein verschwundener Rattensäugling kaum noch zur Kenntnis genommen – das Leben, lautet die ernüchternde Einsicht der Mutter, gehört denen, die stark genug dafür sind: »La misma rata me contó que tenía otros hijos, algunos mayores, a quienes le costaba reconocer como tales cuando los veía, y otros menores que aquel que había muerto, los cuales ya trabajaban y se buscaban, no sin éxito, la comida ellos solos« (PR 77). Im Gegensatz zu Kafkas Erzähler, der als Repräsentant des Mäusekollektivs auftritt, inszeniert sich José alias Pepe als Außenseiter einer Gesellschaft, deren restriktiver Begriff des Normalen und damit verbundene Grenzen durch Individualisten wie Pepe gerade sichtbar werden. Sein Schicksal, das Gefühl, anders zu sein (»la fatalidad, el saberme distinto de los demás«, PR 54) erklärt er vorrangig durch seine Blutsverwandtschaft mit Josefine. Gerade in seiner Funktion als Polizist und damit als Beschützer seines Volkes bleibt Pepe eine Ausnahme: Während sich Rattenpolizisten üblicherweise möglichst kurz am Ort des Verbrechens aufhalten und lieber wieder unter ihresgleichen mischen (»procuran, vanamente, mezclarse con nuestros semejantes«, PR 56), zieht es José immer wieder an die Tatorte zurück: »[P]ero yo era distinto, a mí no me disgustaba volver a inspeccionar el lugar del crimen, buscar detalles que me hubieran pasado desaparecidos, repro37
Bolaño, Roberto: Die Verlorenen. In: ders.: Exil im Niemandsland, S. 50-54, hier S. 52. Vgl. auch Bolaño, Roberto: Argot, Sex und Maßlosigkeit. In: Die Welt v. 27.5.2000, online verfügbar unter: www.welt.de/515834 (letzter Zugriff: 16.4.2020).
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ducir los pasos que seguían los pobres víctimas o husmear y profundizar, con mucho cuidado, eso sí, en la dirección de la que huían« (PR 56). Die Analogien zwischen der Künstlerin Josefine und dem Ermittler José treten gerade in ihrem Anderssein zutage – beide fühlen sich der Gesellschaft nicht zugehörig, die sie gleichzeitig schützen (auch bei Kafka heißt es schließlich über Josefine: »[S]ie glaubt, sie sei es, die das Volk beschütze.«, J 359). José fungiert dabei nicht nur als Alter Ego seiner Tante Josefine, sondern zugleich als eines der Autorfigur. Bolaño äußerte mehrfach seine Faszination für Ermittlerfiguren und markiert diese zugleich als Einzelgänger der Gesellschaft: »Ich wäre gern ein Detektiv geworden, der Morde aufklärt, viel lieber als Schriftsteller. Da bin ich mir absolut sicher. Ein Polizist, der Morde aufklärt, einer, der ganz allein, des Nachts, an den Ort des Verbrechens zurückkehrt und keine Angst vor Gespenstern hat.«38 Ein dritter Außenseiter gesellt sich zu Kafkas Künstlerin Josefine und zum Rattenpolizisten Bolaños hinzu – Héctor, der Killer. Auf seinen Streifzügen durch die Kanalisation entdeckt José die Leiche eines verhungerten Rattenbabys sowie die Leichen von vier erwachsenen Ratten, deren Hals aufgeschlitzt wurde, ansonsten sind die Tierkadaver unversehrt. Damit steht fest, dass der Mörder nicht unter den üblichen Räubern, den Fressfeinden, zu suchen ist. Die Bedrohung kommt nicht von außen, sondern mitten aus der Gemeinschaft der Ratten. Mit dieser Einsicht aber stößt José bei seinen Vorgesetzten auf Widerstand, denn, so lautet die offizielle Überzeugung: »[L]as ratas no matan a las ratas.« (PR 73) Ist es bei Kafka noch die selbsterklärte Künstlerin Josefine, deren musikalische Performances die Idee einer Autonomie des Kunstwerks aufrufen, die Freiheit des Individuums feiern und damit zugleich das am »praktischen Verstand« orientierte Selbstverständnis des Mäusevolkes irritieren, übernimmt diese Rolle bei Bolaño ein Mörder. Die Kunst hat keinen Platz mehr in der von ihm skizzierten Gemeinschaft der Ratten – sie bietet dem Individuum keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr, sondern bedeutet, so erklärt der IchErzähler, lediglich vollkommene Isolation: »En realidad, no practicamos y por lo tanto no entendemos casi ningún arte. A veces surge una rata que pinta, pongamos por caso, o una rata que escribe poemas y le da por recitarlos. Por regla general no nos burlamos de ellos. 38
Bolaño: Stern in der Ferne. Interview, S. 153.
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Más bien als contrario, los compadecemos, pues sabemos que sus vidas están abocadas a la soledad. ¿Por qué a la soledad? Pues porque en nuestro pueblo el arte y la contemplación de la obra de arte es un ejercicio que no podemos practicar, por lo que las excepciones, los diferentes, escasean« (PR 57). Die gruppenstabilisierende Funktion, die zumindest der Wirkung von Josefines Gesang noch zukam, weicht in Bolaños Text dem Selbstbetrug: Beifall wird nur noch vorgetäuscht, Kunst erzeugt keine ›echten‹ Regungen mehr – diese hingegen werden ersetzt durch die Illusion eines angeblichen Verständnisses und vermeintlicher Zuneigung: »[H]acemos todo lo que está en nuestras manos, que no es mucho, para procurarle al diferente un simulacro de comprensión y de afecto« (PR 58). Selbst die Beziehung zwischen Josefine und ihrem Publikum büßt im kollektiven Gedächtnis der Ratten an Bedeutung ein. So vermutet ein letzter Zeitzeuge Josefines, ein alter Polizist, dass die Zuhörer der berühmten Sängerin möglicherweise nur vortäuschten, Josefine zu lieben, und sie selbst nur vorgab, glücklich zu sein (»y ella era feliz así o fingía serlo«, PR 56). Diese Nebenfigur des greisen Polizisten, der Josefine noch persönlich kannte, ist, darauf hat Carlos Villacorta González aufmerksam gemacht, als Alter Ego der Kafka’schen Erzählinstanz zu lesen, gerade dort, wo sie auch bei Bolaño nur wenig zuverlässig wirkt und sich wiederholt widerspricht: »A veces decía que Josefina era gorda y tiránica […]. Otras veces, en cambio, decía que Josefine era una sombra« (PR 56).39 In einer Gesellschaft, in der es der Kunst nicht möglich ist, der Autonomie und der Freiheit des Individuums Ausdruck zu verleihen, tritt bei Bolaño der Verbrecher an die Stelle des Künstlers. Im Gegensatz zur Kunst ist damit kein stabilisierender, sondern nur noch ein selbstzerstörerischer Effekt verbunden. Nicht zufällig ist unter Héctors Opfern ausgerechnet der junge Eustaquio, dessen Eigenart (»peculiaridad«, PR 69), so heißt es, im Schreiben von Versen bestand – zum Arbeiten, weiß man, war er vollkommen ungeeignet (»manifiestamente inhábil«, PR 71). So findet der durch Josefine noch behauptete Kunstanspruch, hinter dem das freilich schon ironisch vorgeführte Ideal autonomer Kunst durchschimmert, bei Bolaño keine Erben mehr, sondern eine pervertierte Fortsetzung im ›zweckbefreiten‹ Töten Héctors – in seinem Morden um des Mordens willen (»por placer, no por hambre«, PR 76). 39
Vgl. Villacorta Gonzalez, Carlos: Retrato del artista como un roedor: De Josefina la cantora o El pueblo de los ratones de Franz Kafka a El Policía de las ratas de Roberto Bolaño. In: The Korean Journal of Hispanic Studies 62 (2014), H. 2, S. 139-162, hier S. 148f.
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»Yo soy una rata libre« (PR 81) bekennt Héctor stolz und stilisiert sich damit zum einzig autonom Agierenden innerhalb einer Gemeinschaft, die sich, so lautet das offizielle Gebot, stets an die Ordnung halten sollte, nicht an die Unordnung (»tender hacia el orden, no hacia el desorden«, PR 73). Verstöße gegen die Ordnung werden als Ausnahmen markiert – allen voran ein Mörder aus den eigenen Reihen. »Una anomalía […] un loco y un individualista« (PR 86) urteilt die oberste Instanz des Rattenvolkes, die alte Rattenkönigin, abschließend über Héctor, als dieser im Kampf mit José getötet wird. Ließe sich Josefines Ästhetik noch mit Marshall McLuhans Überzeugung »Kunst kann alles Mögliche sein, solange du damit durchkommst.«40 erfassen, radikalisiert Bolaños Fortschreiben der Kafka’schen Erzählung äußerst drastisch jene Verwandtschaft von Künstler und Verbrecher, die Joseph Beuys einst behauptet hat: »Künstler und Verbrecher sind Weggefährten; beide sind ohne Moral, verfügen über eine verrückte Kreativität, nur getrieben von der Kraft der Freiheit.«41 Die von Héctor proklamierte Freiheit bringt am Ende nicht nur ihn, den Mörder, zu Fall, sie macht das Scheitern einer Gesellschaft sichtbar, die jeglichen Individualismus ausgrenzt, bis dieser nur noch im Serienmord erkennbar ist. José, der Rattenpolizist, weiß: Die viel beschworene Ordnung lässt sich so einfach nicht wiederherstellen – ein Ausweg fällt auch ihm nicht mehr ein. »[C]omo pueblo«, lautet seine ernüchternde Bilanz, »también estábamos condenados a desaparecer« (PR 85).
IV.
Ausblick: Nach der Kunst
»Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren.« (J 377) heißt es am Ende der Kafka’schen Erzählung, wenn der Ich-Erzähler das Verschwinden und Vergessen Josefines kommentiert. Josefine wird, ist sich der Erzähler sicher, nur eine »kleine Episode in der ewigen Geschichte unseres Volkes bleiben« – mehr noch, da das Volk der Mäuse die Geschichtsforschung, heißt es an anderer Stelle, im Allgemeinen vernachlässigt, »wir keine Geschichte treiben«, wird Josefine am Ende »vergessen sein wie alle ihre Brüder.« (J 361)
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McLuhan, Marshall; Fiore, Quentin: Das Medium ist die Massage. Aus dem Englischen von Martin Baltes und Rainer Höltschl. Stuttgart 2011, S. 136 (The Medium is the Massage, 1967). Zit. n. Stachelhaus, Heiner: Joseph Beuys. Düsseldorf 1987, S. 209.
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»Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren«/»Quizá nosotros no perdamos demasiado, después de todo«, lautet auch das Motto, das Roberto Bolaño seinem Erzählband El gaucho insufrible und damit auch dem darin enthaltenen Text El policía de las ratas voranstellt – nur um durch sein Fortschreiben von Kafkas Erzählung diesem Satz jede Hoffnung (wenn diese bei Kafka überhaupt angelegt ist) endgültig auszutreiben. Mit Josefines Abschied vom Volk der Mäuse, das sie fortan allenfalls als Freak im kollektiven Gedächtnis lebendig hält, ist allerdings ein großer Verlust verbunden. Wozu dieser Verlust in letzter Konsequenz auch führt, das zeigt Bolaños Erzählung am Beispiel eines Rattenvolkes, das 80 Jahre nach Kafka und am Ende eines in seinem Ausmaß nicht einzuholenden Katastrophenjahrhunderts für seine Andersartigen endgültig keinen Platz mehr hat. Programmatisch sind diese Anderen, die diferentes, in konsequenter Kursivschreibung als fremdes Element im Text markiert. Mit dem Mörder als letztem bekennenden Individualisten innerhalb einer auf Konformität und Ordnung beharrenden Gesellschaft ist das Besondere in der Fratze des Bösen gebannt. Es ist dieses Böse, für das sich Bolaño nach eigener Aussage immer wieder interessiert, dieses »absolut Böse, das unwiderruflich all unsere moralischen Werte zerstört. Das heisst: das Böse, das zuallererst im Spiegel erscheint.«42
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Bolaño: Unser Teil der Traurigkeit (Anm. 10).
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Dichter in Wehrmachtsuniform Zur literaturgeschichtlichen Position des ›deutschen Autors‹ bei Roberto Bolaño Timm Reimers
I. Die Romane und Erzählungen des Chilenen Roberto Bolaño sind fundamental von Verweisen auf andere Texte, Literaturen, literaturkritische und -wissenschaftliche Diskurse geprägt. Sie sind im emphatischen Sinn ›Literatur aus und über Literatur‹ und geraten doch nie in den Verdacht des lediglich verspielten Selbstzwecks. Ihre Figuren sind stets meinungsstarke, meist selbst schreibende Leserinnen und Leser, und doch werden die krimiartigen Plots nur selten von belesenen Exkursen oder essayistischen Passagen unterbrochen. Das Geflecht von intertextuellen Verweisen, das insbesondere die großen Romane Los detectives salvajes (1998) und 2666 (2004) durchzieht, besteht aus einer Vielzahl von fiktiven und realen Büchern und Autoren, die oft mit leidenschaftlicher Zu- oder Abneigung von Erzählern oder Figuren herbeizitiert werden und nur bei entsprechender Vertrautheit der Leserschaft mit den aufgerufenen Kontexten ihren Reiz entfalten können. Die lateinamerikanischen Literaturen liefern in diesem Verweissystem die wichtigsten Koordinaten, doch auch der deutschen Literatur kommt eine gewisse Schlüsselstellung zu.1 Davon kündete bereits die Veröffentlichung
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Auf die zentrale Bedeutung der deutschen Figuren und Orte in Bolaños Romanen hat z.B. schon Lothar Müller in seiner Besprechung der deutschen Übersetzung von 2666 hingewiesen: »Es ist nicht irgendeine Sprache, in die nun mit der deutschen Übersetzung der Roman [2666] Roberto Bolaños eingeht. Es ist die Sprache einer seiner Hauptfiguren, und deutsche Städte wie Köln oder Paderborn, Hamburg oder Kempten im Allgäu gehören zu seinen Schauplätzen, wie das mexikanische Santa Teresa und die Grenzregionen von Arizona.« Müller, Lothar: Das Spiel ist aus. Endlich auch
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des Romans La literatura nazi en América (1996; dt. Die Naziliteratur in Amerika, Übs. Heinrich von Berenberg, 1999), mit der die wachsende und weltweite Popularität des Autors ihren Lauf nahm.2 Auch wenn es sich bei dem Roman – wie das dort aufgeführte fiktive Autorenpanoptikum zeigt – um eine vornehmlich gesamtamerikanische Literaturgeschichte handelt, die lediglich »zwei Deutsche am Ende der Welt« enthält, so schwingt doch der spezifisch deutsche Ursprung einer Naziliteratur mit. Ferner wirft schon der Begriff der Naziliteratur ein Licht auf das für Bolaño charakteristische Verständnis von Literatur, das wesentlich von der Biografie – gerade auch im Sinne des sinnlich und nicht nur intellektuell erfahrenen Lebens – ihrer Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Leser bestimmt ist: Naziliteratur bezeichnet kein spezifisches Merkmal von Texten (etwa deren propagandistischideologische Prägung), sondern bezieht sich auf die Haltung derjenigen, die sie hervorbringen. Dieses Gattungsverständnis betrifft nicht nur La literatura nazi en América, sondern tritt etwa auch in einem Wortwechsel zwischen Hans Reiter und seiner späteren Geliebten Ingeborg in 2666 mit komischem Effekt zutage. Die Frage Reiters, ob sie an Bücher glaube, verneint Ingeborg mit der Ergänzung: »[A]ußerdem gibt es bei mir zu Hause nur Nazi-Bücher, Nazi-Politik, Nazi-Geschichte, Nazi-Wirtschaft, Nazi-Mythologie, NaziDichtung, Nazi-Romane, Nazi-Theaterstücke.« Darauf entgegnet Reiter: »Ich hatte keine Ahnung, dass die Nazis so viel geschrieben haben.«3 Während Ingeborg mit den »Nazi-Bücher[n]« und ihren Untergattungen zweifellos auf die ideologisch einschlägige und durch Zensur und Büchervernichtung gesteuerte Literaturproduktion im »Dritten Reich« verweist, assoziiert Hans Reiter damit sofort eine Vielzahl schreibender Nazis bzw. einen Typus des
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auf Deutsch: Der große, nachgelassene Roman des chilenischen Autors Roberto Bolaño. In: Süddeutsche Zeitung v. 5./6.9.2009, S. 17. Die in diesem Aufsatz angeführten bio- und bibliografischen Informationen zu Bolaño finden sich vielerorts, verwiesen sei lediglich für die deutschsprachige Literaturwissenschaft auf: Meyer-Krentler, Leonie: Art. Roberto Bolaño. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG), aktualisierte Fassung 2012, 26 S., separate Paginierung. Vgl. außerdem die Chronologie im Katalog: Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (Hg.): Archivo Bolaño 1977-2003. Barcelona 2013, S. 28f. u. 172f. Beide Zitate Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 843; Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 2004, S. 869. Im Folgenden werden Zitate aus 2666 für beide Ausgaben in Kurzform nach dem Muster ›Seitenzahl(en) deutsche Übersetzung/spanische Originalausgabe‹ nachgewiesen.
Dichter in Wehrmachtsuniform
›Nazi-Vielschreibers‹, scheinbar ohne damit zugleich auch ein Verdikt über den ästhetischen Wert ihrer Werke zu fällen. Hans Reiters Verständnis einer Naziliteratur schließt so auch an Bolaños Faszination für moralisch korrumpierte und zwiespältige Autorinnen und Autoren an, über deren Biografie der Leser meist mehr erfährt als über ihre Werke. Denn nicht immer geht es in La literatura nazi en América oder in den folgenden Romanen um Autorinnen und Autoren von Nazi-Büchern im strengen Sinn, die das Weltbild des Nationalsozialismus ohne größeren literarischen Anspruch vornehmlich in Lyrik und Erzählprosa widerspiegelten. Es handelt sich vielmehr um Autorinnen und Autoren, deren literarische Produktion allgemein in den Machtverhältnissen des »Dritten Reichs« entsteht. Dabei wahren sie zwar stets eine intellektuelle Integrität, treten jedoch nicht in Opposition zum herrschenden Regime. Auf diese Weise werden die Autorinnen und Autoren der Naziliteratur auch zu Urtypen derjenigen Autorinnen und Autoren, die sich in den europäischen Faschismen, vor allem aber unter den lateinamerikanischen Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts mit den Verhältnissen arrangierten.4 Als Romanfiguren werden sie überdies in die literarhistorischen und -kritischen Diskurse überführt, die Bolaños Kritiker, Professoren und sonstige Lesefanatiker bespielen. Auch an den deutschen Autoren, die als Figuren in den Romanen auftreten, scheint Bolaño weniger ihr spezifisches Verhältnis zum Nationalsozialismus interessiert zu haben. Dagegen fällt auf, wie eng für ihn in den Lebensläufen Autorschaft und Militärkarriere im »Dritten Reich« zusammenhängen: In einem abstrakten Sinn trifft dies bereits auf den frühen und zu Lebzeiten unveröffentlichten Roman El Tercer Reich (1989, veröffentlicht 2010) zu, in dem der angehende Schriftsteller Udo Berger unter der Überschrift »Meine Lieblingsgeneräle« Wehrmachtsobere wie Rommel oder von Manstein im Vergleich mit Schreibstilen von deutschen Autoren der Nachkriegsliteratur zu charakterisieren sucht.5 Zwar ist Udo Berger selbst kein Soldat, jedoch be4
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Vgl. zu diesem in der neueren lateinamerikanischen Literatur virulenten Motiv das Kapitel »Nazi Tales from the Americas at the Turn of the Twenty-First Century«, in: Hoyos, Héctor: Beyond Bolaño. The Global Latin American Novel. New York 2015, S. 33-64; neben Bolaño werden hier Jorge Volpi und Ignacio Padilla behandelt. Vgl. das Kapitel »Evil Agencies«, in: Andrews, Chris: Roberto Bolaño’s Fictions. An Expanding Universe. New York 2014, S. 149-171. »Wenn der Verbrannte [Udo Bergers Gegner] die deutsche Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ein wenig kennen und schätzen würde […], würde ich ihm sagen, dass von Manstein mit Günter [i.O. »Gunther«] Grass vergleichbar ist und Rommel mit… Ce-
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geisterter Spieler des strategischen Brettspiels Axis & Allies, das die Militäraktionen und Schlachten des Zweiten Weltkriegs simuliert, wobei er bevorzugt die Seite der ›Achsenmächte‹ übernimmt. Was hier noch als buchstäblich verspielte Analogie erscheint – der Zusammenhang von deutscher Literatur- und Militärkarriere und der damit verbundenen Verstrickung in den nationalsozialistischen Machtapparat –, entwickelt sich in den späteren Werken zu einer konkreten idée fixe Bolaños, in der sich die Zusammenhänge von Gewalt, Politik und Literatur verdichten. Während diese Zusammenhänge und ihr Verhältnis zu den Theorien der Gewalt und des Bösen bereits häufiger untersucht wurden,6 soll im Folgenden an zwei besonders prominenten Beispielen gezeigt werden, dass gleichwohl weniger ein theoretischer Ansatz als vielmehr Bolaños genaue Kenntnis der direkt und indirekt herbeizitierten Kontexte der deutschen Literatur seine fiktiven Autorinnen und Autoren geprägt hat. An zwei Beispielen soll diesen Bezügen genauer nachgegangen werden: Zunächst anhand des kurzen Auftritts Ernst Jüngers in Nocturno de Chile (2000), der auf das historisch verbürgte Aufeinandertreffen lateinamerikanischer und deutscher Intellektueller im besetzten Paris zurückgeht (II.). Es folgt ein Blick auf die literarhistorische Sozialisation des fiktiven Über-Autors Benno von Archimboldi alias Hans Reiter in 2666, dessen Spur von einem kleinen preußischen Dorf am Meer über die russische Kriegslandschaft nach Köln und Hamburg führt, bis sie sich schließlich in der Wüste Santa Teresas verirrt (III.).
II. Der Roman Nocturno de Chile (dt. Chilenisches Nachtstück, Übs. v. Heinrich von Berenberg, 2007) ist ein einziger langer Monolog, der lediglich einmal, nämlich vor der letzten Zeile, durch einen Absatz unterbrochen wird. Es sind die Gedanken des sterbenden Opus-Dei-Priesters Sebastián Urrutia Lacroix, der
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lan. Auf dieselbe Weise ist Paulus mit Trakl vergleichbar und sein Vorgänger, von Reichenau, mit Heinrich Mann. Guderian ist das Gegenstück zu Jünger und von Kluge das zu Böll.« Bolaño, Roberto: Das Dritte Reich, Übs. v. Christian Hansen. München 2011, S. 248-251, hier S. 248; Bolaño, Roberto: El Tercer Reich. Barcelona 2010, das Kapitel »Mis Generales Favoritos«, S. 282-285, das Zitat S. 283. Vgl. bspw. die Beiträge in Hennigfeld, Ursula (Hg.): Roberto Bolaño. Violencia, escritura, vida. Madrid/Frankfurt a.M. 2015.
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in Chile eine Doppelkarriere als Schriftsteller und, unter dem Namen H. Ibacache, Literaturkritiker machte und dabei mit politischen Scheuklappen den Übergang von der Allende- zur Pinochet-Regierung miterlebte. Dieser Erzähler ist ein für Kenner der chilenischen Literaturszene leicht identifizierbarer fiktiver Wiedergänger des Literaturkritikers José Miguel Ibáñez Langlois, der ebenfalls unter einem Pseudonym, Ignacio Valente, publizierte.7 Von den Erzählepisoden, die in dem absatzlosen Textblock meist assoziativ ineinander übergehen, erregte insbesondere die letzte die Aufmerksamkeit der Literaturkritik: Während der Pinochet-Zeit ist Urrutia Lacroix im Haus der Schriftstellerin María Canales zu Gast. Er erfährt später von einem Bekannten, dass zur selben Zeit, während im Haus feingeistige Abendgesellschaften zusammenkamen, der in den Diensten der chilenischen Geheimpolizei stehende amerikanische Ehemann der Gastgeberin politische Gegner im Keller gefoltert habe.8 Diese Episode, die auf den Fall des realen Ehepaars Mariana Callejas und Mike Townley anspielt, liefert mit dem Haus und seinem Keller gleichsam die Allegorie des Standortes eines in den diktatorischen Machtapparat verstrickten Künstlers, und nicht zufällig steht sie wie ein Resümee am Ende der Erzählung.9 Weniger eindeutig lassen sich dagegen andere Erzählepisoden auflösen, in denen meist reales oder wiederum durch Namensänderungen geringfügig fiktionalisiertes Personal auftritt. Der volle Umfang der Anspielungsräume kann sich freilich nur den Leserinnen und Lesern erschließen, die mit Biografie und Werk der auftretenden Personen vertraut sind. Es steht allerdings ebenso außer Frage, dass der besondere Reiz des Romans nicht nur in solchen möglichen konkreten Aufschlüsselungen besteht, dies zeigen bereits die wertschätzenden Kritiken etwa im deutschen oder englischen Sprachraum, die auf eine besondere Erwähnung der realen literaturgeschichtlichen Hintergründe meist verzichten.10 Unter den rätselhaften Episoden im ersten Drittel
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Vgl. Meyer-Krentler: Art. Bolaño, S. 12f. Bolaño, Roberto: Chilenisches Nachtstück, Übs. v. Heinrich von Berenberg. München 2007, S. 144-149; Bolaño, Roberto: Nocturno de Chile. Barcelona 2000, S. 138-142. Im Folgenden werden Zitate aus Nocturno de Chile für beide Ausgaben in Kurzform nach dem Muster ›Seitenzahl(en) deutsche Übersetzung/spanische Originalausgabe‹ nachgewiesen. Vgl. für diese Lesart und Informationen zum realgeschichtlichen Gehalt der Episode Andrews: Bolaño’s Fictions, S. 149-153. Vgl. bspw. aus dem deutschen Feuilleton die Besprechungen von Mangold, Ijoma: Das Blut der Unsterblichkeit. Der Roman »Chilenisches Nachtstück« des großen, viel
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des Romans sticht eine besonders hervor, in deren Mittelpunkt eine Begegnung mit Ernst Jünger steht. Obwohl es sich hierbei nicht um eine Erinnerung des Erzählers Urrutia Lacroix, sondern um eine Binnenerzählung handelt, ändert sich der für den ganzen Text charakteristische elaborierte Tonfall kaum. Die Funktionen und Anspielungsräume der Episode entfalten sich jedoch erst vor dem Hintergrund der autobiografischen Schriften des realen Ernst Jünger. Den Rahmen für die Episode bilden Urrutia Lacroix’ Besuche der literarischen Gesellschaften im Landhaus des Literaturkritikers Farewell. Farewell führt den Priester-Dichter unter unablässigen sexuellen Avancen in die chilenische Literaturszene ein und ermöglicht ihm eine Begegnung mit Pablo Neruda, dessen nächtliche Rezitation der eigenen Gedichte zu einem körperlich-mystischen Erlebnis wird. Während Neruda auch außerhalb Chiles zu den prominentesten Autoren des Landes zählt, schildert die hier interessierende Binnenerzählung ein im deutschen Sprachraum gänzlich Unbekannter: Salvador Reyes (1899-1970),11 in dessen Haus Urrutia Lacroix in Begleitung Farewells zu Gast ist, berichtet von seinem Zusammentreffen mit »eine[m] der reinsten Männer, deren Bekanntschaft er in Europa gemacht habe«, mit Ernst Jünger.12 Angesichts der irrlichternd-versponnenen Erzählung, die darauf folgt, überrascht es, dass es sich bei der Begegnung von Salvador Reyes mit Ernst Jünger, die sich »in Paris […], während des Zweiten Weltkriegs, als er [Salvador Reyes] an der chilenischen Botschaft beschäftigt
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zu früh verstorbenen Erzählers Roberto Bolano [sic!]«. In: Süddeutsche Zeitung v. 5./6.5.2007, S. 16.; Halter, Martin: Schreiben ist kein unschuldiges Abenteuer. In: FAZ v. 4.8.2007. Halter entschlüsselt den erwähnten realen Kern des Hauses mit Folterkeller, ansonsten rühmen jedoch beide Rezensionen den Roman vornehmlich als Auseinandersetzung mit einer Literatenwelt, die moralisch-politischen Gewissensfragen weitgehend durch gezieltes Wegducken entgeht. Für die amerikanische Rezeption vgl. bspw. Eder, Richard: A Priest Who Lived Through the Grim Pinochet Era. In: New York Times v. 16.1.2004. Zu Salvador Reyes findet sich in keiner der Auflagen des von Gero von Wilpert herausgegebenen Lexikons der Weltliteratur und von Kindlers Literaturlexikon ein Eintrag. Seine Werke wurden nach meinen Recherchen nie ins Deutsche übertragen. Folgt man Bolaños Erzähler, steht es in seinem Heimatland um Reyes’ Ruhm allerdings kaum besser: »es kann schon sein, daß sich niemand mehr in Paris an Salvador Reyes erinnert, in Chile erinnern sich tatsächlich nur noch wenige an ihn« (Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 51/50). Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 37f./37.
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gewesen war«13 , zugetragen habe, nicht um Fiktion handelt. Denn in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die erstmals 1949 unter dem Titel Strahlungen veröffentlicht wurden, hält Ernst Jünger im Komplex des »Zweiten Pariser Tagebuchs«, das die Jahre 1943 bis 1944 dokumentiert, für den 11. Januar 1944 folgende Lektürenotiz fest: »›L’Equipage de la Nuit‹ von Salvador Reyès [sic!], dem chilenischen Konsul, mit dem mich die Doctoresse [d.i. Sophie Ravoux] bekanntmachte. Reyès nimmt sich, mit südamerikanischen Abwandlungen, ein Vorbild an den angelsächsischen Erzählern, die um die Jahrhundertwende gesprächig wurden, wie Kipling, Stevenson und Joseph Conrad, deren Wirken man mit den drei Worten: romantisch, puritanisch, planetarisch umschreiben kann.«14 Bolaño hat diese Passage aus den Strahlungen mit größter Wahrscheinlichkeit gekannt und als Ausgangspunkt für seine Jünger-Episode verwendet.15 So wird der Don Salvador Reyes des Romans von einer »Giovanna«, einer »Italienerin, […] italienische[n] Herzogin oder Gräfin«, dem »Hauptmann Jünger, Held des Ersten Weltkriegs, Autor der Bücher In Stahlgewittern, Afrikanische Spiele, Auf den Marmorklippen sowie Heliopolis«, vorgestellt.16 Ernst Jünger, dessen Reden im Roman inhaltlich ähnlich unbestimmt bleiben wie die Rezitationen Nerudas, bittet den Chilenen im Laufe der Erzählung tatsächlich um die französische Übersetzung von dessen Werken, worauf Salvador Reyes zumindest eines seiner Bücher verspricht – ein Verweis auf das in den Strahlungen des realen Jünger erwähnte L’Equipage de la Nuit (Paris 1943).17 Salvador Reyes stellt Jünger im Roman nach der ersten Begegnung eine weitere Verabredung zu einer »saftige[n], üblicherweise auf den späten Vormittag angesetzte[n] chilenische[n] Mahlzeit« in Aussicht.18 Diese fiktive Ausschmückung der im »Pariser Tagebuch« überlieferten Begegnung ist aber nur der Beginn der Jünger-Episode. Ihre Pointe folgt erst in 13 14 15
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Ebd., S. 38/38. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Erste Abteilung, Bd. 3: Tagebücher III: Strahlungen II. Stuttgart 1979, S. 212f. Eine spanische Ausgabe war zu dem Zeitpunkt, als Chilenisches Nachtstück entstand, greifbar: Jünger, Ernst: Radiaciones. Diarios de la Segunda Guerra Mundial, 2 Bde., Übs. v. Andrés Sánchez Pascual. Barcelona 1989/1992. Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 38/38. Knappe Hinweise zu dem Band finden sich im Kommentar der französischen PléiadeAusgabe von Jüngers Tagebüchern, vgl. Jünger, Ernst: Journaux de guerre. Bd. 2: 19391948. Hg. v. Julien Hervier u.a. Paris 2008, S. 1227. Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 39/39.
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einem weiteren, zufälligen Treffen zwischen dem chilenischen und dem deutschen Schriftsteller in der Mansarde eines im Text namenlosen guatemaltekischen Malers. Hier werden die Bilder aus den Aufzeichnungen Jüngers durch den lateinamerikanischen Rahmen neu kontextualisiert. Bei dem Maler handelt es sich, zumindest in den Augen von Don Salvador Reyes, um eine Art melancholischen Hungerkünstler, der zwar von ihm regelmäßig mit Essen beliefert wird, sich dafür jedoch weder bedankt, noch etwas davon zu sich zu nehmen scheint.19 Für diesen Maler gibt es in Jüngers Tagebuch kein Pendant, gleichwohl verweist die Szene in der Mansarde auf eine der berühmtesten und – insbesondere im deutschen Diskurs über Jünger – berüchtigtsten Passagen aus Strahlungen, die sogenannte ›Burgunderszene‹, hin. Im Zentrum des Gesprächs zwischen Jünger und Salvador Reyes steht das Gemälde »Ansicht der Stadt Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang« des Guatemalteken, das »die mexikanische Hauptstadt, gesehen von einem Hügel oder vielleicht auch einem Balkon eines höheren Gebäudes« zeigt: »Grün und Grau sind die vorherrschenden Farbtöne. Einige Stadtviertel wirken wie Meereswogen. Andere wie Negative von Fotografien. Menschliche Gestalten sind nirgends zu entdecken, hingegen sieht man hie und da verwischte Skelette, die sowohl von Menschen als auch von Tieren stammen könnten.«20 BolañoLeserinnen und -Leser mögen sich bei diesem morbiden Mexiko-Bild bereits an die Welt von DF (Mexico City), Sonora und Santa Teresa erinnert fühlen, die auch das räumliche Zentrum seines Werks, insbesondere Los detectives salvajes und 2666, bilden. Bolaños Ernst Jünger doziert dagegen ausgiebig über die Überblendung der Ansicht von »der aztekischen Kapitale«,21 die der Maler zwar besucht, aber nach einer Woche ohne bleibende Eindrücke wieder verlassen habe, und dem von Deutschen besetzten Paris. Don Salvador Reyes kann Jüngers Rede nur bedingt folgen, entnimmt ihr aber, »daß der Guatemalteke sich in Paris befand, daß der Krieg begonnen hatte oder gerade im Begriff stand zu beginnen, daß der Guatemalteke bereits die Gewohnheit angenommen hatte, lange Mußestunden vor dem einzigen Fenster seiner Mansarde damit zu verbringen, das Panorama von Paris zu betrachten, und daß aus dieser Betrachtung, aus der schlaflosen Betrachtung der Stadt Paris, die ›Ansicht der Stadt Mexiko eine Stunde vor Sonnenaufgang‹ entstanden war, ein Bild, das auf seine Weise ein Altar für Menschen19 20 21
Ebd., S. 40f./39f. Ebd., S. 45/44. la capital azteca, ebd., S. 47/46.
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opfer war, eine Geste erhabenen Widerwillens, das Hinnehmen einer Niederlage, nicht allerdings der von Paris oder der europäischen Kultur, die emsig damit beschäftigt war, sich selbst unter viel Lärm und Geschrei in Schutt und Asche zu legen, der Niederlage von politischen Idealen, die der Maler vage als seine eigenen erkannte, sondern der höchsteigenen, der eines ruhm- und glücklosen Guatemalteken, finster entschlossen, sich in den Zirkeln der Stadt des Lichts einen Namen zu machen, und diese Hellsichtigkeit, mit der der Guatemalteke seiner eigenen Niederlage ins Auge blickte, bewirkte, daß sich unserem Diplomaten jedes einzelne Härchen auf seinen Armen aufstellte, daß er, vulgär gesprochen, eine Gänsehaut bekam.«22 Die Betrachtung der Ansicht von Paris als eines »Altar[s] für Menschenopfer« – eine Formulierung, die im Gemälde die Tradition der Aztekenstadt Tenochtitlán aufruft – erscheint aus dem Mund von Bolaños Jünger wie eine unmittelbare Anspielung auf das Pariser Stadtpanorama, das der historische Jünger im »Zweiten Pariser Tagebuch« vier Monate nach der Begegnung mit Salvador Reyes unter dem Datum des 27. Mai 1944 entworfen und somit seinerseits ästhetisiert hat: »Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des ›Raphael‹ sah ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Ihr Angriffsziel waren die Flußbrücken. Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deuten auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.«23 Diese vielzitierte Szene ist seit ihrer ersten Veröffentlichung in Strahlungen immer wieder kommentiert worden und gilt als Kernindiz für die genießerisch-dandyhafte Haltung Jüngers, in der er auch im Angesicht von Krieg, Zerstörung und Leid noch vornehmlich das ästhetische Ereignis entdeckt.24 22 23 24
Ebd., S. 48f./47f. Jünger: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 271. Einen guten Überblick zu den verschiedenen Positionen in Presse und Forschungsliteratur liefert der Beitrag von Wimbauer, Tobias: Kelche sind Körper. Der Hintergrund der »Erdbeeren in Burgunder«-Szene (2004). In: ders. (Hg.): Ernst Jünger in Paris. Ernst
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Es ist gewiss vor allem diese Seite, auf die mit dem Auftreten Jüngers im Kontext von Bolaños Roman angespielt wird, allerdings erscheint es mir zu kurz gegriffen, ihn ausschließlich als eine – ebenfalls politische und moralische Fragen in einem Terrorregime beiseiteschiebende – Vorläuferfigur von Urrutia Lacroix und seinem Kreis zu betrachten.25 Es geht auch weniger um eine direkte Übernahme von markanten Begriffen – ein »Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen«, kommt in der Szene bei Bolaño etwa nicht vor, doch immerhin trinkt man »zwei Gläser Kognak aus Jüngers, in einem silbernen Fläschchen versorgten Vorrat«26 – als vielmehr um die künstlerische Anverwandlung des Pariser Stadtpanoramas, das hier als aztekische Stadt im Zeichen Jüngers lateinamerikanisiert wird.27 Dabei handelt es sich zwar um eine eher assoziative Verknüpfung, die jedoch nicht rein willkürlich ist, sondern
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Jünger, Sophie Ravoux, die Burgunderszene und eine Hinrichtung. Hagen-Berchum 2011, S. 9-75, zur Deutungsgeschichte insbesondere S. 69-74. Im selben Beitrag liefert Wimbauer auch eine Deutung der Szene, die die Schilderungen entschieden als Fiktion betrachtet – am 27. Mai 1944 habe es keine abendlichen Luftangriffe gegeben – und die dort enthaltenen Bildelemente in den Kontext der von Jünger wiederholt verwendeten Liebessymboliken stellt. Einen biografischen Überblick zu Jüngers Zeit in Paris bietet Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 503-509 sowie 516-527; zu Strahlungen vgl. den Art. von Klausnitzer, Ralf: Strahlungen (1949). In: Schöning, Matthias (Hg.): Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014, S. 165-174. Martin Halter stellt in seiner Rezension ebenfalls einen Bezug zwischen dem Auftreten Jüngers und der ›Burgunder-Szene‹ her und spitzt ihn zu, wenn er darauf hinweist, Urrutia Lacroix sei »auch […] ein konservativer Freigeist, der Erdbeeren aus dem Burgunderglas fischt, während ringsum gefoltert wird«. Vgl. Halter: Schreiben. Dagegen sieht Ignacio López-Vicuña in Jünger einen Schriftsteller, der trotz seiner konservativen Grundhaltung gegen die Nazis opponiert und beispielsweise Picasso unterstützt habe, was den Fall doch stark vereinfacht. Vgl. López Vicuña, Ignacio: The Violence of Writing. Literature and Discontent in Roberto Bolaños ›Chilean‹ Novels. In: Journal of Latin American Cultural Studies 18 (2009), H. 2/3, S. 155-166, hier S. 161f. Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 47/46. Die Opferriten der Azteken sind ein weiterer Urmythos, den Bolaño in mehreren seiner Werke aufruft und, wie ein lateinamerikanisches Vorspiel, in den Kontext der Gräuel des 20. Jahrhunderts stellt. An markanter Stelle erklärt etwa in 2666 Ingeborg Hans Reiter die Menschenopfer der Azteken und fühlt sich bei Tenochtitlán und Tlatelolco zugleich an Genf und Lausanne erinnert (Bolaño: 2666, S. 844-847). Vgl. zu diesem Motiv auch López-Calco, Ignacio: Roberto Bolaño’s Flower War: Memory, Melancholy, and Pierre Menard. In: ders. (Hg.): Roberto Bolaño, a Less Distant Star. New York 2015, S. 35-64, insbesondere S. 37f.
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sich aus dem Lektüredetail – eben der beiläufigen Erwähnungen von Salvador Reyes in den Strahlungen – speist. Das Fazit der Jünger-Episode in Chilenisches Nachtstück, von dem nicht ganz klar ist, ob es eher dem Erzähler Urrutia Lacroix oder dem Binnenerzähler Reyes zuzuordnen ist, stellt ihren Ursprung aus Jüngers Tagebuch deshalb noch einmal ins Zentrum: »Und soviel ist gewiß, und es sollte uns mit Stolz erfüllen: Von keinem anderen Chilenen, außer Salvador Reyes, ist in Jüngers Erinnerungen die Rede. Kein einziger Chilene streckt seine zitternde Nase aus den geschriebenen Werken dieses Deutschen, mit Ausnahme von Salvador Reyes. Kein anderer Chilene macht in diesen dunklen und doch so überaus reichhaltigen Jahren eine irgendwie auffällige Figur, sei es als menschliches Wesen oder als Autor eines Buchs, ausgenommen Don Salvador Reyes.«28 Auf diese Weise wird noch einmal deutlich, dass die Erwähnung Reyes’ in Jüngers Werk das Einfallstor für die in der Fiktion aufgerufenen chilenischen Kontexte ist. Indem sich Salvador Reyes gleichsam aus den Strahlungen erhebt – und sei es auch nur die »zitternde Nase« –, wird auch die Amalgamierung von deutsch-lateinamerikanischen Bildwelten in der Mansarde des guatemaltekischen Malers eben nicht nur willkürliche Erfindung, sondern aus dem (realen) literaturgeschichtlichen Detail wahrscheinlich. Eine letzte Volte um die Gestalt Ernst Jüngers hält der Erzähler von Nocturno de Chile kurz nach dem Bericht von Salvador Reyes bereit. Im Gespräch mit Farewell erwähnt Urrutia Lacroix eine Traumvision, in der ihm Jünger als rätselhaftes Emblem wiedererschienen sei, als Schriftsteller, »der im Innern eines Raumschiffs hockt, wie ein Vogel in einem Nest aus qualmendem, verbogenem Metall, […] im Begriff, die Reise in die Unsterblichkeit anzutreten«. Dieses Raumschiff sei »an den Andenkordilleren zerschellt, und des Helden unversehrter Leichnam inmitten des Blechhaufens werde bewahrt vom ewigen Schnee, und die Schriften aller Helden und ihrer Schriftgelehrten wären in sich selbst ein Gesang, ein Gesang zum Lobe Gottes und der Zivilisation«.29 Mit diesem Bild schließt Bolaño die Jünger-Episode ab. Wenn an ihrem Beginn schon der Begriff der Reinheit (pureza) und Salvador Reyes’ Rede über Jünger als einen der »reinsten Männer« (uno de los hombres más puros) stand – eine Haltung, die wohl selbst die größten Jünger-Apologeten kaum teilen 28 29
Bolaño: Chilenisches Nachtstück, S. 51/50. Beide Zitate ebd., S. 52/50f.
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dürften –, so bricht er an ihrem Ende als gleichsam Außerirdischer mit seinen Schriften in die lateinamerikanische Literatur ein. Mit dieser ScienceFiction-Vision, die an die alternativen Weltentwürfe und Geschichtsumdeutungen der Planet of the Apes-Filmreihe erinnert, sind freilich alle politischen und literarhistorischen Anspielungsräume, aus denen sich Bolaños Jünger zuvor zusammensetzte, verwischt.
III. Der umfängliche Roman 2666, der bereits ein Jahr nach Bolaños Tod 2004 in Barcelona erschien, wurde – entgegen der Erwägungen Bolaños – nicht in einer sukzessiven Folge von fünf Einzelveröffentlichungen, sondern in einem Band von gut 1100 Seiten publiziert. Die darin enthaltenen fünf Teile lassen sich nur schwer in das Programm eines Romans fügen. Bolaños Freund und Nachlassverwalter Ignacio Echevarría verweist in seinem Nachwort auf das »verborgene Zentrum« (centro oculto), das »physische Zentrum« (centro físico) des Romans, das in den Notizen des Nachlasses erwähnt werde und bei dem es sich – so Echevarría – wohl um die Stadt Santa Teresa handeln müsse.30 Tatsächlich führen in allen fünf Teilen Spuren in die fiktive Stadt, deren reales Vorbild das mexikanische Ciudad Juárez nahe der US-amerikanischen Grenze ist, in drei Teilen ist sie der zentrale Handlungsort. »Der Teil von den Verbrechen« (La parte de los crímenes) erzählt detailliert und in Anlehnung an reale Kriminalfälle von der nicht abreißenden Serie von Frauenmorden in der Grenzregion, von immer neuen Leichenfunden, von Indizien und Misshandlungsspuren und von immer wieder scheiternden, teils stümperhaften oder halbherzigen Ermittlungen. In diesem umfangreichsten Teil des Romans finden sich zwar Handlungsbezüge zu den vorhergehenden wieder, ohne allerdings geschlossene Bögen und mehr Übersicht zu bieten. Die voranschreitende Romanhandlung scheint mitunter vollständig zu stagnieren und durch die additive Reportage ersetzt worden zu sein. Doch »Der Teil von den Verbrechen« ist nicht der letzte Teil des Romans. Am Ende steht »Der Teil von Archimboldi« und damit die Auflösung wenigstens eines der vielen Rätsel des an Rätseln und Finten so reichen Romans, nämlich die beinahe lückenlose Biografie des Autors, nach dem die vier Germanisten des ersten Teils (La parte de los críticos) gefahndet haben. Benno von 30
Bolaño: 2666, S. 1089/1123.
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Archimboldi alias Hans Reiter bildet – so legt es auch die Klammer von erstem und letztem Teil nahe – zumindest ein weiteres centro oculto von 2666. Damit steht einmal mehr ein deutscher Autor im Mittelpunkt des Interesses, dessen literaturgeschichtliche Verwandtschaften und Verflechtungen erneut auf Bolaños Dauerthema einer Verbindung von Autorschaft und (Nazi-)Verbrechen verweist. Zeigte sich bei der Fiktionalisierung des realen Autors Jünger vor allem Bolaños Auseinandersetzung mit den Schriften dieses Autors, so ist bei dem fiktiven Autor Archimboldi dessen geschilderte Lese- und Schreibsozialisation von Interesse, die eine weitere Facette von Bolaños Auseinandersetzung und beherzter Deutung deutscher Literaturgeschichte und ihrer Protagonisten und zugleich Bezüge zur in Nocturno de Chile entworfenen soldatisch-kühlen Autor-Persona, für die Ernst Jünger steht, erschließt.31 Nach den ersten aus dem Nachlass Bolaños veröffentlichten Texten zu urteilen, stand die deutsche Herkunft Archimboldis keineswegs in allen Phasen der Konzeption fest. In dem 2011 unter dem Titel Los sinsabores del verdadero policía (dt. Die Nöte des wahren Polizisten, Übs. Christian Hansen, 2013) veröffentlichten Konvolut, das verschiedene von Bolaño unter diesem Titel gesammelte Texte aus dem Zeitraum von 1990 bis 2003 zusammenträgt, findet sich auch der Abschnitt »J.M.G. Arcimboldi«, der Fragmente einer alternativen Biografie Archimboldis enthält. Das fehlende »h« im Namen ist nur die erste Auffälligkeit, darüber hinaus handelt es sich bei Arcimboldi um einen französischen Autor, der 1925 in Carcassonne geboren wurde und dessen Werke allesamt zwischen 1956 und 1988 bei Gallimard erschienen sind. Lediglich zwei Romantitel stimmen mit solchen des Archimboldi aus 2666 überein, eine weitere Verbindung lässt sich aus dem Auftauchen eines Titelhelden Archimboldis in einer Inhaltsangaben der Romane Arcimboldis ableiten.32 Auch wenn sich 31
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Eine direkte Verbindung von Benno Archimboldi zu Ernst Jünger taucht schon früh im Roman auf. Für Manuel Espinoza, den Madrider Literaturprofessor aus dem Quartett der críticos, das im Mittelpunkt des ersten Teils von 2666 steht, führt der Weg zu Archimboldi über den Beitritt zu einem »Jünger-Kreis« (Bolaño: 2666, S. 17f./19f.). Diesen Kreis verlässt er aber schnell wieder, weil er bei einem Besuch Jüngers in Madrid keine Erlaubnis erhält, den großen Schriftsteller zu treffen. Eine zweite Erwähnung Jüngers steht im Zusammenhang mit Archimboldis Roman Der Heilige Thomas, der beschrieben wird als »die apokryphe Biographie eines Biographen, dessen biographischer Gegenstand ein Großschriftsteller des Nazi-Regimes war, in dem einige Kritiker Ernst Jünger erkennen wollten, obwohl es sich offensichtlich nicht um Jünger, sondern um eine sozusagen fiktive Person handelte« (Bolaño: 2666, S. 1027/1059f.). Es handelt sich um die Romane Die Vollkommenheit der Schiene (»Gallimard 1964«) und Die grenzenlose Rose (»Gallimard 1968«) sowie Die Neger von Fontainbleau (»Gallimard
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– zumindest anhand der veröffentlichten Textgestalt – nicht ermitteln lässt, ob es sich bei der französischen Variante Archimboldis um eine verworfene Vorstufe oder ein grundsätzlich anders gelagertes Projekt Bolaños handelt, so weisen die längeren Inhaltsangaben im Lichte der Lektüre von 2666 auf eine Leerstelle hin, die weder im ersten noch im fünften Teil gefüllt wird: Über das Werk Archimboldis und damit den Gegenstand der Faszination der críticos erfährt man im ganzen Roman nur Angedeutetes und Schemenhaftes. Konkreter wird dagegen die literarische Sozialisation Archimboldis geschildert, und hier wird von Bolaño ein Koordinatensystem der deutschsprachigen Literatur entworfen, dessen poetologischen Gehalt es noch zu entschlüsseln gilt. Reiter alias Archimboldi erweist sich schon früh als ein Abweichler von der metaphorischen Heimat der Deutschen. Er habe schon als Säugling Ähnlichkeit mit einer Alge gehabt und bewegt sich später »wie ein ungeübter Taucher am Meeresgrund«.33 Der Erzähler stellt diese Fixierung auf Unterseeisches, die in Reiters Lebensschilderung leitmotivisch immer wieder auftaucht, als gegenläufig zum deutschen Nationaltypus heraus: »Canetti und ich glaube auch Borges, zwei grundverschiedene Menschen, sagten, so wie das Meer Symbol oder Spiegel der Engländer, so sei der Wald die Metapher, in der die Deutschen lebten.«34 Hans Reiter steht nach diesem Schema jedoch nicht in der symbolischen Tradition der Deutschen, sondern fühlt sich zum Meer hingezogen. Anders als die Engländer, folgt man der Nationaltypologie Canettis, ist Hans Reiter aber nicht von der Meeresoberfläche und ihrer Beherrschung als Schiffskapitän besessen, sondern vom »Meeresgrund, diese[m] andere[n] Land, mit Ebenen, die keine Ebenen, Tälern, die keine Täler und Abgründen,
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1970«); in der Inhaltsangabe des Letztgenannten taucht die Figur »D’Arsonval« auf, so lautet auch der Titel eines Romans des Archimboldi aus 2666. Vgl. Bolaño, Roberto: Die Nöte des wahren Polizisten, Übs. v. Christian Hansen. München 2013, S. 155 u. S. 162166. Bolaño: 2666, S. 776/798. Ebd., S. 775/797. Es ist mir nicht gelungen, eine entsprechende Formel bei Borges zu finden. Bei Elias Canetti stehen die entsprechenden Passagen im Kapitel »Massensymbole der Nationen« in Masse und Macht. Dort schreibt Canetti den Nationen einen charakteristischen Raum sowie eine Rolle zu, in der dieser Raum beherrscht wird. Die Formulierung, auf die sich Bolaño wohl bezieht, findet sich am Ende des Unterkapitels »Deutsche«: »Der Engländer sah sich gern auf dem Meer, der Deutsche sah sich gern im Wald; knapper ist, was sie in ihrem nationalen Gefühl trennte, schwerlich auszudrücken.« Vgl. Canetti, Elias: Masse und Macht. München 2011 (Werke, Bd. 3), S. 197-209, das Zitat S. 203.
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die keine Abgründe waren«.35 Insofern ist Hans Reiter schon im ersten Drittel des »Teils von Archimboldi« und von Geburt an der Untergetauchte. Mag er sich nationalsymbollogisch auch explizit vom Topos des deutschen Waldes absetzen, so steht die Charakterisierung des Meeresgrundes als »andere[s] Land« und Gegen-Wirklichkeit unverkennbar in der Tradition der deutschen Romantik von Tieck, Hoffmann oder Fouqué. In seiner Kindheit und Jugend wird Hans von außen und in seinem Selbstverständnis als ein amphibisches Mischwesen beschrieben, das »sich auf der Erdoberfläche bewegte wie ein ungeübter Taucher am Meeresgrund«.36 Auch die erste Weltorientierung durch die Literatur steht folgerichtig unter diesen gleichsam amphibischen Zeichen: Das erste Buch und der treue Begleiter Hans’ ist der gestohlene Band Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten, in dem er nicht nur ständig liest, sondern das ihn auch über die intensive Beschäftigung mit den Algenarten und ihrem Auftreten in unterseeischen Wäldern wieder dem Wald als deutschem Sehnsuchtsort annähert.37 Die mährische Landschaft und ihre Bewohner werden als quasi-mythologischer Kosmos beschrieben, in den sich Hans, der im Laufe seiner Jugend mehrmals selbst mit einer Alge verwechselt wird, als Zwischenwesen und Außenseiter einfügt: Nicht reale Orte, sondern das »Dorf der Roten Männer«, das »Dorf der Blauen Frauen«, das »Dorf der Dicken« und das »Dorf der Geschwätzigen Mädchen« bilden das Terrain um Hans’ Heimatdorf und bestimmen den romantischfantastischen Charakter der Anfänge des späteren Schriftstellers. Die eigentliche literarische Initiation findet dann unter dem Einfluss von Hugo Halder statt, dem Neffen des preußischen Barons von Zumpe, in dessen Diensten sich Hans nach seinem Schulabbruch befindet. Hugo Halder charakterisieren nicht nur seine Studien in der Bibliothek des Herrenhauses derer von Zumpe, sondern auch seine gelegentlichen Diebstähle aus dem Tafelsilber des Barons, bei denen sich Hans bald als schweigender Komplize erweist. Hugo stilisiert sich zum empfindsamen Leser der deutschen Klassik und Romantik – es fallen die Namen Goethe, Schiller, Kleist, Hoffmann, Eichendorff und Hölderlin – und weist Hans Reiter an, die erste Lektüre eines »gute[n] literarische[n] Buch[es]« (un buen libro literario) durch einen zufälligen Griff in die Bibliothek des Barons bestimmen zu lassen.38
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Bolaño: 2666, S. 775/797. Ebd., S. 778/798. Vgl. ebd., S. 777f./799f. Ebd., S. 797/820.
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»Wie es der Zufall oder der Teufel wollte, war das Buch, das Hans sich ausgesucht hatte, der Parzival [im spanischen Original Parsifal] von Wolfram von Eschenbach.«39 Halder deutet diese Wahl als Wink des Schicksals, handele es sich doch um ein Buch, das Hans zwar nicht verstehen werde, in dessen Autor, Wolfram, er aber »eine ganz klare Ähnlichkeit mit sich selbst finden werde, oder mit seiner Geistesart oder damit, wie er gern wäre und leider Gottes niemals sein würde«.40 Tatsächlich ist diese »Ähnlichkeit« zwischen dem jungen Hans Reiter und Wolfram oder besser gesagt der Autor-Persona des Parzival-Erzählers vorhanden. Die Ausführungen Hans Reiters über Wolfram enthalten drei direkte Zitate aus dessen Werken, die auch die spärlichen Informationen zu Wolframs Bildung und Stand paraphrasieren, die die Erzähler im Parzival und Willehalm liefern. Aus der sogenannten ›Selbstverteidigung‹ des Erzählers Wolfram ist die berühmte Formulierung »ine kan decheinen buochstap« enthalten,41 die zwischen (behauptetem) Analphabetismus und (behaupteter) fehlender Buchgelehrsamkeit gedeutet wurde. Auf die Rolle des Bücherwissens verweist auch der zweite von Wolfram – diesmal aus dem Prolog des Willehalm – übernommene Vers, den Bolaño Hans Reiter und Hugo Halder zitieren lässt: »swaz an den buochen stât geschriben, des bin ich künstelôs beliben.«42 Schließlich folgt mit »schildes ambet ist mîn art« noch Wolframs Hinweis auf seinen Status,43 der sich ebenfalls im Lichte eines Autor-Selbstbildes verstehen lässt, das den tatkräftigen Ritter-Autor als Gegenbild eines nur aus Lektüren zehrenden Bücherwurms entwirft. Diese direkten Wolfram-Zitate, die Bolaño aus spanischen Übersetzungen übernimmt und die in der deutschen Übersetzung von Christian Hansen mit den Wolfram-Übertragungen Kühns, Knechts und Heinzles abgeglichen wurden, ergänzt Hugo Halder noch mit ›Fakten‹ über den historischen Wolfram, die sich freilich wiederum in erster Linie aus den Werken speisen und von Halder
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Ebd., S. 798/822. Ebd. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann,Übs. v. Peter Knecht. Berlin/New York 1998, S. 117 (115,27). Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Völlig neu bearbeitete Übs., Vorwort u. Register v. Dieter Kartschoke. Berlin/New York 1989, S. 2 (2,19f.).Vgl. hierzu überblickshaft Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2004, S. 5-9. Wolfram: Parzival, S. 117 (115,11).
Dichter in Wehrmachtsuniform
wie mitunter auch der älteren germanistischen Forschung zupackend auf die wirklichen Lebensverhältnisse übertragen werden.44 Die hier Wolfram (und Parzival) zugeschriebenen Charakteristika fügen sich in die schon erläuterten Wesenszüge des Typus eines deutschen Autors, den Bolaño auch in der Jünger-Episode vorgeführt hat: So zeichne Wolfram nach den Ausführungen Hugo Halders sein »Stolz« aus, »eine Aura von atemberaubendem Geheimnis und gnadenloser Gleichgültigkeit« (un halo de misterio vertiginoso, de indiferencia atroz).45 Geheimnis, Gleichgültigkeit und die Betonung des Ritterdienstes als eines Dienstes an der Waffe lassen Wolfram darüber hinaus als ein Vorbild für Hans Reiters Autor-Alter-Ego Benno von Archimboldi erscheinen. So wird Parzival für Hans im Polenfeldzug zu einer Identifikationsfigur, denn unabhängig von Hugo Halders biografischen Exkursen gefällt Hans die Lektüre des Romans, insbesondere das Detail, »dass Parzival gelegentlich sein Pferd bestieg (Ritterdienst ist mein Beruf ), unter seiner Rüstung aber sein Narrenkleid trug«.46 Als Reiter nach Kriegsbeginn wenig später mit seinem Bataillon von Dorf zu Dorf vorrückt, kommt es ihm dann selbst so vor, als trüge er »unter seiner Wehrmachtsuniform […] ein Narrenkleid oder einen Narrenpyjama«.47 Reiter/Archimboldi liest und lebt sich im Roman, bevor er überhaupt mit dem Schreiben beginnt, in Motive und Stoffe der deutschen Literatur ein. Der eigentliche Entschluss Hans Reiters, vom Lesenden zum Schreibenden zu werden und sich hinter dem Pseudonym Archimboldi zu verbergen, wird im Text nie explizit dargestellt, steht jedoch im engen Zusammenhang mit dem auf dem Russlandfeldzug zufällig gefundenen Tagebuch des russischen Dichters Ansky – wiederum ein Döblin-Leser –, das ihm als Dauerlektüre die Tier- und Pflanzenarten an Europas Küsten ersetzt.48 Anders als im Falle dieser anspielungsreichen literarischen Sozialisation Hans Reiters, gibt Bolaños Erzähler nur wenige Hinweise auf die literarhistorischen Koordinaten, innerhalb derer sich das spätere Werk Benno von Archimboldis, etwa innerhalb der deutschen Nachkriegsliteratur, verorten ließe.
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Vgl. Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 1-5. Bolaño: 2666, S. 799/822. Ebd., S. 799/823. Vgl. die entsprechende Szene mit dem tôren kleit bei Wolfram: Parzival, S. 130 u. 159f. (127 u. 156,25-157,2). Bolaño: 2666, S. 813/837. Die lange Passage, die den Werdegang Anskys schildert, verdiente, noch genauer untersucht zu werden. Vgl. Bolaño: 2666, S. 857-894/884-921.
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Man erfährt mehr über die physische Wirkung Archimboldis – seine Körpergröße und Riesenhaftigkeit,49 seinen ›Taucher‹-Gang und seine Kleidung, die Wehrmachtsuniform, später eine geschichtsträchtige Lederjacke – als über seine Werke. Eine längere Inhaltsangabe nach dem Muster der Kapitel zu dem französischen Arcimboldi in Die Nöte des wahren Polizisten findet sich in 2666 nur einmal, und hierbei handelt es sich um Die Dämmerung, den Erfolgsroman Anskys.50 Archimboldis literarisches Werk wird dagegen nur in einer Reihe von Buchtiteln greifbar, die im »Teil von den Kritikern« mit wenigen Attributen beschrieben werden und im »Teil von Archimboldi« nacheinander in dem Hamburger Verlag von Jakob Bubis erscheinen. Titel wie Lüdicke, Archimboldis Debütroman, Die grenzenlose Rose, Die Ledermaske, Flüsse Europas oder Bifurcaria bifurcata wecken beim Leser zwar Assoziationen, doch offenbar war Bolaño daran gelegen, dem Werk Archimboldis seine enigmatische Qualität zu erhalten, die es bereits in den Spiegelungen der »Kritiker« oder Amalfitanos gewonnen hatte. Für den Literaturkritiker Lothar Junge sind die Stilvorbilder Archimboldis ohnehin nicht in der deutschen Literatur zu suchen, wie er in einem Gespräch mit Bubis bemerkt: »›Ich habe ihn [Archimboldi] gelesen, das steht fest. […] Aber er kommt mir nicht‹, fügte er [Lothar Junge] hinzu, ›wie ein Autor vor… Ich meine, er ist Deutscher, das ist unbestreitbar, seine Prosodie ist deutsch, ungehobelt zwar, aber deutsch, was ich sagen will, ist, dass er mir nicht wie ein europäischer Autor vorkommt.‹ – ›Wie ein amerikanischer vielleicht?‹ sagte Bubis, der sich gerade mit dem Gedanken trug, die Rechte an drei FaulknerRomanen zu erwerben. – ›Nein, amerikanisch auch nicht, eher afrikanisch‹, sagte Junge und zog unter den Zweigen der Bäume erneut Grimassen. ›Eigentlich sogar asiatisch‹, brummelte der Kritiker. – ›Aus welchem Teil Asiens?‹ wollte Bubis wissen. – ›Was weiß ich‹, sagte Junge, ›Indochina, Malaysia, in seinen besten Momenten klingt er persisch.‹ – ›Ja, die persische Literatur‹, sagte Bubis, der von persischer Literatur in Wirklichkeit keine Ahnung hatte. – ›Malaiisch, malaiisch‹, sagte Junge.«51
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Konopatzki, Jana: El fenómeno de la frontera en la narrativa de Roberto Bolaño. In: Hennigfeld, Ursula (Hg.): Roberto Bolaño. Violencia, escritura, vida. Madrid/Frankfurt a.M. 2015, S. 173-188,hier S. 182f. sieht in der Kindheitserzählung Archimboldis verbindende Elemente zu der Oskar Matzeraths, mitunter mit umgekehrten Vorzeichen – Riesenhaftigkeit vs. Kleinwüchsigkeit –, aus Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959). Bolaño: 2666, S. 871-874/898-901. Ebd., S. 998f./1029f.
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Auch wenn das parodistische Element der Passage nicht zu übersehen ist, so hat der Leser doch keine Möglichkeit, die mäandernden Klassifizierungsversuche Junges kritisch zu beurteilen. Es handelt sich wohl ohnehin mehr um eine hilflose Anhäufung von Fremdheitssynonymen, die Archimboldis Schreiben möglichst deutlich von allen deutschen Traditionen unterscheiden sollen. Archimboldis eigenes Literaturverständnis, so wie es der Erzähler an einer Stelle in äußerster Knappheit umreißt, scheint Junge zu bestätigen: Ihm schwebe eine »Literatur in drei Abteilungen« vor, von denen lediglich die erste, »Bücher, die er wieder und wieder las, die er wunderbar und manchmal ungeheuerlich fand«, mit Kafka und Döblin zwar feste Bezugsgrößen enthält, die sich als Außenseiter aber zugleich den Epochenmodellen der deutschen Literaturtradition entziehen.52 Die zweite und die dritte Abteilung enthalten zum einen eine nicht spezifizierte »Horde« (la Horda) epigonaler Autoren, zum anderen Archimboldis eigene Bücher, »die in seinen Augen ein Spiel waren und auch ein Geschäft, ein Spiel in dem Maße, wie er am Schreiben Vergnügen fand, ähnlich wie es einem Detektiv Vergnügen macht, den Mörder zu entlarven, und ein Geschäft in dem Maße, wie die Veröffentlichung seiner Werke ihm ein, wie auch immer bescheidenes, Zubrot zu seinem Lohn als Türsteher bescherte«.53 Mit dieser Literaturauffassung, die das Abarbeiten an Vorbildern und Gegenspielern in der Lektüre mit der Betonung des Detektivischen im eigenen Schreibprozess verbindet, wird Archimboldi allerdings weniger zum Repräsentanten der deutschen Literatur, sondern schließt vielmehr an die internationale Gruppe der críticos und wilden Detektive an, die sich bei Bolaño noch nie an Nationalliteraturen gebunden fühlten.
IV. Die Werke des realen Autors Ernst Jünger und des fiktiven Autors Benno von Archimboldi spielen in Bolaños Romanen nur eine untergeordnete Rolle:
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Bolaño: 2666, S. 992/1025. Zu den nationalliterarischen Entwürfen entgegenstehenden Globalisierungstendenzen bei Bolaño vgl. Messling, Markus: 2666: Die Moderne als Echolot der Globalisierung. Roberto Bolaño und das Erbe Baudelaires. In: Ette, Ottmar; Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin 2014, S. 199215; als allgemeines Phänomen in der lateinamerikanischen Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts untersucht dies im weiteren Rahmen: Hoyos: Beyond Bolaño. Ebd.
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Ernst Jünger diskutiert lediglich über das Bild eines guatemaltekischen Malers, und die Faszination, die von den Büchern Archimboldis ausgeht, spiegelt sich allein im Urteil seiner Anhänger und Kritiker. Gleichwohl sind sie als Figuren ›deutscher Autoren‹ wesentlich von Bolaños Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur geprägt, sei es durch die Ausschmückung der kurzen Notiz aus Jüngers Strahlungen zur morbiden Paris-Episode oder durch die Erfindung des Über-Autors Archimboldi aus Motiven der Romantik und Wolframs Parzival. Als Textproduzent gewinnt der ›deutsche Autor‹ in den Romanen dagegen auffällig häufig durch seine Einbindung in lateinamerikanische Kontexte Kontur, etwa wenn Jünger vom einzigen in seinen Tagebüchern erwähnten Chilenen charakterisiert wird oder in einer Traumvision als außerirdischer Importeur heiliger Schriften an den Kordilleren zerschellt. Auch Archimboldis Weg und jener der Kritiker endet schließlich nicht im deutschen Wald oder an der Ostsee, sondern in der Wüste Sonoras. Als Motiv verbindet Archimboldi und Jünger außerdem ihre Kriegserfahrung, die beide im jeweiligen Roman mit Ungerührtheit widerspiegeln und deren äußeres Zeichen die Wehrmachtsuniform ist. Sie sind so als Schreibende in die größere Geschichte einer Naziliteratur bei Bolaño eingebunden, ohne jedoch als überzeugte Nationalsozialisten aufzutreten. Dies unterscheidet sie von Otto Dietrich zur Linde aus Jorge Luis Borges’ bereits 1949 erschienener Erzählung »Deutsches Requiem«, die zu Recht als Beginn der lateinamerikanischen Faszination für nationalsozialistische Verbrecher im Gewand intellektueller Büchermenschen gilt.54 Linde ist Leser Nietzsches und Schopenhauers und die Erzählung sein eloquenter Lebensbericht am Vorabend seiner Hinrichtung für die Verbrechen, die er als Kommandant eines Konzentrationslagers begangen hat. Er behauptet, »ein Symbol der kommenden Generationen« zu sein,55 und es scheint, als habe Bolaño diese Prophezeiung für das Ende des 20. Jahrhunderts aktualisiert. Bei seinen deutschen Autoren sind vita activa im Dienst des Nazi-Regimes und moderne Autorschaft kein Widerspruch, sondern untrennbar miteinander verbunden. Ihre Kraft
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Vgl. z.B. Hoyos: Beyond Bolaño, S. 36. In 2666 steht für Lindes Position eher Leo Sammer, der aber gerade von Archimboldi aus Abscheu vor dessen Taten umgebracht wird. Borges, Jorge Luis: Deutsches Requiem. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Karl August Horst u.a. Bd. 5: Der Erzählungen erster Teil. Universalgeschichte der Niedertracht/Fiktionen/Das Aleph. München 2000, S. 310-317, hier S. 311.
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als ein »okkultes Zentrum« in Bolaños Werk können sie jedoch nicht als dämonische Symbolfiguren politisch korrumpierter Literaten, sondern vielmehr durch ihre vielfältige Vernetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Literaturen entfalten, die in der genauen Lektüre zutage tritt.
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»Ein völlig deutscher Gegenstand« Roberto Bolaños lunare Ästhetik des Vertikalen aus dem Geiste Ernst Jüngers Susanne Klengel »Dinge gehen vor im Mond, die das Kalb selbst nicht gewohnt« Christian Morgenstern: Mondendinge (1905)
Bolaño und der Mond. Einleitende Bemerkungen1 Roberto Bolaño war ein Liebhaber und Anverwandler der rätselhaften Aura des Erdtrabanten. Der bestirnte Himmel und vor allem der Mond faszinierten ihn: Er war vom Mond gleichsam besessen, ein Mondsuchender, ein lunático könnte man sagen, denn in diesem spanischen Wort für ›verrückt‹ schwingt die Mondsucht mit. Zweifellos war sich der vielbelesene Bolaño der universellen Tradition literarischer Mondverehrung bewusst, er kannte die romantische und ältere Traditionen ebenso wie die polemischen Umdeutungen, die im 20. Jahrhundert erfolgten. Doch in seinem eigenen Werk machte er aus der alten Tradition und dem bekannten Topos ein neues Geheimnis und setzte sein Faszinosum rätselhaft und strategisch ins Werk. Er bediente sich dabei einer folgenreichen List: La luna/der Mond wird von dem spanisch-spra1
Dieser Beitrag ist eine Weiterführung meiner Studie Jünger Bolaño. Die erschreckende Schönheit des Ornaments (Würzburg 2019), in der ich Roberto Bolaños Aneignung zentraler ästhetischer Prinzipien Ernst Jüngers quellenkritisch rekonstruiert und ihre literarische Umsetzung dargelegt habe. Sein umfängliches Werk erfordert nun weitere Interpretationen auf dem einmal eingeschlagenen Pfad. Ich danke den Studierenden am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, die sich im Winter 2018 mit Interesse auf Bolaños Texte einließen und mir ermöglichten, meine Überlegungen mit ihnen zu teilen und weiterzudenken.
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chigen Autor meist männlich figuriert – wie in der deutschen Sprache und Kultur, wo nicht nur der Mond grammatisch männlichen Geschlechts ist, sondern auch die populäre Überlieferung einen Mann im Mond sieht. Nur vordergründig bleibt »la luna«, wenn sie in seinen Texten explizit genannt ist, generisch korrekt im Spanischen weiblich; doch auf einer übergeordneten strukturellen Ebene wird Frau Luna in Bolaños Werken vom (deutschen) Mann im Mond beherrscht. Mit solch sprach- und kulturtranslatorischer Finesse erweiterte Bolaño seinen ästhetischen Spielraum und literarischen Kosmos nachhaltig. Im Laufe des Artikels werde ich auf verschiedene Formen seiner Mondfigurationen eingehen. Ob Roberto Bolaño die Mondgedichte des großen deutschen NonsenseLyrikers Christian Morgenstern kannte, ist indes nicht überliefert. Auszuschließen ist es nicht, bedenkt man seine surrealistische Geisteshaltung. Morgensterns anarchisch-hintergründige Lyrik steht dem subversiven Humor der Surrealisten, den Bolaño mittels des realvisceralismo in Los detectives salvajes wiederholt in Anschlag bringt, sehr nahe. Über seine Galgenlieder bzw. Galgenpoesie schrieb Morgenstern einmal: »Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre.«2 Morgensterns Bemerkung über den Galgenberg (gemeint ist eine kleine Anhöhe in der Nähe von Potsdam) als privilegierter »Lugaus der Phantasie«3 hätte Roberto Bolaño sicher interessiert, wie im Folgenden deutlich wird. Und er hätte vermutlich auch Gefallen daran gefunden, dass Morgenstern in seinem Gedicht Der Mond Gott dafür lobt, den »Trabant [als] ein[en] völlig deutschen Gegenstand« geschaffen zu haben, weil dieser sich deutschen Lesern bequemt, die anhand des » « der deutschen Kurrentschrift den abnehmenden und anhand des » « den zunehmenden Mond erkennen.4
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Morgensterns Bemerkung findet sich in einem Fragment, das aus dem Nachlass im Jahre 1919 veröffentlicht wurde. Morgenstern, Christian: Werke und Briefe. Bd. III: Humoristische Lyrik. Stuttgart 1990, S. 292. Ebd. Das populäre Gedicht aus den Galgenliedern (1905) lautet: »Als Gott den lieben Mond erschuf/gab er ihm folgenden Beruf:/Beim Zu- sowohl wie beim Abnehmen/sich deutschen Lesern zu bequemen./Ein formierend und ein –/daß keiner groß zu denken hätt./Befolgend dies, ward der Trabant/ein völlig deutscher Gegenstand.« Morgenstern, Christian: Der Mond. In: ebd., S. 77. Vgl. auch die sympathischen Ausführungen zu Morgensterns Mondgedichten im poetischen Essay von Kalka, Joachim: Der Mond. Berlin 2016, S. 21-25.
»Ein völlig deutscher Gegenstand«
Doch vermutlich wusste Bolaño nichts von Morgenstern. Vielmehr hielt er es mit den Mondfantasien Ernst Jüngers und entnahm dessen poetologischem Essay Sizilischer Brief an den Mann im Mond aus dem Jahre 19305 den wesentlichen Anstoß zur Entfaltung einer überaus wirkungsvollen, rätselhaften und zugleich unheimlichen Erzählperspektive, die er ab der Mitte der 1990er Jahre immer wieder anwendete6 . Jüngers stereoskopische Wahrnehmungstheorie, entwickelt anhand einer märchenartigen Monderzählung, regte Bolaño zur Schaffung einer spezifischen Perspektive bzw. Fokalisierungstechnik an, die für sein weiteres Schreiben prägend wurde. In Kenntnis von Jüngers Texten der 20er und 30er Jahre inszenierte er in seinen Werken einen unbewegten, distanzierten Blick auf die Welt, als ob diese mit lunarem Abstand betrachtet würde und schuf auf diese Weise eine eigene lunare Ästhetik, die sich durch ihre Vertikalität kennzeichnet. Dass sich Bolaños Narrationen oftmals in der Flächigkeit kleinteiliger Nahperspektiven zu verlieren scheinen, ist eine gewollte optische Täuschung. Denn allein der Blick aus der Ferne und aus der Höhe, so heißt es bei Jünger, mache es möglich, »in der unermeßlichen Mannigfaltigkeit«, die aus der Nahperspektive unübersichtlich und verwirrend erscheint, eine Ordnung zu erkennen und schließlich auch tiefere Strukturen und Zusammenhänge zu begreifen: »[Es] tritt etwas hervor, was man ihr Muster nennen könnte, – die gemeinsame kristallinische Struktur, in der sich der Grundstoff niedergeschlagen hat.«7 Wie plastisch und eigenwillig Roberto Bolaño Ernst Jüngers stereoskopische Wahrnehmungstheorie
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Jünger, Ernst: Sizilischer Brief an den Mann im Mond. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. II, 9. Stuttgart 1979, S. 9-22. Zuerst erschienen unter dem Titel »Sizilianischer Brief an den Mann im Mond«, in: Mondstein. Magische Geschichten. Vorwort von Franz Schauwecker. Berlin 1930, S. 7-21. Vgl. Klengel: Jünger Bolaño, S. 52ff. Jünger: Sizilischer Brief, S. 19. Zwei Jahre später spekuliert Jünger über die kosmische Höhenperspektive des Mondes in seinem bis heute stark umstrittenen gesellschaftspolitischen Essay Der Arbeiter als Ort, von dem allein aus die Welt und die Gesellschaft als Ganzes, als »Werk« zu begreifen ist: »Stellen wir uns nun diese Stadt aus einer Entfernung vor, die größer ist, als wir sie bis jetzt mit unseren Mitteln zu erreichen vermögen – etwa so, als ob sie von der Oberfläche des Mondes aus teleskopisch zu betrachten sei. Auf eine so große Entfernung schmilzt die Verschiedenheit der Ziele und Zwecke ineinander ein. […] Diese Art der Betrachtung unterscheidet sich von den Bestrebungen, die Einheit des Lebens in ihrer flachsten Möglichkeit, nämlich als Addition, zu begreifen dadurch, daß sie das schöpferische Gebilde, das Werk, erfaßt, das sich trotz aller Gegensätze oder mit ihrer Hilfe ergab.« Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982, S. 65.
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als Blick auf das Ganze aus der Perspektive einer fernen erzählenden Instanz in Szene setzt, wird im Weiteren vertieft.
Zur Mond-Figuration bei Ernst Jünger mit Anmerkungen zum Magischen Realismus Doch was genau macht die Verwendung des Mondmotivs bei Jünger so reizvoll, dass Roberto Bolaño es fast obsessiv in seinen Werken aufgreift? In erster Linie verhilft es ihm zu der eben angedeuteten spezifischen Perspektivierung aus lunarer Höhe (welche weiter unten näher analysiert wird). Doch trägt zu seiner Faszination vermutlich auch die suggestive Bildlichkeit des Sizilischen Briefes bei,8 die mit Jüngers Rezeption von Franz Rohs bekannter Studie Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei (1925) zusammenhängen könnte. Bereits in seinem Artikel über Nationalismus und das moderne Leben aus dem Jahre 1927 zeigte Jünger Interesse für den Magischen Realismus und übernahm diesen Ausdruck, den Roh zur Beschreibung des Umbruch vom expressionistischen zum post-expressionistischen oder »magisch-realistischen« (d.h. auf neue Weise gegenständlichen) Stil verwandte, in einen nationalistischen gesellschaftspolitischen Diskurszusammenhang.9 Jüngers Texte dieser Zeit und ihre Nähe zum aufkommenden Nationalsozialismus sind auch in der lateinamerikanischen Begriffsgeschichte des Magischen Realismus bekannt.10 An dieser Stelle sei gesagt, dass Jün8
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Horst Seferens geht in einem Kapitel über den Sizilischen Brief auf Jüngers poetische Textstrategie und Bildlichkeit ein. Er spricht von Jüngers »ikonographischer Theorie«, seiner »schillernde[n], sowohl nüchterne[n] als auch magische[n] Sprache« und nennt diese Verfahrensweise »enigmatische Reflexion«. Vgl. Seferens, Horst: ›Leute von übermorgen und von vorgestern‹. Ernst Jüngers Ikonographie der Gegenaufklärung und die deutsche Rechte nach 1945. Bodenheim 1998, S. 161f. Nach Norbert Staub geben ein »fiebrig-suggestiver Ton und hohe Emotionalität […] dem Text [d.i. »Sizilischer Brief«] einen expressionistischen Einschlag.« Seine Ausführungen betonen ebenfalls die Bildlichkeit und spezifische Optik des Textes. Vgl. Staub, Norbert: Wagnis ohne Welt. Ernst Jüngers Schrift Das abenteuerliche Herz und ihr Kontext. Würzburg 2000, S. 292-299, hier S. 293. Jünger, Ernst: Nationalismus und modernes Leben (zuerst in Arminius, 20.2.1927). In: ders.: Politische Publizistik. 1919 bis 1933. Hg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001, S. 297-301. An dieser Stelle kann nicht im Einzelnen auf die Forschung zum zeithistorischen und politischen Kontext eingegangen werden. Zum Magischen Realismus gibt es zahlrei-
»Ein völlig deutscher Gegenstand«
ger die magisch-realistische Malerei mit ihrer sachlich kühlen und gleichzeitig magischen Erscheinungsform – gewissermaßen in Vorgriff auf seine wenig später formulierte stereoskopische Wahrnehmungstheorie – als künstlerische Übersetzung jenes »doppelten Blicks« betrachtete, der zunächst auf die Oberflächen der quirligen modernen Welt mit ihren zunehmend mechanisierten Abläufen fällt und dann in die Tiefe geht und dort zur Erkenntnis eines geheimnisvollen (dunkleren, schicksalhaften und magischen) Sinns gelangt: »Es ist der Blick, der sich in unserer Zeit in jenen Bildern des magischen Realismus offenbart, in deren Rahmen jede Linie der äußeren Welt mit der Bestimmtheit einer mathematischen Formel gebannt ist, und deren Kälte doch auf unerklärliche Weise, gleichsam durchscheinend, ein zauberhafter Hintergrund erleuchtet und erwärmt.«11 Wenig später versucht Jünger eine entsprechende Ästhetik im Sizilischen Brief an den Mann im Mond literarischessayistisch umzusetzen. Dass ihm gerade der Mond als Figur und zentraler Topos so geeignet erscheint, hängt möglicherweise mit einschlägigen Motivbeschreibungen und Abbildungen in Franz Rohs Studie zusammen. Ein autobiografisches Ich spricht im Sizilischen Brief den (Mann im) Mond in Erinnerung an eine Kindheitserfahrung an, doch entsteht bald der Eindruck, dass das erzählende Ich sich eigentlich aus der Perspektive des Mondes der Menschenwelt zuwendet, um die Daseinsformen auf der Erde aus der Ferne auszuleuchten.12 Auch in Franz Rohs Untersuchung ist der Mond spezielles Leitmotiv und Akteur: Gleich zu Beginn findet sich eine Abbildung des emblematischen Mondgemäldes La bohémienne endormie des französischen Malers
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che Aussagen der Jünger-Forschung, die zeigen, dass der Begriff in diesem Zusammenhang bis heute eher unscharf geblieben ist. Vgl. z.B. Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Matthias Schöning. Stuttgart 2014, S. 98; ebenso das Kapitel zum Magischen Realismus und Ernst Jünger bei Leine, Torsten W.: Magischer Realismus als Verfahren der späten Moderne: Paradoxien einer Poetik der Mitte. Berlin/Boston 2017, S. 205-224. Auch in der lateinamerikanistischen Literaturwissenschaft wird in der Begriffsgeschichte des Magischen Realismus auf Ernst Jünger verwiesen, z.B. Guenther, Irene: Magic Realism, New Objectivity, and the Arts during the Weimar Republic. In: Parkinson Zamora, Lois; Faris, Wendy B. (Hg.): Magical Realism. Theory, History, Community. Durham/London 1995, S. 33-73. Insgesamt fällt auf, dass die Herkunft und Spezifik des Mondmotivs dabei kaum keine Rolle spielen. Jünger: Nationalismus, S. 300. Jünger: Sizilischer Brief, S. 11-13, 15-19. Auf den genannten Seiten wird der Mann im Mond immer wieder als Gegenüber angesprochen, doch entsprechende Fokalisierungen führen zu dem Eindruck, dass umgekehrt die Welt vom Mond her betrachtet würde: Der Mondblick gleitet über die Welt (und in die Tiefen ihrer Geheimnisse).
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Henri Rousseau aus dem Jahre 1897, den der Verfasser als unstrittigen Vorläufer der nach-expressionistischen bzw. neuen gegenständlichen »magischrealistischen« Malerei vorstellt. In einer paradigmatischen Bildanalyse erläutert Roh das Gemälde, auf dem eine schlafende Frau neben einer Mandoline mit einem Löwen zu sehen ist, der sich in unheimlicher Ruhe, vom Vollmond beschienen, über sie beugt. Roh unterstreicht die magisch wirkende Leuchtkraft des Mondes, die sich in kleinsten Details reflektiert. Seine Beschreibung ist ekphrastisch; die Körper und Objekte erscheinen – unheimlich unter dem Nachthimmel – wie still gestelltes Leben: »Kahles, erstorbenes Mondgelände in nächtlicher Ödnis […] eine Mandoline, kindartig, neben dem Körper hingestreckt, schließlich eine verlassene Krugform, einsam emporstehend zur Mondscheibe, die kältend über dem Ganzen leuchtet […] Das Ganze wie aus Perlmutter oder wie in Glasschnitt behandelt. Im gelblichen Löwenkörper stehen die Nachtflächen, auf ihm aber wie auf fernem Bergrücken leuchtet der Schneeglanz des Mondes.«13 Die Haut der Schlafenden leuchtet »mondartig«, sogar die Finger- und Fußnägel »leuchten wie winzige Mondabsprengsel und rufen seltsam die Erinnerung an kleine bleiche Muscheln am nächtlichen Meeresstrand herbei. Und aus dem Menschenmund blinkern Tierzähnchen wie aus dem Monde gefallene Tropfen.«14 Bilder der Kälte und der Härte durchziehen die Ekphrasis: Die Mondscheibe leuchtet kältend, die Szene erscheint wie aus Perlmutter oder gleicht einem Glasschnitt, das Licht des Mondes wird zum glänzenden Schnee etc. Doch mit Rousseau nicht genug. Liest man im Sizilischen Brief die Passagen, in denen der (Mann im) Mond angerufen und dessen konstante, kühle Beobachtung der nächtlichen Welt imaginiert wird, lässt sich auch an die Abbildungen der Werke des heute fast vergessenen Walter Spies in Franz Rohs 13
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Roh, Franz: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei. Leipzig 1925, S. 123f. Rohs Analyse ist die gekürzte Fassung eines früheren Artikels (1924) in der Kunstzeitschrift Der Cicerone. Rousseau wird als Gründerfigur der neuen Gegenständlichkeit des Post-Expressionismus präsentiert. Abschließend zitiert Roh dort einen aufschlussreichen Satz des französischen Malers: »Vielleicht ist alles, auch das Unheimliche, ein Idyll, aber auch dem Idyll sitzt das große Schweigen, das Nichts und der Tod im Nacken«. Roh, Franz: Ein neuer Henri Rousseau. Zur kunstgeschichtlichen Stellung des Meisters. In: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 16 (1924), S. 713-716, hier S. 716. Roh: Nach-Expressionismus, S. 124.
»Ein völlig deutscher Gegenstand«
Studie denken. Die fünf in der Studie enthaltenen Gemälde fallen dem Verfasser wegen ihrer neuartigen narrativen Qualität auf: »Allem bleibt die liebend eindringliche Realität gemein. Kein anderer [Künstler] zeigt so sehr auch einen neuen Gehalt des Erzählens.«15 Drei dieser Gemälde zeigen perspektivisch stark verzerrte Nachtszenen: Es handelt sich um Schlittschuhläufer auf einem nächtlichen Waldsee aus der Vogelperspektive (»Haus am Teich« bzw. »Die Schlittschuhläufer«), um eine vom Mondlicht intensiv beleuchtete Abschiedsszene in ländlicher Kulisse (»Abschied«) und schließlich ein Jahrmarktstreiben mit Karussell, das von Figuren, Gesichtern und Masken umschwärmt ist, während die ganze Szenerie von elektrischen Glühlämpchen (und vermutlich auch dem Mond) beleuchtet wird (»Karussel«). Bei diesen minuziös gearbeiteten Gemälden wird der Blick irritiert, da Nähe und Ferne wie in einem Vexierbild ständig zu kippen scheinen. Jüngers suggestive Beschreibungen im Sizilischen Brief ähneln diesen Bildern, vor allem seine Schilderung einer mondbeschienenen Waldlandschaft erscheint wie eine Anknüpfung an die genannten Gemälde und wie eine Intensivierung von Franz Rohs Ekphrasis des Gemäldes von Rousseau: »Du [der Mond] kennst das Leben am Rande der finsteren Wälder, die Gärten, leuchtende Inseln im Glanze der Lampione, eingeschlossen in die Zauberwirbel der Musik. Du kennst die Paare, die sich schweigend im Dunkeln verlieren; dein Strahl trifft ihr Gesichter – bleiche Masken, während die Wollust den Atem beschleunigt und die Angst ihn unterdrückt.«16 »Doch da bricht die Lichtung auf, und dein Schein fällt wie der Bannstrahl des Gesetzes in die Finsternis […] Jeder kleinste Zweig und die letzte Ranke der Brombeere sind durch dein Licht berührt, gedeutet, aufgeschlossen, in dem sie eingeschlossen sind – von einem großen Augenblick getroffen, vor dem alles bedeutend wird und der den Zufall auf seinen geheimeren Pfaden überrascht. Sie sind in eine Gleichung einbezogen, deren unbekannte Zeichen mit leuchtender Tinte geschrieben sind.«17 Im Blick auf die Oberfläche der ganzen Szenerie und gleichzeitig in die Tiefe geheimer Bedeutungen liegt der Kern der stereoskopischen Ästhetik Jüngers, deren magisches Erkenntnispotenzial am Ende des Sizilischen Briefs nochmals
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Ebd., S. 129. Jünger: Sizilischer Brief, S. 15. Ebd., S. 17.
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anhand einer Kindheitserinnerung beschworen wird: »Das war das Wunderbare, das uns an den doppelten Bildern entzückte, die wir als Kinder durch das Stereoskop betrachteten: Im gleichen Augenblick, in dem sie in ein einziges Bild zusammenschmolzen, brach auch die neue Dimension der Tiefe in ihnen auf.«18
Bolaños lunare Ästhetik des Vertikalen: Die Welt als Muster und als Ornament In Bolaños Texten kommt Ernst Jünger zwar immer wieder namentlich als eine Figur unter vielen anderen vor, jedoch bleibt dabei der Zusammenhang mit seiner stereoskopischen, lunaren Ästhetik verborgen. Indes boten gerade die lunare Distanznahme und ein aktiv beobachtender Mond – ein Mond mit Handlungsmacht also – Bolaño vielversprechende Versuchskomponenten zur Entfaltung verfremdender Erzählperspektiven, mit denen er immer wieder Rätsel aufgab. Die stellare Perspektive liefert das Paradigma zur Ausbuchstabierung einer vertikalen Ästhetik der Distanzschau. Vielfach abgewandelt kommt dieser Blick immer wieder in seinen Texten vor: als Höhenperspektive und Panoramaschau auf Serien, Muster und Ornamente. Wie bei Jünger richtet sich der Fokus auf die Erfassung menschlicher Welten aus der Ferne; und obgleich man bei Bolaño bisweilen auch ein ironisches Spiel mit dieser Perspektive findet, wird die vertikale Ästhetik im Grundsatz nicht unterminiert. Bolaños Lektüre des Sizilischen Briefs, die wahrscheinlich auf Französisch erfolgte,19 beruht weder auf einem Zufall, noch ist seine Aneignung der Jünger’schen Wahrnehmungstheorie willkürlich. Vielmehr verdankt sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit der vorausgegangenen Lektüre eines kurzen Textes des Germanisten Rainer Gruenter, der unter dem Titel Ornamente des Schreckens als Unterkapitel eines Artikels über den Jugendstil im Jahre 1992 in spanischer Übersetzung erschienen war. Diese Passagen gleichen einer komprimierten Poetologie Bolaños, insbesondere jener Werke, in denen es um extreme Gewalt geht.20 Rainer Gruenter – der sich seinerseits nicht auf den Sizili18 19 20
Ebd., S. 22. Vgl. Klengel: Jünger Bolaño, S. 54f. Ebd., S. 35ff.; vgl. Gruenter, Rainer: ›Jugendstil‹ en la literatura‹. In: ders.: Sobre la miseria de lo bello. Estudios sobre literatura y arte. Traducción J.M. Sena. Barcelona 1992, S. 97-120.
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schen Brief bezieht, sondern auf Texte wie Das abenteuerliche Herz (die zweite Fassung von 1938) und die Pariser Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg – bezeichnet in seinen Ausführungen den distanzierten Blick Jüngers als charakteristisch für eine dandystische Beobachter-Haltung, die aus ritualisierter Distanz die Erscheinungen der Welt als Ornament wahrnehme und goutiere, gleichgültig, ob es sich um Schönes oder Schreckliches handele: »Diesen hochformalisierten, ja ritualisierten Abstand von sich als Akteur und von seinen Mit- oder Gegenspielern nenne ich [Gruenter] ornamental. Er erlaubt ihm eine Betrachtungsweise des Geschehens, die das Gräßliche und Schreckliche wie das Schöne als kontrastierende Elemente und Segmente eines dramatischen Ornamentes genehmigen und genießen kann.«21 Gruenters Ornamentalisierungsthese schließt an eine schon lange währende Debatte an. Die bereits im 19. Jahrhundert viel diskutierte Verwendung des Ornaments als ästhetisches Mittel hatte im frühen 20. Jahrhundert vor allem in der Architektur und der Gestaltung zu einer heftigen, moralisch geprägten Kontroverse geführt, die durch Adolf Loos’ provokative Thesen zur latenten Kriminalität des Ornamentalen befeuert wurde. Mit seinem Artikel Ornament und Verbrechen (1907) trug Loos dazu bei, das Ornament in der modernen Architektur und Design nachhaltig zu stigmatisieren.22 Erst im Kontext der Debatten über die Postmoderne erfolgte eine sukzessive Wiederaufwertung des Ornaments. Anlässlich einer Wiener Ausstellung mit dem Titel Die Macht des Ornaments, die der kontroversen Geschichte des Ornaments in der westlichen Moderne und seiner neuen Wertschätzung gewidmet war, fasste die Kunsthistorikerin Sabine Vogel die Ambivalenz des Ornamentgebrauchs wie folgt zusammen: »Ornamente sind Muster, die Räume strukturieren, die das Einzelne in eine Ordnung binden, die Bausteine zu Massen zusammenfügen und in einen Rahmen schnüren. Die Wirkung ist zumeist faszinierend, weil ein Einzelnes
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Gruenter, Rainer: ›Jugendstil‹ in der Literatur (1976). In: ders.: Vom Elend des Schönen. Studien zur Literatur und Kunst. München 1988, S. 19-40, hier S. 38f. (Hervorhebung SK). Vgl. z.B. die ausführliche historische Übersichtsarbeit des Architekturtheoretikers Müller, Michael: Die Verdrängung des Ornaments. Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis. Frankfurt a.M. 1977, die aus der noch immer ornament-kritischen Perspektive der 1970er Jahre verfasst wurde, jener Epoche, in der auch Rainer Gruenter über die »Ornamente des Schreckens« reflektierte.
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integriert, geschützt, neutralisiert ist in einem übergeordneten Ganzen – das kann als Offenheit oder als totalitäres System gesehen werden. Gerät ein Detail des Gleichmaßes aus den Fugen, stürzt die gesamte Ordnung ein.«23 Roberto Bolaño verfährt in seinen Serien, Panoramen, Häufungen, Wiederholungen immer wieder ornamentalisierend, ihm geht es ums übergeordnete Ganze, doch kaum um ein Gleichmaß, sondern um Muster, die manchmal banal, oft aber bizarr, wunderlich oder zutiefst makaber sind. Seine Ornamente sind meist grotesk, anamorphotisch – und als ebensolche identifiziert sie der distanzierte Blick.24 Doch dieser Blick wird bei Bolaño meist so beiläufig eingebracht, dass seine verwegene, totalisierende Anwendung der Mondperspektive kaum auffällt. Etwa auch im Falle des monströsen und rätselhaften Erzählers in 2666 in der Schlüsselpassage am Ende des dritten Kapitels, wie in meiner Studie bereits dargelegt: »Nur wer den Jünger’schen Kosmos in Bolaños Gedankenwelt kennt, versteht nun, dass es sich bei dem ›verdammten weißen Riesen, der zusammen mit der schwarzen Wolke erschienen war‹, nur um den Mond handeln kann, oder vielmehr um den Mann im Mond bzw. den monströsen (und mörderischen) Erzähler von 2666, der erzählt, als wäre er der Mann im Mond. Ganz beiläufig entsteht hier auf knappem Raum eine Bilderreihe des Grauens, sofern man Bolaños Spiel der rätselhaften Andeutungen versteht: Die Frauenmorde, in denen ›das Geheimnis der Welt verborgen liegt‹, der Mond, die schwarze Wolke, der riesenhafte deutsche Häftling als möglicher Mörder, das Giftgas… 23
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Vogel, Sabine B.: Vom Widerspruch im Ornament. In: Husslein-Arco, Agnes; Vogel, Sabine B. (Hg.): Die Macht des Ornaments. (Katalog zur Ausstellung Belvedere, Wien, 20. Jänner – 17. Mai 2009). Wien 2009, S. 9-23, hier S. 12. Wichtig scheint mir zur Ergänzung an dieser Stelle Hans Blumenbergs Überlegung zur Funktion des Motivs des »Manns vom Mond« und zum Effekt der Ornamentalisierung: Die Beobachtungsweise des »fiktiven Lunarikers«, so Blumenberg, beruhe auf dem »Ausschluß des Zeithorizonts«, welcher »die strikte Äußerlichkeit der Beschreibung möglich [mache], als sei ein Muster sichtbar zu machen.« Zur Anschauung komme auf diese Weise weder die Produktivität oder die Anzeige (bzw. Ausdrucksweise) einer Maschine, sondern lediglich das Muster oder Ornament, nämlich »die Exaktheit ihres Ablaufs als absolute Monotonie.« Blumenberg, Hans: Der Mann vom Mond (zuerst erschienen 1990 in der Neuen Zürcher Zeitung). In: ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Frankfurt a.M. 2007, S. 29-33, S. hier 32f. Wie man sieht, hebt Blumenberg mit dem Hinweis auf die »Monotonie« auch eher das Gleichmaß des Ornaments bzw. Musters hervor, im Unterschied zu Gruenters Analyse des ornamentalisierenden Blicks bei Jünger, wo auch der Gefallen am Irregulären und Dramatischen mitgedacht ist.
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ein wahrhaft quälendes Vexierbild (eine Gaskammer), das man leicht übersieht.«25 Zu dieser Passage existiert eine komplementäre Stelle im fünften Kapitel des Romans, welche in Form einer geheimnisvollen Anspielung so deutliche Hinweise auf Jüngers Schattenpräsenz enthält, dass die Entschlüsselung vor dem Hintergrund des oben Gesagten nicht schwerfällt. Auch diese Passage hängt mit Gruenters Text zusammen. Gruenter hatte in seinen Ausführungen über die Ornamente des Schreckens auch Ernst Jüngers Traumtext Violette Endivien aus der zweiten Version von Das abenteuerliche Herz (1938) zitiert, eine Prosaminiatur, die sich durch einen schockierend provokativen Inhalt und eine dämonische Lakonik auszeichnet. Jünger zitierend schreibt Gruenter: »Die dandystischen Qualitäten der Zuschauer-Position setzen sich um in den Duktus des Beschreibens, wenn das Traumreferat Violette Endivien, das die unterirdischen Kühlräume eines Schlemmerladens schildert, in denen Menschen wie Hasen vor dem Laden des Wildbrethändlers hängen, mit der lakonischen Pointe schließt: Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die Bemerkung: ›Ich wußte nicht, daß die Zivilisation in dieser Stadt schon so weit fortgeschritten ist‹ – worauf der Verkäufer einen Augenblick zu stutzen schien, um dann mit einem sehr verbindlichen Lächeln zu quittieren.«26 Die Textstelle im fünften Kapitel von 2666 nimmt genau dieses Motiv auf.27 Als kurze Binnenerzählung ist sie Teil einer längeren Schlüsselpassage des Romans, in welcher Hans Reiter die Identität wechselt und zum Schriftsteller Benno von Archimboldi wird.28 Die Passage enthält zahlreiche metaliterarische Gedanken zu großer und minderer Literatur, zum Geheimnis von Meisterwerken und – letztlich vielleicht nicht überraschend – zur literarischen »Camouflage«.29 Am Beginn seiner neuen Laufbahn stehend, wird Archimboldi hier von einem ehemaligen Schriftsteller, welcher sein Talent erahnt, durch Vermietung einer Schreibmaschine unterstützt – ein rares Gut im Nachkriegsdeutschland und conditio sine qua non für die einsetzende Schriftstellerkarriere. Im Zentrum der oben genannten anschließenden Binnener-
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Klengel: Jünger Bolaño, S. 74, vgl. Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 2004, S. 439f. Gruenter: Jugendstil, S. 40, vgl. Jünger, Ernst: Das Abenteuerliche Herz (zweite Fassung). Figuren und Capriccios. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. II, 9. Stuttgart 1979, 183f. Bolaño: 2666, S. 985-989. Ebd., S. 981ff. Ebd., S. 982-985.
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zählung steht ein berühmter, aber ungenannter deutscher Schriftsteller, dem Archimboldis Unterstützer einst begegnet war. Nun erinnert er sich, dass er Jahre nach dieser Begegnung an einer Autopsie teilgenommen hatte und danach allein in den Kellergängen der Universität, wo sich die Kühlräume des Leichenhauses der Universität befanden, zurückblieb. Die Atmosphäre ist beklemmend, diffus oder vielmehr nebulös: »una especie de letargo crepuscular se filtraba por debajo de las puertas como gas venenoso.«30 Schließlich trifft er in einem der Kühlräume einen Angestellten, der mit den menschlichen Leichnamen hantiert. Plötzlich trifft den Erzähler, »franqueado por cadáveres«,31 der Blick dieses Angestellten – aus Augen, die ihn sogleich an den besagten Schriftsteller erinnern. Wenig später kommt es zu einem Dialog: »–Es curioso –le dije–, pero su rostro, sobre todo sus ojos me recuerdan los ojos de un gran escritor alemán. –Aquí dije el nombre del escritor. –No he oído hablar de él –fue su respuesta. […] Con un sobrecogimiento de horror, de golpe me di cuenta de que estaba hablándole como si él fuera el gran escritor alemán […] No me cupo la menor duda: eran los ojos de mi ídolo.«32 Zwar wird der Name des besagten Schriftstellers den Lesern von 2666 ostentativ vorenthalten, doch zeigt die Situation in den unterirdischen Kühlräumen des Leichenhauses in der Universität und das lakonische Hantieren des Angestellten mit den Leichnamen – der in seinem Leben, so heißt es, nichts Anderes gemacht hatte – eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Jüngers TraumtextSzene der Violetten Endivien. Im Keller der Universität treffen den Erzähler die Blicke des Angestellten aus Augen, die jenen des berühmten Schriftstellers gleichen, und mit ihm treffen sie die Reihen und Serien von Toten. Darüber hinaus fällt, ähnlich wie in der Passage am Ende des dritten Kapitels von 2666 (siehe oben), auch hier ein beiläufiger Satz über Giftgas, der wie dort mit einer
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Ebd., S. 987 (Hervorhebung SK). »eine dämmrige Müdigkeit wie giftiges Gas [kroch] unter den Türen [hervor]« (Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 958). Ebd. »an Leichen vorbei[gegangen]« (Bolaño: 2666, S. 958). Ebd., S. 988 (Hervorhebung SK). »›Merkwürdig‹, sagte ich, ›aber Ihr Gesicht, vor allem Ihre Augen erinnern mich an die Augen eines großen deutschen Schriftstellers.‹ Und ich nannte seinen Namen. ›Der Name sagt mir gar nichts‹, erwiderte er. […] Mit Entsetzen wurde mir plötzlich bewusst, dass ich mit ihm sprach, als wäre er der große deutsche Schriftsteller […] Es bestand nicht der geringste Zweifel: Es waren die Augen meines Idols« (Bolaño: 2666, S. 959).
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»als ob«-Konstruktion eingeleitet wird.33 So steht diese Szene in den Tiefen der Keller komplementär zu der oben genannten Mondszene und verweist ihrerseits auf die intrinsische Relevanz Jüngers und seiner Stereoskopie bei Bolaño.34
Nocturno de Chile: Szenarien des Lunaren Kunstvoll setzt Bolaño seine lunare Ästhetik der Ornamentalisierung im Trivialen wie im Dämonischen literarisch um und lotet sie auf unterschiedliche Weisen aus. So schafft er irritierende Verfremdungen seiner Texte, die immer wieder zur Dechiffrierung auffordern, nicht zuletzt, weil im Rätsel seiner spezifischen Narrativität zu Recht der Schlüssel zu seiner estética del mal vermutet wird. Im Roman Amuleto (1999) erprobt Bolaño z.B. das schon erwähnte Wechselspiel zwischen dem männlichen deutschen Mond und der romanischen weiblichen luna. Die Ich-Erzählerin Auxilio Lacouture wird zur »Frau im Mond«, ausgestattet mit der gleichen Handlungsmacht wie der Jünger’sche Mann im Mond.35 In Estrella distante (1996) experimentiert Bolaño vor allem mit der totalisierenden vertikalen Ästhetik, und die Vermutung liegt nahe, dass der Romantitel auf den Mann im Mond des Sizilischen Briefs verweist, denn der mörderische Protagonist Carlos Wieder hat Augen, »como separados del cuerpo, como si miraran desde otro planeta.«36 Die folgenden Ausführungen befassen sich nun mit der zentralen Rolle des Mondes und des Mondmotivs im Roman Nocturno de Chile (2000), in dem Bolaño meisterlich eine Fülle lunarer Figurationen arrangiert, darunter eine Vielzahl von Höhenperspektiven, die seiner Ästhetik des Vertikalen entspringen. Neben intertextuellen Anspielungen sind dabei auch einige rätselhafte
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Ebd., S. 987 (s. Fußnote 30 dieses Artikels), vgl. S. 440. Es gibt eine weitere Reprise des Jünger’schen Traumtextes in den seriellen Berichten über den Folterkeller im Haus von Maria Canales in Nocturno de Chile. Ich komme an späterer Stelle dieses Beitrags noch einmal darauf zurück. Vgl. Klengel: Jünger Bolaño, S. 47f. Vgl. ebd., S. 57-68. Bolaño, Roberto: Estrella distante. Barcelona 2000, S. 93; vgl. Klengel: Jünger Bolaño, S. 51f., 68. »Augen, die nicht zum Körper zu gehören schienen, und einem Blick wie von einem anderen Stern« (Bolaño, Roberto: Stern in der Ferne, Übs. v. Christian Hansen. Frankfurt a.M. 2009, S. 101).
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Szenen wichtig, die durch den Rekurs auf ein geläufiges astrophysikalisches Wissen über Mondzyklen transparenter werden. Die Lektüre führt in die Gedankenwelt des auf dem Sterbebett liegenden Geistlichen und Literaturkritikers Sebastián Urrutia Lacroix, auch bekannt unter dem Kritikerpseudonym Ibacache, der in einem Selbstgespräch auf sein Leben zurückblickt. Am auffälligsten (und auch am absichtlich trivialsten) ist zunächst die Erinnerung an den in die Betrachtung des Mondes versunkenen Pablo Neruda in nächtlicher Landschaft auf der Hacienda des großen Literaturkritiker Farewell, »recitando versos a la luna«.37 Die tiefe NerudaVerehrung in Chile und weltweit wird in Nocturno de Chile schon durch Farewells Namen ironisch konterkariert, der auf ein frühes (heute als deutlich machistisch gewertetes) Gedicht Nerudas (Farewell) anspielt. Neruda ist Verfasser mehrerer Gedichte über den Mond bzw. »la luna«. Seine Exaltiertheit angesichts des Erdtrabanten ruft Bolaños Spott ebenso hervor wie die Idee, dass der Mond domestizierbar sei, wie in Oda a la luna vorgeschlagen.38 Wer könnte diesen Mann im Mond zähmen, dem Bolaño ständig so viel Handlungsmacht zuschreibt? Eine weitere zentrale Referenz ist der italienische Dichter Giacomo Leopardi, dessen Poesie über den Mond zum Kanon der italienischen und der Weltliteratur gehört. Leopardi, der in seiner Jugend auch eine Geschichte der Astronomie verfasst hatte, dichtete vielgestaltig über »la luna«: Diese steht für Liebe, Erinnerung, Idylle, Einsamkeit, Trost und Göttliches, aber auch für Kälte, Gefühllosigkeit, Desillusion.39 In Nocturno de Chile werden zwei Gedichte explizit genannt: Canto notturno di un pastore errante dellʼAsia (1829/30), in dem der Mond direkt angesprochen wird, und L’infinito (1819).40 André Lainck hat in seiner Studie auf die réécriture von Canto notturno di un pastore errante dellʼAsia 37
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Bolaño, Roberto: Nocturno de Chile. Barcelona 2000, S. 24. »und rezitierte Verse an den Mond« (Bolaño, Roberto: Chilenisches Nachtstück, Übs. v. Heinrich von Berenberg. München 2010, S. 23). In der Oda a la luna aus dem Zyklus Nuevas Odas Elementales kündigt der Dichter, im Namen aller Dichter, eine mögliche Eroberung des Mondes an: »entraremos/en tu luz subterránea, […] fecundaremos/tu estatura helada,/cosecharemos/trigo/y aves/en tu frente,/navegaremos/en tu océano blanco,/[…] serás/nuestra/[...] y no serás inútil/[…] sino sólo/legumbre,/queso puro,/vaca celeste« In: Neruda, Pablo: Obras Completas. Bd. II. Buenos Aires 4 1973, S. 285-288, hier S. 287f. Vgl. hierzu die Dissertation von Schulting, Anja: Wandlungen der ›graziosa luna‹ Leopardis in der italienischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Übernahme – Parodie – Neuschöpfung. Frankfurt a.M. 2003, insbesondere die Übersicht auf S. 55f. Bolaño: Nocturno, S. 110f.
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in der Benito Juárez-Szene in 2666 aufmerksam gemacht.41 L’infinito dagegen, das von Urrutia Lacroix im Roman zitiert wird, enthält umgekehrt zwar keine Nennung des Mondes, doch fällt bei diesem Gedicht die berühmte Szene metaphysischer Reflexion aus der Höhe auf: Das lyrische Ich sitzt nachdenklich, melancholisch auf einem Hügel – möglicherweise dem Monte Tabor, Leopardis Hausberg in der Nähe seines Heimatorts Recanati – und sinniert, auf die Weite des Tales und des Himmels blickend, über das Schicksal und die Unendlichkeit. Wie relevant der konkret vorzustellende und aus den Quellen gut rekonstruierbare Aussageort in der Höhe ist, zeigt eine ausführliche Analyse von Franz-Rutger Haussmann, auf die an dieser Stelle nachdrücklich verwiesen sei.42 Am Ende dieses Unterkapitels wird noch einmal von der Relevanz des Gedichts Lʼinfinito die Rede sein. In Nocturno de Chile finden sich ebenfalls – wie bei Bolaño üblich – mehrere Binnenerzählungen, die durch ihre Fülle und thematische Vielfalt als mäandernde Abschweifungen erscheinen. Doch ihr Sinn besteht darin, eine Ästhetik der Höhenperspektiven und der Muster und Ornamente in Gang setzen, wobei das Paradigma des lunaren Blicks zur Anwendung gebracht und stets neu abgewandelt wird. Einige dieser Szenarien seien hier in Kürze genannt: Der Blick des an Hunger und Melancholie leidenden guatemaltekischen Malers fällt vom Fenster seines Pariser Ateliers auf das Weichbild der Stadt (in Anwesenheit von Ernst Jünger und Salvador Reyes);43 sein Gemälde mit dem Titel Paisaje de Ciudad de México una hora antes de amanecer, für das sich auch der fiktive Ernst Jünger interessiert, zeigt Mexiko-Stadt aus der Vogelperspektive.44 Die Stadt wird als Muster und Ornament beschrieben: »Predominaben 41
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Vgl. Lainck, André: Las figuras del mal en 2666 de Roberto Bolaño. Berlin 2014, S. 137141, vgl. auch Loy, Benjamin: Roberto Bolaños wilde Bibliothek: Eine Ästhetik und Politik der Lektüre. Berlin 2019, S. 335-337. »Leopardi präzisiert nicht, aber wir können ihn uns in ähnlicher Sitzposition [des Melancholikers mit auf die Hand gestütztem Gesicht] vorstellen. Räumlich, und damit auch philosophisch betrachtet, ist das Sitzen auf dem Hügel ein, wie ich es einmal nennen möchte, ›in der Mitte Sitzen‹, in der Mitte zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos, der Alltagswelt und dem Numinosen. Der Dichter sieht zu seinen Füßen die banale Alltagswelt – hier sieht er sie nicht, er verdrängt sie, er ahnt sie aber – und lenkt seinen Blick nach oben.« Haussmann, Franz-Rutger: »Giacomo Leopardi: ›L’infinito‹. In: Alexander, Vera; Fludernik, Monika (Hg.): Romantik. Trier 2000, S. 201-215, hier S. 207. Bolaño ist sich dieser räumlichen Aussageposition des Gedichts mit Sicherheit bewusst, ebenso der melancholischen Stimmung. Bolaño: Nocturno, S. 41. Ebd., S. 43.
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los verdes y los grises. Algunos barrios parecían olas […]«.45 An anderer Stelle beeindruckt der Kritiker Farewell durch seine schiere Körpergröße und seine Raubvogelstimme aus der Höhe (»la voz de una gran ave de presa«46 ). Seine unbewegten Falkenblicke (»ojos de halcón«47 ) auf die turbulente Welt lösen beim Ich-Erzähler Urrutia Lacroix »connotaciones de terror infinito« aus.48 Und auch in der wunderlichen Binnenerzählung über den (real existierenden) Heldenberg in Österreich wird die landschaftliche Situation des Hügels inmitten eines Tales, betont.49 Das Grab des Schusters, Gründer dieser »Grabstätte aller Helden«, befindet sich auf der Kuppe des Hügels. Immer wieder fällt in dem Roman der Blick aus der Höhe auf Panoramen, Muster, Ornamente, Serien. Doch was in all diesen Geschichten bislang wie ein eigenartiges Spiel mit unterschiedlichen Höhenperspektiven und Panoramablicken anmutet, schlägt plötzlich auf grausame Weise um. Scharfe Blicke aus Raubvogelaugen führen zu Blutbädern: Die Täter sind Jagdfalken, deren Einsatz im Denkmalschutz europäischer Kirchengebäude Urrutia Lacroix zu untersuchen beauftragt ist.50 Der chilenische Gast wohnt den blutigen Taubenjagden dieser Jagdfalken vielerorts in Europa bei und ist von der Effizienz der Raubvögel, die namentlich vorgestellt werden, überrascht. Besonders eindrucksvoll ist seine Schilderung des Falken Ta Gueule (dt. »Halt’s Maul«), der nicht nur über Tauben, sondern auch über einen Schwarm Stare herfällt, bis sich die Luft über Avignon blutrot färbt: »Esa vena de sangre fue la que vi en los cielos de Avignon, el vuelo ensangrentado de los estorninos, los movimientos como de paleta de un pintor expresionista abstracto«.51 Auch eine weiße Taube, ähnlich der Friedenstaube Picassos, die man anlässlich einer Sportveranstaltung freilässt, wird von einem der Falken pfeilschnell gerissen.52 Die
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Ebd., S. 44. »Grün und Grau sind die vorherrschenden Farbtöne. Einige Stadtviertel wirken wie Meereswogen« (Bolaño: Nachtstück, S. 45). Ebd., S. 13f. Ebd., S. 15. Ebd., S. 63. Ebd., S. 55. Ebd., S. 83-93. Ebd., S. 88. »die Femoralvene, […] sie war es, die ich im Himmel über Avignon erblickte, den blutgetränkten Starenflug, die wie von der Palette eines abstrakten Expressionisten stammenden Flugbewegungen« (Bolaño: Nachtstück, S. 92). Ebd., S. 93.
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Vogelperspektive bzw. der scharfe Raubvogelblick aus großer Höhe wird hier im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch.53 Doch damit nicht genug der Höhenperspektiven, die auf die lunare Perspektive verweisen. Im Roman gibt es eine weitere camouflierte Schlüsselinszenierung des Mondes: Auf dem Totenlager wendet sich Urrutia Lacroix an den »joven envejecido«, seinen stillen Gesprächspartner und rätselhaftes Gegenüber, dem der sterbende Kritiker und Geistliche sein Leben erzählt oder auch beichtet. Oft wurde gerätselt, was es mit dieser flüchtigen und gleichzeitig ubiquitären, mal an-, mal abwesenden, schweigsamen Figur auf sich habe. Ob es sich um einen Vertreter der nachfolgenden Schriftstellergeneration handeln könnte, dem der Literaturkritiker sein problematisches Erbe beichtet (oder vermacht), oder um eine Alter-Ego-Figur des Erzählers oder sogar des Autors selbst, blieb Gegenstand der Spekulation.54 Doch zweifellos handelt es sich hier erneut um eine Mondfiguration. Schon die eigentümliche Bezeichnung deutet darauf hin: Der »joven envejecido«, der ›gealterte junge Mann‹ könnte ebenso ein »anciano rejuvenecido« sein, ein »verjüngter Alter«, beginnt doch der Mond alle 29,5 Tage seinen Zyklus von Neuem und durchläuft alle Phasen vom Neumond, Sichelmond,
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Jünger erwähnt seinerseits die »künstlichen Raubvogelaugen der Teleskope«. Jünger: Sizilischer Brief, S. 13. Raphaël Estève kommt durch eine intertextuelle, auf Homophonie (Tagle – Ta Gueule) beruhende Verknüpfung zu einem mit meiner Analyse weitgehend kompatiblen Ergebnis: »On comprend au final, en observant la symétrie de l’hexagone intratextuel Ibacache1-Ibacache2-Wieder-Jünger-Tagle-Ta Gueule, que le faucon est d’une certaine façon l’hétéronyme métaphorique d’Ernst Jünger dans Nocturno de Chile«. Estève, Raphaël: Jünger et la technique dans Nocturno de Chile. In: Benmiloud, Karim; Estève, Raphaël (Hg.): Les astres noirs de Roberto Bolaño. Bordeaux 2007, S. 135160, hier S. 152. Nach meiner Lesart steht der Falke allerdings nicht metaphorisch für Jünger, sondern es handelt sich tatsächlich um die konkrete Umsetzung von Jüngers Höhenästhetik. An einer anderen Stelle weist Estève seinerseits auf die »géographie verticale« (des Heldenbergs) hin und verbindet diese mit einem Traumbild von Urrutia Lacroix, in welchem Jünger in einem Raumschiff an den Höhenkämmen der andinen Kordilleren im ewigen Eis zerschellt. Ebd., S. 137, vgl. Bolaño: Nocturno, S. 51. Vgl. z.B.Benmiloud, Karim: Figures de la mélancholie dans Nocturno de Chile. In: Benmiloud, Karim; Estève, Raphaël (Hg.): Les astres noirs de Roberto Bolaño. Bordeaux 2007, S. 109-134, hier S. 110-111; Loy: Bolaños Wilde Bibliothek, z.B. S. 130; Simson, Ingrid: Roberto Bolaños Version von Erinnerung: Schweigen, Ironie und emotionale Leere in Nocturno de Chile. In: Bolte, Rike; Klengel, Susanne (Hg.): Sondierungen. Lateinamerikanische Literaturen im 21. Jahrhundert. Madrid/Frankfurt a.M. 2013, S. 48-65, hier S. 52f.
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Halbmond zum Vollmond, zum Neumond, bis in alle Ewigkeit. Folgende Zitate machen dies deutlich: »[…] le digo al joven envejecido, aunque ya no lo veo, aunque ya no sé si está a mis espaldas o en los lados o si se ha perdido entre los manglares que circundan el río.«55 »No lo veo, pero me parece verlo acuclillado o a cuatro patas en un altozano, mientras las nubes pasan velocísimas por encima de su cabeza, y el altozano entonces es una colina baja y al minuto siguiente es el atrio de una iglesia, un atrio negro como las nubes, […] y el joven envejecido tiembla y retiembla y arruga la nariz y después salta sobre la historia.«56 Eine kurze, leicht ironische Passage bezieht sich wenige Seiten später offenbar direkt auf den Beginn des Sizilischen Briefs, wo der (Mann im) Mond dem Kind als furchterregende Riesengestalt hinter dem Fenster erschien: »Ich entsinne mich noch recht wohl der Stunden, in denen Dein Gesicht groß und schrecklich im Fenster erschien« heißt es bei Jünger.57 Bei Bolaño liest man wiederum: »Escribi o intenté escribir un poema. En uno de los versos aparecía un niño de ojos azules mirando a través de los cristales de una ventana. Qué horror, qué ridiculez.«58 Letztlich aber geht es in dem Roman um die Einsamkeit des Sterbenden und um die Reflexion über Endlichkeit und Ewigkeit angesichts des Mondes: »El joven envejecido siempre ha estado solo y yo siempre he estado con la
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Bolaño: Nocturno, S. 71. »sage ich zum vergreisten Grünschnabel, obwohl ich ihn gar nicht sehen kann, obwohl ich keine Ahnung habe, ob er noch hinter mir steht oder neben mir oder in den Mangrovensümpfen, die den Fluß säumen« (Bolaño: Nachtstück, S. 74). Ebd., S. 124. »Ich sehe ihn nicht, aber mir scheint, ich sehe ihn, auf einer Anhöhe hockend, auf allen vieren, und die Wolken sausen über ihn hinweg, mal ist die Anhöhe ein niedriger Hügel und eine Minute später ein Kirchhof, schwarz wie die Wolken, […] und der vergreiste Grünschnabel zittert und bebt, zieht die Nase kraus, und dann springt er auf die Geschichte auf« (Bolaño: Nachtstück, S. 130). Jünger: Sizilischer Brief, S. 11. Bolaño: Nocturno, S. 135. »Ich schrieb ein Poem, besser gesagt, ich versuchte es. In einer Strophe erscheint ein Kind mit blauen Augen, das durch eine Fensterscheibe starrt. Wie gräßlich, wie lächerlich« (Bolaño: Nachtstück, S. 141).
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historia. Me apoyo sobre mi codo y lo busco«.59 Melancholisch auf den Ellenbogen gestützt60 spricht der auf seinem Bett liegende Sterbende mit dem Mond, und schließlich kommt es zu einer eigentümlichen, aber der Logik der Mondfigurationen entsprechend folgerichtigen Identifikation zwischen dem sterbenden Kritiker, der Mondfigur und der Erzählinstanz: »¿Donde está el joven envejecido?, ¿por qué se ha ido?, y poco a poco la verdad empieza a ascender como un cadáver. Un cadáver que sube desde el fondo del mar o desde el fondo de un barranco. Veo su sombra que sube. Su sombra vacilante. Su sombra que sube como si ascendiera por la colina de un planeta fosilizado. Y entonces, en la penumbra de mi enfermedad, veo su rostro feroz, su dulce rostro, y me pregunto: ¿soy yo el joven envejecido? ¿Esto es el verdadero, el gran terror, ser yo el joven envejecido que grita sin que nadie lo escuche? ¿Y que el pobre joven envejecido sea yo?«61 Dies ist eine interessante Zusammenschau, in der sich der Schreibende bzw. Erzählende als einsamer Rufer in der Wüste präsentiert – ein Hinweis auf das tiefere Motiv, ein tiefes Entsetzen, in Bolaños Schreiben? Liegt hier vielleicht sogar eine tiefere Verbindung zu Jüngers Ästhetik? Diese Frage kann nur angedeutet werden. Nocturno de Chile mit seinen vielfältigen Inszenierungen des Mond-Topos und der Mond- bzw. Höhenperspektiven – harmlose und grausame –, die hier nur fallweise dargestellt werden konnten, schließt jedenfalls mit einem Szenario, das seinerseits an Jüngers bereits erwähnten Traumtext Violette Endivien erinnert: Kurz vor Ende des Buchs liest man einen Bericht über den
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Ebd., S. 148. »Der vergreiste Grünschnabel ist immer ein Einzelgänger geblieben, ich aber, ich bin stets mit der Geschichte gegangen. Ich stütze mich auf den Ellenbogen und spähe umher, ob ich ihn irgendwo erblicken kann« (Bolaño: Nachtstück, S. 155). Vgl. zur seit der Antike überlieferten Pose des Melancholikers bei Bolaño Benmiloud: Figures de la mélancholie, S. 110f. Bolaño: Nocturno, S. 149f. »Wo ist der vergreiste Grünschnabel? Warum ist er weggegangen? Und nach und nach beginnt die Wahrheit aufzusteigen wie eine Leiche, wie eine Leiche, die vom Grund des Meeres aufsteigt oder aus einer Schlucht. Ich sehe ihren trägen Schatten hinter den Hügeln eines versteinerten Planeten aufsteigen. Und da, im Dämmerlicht meines Krankenlagers, sehe ich sein wüstes, sein freundliches Antlitz, und ich frage mich: Bin ich der vergreiste Grünschnabel? Ist er das, der wahrhaftige, der entsetzliche Schrecken, ich selbst könnte der vergreiste Grünschnabel sein, der schreit, ohne daß ihm jemand zuhört? Ich wäre jener bedauernswerte vergreiste Grünschnabel?« (Bolaño: Nachtstück, S. 156f.).
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kurzen Blick auf ein Folteropfer in den Kellern der Kunstmäzenin María Canales, der anschließend mehrfach mit leichten Variationen wiederholt wird. Das auf diese Weise vervielfältigte Bild des Folteropfers bildet erneut ein visuelles Muster. Diese Blicke in die Abgründe des Kellers am Ende des Romans, spielen ein weiteres Mal auf den Sizilischen Brief und Jüngers Erinnerung an das Stereoskop an, wo sich beim Blick auf die Oberfläche plötzlich die Tiefe auftut. Die Mond-Themen und Höhenperspektiven in Nocturno de Chile sind offensichtlich alles andere als harmlos. Mit Recht können sie auch in gewissem Sinne als eine literarische und kritische Stellungnahme zur Militärdiktatur gelesen werden. Dass sich im Roman Pinochet und seine Schergen einen Überblick über die Denkweise der Marxisten verschaffen wollen, um den ideologischen Feind besser bekämpfen zu können, und deshalb bei Urrutia Lacroix Unterricht in marxistischem Denken nehmen, zeigt den direkten politischen Bezug. Hier ist bemerkenswert, dass Bolaño seine von Ernst Jünger adaptierte ästhetische Strategie nicht mit dem Diktator und selbsternannten Militärschriftsteller teilt. Dies wird anhand einer weiteren Mondszene deutlich: Der sich besonders gerissen wähnende Diktator im Roman hat keinerlei Vorstellung von Giacomo Leopardi,62 dessen Gedicht L’infinito Urrutia Lacroix angesichts des Mondes zitiert. Pinochets mangelndes Wissen ist hier aber weniger eine Offenbarung kultureller Ignoranz als vielmehr der Hinweis, dass Roberto Bolaño dem wissbegierigen Diktator nicht seinen eigenen Schlüssel zu Wissen und Erkenntnis der Welt überlässt – eben jenen machtvollen lunaren, vertikalen Blick. Eine Bewertung dieser Strategie bleibt zumindest ambivalent.
Warum der (Mann im) Mond? Etwas in Bolaños Texten entzieht sich: Diese irritierende Erfahrung haben viele seiner Leserinnen und Leser gemacht, und sie ist konstantes Thema einer Literaturwissenschaft, die sich zur Detektivarbeit aufgefordert fühlt.63 Bolaño fordert einen aktiven Leser. Seinem reichen und enigmatischen literarischen Kosmos kommt man näher, wenn man weiß, dass dieser manisch
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»El general Pinochet no expresó el más mínimo interés.« Ebd., S. 111. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Klengel, Susanne: Roberto Bolañoʼs Vertical Esthetics: A Case for a Hermeneutics of Suspicion. In: Iberoromania 90 (2019), S. 135-150.
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Lesende und Schreibende auf kunstvolle Weise eine Obsession pflegt, die den innersten Kern seiner Ästhetik bildet. Er ähnelt darin manchem Vertreter der Surrealisten, denen er stets nahestand.64 Wenn hier vom Mond und der lunaren Ästhetik des Vertikalen bei Bolaño die Rede ist, dann meint dies ein frappierend weites Assoziationsfeld, das literarisch kreativ mit einer eigenen schlüssigen Logik bespielt wird. Bolaño schafft es auf diese Weise, dem zutiefst bekannten Mondmotiv ein neues Gepräge und eine eigene unheimliche Handlungsmacht zu verleihen. Seine obsessiven Mond-Inszenierungen enthalten endlose Anspielungen auf klassische Bilderwelten einschlägiger Autoren wie z.B. Leopardi und Neruda; oder Remedios Varo, in deren Malerei der Mond vielfach Motiv ist und die in Amuleto namentlich vorkommt. Es gibt aber auch vielerlei Anspielungen auf Entlegeneres, etwa die belgische Avantgarde-Zeitschrift Luna Park (nicht nur, aber vor allem wegen ihres einschlägigen Namens), in der die junge Dichterin und Selbstmörderin Sophie Podolski veröffentlicht wurde;65 oder auf Alcira Soust Scaffo, die sich hinter Auxilio Lacouture in Amuleto verbirgt, und deren poetische Leidenschaft für Sonne, Mond und Sterne schon dem jungen Bolaño mit Sicherheit bekannt war.66 Wichtig ist an dieser Stelle auch die Feststellung, dass Bolaño seine Monde stets als konkrete Figur und Figuration sieht, wie ich in meiner Studie anhand der vermeintlichen Duchamp-Reprise in Amalfitanos Buchinstallation in 2666 gezeigt habe: Hier geht es weder um den Inhalt von Rafael Diestes Testamento Geométrico noch um Marcel Duchamp, sondern um das mathematisch-kosmologische Vexierbild auf dem Buchumschlag, wo eben auch der Mond zu sehen ist.67 Darüber hinaus kommt »la luna« in Bolaños Texten na64 65
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Zu denken wäre sicher an Salvador Dalí in vielerlei Hinsicht oder z.B. an die Puppenobsession von Hans Bellmer, neben anderen. Vgl. das der Dichterin gewidmete Fragment »El Nilo«. Bolaño, Roberto: Amberes. Barcelona 2002, S. 25f. und die Erzählung Vagbundando en Francia y Bélgica, in der die Zeitschrift Luna Park zentraler Gegenstand ist. In: Bolaño, Roberto: Putas Asesinas. Barcelona 2001, S. 81-96. Eine Ausstellung am Museo Universitario de Arte Contemporáneo der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) und der Begleitkatalog dokumentieren im Sommer 2018 erstmals ausführlich Alcira Soust Scaffos Poesie und Kunst (und damit auch ihre Leidenschaft für die Gestirne). Vgl. Alcira Soust Scaffo. Escribir poesía.¿vivir dónde? (Ausstellungskatalog UNAM). Mexiko 2018. Klengel: Jünger Bolaño, S. 70-72 und Abb. S. 93, vgl. Bolaño: 2666, S. 245ff. Durch die konkrete und referenzielle Bildlichkeit kann man eine Verbindungslinie zur Visualität des Mondmotivs im Magischen Realismus bei Franz Roh und Jünger ziehen, wie zu Beginn dieses Beitrags ausgeführt.
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mentlich so häufig vor, dass eine quantitative, ja statistische Untersuchung seiner Texte vermutlich noch weitere Erkenntnisse bringen würde. Bolaños stets beiläufige, aber zutiefst scharfsinnigen Formen der Anverwandlung des Mondes bzw. des Manns im Mond als handlungsmächtige Instanz ist literarisch höchst produktiv. Das Spiel mit dem Mond-Thema zwischen Sprachen, Kulturen, Bildern sowie mit dem grammatischen oder vom Mythos zugewiesenen Geschlecht (Mond/luna) und das Talent des Autors, Jüngers stereoskopische und lunare Wahrnehmungstheorie im eigenen Schreiben immer wieder kreativ zu nutzen, um von dort ausgehend ein weites intertextuelles Netz literarischer Anspielungen auszuwerfen und neu zu verknüpfen – deren Ausmaß und Struktur Benjamin Loy (2019) als »wilde Bibliothek« bezeichnet –, haben zu denkwürdigen literarischen Figurationen geführt: Der »joven envejecido« ist der immer neu entstehende und alternde Mond, an den sich der sterbende Urrutia Lacroix mit seiner Beichte richtet – der Roman ist ein zeitgenössisches Experiment mit dem alten Topos der melancholischen Mondanrede. Auxilio Lacouture bekam als »Frau im Mond« in Amuleto eine ›zurechtgeschneiderte‹ Perspektive nach dem Beispiel des deutschen Manns im Mond. So verfügt sie ihrerseits über die Macht der Stereoskopie. Zu den Mond-Figuren gehört außerdem auch Maciste (bzw. »Mister Universum«), der bleiche Protagonist aus dem Roman Una novelita lumpen (2002), welcher hier nicht eingehend besprochen werden konnte: Der geheimnisvolle reiche Liebhaber Biancas (die Weiße!) wird in seinem dunklen Palast immer wieder als menschlicher Vollmond beschrieben. Seine Haut ist weißlich wie von jemandem, der die Sonne nie sieht: »Su cuerpo tenía el color blanquecino de los que nunca toman el sol«.68 Immer wieder insistiert der Text auf Macistes Erscheinungsbild. Er ist weiß, sehr dick und groß, und er hat einen riesigen, runden Kopf, »una enorme cabeza redonda«.69 Die Besonderheit dieses Bolaño’schen Mondmanns ist seine Blindheit; doch immer wieder, so heißt es, wendet er Bianca sein weißes Antlitz zu, als würde er sie ansehen: »Maciste volvió su cara enorme y blanca hacia mí y nuevamente tuve la impresión de que me miraba.«70 Die novelita lumpen
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Bolaño, Roberto: Una novelita lumpen. Barcelona 2002, S. 77. Ebd., S. 118. Ebd., S. 112.
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endet nicht zufällig mit dem Bild eines lautlosen kosmischen Sturms im planetarischen Raum.71 Ob auch die eigentümliche Figur des »jorabadito«, des buckligen kleinen Mannes, in dem frühen, aber erst 2002 veröffentlichten Werk Amberes etwas mit dem Mond zu tun haben könnte, kann hier nicht weiterverfolgt werden, doch sei darauf verwiesen, dass die »luna jorobada« bzw. »luna gibada« eine weitere Mondphase bezeichnet: nämlich den zu- bzw. abnehmenden Halbmond, im Deutschen einst auch »Buckelmond« genannt. Mit seiner eigenartigen Flüchtigkeit, seinen Kauerstellungen im Schwimmbad oder auf dem Ast einer Pinie besitzt der »jorobadito« möglicherweise auch eine mondartige Identität. Und schließlich sei hier noch einmal an den »jodido gigante albino« erinnert, den weißen Riesen, den verbrecherischen oder Verbrechen auslösenden, mörderischen oder Mord auslösenden Mond/Erzähler, der im dritten Kapitel von 2666 trotz seiner dämonischen Wirkkraft so beiläufig auftritt, dass man ihn kaum bemerkt.72 Bolaños oft surreales oder surrealistisches Spiel mit dem literarischen Mondtopos in allen Schattierungen, mit der extremen Konkretheit verschiedener Mondphasen, mit den Mondmannblicken und einer mondhaften Handlungsmacht ist allerdings kein acte gratuit im Sinne einer ständig neuen Auflehnung gegen Rationalität und Kausalität. Vielmehr folgt es der tiefen Systematik seiner Ästhetik. Denn wichtiger als alles andere ist, dass Bolaño dem (Mann im) Mond (und sich selbst) eine unheimliche Handlungsmacht in Form einer erzählerischen Mondperspektive verleiht. Sein einsamer und unbewegt beobachtender Mond aus dem Geiste Jüngers ist fähig, die wirre und kleinteilige menschliche Welt als Muster und Ornament auf der Oberfläche und in ihren tiefen Strukturen zu erfassen und literarisch darzustellen – seien diese trivial oder zutiefst grausam. Es ist eine Beobachterposition, die Rainer Gruenter als »eine Betrachtungsweise des Geschehens, die das Gräßliche und Schreckliche wie das Schöne als kontrastierende Elemente und Segmente eines dramatischen Ornaments genehmigen und genießen kann«,73 beschrieben hat. Hier liegt das Geheimnis jener effizienten, rätselhaften und dämonischen Erzählperspektive, die sich ständig in einer endlosen Vielfalt von Höhenperspektiven erprobt, seien es Blicke herab von Hügeln, Vulkanen, hohen Gebäu-
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Ebd., S. 121f. Bolaño: 2666, S. 439; vgl. Fußnote 25. Gruenter: Jugendstil, S. 38f.
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den oder Blicke riesenhafter Menschen (auch wenn sie nur auf einen Stuhl steigen wie der mordende Künstler Carlos Wieder in Estrella Distante), Blicke aus der Vogelperspektive wie im Gemälde des guatemaltekischen Malers oder der Jägerblick der mörderischen Falken. Diese Blicke aus der Höhe bilden archimedische Punkte oder besser kosmische Haltepunkte in Bolaños Textuniversum. Sie sind undenkbar ohne die Verfügbarkeit der stellaren Perspektive bzw. des Manns im Mond Jünger’scher Prägung als Voraussetzung für Bolaños Ästhetik des Vertikalen. Zu Recht wird die Kälte dieser Ästhetik als tief beunruhigend empfunden, denn diese provokative Ästhetik beruht (in aller Beiläufigkeit) auf einem ebenso obsessiven wie konsequenten strategischen Spiel.
Die Offenheit des Erzählten Roberto Bolaño als Ermutigung für Daniel Kehlmann Joachim Rickes
In einem Interview wies Daniel Kehlmann im Sommer 2014 auf die Bedeutung des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño für seinen Roman F hin: »Roberto Bolaño was a big influence to me, also for ›F‹. The kind of openness, the courage to not explain everything and to leave things opaque, to leave open questions about the story even the writer doesn’t have the answers to. He gave me a lot of courage on that.«1 Wenn sich ein Autor so eindeutig äußert, scheint alles Wesentliche bereits gesagt zu sein: Bolaño ist für Kehlmann ein Anreger und, wichtiger noch, ein Ermutiger zu offenen Erzählformen, für die der österreichischdeutsche Schriftsteller auch den Begriff des undurchsichtigen Erzählens ins Spiel bringt. Damit liegt jedoch die Frage nahe, wie sich diese Offenheit bei Bolaño darstellt und in welcher Weise sich sein Vorbild in Kehlmanns Texten niederschlägt. Im vorliegenden Beitrag wird der Offenheit des Erzählten bei beiden Schriftstellern nachgegangen.2 Dabei erscheint es sinnvoll, kürzere Texte auszuwählen, um die oft unscharfe Kategorie ›Einfluss‹ bzw. ›Vorbild‹ möglich konkret fassen zu können. Als ein Glücksfall erweist sich in diesem
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Vgl. Akopoulous, Georg: »A talk with Daniel Kehlmann«. In: www.georgakopoulos.org/work/people/daniel-kehlmann/(letzter Zugriff: 2.3.2020). S.a. Kehlmanns folgende Stellungnahme: »Someone who was a big model for that was Roberto Bolaño. I was very impressed by the openness of his novels. There is so much unexplained stuff going on, and you feel that not even the author has to understand what it’s all about. In my own, very different way, that’s what I was going for.« Zimmermann, Philip: Daniel Kehlmann: Forging the Artist. In: https://www.guernicamag.com/daniel-kehlmannforging-the-artist/ (letzter Zugriff: 2.3.2020). Unberücksichtigt bleibt dabei die in Kehlmanns Interview anklingende Perspektive, dass auch der Autor manche Zusammenhänge in seinen Texten nicht überblicke – inwieweit dies jeweils der Fall ist, lässt sich literaturwissenschaftlich kaum überprüfen.
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Zusammenhang, dass Daniel Kehlmann bereits bei früherer Gelegenheit auf die Bedeutung von Bolaños Erzählband Der unerträgliche Gaucho hingewiesen hat. In seiner Rezension des kleinen Bandes betonte er 2007, wie sehr er die radikale Offenheit der dort publizierten kurzen Erzähltexte bewundere: »bei der Lektüre werden die Mysterien noch mysteriöser, und immer wieder meldet sich die spöttische Stimme des Autors selbst zu Wort und macht sich über unser Unverständnis lustig. ›Sie verkaufen sich und genießen die Gunst des Publikums‹, sagt er über Bestsellerautoren, ›weil man ihre Geschichten versteht.‹ Bolanos Geschichten aber versteht man nicht – und seltsamerweise liegt darin ihre Schönheit.«3 Wegen ihrer besonderen Relevanz für die vorliegende Fragestellung werden nachfolgend die beiden ersten Erzählungen aus Der unerträgliche Gaucho herausgegriffen.
Bolaños undurchsichtiges Erzählen »Jim«, ein Text von gerade drei Seiten, ist ein besonders prägnantes Beispiel für offenes bzw. undurchsichtiges Erzählen bei Bolaño. Es geht um einen Amerikaner, von dem der Leser fast nichts erfährt – außer, dass er traurig ist. Der Erzähler beginnt mit dem Satz: »Vor vielen Jahren hatte ich einen Freund, der hieß Jim, und seitdem habe ich nie wieder einen so traurigen Nordamerikaner gesehen. Ich habe viele gesehen, die verzweifelt waren. Aber keinen, der so traurig war wie Jim.«4 Nur bruchstückhaft klingt an, dass Jim als Soldat in Vietnam gekämpft hat. Allerdings ist diese Zeit für ihn vorbei, er will »[k]eine Kämpfe mehr« (7). Jim sieht sich nun als »Dichter«, der das Außergewöhnliche in »gängige, geläufige Worte« (7) fassen möchte. In der Erzählung, die in Mexiko-City spielt, wird nur eine winzige Episode geschildert: Jim schaut einem Feuerschlucker so fasziniert zu, dass dieser ihm sehr nahekommt und 3
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Vgl. Kehlmann, Daniel: Kehlmann liest Roberto Bolaño. In: Cicero 2007, H. 11, S. 136.Daniel Kehlmann hat wiederholt zu Bolaños Werken Stellung genommen, so ausführlich zu dem letzten Roman 2666, vgl. Kehlmann, Daniel: Vier Kritiker bereisen die Hölle In: Kehlmann, Daniel: Lob. Über Literatur. Reinbek 2010, S. 51-56. S.a.: Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2007, S. 14f. Bolaño, Roberto: Jim, Übs. v. Hanna Grizmek. In: ders.: Der unerträgliche Gaucho. München 2006, S. 7. Nach dieser Ausgabe wird der Text im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl im vorliegenden Beitrag zitiert.
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ihn fast verbrannt hätte. Der Erzähler muss seinen amerikanischen Freund geradezu gewaltsam wegziehen. Unmittelbar nach dieser Episode endet die Erzählung. Fast alles an dem geschilderten Geschehen bleibt im Dunkeln. Warum ist Jim so unglaublich traurig? Welche Erfahrungen hat er in Vietnam gemacht, welche Schuld dort möglicherweise auf sich geladen? Ist er seitdem tatsächlich zum Dichter geworden oder stellt dies nur eine Illusion dar? Welche Bedeutung ist seiner rätselhaften Äußerung über dunkelhaarige Frauen beizumessen?5 Und aus welchem Grund will der einheimische Feuerschlucker den von ihm faszinierten Amerikaner mit seinen Flammen verletzen? Ein einziger Satz lässt ein wenig Licht ins erzählerische Dunkel dringen. In der Begegnungsszene mit dem Feuerschlucker merkt der Erzähler an: »[Jim] war den Zaubermächten Mexikos erlegen und blickte seinen Geistern geradewegs ins Gesicht« (10). Aber auch dies ist allenfalls ein Erklärungsansatz, der sogleich neue Fragen aufwirft. Um welche Geister handelt es sich? Warum weint Jim bei Betrachten des narbenversehenen Feuerschluckers? Und aus welchem Grund schweigt der Amerikaner nach seiner Befreiung aus dem Bann? Diese und weitere Fragen bleiben offen. Der Erzähler schließt mit den Worten: »Ziellos liefen wir die Straße entlang in Richtung Reforma, und bald darauf trennten wir uns. Jim sprach die ganze Zeit über kein einziges Wort. Ich habe ihn nie wieder gesehen« (10). Radikale Offenheit des Erzählens findet sich bei Bolaño allerdings nicht nur im Rahmen von Gesamttexten,6 sondern ebenso in Details. Dies belegt die auf »Jim« folgende Erzählung »Der unerträgliche Gaucho«. In diesem doppelbödigen, kunstvoll durchkomponierten Text wird das bürgerlich-kultivierte Leben des Richters Manuel Pereda in Buenos Aires vor dem argentinischen Finanzkollaps kontrastiert von der nachfolgenden ländlichen Existenz des verarmten Mannes, der auf sein zerfallenes Landgut in der Pampa zurückkeh5 6
»Offenbar mochte Jim Dunkelhaarige, die wahren großen Frauengestalten der Geschichte, wie er meinte, ohne sich näher zu erklären« (S. 8). In seiner Rezension von Der unerträgliche Gaucho hat Kehlmann ebenso auf den »kryptisch verknappte[n]« Text »Zwei katholische Erzählungen« (in: Bolaño: Gaucho, Übs. v. Peter Kultzen, S. 120-141) hingewiesen. Im ersten Teil »Die Berufung« berichtet der Ich-Erzähler von einem Erlebnis, dem zufolge sein großes Glaubensvorbild, der im 4. Jahrhundert gestorbene Heilige Vinzenz in die Gegenwart zurückgekehrt sei. Im zweiten Teil »Der Zufall« erzählt ein geflohener Insasse eines Irrenhauses, der die Heilige Barbara verehrt, von seinen Mordtaten. In beiden Teilen bleibt der Realitätsstatus des Erzählten völlig offen.
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ren muss. Dort ist, wie Daniel Kehlmann in seiner Rezension festhält, alles anders als erwartet: »Auf Abenteuer und Messerstechereien gefasst, macht er [Pereda] sich auf den Weg in die Weite, aber dort gibt es nur noch Hasen und keine Büffel mehr, die Gauchos sind feige und schwach geworden, und nichts, wirklich gar nichts passiert«.7 In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass sich Pereda auf seinem Landgut mehr und mehr zum Typus des rücksichtslosen, im Sinne des Titels unerträglichen Gauchos vergangener Zeiten entwickelt. Offene und verdeckte literarische Anspielungen u.a. auf Borges8 und Sarmiento vertiefen ein scheinbar eindeutiges Geschehen, das nach einer kurzen Rückkehr in die argentinische Hauptstadt in den Schlusssatz mündet: »[M]it dem ersten Licht der Morgendämmerung entschloss er sich, [in die Pampa] zurückzukehren« (52).9 Trotz der fast ostentativen Eindeutigkeit des Gesamtgeschehens sind innerhalb des Erzählgefüges immer wieder offene bzw. rätselhafte Stellen zu erkennen, von denen hier nur ein scheinbar nebensächliches Detail erwähnt werden soll: die vielen Kaninchen, denen Pereda in der Pampa begegnet. Bereits während der Bahnfahrt fällt ihm ein Kaninchen auf, das »mit dem Zug um die Wette zu laufen schien« (19). Schnell wird klar, dass dieses Kaninchen vor fünf Artgenossen flüchtet, die eine eigentümliche Verfolgungstaktik anwenden: »Die es verfolgenden Kaninchen […] schienen eines im Windschatten des anderen zu laufen wie die Radrennfahrer bei der Tour de France. Das ablösende Kaninchen machte zwei große Sätze nach vorn, und das führende ließ sich auf die letzte Position zurückfallen, das dritte nahm den zweiten Platz ein, das vierte den dritten, und auf diese Weise holte die Gruppe nach und nach den Abstand zu dem einzelnen Kaninchen auf« (19f.). Wenig später erreichen die Verfolger ihre Beute und stoßen ihm »ihre Krallen und Zähne, diese langen spitzen Nagezähne« (20) tief ins Fleisch. Während der Zug weiterfährt, bleibt eine »unförmige Masse an bräunlichen Fellen« (20f.) zurück. Bei der folgenden Schilderung des Lebens in der Pampa werden Kaninchen immer wieder erwähnt. Da der frühere Rinderreichtum verschwunden
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Kehlmann: Cicero, S. 136. Kehlmann liest die Erzählung als »eine Rücknahme von Borges’ Macho-Geschichte ›Der Süden‹«. Ebd. Bolaño, Roberto: Der unerträgliche Gaucho, Übs. v. Hanna Grizmek. In: ders.: Gaucho, S. 11-52.
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ist, wird die »Kaninchenjagd« (30) zur wichtigsten Überlebensstrategie. Handelt es sich hierbei erkennbar um das Lokalkolorit des Landlebens, so kommt einer zweiten Kaninchen-Episode eine größere Bedeutung zu. Als Pereda Besuch aus der Hauptstadt erhält, reitet er mit seinen Gästen zu einer Siedlung: »Zwei Stunden lang ergoss sich der Verleger in hymnischen Reden auf das verwilderte, bukolische Landleben, das die Bewohner um Capitán Jourdain seiner Meinung nach führten […], bevor er [die erste Hütte] erreichen konnte, […] sprang ihm ein Kaninchen an die Gurgel« (38). Der Erzähler, der den Sachverhalt zunächst nüchtern berichtet, lässt durch die nachfolgende Schilderung der Wahrnehmung seiner Hauptfigur zugleich Zweifel entstehen: »Von seinem Pferd aus konnte Pereda lediglich einen dunklen Fleck erkennen, der einen Bogen vom Boden zum Kopf des Verlegers beschrieb und wieder verschwand« (38). Die groteske Attacke hinterlässt zwar lediglich einen »Kratzer« unter dem Ohr des Verlegers. Dies hindert Pereda jedoch nicht, die Wunde nach Gaucho-Manier mit dem glühenden Messer auszubrennen, und den Verleger nicht, den Angriff des Kaninchens zur Attacke einer »Springschlange« (40) auszuschmücken. Die genannte Szene ist ein aufschlussreiches Beispiel für die Offenheit auch von Details bei Bolaño. Wie ihr Gegenstück, die undurchsichtige Konzeption eines Textganzen zielt diese Technik auf die Aktivierung des Lesers. Schließlich wird dieser durch das geschilderte Geschehen zugleich verblüfft und zu Deutungsversuchen herausgefordert. Ist die Szene innerhalb einer realistisch erzählten Handlung ernst gemeint? Kann ein springendes Kaninchen tatsächlich den Kopf eines Mannes zu Pferde erreichen? Wie ist es zu verstehen, dass die entstandene Wunde zunächst an der »Gurgel«, dann aber »unter dem Ohr« des Reiters verortet ist? Ist darin erzählerische Ironie zu sehen, z.B. gegenüber den Konzepten des magischen Realismus, unter denen solche Vermischungen des Realen und des Wunderbaren gang und gäbe sind?10 Eine vergleichbare Ungewissheit betrifft die zuvor geschilderte Verfolgungsjagd an der Bahnlinie. Spiegelt die kuriose Szene ein reales Jagdverhalten? Oder ist die Jagd als Allegorisierung zu verstehen? Dann stünde das gehetzte Kaninchen für das von seinen Gläubigern zur Strecke gebrachte Argentinien. Und wäre eine solche Deutung vom Autor intendiert oder ist sie unbeabsichtigt in das Textgefüge eingegangen? Wie das eingangs zitierte Interview belegt, fasziniert gerade die letztgenannte Eigenart des chilenischen 10
Vgl. dazu: Rickes, Joachim: Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg 2012, S. 73f.
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Erzählers Daniel Kehlmann: Bolaños Mut, offene Fragen zu hinterlassen, auf die der Autor keine Antwort gibt oder geben will, möglicherweise aber auch gar nicht geben kann.11
Erzählerische Offenheit bei Daniel Kehlmann Wie hat sich das Vorbild Bolaño auf Daniel Kehlmanns Texte ausgewirkt? Für den Roman F wäre diese Frage nur im größeren Zusammenhang sinnvoll zu erörtern.12 Stattdessen soll nachfolgend Kehlmanns bislang letzte, im Oktober 2016 erschienene Erzählung Du hättest gehen sollen betrachtet werden, in der das Vorbild des chilenischen Erzählers besonders greifbar wird. Der kurze Text, der in manchen Aspekten an seinen zweiten Roman Mahlers Zeit (1999) erinnert, greift das Kehlmann’sche Grundthema der Fragwürdigkeit von Realität13 auf, behandelt es jedoch in einer aufschlussreich veränderten Weise. Die Erzählung handelt von einem Drehbuchautor in einer Schaffenskrise. Um auf neue Ideen zu kommen, fährt der Ich-Erzähler mit seiner Frau Susanna und der vierjährigen Tochter Esther für eine Woche in die Alpen. Hier legt er ein Notizbuch an, in dem er – so die Erzählsituation – zuerst Ideen für sein Stück, dann jedoch mehr und mehr die Ereignisse in einem einsam gelegenen Berghaus festhält. Zunächst erscheint dort alles normal. Am zweiten Tag ereignet sich im Haus jedoch »etwas Seltsames«14 , das noch nicht näher benannt wird. Bei
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Ähnlich wirft ein anderes Detail in Der unerträgliche Gaucho die Frage nach seiner Bedeutung auf. Dabei geht es um einen surreal anmutenden Traum von Pereda: »Das eine Mal träumte er, wie über einer großen Stadt, in der er schließlich Buenos Aires erkannte, ein Regen von fliegenden Sesseln niederging. Plötzlich entzündeten sich die Sessel und begannen zu brennen« (27). Ein Beispiel für undurchsichtiges Erzählen im Sinne von Roberto Bolaño in F wird analysiert in: Rickes, Joachim: Rätselhaftigkeit als poetische Struktur. Die Metallstange in Daniel Kehlmanns Roman »F«. In: Sprachkunst XLIV/2 (2013), S. 141-157. Vgl. zur Bedeutung dieses Aspekts in F auch Gasser, Markus: Das Königreich im Meer – Daniel Kehlmanns Geheimnis. Reinbek 2013, S. 162f. Vgl. dazu: Rickes, Joachim: Die Stimme des Autors. Daniel Kehlmanns kleinere Schriften, Essays und Reden. In: Standke, Jan (Hg.): Gebrochene Wirklichkeit, Daniel Kehlmanns Romane und Erzählungen. Baltmannsweiler 2016, S. 76f. Kehlmann, Daniel: Du hättest gehen sollen. Reinbek 2016, S. 15. Nach dieser Ausgabe wird der Text im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl zitiert.
Die Offenheit des Erzählten
einer Einkaufsfahrt ins Tal erfährt der Erzähler von den Dorfbewohnern Irritierendes über das gemietete Haus und seinen mysteriösen Besitzer, über verfrühte Abreisen und Unglücksfälle. Eine Frau rät ihm: »Geht schnell weg« (32). In den folgenden Nächten hat er immer schlimmere Albträume. Zunehmend treten merkwürdige Phänomene auf: So kann der Erzähler im Fensterglas sein Spiegelbild nicht sehen, obwohl das gesamte Mobiliar zu erkennen ist. Zunächst versucht er, das Geschehen zu bagatellisieren: »Im Grunde ist ja kaum etwas passiert: Einbildungen, schlechte Träume, ein paar wunderliche Reflexionen« (49). Allerdings treten immer mehr beunruhigende Phänomene auf. Parallel nehmen die persönlichen Probleme des Erzählers zu: Die Arbeit am Drehbuch stagniert, sein Produzent entzieht ihm schließlich den Auftrag, nach einer Ehekrise lässt ihn Susanna mit der Tochter im Haus zurück. In der Nacht hört der Erzähler merkwürdige Stimmen und hat Visionen von Personen, die offenbar früher in dem Haus lebten. In seinem Notizbuch findet er beim Rückblättern warnende Eintragungen in seiner Handschrift, die er sich nicht erklären kann: »- warum steht da Geh weg? Das habe nicht ich geschrieben, Das war ich nicht« (59).15 Auch die Zeit- und Raumdimensionen scheinen sich zu verändern. Ein Versuch, mit der Tochter hinunter ins Tal zu flüchten, führt zu gespenstischen Resultaten. Als die beiden das Haus verlassen haben und zurückschauen, heißt es: »[H]inter dem hellen Rechteck des großen Fensters zeichnete sich eine Silhouette ab. Mit hängenden Schultern stand da jemand, den Kopf zur Seite geneigt, und sah zu uns herab. […] Jetzt schien die Gestalt weiter links zu stehen als noch gerade eben, und jetzt war eine zweite neben ihr, und jetzt wieder gar keine, während die Hausfassade sich um das Fenster kräuselte, Für einen Moment war die Größe des Gebäudes völlig unklar; es ragte weit in die Ferne, spitz und riesenhaft, aber nicht nach oben, sondern in eine Richtung, von der ich nicht geahnt hatte, dass es sie gab« (79). Noch irritierender ist, dass Vater und Tochter nach ausgedehntem Gang »auf der steil abfallenden Straße« (80) ins Tal hinunter dennoch wieder am Haus ankommen. Der Erzähler beginnt, den Berg als zeitentrückte »Falle« (86) zu verstehen, in der bereits frühere Bewohner gefangen sind. Er fühlt sich zunehmend »wie in zwei Wesen gespalten« (91) und will vor der Gefahr warnen: 15
Die Kursivsetzungen an dieser und an späteren Textstellen stammen aus dem Originaltext Kehlmanns.
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»[V]ielleicht kann ich ihn, also mich, also den, der ich eben noch war, auf diese Art warnen; vielleicht ihm durch die wellenschlagende Zeit zurufen Geh weg. Ihn anschreien: Geh weg, bevor es zu spät ist, es flüstern, es brüllen, […] bis er mich hört, bis er es liest, bis er es sieht, bis er versteht. Es hat nicht funktioniert. Ich habe es versucht. Ich bin noch hier. Also ist er nicht weggegangen, als er noch konnte, also bin ich geblieben« (87). Als am nächsten Morgen Susanna zurückkehrt, schickt der Erzähler sie und Esther, um beide zu retten, ins Tal. Er selbst kann sich dem Ort nicht mehr entziehen und bleibt – mit »[d]en anderen, die auch für immer hier sind« (87). Seine vorletzte Eintragung lautet: »So ist alles berichtet. […] Im Raum, der sich da [im Fenster] spiegelt, ist keiner. Aber auf dem Tisch liegt ein Notizbuch« (91f.). In der Erzählung folgt nur noch der rätselhafte Halbsatz: »Und dabei bin ich erst ganz am« (92).16 Wie ist diese seltsame Erzählung zu verstehen? Handelt es sich um eine Gespenstergeschichte in der Tradition von Henry James’ The Turn of the Screw oder mehr noch Algernon Blackwoods The Willows?17 Wird hier wie in Friedrich Dürrenmatts »Der Tunnel« eine existenzielle Frage behandelt? Geht es um ein literarisches Gegenstück zu Horrorfilmen wie »The Shining«?18 Oder stellt das Ganze eine psychologische Studie um einen paranoiden Erzähler dar? Der dicht komponierte Text deutet eine Reihe von Erklärungsmöglichkeiten an: So wird eine alte Legende um den verzauberten Berg erwähnt, das 16 17 18
Im Text folgen drei leere Seiten, die fortlaufend nummeriert sind (93-95). Vgl. zu diesem für Kehlmanns Erzählung wichtigen Vorbild Kehlmann, Daniel: Kehlmann liest Algernon Blackwood. In: Cicero 2008, H. 2, S. 124. Susannas Bemerkung über einen Film »mit den vielen Steadicam-Aufnahmen« (47) weist in diese Richtung. Der intermediale Aspekt wird in der Fachliteratur zu Du hättest gehen sollen eingehend diskutiert. Vgl. dazu Chraplak, Marc: Der Text als Falle: Daniel Kehlmanns fantastische Erzählung Du hättest gehen sollen. In: Hesse-Forschung 42 (2019), H. 12, S. 153-175 (Koreanische Hesse-Gesellschaft) sowie: Sailer, Sascha: »Ich habe ein paarmal an diesen Film denken müssen«: Spuren von Intertextualität und Intermedialität im Werk Daniel Kehlmanns. In: Roth, Hannelore u.a. (Hg.): Daniel Kehlmann und die deutsche Gegenwartsliteratur Dialogische Poetik, Werkpolitik und Poetisches Schreiben, erscheint: demnächst. Am Schluss von Kehlmanns Erzählung klingt möglicherweise auch der Film 2001 – A Space Odyssey an. Kaum zufällig hat Kehlmanns stark szenisch gehaltene Erzählung umgehend das Interesse Hollywoods gefunden. 2018 wurde bekannt, dass »You should have left« mit Kevin Bacon als Produzent und Hauptdarsteller sowie David Kopp als Drehbuch-Autor und Regisseur verfilmt werden soll. Der Film ist inzwischen fertiggestellt und am 18. Juni 2020 als Video on Demand auf dem Universal Streaming Portal veröffentlicht worden.
Die Offenheit des Erzählten
Wort »Weltenberg« (64) verweist auf kosmologische Mythen, z.B. aus dem Hinduismus; der Erzähler stellt astrophysikalische Reflexionen über die Veränderung von Zeit und Raum an.19 Keine dieser Andeutungen führt jedoch zu einem greifbaren Ergebnis. Der Text ist vielmehr so komponiert, dass jede von ihnen nur den Rätselcharakter des Werkes vertieft. Du hättest gehen sollen ist, was die Offenheit des Erzählten betrifft, der bislang extremste Text von Daniel Kehlmann. In seiner jüngsten Erzählung um die »wellenschlagende Zeit« (87) wird kunstvoll ein literarisches Mysterium entwickelt, das den Leser in seinen Bann zieht, ihn zu intensiver Lektüre und vielfältigen Überlegungen herausfordert, ihm aber kaum plausible Auflösungen in Aussicht stellt. Im Gegenteil führt das kleine Werk in einen Grenzbereich weitgehender erzählerischer Undurchsichtigkeit.
Schlussbemerkungen Einflussstudien neigen fast unvermeidlich dazu, die Bedeutung eines bestimmten Autors zu Lasten anderer Vorbilder herauszustellen. Entsprechend sind für Daniel Kehlmann eine Vielzahl weiterer, erstaunlich unterschiedlicher Anreger und Vorbilder zu ergänzen, so Gabriel Garcia Márquez, Thomas Pynchon, Leo Perutz, Vladimir Nabokov, Max Frisch und Philipp Roth. Bei der enzyklopädischen Belesenheit des österreichisch-deutschen Schriftstellers scheinen mit jedem neuen Werk weitere Autorinnen und Autoren hinzuzukommen. Aber unzweifelhaft ist Roberto Bolaño zu einem Bezugspunkt geworden, dessen strukturelle Bedeutung für Daniel Kehlmanns Erzählkunst weiter zunimmt. Überblickt man Kehlmanns Prosawerke seit Die Vermessung der Welt (2005), so ist über Ruhm (2009) und F (2013) bis hin zu Tyll (2017) eine Entwicklung zu immer offeneren bzw. undurchsichtigeren Formen des Erzählens zu erkennen.20 Der von der Literaturkritik weithin unterschätzte Kurztext Du hättest gehen sollen (2016) bildet in dieser Reihe den bislang radikalsten Schritt.
19 20
Wie u.a. sein Drama Geister in Princeton zeigt, beschäftigt sich Kehlmann intensiv mit Fragen von Zeitdehnung, -raffung und der Möglichkeit von Zeitreisen. Mit Blick auf Kehlmanns bislang letzten Roman Tyll wird diese Perspektive weiterverfolgt in Rickes, Joachim: Der Esel ist nicht der Esel – Zu Daniel Kehlmanns Ungewissheitspoetik in Tyll. In: Sprachkunst. XLIX/2018, 1. Halbband, S. 73-86.
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Bolaño und die deutsche Geschichte
Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños1 Nazi-Geschichten aus Lateinamerika an der Schwelle zum 21. Jahrhundert Héctor Hoyos
Das transnationale Vorkommen literarischer Themen mit Bezug zum Nationalsozialismus ist eine bemerkenswerte Begleiterscheinung kultureller Globalisierung. Allen voran Spionagegeschichten und Kriegsfilme eröffnen verschiedene Möglichkeiten, eine spannende Handlung in den Trümmern Berlins in den Jahren um 1945 anzusetzen – unabhängig von der Nationalität der jeweiligen Autor*innen und Regisseur*innen. Mag es eine Liebesgeschichte sein, die über die Feindeslinien hinweg verläuft, während sich die Landung der Alliierten schon am Horizont abzeichnet, oder eine Geschichte über Grausamkeit und Widerstandsfähigkeit auf dem Weg zu einem Vernichtungslager – sogleich kommen einem Uniformen, Fahrzeuge und Verbrechertypen in den Sinn. Je konventioneller diese Tropen inszeniert sind, desto düsterer und problematischer – oder gar unproblematischer fallen für gewöhnlich die ästhetischen Entwürfe aus, in denen sie vorkommen. Es gibt, so scheint es, zwei Möglichkeiten, den Nationalsozialismus in der Fiktion darzustellen oder anderweitig zu involvieren: Einerseits stellt es eine risikoreiche Aufgabe dar, ein fiktionales Werk zu erschaffen, das eine zutiefst verstörende Vergangenheit begreifbar macht. Andererseits mag es auch, im Sinne eines Eskapismusvorwurfes, gerade als ein risikoarmes Unterfangen anmuten, bei dem die
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Bei diesem Text handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus dem ersten Kapitel »Nazi Tales from the Americas at the Turn of the Twenty-First Century« aus: Hoyos, Héctor: Beyond Bolaño. The global Latin American novel. New York 2015; Übs. aus dem Englischen durch Catarina von Wedemeyer.
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Héctor Hoyos
Autor*innen weder etwas zu verlieren, noch irgendetwas zur weiteren Diskussion beizutragen haben. In diesem zweiten Fall scheint der Nationalsozialismus kaum mehr zu sein als unterstützendes Beiwerk oder historischer Hintergrund für die narrative Handlung. Als Produzent*innen von Weltliteratur, in welcher der Nationalsozialismus ein gängiges Thema ist, sehen sich lateinamerikanische Autor*innen diesen Herausforderungen ebenso gegenübergestellt wie ihre Kolleg*innen weltweit. Autor*innen begegnen diesen Ausgangsvoraussetzungen allerdings nicht auf die gleiche Art und Weise. Lateinamerikanische Autor*innen, die über den Nationalsozialismus schreiben, werden meist weniger kritisch beäugt und verfügen vermutlich über mehr kreative Freiheiten als beispielsweise viele israelische oder deutsche Kolleg*innen. Aus demselben Grund läuft ihr Werk allerdings auch eher Gefahr, unbeachtet zu bleiben oder im Vergleich zum Gesamtspektrum als irrelevant abgewertet zu werden. Was können Lateinamerikaner*innen schon mittels Fiktion über den Nationalsozialismus erzählen? Voreilig wäre es, a priori anzunehmen, dass jeder Text zum Thema ein Fall von weniger relevanter (weil nur fiktionaler) Prosa wäre. Diese Annahme ist nur schwer mit der Tatsache zu vereinbaren, dass noch Zeitzeugen leben, die den Alltag im Nationalsozialismus oder den Krieg selbst erfahren haben. Mit Ausnahme der Nachfahren von Opfern und Tätern kann aufgrund der historischen Distanz zur Vergangenheit einerseits und der rapiden Ausbreitung der (medial vermittelten) Erinnerung andererseits davon ausgegangen werden, dass Leser*innen und Autor*innen aus unterschiedlichen Regionen der Welt in einem ähnlichen Verhältnis zum Nationalsozialismus stehen. Hier wird eine Kontroverse sichtbar: Einerseits spiegelt die Auffassung, dass zeitgenössische lateinamerikanische Autor*innen aufgrund der räumlichen Distanz weniger qualifiziert wären, über die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, als amerikanische oder europäische Kolleg*innen, einen spezifischen US-Eurozentrismus wieder. Andererseits wird es mitunter als Anmaßung bewertet, wenn lateinamerikanische Autor*innen den Nationalsozialismus in ihren Werken thematisieren und damit vorzugeben scheinen, dass sie an dieser kollektiven ›Dritte-Hand-Erinnerung‹ teilhaben. Es ist ein interessantes Paradox: Die Erinnerung an die Gräueltaten des Nationalsozialismus hat an unterschiedlichen Orten nicht das gleiche Gewicht und dennoch scheinen kulturelle Produkte, die sich damit auseinandersetzen, universell zu sein. Diese faszinierende Spannung zwischen Spezifik und Allgemeingültigkeit macht, so die These des vorliegenden Textes, das transnationale Phänomen des ›literarischen Nationalsozialismus‹ zu ei-
Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños
nem zentralen Feld, um das Verhältnis von Globalisierung und Literatur näher zu untersuchen. Dies gilt insbesondere für die lateinamerikanische Perspektive, da Lateinamerika im Hinblick auf bestimmte totalisierende Darstellungen, die partiell faschistisch geprägt sind, eine äußerst ambivalente Rolle spielt. Nur vordergründig könnte man angesichts der vergleichsweise marginalen Rolle, die dem (aktiv) kaum involvierten Kontinent im Zweiten Weltkrieg zukommt, einen Grund dafür sehen, den Begriff des »Weltkrieges« grundsätzlich in Frage zu stellen. Tatsächlich war Lateinamerika zutiefst betroffen und hat sowohl den Alliierten als auch den Achsenmächten viele unentbehrliche Rohmaterialien (wie beispielsweise Gummi) geliefert. Deshalb scheint es durchaus legitim, die Region in die Narrative über den Krieg und den Aufstieg transnationaler Faschismen einzubeziehen. Zur Diskussion in den folgenden Ausführungen stehen folglich die Subjektrolle Lateinamerikas innerhalb totalisierender Weltnarrative2 und die Frage, ob Lateinamerika literarisch und in anderer Hinsicht am Rande der Geschichte bleiben sollte – ein Problem, das auch für Globalisierungsdebatten relevant ist.
Bizarro-Welten Die lateinamerikanische Tradition hat überwiegend in allegorischer Weise auf den Nationalsozialismus Bezug genommen und ihn weniger als historische Referenz thematisiert. 1949 begann diese Tendenz mit Jorge Luis Borges’ »Deutsches Requiem«, einer Kurzgeschichte über das Problem des freien Willens in einem Kriegsverbrecherprozess.3 In den 1990er Jahren kehrte der 2
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Für eine stichhaltige Diskussion des transnationalen turns in der FaschismusForschung vgl. die Artikel des Sammelbandes von Larsen, Stein Ugelvik: Fascism Outside Europe: The European Impulse Against Domestic Conditions in the Diffusion Of Global Fascism. Boulder 2001. Von besonderem Interesse für die komparative Lateinamerikanistik ist Finchelsteins Transatlantic Fascism: Ideology, Violence, and the Sacred in Argentina and Italy, 1919-1945. Durham 2010. Jorge Luis Borges’ »Deutsches Requiem« ist eine Kurzgeschichte aus der 1949 veröffentlichten Sammlung El Aleph. Vgl. Deutsches Requiem. In: Borges, Jorge Luis: Obras completas. Erster Band. Buenos Aires 2005, S. 617-622. Für eine historische Studie der Beziehungen zwischen dem Nationalsozialismus und Lateinamerika siehe: Carreras, Sandra (Hg.): Der Nationalsozialismus und Lateinamerika: Institutionen, Repräsentationen, Wissenskonstrukte II. In: Ibero-Online 3, H. 2 (2005), online verfügbar unter: http://Ibero-Online.de (letzter Zugriff: 20.5.2011). Außerdem von Interesse ist der journalistische Bericht von Basso Prieto, Carlos; Camarasa, Jorge: América Nazi. Bogotá
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Nationalsozialismus als wenig überzeugender Hintergrund für verschiedene ›Retro-Kriminalgeschichten‹ zurück sowie als wesentlicher Bestandteil solcher Reflexionen, wie sie in fiktionalen Werken wie Die Naziliteratur in Amerika (1996/dt. 1999) von Roberto Bolaño, Das Klingsor-Paradox (1999/dt. 2001) von Jorge Volpi und Schatten ohne Namen (2000/dt. 2007) von Ignacio Padilla angestellt werden.4 Der »Nazismus« ist dabei kaum mit dem historischen Phänomen des deutschen Nationalsozialismus gleichzusetzen; dargestellt wird weniger eine politische Partei oder Ideologie als ein Begriff, der, wenn auch nicht vollständig von seiner historischen Bedeutung befreit, doch oft für etwas anderes steht. Um zu erkennen, was dies jeweils sein könnte, ist es erforderlich, die Werke im Detail zu untersuchen. Die Naziliteratur liest sich als eine scheinbare Enzyklopädie erfundener Autor*innen, Verleger*innen und Intellektueller mit unterschiedlich ausgeprägten rechtsextremen Neigungen. Die sich aufeinander beziehenden Einträge erzählen von Leben und Werk von über dreißig solcher Charaktere aus verschiedenen Jahrzehnten, wobei sie zwischen Dramatik und komischer Auflockerung changieren. Die Gründungsfigur der Gruppe, Edelmira Thompson de Mendiluce, eine bekannte Schriftstellerin und Kunstmäzenin, wird 1894 in Buenos Aires geboren und stirbt im Alter von neunundneunzig Jahren eben dort. Einen großen Teil ihres Lebens verbrachte sie mit Reisen nach Europa, in die Ägäis, nach Jerusalem, Damaskus, Bagdad und an andere ferne Orte. Die meisten Protagonist*innen des Werkes zeichnen sich durch ähnliche Lebensgeschichte aus. Manche Handlungsstränge spielen auch in der Zukunft: Der Diplomat und Landschaftskünstler Willy Schürholz beispielsweise wird 1956 in Chile geboren und stirbt 2029 in Uganda. Bolaño verfolgt mit dem Text eindeutig das Ziel, eine andere Konstellation zu zeichnen als jene, die er in Die wilden Detektive entworfen hatte – in diesem früheren Werk
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2011. Carmen Boullosa erwähnt unter den lateinamerikanischen Autoren, die wirklich mit dem Faschismus sympathisierten, einige bedeutende Persönlichkeiten wie den Mexikaner José Vasconcelos, dessen Journal Timón häufig antisemitische Ansichten vertrat, oder den nicaraguanischen Dichter Pablo Antonio Cuadra, der scheinbar eine faschistische »Phase« hatte. Vgl. Boullosa, Carmen: A Garden of Monsters. Aus dem Spanischen von Samantha Schnee, La letra de medusa, 13.3.2008, online verfügbar unter: www.laletrademedusa.com/2009/10/garden-of-monsters-by-carmen-boullosa.html. Bolaño, Roberto: La literatura nazi en América. Barcelona 1996. Bzw. 2010 in überarbeiteter Version bei Anagrama erschienen; Volpi Escalante, Jorge: En busca de Klingsor. Barcelona 1999; Padilla, Ignacio: Amphitryon. Madrid 2000.
Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños
konzentrierte er sich auf Heimitos Angehörige.5 Außer Reiserouten und extremistischen politischen Einstellungen teilen die meisten Protagonisten in Die Naziliteratur zudem eine besondere Leidenschaft für Literatur, die an Obsession und an Wut grenzt. Einige sind direkt an Gewalttaten beteiligt, so beispielsweise der Militärpilot Carlos Ramírez Hoffman, ein Dichter und außerdem ein ehemaliger Folterer des Pinochet-Regimes. Wie die meisten Protagonist*innen verwendet er die Dichtung jedoch lediglich als Ventil seines bigotten Fanatismus. Das Ensemble verkörpert ein unheilvolles Weltbewusstsein, eine Parallelglobalisierung, in der verschiedene Formen von Faschismus jenen Platz einnehmen, den die Marktwirtschaft in dem Prozess innehatte, unsere Welt zu einem vernetzteren Ort zu machen. Nach ein paar Einträgen legt sich die anfängliche Verwirrung der Leser*innen darüber, ob das Buch fiktional sei oder Referenzen auf die Realität aufweise. Allerdings bleibt die Beziehung der Einträge untereinander unklar und provoziert eine Unsicherheit, die den zentralen Reflexionsraum des Werks ausmacht. Die Biografien der verschiedenen ›Nazi-Schriftsteller*innen‹ scheinen durch eine Menge freier Assoziation miteinander verbunden; gleichzeitig wird deutlich, dass es nicht allein das Prinzip ›Zufall‹ ist, das die Systematik der Zusammenstellung steuert oder erklären könnte, warum Autor*innen, die strenggenommen keine Nazis sind, trotzdem in diese Rubrik eingeordnet werden. Vielmehr scheint es, als werde der Nationalsozialismus als Synekdoche für das Phänomen des Faschismus im weiteren Sinne eingesetzt. Genauer gesagt: Bolaño interessiert sich für die grundlegenden Merkmale verschiedener Formen von Faschismus, beziehungsweise für das, was Umberto Eco den »Urfaschismus« nennen würde. Für Eco steht »hinter einem Regime und seiner Ideologie […] immer eine Art des Denkens und Fühlens, eine Anhäufung kultureller Gewohnheiten, obskurer Instinkte und unauslotbarer Triebe.«6 Ungeachtet der Tatsache, dass Faschismus ein »Bienenkorb
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Ein Strategie-Spiel, das auf dem Ersten Weltkrieg basiert, ist das zentrale Motiv eines Manuskripts, das Bolaño 1989 schrieb, aber nicht publizierte. Es erschien postum als: El Tercer Reich. Barcelona 2010; Bolaño, Roberto: Das Dritte Reich, Übs. v. Christian Hansen. München 2011. Bolaño, Roberto: Los detectives salvajes. Barcelona 1998. Eco, Umberto: Ur-Fascism. In: The New York Review of Books v. 22.6.1995, online verfügbar unter: www.nybooks.com/articles/archives/1995/jun/22/ur-fascism (letzter Zugriff: 5.6.2011). Dt. Übs.: Eco, Umberto: Urfaschismus. In: Die Zeit v. 7.7.1995. Aus dem Engl. v. Meinhard Büning, online verfügbar unter: www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus (letzter Zugriff: 19.3.2020).
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an Widersprüchen«7 sei, wie Eco anmerkt, existiert eine Familienähnlichkeit zwischen diversen politischen Phänomenen, die unter diesem Namen subsumiert werden. Dazu gehören u.a. Charakteristika wie der Traditionskult, die Ablehnung der Moderne, die Rechtfertigung des Handelns um des Handelns willen, die Angst vor Unterschieden und das Verständnis des Lebens als ständiger Kampf.8 Eco greift hier auf den Begriff der Familienähnlichkeit bei Wittgenstein zurück und beschreibt Faschismus hierauf aufbauend als ein Spiel, das auf verschiedene Arten gespielt werden kann: »abc bcd cde def Nehmen wir an, in einer Reihe politischer Gruppen sei Gruppe eins gekennzeichnet durch die Merkmale abc, Gruppe zwei durch die Merkmale bcd und so weiter. Gruppe zwei ähnelt Gruppe eins, weil beiden zwei Merkmale gemeinsam sind; aus den gleichen Gründen ähnelt Gruppe drei Gruppe zwei und Gruppe vier Gruppe drei. Man beachte, daß Gruppe drei auch Gruppe eins ähnelt (sie haben c gemein). Den eigenartigsten Fall bildet Gruppe vier, die offensichtlich den Gruppen drei und zwei ähnelt, mit Gruppe eins jedoch kein einziges Merkmal teilt. Aber aufgrund der kontinuierlichen Reihung abnehmender Ähnlichkeiten zwischen Gruppe eins und Gruppe vier bleibt durch eine Art illusorischer Transitivität eine Familienähnlichkeit zwischen den Gruppen vier und eins erhalten.«9 Bolaño begreift die Idee des Faschismus als kombinatorisches Spiel im Sinne Wittgensteins und arbeitet mit dessen Wandlungsfähigkeit. Er treibt dies so weit, dass es schließlich unmöglich wird, Familienähnlichkeiten festzustellen, und überlässt es seinen Leser*innen, über die Grenzen von ideologischer Verwandtschaft und urfaschistischer Einstellung zu spekulieren. In einem bemerkenswerten Beispiel erwähnt der Erzähler im Roman eine Reihe von Fotografien, von denen eine Hitler darstellt, der Edelmiras Tochter
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Ebd. Paxton wählt einen synthetischeren Zugang und definiert Faschismus als »a form of political behavior marked by obsessive preoccupation with community decline, humiliation, or victimhood and by compensatory cults of unity, energy, and purity, in which a mass-based party of committed nationalist militants, working in uneasy but effective collaboration with traditional elites, abandons democratic liberties and pursues with redemptive violence and without ethical or legal restraints goals of internal cleansing and external expansion.« Paxton, Robert O.: The Anatomy of Fascism. New York 2004, S. 218. Eco: Urfaschismus.
Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños
in den Armen hält. Der Erzählung zufolge entstand das Bild bei einer kurzen Audienz im Jahre 1929. Als erwachsene Frau wird sich die dem Nationalsozialismus wohlgesonnene Tochter mit Wehmut an diese Familienporträts erinnern, was umso beunruhigender ist, wenn man bedenkt, dass das Foto während einer Geschenkübergabe aufgenommen wurde und das Baby dem »Führer« scheinbar gemeinsam mit den Versen des Martín Fierro – die laut Roman extra zu diesem Anlass übersetzt wurden – als Geschenk überreicht wurde. An dieser Stelle stellt Bolaño eine vage Familienähnlichkeit zwischen Nationalsozialismus und nationalistisch-argentinischer Dichtung her: Trotz des programmatischen Titels der »Naziliteratur« wird keine andere Figur Hitler so nahekommen wie das Baby auf dem Bild. Und doch scheint sich der Nationalsozialismus über die Schauplätze und Epochen hinweg zu verbreiten und in unterschiedlichen Kontexten und Sprachen wiederaufzutauchen – kurz: global zu werden. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, bei der Entfaltung der Enzyklopädie Bolaños zwischen drei Schlüsselprinzipien zu unterscheiden. Erstens gibt es ein übergreifendes Narrativ: die Entfaltung der imaginären kulturellen Formation einer (urfaschistischen) Naziliteratur. Diesem Prozess ist, folgt man den programmatischen Begriffen, mit denen Raymond Williams kulturelle Wandlungen zu beschreiben versucht hat, ein aufstrebendes, ein dominantes und ein als Überrest verbleibendes (residuales) Moment zu eigen.10 Bei Bolaño verläuft jeder dieser Zustände parallel zu pervertierten, verzerrten Schilderungen realer kultureller Meilensteine: Die aufstrebende Phase würde dem Criollismo im Argentinien des späten 19. Jahrhunderts entsprechen, die dominante der chilenischen Avantgarde der 1970er Jahre und die residuale den Science-Fiction-Romanen, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts noch geschrieben werden mussten. Wie schon bei Williams können das aufstrebende und das residuale Moment vertauscht werden; sie vermitteln dann ein Gefühl bevorstehender Gefahr – die Bedrohung der Rückkehr des Faschismus –, welches die Spannung der Handlung ausmacht. Zweitens sind dem Text Bolaños zahlreiche Referenzen auf diverse Quellen eingeschrieben. So begegnet etwa der Begriff des Kannibalismus, den Bachtin der Gattung ›Roman‹ zugeschrieben hat, insofern, als sich das Werk nicht nur verschiedene Gattungen, sondern auch unterschiedliche künstlerische Medien »einverleibt«. Zudem werden Motive aus Borges’ metaphysi10
Williams verwendet die Begriffe emerging, dominant, residual. Williams, Raymond: Marxism and Literature. Oxford 1977.
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schen Erzählungen miteinander vermengt, inklusive der Enzyklopädie einer Parallelwelt in Tlön, Uqbar, Orbis Tertius (1940) und der Teratologie in Historia universal de la infamia (1935; Übs. Universalgeschichte der Niedertracht, 1972) sowie vielen anderen.11 Darüber hinaus spielt das Werk auf Performance-Auftritte aus dem Kontext der chilenischen Escena de Avanzada an, verwendet Comics sowie andere multimediale Materialien und bezieht sich mit seinen theoretischen Lehren auf das Œuvre von Walter Benjamin. Drittens zeichnet es sich durch den Impetus aus, die gemeinhin angenommene Unantastbarkeit und Autonomie des literarischen Raums (des »Elfenbeinturms«) infrage zu stellen, indem der Nationalsozialismus als etwas dargestellt wird, was in unterschiedlichen Formen auf den Alltag übergreift, viel zu lebendig bleibt und dabei naheliegender ist, als es scheint. Wir werden außerdem Zeugen der reductio ad absurdum eines vermeintlichen Schlüsselromans. Das metareferenzielle Verweisspiel Bolaños scheint den Eindruck aufrechterhalten zu wollen, ein Buch zu schreiben, das reale Menschen fiktionalisiert. Auch der Autor selbst und die Instanz des Lesers sind Teil dieses Verweisspiels. So erscheint im letzten Eintrag ein Protagonist namens »Bolaño«, gefolgt von einem »Epilog für Monster«, in dem die Leser*innen – das Monster – eine kommentierte Bibliografie weiterer NaziZeitschriften, -Bücher, -Kommentare und -Autoren finden können. Ebenso absurd mutet es an, dass eine Figur verschiedenen real existierenden Schriftsteller*innen und Intellektuellen zugleich ähneln kann. Dies gilt beispielsweise für Thompson de Mendiluce und Max Mirebalais – Mirebalais wird gar als »die bizarre karibische Antwort auf Pessoa« (»el Pessoa bizarro del Caribe«)12 vorgestellt. Thompson de Mendiluce hingegen erinnert als Wortspielt 11
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Vgl. Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: Obras completas. 4 Bde. Buenos Aires 2005, 1: S. 461-474; Historia universal de la infamia. In: Obras completas. 4 Bde. Buenos Aires 2005, 1: S. 303-367. Wie Bolaño rekurriert auch Borges auf Anachronismen. Er datiert das »Postscriptum« von Tlön, Uqbar, Orbis Tertius auf 1947, obwohl die Kurzgeschichte schon 1940 in Sur und 1941 in El jardín de los senderos que se bifurcan erschienen war. Beide Autoren nennen verschiedene andere Figuren aus dem wirklichen Leben; im Fall von Borges ist es bemerkenswerterweise Bioy Casares. Borges, Jorge Luis: Historia universal de la infamia. Buenos Aires 1935/1954; Borges, Jorge Luis: Universalgeschichte der Niedertracht und andere Prosastücke. Aus dem Span. übertr. v. Karl August Horst sowie v. Eva Hessel u. Wolfgang Luchtig. Frankfurt a.M. 1972. Bolaño, Roberto: Nazi Literature in the Americas, Übs. v. Chris Andrews. New York 2008, S. 128. Bolaño, Roberto: La literatura nazi en América. Barcelona 1996, S. 127. Dt.: Bolaño, Roberto: Die Naziliteratur in Amerika, Übs. v. Heinrich von Berenberg. Frankfurt a.M. 2010.
Der Nationalsozialismus als Ersatzglobalisierung in den Werken Bolaños
an die berühmte Mariquita Sánchez de Thompson (1786-1868), Gastgeberin der tertulias (Salons), in denen erstmals die argentinische Nationalhymne gesungen wurde. Ihr Volksbuch Fervor spielt auf den Text Fervor de Buenos Aires (1923) des jungen Borges an; ihre führende Rolle in der fiktionalen Zeitschrift La Argentina Moderna erinnert an Victoria Ocampos Beteiligung in Sur.13 Der Haitianer Mirebalais ähnelt seinem portugiesischen Meister, obgleich die Figur fremdbestimmt und Resultat eines Plagiats scheint. Zudem spielt sie auf den Martinikaner Aimé Césaire an, wenn sie einen »cierto tipo de negritud« nicht aufgibt, und verweist zudem als Wortspiel, wie Karim Benmiloud anmerkt, auf Rabelais.14 Das Adjektiv »bizarro« ist entscheidend, um dieses Potpourri an Epitheta und Evokationen aufzuklären. Mariquita war tatsächlich als »la del destino bizarro«15 bekannt. Obwohl »bizarro« im Spanischen »tapfer« oder »großzügig« bedeutet – nicht »merkwürdig« wie im Englischen und im Deutschen oder »wütend« wie das italienische »bizarro« –, scheint Bolaño diese faux amis durchaus im Kopf zu haben. So heißt es in der letzten Zeile der Biografie Edelmiras’: »mantuvo la lucidez (›la rabia‹, decía ella) hasta el final.«16 Jerry Siegel und Joe Schuster, zwei in Cleveland lebende jüdische Teenager, deren Familien aus Europa emigrierten, hatten mit ihrem Protagonisten Bizarro in Superman etwas Ähnliches angestellt. In seinen ersten Ausgaben reagierte der Comic auf den Nationalsozialismus und auf dessen strenge visuelle Ökonomie häufig mit einer Bildsprache, in der der Mann aus Stahl, eine idealisierte Repräsentation US-amerikanischer Werte und agro-industrieller Macht, den deutschen Feind und wie zufällig auch seine eigene visuelle 13
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Zu Mariquita Sánchez de Mendeville vgl. vor allem die Passage: »Criando hijos y formando una nación« in: Gálvez, Lucía: Las mujeres y la patria: nuevas historias de amor de la historia argentina. Buenos Aires 2001. Sowie: Zavalía Lagos, Jorge A.: Mariquita Sanchez y su tiempo. Buenos Aires 1986. Für eine Kulturgeschichte der Rolle von Victoria Ocampo in der argentinischen und internationalen Literaturszene siehe Sitman, Rosalie: Victoria Ocampo y Sur: entre Europa y América. Buenos Aires 2003. Bolaño: La literatura nazi en América, S. 127. Benmiloud, Karim: Transgression générique et transgression idéologique dans La literatura nazi en América de Roberto Bolaño. In: Aubague, Laurent; Franco, Jean u. Lara-Alengrin, Alengrin (Hg.): Les littératures en Amérique Latine au XXe siècle: une poétique de la transgression? Paris 2009, S. 331. Mizraje, María Gabriela: Estudio preliminar. In: Mariquita Sánchez de Thompson: Intimidad y política. Diario, cartas y recuerdos. Buenos Aires 2003, S. 13. Bolaño: La literatura nazi en América, S. 23. Dt.: »Bis zuletzt bewahrte sie sich die Klarheit ihres Verstands (»ihre Raserei«, wie sie selbst meinte).« In: Bolaño: Naziliteratur, S. 20.
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Darstellung von Heldentum besiegte. Der Buchumschlag eines Comicbandes aus den frühen Vierzigern stellt etwa dar, wie der Held die Kanone eines mit Hakenkreuzen versehenen Panzers verbiegt; ein weiterer Einband zeigt ihn in Bereitschaft, einen feindlichen Fallschirmspringer zu bekämpfen, der sich kurz vor der Landung befindet.17 Nachdem der Krieg vorbei war, mussten andere Antagonisten in der Serie erscheinen. Da kein besserer Herausforderer des kühnen Helden existiert als ein anderer Held, kam Bizarro ins Spiel – der überraschenderweise Superman in allem ähnelt – nämlich das Gute will, doch stets das Böse schafft. Superman findet schließlich heraus, dass Bizarro »umgekehrt« denkt, und, obwohl er der Welt helfen will, droht, diese eines Tages zu zerstören. Dieser Handlungsstrang, soviel wird klar, macht ideologische Differenzen sichtbar und vergegenwärtigt die Verkehrung von tradierten Wertvorstellungen. Auch Bolaños Protagonisten denken »umgekehrt«. Als Beispiele sind jene ›Freiwilligen‹ zu nennen, die nach Europa reisen, um sich der faschistischen Sache anzuschließen (eine Anspielung auf die Internationalen Brigaden, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner standen, und die Blaue Division Spanischer Falangisten, die für das Dritte Reich kämpften), oder die Figur des homophoben Dichters der »Beat«-Generation, der sich der Verteidigung sexueller Freiheit, welche die realen Beatniks charakterisierte, entgegenstellt. Mehrere dieser spielerischen Denkanstöße suggerieren alternative Konstellationen innerhalb der Literaturgeschichte und machen auf vernachlässigte Aspekte spezifischer kultureller Formationen aufmerksam. Auf diese Weise erinnern die Figuren Mirebalais und Thompson de Mendiluce die Leser*innen daran, dass auch Criollismo und Négritude strenggenommen rassistisch waren. Während Ethnizität stets hybrid ist, identifizierten sich beide Bewegungen als essentialisierende Bestrebungen. Passend dazu beschrieb etwa Sartre die Négritude als »racisme antiraciste.«18 Gleichwohl wirkten diese Bewegungen innerhalb ihres historischen Kontextes stärkeren Kräften entgegen: Criollismo diente den jungen lateinamerikanischen Nationen dazu, eine kulturelle Unabhängigkeit von Spanien zu erlangen, während Négritude eine Alternative zur weißen europäischen Kulturdominanz bot. Bolaño wertet diesen »taktischen« Rassismus als kleineres Übel, das jedoch nicht gänzlich ohne
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Vgl. die Cover in Thomas, Roy (Hg.): Superman. The War Years 1938-1945. New York 2015. Sartre, Jean-Paul: Orphée Noir. In: Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache. Hg. v. Léopold Senghor. Paris 1948, S. 23.
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Bezug zum Faschismus ist – die historische Einzigartigkeit wird hier zugunsten der Provokation aufgegeben. Bolaños Ziel ist es sozusagen, die Bücherregale zu entstauben, d.h., literarische Bewegungen als Konfrontationsräume sichtbar zu machen und nicht auf fade historische Referenzpunkte zu reduzieren. Ein weiterer bedeutungsvoller Bizarro-Vorgänger der kuratorischen Prinzipien von Bolaños Sammlung war die Ausstellung »Entartete Kunst«, die 1937 in München stattfand. Diese brachte alle wichtigen Künstler der europäischen Moderne – darunter Chagall, Kandinsky, Dix, Grosz und Ernst – in einer einzigen hall of shame zusammen. Die Intention der Organisatoren war es, »to clear the public’s palate«, um Platz zu schaffen für die heroische, gesäuberte, monumentale und gewaltige Nazikunst.19 Ähnliche propagandistische Manöver wurden für die Musik durchgeführt. Was macht jedoch eine Ausstellung des ›Entarteten‹ aus: die Werke selbst oder die Art, wie sie präsentiert werden? In der nationalsozialistischen Logik mag dies wie ein Henne-Ei-Problem klingen, während es aus einer nicht-nationalsozialistischen »Perspektive« offensichtlich ist, dass, wenn überhaupt, nur das Ausstellungskonzept selbst als »entartet« bezeichnet werden kann. Wie sich herausstellt, imaginiert Bolaño einen Raum zwischen diesen sich gegenseitig ausschließenden Positionen; er suspendiert das, was wir über das telos der Ausstellung wissen, und erfasst stattdessen den Moment der Ungewissheit. Eine Wertschätzung von Nazikunst eröffnet die beunruhigende Möglichkeit, die Barbarei in ihren eigenen Begriffen zu verstehen. Auf Adornos Frage, ob es möglich sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, antworten Bolaños Protagonisten provokanterweise, dass Dichtung mit den Vernichtungslagern erst beginne. Sie liefern jedoch kein Gegenargument zu der häufig Adorno zugerechneten These, dass Dichtung – und Kunst im Allgemeinen – nicht länger möglich sei.20 Bolaño leistet eher eine narrative Weiterführung der Dialektik von Kultur und Barbarei der Frankfurter Schule in einer anderen Tonart, welche als Dialektik zwischen globaler Kultur und den Residuen des Faschismus bezeichnet werden kann.
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Dt. etwa: »den Gaumen des Publikums zu reinigen«. Vgl. Barron, Stephanie (Hg.): Degenerate Art: The Fate of the Avant-Garde in Nazi Germany. Los Angeles 1991. Wie Klaus Hofmann gezeigt hat, resultiert diese Behauptung auf einem Missverständnis der aporetischen Methode Adornos. Vgl. Poetry After Auschwitz–Adorno’s Dictum. In: German Life and Letters 58 (2005), H. 2, S. 182-194.
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Die Freak-Show der ›Nazi-Autor*innen‹ schreibt diese Rückstände in die Literaturgeschichte ein. Das neu Auftretende vom residualen Überrest zu unterscheiden, scheint in einzelnen nationalen Kontexten schon kompliziert genug, doch dies in einem globalen Kontext zu tun, der von transnationalen kulturellen Unterströmungen bestimmt ist, scheint ein noch schwierigeres Unterfangen. Die Naziliteratur in Amerika findet kritisches Potenzial in dieser Ungewissheit und in den eigentümlichen Resonanzen, die sie hervorruft. Es ist ein Werk, das in der Lage ist, den Nationalsozialismus im Rückgriff auf Sarmientos Dichotomie von civilización y barbarie21 (»Zivilisation und Barbarei«) zu diskutieren und den Criollismo nach dem Faschismus zu korrigieren – kurz, Literaturgeschichte in einem globalen Maßstab neu zu verhandeln, in welchem sich unsere Vorstellungen von Zeit, Raum und kultureller Zugehörigkeit im Fluss befinden.22 Diese Bestrebungen kommen in der partiellen Assimilation von Kunstformen des frühen 20. Jahrhunderts, der Nachkriegszeit und postdiktatorischer Phasen in Bolaños Werk vollends zur Geltung. Das wird insbesondere deutlich, wenn man die Einträge über Schürholz und Ramírez Hoffman einander gegenüberstellt und vergleichend die Orte betrachtet, die ihnen innerhalb des Werkes zugewiesen werden. Während in den ersten Kapiteln des Buchs verschiedene Mitglieder der Mendiluce-Familie Hitler persönlich getroffen haben, tauchen später (in den Kapiteln nach dem Auftritt von Schürholz) Protagonisten wie Rory Long auf, ein christlicher Priester, dessen einziger Bezug zum Nationalsozialismus ein selbstverfasstes humoristisches Gedicht ist. Dieses imaginiert, wie Leni Riefenstahl und Ernst Jünger, beide schon auf die Hundert zugehend, miteinander schlafen. Das Ereignis wird lakonisch als »un entrechocar de huesos y de tejidos muertos«23 beschrieben. Der Auftritt Schürholz’ markiert einen historischen und narrativen Wendepunkt: Die Bezugspunkte zum Nationalsozialismus nehmen deutlich ab, bis
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Sarmiento, Domingo Faustino: Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga. Ins Deutsche übertr. und kommentiert v. Berthold Zilly. Frankfurt a.M. 2007. Diese historiografische Haltung stimmt mit dem vor Kurzem von Michael Rothberg veröffentlichten Werk überein: Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009. Nicholas Goodrick-Clarke widmet dem chilenischen Nazi Miguel Serrano ein Kapitel, eine wahrscheinliche Quelle der »Inspiration« für Bolaño, in: Sun, Black: Aryan Cults, Esoteric Nazism, and the Politics of Identity. New York 2002. Bolaño: La literatura nazi, S. 142. Dt.: »Ein Zusammenstoß von toten Knochen und abgestorbenem Gewebe« (Bolaño: Naziliteratur, S. 149).
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hin zur Figur Ramírez Hoffman, dessen einzige Verbindung zum Nationalsozialismus darin besteht, dass er im Buch vorkommt, sowie in der Tatsache, dass ein Verrückter, »el loco Norberto«, ein Militärflugzeug in der Ferne sieht und schwört, es sei eine Messerschmitt der deutschen Luftwaffe.24 Der Pilot des Flugzeugs, bekannt unter dem Beinamen »der Verruchte«, ist eine ambivalente Figur, die Kategorien wie »Ehre« und »Unehre«, darin den Texten Borges’ ähnlich, austauschbar macht: Alle Wege führen schließlich zum letzten Bucheintrag, dem eigentlichen »Herzen der Finsternis« und Schlussakkord. Tatsächlich besteht die Spannung des Werkes vorrangig in der angedeuteten Interaktion zwischen Schürholz und Ramírez Hoffman. Ersterer verehrt den Tod, hat aber nie jemandem physisch etwas zuleide getan. Er schafft die Vorrausetzung für Letzteren – einen Serienmörder und Künstler des Todes. Die Enzyklopädie präsentiert das spätere Werk von Schürholz, bevor es den Meister einführt, und lässt die Leser*innen fragen, welche Art perverser Größe wohl in dem Œuvre von Ramírez Hoffman liegen mag, da er sogar dort Erfolg hat, wo Schürholz scheitert. Dabei sollte erwähnt werden, dass der Pilotenpoet auch Thema jenes Romans ist, den Bolaño im Anschluss publiziert und in dem er den Fokus auf Chile legt: Stern in der Ferne (Estrella distante, 1996; Übs. 2000). Der Protagonist dieses Werkes heißt Carlos Wieder – die Konnotation des deutschen Wortes »wieder« ist bewusst als Anspielung auf eine Wiederholung gewählt, während der Titel auf die Landesflagge anspielt. Hier können das residuale und das dominante Element ebenfalls die Plätze tauschen.25 Diese Pilotenpoeten und Landschaftskunstdichter konvergieren insofern, als sie in perverser Weise und anachronistischer Reihenfolge auf verschiedene Phasen der Karriere von Raúl Zurita anspielen. Mit Unterstützung des chilenischen Ministeriums für Öffentliche Bauten (Ministerio de Obras Públicas, MOP) meißelte der Dichter 1993 einen drei Kilometer langen Vers in die Atacama Wüste: »Ni pena ni miedo« (»Weder Schmerz noch Angst«). 1982, noch während der chilenischen Diktatur, ließ er das Gedicht Das Neue Leben über den Himmel von New York schreiben. Diese Aktionen, mit denen buchstäblich neue Räume für die Dichtung gesucht wurden, geschahen im Geis-
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Ebd., S. 181. Gareth Williams hat diese zwei Werke als Ensemble studiert: »Fraternal texts grounded explicitly in the question of enmity and the limits of enemy recognition«. Sovereignty and Melancholic Paralysis in Roberto Bolaño. In: Journal of Latin American Cultural Studies 18 (2009), H. 2-3, S. 129.
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te des Künstlerkollektivs Colectivo de Acciones de Arte (CADA), das der Dichter gemeinsam mit dem Soziologen Fernando Balcells, der Autorin Diamela Eltit, der Künstlerin Lotty Rosenfeld und Juan Castillo ins Leben gerufen hatte. Ihre Aktionen waren Ausdruck politischen Widerstands. Bolaño kehrt diese Haltung um: Aus politischer Perspektive stellen seine Charaktere den Autoritarismus selbst dar. Schürholz meißelt mit einer Spitzhacke Vokale über ein riesiges Diagramm des »idealen Konzentrationslagers«26 in die AtacamaWüste. Ramírez Hoffman veranstaltet eine zweiteilige Soirée: Erst schreibt er mit seinem Flugzeug unheimliche, immense Verse in den Himmel, wie beispielsweise »La muerte es amistad/La muerte es Chile/La muerte es responsabilidad/La muerte es amor«27 , wohingegen Zuritas Luftverse folgendermaßen lauteten: »MI DIOS ES DESENGAÑO/MI DIOS ES CARROÑA/MI DIOS ES PARAÍSO/MI DIOS ES PAMPA«28 . Wie die Leser*innen dann indirekt aus den Reaktionen der Partygäste erfahren, bietet Hoffman eine semi-private Ausstellung expliziter Bilder seiner Folteropfer. Diese respektlosen Bizarro-Doubles haben einen paradoxen Effekt: Sie exponieren die reaktionären Kräfte, gegen welche sich CADA auflehnte, und sie stellen die spezifischen Praktiken der Gruppe entschieden infrage. Ina Jennerjahn hat gezeigt, dass Bolaños Strategie darin besteht, »de entrelazar dos discursos contrarios, el de la vanguardia fascista con el discurso contestatario de la neovanguardia chilena«29 . Es scheint, als würde der Autor die Aufmerksamkeit auf ein unfreiwilliges Echo lenken, das Marinettis Futurismus in Zuritas Dichtung nach dem Putsch hinterlässt – insbesondere auf den artista aviatore und dessen Glorifizierung des Todes. In diesem Sinne antizipiert Bolaño jene Kritik der Escena de Avanzada, die Willy Thayer in seinem wegweisenden Artikel »El golpe como consumación de la vanguardia« formulierte. Kurz gesagt: Der vom Kollektiv verwendete künstlerische
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Bolaño: Naziliteratur, S. 100. Bolaño: Naziliteratur, S. 238. »Der Tod ist Freundschaft/Der Tod ist Chile/Der Tod ist Verantwortung/Der Tod ist Liebe«; Bolaño: La literatura nazi, S. 184. Zurita, Raúl: Anteparaiso. Santiago de Chile 1982, S. 11. »MEIN GOTT IST ENTTÄUSCHUNG/MEIN GOTT IST AAS/MEIN GOTT IST PARADIES/MEIN GOTT IST PAMPA« (dt. cvw, Hervorhebung i.O.). Dt.: »zwei sich opponierende Diskurse ineinander zu verflechten, den der faschistischen Avantgarde mit dem Diskurs der gegen das Establishment gerichteten chilenischen Neo-Avantgarde.« (Übs. cvw); Quelle: Jennerjahn, Ina: Escritos en los cielos y fotografías del infierno. Las ›acciones de arte‹ de Carlos Ramírez Hoffman, según Roberto Bolaño. In: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 28 (2002), S. 74.
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Schock reproduzierte den historischen Schock des Putsches selbst.30 Während Thayer zu diesem Schluss kommt, indem er die Methoden der Künstler im Verhältnis zu nationalen Ereignissen analysiert, verweist Bolaño in dieselbe Richtung, indem er nationale Anliegen innerhalb der weiteren Geschichte des spannungsreichen Verhältnisses von Faschismus und Kunst im 20. Jahrhundert rekontextualisiert. Bolaños Karikatur der künstlerischen Produktion unter der Diktatur in Chile mag ungerecht sein, doch reduktionistisch ist sie nicht. Die Macht der Provokation in der Fabel von Ramírez Hoffman liegt vielmehr in ihren vielfältigen Registern. Die Leser*innen mögen mit einigen oder auch vielen der zahlreichen und heterogenen historischen und literarischen Anspielungen, die dieses kritische Vorhaben möglich machen, nicht vertraut sein, aber ihre residuale Präsenz bildet die Grundlage der Bizarro-Welt der Enzyklopädie. Z.B. ist denkbar, dass Leser*innen nicht erkennen, dass der Geburtsort von Schürholz, »Colonia Renacer«, eine ländliche Siedlung im Süden Chiles, die von exilierten Deutschen gegründet wurde, die real existierende »Colonia Dignidad« zum Vorbild hat: eine kleine Ortschaft in der Nähe von Parral, die 1961 von Paul Schäfer gegründet wurde, einem ehemaligen Rettungssanitäter der deutschen Luftwaffe.31 Ebenfallls zu nennen ist die Anspielung durch
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Thayer, Willy: El Golpe como consumación de la vanguardia. In: El fragmento repetido: Escritos en estado de excepción. Santiago de Chile 2006, S. 15-46. Insider können zwischen den Zeilen lesen und Zuritas Messianismus sowie den Isolationismus von CADA angreifen. Bolaño umschreibt seinen Disput mit Escena de Avanzada parabelhaft in seiner Chronik einer Dinnerparty, an der er im Haus von Diamela Eltit und Jorge Arrate teilnahm, in: »El pasillo sin salida aparente«. Bolaño, Roberto: Entre paréntesis. Ensayos, artículos y discursos (1998-2003). Hg. v. Ignacio Echevarría. Barcelona 2004, S. 71-78. Mehrere Jahre genoss dieser de facto autarke Staat das Wohlwollen der benachbarten Anwohner, die durch Anstellungen und frühkindliche Bildung profitierten, bis publik wurde, dass Schäfer Kindesmissbrauch beging und ein Folterzentrum des PinochetRegimes auf dem Gelände unterhielt. Garcia, Guy D.; Graff, James u. Lopez, Laura: CHILE Colony of the Damned Bizarre allegations plague a West German settlement. In: Time v. 16.5.1988. Auch ein Schürholz aus dem wahren Leben hätte Schäfers potenzielles Opfer sein können, da er viele Kinder der Ortschaft sexuell missbrauchte. Dies kontrastierend, suggeriert der Erzähler, dass das in Santiago geschriebene Werk von Schürholz dessen Wunsch ausdrücke, in eine idyllische Kindheit zurückzukehren. Verstörenderweise ist das letzte publizierte Werk von Schürholz ein Kinderbuch, das unter dem Pseudonym »Gaspar Hauser« erschien, nach dem berühmten verlorenen Jungen, der 1828 in Nürnberg gefunden wurde.
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Ramírez Hoffman auf NS-Kriegsverbrecher in Südamerika. In dem einzigen Eintrag mit einem Erzähler in der ersten Person erzählt uns ein chilenischer, im katalanischen Exil lebender Schriftsteller (»Bolaño«), wie ihm Abel Romero, ein Mann über 60, der einmal ein angesehener Polizist (sprich »Detektiv«) unter der Regierung Allendes war, eine Mission anvertraut: Er soll ihm helfen, den inkognito in Europa lebenden Ramírez Hoffman zu identifizieren, indem er dessen Beiträge in einer Reihe von Literaturzeitschriften wiedererkennt und ihn schließlich in persona sieht und bestätigt, dass er den richtigen Mann gefunden hat. Der Schriftsteller liefert ihn aus, und der Polizist tötet vermutlich den Pilotenpoeten. Lateinamerikanischen Kopfgeldjägern analog, die ihren Landsmännern in der ganzen Welt nachstellen, wirkt die extraterritoriale Hinrichtung von Ramírez wie eine Bizarro-Inversion der Verfolgung Adolf Eichmanns. Der hochrangige NS-Funktionär, der für jene Züge verantwortlich war, mit denen Millionen Menschen in die Vernichtungslager abtransportiert wurden, war 1960 in Argentinien von Agenten des Mossad festgenommen und später in Israel verurteilt und gehängt worden. So kann diese Geschichte als fiktionale Verarbeitung der Forderung Bolaños nach Gerechtigkeit verstanden werden: Zum Zeitpunkt der Publikation war Pinochet noch nicht in London verhaftet worden. Man könnte voreilig annehmen, dass Bolaño den Nationalsozialismus mit dem Pinochetismus bzw. die Staatsverbrechen lateinamerikanischer Diktaturen mit dem Holocaust vergleiche. Während Die Naziliteratur sich derartigen historisch verflachenden Lektüren auf den ersten Blick nicht gänzlich verschließt, bietet der Roman bei genauerem Lesen eine sorgfältige Erkundung transhistorischer Resonanzen in ihrer Komplexität, inklusive ihrer unüberwindlichen Dissonanzen. Angesichts der häufig in seinen eigenen Texten thematisierten Situation des Autors, der sich als Chilene im europäischen Exil aufhielt, ist es für Bolaño unvermeidlich (obgleich problematisch), den Nationalsozialismus rückblickend durch das Prisma des Pinochetismus zu sehen und vice versa. Seine Enzyklopädie kann also als ein Versuch verstanden werden, die Frage danach zu beantworten, was Künstler*innen tun können und sollen, wenn Ereignisse mit lokaler und globaler Bedeutung in der Vorstellung verknüpft sind. Im Buch beziehen sich Nationalsozialismus und Pinochetismus neben verschiedenen anderen Phänomenen in einem Verhältnis aufeinander, das am besten als »perverse Gravitation« beschrieben werden kann. Metaphorisch gesprochen wäre das Böse eine schwarze Sonne, die das System zusammenhält; es wäre ein abstraktes, vages und fragwürdiges ahistorisches Konzept, an dem sich alle Einträge auf die eine oder andere Weise
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orientieren. Dass das Böse in diesem abwesenden Zentrum der Schande unkritisch mit allen Völkermorden gleichgesetzt wird, wäre der am wenigsten fesselnde Aspekt von Bolaños literarischem Projekt. Ungeachtet dessen tragen die starken Besonderheiten der Naziliteratur dazu bei, das dynamische Bild einer Totalität in dauerhaftem Wandel zu zeichnen und nach der Rolle der Kunst angesichts einer derart unfassbaren Totalität zu fragen. Gegenseitige Abhängigkeiten zwischen verschiedenen kulturellen Stätten und ein zeitlicher Kollaps charakterisieren diesen globalisierten Raum: Was in der Karibik geschieht, spielt in Europa eine Rolle; das Manifest des Futurismus von 1909 erhellt die Aktionen von CADA und umgekehrt. Das Buch intensiviert die transnationalen kulturellen Strömungen, die unsere Zeit charakterisieren, und verschärft sie bis zu jenem Punkt, an dem sie zur »Spiegelkaskade« werden. Bolaño imaginiert eine Kultur der Weltliteratur, die auf der Prämisse der Gleichzeitigkeit gründet. Sähe man eine hypothetische globale Kultur vom Standpunkt einer inklusiven Welt, wäre der verrückte Norberto nicht der einzige, der Trugbilder von Messerschmitts erblicken würde, und Bolaño wäre nicht der einzige, der die deutsche Nachkriegszeit aus dem Blickwinkel der chilenischen Ära der Postdiktatur oder den Criollismo aus dem Blickwinkel des Ariertums überdenken würde. Sowohl die Affinitäten als auch die Dissonanzen, die aus solchen Überlegungen resultieren, bilden das Alltagsgeschäft globaler Zusammenhänge.
Globaler Faschismus Bolaño und seine Schriftstellerkolleg*innen antizipieren in der Tat den Weg, welche transnationale Theorien in der Literaturwissenschaft einschlagen. In einem Artikel von 2011 ruft Christopher Hill dazu auf, neues kritisches Vokabular zu schaffen, das zu einer Vorstellung nicht-teleologischer Bewegungsbahnen beitragen soll, ganz ähnlich den lateinamerikanischen Autor*innen aus den 1990er Jahren, die sich fragten, worin die zentralen Merkmale unserer zunehmend globalisierten Zeit bestünden. Doch im Unterschied zu Moretti und Casanova scheut sich Hill nicht davor, einen »chaotischen« Bericht darüber zu liefern, wie Literatur auch in etwas münden kann, das dem wilden Umherschweifen des Nazismus im Werk von Bolaño mehr ähnelt als den Verengungen der Diagramme von Moretti. Hill bezieht sich auf seine frühere Arbeit über die Routen des Naturalismus, in der er »Ansteckung«, »Performance« und »Mobilität« als praktikable Kategorien vorschlug, um über die
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vielen Avatare der Protagonistin Nana in der Weltliteratur nachzudenken.32 Einer der Vorteile seines Modells ist es, dass es unser Verlangen nach Originalität unterminiert. Dieses Verlangen äußert sich in der Vorstellung, Zolas Original sei per se besser als jede Adaption und jeder Nachfolger, oder auch in der Annahme, lateinamerikanische oder ostasiatische Naturalismen seien bloße Ableitungen der europäischen ›Wahrheit‹. Ein weiteres vielversprechendes Charakteristikum von Hills Modell liegt darin, dass es ermöglicht, neben der Entwicklung des Genres auch die soziale Funktion in die Erwägung miteinzubeziehen. Eine literarisch-fantastische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führt den Leser*innen all diese Punkte vor Augen. Das Original war nie besser als die Kopie: Beide sind abscheulich, oder »abominable«, um einen Begriff von Borges zu verwenden. Ein wirkliches Genre von »Naziliteratur« allerdings würde den unbefangenen Blick der distanzierten Leser*innen auf die Probe stellen. Die Kritiker*innen wären gezwungen, an diesen Texten teilzuhaben und sie zu widerlegen, statt lediglich ihre Position innerhalb einer längeren Geschichte von Weltliteratur zu bestimmen. Denn wenn diese Nazi-Unterströmungen real wären und beurteilt werden müssten, stünde die Daseinsberechtigung und Legitimität der Kunst selbst auf dem Spiel – ganz zu schweigen von der Praxis der Literaturkritik. Der Text gemahnt somit in extremer Weise (gewissermaßen ›auf Leben und Tod‹) an die Bedeutung der historischen Umstände der literarischen Vermittlung; nicht nur in Bezug auf den Nationalsozialismus, sondern in einem generalisierten Sinn. Das Projekt, eine Literaturgeschichte im globalen Umfang zu erzählen, kommt um eine Diskussion ästhetischer Werte und historischer Konsequenzen nicht herum. Man kann über die zahlreichen Faktoren spekulieren, auf denen die Entscheidung basiert, die Erfahrungen einer Welt nach 1989 durch die einer Welt vor 1945 zu filtern. Abgesehen von der kontinuierlichen kulturellen Relevanz von unpolitischen Nazi-Darstellungen erlaubt es das Ende des Kalten Kriegs Autor*innen, zurück in die Jahre vor der Jalta-Konferenz zu blicken. Die fortwährende Bedeutsamkeit ästhetischer Bewegungen wie der des Futurismus, die mit dem Faschismus assoziiert sind, gelten ebenso als Faktor wie das beunruhigende Fortdauern von faschistischen Sympathien innerhalb der extremen Rechten. Jenseits dieser Faktoren gibt es ein historisches Phänomen, das für zeitgenössische lateinamerikanische Autor*innen von großer Bedeutung 32
Hill, Christopher: Nana in the World: Novel, Gender, and Transnational Form. In: Modern Language Quarterly 72 (2011), H. 1, S. 75-105.
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ist: den Neoliberalismus. Es würde zu weit gehen zu unterstellen, dass ihre Schilderungen von Nazismus auf eine Kritik der autoritären, hierarchischen Realität jenes Wirtschaftsmodells hinausliefen, das besonders in den Neunzigern in den meisten Teilen der Region herrschte. Dennoch kommt man nicht umhin, zu fragen, ob Schatten ohne Namen oder Klingsor-Komplex die Tendenz des Neoliberalismus aufgreifen, historische Ereignisse in ThemenparkAttraktionen zu verwandeln, oder Bolaños graduelle Entfaltung historischer Kräfte ein Weg ist, um eben diesem Tenor zu widerstehen. In jedem Fall handelt es sich um Versuche der Autor*innen, andere Weltordnungen zu imaginieren, indem sie Materialien verwenden, die aus der globalen Kultur in einem mehr oder weniger expliziten Dialog mit der jeweiligen lokalen Geschichte an sie weitergegeben wurden. Natürlich geht es bei dem Gedankenexperiment rund um die Vorstellung eines globalen Faschismus nicht nur um Literatur. Abgesehen von dem besonderen Platz, den diese Erzählungen in der Darstellungsgeschichte des Nationalsozialismus einnehmen, umgehen sie die Tendenz, die Globalisierung als post-historisches Phänomen zu denken. ›Globaler Faschismus‹ mag als ein Widerspruch in sich erscheinen, insofern Faschismus starke Akzente auf spezifische Orte setzt, wobei sich Begriffe wie Heimat, Fatherland und Patria nur allzu leicht ineinander übersetzen lassen. Jenseits von Parodie und Humor dienen die hier angesprochenen Werke als Erinnerungen daran, dass reaktionäre Ideale ebenso weit und tief reisen können, wie Kapital und Informationen und dafür bekannt sind, dies auch zu tun; und zuweilen wählen sie die Literatur als ihr Medium. Durchdrungen von Geschichte kann Literatur eine sehr ›hässliche Angelegenheit‹ sein, wie Bolaño vielleicht konstatieren würde.
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Der Ernst des Spiels und blinde Spiegel in El Tercer Reich von Roberto Bolaño Arndt Lainck −¿Qué clase de juego monstruoso es ése? ¿El juego de la expiación? El Tercer Reich
In El Tercer Reich sind die deutschen Charaktere der Urlauber an der Costa Brava gleich in zweifacher Hinsicht von den Schrecken der beiden Weltkriege entfernt: zeitlich und örtlich. Dennoch schleichen sich im Text in die Langeweile des Urlaubsidylls ein unheimliches Echo und eine verstörende Distanz ein, die aus der illusorischen Entrücktheit eine unbewältigte Aktualität zu ziehen scheinen. Wie der Titel des Romans bereits nahelegt, eignet er sich wie kaum ein anderes Werk Bolaños, auf dessen Bezüge zur deutschsprachigen Literatur, Kultur und Geschichte in den Blick genommen zu werden. Konkrete intertextuelle Bezüge, die hier vertieft erörtert werden sollen und auf die bisher nur unzureichend eingegangen wurde, lassen sich u.a. zu Dürrenmatt, Goethe und Jünger ausmachen.1 Der Roman von Roberto Bolaño ist bereits im Jahr des Mauerfalls 1989 entstanden, aber erst 2010 postum veröffentlicht worden.2 Das frühe, zu Lebzeiten unveröffentlichte Werk stand bisher weniger im Fokus des Forschungsinteresses, bewegt sich aber bereits im für Bolaño charakteristischen Spannungsfeld der Literatur im Verhältnis zur Frage des Bösen. Ebenso findet sich hier der für Bolaño typische in die Irre führende, parodistische Umgang mit dem Genre der Kriminalliteratur 1
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Für die Beziehungen des Romans zum Werk Goethes vgl. Monroe, Jonathan: Los amores y juegos del joven Berger. In: Faverón Patriau, Gustavo; Paz Soldán, Edmundo (Hg.): Bolaño salvaje. Avinyonet del Penedès 2013, S. 490ff. Vgl. Hansen, Christian: Anmerkung des Übersetzers. In: Bolaño, Roberto: Das Dritte Reich. München 2011, S. 316. Alle Seitenzahlen der genannten Textstellen beziehen sich im Folgenden auf Bolaño, Roberto: El Tercer Reich. Barcelona 2010.
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wieder: Im Laufe der Sommerferien dringt der Kriminalroman von Florian Linden als leichte Urlaubslektüre von Ingeborg und Udo Berger langsam in die Träume des Protagonisten Udo Berger ein und prägt dessen paranoide Denkmuster, um auf das Bedrohliche in der Beziehung zwischen Literatur und Realität zu verweisen, ohne jemals rational und logisch in dieser aufgehen zu können.3 Parallel zum zentralen Motiv des Romans El Tercer Reich, dem Strategiespiel Das Dritte Reich, wird dadurch zusätzlich der Ernst des Spiels (der Literatur) unterstrichen und die Hauptaussage des Romans flankiert, die Ähnlichkeitsrelationen zwischen Kunst und Realität verhandelt. Als Reflexion über das Scheitern von Analogien wird in El Tercer Reich zudem der Topos des Spiegels − wie auch in Bolaños Kurzgeschichte Detectives in Llamadas telefónicas (1997) − zu einem blinden Fleck umfunktioniert.4 Anhand ausgewählter Textstellen und intertextueller Verweise soll daher im Weiteren das Bild eines blinden Spiegels im Spiel der Literatur als Grundmetapher des Romans entwickelt und veranschaulicht werden. Das Wichtigste der Handlung sei vorab aufs äußerste verkürzt schnell zusammengefasst: Udo Berger bleibt über die vorgesehenen Sommerferien hinaus alleine im Hotel zurück, spielt die Partie mit dem Verbrannten bis zu seiner Niederlage zu Ende und kehrt schließlich merkwürdig unberührt nach Deutschland zurück. Damit steht den im Text häufig genannten Offizieren und Generälen historischer Reichswehr- und Wehrmachtsgrößen, die unzählige Leben auf dem Reißbrett eingesetzt haben, die scheinbare Harmlosigkeit des Brettspiels von Udo Berger kontrastiv gegenüber.5 Bei genauerem 3
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Für eine weiterreichende Erörterung der Frage des Bösen und Bolaños Verhältnis zum Kriminalroman vgl. Lainck, Arndt: Las figuras del mal en 2666 de Roberto Bolaño. Münster 2014. Vgl. Bolaño, Roberto: Llamadas telefónicas. Barcelona 1997, S. 114-33 u. Lainck, Arndt: William Burns de Roberto Bolaño o las llamas del sueño de la paranoia. In: Letras Hispanas 11 (2015), S. 73. Vgl. hierzu vor allem den Tagebucheintrag Mis Generales Favoritos (282-285) und die im Roman zumeist jeweils auf den Nachnamen verkürzte Nennung zahlreicher Militärs (S. 40, 75, 128, 165, 241-42, 258, 342 und 356). Für die biografischen Hintergründe vieler der genannten Militärs s. ferner Ueberschär, Gerd (Hg.): Hitlers militärische Elite. 68 Lebensläufe. Darmstadt 2011. Hier findet sich auch die Biografie von Generaloberst Franz Halder auf S. 79-88, der in El Tercer Reich »Halder el Mayordomo« (284) genannt wird und dessen Name sicherlich Vorbild für die Charaktere Hugo und Conrad Halder in 2666 (2004) gewesen sein dürfte. Auch in 2666 schließen sich Kultur und Barbarei keineswegs aus: Hugo Halder erzählt seinem Freund Hans Reiter von Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Novalis, Eichendorff und Hoffmann, raubt aber seinen
Der Ernst des Spiels und blinde Spiegel in El Tercer Reich von Roberto Bolaño
Hinsehen lässt sich jedoch feststellen, dass der gesamte Text mit Referenzen durchzogen ist, die das Böse der beiden Weltkriege als geschichtliches Kontinuum ausweisen und in der Kunst als getarnten Wiedergänger stilisieren – ähnlich wie in La literatura nazi en America und Estrella distante (1996). Das unbekannte und unerkannt sich weiter fortpflanzende Übel befindet sich in den Sommerferien an der Costa Brava stets entweder latent unter der symbolischen Oberfläche oder wird bei Ausbruch von Berger nicht erkannt, was seine Blindheit gegenüber Repräsentationsformen des Bösen demonstriert. Dies wird deutlich in der Episode eines nicht spiegelnden Spiegels oder an Aussagen Bergers, die ihn als unterbewussten Erzähler kennzeichnen, wie z.B. dass er ein hervorragender Schläfer sei (11), im Laufe des Sommers aber immer mehr an Schlaflosigkeit leidet, oder an dessen brutalem Verhalten gegenüber den Hotelangestellten. Dieses Verhalten kontrastiert augenfällig mit jenen Äußerungen, die das ihrerseits brutale Verhalten von Charly, El Lobo und El Cordero dort verurteilen, wo es seinem eigenen ähnelt. In den vom 20. August bis zum 20. Oktober reichenden Tagebuchaufzeichnungen Bergers, die sich im Laufe des Romans immer stärker mit der Chronologie des Spielstands vermischen und von den Frontstellungen im Zweiten Weltkrieg überschattet werden, werden parallel Bergers Ahnungen beunruhigender Wahrheiten in dessen Träume verbannt und lassen die Traumwelt bisweilen von der Realität ununterscheidbar erscheinen. So nimmt beispielsweise der geschilderte Traum im Eintrag vom 7. September den Fund eines Leichnams, der gar nicht der des vermissten Charly ist, bereits vorweg (196). Nachdem
Onkel aus, und sein Vater Conrad Halder malt bezeichnenderweise Bilder toter Frauen. Vgl. Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 2004, S. 816ff. u. 853. Im Hinblick auf Udo Berger ist die Biografie Franz Halders als stellvertretendes Beispiel für Hitlers militärische Elite gleich mehrfach paradigmatisch: Seine irrtümliche Einschätzung, dass der Russlandfeldzug im Laufe des Sommers schnell gewonnen sei (Berger geht von einem raschen Sieg über den Verbrannten aus), seine Begrüßung des Freispruchs des Generalstabs des Heeres in Nürnberg, eine verbrecherische Institution gewesen zu sein (Udo entgeht dem Gericht des Verbrannten), seine Überzeugung der Überlegenheit der »Kunst der deutschen Truppen- und Operationsführung« und Rehabilitierung als »Doyen der deutschen Kriegsgeschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg« (Berger gilt als Champion der Strategiespielszene und fachkundiger Artikelschreiber, kehrt nach Deutschland zurück ins Arbeitsleben und nimmt anschließend an einem Kongress in Paris teil) und seine Zurückweisung einer moralischen und kriminellen »Schuld beim verbrecherischen Wüten der Nationalsozialisten« (Ueberschär, S. 79-88) weisen die typischen Parallelen zu Bergers Blindheit gegenüber dem Kriegsspiel aus.
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Berger den Leichnam Charlys identifiziert (225), wird ausgerechnet im Eintrag vom 11. September diese scheinbare Gewissheit jedoch wieder zurückgenommen: »Por momentos pienso que aquel infeliz no era Charly. Puede que lo fuera, puede que no« (238).6 Was bleibt, ist die grundsätzliche Ungewissheit der Repräsentationsform des Spiels, das keinen ›Ausgang‹ aus der Geschichte erlaubt, da es selbst nur eine Analogie der Geschichte ist, die − auch bei der Niederlage Bergers bzw. der Achsenmächte − der Geschichte nicht gerecht werden und ihr keine Ersatzgerechtigkeit widerfahren lassen kann. Im Entstehen und Vergehen seiner Spielvarianten bildet sich weder eine Alternativgeschichte noch scheint eine Auflösung möglich − wie in einem Kriminalroman, der angebotene Lösungen immer wieder verwirft und eine letztendliche Klärung verweigert. Stattdessen stürzt das Spiel Berger in eine sich immer weiter windende Partie auf der Suche nach dem Endsieg und der Wahrheit, um Bergers Unvermögen aufzuzeigen, der sich im Spiegel des Spiels und seinen eigenen Tagebuchaufzeichnungen nicht erkennen kann. Das Brettspiel wird dafür als Metapher einer Literatur inszeniert, die ihre eigenen Implikationen nicht erkennt und als Sinnbild der Geschichtsvergessenheit weder dazu geeignet ist, nachträgliche Gerechtigkeit herzustellen, noch als Instrument dient, Geschichte als belastet offenzulegen. So bleibt z.B. vom 11. September als Tag des Putsches gegen Allende im Roman für Berger nur noch die Lesart des katalanischen Nationalfeiertags übrig (235). An das Flugzeug von Ramírez Hoffman und Carlos Wieder aus La literatura nazi en América und Estrella distante erinnernd, sieht Udo lediglich ein Flugzeug am Himmel, dessen Schrift er schon nicht mehr entziffern kann, das ihn jedoch rätselhafterweise mit tiefer Melancholie erfüllt (234). In einem Gespräch mit Frau Else antwortet Berger bezeichnenderweise auf die Frage, ob er nur ein Spieler von wargames sei: »−Claro que no. Soy una persona joven que procura diverstirse… de una forma sana. Y soy alemán. −¿Y qué es ser un alemán?
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»Manchmal denke ich, der arme Kerl war nicht Charly. Vielleicht war er es, vielleicht auch nicht« (Bolaño, Roberto: Das Dritte Reich, Übs. v. Christian Hansen. Frankfurt a.M. 2013, S. 208).
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−No lo sé con exactitud. Es, por descontado, algo difícil. Algo que hemos olvidado paulatinamente« (227, Hervorhebung durch den Verfasser).7 Die Kunst des Brettspiels wird dabei potenziell zu einer Art Ersatzgerechtigkeit, schließlich aber zur Metapher für die Vergeblichkeit der Literatur, die sich immer nur ergebnislos an der Vergangenheit abarbeiten kann: Das Gericht, das nach dem Ende des Spiels mit dem Sieg des Verbrannten gegen die Achsenmächte in den diegetischen Raum einzubrechen droht, verpufft. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland resümiert Berger schlicht: »No me pasó nada« (354).8 Berger entzieht sich jeder Wandlung. Ebenso taucht der Holocaust in dem Roman als blinder Fleck mit keiner einzigen Erwähnung auf und kehrt lediglich etymologisch in der Figur des »Verbrannten« (holókaustos) als Udo Bergers Gegner und unerkanntem Doppelgänger wieder.9 Unter dem vordergründigen und selbstvergessenen Spielcharakter, mit dem Udo Berger seine Lebenswelt beschreibt, verbergen sich immer wieder Verweise auf die deutsche Geschichte und die Aura der deutschen Literatur, um an die geschichtliche Hintergründigkeit jeder Literatur zu erinnern, die allzu schnell von der Harmlosigkeit ihres spielerischen Charakters verdeckt wird. Mal ist es das Spiel selbst, das in eine echte gewalttätige Auseinandersetzung ausufert und diese nicht mehr sublimieren kann, beispielsweise als Berger von Conrad daran erinnert wird, wie sie nach einer verlorenen Partie Drittes Reich aus dem Schachklub geprügelt wurden (257). Mal ist es der Urlaubssmalltalk zwischen den Pärchen − die selbst ständig in Diskotheken tanzen gehen − bei dem beiläufig die Diskothek »33« in Oberhausen erwähnt wird, ohne dass jemand von ihnen hellhörig würde (77). Mal sind es die verräterischen Namen und Beschreibungen der Spieler. Von Heimito Gerhardt etwa heißt es, er habe selbst im Zweiten Weltkrieg gekämpft, und das Lob 7
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»›Natürlich nicht. Ich bin ein junger Mensch, der sich amüsieren will … auf gesunde Art. Und ich bin Deutscher.‹ ›Und was ist das, Deutscher sein?‹ ›Weiß ich nicht genau. Jedenfalls etwas Schwieriges. Etwas, das wir allmählich vergessen haben‹« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 198). »Nichts ist mir passiert« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 310). Dieselbe Konstellation einer Gegnerschaft, die gleichzeitig kaum von einem unheimlichen Doppelgängertum zu unterscheiden ist, um dem Protagonisten einen unangenehmen Spiegel vorzuhalten, findet sich am deutlichsten in Bolaños Werk in Estrella distante zwischen Carlos Wieder und Arturo B wieder. Arturo B beschreibt dort Wieder als seinen fürchterlichen Siamesischen Zwilling, der ihn nicht wiedererkennt, aber aus demselben Schiffbruch (der Geschichte) hervorgegangen ist. Vgl. Bolaño, Roberto: Estrella distante. Barcelona 1996, S. 131 u. 152.
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für seine Spielleidenschaft erinnert auffällig an jene unverwüstlichen Soldaten ›vom alten Schlag‹, deren altertümlicher Kampfgeist von Ernst Jünger in Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) als das Ideal der langsam aussterbenden Landsknechte beschrieben worden ist: »Viejos con ese carácter, con esa pureza, según Conrad, ya sólo era posible encontrar en Alemania. Y se estaban acabando« (39).10 Aber Heimito lebt noch, sehr gut sogar, und wird als ein zäher, glücklicher alter Mann beschrieben, der ebenfalls mit seiner Frau zum Urlaub nach Spanien fährt (258f.). Ein anderer verehrter Spieler, der allerdings schnell besiegt ist (40), heißt Paul Huchel und erinnert damit an den deutschen Dichter Peter Huchel.11 Ein weiterer ›Aficionado‹, Hans Krebs, trägt gleich den vollständigen Namen des letzten Generalstabschefs des Heeres im Zweiten Weltkrieg, und vom Generalfeldmarschall von Manstein wiederum fürchtet Udo, dass Hanna, Ingeborg und Charly am Strand über ihn witzeln könnten, er hielte sich für dessen Reinkarnation (63 u. 128).12 Betrachtet man überdies die biografischen Hintergründe der als Vorbild für Spielfiguren und Strategievarianten genannten Militärs genauer, kann bei aller scheinbaren historischen Ferne und Abgeschlossenheit der Referenzen schnell eine Durchlässigkeit zu den Schrecken ausgemacht werden, die sie verbergen und die gegenwärtig nur vermeintlich ausgelöscht erscheinen. Wie bei Militärs nicht anders zu erwarten, beschränken sich deren Biografien auch keineswegs auf das Dritte Reich. Die meisten haben bereits im Ersten Weltkrieg gekämpft, oder ausschließlich, wie im Fall von von Seeckt (356).
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»Alte Leute von solcher Charakterstärke, solcher Redlichkeit, so Conrad, könne man nur noch in Deutschland finden. Eine aussterbende Spezies« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 33). Vgl. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Essays 1: Betrachtungen zur Zeit. Stuttgart 1980, S. 54-61. Der Name von Heimito Gerhardt erinnert zudem an Heimito Künst, alias Heimito von Doderer, und seinen gewalttätigen, Juden hassenden Freund Udo [sic!] Möller aus Los detectives salvajes (1998). Vgl. Bolaño, Roberto: Los detectives salvajes. Barcelona 2006, S. 303-316. Von Doderers Entschluss, in russischer Gefangenschaft Schriftsteller zu werden, erinnert wiederum an Hans Reiters Wandlung zum Schriftsteller an der Ostfront in 2666. Vgl. Loew-Cadonna, Martin (Hg.): Heimito von Doderer: 1896-1966. Selbstzeugnisse zu Leben und Werk. München 1995, S. 44ff. Daher ist die Aussage von Chris Andrews, dass keine Charaktere aus El Tercer Reich in Bolaños anderen Büchern wiederauftauchen, auch nur eingeschränkt gültig. Vgl. Andrews, Chris: Roberto Bolaño’s fiction: an expanding universe. New York 2014, S. 43. Vgl. Mayer, Hans: Über Peter Huchel. Frankfurt a.M. 1973. Vgl. Scherzer, Veit: Die Ritterkreuzträger: die Inhaber des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes 1939-1945. Jena 2005, S. 447 und Boll, Bernd: Generalfeldmarschall Erich von Lewinski, gen. von Manstein. In: Ueberschär (Hg.): Hitlers militärische Elite, S. 421.
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Aber auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enden die meisten Biografien nicht, sondern wirken oft noch bis in die Bundesrepublik hinein, wie einigen Beispielen schnell entnommen werden kann: Der verurteilte Kriegsverbrecher Erich von Manstein war als Berater für die Bundeswehr tätig, Hasso von Manteuffel (283f.) war sogar in den Fünfzigerjahren noch Mitglied des Deutschen Bundestages, Bernd Freytag von Loringhoven (342) seinerseits zuletzt Generalleutnant des Heeres der Bundeswehr als stellvertretender Generalinspekteur.13 Manch andere (jedoch allesamt historisch verbürgte) Militärs erinnern heutzutage eher an deutsche Schriftsteller, Intellektuelle oder Politiker, die ihre dunklen Namensvettern aus dem Dritten Reich längst überschatten und in Vergessenheit gebracht haben, wenn, wie im Roman der Fall, lediglich der Nachname anklingt: z.B. (Ewald von) Kleist (nicht Heinrich von), (Ernst Wilhelm Bernhard) Busch (nicht Heinrich Christian Wilhelm), (Günther von) Kluge (nicht Alexander Ernst), (Erwin) Rommel (nicht Manfred) – man erinnere sich, dass Udo Berger aus Stuttgart kommt und Rommel zur Entstehungszeit des Romans bereits über Jahre Bürgermeister dieser Stadt war (242). Das eindrücklichste Zeugnis dieser untergründigen und nachwirkenden, aber keineswegs augenfälligen Verflechtung dürfte indes der versteckte Hinweis auf den Vater Udo Bergers, Heinz Berger (322), sein, der denselben Namen trägt wie gleich zwei Träger des Eisernen Kreuzes, die überdies auch noch beide (als unheimliches Zwillingspaar) im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion gekämpft haben.14 Udo Berger wird so beiläufig als unbewusster Wiedergänger in seinem Kampf gegen den im Roman mit Russland identifizierten Verbrannten gekennzeichnet (189; 193 etc.). Dass das Spiel keineswegs eine eingegrenzte und kontrollierbare historische Variable repräsentiert, lässt sich im Roman auch (neben dem von Berger klar bevorzugten Spiel Das Dritte Reich) an den Hinweisen auf die Namen weiterer Spiele ablesen bzw. an den vielen Referenzen auf die nukleare Apokalypse: »El juego era Nato – The Next War in Europe y mi contrincante llevaba a las tropas del Pacto de Varsovia. […] [A]sí […] el iniciador del holocausto
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Vgl. von Wrochem, Oliver: Erich von Manstein: Vernichtungskrieg und Geschichtspolitik. Paderborn/München [u.a.] 2006, S. 325ff.; Wagner, Dietrich: FDP: die wehrpolitische Orientierung der Liberalen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1955. Boppard am Rhein 1978, S. 46-49; Freytag von Loringhoven, Bernd: Mit Hitler im Bunker: die letzten Monate im Führerhauptquartier. Juli 1944 – April 1945. Berlin 2006, S. 185f. Vgl. Scherzer: Die Ritterkreuzträger, S. 193.
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atómico perdiera el juego« (214f.).15 Andere Spiele heißen »World in Flames« oder direkt »Apocalipsis« (259 u. 359). Im Restaurant El Rincón de los Andaluces zeigt der Besitzer des Weiteren ein Video mit postnuklearen Motorradfahrern (104), Charly prahlt damit, sogar in radioaktiven Flüssen schwimmen zu können (64f.), und Conrad schreibt an Udo etwa in einem Brief über gemeinsame Bekannte: »Ahora piensan vender sus viejos Squad Leader y ya hablan de sacar un fanzine que se llamaría Assault o Combates Radiactivos o algo así. A mí me dan risa« (117, kursiv i.O.).16 Udo und sein Freund Conrad ziehen ihrerseits die klassischen Publikationsorgane der Strategiespielszene vor, darunter Fanzines mit Namen wie Totenkopf und Marchas Forzadas (38). Wie potenziell vorausweisend die Spiele sind, lässt sich am Beispiel der Comic-Figur Judge Dredd zeigen, einer Ein-Mann-Justiz, deren fiktive Welt in einer Dystopie der Zukunft angesiedelt ist, in der der Planet durch Nuklearwüsten nahezu unbewohnbar geworden ist: »Con toda la ciudad [Stuttgart] como escenario montó un macrojuego, con las reglas retocadas de Judge Dredd, sobre los últimos días de Berlín« (264).17 Den Spielen, sprich Simulationen, und damit auch der Literatur ist gemein, dass trotz aller Symbolik der Repräsentation der Realität, gerade diese darin ausgeblendet werden kann, ja aus dem Bild verschwunden ist oder stets zu verschwinden droht. Die Karte (der Literatur) hat, so scheint Bolaño implizieren zu wollen, längst ihre orientierende und mahnende Funktion verloren und ist zu einem reinen ahistorischen Selbstzweck des Literaturbetriebs geworden.18 Eine Schilderung der eigentlichen Stoßrichtung der Realität, die ihre verfehlten historischen Entwicklungen klar aufzeigen könnte, ist im Brettspiel El Tercer Reich längst unkenntlich, ja undenkbar geworden. Dadurch wird allegorisch vorgeführt, wie selbstvergessen das Spiel der Literatur sein kann und wie groß dessen potenzielle Fähigkeit zur Ausblendung
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»Das Spiel war Nato – The next war in Europe, und mein Kontrahent übernahm die Truppen des Warschauer Pakts. […], dass der Initiator des atomaren Holocausts die Partie verliert« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 188). »Jetzt erwägen sie, ihre alten Squad Leader zu verkaufen, und reden davon, eine Zeitschrift herauszubringen, die Assault oder Atomare Schlachten oder so ähnlich heißen soll. Ich lach mich tot« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 101). »Mit der ganzen Stadt [Stuttgart] als Bühne entwarf er mit den überarbeiteten Regeln von Judge Dredd ein Spiel auf Makroebene über die letzten Tage von Berlin« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 232). Vgl. Wolfenzon, Carolyn: El Tercer Reich y la historia como juego de guerra. In: Faverón Patriau; Paz Soldán (Hg.): Bolaño salvaje, S. 208ff.
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ist. Das Spiel, das seiner selbst nicht gewahr werden kann, wird blind und geisterhaft. In der zentralen Analogie des Romans, der Ähnlichkeit des Spiels und der Literatur als Erkenntnissystem, zieht sich der Referent der Realität stets hinter eine opak gewordene Referenzialität des Spiels zurück und wird von dieser verdeckt. Am Ende des Romans gliedert sich Udo Berger wieder unverändert ins Arbeitsleben ein und es bleibt für ihn lediglich eine Ahnung von dem übrig, was er im Urlaub trotz aller Spielleidenschaft und Befürchtungen über die Rache des Verbrannten immer nur als Simulation und nicht konkret durchspielen konnte: »bien pensado y en resumidas cuentas todos nosotros éramos fantasmas que pertenecían a un Estado Mayor fanstasma ejercitándose continuamente sobre tableros de wargames. Las maniobras a escala. […] sombras que juegan con sombras« (356).19 Die geisterhafte Beschäftigung der Literatur mit sich selbst ist dadurch zu einer Verlängerung und zum untrennbaren Teil eines geschichtlich-kulturellen Kontinuums geworden, das sich selbst nicht bewusst wird, insofern es seine blinden Flecken nicht mitabbilden kann und sich die eigentliche Moral in der Darstellung der Vergangenheit unweigerlich in der ausblendenden Beschäftigung des Spiels mit sich selbst verliert.20 Die Geschichte einer verfehlten Ersatzgerechtigkeit steht dem Roman auch insgesamt als Vorzeichen voran in der Form des Epigrafs von Dürrenmatts Die Panne. In Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte (1956) lautet es im deutschen Original: »Wir spielen […] bald mit Hausierern, bald mit Ferienreisenden, und vor zwei Monaten durften wir gar einen deutschen
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»bei Licht betrachtet und unterm Strich seien wir doch alle Geister in einem geisterhaften Generalstab, der ständig auf den Spielbrettern von wargames exerziere. Manöver im Miniaturformat. […] Schatten, die mit Schatten spielen« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 312). Mit Verweis auf all jene im Roman referenzierte deutschsprachige Literatur, deren Autoren sich natürlich nur schwer als ambige ›Kriegsliteratur‹ einordnen lassen (z.B. Goethe, Klopstock, Schiller, Grass, Celan, Trakl, Heinrich Mann, Böll etc.) sei darauf hingewiesen, dass es gerade das von Berger unterstellte kulturelle Kontinuum dieser Literatur ist, das für ihn eine untrennbare Einheit bildet und daher stets in einem Atemzug mit seiner Bewunderung für militärische Führer genannt wird (vgl. 283). Beide Gruppen stehen in den Augen Bergers als Einheit für die kulturelle Größe Deutschlands und legen Bergers romantisierenden Umgang mit allem Deutschen offen, der keine Unterscheidungen zulässt, ungeachtet jeder Vergleichbarkeit. Vgl. dazu a. Kurnick, David: Comparison, allegory, and the address of ›global‹ Realism (The Part about Bolaño). In: boundary 2 (2015), H. 42.2, S. 107-113.
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General zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilen. Er kam hier durchgewandert mit seiner Gattin, nur meine Kunst rettete ihn vor dem Galgen.«21 Das Gericht, das in der Erzählung Die Panne durch den Zufall über Herrn Traps zusammenkommt, wird bei Dürrenmatt gleichermaßen als ein Spiel inszeniert: »›Herr Traps wird wohl an unserem Spielchen teilnehmen?‹ ›Aber natürlich. Spiele machen mir Spaß.‹ ›[…], und so spielen wir denn Gericht‹« (26f.). Und auch hier besitzt das Spiel eine historische Tiefe, die, als Spiel, sich nicht ihrer realweltlichen Referenzialität und tödlichen Konsequenzen bewusst wird: »Im allgemeinen, erläuterte er mit milder Stimme, würden die berühmten historischen Prozesse durchgenommen […]. Aber am schönsten sei es natürlich, erklärte er weiter, wenn am lebenden Material gespielt werde« (27f.). So wie Herr Traps, hat Udo Berger immer wieder unfreiwillige Ahnungen einer Schuld, die dennoch nicht sichtbar ›verhandelt‹ werden kann, sondern als Spiel in Erscheinung treten muss. Analog zu Udo Berger unterschlägt auch Herr Traps stets die reale Dimension seiner symbolischen Arbeit eines Geständnisses: »Der Generalvertreter lachte: ›Sie sind natürlich nur im übertragenen Sinne zu verstehen‹« (47). Dieser Übertrag − so auch die Kernaussage von Bolaños El Tercer Reich − hat sich in der Literatur im Spiel verloren. Sowohl Udo Berger also auch Herr Traps sind damit Symbole der Blindheit gegenüber sich selbst.22 Während Traps glaubt, an einem Spiel teilzunehmen, ohne zu merken, dass das Verhör längst begonnen hat und alles gegen ihn verwendet wird, steigert sich Berger bis zum Verlust seines Arbeitsplatzes und seiner Freundin Ingeborg in das Spiel hinein, ohne dass das unterbewusst ersehnte Gericht als finaler Kontakt mit der Konkretheit der Geschichte ihn letztlich erreicht. Dass Berger sich sein eigenes Gericht herbeiwünscht, kann zum einen an der übernatürlichen und unerklärlichen Anziehungskraft abgelesen werden, die der Verbrannte von Anfang an auf ihn ausübt, zumal dieser von Berger immerhin als Gegner extra angelernt wird; zum anderen an Bergers Weigerung, den Urlaubsort, auch nach Abschluss des Leichenfunds von Charly, wieder zu verlassen, sprich seinem Zwang, die Partie unbedingt zu Ende spielen zu wollen. Die Sehnsucht nach einem klärenden Ende lässt sich auch mit dem 21 22
Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Die Panne. Eine noch mögliche Geschichte. Zürich 1956, S. 56. Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Friedrich Dürrenmatt, 30. März 1957. In: Schöning, Klaus (Hg.): Schriftsteller und Hörspiel: Reden zum Hörspielpreis der Kriegsblinden. Königstein i.T. 1981, S. 37: »auch wenn der Hauptheld, der Textilreisende Alfredo Traps, nicht sehr viel von dem, was vorfiel, kapierte.«
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detektivischen Strang des Romans um den Kriminalroman von Florian Linden herum verknüpfen, dessen Lektüre Berger zur Suche nach einer Wahrheit antreibt, die er jedoch niemals erkennen könnte und lediglich maskiert in seinen Träumen zutage tritt. Im längsten von Udos Träumen wird schließlich der Verbrannte, dessen Verbrennungen mit einem Groll gegen Deutsche in Verbindung gebracht werden (229f.) und dem eine nicht näher definierte südamerikanische Herkunft nachgesagt wird (326), mit dem Schach spielenden Atahualpa identifiziert (331ff.), dem letzten Herrscher des Inkareichs in Südamerika, der seinerseits von seinen Richtern vor der Hinrichtung einem Scheinprozess unterworfen worden ist.23 Wenn man den Ausgang von El Tercer Reich bedenkt, an dessen Ende der Verbrannte Berger mit einem Lachen verschont (347), könnte das Epigraf Dürrenmatts (»nur meine Kunst rettete ihn vor dem Galgen«) einerseits als Verweis auf die Ohnmacht der Kunst gelesen werden, als richtende Instanz zu wirken. Andererseits könnte der Ausgang als metaleptischer Kommentar Bolaños gewertet werden, der hinter dem Verbrannten stehend, Udo noch mal hat davonkommen lassen und damit ironisch auf narrative ›Ungerechtigkeit‹ verweist, um herauszustellen, dass Literatur ohnehin postum keine Gerechtigkeit herstellen kann und sich im Spiel verlieren muss. Allerdings sollte hier mitbedacht werden, dass der Protagonist der Panne, Alfredo Traps, sich − im Gegensatz zu Udo Berger − am Schluss in absurder Übersteigerung der Scheingerechtigkeit, die allerdings keine Einsicht in eine Mitschuld ist, selbst richtet. Am Ende der Erzählung Die Panne erhängt sich Traps, im Unterschied zur Hörspielversion der Panne, an dessen Ende sich alles in einen bösen Traum verflüchtigt.24 Und auch Udos Befürchtungen sowie seine Albträume mit Florian Linden, dem Mann von Frau Else, und sein Traum vom Schach spielenden Atahualpa, der in der Höhle des Verbrannten endet, lösen sich allesamt am Ende in der Banalität der Realität auf. In der Komödienversion der Panne wiederum erschießt sich Traps schließlich selbst, worin eben auch die eigentliche Panne besteht, das Spiel der Juristen ernst genommen zu haben, was so gar nicht vorgesehen war: »JUSTINE Der dumme Kerl nahm euch alte Knacker ernst./WUCHT Eine Panne.«25 Der intertextuelle Verweis Bolaños auf
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Vgl. Huber, Siegfried: Pizarro. Gold, Blut und Visionen. Olten/Freiburg i.B. 1978, S. 235244. Vgl. Dürrenmatt: Die Panne, S. 44f. Dürrenmatt, Friedrich: Gesammelte Werke. Bd. 3: Stücke und Hörspiele. Zürich 1991, S. 331.
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Dürrenmatts Erzählung Die Panne impliziert damit, dass, das Spiel der Literatur ernst zu nehmen, in den heutigen Zeiten höchstens als Panne vorkommt und im Rezeptionssystem gar nicht vorgesehen ist. Der Roman schickt sich folgerichtig auch gar nicht mehr an, eine Art Ersatzgerechtigkeit in der Literatur nachspielen zu wollen, sondern begnügt sich vielmehr mit dem Verweis auf deren Ungeeignetheit.26 Das Endziel des Brettspiels Das Dritte Reich, mit dem der Mann von Frau Else Udo Berger droht, ist eben jene Gerechtigkeit, der Berger trotz Niederlage am Schluss bekanntlich entgeht: »− Está en todos los libros de historia –su voz tenía un timbre débil y cansado−, incluso en los alemanes. Iniciar el juicio a los criminales de guerra. Me reí en su cara« (325, Hervorhebung durch den Verfasser).27 Dementsprechend schließt Berger im Verweis auf sein eigenes Unvermögen, die Implikationen des Spiels zu erkennen: »La sensación de que hablábamos de temas distintos y hasta opuestos era cada vez más patente« (ebd.).28 Lediglich der Versuch über die gescheiterten und stets scheiternden Analogien der Literatur als System einer parallelen, d.h. autonomen und losgelösten Gerechtigkeit bleibt. Konkrete Beispiele einer Literatur, die untrennbar mit den Schrecken des Krieges verwoben ist und sich keineswegs von diesen vollständig distanzieren lässt, finden wir im Roman in den Referenzen auf Sven Hassel (264f.) und Ernst Jünger (48), um nur die augenfälligsten Beispiele herauszugreifen.29 26
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So heißt es parallel auch im »Ersten Teil« der Erzählung Die Panne, S. 7-11: »Will einer nicht von sich erzählen, […] vielmehr diskret zurücktreten, […] wenn auch der bare Unsinn kaum zu leugnen ist, der überall zum Vorschein kommt, dann wird Schreiben schwieriger und einsamer, auch sinnloser, […]. Bloße Unterhaltung bietet das Leben, […] höhere Werte sollen geliefert werden, Moralien, […] irgendetwas soll überwunden werden, […] Literatur alles in allem. […] Die Ahnung steigt auf, es gebe nichts mehr zu erzählen […]. Das Schicksal hat die Bühne verlassen, auf der gespielt wird, um hinter den Kulissen zu lauern, außerhalb der gültigen Dramaturgie, […] nur noch Niederlagen sind mathematisch denkbar […] So droht kein Gott mehr, keine Gerechtigkeit […].« Vgl. ferner Kriens, Jochen: Die Poetik des Experiments. Provozierte Erfahrung und künstlerische Erkenntnis bei Friedrich Dürrenmatt. Tübingen 2014, S. 191-203. »›Es steht in allen Geschichtsbüchern.‹ Seine Stimme hatte einen schwachen, müden Ton, ›sogar in den deutschen. Den Kriegsverbrechern den Prozess machen.‹ Ich lachte ihm ins Gesicht« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 285). »Das Gefühl, dass wir von unterschiedlichen oder geradezu gegensätzlichen Dingen sprachen, wurde immer deutlicher« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 285). Nicht weiter vertieft werden soll die von Conrad an Udo vermittelte Literatur nationalsozialistischer Gesinnung von Max Barthel, Heinrich Lersch, Karl Bröger und Gerrit Engelke, allesamt Arbeiterdichter, die dem Künstlerbund der Werkleute auf Haus Nyland nahestanden, und die nach Meinung von Udo und Conrad zu Unrecht mittler-
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Sven Hassel, der sich vor seiner Karriere als Autor trivialer Kriegsromane als Däne freiwillig der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg angeschlossen hat, hat den Krieg nicht nur überlebt, sondern ist fast so alt wie Ernst Jünger geworden, der zur Entstehungszeit des Romans bereits Mitte 90 war.30 Bei einem der Strategiespiele, genannt »Berlín Bunker« (264), heißt es über jenen Spieler, der die Macht einer Art freien Läufers besitzt, überall eingesetzt werden kann und schriftliche Befehle erteilt: »Su poder era tan grande como su ceguera –inocencia, según Sven Hassel−, su libertad era tan grande como su constante exposición al peligro« (265).31 Von Udos bestem Freund Conrad wiederum wird gesagt, dass er ein kontinuierlicher Leser von Jüngers Der Kampf
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weile vergessen wurde. Die genannten Schriftsteller, deren Lektüre Bergers Spielleidenschaft befeuert, werden im Roman von Berger als eine mit Blut geschriebene Literatur über die leichte Urlaubslektüre von Florian Linden gehoben und als Höhepunkt der deutschen Literatur beschrieben (vgl. 48). Vgl. dazu Gold, Helmut: ›Werkleute auf Haus Nyland‹: Industriedichtung. In: Schneider, Peter-Paul [u.a.] (Hg.): Literatur im Industriezeitalter. Bd. 2. Marbach a.N. 1987, S. 639-663. Besondere Erwähnung verdient jedoch die Wandlungsfähigkeit Max Barthels, der 1955 sogar unter dem Pseudonym Konrad [sic!] Uhle in der DDR ein Kinderbuch veröffentlichen konnte. Vgl. Uhle, Konrad: Der Hammer und seine Geschwister: ein besinnliches Kinderbuch. Dresden 1955. Ausgerechnet die ersten Zeilen des titelgebenden Gedichts lauten: »Der Hammer hat keine Finger,/Doch braucht er zum Schlag einen Stiel,/Des Hammers Herz ist aus Eisen/Und weiß nichts vom kindlichen Spiel.« Es endet mit den vielsagenden Versen: »Das Werkzeug ist ohne Seele,/Durch uns erst bekommt es Verstand« (o.S.). Vgl. Vitello, Paul: Sven Hassel, Novelist Who Depicted Nazi Soldiers’ Lives, Dies at 95. In: New York Times v. 7.10.2012 [Druckversion: 14.10.2012, S. A26]. Zu Jünger in weiteren Werken Bolaños vgl. a. Lainck: Las figuras del mal, S. 41, 60f., 229f. u. Sellami, Samir: Zur Politik der Intertextualität in Roberto Bolaños Estrella Distante. In: Romanische Studien 1 (2015), S. 122. Neben den hauptsächlich deutschen Gästen des Hotels Del Mar, verabschiedet Frau Else an der Rezeption auch auffälligerweise eine Familie von Dänen, die ihr versprechen müssen, im nächsten Jahr pünktlich wiederzukehren (18). »Seine Macht war so groß wie seine Blindheit – oder nach Sven Hassel seine Unschuld –, seine Freiheit so groß wie seine ständige Gefährdung« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 232f.). Über den Topos einer grenzenlosen, falsch verstandenen Freiheit, der in Bolaños Gesamtwerk eng mit dem der Langeweile verknüpft ist, vgl. a. das Epigraf von 2666 von Charles Baudelaire (»Un oasis de horror en medio de un desierto de aburrimiento«) und Bolaño, Roberto: El gaucho insufrible. Barcelona 2003, S. 151f. Zu El Tercer Reich ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass das Spiel Bergers Beschäftigung ist, um die Langeweile zu vertreiben. Auch wenn er das Spiel als Arbeit bezeichnet (17, 23-25, 51), sind die ständigen expliziten Referenzen auf die Langeweile im Roman nicht zu übersehen (13, 16, 92, 160, 218, 254 u. 358).
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als inneres Erlebnis (1922) und Feuer und Blut (1925) sei (48). Bei einem kurzen Blick in die prominent hervorgehobenen Texte Jüngers lässt sich feststellen, dass Jünger das Kriegstreiben in Der Kampf als inneres Erlebnis mehrfach als Spiel beschrieben hat: »Da gibt es keine Kompromisse; es geht ums Ganze. Das Höchste ist Einsatz; fällt Schwarz, ist alles verloren. Und doch ist es kein Spiel mehr. Ein Spiel kann wiederholt werden, hier ist beim Fehlwurf unwiderruflich alles vorbei. Das gerade ist das Gewaltige.«32 Obwohl Jünger hier den Krieg mit der Begrifflichkeit des Spiels beschreibt und gleichzeitig auf deren eigentlich unvergleichbaren Charakter hinweist, verfällt Jünger immer wieder auf diesen Vergleich des Kriegs mit dem Spiel: »Da empfand man, daß diese Häufung von Knalleffekten, diese brüllenden Stahlgewitter, mochten sie noch so gierig sich bäumen, doch nur Maschinerie, nur Theaterkulissen waren, die erst Bedeutung erlangten durch das Spiel, das der Mensch vor ihnen spielte. […] Wie andere in der Kunst oder in der Wahrheit, so erstrebten sie im Kampfe Erfüllung.«33 Der sublimierende, Distanz schaffende und entrückte Charakter des Spiels wird von Jünger umgekehrt im Unpersönlichen des Grabenkampfs erkannt: »Nur manchmal hat man eine dunkle Vorstellung, daß auf der anderen Seite auch noch Menschen leben.«34 Dieser vom Leid des Anderen losgelöste und enthobene Spielcharakter des Krieges wird aber von Jünger darüber hinaus nicht nur deutlich erkannt, sondern bejaht: »Der Kampf äußerte sich als riesenhafter, toter Mechanismus und breitete eine eisige, unpersönliche Welle der Vernichtung über das Gelände. […] Und doch: hinter allem steckt der Mensch. Er gibt den Maschinen erst Richtung und Sinn.«35 Der wiederholt herausgestellte Spielcharakter des Krieges zeigt damit bei Jünger letzten Endes auf den Spieler, nicht auf das Spiel, was durch den expliziten intertextuellen Verweis Bolaños auf die Werke Jüngers seinerseits wiederum auf die scheinbare Harmlosigkeit des Spiels Das Dritte Reich zurückreflektiert. Auch in Jüngers Feuer und Blut findet sich mehrfach der Topos des Spiels in den unumwunden verherrlichenden Kriegsbeschreibungen wieder: »Ja, dieser Zauber der blitzenden Waffen, des schäumenden Blutes und des kühnen Spieles um Leben und Tod schien allem weit überlegen, was das Dasein sonst zu bieten hatte.«36 Ein Vergleich mit den genannten und au32 33 34 35 36
Jünger: Betrachtungen zur Zeit, S. 51f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 96. Ebd., S. 102. Jünger, Ernst: Sämtliche Werke. Tagebücher 1: Der Erste Weltkrieg. Stuttgart 1978, S. 443. Vgl. a. S. 457: »So wollen wir denn wie schon so oft die bunten Vorhänge des
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genfällig platzierten Werken Jüngers macht ersichtlich, wohin die Blindheit gegenüber den Konsequenzen eines Spiels führt, das den Abglanz falscher Heldentaten zu versprechen und die Schrecken des Krieges in weite Ferne zu rücken scheint, sobald aus dem Spiel Ernst wird: »Und jede Zeit hat auch eine Jugend, die ihre Stunde kennt und die das Abenteuer liebt, in dem das bunte Spiel des Kindes durch den männlichen Ernst Bedeutung erhält. Dort muß der eigentliche Sinn des Lebens liegen […] Gewiß, es ist bitter ernst. Aber das Abenteuer ist der Glanz, der über der Drohung liegt.«37 Abschließend soll daher noch kurz auf die Episode des nicht spiegelnden Spiegels und die piktogrammartige Zeichnung Bergers eingegangen werden, die jeweils die Blindheit der Kunst gegenüber sich selbst symbolisieren. Wie später auch in der Kurzgeschichte Detectives in Llamadas telefónicas, kann Udo Berger sich im Spiegel der Rezeption des Hotels zunächst nicht selbst erkennen und nur der Nachtwächter (ein Beruf, den Bolaño bekanntlich selbst ausgeübt hat) erscheint im Spiegel: »Sentí una especie de malestar en el estómago al comprobar que, por el contrario, mi imagen no aparecía« (208).38 Nachdem Udo immer erschrockener geworden ist über sein Unvermögen, sich in dem Spiegel erkennen zu können, erklärt der Nachtwächter, dass die Wand, an dem der Spiegel aufgehängt ist, schief sei: »−Está torcida. Tor-ci-da. No es recta, venga, adelante, compruébelo« (210).39 Mit anderen Worten: Die Tagebuchaufzeichnungen, die Berger als Reflexionshilfe und Schreibübung für seine Strategiespielartikel dienen sollen, reflektieren nicht richtig: Er selbst kann sich in seinen Beschreibungen – einem Vampir gleich − nicht spiegeln. Auch die Worte von Frau Else über Udos äußeren Zustand verweisen damit deutlich auf den blinden Fanatismus seiner auszehrenden Spielleidenschaft, der für ihn jedoch folgenlos bleibt: »cada día estás más pálido, como si estuvieras en proceso de convertirte en el Hombre Invisible« (328).40
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Rausches vor das Spiel hängen, zu dessen donnernder Ouvertüre das Schicksal bereits den Taktstock erhoben hat.« Ebd., S. 461. »Ich spürte ein flaues Gefühl im Magen, als ich feststellte, dass dagegen mein Bild nicht darin auftauchte« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 183). »Sie ist gewölbt. Ge-wö-hölbt. Nicht gerade, kommen Sie näher, sehen Sie selbst« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 185). »du wirst mit jedem Tag bleicher, als wärst du dabei, dich in den Unsichtbaren zu verwandeln« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 288).
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Als weiteres und letztes Beispiel dieser Unfähigkeit, sich selbst in seinen reflektierenden Tagebucheintragungen zu erkennen, lässt sich die einzige von Berger angefertigte Zeichnung des Romans lesen, die schematisch die umgedreht einander zugewandten Köpfe von Berger und dem Ehemann von Frau Else abbildet (341). Als Berger dessen Zimmer im Hotel findet, sagt ihm der Mann von Frau Else noch offen und − wie sich letztendlich herausstellt − korrekt voraus, für seine Frau nur eine Unterhaltung ›ohne Nachspiel‹ zu sein (322). Der Mann von Frau Else, um den Frau Berger buhlt, ist in doppelter Hinsicht Udos Rivale, insofern Berger ihn zudem für das spielerische Können des Verbrannten verantwortlich macht (326).41 Parallel zum sich verschlechternden Zustand Udos im Laufe des Sommers droht Frau Elses Mann aufgrund seiner Krebserkrankung den Sommer zunächst nicht zu überleben (304) und wird im Moment, den die Zeichnung abbilden soll, schließlich auf einer Bahre mit dem Kopf voran aus dem Hotel abtransportiert und verstirbt anschließend − an Udos Stelle, der, trotz der Warnungen von Frau Elses Mann vor dem Verbrannten, seinem Gericht entgeht (357). Erinnert sei hier erneut an das Ende des Epigrafs, »sólo mi arte lo salvó de la horca« (9).42 Siechtum und Tod des Manns von Frau Else repräsentieren im Roman jenes Schicksal, das Udo Berger in seinem Spiel eklatant unterschlägt und damit eigentlich ihm gebührt. Die Zeichnung, die Berger von dieser letzten Begegnung mit Frau Elses Mann anfertigt, jenem Mann, den er für den Strippen ziehenden Endgegner hält, ist das Bild zweier ›spiegelverkehrter‹ bzw. auf den Kopf gestellter Gesichter, die sich offenen Auges anstarren und ansonsten identisch sind. In beiden Beispielen, dem nicht spiegelnden Spiegel und der Zeichnung einer invertierten ›falschen‹ Spiegelung, scheitert die Kunst: Sie besitzt keine direkt spiegelnde, d.h. abbildende Funktion, die es dem Betrachter (Udo Berger) ermöglichen würde, sich selbst zu erkennen und über das Spiel (der Kriegs- und Schreibkunst) zu sich selbst bzw. zur eigenen Schuld zu finden. Stattdessen verrät Berger ein ums andere Mal mit unfreiwilliger Komik seine Blindheit gegenüber den Schrecken des Spiels, unterschlägt den Ernst der Symbolik 41
42
Der Mann von Frau Else (der mit Udo wie selbstverständlich deutsch spricht) wird zudem als opaker Doppelgänger von Berger als Wurm (span. gusano) beschrieben (323) und Udo selbst beschreibt sich als Wurm (sprich als Tier ohne Augen) ausgerechnet im Moment der Niederlage gegen den Verbrannten (347), was motivgeschichtlich auch bereits auf El Gusano in Llamadas telefónicas vorausweist. Vgl. El Gusano in Bolaño, Roberto: Llamadas telefónicas. Barcelona 1997, S. 71-83. »nur meine Kunst rettete ihn vor dem Galgen« (Bolaño: Das Dritte Reich, S. 7).
Der Ernst des Spiels und blinde Spiegel in El Tercer Reich von Roberto Bolaño
und legt in seiner Eigenschaft als fanatischer Spieler die blinden Flecken des Spiels offen. Berger bleibt letztlich dem Spiel auch über die Niederlage hinaus treu und so, bis zuallerletzt, im Spiel gefangen.
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Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños Sascha Seiler
1.
Einleitung
Die Figur des unheimlichen Deutschen ist im Werk Roberto Bolaños omnipräsent.1 Immer wieder tauchen in seinen Romanen Protagonisten auf, die als Deutsche identifiziert werden oder deutscher Abstammung sind, und meist umweht diese der Hauch des Verruchten oder Geheimnisvollen. Deutschland sei, so schreibt Joaquín Manzi, eine der zentralen Quellen von Fremdartigkeit in Bolaños Texten.2 Schaut man sich seine deutschstämmigen Charaktere etwas genauer an, so wird schnell der Versuch des chilenischen Autors deutlich, einen Assoziationsraum zu öffnen, der den Leser unweigerlich zur Kontextualisierung jener Figuren mit der Nazi-Herrschaft und dem Holocaust verleiten soll. Der ›Deutsche‹ im Werk Bolaños verkörpert in der Regel die anwesende Abwesenheit des Grauens, er fungiert als Gespenst des Dritten Reichs, das die betroffenen, meist lateinamerikanischen Protagonisten mit seiner mysteriösen Aura des Unausgesprochenen in Angst und Schrecken versetzt. Dies kann durchaus auch figurativ geschehen wie im Falle Carlos Wieders, des folternden Lyrikers aus Estrella Distante, dessen deutscher Nachname auf die aus der Schauerliteratur bekannte Figur des Wiedergängers verweist. Vor allem aber weist jenes Gespenst auf die Fortschreibung – oder zumindest den Versuch einer solchen Fortschreibung – des Faschismus in den verschiedenen Staaten Lateinamerikas hin. Jener exportierte Faschismus findet seine unheilvolle Verkörperung in geheimnisvollen, oft auch verwirrten, zumindest aber für die anderen Figuren nur 1 2
Vgl. hierzu auch Manzi, Joaquín: Alemania en pedazos. In: Mitologías hoy 7 (2013), S. 57-71. Ebd., S. 58
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schwer lesbaren Deutschen; er dominiert in Gestalt dieser Protagonisten entweder als Bedrohung die erzählte Handlung oder aber, wie im Fall von 2666, verführt den Leser, selbst in ein meist unklar konturiertes Reich des Bösen einzudringen: Hierbei werden sämtliche einst für eindeutig gehaltene Konturen undeutlich und jegliche als sicher empfundenen Zuschreibungsmechanismen irgendwann nicht mehr funktionieren. Wie auch an anderen zentralen Motiven im Gesamtwerk Bolaños festgemacht werden kann, ist es das Vage, Unerklärte, Hypothetische, was jenen Figuren ihre geheimnisvolle Aura verleiht. In Bolaños postum veröffentlichtem Debütroman El Tercer Reich erhält die Figur des mysteriösen Deutschen in Gestalt des Ich-Erzählers und Wargames-Spielers Udo Berger das einzige Mal eine eigene Stimme, doch ist es die Stimme eines dem Leser durchweg fremd bleibenden Individuums, das zudem sukzessive dem Wahnsinn zu verfallen scheint.3 Tatsächlich sieht Manzi in Bolaños eigener Leidenschaft für Wargames – und insbesondere für das im Roman zentrale Spiel The Rise and Decline of the Third Reich – den Beginn eines ›obsessiven Interesses für Geschichten von Nazis vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg‹.4 In Bolaños Gesamtwerk tauchen Deutsche nun immer wieder als Neben-, keineswegs aber als Randfiguren, auf: Da ist zum einen der prominente Auftritt zweier deutschstämmiger Dichter in La literatura nazi en América sowie die zentrale Episode um Mary Watson und den undurchsichtigen deutschen Traveller Hans in Los detectives salvajes. In Bolaños letztem Roman 2666 steht, so schließt sich ein Kreis, wieder ein Deutscher im Mittelpunkt: Der mysteriöse, verschwundene Dichter Benno von Archimboldi. Und im Ende 2016 postum veröffentlichten Frühwerk El espíritu de la ciencia ficción trägt eine der beiden in Mexiko residierenden Hauptfiguren den deutschen Namen Jan Schrella. Auch er ist eine mysteriöse Gestalt, die das mit einem Freund bewohnte winzige Zimmer nicht verlässt und unentwegt Briefe an berühmte Autoren von ScienceFiction-Romanen schreibt.5 Um die Rolle dieser Figuren im Kontext der genannten Romane sowie in Bolaños Gesamtwerk soll es im Folgenden gehen. 3
4 5
So zumindest ist auch abseits von evidenten inhaltlichen Entwicklungen die Auflösung der narrativen Struktur von Tagebuch – und somit auch des Romans – zum Ende hin zu erklären. Vgl. Manzi: Alemania en pedazos, S. 66. Allerdings ist diese Figur ein frühes alter ego Roberto Bolaños, ein Vorgänger von Arturo Belano, wie auch die ähnlich angelegte Figur des Campingplatzwächters in den Romanen Los detectives salvajes sowie La pista de hielo zeigt. Zudem unterschreibt die Figur ihren letzten Brief auch mit den Worten »Jan Schrella alias Roberto Bolaño«, was
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
2.
Udo Berger, Wargames-Meister
Vordergründig geht es in dem 1989 beendeten, jedoch erst 2008 postum veröffentlichten Roman El Tercer Reich um den psychischen Zerfall des deutschen Wargames-Spielers Udo Berger, der seinen Urlaub Anfang der 80er Jahre gemeinsam mit seiner Freundin Ingeborg an der spanischen Costa Brava verbringt. Geschuldet ist die fortschreitende Auflösung seiner psychischen Stabilität einer auf beängstigende Weise immer intensiver werdenden Konfrontation mit seiner namenlosen Nemesis, einem mysteriösen Vermieter von Tretbooten, der aufgrund einer dermatologischen Auffälligkeit stets nur ›El Quemado‹ – ›der Verbrannte‹ – genannt wird und dessen wahre Identität unbekannt bleibt. Bereits in diesem frühen Werk erschafft Bolaño eine Atmosphäre, in der sich das Böse stets durch eine Art unsichtbare Anwesenheit manifestiert. Ebenso wie die zahlreichen fiktiven neofaschistischen Literaturmagazine in La literatura nazi en América6 und Estrella Distante, steht in El Tercer Reich ein – in diesem Fall tatsächlich existierendes – kulturelles Medium im Mittelpunkt, nämlich das den Zweiten Weltkrieg simulierende Brettspiel namens The Rise and Decline of the Third Reich.7 Bolaño, der in den 80er Jahren selbst ein begeisterter Spieler von Wargames war, konstruiert ein Szenario, in dem ein fanatischer deutscher Brettspieler in der Konfrontation mit einem dieses Spiels unkundigen, geheimnisvollen Lateinamerikaner den
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7
im Kontext des Romans jedoch keinen rechten Sinn ergeben will. (Bolaño, Roberto: El espíritu de la ciencia ficción. Barcelona 2016, S. 204.) Eine kommentierte bibliografische Auflistung dieser fiktiven Zeitschriften sowie eine ebenfalls ausufernde Bibliografie der fiktiven Werke findet sich im als ›Monsterepilog‹ bezeichneten Anhang des Romans. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass das im Mittelpunkt stehende Spiel The Rise and Decline of the Third Reich tatsächlich existiert. In Bolaños Archiv finden sich »[d]utzende Kriegsspiele: Austerlitz, France 1944, Nato und natürlich The Rise and Decline of the Third Reich« (Zweifel, S. 43.). Letzteres diente als Vorbild für El Tercer Reich. Und auch Bolaño selbst war in den 80er Jahren ein engagierter, fast schon fanatischer Rollenspieler: »Seine Züge notierte er [Bolaño] in karierte Hefte, wie ein braver Schüler des Bösen. Dazwischen die losen Seiten, die seine Gegner ihm zusandten. Per Post. Europaweit« (ebd., S. 43). Auch Bolaño selbst äußert sich in seinem wohl 1986 verfassten Brief an Soledad: »Ich gehöre zu den guten War-Game-Spielern in Katalonien. […] Ich würde gerne mit meiner ganzen Kriegsspielesammlung losziehen und mich in der Militärakademie der Sandinisten einschreiben« (Bolaño, Roberto: Eine Autobiografie, Übs. v. Georg Sütterlin. In: DU 819 (9/2011), S. 22-24, hier S. 24).
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Verlauf des Zweiten Weltkriegs und die Entwicklung Nazideutschlands neu zu schreiben meint. Der zumindest nach eigener Anschauung ruhmreiche deutsche Wargames-Meister Berger lässt sich auf das Spiel mit dem brettspieltechnisch unbedarften Tretbootvermieter ›Quemado‹ ein und überträgt dieses Duell, das er am Ende des Romans zu seiner eigenen Überraschung verlieren wird, in sich im Laufe seines Berichts steigernden Wahnvorstellungen nach und nach auf die reale Welt eines Urlaubsortes an der Costa Brava. Die für ihn nicht fassbare und daher unheimliche Bedrohung, die der Tretbootvermieter – teils aufgrund der Abnormität seines entstellten Gesichts, teils auch aufgrund seiner provokanten Schweigsamkeit und des Rätsels um seine Identität – auf Berger ausübt, vermengt sich in dessen Wahrnehmung immer mehr mit einer dem Spielverlauf immanenten Bedrohung, die von seinem Gegenspieler ausgeht. Dieser trachtet danach, so zumindest Bergers Mutmaßung, nicht nur jenes ›Dritte Reich‹, als dessen Architekt sich Berger sieht, zu zerstören, sondern ihn auch in der Realität zu eliminieren. Die Ebenen von Spiel und Realität verschwimmen zusehends und der ›Quemado‹ wird vom Mitspieler zum lebensbedrohlichen Antagonisten. In diesem frühen Roman wird aber vor allem die Figur des ›unheimlichen Deutschen‹ eingeführt, dessen Mysterium primär in niemals ausgesprochenen, jedoch stets unterschwelligen Assoziationen zur nationalsozialistischen Vergangenheit begründet ist. Da jedoch diese Verkörperung eines deutschen Antihelden in El Tercer Reich gleichzeitig auch als Erzähler fungiert, der dem Leser seine Erlebnisse und Gedanken in Form eines Tagebuchs präsentiert, wird der Fokus des Unheimlichen auf die im Laufe des Romans immer stärker als Antagonist inszenierte Figur gelenkt. Diese erhält keine eigene Stimme der Leser begegnet ihr ob des Mysteriums, das sie umgibt, lange Zeit mit der gleichen von Angst getriebenen Vorsicht – wie der Ich-Erzähler Udo Berger. Zwar wird jener Schleier des Unheimlichen aufgrund der immer offensichtlicher werdenden psychischen Instabilität Bergers nach und nach gelüftet, jedoch erscheint der lateinamerikanische Antagonist lange Zeit aufgrund der internen Fokalisierung als die unheimlichere Figur von beiden. Dennoch bleibt der Erzähler stets eine zweifelhafte Figur, da sich der Leser über Bergers Motivation, sich vollkommen dem Kampf um den spielentscheidenden ›Endsieg‹ hinzugeben, nie sicher sein kann. Fast scheint es, und das macht Berger nicht zuletzt auch zu einer ideologisch fragwürdigen Figur, als bringe das Wargame nicht nur seine Besessenheit, sondern auch eine Art genetisch weitergegebenes Böse zum Vorschein. Aufgrund der internen Fokalisierung dreht sich El Tercer Reich damit vordergründig um die Konfrontation
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
Bergers mit seinen eigenen Dämonen wie den Dämonen der deutschen Vergangenheit, doch gerade im Blick auf Bolaños spätere Werke wird auch deutlich, dass der Autor mit dem ›Quemado‹ erstmals auch jene Art von Selbstporträt zeichnet, das in späteren Romanen zur zentralen Figur des ›verlorenen Lateinamerikaners‹ wird, meist dargestellt anhand seines alter ego Arturo Belano. Es ist dabei auffällig, dass an keiner Stelle des Romans eindeutig geklärt wird, aus welchem lateinamerikanischen Land der ›Quemado‹ stammt, obwohl diverse Hinweise darauf hindeuten, dass er – wie der Autor – Chilene ist.8 Seine Herkunft ist jedoch von entscheidender Bedeutung für seine Motivation mit Berger die spielerische Konfrontation zu suchen, wie später aufgezeigt wird. Der ›Quemado‹ ist für Berger nicht zuletzt auch aufgrund des Mysteriums um seine Identität eine zunehmend bedrohliche Erscheinung, deren Motivationen in Leben und Spiel er zu dechiffrieren nicht in der Lage ist und die er zunehmend als strategische Züge einer kriegerischen Auseinandersetzung deutet. Nach Jörg Dünne kann man die in El Tercer Reich dargestellte Welt in zwei autonome, dennoch parallel existierende Räume aufteilen: den touristischen Außenraum des Strandes, der gleichsam ein Raum der Globalisierung ist, in dem sich Exilant und Tourist begegnen können, sowie ihren jeweils individuellen Innenraum – einerseits Bergers Hotelzimmer, wo das Spiel stattfindet, andererseits die aus Tretbooten selbstgebaute Festung, die der ›Quemado‹ bewohnt.9 Der Raum jener Tretbootfestung symbolisiert das Exil des ›verlorenen Lateinamerikaners‹, gleichzeitig jedoch stellt sie die physische, konkret 8
9
Ein Hinweis auf die Herkunft der geheimnisvollen Gestalt findet sich jedoch in einem scheinbar nebensächlichen Kneipengespräch, aus dem man lesen kann, dass der ›Quemado‹ Chilene ist. In einer Unterhaltung über Fußball bemerkt dieser nebenbei, er habe in jungen Jahren die deutsche Nationalmannschaft mit den Spielern Tilkowski und Seeler leibhaftig spielen gesehen. Tilkowski hütete zwischen 1956 und 1967 das deutsche Tor; in dieser Zeit trat die deutsche Nationalmannschaft außer in Chile in keinem anderen spanischsprachigen lateinamerikanischen Land an. Beim Aufeinandertreffen am 6. Juni 1962 im Rahmen der Weltmeisterschaft stand Wolfgang Fahrian im Tor, doch am 26. März 1961 fand in Santiago bereits ein Spiel statt, bei dem sowohl Tilkowski als auch Seeler auf dem Platz standen. Ein zweiter Hinweis ist die Beobachtung Bergers, dass der ›Quemado‹ seine Burg sternförmig anordnet – eine deutliche Anspielung auf die Nationalflagge Chiles. (Den zweiten Hinweis verdanke ich Victor Pohl.) Vgl. Dünne, Jörg; Hansen, Christian: Welt, Literatur und Kriegsspiel. Roberto Bolaños Das dritte Reich. In: Müller, Gesine (Hg.): VerlagMachtWeltliteratur. Lateinamerikanisch-deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin 2014, S. 257-274, hier S. 264f.
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erfahrbare (weil als Raum begehbare) Manifestation seines inneren Exils dar. Für den in dieser Hinsicht naiven, von egozentrischen Interessen gesteuerten Berger wird die Festung jedoch zum zentralen Ort des Mysteriums um den ›Quemado‹, deren Eroberung sein Geheimnis lüften würde. Bergers Hotelzimmer wiederum – in Analogie zur Tretbootburg des ›Quemado‹ die Festung des Deutschen – kann analog dazu als Kriegsschauplatz angesehen werden, an den die kämpferische Auseinandersetzung zwischen dem Protagonisten und dem Antagonisten vorgedrungen ist. Die Wahl des ›deutschen‹ Territoriums als finalen Kriegsschauplatz ist dabei keinesfalls willkürlich, sondern kündigt die baldige Niederlage Bergers an, nachdem jeder seiner Versuche, die Festung des Antagonisten zu erobern, gescheitert ist. Der Udo Berger zugewiesene Raum ist zudem von der Erzählinstanz (nicht vom Protagonisten) ideologisch markiert und der – aufgrund seiner Beschaffenheit recht leicht zu entschlüsselnde – Symbolwert des Brettspiels wird mit Hilfe dieses Interaktionsraums noch einmal unterstrichen. Berger entgleitet zunehmend die Fähigkeit, die Grenze zwischen dem fiktiven ›Text‹, den das Brettspiel darstellt, und der Realität seines Ferienortes zu ziehen. Jener Verlust wird mit Aufeinandertreffen der Antagonisten im ideologisch markierten Raum des Hotelzimmers stärker. Zweimal im Roman nähert sich Berger allerdings der mysteriösen Tretbootfestung mit dem Ziel, den Raum des ›Quemado‹ physisch zu erobern. Jedoch fällt es ihm in beiden Fällen schwer, in die Festung einzudringen: Beim ersten Mal belauscht er aus dem Inneren der Festung ein Gespräch des ›Quemado‹ mit einem zweiten Mann über Strategien bei The Rise and Decline of the Third Reich, was eigentlich kaum möglich scheint. Zum einen ist der ›Quemado‹ ein schroffer, wortkarger Einzelgänger, der sich nichts aus zwischenmenschlicher Kommunikation macht, zum anderen meint Berger im Gesprächspartner den eigentlich sterbenskranken und bettlägerigen Ehemann seiner Zimmerwirtin Frau Else wiederzuerkennen. Kurz darauf meint Berger, als er gerade mit dem ›Quemado‹ in seinem Hotelzimmer spielt, ein Licht in dessen Tretbootburg zu erblicken. Für ihn ist dies ein klares Indiz, dass sein Antagonist einen Komplizen hat, den er sofort entlarven muss. Wie der Landvermesser K. in Franz Kafkas Das Schloss scheint es dem Helden jedoch unmöglich, endgültig in den für ihn verschlossenen Raum, der symbolisch für das innere Exil des ›Quemado‹ steht, einzudringen, um das Geheimnis um dessen Identität zu entschlüsseln und ihn letztlich ›lesen‹ zu können – mit dem Ziel, der Figur das ihn beunruhigende Element des Unheimlichen zu nehmen. Als es Berger schließlich, getrieben vom Anblick dieses Lichts, nach einer physischen Auseinandersetzung mit
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
dem ihm folgenden Lateinamerikaner doch noch gelingt, in dessen Festung einzudringen, erblickt er zu seiner Enttäuschung keinen Hinweis auf eine minutiös geplante Eroberungsstrategie, sondern lediglich dessen bescheidene Besitztümer. Selbst das mysteriöse Licht stellt sich als das einer brennenden Lampe heraus, die der ›Quemado‹, der den verzweifelten Berger spöttisch vor der Festung erwartet, lediglich vergessen hatte, zu löschen. Die Figur des ›Quemado‹ könnte tatsächlich als Bindeglied zwischen dem von The Rise and Decline of the Third Reich symbolisierten (und von Berger weitergeführten) Faschismus des Dritten Reichs und der chilenischen Militärdiktatur angesehen werden. Letzterer verdankt der ›Quemado‹ möglicherweise sein verbranntes Gesicht; durch Exilierung konnte er, wie der Autor Bolaño auch, ein Schicksal als desaparecido, als vom repressiven Staat Verschleppter und Ermordeter, vermeiden. Symbolisch gelesen nimmt nun der exilierte ›Quemado‹ Rache an seinen Peinigern, die ihm in Gestalt des von faschistischen Brettspielen besessenen Deutschen erscheinen. Er unternimmt daraufhin den Versuch, die Geschichte des Dritten Reichs aus eigener Kraft auf der symbolischen Ebene des Spielbretts umzuschreiben und inszeniert dabei, nachdem er in den ideologisch besetzten Raum des Deutschen eingedrungen ist, eine Fortsetzung dieses Narrativs auf dem fiktiven ›Tableau des Bösen‹ von The Rise and Decline of the Third Reich. Am Ende besiegt er schließlich unerwartet den internationalen Meister dieser spielerischen Fortschreibung des Faschismus. Diese Deutungsvariante, in der das Böse der Figur des Erzählers Berger – und nicht seinem unheimlichen Antagonisten – zugeschrieben wird, wäre noch deutlicher zum Tragen gekommen, hätte Bolaño seine zwischenzeitliche Erwägung weiterverfolgt, die Erzählperspektive des Romans von einer Ich-Perspektive (bzw. einem Tagebuchroman) in eine externe Fokalisierung umzuwandeln.10
3.
Hans, Nemesis des Campingplatzwächters
Die Wiederholung dieser Konfrontation zwischen dem verlorenen Lateinamerikaner – jenem heimatlosen, durch Europa vagabundierenden Exilanten – und dem als faschistoide Bedrohung wahrgenommenen, unheimlichen
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Diesen Hinweis verdanke ich einem Gespräch mit dem Übersetzer des Romans, Christian Hansen.
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Deutschen vollzieht sich in einer aufgrund ihrer limitierten Erzählperspektive unheimlich wirkenden Passage des 1998 erschienenen Romans Los detectives salvajes. In ihrem Augenzeugenbericht – einem von etwa hundert solcher Monologe, die für den Mittelteil des Romans von einem unbekannt bleibenden Interviewer zusammengestellt wurden – berichtet die englische Studentin Mary Watson von einer Begegnung mit dem verschollenen Protagonisten Arturo Belano während ihrer Autostopp-Reise durch Europa. Sie schließt sich in Spanien einer ziellos herumfahrenden Hippie-Kommune an, die von einem hünenhaften Deutschen namens Hans angeführt wird. Jener Hans ist mit seiner Frau, seinem Kind sowie mehreren anderen europäischen Travellern in seinem Bus unterwegs; einen Grund oder ein Ziel scheint die Reise laut Mary nicht zu haben. Marys Unsicherheit in Bezug auf Hans’ wahre Absichten oder die Beschaffenheit seines wahren Charakters trägt dabei entscheidend zur Evokation von dessen unheimlicher Aura bei. Um die Reise zu finanzieren, hält Hans an beliebigen Orten an und fragt nach Arbeit für sich und seine Begleiter; sie bleiben so lange, bis alle genug Geld für die Weiterreise zusammengespart haben. An der Costa Brava entscheidet sich Hans für einen Aufenthalt auf einem Campingplatz, auf dem ein junger, ausgemergelter, lateinamerikanischer Nachtwächter arbeitet. Dieser verbringt viel Zeit mit der Reisegruppe, doch der des Spanischen mächtige, in Marys Augen zunehmend herrisch agierende Hans beginnt regelmäßig aggressive Streitgespräche mit jenem namenlos bleibenden Campingplatzwächter, von denen Mary jedoch aufgrund der Sprachbarriere nichts versteht und nur aufgrund der ihr bedrohlich erscheinenden Gesten sowie der lauten Stimmen abgeschreckt wird. Bereits die erste von Mary beobachtete Konfrontation zwischen den beiden deutet auf einen tiefergehenden Konflikt hin: »Hans hablaba en español y parecía cada vez más exitado. Durante un rato los estuve mirando. En determinado momento me pareció que Hans se ponía a llorar. El vigilante, por el contrario, parecía sereno, al menos no movía los brazos ni hacía gestos desmesurados.«11
11
Bolaño, Roberto: Los detectives salvajes. Barcelona 1998, S. 248. »er sprach Spanisch und schien sich immer mehr aufzuregen. Eine Zeitlang beobachtete ich die beiden. Irgendwann schien mir, daß Hans fast in Tränen ausbrach. Der Nachtwächter hingegen schien völlig gelassen, jedenfalls wedelte er weder mit den Armen, noch machte er sonst irgendwelche übertriebenen Gesten« (Bolaño, Roberto: Die wilden Detektive, Übs. v. Heinrich von Berenberg. München 4 2012, S. 311).
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
Dem Leser, der ausnahmslos an die Wahrnehmung der des Spanischen unkundigen Mary gebunden ist, bleibt der Inhalt der Gespräche zwischen Hans und dem Campingplatzwächter unbekannt. Auch Hans’ spontane Übersetzung einiger Gesprächsfetzen ist wiederum auf dessen Sichtweise auf den Konflikt beschränkt: »Después Hans y el vigilante volvieron a enzarzarse en una discusión. Hablaban en español, pero de vez en cuando Hans me traducía al alemán y añadía comentarios sobre la percepción del mundo que tenía el vigilante.«12 Gerade der Umstand, dass weder Mary noch der Leser tatsächlich wissen, um was es bei den Streitgesprächen geht, verleiht beiden Gesprächsteilnehmern eine Aura des Unheimlichen. Doch deuten die Worte Marys an, dass der junge Lateinamerikaner in Hans eine zeitgenössische Manifestation des Faschismus sieht, vor dem er aus seinem Heimatland Chile geflohen war. Hans wiederum betont mehrmals, der Campingplatzwächter sei eine in jeder Hinsicht zwielichtige Figur, der nicht zu trauen sei: »antes de partir me dijo que tuviera un cuidado especial. Ese tipo es mal bicho, dijo. ¿El vigilante? ¿En qué sentido? En todos los sentidos, dijo.«13 Ungeachtet dieser warnenden Worte beginnt Mary eine Affäre mit dem Lateinamerikaner. Doch trotz der körperlichen Nähe bleibt er auch ihr, wie sie in ihrem Monolog berichtet, aufgrund seiner unheimlichen Aura fremd. In einer jener zunächst alltäglich erscheinenden, dann immer mysteriöser werdenden Szenen, die typisch für Bolaños Prosa sind, begegnen der Reisegruppe beim Baden in einem See drei Männer. Erst machen sie auf die Gruppe einen bedrohlichen Eindruck, doch als der Campingplatzwächter ein Gespräch mit ihnen beginnt, scheint sich die Stimmung zu wandeln. Mary, die ein weiteres Mal kein Wort des auf Spanisch geführten Gesprächs versteht, bemerkt nur einen langsam einsetzenden Wandel im Verhalten der zunächst feindseligen Männer, die sich schließlich beschämt zurückziehen. Dieses – auf die drei zunächst bedrohlichen Männer scheinbar beruhigend wirkende Verhalten – führt beim immer paranoider und diktatorischer werdenden Hans zum Gegenteil. Eines Abends geht dieser gewaltsam auf den Lateinamerikaner los, 12
13
Ebd., 249. »Danach fingen Hans und der Nachtwächter wieder Streit miteinander an. Sie sprachen Spanisch, aber von Zeit zu Zeit übersetzte mir Hans ins Deutsche, was er gesagt hatte, mit Bemerkungen über die Weltanschauung des Nachtwächters« (Bolaño: Die wilden Detektive, S. 312). Ebd., 252. »bevor sie losfuhren, sagte er, ich solle mich in acht nehmen. Der Typ ist ein übler Vogel, sagte er. Der Nachtwächter? In welcher Hinsicht? In jeder Hinsicht, sagte er« (Bolaño: Die wilden Detektive, S. 316).
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doch bleibt der ungerührt sitzen, bis der Hüne wenige Zentimeter vor ihm steht. Dann jedoch zieht der Campingplatzwächter ein Messer, das er Hans an die Kehle hält. Er nennt ihn wiederholt einen Nazi und zieht sich dann zurück: »Le dijo nazi, le dijo ¿qué querías hacerme, nazi?«14 Noch seltsamer wird die Situation, als einer der Mitreisenden namens Hugh Mary von einem Abend mit dem Campingplatzwächter berichtet, an dem dieser während eines Spaziergangs plötzlich und scheinbar ohne Grund wütend geworden und schließlich tobend in Richtung eines nahe gelegenen Flusses gerannt sei, weil ihn angeblich eine Stimme von der anderen Seite gerufen habe: »Hugh le decía que no había nadie, que lo único que se oía, y además muy débilmente, era el ruido del agua, el vigilante seguía insistiendo en que una persona estaba abajo, al otro lado del río, esperándolo.«15 Als Hugh ihn eingeholt hat, stürzt sich der Wächter auf ihn und beginnt ihn zu würgen, bis er fast ohnmächtig wird, lässt dann aber von ihm ab und beginnt hemmungslos zu weinen. Nach ihrer Abreise, so berichtet Mary abschließend, schreibt sie dem Campingplatzwächter noch mehrere Briefe, bekommt aber nie eine Antwort. Der innere Konflikt des ›Quemado‹ aus El Tercer Reich, die Konfrontation mit einer ihm möglicherweise faschistoid erscheinenden Figur, welche in ihm Erinnerungen an die chilenische Militärdiktatur hervorruft, scheint sich bei der Figur des Campingplatzwächters zu wiederholen. Die Puzzlestücke wollen für den Leser, der den Bericht aus der Perspektive Marys erzählt bekommt, jedoch nicht so recht zusammenpassen: die wiederholte Äußerung, der autoritäre Deutsche Hans sei ein Nazi, das beruhigende Gespräch mit den zwielichtigen Passanten, die nicht vorhandene Stimme auf der anderen Seite des Flusses sowie die überraschenden Tränen nach dem Angriff auf Hugh. Die Vermutung liegt nahe, dass die Summe jener Konfrontationen und Ereignisse beim Campingplatzwächter die schmerzvolle Erinnerung an die verlorene Heimat evoziert, deren Verlust er an der in seinen Augen einem faschistoiden Anführer ähnelnden Figur Hans symbolisch festmacht. Mary versteht die Handlungen des Lateinamerikaners nicht, weil es ihr – und darin ähnelt sie Udo Berger – aus Unkenntnis seiner Herkunft, aber 14 15
Ebd., S. 257. »Nazi, sagte er, was willst du von mir, du Nazi?« (Bolaño: Die wilden Detektive, S. 321f.). Ebd., S. 258. »Und obwohl Hugh immer wieder sagte, das einzige, was man hören könne, und das auch nur schwach, sei das Geräusch fließenden Wassers, bestand der Nachtwächter darauf, daß irgend jemand da unten am anderen Ufer auf ihn wartete« (Bolaño: Die wilden Detektive, S. 323).
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auch aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse der spanischen Sprache, nicht gelingt, diese zu dechiffrieren; sie versteht weder seine Gespräche mit Hans noch die mit den bedrohlichen Passanten, und aufgrund dieses Wissensvakuums entwickeln beide Figuren auch für den Leser eine bedrohliche Aura. Dies unterscheidet diese Passage aus Los detectives salvajes von der Konfrontation zwischen den Brettspielern in El Tercer Reich, die der Leser anhand der Gefühle und Gedanken Udo Bergers miterlebt, wenn auch durch den Schleier seiner wachsenden Wahnvorstellungen. Das Geheimnis um den Campingplatzwächter wird durch den nicht decodierbaren Akt der Gewaltanwendung – das Würgen Hughs – und den darauffolgenden, ebenso unverständlichen Zusammenbruch noch vertieft. Die Figur wirkt, ähnlich wie der ›Quemado‹, einerseits bedrohlich, andererseits scheint sie gebrochen und macht einen isolierten, einsamen Eindruck – ein verlorener Lateinamerikaner, der den unverständigen Blicken der Europäer begegnet und somit eine kollektive Exilerfahrung verkörpert. Auf der anderen Seite wird der Deutsche ein weiteres Mal zum symbolischen Objekt der Furcht erhoben, an dem Rache geübt werden muss, um das eigene, neu eroberte Terrain zu verteidigen. Berger wie Hans werden zu Manifestationen eines globalisierten Faschismus, dessen Wahrnehmung seitens der lateinamerikanischen Figuren jedoch mutmaßlich von einer vergangenen Konfrontation mit einer Form von Staatsterror gefärbt ist, der sich das NaziRegime zum Vorbild genommen hat. Auffällig hierbei ist die wiederholte Evokation eines tradierten, konkreten Bildes des ›Nazi‹ – eine Zuschreibung, die auch immer wieder ausgesprochen wird – zur Illustration von Angst vor absolutistisch oder auch nur selbstherrlich agierenden Figuren deutscher Provenienz. Diese verbale Evokation eines Zeit und Raum transzendierenden, aber nie zur Gänze greifbaren Bösen, findet seinen Höhepunkt im fiktiven Literaturlexikon La literatura nazi en América.16 Schon der Titel des 1996 erschienenen Romans suggeriert, dass es Bolaño gar nicht um die Beschreibung absolutistischer, rassistischer, faschistoider Tendenzen bei den hier versammelten, allesamt fiktiven Schriftstellern geht, sondern um ihre schlichte Einordnung als ›Nazis‹. Dies mutet umso seltsamer an, als bei einigen der Autoren faschistoides Gedankengut nur tendenziell vorhanden ist oder gar vollständig vom ›Autor‹ des Lexikons unterstellt wird.
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Und später in 2666, wie im letzten Kapitel beschrieben.
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4.
Franz Zwickau und Willy Schürholz: Nazi-Dichter?
Im kurzen Segment Dos alemanes en el fin del mundo wird die Biografie zweier in Lateinamerika geborener Schriftsteller deutscher Abstammung skizziert. Sowohl Franz Zwickau, der 1946 in Caracas zur Welt kam, als auch Willy Schürholz, der zehn Jahre später in der deutschen Siedlung Colonia Renacer – eine deutliche Anspielung auf die tatsächlich existierende Colonia Dignidad – in Chile geboren wurde, stammen von Nationalsozialisten ab. Im Fall von Zwickau, dessen kurzes Leben auf nur zweieinhalb Seiten abgehandelt wird, ist es vor allem sein zweiter Gedichtband, der ihm seinen Platz in dem Lexikon amerikanischer ›Naziliteratur‹ sichert. Dieser trägt den Titel El Hijo de los Criminales de Guerra und enthält Gedichte mit Namen wie Diálogo con Hermann Goering en el Infierno, Campo de Concentración, Heimat 17 und eben El Hijo de los Criminales de Guerra. Das Buch sei, so der ungenannte ›Autor‹ des Lexikonartikels, »maldito, espeluznante, mal escrito«,18 also im Grunde haarsträubend und miserabel geschrieben, zudem sei es »plagado de improperios, maldiciones, blasfemias, detalles autobiográficos falsos, imputaciones calumniosas, pesadillas«.19 Bereits hier wird eine für Bolaños späteres Werk typische Rhetorik deutlich, bei der in Beschreibungen oder Aufzählungen rationale, philologisch belegbare Aspekte (›falsche autobiographische Details‹) mit wertenden (›ruchlos‹), schließlich aber auch mit abstrakten Attributen (›alptraumhaft‹) verbunden werden. Nicht zuletzt aus dieser ungewöhnlichen Kombination erwächst ein Gefühl des Bedrohlichen, Unheimlichen, das viele von Bolaños Texten ausmacht. Wie bei zahlreichen anderen Autoren des Lexikons lauert das faschistische Element in Zwickaus Gedichten vor allem zwischen den Zeilen. Zwar trifft das lyrische Ich in Diálogo con Hermann Goering en el Infierno auf Hitlers Reichsmarschall, doch vollzieht sich diese surreale Begegnung auf einem verlassenen venezolanischen Flughafen, und man spricht lediglich über so unterschiedliche Themen wie »aviación, vértigo, destino, casas deshabitadas, valor, justicia,
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Auch im Spanischen wird das deutsche Wort verwendet. Bolaño, Roberto: La literatura nazi en América. Barcelona 1996, S. 97. Ebd., S. 97f. »in dem es wimmelt von Unanständigkeiten, Flüchen, Blasphemien, absolut falschen autobiographischen Details, lügenhaften Behauptungen, Alpträumen« (Bolaño, Roberto: Die Naziliteratur in Amerika, Übs. v. Heinrich von Berenberg. Frankfurt a.M. 2010, S. 93).
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
muerte«.20 Was es genau mit diesem Treffen auf sich hat, wird nicht deutlich. Wie in allen Werken Bolaños sind die tatsächlichen literarischen Werke seiner fiktiven Autoren für den Leser stets unsichtbar bzw. abwesend, d.h., es wird keine Zeile Text wiedergegeben. Auch das Gedicht Campo de Concentración scheint abgesehen vom Titel keinen Bezug zum Nationalsozialismus zu haben, handelt es doch von Zwickaus Kindheit in Caracas. In El Hijo de los Criminales de Guerra, einem wilden Panoptikum an Motiven und Ideen, dichtet Zwickau, der, so der Verfasser, möglicherweise seine Kindheit unter einem nationalsozialistischen Vater verarbeiten will, über »una infancia atroz, inerrable«,21 wobei er sich mit einem schwarzen Jungen im Alabama des Jahres 1958 vergleicht, gleichzeitig bedauert das lyrische Ich, dass es nicht fünfundzwanzig Jahre früher geboren wurde. Doch wie auch im Fall anderer Biografien im Lexikon wird der Verfasser niemals konkret; stattdessen begnügt er sich mit vagen Andeutungen sowie in Ermangelung eines tatsächlichen Textes mit nicht verifizierbaren Beschreibungen und Deutungen des literarischen Werks Zwickaus. Aus dieser Mischung aus Andeutungen, Mutmaßungen und Möglichkeiten entsteht im Kontext der eindeutigen Kategorisierung der Autoren durch den Titel des Nachschlagewerks ein unheimlicher Zwischenraum, in dem die Denomination literatura nazi die Deutungshoheit gewinnt. Auch bei scheinbar unpolitischen Autoren wird der Leser aufgrund der nicht näher begründeten Einordnung seitens des Verfassers bei seinem Versuch der Deutung des jeweiligen Eintrags in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt. Im Gegensatz zu Zwickau ist der Fall beim zweiten ›am Ende der Welt‹ geborenen Deutschen, Willy Schürholz, eindeutig. Schürholz wuchs in jener sehr eindeutig der berüchtigten Colonia Dignidad nachempfundenen Colonia Renacer auf, auch wenn alles, was es vom Verfasser über die nur aus Deutschen bestehende Siedlung zu berichten gibt, Mutmaßungen und Behauptungen Dritter sind: »Se hablaba de orgías paganas, de esclavos sexuales y ajustamientos secretos. Testigos preseciales no del todo fiables juraban que en el patio principal no se alzaba la bandera chilena sino la enseña roja con el círculo blanco y
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Ebd., S. 98. »Luftfahrt, Höhenangst, Schicksal, unbewohnte Häuser, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Tod« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 94). Ebd. »unbeschreiblich entsetzliche Kindheit« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 94).
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la cruz gamada negra. También se decía que allí habían estado ocultos Eichmann, Bormann, Mengele. En realidad el único criminal de guerra qué pasó unos años en la Colonia (dedicado en cuerpo y alma a la horticultura) fue Walther Rauss, al que luego se quiso vincular con algunas prácticas de tortura durante los primeros años del régimen de Pinochet.«22 Auch hier möchte sich der Verfasser auf keinen Fall festlegen: Es seien ›nicht unbedingt vertrauenswürdige Zeugen‹, die das Hissen der Hakenkreuzfahne beobachtet hätten; von seltsam anmutenden Praktiken sei ›die Rede gewesen‹. Diese nicht zu belegenden Mutmaßungen und die Schwierigkeiten, die aus ihnen bei der Suche nach der einen belegbaren Wahrheit erwachsen, prägen auch die Jagd nach dem Nazi-Dichter Carlos Wieder in Bolaños Folgewerk Estrella Distante, zu dem im letzten Kapitel von La literatura nazi en América mit El Infame (hier verknüpft mit dem Namen Ramirez Hoffmann) bereits eine Vorstudie zu finden ist. Schürholz erlitt eine Kindheit und Jugend, die von ›eiserner Familiendisziplin‹, Feldarbeit und einer Erziehung geprägt war, die ›nationalsozialistische Endzeitmythen”23 und den Glauben an die Wissenschaft vereinte. Nachdem seine Eltern beschließen, dass Schürholz in Santiago Landwirtschaft studieren soll, entdeckt er seine Leidenschaft für das Dichten und beginnt, kryptische Lyrik zu verfassen. Angeblich sei er der einzige Schüler des faschistischen Dichters Ramirez Hoffmann gewesen, doch auch dies wird nicht bestätigt. Seine Gedichte jedoch verfahren von Anfang an nach dem gleichen ästhetischen Prinzip: Er fertigt topografische Pläne an, in die er scheinbar unzusammenhängende Wortgruppen grafisch integriert. Ähneln diese Pläne anfangs noch denen der Colonia Renacer, so verwendet er bei späteren Gedichten Pläne von deutschen Konzentrationslagern. Im nächsten Schritt werden diese Pläne dann wiederum über Pläne der Colonia Renacer gelegt, später dann 22
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Ebd., S. 101. »Es war die Rede von heidnischen Orgien, von Sex-Sklaven und heimlichen Scharfgerichten. Nicht unbedingt vertrauenswürdige Zeugen schworen, daß am Fahnenmast auf dem Hauptplatz nicht die Fahne der chilenischen Republik flatterte, sondern das rote Banner mit schwarzem Hakenkreuz auf weißem Kreis. Auch hieß es, daß sich Eichmann, Bormann und Mengele dort versteckt hielten. Tatsächlich jedoch handelte es sich bei dem einzigen Kriegsverbrecher, der einige Jahre in der Kolonie Renacer verbrachte (und sich mit Leib und Seele dem Gartenbau widmete), um Walter Rauss, den man danach mit einigen Folterpraktiken während der ersten Jahre des Pinochet-Regimes in Verbindung bringen wollte« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 97). Vgl. ebd., S. 101f.
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
über die von chilenischen Städten. Die geschriebenen Zeilen werden indes mit den Jahren zugänglicher, es sind, so der Herausgeber, »fragmentos de conversaciones sobre el tiempo, sobre el paisaje, en trozos de piezas teatrales en donde aparentemente nada ocurre salvo el paso de los años, su lento descurrir.«24 Die Rezeption von Schürholz’ Lyrik ist jedoch ebenso unterschiedlich wie unsystematisch. Einerseits wird er von der linken chilenischen Avantgarde als Innovator gefeiert, dessen Gedichte als stummer Protest gegen das PinochetRegime zu deuten sind; andererseits von diesen als faschistoider Dichter abgestempelt, den es zu bekämpfen gilt. 1985 steht er auf dem Höhepunkt seines Ruhms: Industrielle finanzieren sein Projekt, das daraus besteht, in den Sand der Atacama-Wüste den Plan für ein ideales Konzentrationslager zu pflügen, den man nur vom Flugzeug aus sehen kann. Der ›literarische Part‹ besteht nur aus den fünf Vokalen, »grabadas a golpe de azada y azadón por el poeta en persona y esparcidas arbitrariamente sobre la costrosa superficie del terreno.«25 Sein Stern beginnt zu sinken, als er im amerikanischen Fernsehen ein Interview gibt und sich »como un tonto«26 verhält, nicht zuletzt, als er vorgibt zu hoffen, eines Tages einmal richtig schreiben zu lernen. Unter dem Pseudonym Gaspar Hauser veröffentlicht er noch ein mutmaßlich autobiografisches Kinderbuch, in dem er bekennt, sein Lebensziel sei es, unsichtbar zu werden. Als er einen Posten als Kulturattaché in Angola angeboten bekommt, verschwindet er aus Chile und bleibt bis zu seinem Tod im Jahr 2029 in Afrika. Die Biografie des Willy Schürholz kann als eine auf fünfeinhalb Seiten komprimierte Satire auf das Verhältnis von Politik und Kultur in Chile gelesen werden, die jedoch stets überschattet wird von der unseligen Verbindung des Pinochet-Regimes mit den Erben des Nationalsozialismus. In der euphorischen Rezeption von Schürholz’ Werk vermischt sich naive Ignoranz mit dem blinden Glauben an eine literarische Avantgarde, der es möglich ist, im Namen der Kunst jegliche politischen Grenzen zu transzendieren. Der Text – nicht aber der Verfasser selbst – deutet dazu durchweg an, dass es
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Ebd., S. 104. »Gesprächsfragmente über die Zeit, die Landschaft, in Fetzen szenischer Stücke, in denen allem Anschein nach nichts geschieht, außer dem Vergehen, dem langsamen Auf und Ab der Jahre« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 100). Ebd. »die der Dichter höchstselbst mit Spitzhacke und Preßlufthammer in die schorfige Oberfläche des Terrains meißelt« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 100). Ebd. »wie ein Trottel« (Bolaño: Die Naziliteratur in Amerika, S. 101).
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sich bei Schürholz um einen aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangenen ›Schwachsinnigen‹ handelt, der erst demaskiert wird, als er jenes breit ausgestrahlte Fernsehinterview gibt. Dass der Lyriker, sollte er überhaupt als solcher verstanden werden, seine Kindheitstraumata aufarbeitet und seine Kunstwerke als Hilfeschrei intendiert sind, wird weder den Kritikern noch den Dichterkollegen noch den politischen Würdenträgern, die ihn schließlich sogar zum Kulturattaché machen, bewusst; erst recht nicht möchte sich der Verfasser auf diese Möglichkeit einlassen. Für ihn lauert in der Überlagerung von KZ-Plänen und der chilenischen Topografie möglicherweise ein Hinweis auf den Wunsch, auch in Chile Konzentrationslager einzuführen – auch wenn er dies unter dem selbst deklarierten Deckmantel der Neutralität eines Lexikon-Herausgebers niemals explizit ausspricht. Der überambitionierten Lächerlichkeit der Lyrik-Installationen wohnt allerdings auch ein unausgesprochenes Moment des Grauens inne; ein Grauen, das nicht nur Folge des Wissens um die Ereignisse in deutschen Konzentrationslagern ist, sondern auch der Mutmaßung über die sadistischen, pädophilen Taten innerhalb der Kolonie und ihrer später offengelegten Verbindungen zur Militärdiktatur. Die Evokation der ›Albino-Kinder‹, die nachts Traktoren über die Felder fahren, erinnert nicht zufällig an unheimliche Gespenster des deutschen Faschismus, der beginnt, Chile heimzusuchen. Das Deutsche wird zum Symbol des Unheimlichen, die Kolonie zum Ort des Grauens, das danach trachtet, nach draußen zu dringen und auf chilenischem Boden ein neues Drittes Reich zu errichten; nicht auf dem Spielbrett wie noch im Hotelzimmer Udo Bergers, sondern in der lateinamerikanischen Realität. Interessanterweise verbinden sich hier die verschiedenartigen Narrative der einzelnen Lexikoneinträge zu einer gigantischen Verschwörungstheorie um eine Gruppe von Schriftstellern, die den Faschismus über den ganzen lateinamerikanischen Kontinent bringen wollen. Dabei ist Bolaños Intention nicht zuletzt auch eine Satire auf linke Literaturbewegungen in Form einer kontrafaktischen Geschichtsschreibung, welche der Frage nachgeht, was wäre, wenn die intellektuelle Avantgarde nicht links, sondern rechts gewesen wäre und sich mit den vom Nationalsozialismus inspirierten Diktaturen vereinigt hätte.
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5.
Benno von Archimboldi/Hans Reiter: Der verschwundene Deutsche
Benno von Archimboldi ist ein Phantom, ein Autor, der ›seit jeher verschwunden”27 ist und über den im Laufe des Romans 2666 lediglich aus zweiter oder dritter Hand berichtet wird. Aber auch diese Berichte bestehen ausschließlich aus Gerüchten, die im Laufe der Jahre aufgegriffen und weitergetragen werden, wobei deren Kern stetig verändert oder bewusst variiert wird – teils als Parodie auf das Streben des Literaturwissenschaftlers nach Erkenntnis bezüglich seines Untersuchungsgegenstandes. Erst im fünften und letzten Teil des Romans taucht die Figur als handelnde Person und nicht als beschriebene, jedoch abwesende Entität schließlich auf: im Rahmen einer im Stil des klassischen Bildungsromans verfassten Biografie jenes Archimboldi, in dem dessen Verschwinden beschrieben wird.28 Eingeführt wird der Autor in 2666 von vier Philologen, deren Lebenswerk darin besteht, den verschollenen Archimboldi ausfindig zu machen, nicht zuletzt, weil dessen Werk ihnen unentzifferbar erscheint und sie sich von ihm Erklärungen erhoffen. Dass Bolaño ein weiteres Mal – nach Cesárea Tinajero in Los detectives salvajes – einen fiktiven Schriftsteller zum Mittelpunkt eines Romans macht, dessen Veröffentlichungen er in bibliografischer Genauigkeit skizziert, jedoch über Ästhetik oder Inhalt des Werks (wie auch schon im Fall von Estrella Distante) kaum ein Wort verliert, weist auf die Dialektik der anwesenden Abwesenheit jenes verschollenen Autors hin, denn dieser verschwindet hinter seinem Werk. Und doch ist auch dieses für den Leser-Detektiv auf seltsame Weise abwesend; es materialisiert sich nicht vor seinen Augen und bleibt, wie sein Schöpfer, im Verborgenen. Dass Archimboldi nicht lediglich ein öffentlichkeitsscheuer Autor in der Tradition J.D. Salingers oder Thomas Pynchons ist, wird erstmals vom Verlagsmitarbeiter Schnell in seinem ersten Aufeinandertreffen mit den Literaturwissenschaftlern Pelletier und Espinoza29 präzisiert und trägt gleich zu 27 28 29
»desaparecido desde siempre« (Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 2003, S. 135). Vgl. ebd., S. 1049: Hier das erste Mal in der Biografie, dass der Autor auch von seinem ungenannten Biografen als ›verschwunden‹ bezeichnet wird. Laut dem namenlosen Erzähler eignen sich die Kritiker im Laufe ihrer Suche nach dem verschwundenen Autor immer mehr dessen Eigenschaft des Unsichtbarseins an. Besonders deutlich wird dies an einer Stelle, die als Einschub in den Text in Klammern steht und als innerer Monolog gestaltet ist, in dem die Gedanken des Erzählers über einen Tagungsbesuch von Pelletier und Espinoza wiedergegeben werden, wobei be-
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Beginn des Romans entscheidend zur Mystifizierung der Figur bei: »Cuando yo entré a trabajar aquí Archimboldi ya había desaparecido«.30 Kein anderer Schriftsteller habe Archimboldi je gesehen. Es existiert auch keine Biografie über ihn,31 nicht einmal, wie der Erzähler schelmisch anmerkt, in den USA, wo man eine Vorliebe für verschwundene Schriftsteller oder Legenden von verschwundenen Schriftstellern habe.32 Auf einem Kongress begegnen die vier Archimboldi-Forscher dann einem zwielichtigen schwäbischen Journalisten, und mit ihm einem der wenigen Menschen, die behaupten, Archimboldi jemals leibhaftig gesehen zu haben. Einer der Forscher, der Italiener Morini, glaubt in dem Schwaben Archimboldis Doppelgänger zu erkennen, »su hermano gemelo, la imagen que el tiempo y el azar va transformando en el negativo de una foto revelada, de una foto que paulatinamente se va haciendo más grande, más potente, de un peso asfixiante, sin por ello perder las ataduras con su negativo«.33 Das öffentliche Bild des Verschwundenen scheint sich, so Morini weiter, einst von seinem Negativ abgelöst zu haben. Während dieses Negativ ein präsentes, komplementäres Gegenbild Archimboldis darstellt, ist das vermeintliche Original in den letzten Jahrzehnten zu einem überhöhten Götzenbild mutiert, das aufgrund der Verklärung in absentia, obwohl noch im Zusammenhang mit seinem Negativ, nichts mehr mit der ursprünglichen Fotografie zu tun hat. Archimboldi wird zum Gespenst erklärt, das sich in einem dauerhaften Zustand der anwesenden Abwesenheit befindet und nur noch als Negativ die Schriften der Gelehrten sowie die Fantasie seiner Leser heimsucht.
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sonders auf ihre ›absente Präsenz oder präsente Absenz‹ (»un estar y no estar, una presencia ausencia« (ebd., S. 100)) hingewiesen wird. Ebd., S. 41. »Als ich in den Verlag kam, war Archimboldi schon seit langem spurlos verschwunden« (Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 39). Ein typisch bolañoeskes, ironisches Element besteht darin, dass es sich beim fünften Teil um eine Biografie Archimboldis handelt, die, so könnte gemutmaßt werden, vom selben unbekannten Erzähler – vermutlich Arturo Belano – stammt, wie der oben zitierte erste Teil. Vgl. Bolaño: 2666, S. 30. Gemeint ist hier die allgemeine sowie akademische Beschäftigung mit den ›verschwundenen‹ Autoren J.D. Salinger und vor allem Thomas Pynchon; ein Verschwinden, das die Rezeption ihrer literarischen Werke deutlich beeinflusst hat. Ebd., S. 59. »sein Zwillingsbruder, das Bild, das Zeit und Zufall in das Negativ eines entwickelten Fotos verwandeln werden, eines Fotos, das allmählich immer größer wird, immer mächtiger und erdrückend schwer, ohne dabei den Zusammenhang mit seinem Negativ zu verlieren« (Bolaño: 2666, S. 56).
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
Dabei modelliert Bolaño den Schriftsteller nach zwei Vorbildern: Zum einen hat sich der einstige Hans Reiter nach dem Mailänder Künstler Giuseppe Arcimboldo benannt. Dies ist in diesem Zusammenhang durchaus von tragender Bedeutung, ist doch jener Arcimboldo aufgrund seiner Trugbilder bekannt, auf denen nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint, da ihnen ein Spiegelbild, eine Schattenseite – es seien schließlich »cuadros de terror«34 – innewohnt – so etwa im Umkehrbild Der Koch, das auf den ersten Blick eine Metallschüssel zeigt, auf der, gehalten von zwei Händen, ein gebratenes Ferkel und ein gebratenes Huhn liegen. Dreht man das Bild um, kann man die gemein lächelnde Fratze eines alten Söldners erkennen, der laut Reiter so schaut, als wisse er bestimmte Dinge über den Betrachter;35 dies erinnert an Morinis Eindruck des Schwaben als Doppelgänger Archimboldis. Vor allem aber ist die Figur Archimboldi ein Wiedergänger des deutschen Schriftstellers B. Traven, dessen wahre Identität bis heute nicht umfassend geklärt wurde, der aber 1924 nach Mexiko auswanderte und dort einen Großteil seiner Romane verfasste. Einige Anekdoten der Suche nach Travens Identität kehren im ersten Teil von 2666 im Bezug auf Archimboldi wieder, etwa das Rätselraten um seinen Aufenthalt in Mexiko. Aufgrund der zeitlichen Verlagerung – Traven lebte mutmaßlich von 1924 bis 1969 in Mexiko, Archimboldi ist am Ende des 20. Jahrhunderts vermutlich noch am Leben – ist jedoch festzuhalten, dass Traven lediglich als Blaupause für Archimboldi diente und keine Identität mit dem mysteriösen deutschen Autor behauptet werden soll.36 Auch Archimboldis literarisches Schaffen ist gekennzeichnet von der mysteriösen Aura, die seinen Schöpfer umgibt: »[L]a obra de Archimboldi, es decir sus novelas y cuentos, era algo, una masa verbal informe y misteriosa, completamente ajena a él, algo que aparecía y desaparecía de forma por demás caprichosa, literalmente un pretexto, una puerta falsa, el alias de un asesino«.37
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Ebd., S. 918. »Schreckbild« (Bolaño: 2666, S. 890). Vgl. ebd. B. Traven ist auch das Vorbild für den ebenso mysteriösen Schriftsteller V.M. Straka in Doug Dursts und JJ Abrams Experimentalroman »S.«. Hier spielen die Spekulationen um die Identität Travens eine viel bedeutsamere Rolle. Ebd., S. 113. »das Werk von Archimboldi, also seine Romane und Erzählungen, [war] eine formlose, geheimnisvolle sprachliche Masse, die nichts mit ihm zu tun hatte, etwas, das überdies auf kapriziöse Weise auftauchte und verschwand, im wörtlichen Sinne ein Prätext, eine falsche Tür, der Deckname eines Mörders« (Bolaño: 2666, S. 109).
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Selbst im fünften Teil von 2666 begnügt sich der Erzähler mit kargen, kryptischen Hinweisen auf die Inhalte von Archimboldis Romanen. Nach der Lektüre aller fünf Teile von 2666 kann man zwar eine lückenlose Bibliografie des fiktiven Autors Benno von Archimboldi erstellen, doch Inhalt, Stil oder Sprache seiner Werke bleiben größtenteils im Dunkeln. So ist das Werk wie sein Autor (trotz seiner physischen Verfügbarkeit innerhalb der Diegese) für den Leser, der per se außerhalb der Diegese steht und somit keinen Zugriff auf die Romane hat, wiederum von Abwesenheit gekennzeichnet. Das Werk spiegelt seinen Autor wie das Negativ des Schriftstellers Archimboldi, das Morini im Schwaben zu sehen meint. Im fünften Teil von 2666 wird Archimboldi eines Tages von einem französischen Essayisten zum ›Haus der verschwundenen Schriftsteller‹ eingeladen, »una casa en donde se refugiaban todos los escritores desaparecidos de Europa«.38 Dieser wundert sich über die seltsamen Verhaltensweisen der Bewohner, bis ihm nach einem längeren Rundgang schließlich bewusst wird, dass er sich in einem ›Irrenhaus‹ befindet. Die Inszenierung des Spannungsfelds von Wahnsinn und Verschwinden des Intellektuellen in 2666 kommt hier besonders deutlich zum Vorschein, nachdem es im Laufe des Romans mehrfach angeschnitten wurde:39 Der Maler Edwin Johns, der seine eigene Hand abtrennt und sie in eines seiner Gemälde einarbeitet, wird in Teil eins ebenso im ›Irrenhaus‹ besucht wie in Teil zwei der nicht namentlich genannte spanische Lyriker, dem Lola Amalfitano wochenlang ebendort auflauert, und der rumänische Mathematiker, der ob seiner Suche nach den unsichtbaren Zahlen wahnsinnig geworden ist. Jene wahnsinnigen Intellektuellen, welche die Welt von 2666 bevölkern – auch Amalfitano wird in Teil zwei langsam verrückt40 –, werden von Bolaño als einsame, blinde Seher dargestellt, die in der
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Ebd., S. 1073. »ei[n] Haus […], in dem alle verschwundenen Schriftsteller Europas Zuflucht suchten« (Bolaño: 2666, S. 1041). In seinem postum veröffentlichten Essay Los mitos de Cthulu referiert Bolaño eine in der Folge viel rezipierte These: Lateinamerika sei das Irrenhaus Europas, das seit mehr als sechzig Jahren in seinem eigenen Öl und seinem eigenen Fett verbrenne (vgl. Bolaño, Roberto: Los mitos de Cthulu. In: ders.: El gaucho insufrible. Barcelona 2003, S. 159-177, hier S. 168), was in den Kontext des in 2666 wiederholt auftauchenden Bildes des dort internierten Künstlers passt. Amalfitano verkörpert die in Bolaños Werk stets präsente Figur des ›verlorenen‹ Südamerikaners »›En realidad […] ahora lo veo como un movimiento natural, algo que, a su manera, contribuye a abolir el destino o lo que comúnmente se considera el destino‹« (Bolaño: 2666, S. 157).
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
Lage sein könnten, jenes viel beschworene ›Geheimnis der Welt‹ zu entziffern, die während dieses Prozesses jedoch dem ›unnennbaren Bösen‹ ins Angesicht sehen müssen und als Folge daraus wahnsinnig werden. Archimboldi scheint einer von ihnen zu sein, und die unheimliche Aura wird verstärkt durch seine deutsche Herkunft, wenn man bedenkt, dass Deutschland im Werk Bolaños stets auch die Konnotation mit der Nazi-Vergangenheit mit sich führt. Dies wird umso ersichtlicher, sieht man sich den zweiten deutschen Protagonisten in 2666 an, der sich schließlich als Archimboldis Neffe herausstellen wird. Klaus Haas nämlich ist eine zwielichtige Figur, die im vierten Teil des Romans eine tragende Rolle spielt. Er wird für die mysteriösen Frauenmorde in Santa Teresa (das, wenig verschleiert, für die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez steht) verantwortlich gemacht. Der aus Deutschland nach Mexiko emigrierte Haas, der schließlich als mutmaßlicher Serienmörder inhaftiert wird, steht in 2666 für den weißen Conquistador, dem retrospektiv alle Schuld aufgebürdet wird; er ist der Sündenbock für den Zustand, in dem sich der lateinamerikanische Kontinent befindet. Zwar ist Haas eine moralisch fragwürdige Figur, die sich der Vergewaltigung und unter Umständen auch eines Mordes schuldig gemacht hat, aber er ist mit Sicherheit nicht der gesuchte Frauenmörder. Seine Ankündigung, ein ›weißer Riese‹ werde kommen, ist als Anspielung auf die brutale Christianisierung des Kontinents zu verstehen. So ist es auch kein Zufall, dass Haas – schon sein Name soll mit dem Wort ›Hass‹ assoziiert werden – den Mexikanern die neueste Technologie in Form von Computern, Mitte der 90er Jahre bereits sogar Laptops bringt, die sie ›blenden‹ soll, wie einst die goldenen Waffen der Eroberer die Ureinwohner fasziniert und geblendet haben. Haas ist somit der Archetyp des ›bösen Deutschen‹: ein blonder Riese, der die hiesige Bevölkerung verachtet und ausnutzt, um seine zwielichtigen Geschäfte auszuführen, und aus seiner Verachtung für die Mexikaner keinen Hehl macht. Die Begegnungen mit den die Mordfälle untersuchenden Polizisten sind von Bolaño bewusst an die Gespräche zwischen Hannibal Lecter und der FBI-Agentin Clarice Starling in Jonathan Demmes Spielfilm The Silence of the Lambs angelehnt, in denen immer wieder das unsagbar Böse unter der Oberfläche hervorlugt.
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6.
Fazit
Bei der Analyse der deutschen Figuren in Bolaños Texten wird nicht nur ein sich wiederholendes Schema in Bezug auf ihre Darstellung offenkundig, sondern auch eine Entwicklung hin zu einer fast vollständig ausgearbeiteten Version jenes Typus. Das bewusst Fragmentarische, das Bolaños Prosa auszeichnet und das mitnichten der möglichen Unabgeschlossenheit seiner Romane geschuldet ist, sondern vielmehr einen wesentlichen Bestandteil seiner Poetologie darstellt, ist dabei elementar für die Einordnung dieses ›unheimlichen Deutschen‹ in sein Gesamtwerk. Die Suche des Lesers nach Totalität im Werk Bolaños wird, anders als etwa in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad, stets nur Fragmentarisches ergeben, und diese Fragmentarisierung erstreckt sich nicht nur auf einen einzelnen Roman, sondern auf das miteinander verwobene Gesamtwerk des Autors, an dem dieser Zeit seines Lebens immer weitergeschrieben hat. Man mag an den Universaltext Borges’ denken, der immer unvollendet bleiben wird. In diesem Kontext erklären sich auch die verschiedenartigen Perspektiven auf die Figur des ›unheimlichen Deutschen‹. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der zentrale Protagonist in seinem eigentlichen Romandebüt El Tercer Reich ein Deutscher ist, obwohl Bolaño persönlich mit Deutschland nur sehr wenig verbunden hat. Denn nur so kann er einen symbolischen Antagonisten zum eigentlichen Hauptdarsteller des Textes aufbauen – jenem vor der Militärdiktatur geflohenen lateinamerikanischen Exilanten, einer Figur, die späteren Versionen jenes ›verlorenen Lateinamerikaners‹ gleicht, als der sich auch Bolaño gesehen hat. Nur in der Konfrontation mit jenem symbolischen Faschismus – repräsentiert durch einen Deutschen, der, wenn auch spielerisch, versucht, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs neu zu schreiben – kann der Lateinamerikaner sein Trauma überwinden und das Leben im Exil annehmen. Die gleiche Konfrontation vollzieht sich in Los detectives salvajes. Allerdings ist der Campingplatzwächter ein deutlicheres Abbild seines Autors, nicht nur, weil dieser sich als Arturo Belano entpuppt, der bekanntlich das alter ego Bolaños darstellt, sondern auch, weil die biografischen Parallelen augenscheinlich sind. Auch der Campingplatzwächter sucht die Konfrontation mit einer deutschen Nemesis, doch in diesem Fall hat keiner der beiden eine Stimme. Durch die Verlagerung der Erzählstimme nach außen, hin zu einer mehr oder weniger unbeteiligten, vor allem aber weder des Deutschen noch des Spanischen mächtigen Zeugin, gelingt es Bolaño, nicht nur ein Mysterium um beide
Der ›unheimliche Deutsche‹ im Werk Roberto Bolaños
Figuren aufzubauen, sondern auch den Grund ihrer steten Konfrontation im Dunkeln zu lassen. Es bleiben nur die Aussprüche des Campingplatzwächters, Hans sei ein »Nazi«, was sicherlich nicht nur mit der herrischen Art des Travellers zusammenhängt, sondern auch mit seiner Herkunft. So ist es das Unaufgelöste, welches das Unheimliche in dieser Episode evoziert. Tritt die Figur des Campingplatzwächters aufgrund ihrer dem Leser im Laufe des Kapitels bewusstwerdenden Identität mehr und mehr aus der Aura des Mysteriösen heraus, so verharrt Hans, der unheimliche, bedrohliche Deutsche, darin. Eine Entwicklung von Udo Berger hin zu Hans ist durch den Perspektivwechsel deutlich zu erkennen. Auch die beiden deutschstämmigen ›Nazi-Autoren‹ in La literatura nazi en América bleiben bewusst schemenhaft, nicht greifbar; die Darstellung ihres Lebens und Werks basiert größtenteils auf Mutmaßungen, wie der oben zitierte Anfang des Kapitels über Zwickau und seine Kindheit in der Colonia Renacer zeigt. Dies liegt einerseits am Wesen der Textgattung – dem Lexikonartikel –, andererseits aber auch an dem (diese konterkarierenden) wertenden und mutmaßenden Schreibstil des anonymen Verfassers. Schließlich wirkt die Figur Benno von Archimboldi wie die logische Vollendung des Typus des ›unheimlichen Deutschen‹; nicht nur, weil die Mutmaßungen über sein Leben die ersten vier Teile von 2666 bestimmen und den Leser auf jene falsche Fährte locken sollen, er sei womöglich der Verantwortliche für die Frauenmorde. Dass es zwischendurch sein nicht minder unheimlicher Neffe ist, der in Verdacht gerät, der gesuchte Serientäter zu sein, unterstreicht eher noch die Hypothese von der Essenz des Bösen, die offensichtlich im Deutschen zu finden ist. Erst der letzte Teil des Buches erklärt die Figur Archimboldi, doch bleibt die zentrale Frage bestehen: Wer hat diesen über den Autor sehr gut informierten letzten Teil verfasst, wenn schon die Literaturwissenschaftler im ersten Teil als Archimboldi-Experten des Autors nicht habhaft werden können? War er es vielleicht doch selbst, der diese als Bildungsroman inszenierte Biografie geschrieben hat? Das Mysterium um den unheimlichen Deutschen bleibt auch hier bis zum Schluss bestehen.
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Bolaño – deutsch gelesen
Der Teil der Kritiker Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption zwischen Exotismus-Perpetuierung und globaler Prestige-Ökonomie Benjamin Loy
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Landschaften der Kritik: zur internationalen Rezeption von Roberto Bolaño »– Ya nadie recuerda al fürst Pückler botánico, nadie recuerda al jardinero ejemplar, nadie ha leído al escritor. Pero todos, en algún momento de su vida, han saboreado un fürst Pückler. […] El caballero suspiró, debía de rondar los setenta años, y luego dijo: – Vaya legado más misterioso, ¿no cree usted?«1
Mit dieser Episode um Hermann von Pückler-Muskau endet Roberto Bolaños wohl bekanntester Roman 2666. Erzählt wird sie in einem Gespräch zwischen dem Protagonisten des Buchs, dem deutschen Autor Benno von Archimboldi, und einem Nachkommen des bekannten Lausitzer Fürsten kurz vor Archimboldis Abreise aus Deutschland in Richtung Mexiko. Was nach mehr als 1100 Seiten nicht selten verstörender Episoden über die globalen Gewaltexzesse des 20. und frühen 21. Jahrhunderts zunächst wie ein beinahe frivol-oberflächlicher Schlusspunkt wirkt, offenbart in Wahrheit eine im Roman bzw.
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Bolaño, Roberto: 2666. Barcelona 2004, S. 1118f. »›Und niemand erinnert sich mehr an den Botaniker Fürst Pückler, niemand mehr an den vorbildlichen Gartenbaumeister Fürst Pückler, niemand hat den Schriftsteller gelesen. Aber jeder hat irgendwann in seinem Leben ein Fürst-Pückler-Eis gegessen […].‹ […] Der ältere Herr seufzte, er musste um die Siebzig sein, und sagte dann: ›Ein äußerst rätselhaftes Vermächtnis, finden Sie nicht?‹« (Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 1085).
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im Gesamtwerk Bolaños immer wieder aufgerufene Problematik: die Unvorhersehbarkeit, die der Lektüre und Bewertung literarischer Texte im engeren Sinne sowie – auch diese anthropologische Lesart legt 2666 wiederholt nahe – menschlicher Handlungen und Äußerungen im Allgemeinen eignet. Die Frage nach dem Schicksal der Rezeption seines eigenen Werks (und von 2666 im Besonderen) ist damit in Bolaños letztem zu Lebzeiten verfassten Roman bereits unumgänglich angelegt und soll im Folgenden mit dem Abstand von über 15 Jahren nach Ersterscheinen des Buches diskutiert werden. Wie konnte sich ein – trotz erster Übersetzungen seiner Bücher – bis zu seinem Tod fast ausschließlich in der spanischsprachigen Welt bekannter Autor innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne zu der »große[n] weltliterarische[n] Entdeckung der vergangenen [fünf]zehn Jahre«2 entwickeln? Um eine Antwort auf diese komplexe Frage nach den »factors and the mechanisms of production of World Literature as well as its specific hierarchies«3 geben zu können, scheint es unabdingbar, den Blick auf die Rezeption eines Autors nicht auf bestimmte, voneinander isolierte, nationale bzw. sprachliche Räume zu beschränken, sondern diese unterschiedlichen Rezeptionsdynamiken vielmehr in Beziehung zueinander zu setzen, um Aussagen über seine (welt-)literarische Relevanz zu treffen. Nur aus einer solchen relationalen Lesart heraus ist es möglich, über den Grad der Qualität und die (Un-)Angemessenheit der Lektüren zu befinden, die – um beim Erkenntnisinteresse dieses Artikels zu bleiben – das literarische Werk Roberto Bolaños in einer spezifischen Rezeptionslandschaft wie der deutschsprachigen erfahren hat. Statt sich auf die reine Identifikation bestimmter Diskursmerkmale der deutschsprachigen BolañoKritik zu beschränken4 , sollen diese vielmehr vor der Folie der internationa2 3
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Mangold, Ijoma: Wie ein bekiffter Zuhälter. In: Die Zeit v. 10.9.2009, online verfügbar unter: www.zeit.de/2009/38/L-B-Bolano (letzter Zugriff: 26.2.2020). Sapiro, Gisèle: How Do Literary Works Cross Borders (or Not)? A Sociological Approach to World Literature. In: Journal of World Literature 1 (2016), S. 81-96, hier S. 81. Vgl. zu diesen Fragen von globalen Rezeptions- und Zirkulationsprozessen der lateinamerikanischen Literaturen auch die Arbeiten des seit 2015 an der Universität zu Köln laufenden ERC-Projekts »Reading Global. Constructions of World Literature and Latin America«, zuletzt: Guerrero, Gustavo; Locane, Jorge; Loy, Benjamin; Müller, Gesine (Hg.): Literatura latinoamericana mundial. Dispositivos y disidencias. Berlin/Boston 2020 (und darin insbesondere zum Aspekt der Übersetzungen Bolaños ins Deutsche, Französische und Englische meinen Artikel: Loy, Benjamin: Glotopolíticas literarias entre resistencia y mercado: Bolaño en traducción, la traducción en Bolaño, S. 243-266). Vgl. dazu etwa den eher mit Überblickscharakter ausgestatteten und bislang einzigen Artikel zur deutschsprachigen Rezeption Bolaños von Menge, Christina: Die Rezepti-
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
len, d.h. primär der spanisch- und englischsprachigen Rezeption diskutiert werden, um somit zu einer komplexeren Bewertung ihrer gängigen Topoi und Orientierungen zu gelangen, denn, so hat Ignacio Echevarría in Ansätzen gezeigt, »fuera del ámbito hispánico, Bolaño ha sido leído con claves a veces muy distintas a las empleadas por los lectores en lengua española«.5 Neben Echevarría wurden solche Untersuchungen gerade für die US-amerikanische Rezeption bislang vor allem in den Arbeiten von Pollack6 , Corral7 , Birns8 und Hoyos9 geleistet; eine solche Verortung der deutschsprachigen Bolaño-Kritik innerhalb des weltliterarischen Lektürehorizonts, der an sein Werk zwingend anzulegen ist, steht noch aus. Die vergleichende Untersuchung dieser unterschiedlichen Räume der Kritik würde dabei zugleich den Maßstäben entsprechen, die Bolaño selbst an die Literaturkritik in Form einer Neuordnung der literarischen Landschaft formulierte: »Para mí, la crítica literaria es una disciplina más de la literatura. […] Y creo que, sobre todo en nuestros países, es muy necesario que haya un crítica literaria no accidental, no la de diez líneas sobre un autor al que probablemente el crítico no va a leer nunca más; es decir, se necesita una crítica que vaya recomponiendo el paisaje literario.«10
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on Roberto Bolaños in Deutschland – eine quantitative und qualitative Analyse anhand von Zeitungsrezensionen zu ausgewählten Romanen. In: Bosshard, Marco Thomas (Hg.): Buchmarkt, Buchindustrie und Buchmessen in Deutschland, Spanien und Lateinamerika. Berlin 2015, S. 267-310. Echevarría, Ignacio: Bolaño internacional: algunas reflexiones en torno al éxito internacional de Roberto Bolaño. In: Estudios Públicos 130 (2013), S. 175-202, hier S. 186. [»außerhalb der hispanischen Welt hat man Bolaño teilweise mit ganz anderen Maßstäben als jenen betrachtet, die von den spanischsprachigen Lesern angelegt wurden.«] Vgl. Pollack, Sarah: Latin America Translated (Again): Roberto Bolaño’s The Savage Detectives in the United States. In: Comparative Literature 61 (2009), H.. 3, S. 346-365. Corral, Wilfrido: Bolaño traducido: nueva literatura mundial. Madrid 2011. Birns, Nicholas: The Part about the Critics: the World Reception of Roberto Bolaño. In: López-Calvo, Ignacio (Hg.): Critical Insights: Roberto Bolaño. Pasadena 2015, S. 50-64. Hoyos, Héctor: Bolaño como excusa: Contra la representación sinecdótica en la Literatura Mundial. In: Letra anexa 1 (2015), S. 92-106. Bolaño, Roberto: Bolaño por sí mismo. Entrevistas escogidas. Selección y edición de Andrés Braithwaite. Santiago de Chile 2006, S. 43. [»Für mich ist die Literaturkritik eine der literarischen Disziplinen […] Und ich glaube, dass wir vor allem in unseren Ländern eine nicht-zufällige Literaturkritik bitter nötig haben, also nicht die zehn Zeilen über einen Autor, den der Kritiker möglicherweise nie wieder lesen wird; was wir also brauchen, ist eine Kritik, die der literarischen Landschaft eine neue Form gibt.«]
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Die von Bolaño formulierten Defizite der spanischsprachigen Kritik lassen sich dabei ohne größere Probleme auf die deutschsprachige Rezeption seines Werks übertragen, wobei insbesondere auf zwei grundlegende problematische Lektüremuster einzugehen ist: Zum einen fällt – insbesondere in den Besprechungen zu 2666 – die Tatsache auf, dass neben der Frage nach dem internationalen Rezeptionsrahmen die für Bolaños Schreiben so zentrale Relationalität all seiner Werke für die Mehrzahl der Rezensenten überhaupt keine Rolle spielt. Gerade 2666 wird fast ausnahmslos als eine Art Monolith verhandelt.11 Zum anderen – und auf den Punkt wird noch näher einzugehen sein – gerät die Frage nach der besonderen Bedeutung der Selbstinszenierung von Autorschaft, wie Bolaño sie betreibt, sowie nach seiner dezidierten Auseinandersetzung mit den Prozessen innerhalb dessen, was sich mit Bourdieu als literarisches Feld beschreiben lässt, völlig außer Acht.12 Ausgehend von dieser grundsätzlichen Beobachtung werden im Folgenden vier Topoi untersucht, die in den Besprechungen der Werke Bolaños im deutschsprachigen Raum immer wieder auftauchen und die insbesondere vor dem Hintergrund der internationalen Bolaño-Kritik diskutiert werden sollen. Diese Lektüremuster, so die Hypothese, fungieren dabei zugleich als mögliche Erklärungen für die positive Rezeption Bolaños in der deutschsprachigen Kritik und seinen raschen Aufstieg zur Referenzfigur der gegenwärtigen lateinamerikanischen Literatur schlechthin.
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Vgl. Bolaños Aussage diesbezüglich: »Estoy condenado, afortunadamente, a tener pocos lectores, pero fieles. Son lectores interesados en entrar en el juego metaliterario y en el juego de toda mi obra, porque si alguien lee un libro mío no está mal, pero para entenderlo hay que leerlos todos, porque todos se refieren a todos. Y ahí entra el problema« (Bolaño: Bolaño por si mismo, S. 118). [»Ich bin glücklicherweise dazu verdammt, nur wenige, aber dafür treue Leser zu haben. Es sind Leser mit Interesse am metaliterarischen Spiel und dem Spiel meines Gesamtwerks als solchem, denn wenn jemand eines meiner Bücher liest, ist das nicht schlecht, aber um es zu verstehen, muss man sie alle lesen, denn alle beziehen sich auf alle. Und da fangen die Probleme an.«] Dies gilt insbesondere für die bei Bolaño von La literatura nazi en América bis 2666 besonders manifeste Frage nach den Verbindungen von Literatur und Gewalt, die insbesondere den nicht selten abjekten Dimensionen der Affektmotivationen seiner Literaten und Kritiker nachgeht.
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
II.
Die ewig wilden Lateinamerikaner: zum Problem der Exotismus-Perpetuierung in der Bolaño-Rezeption
Vergegenwärtigt man sich die internationalen Rezeptionsbedingungen bzw. die in Übersetzung verlegten Werke aus den lateinamerikanischen Literaturen um die Jahrtausendwende, so lässt sich diese Zeit in der Rückschau wohl am ehesten als eine Phase des Übergangs oder, je nach Blickwinkel, des Vakuums erfassen: Nach den überwältigenden Erfolgen der sogenannten BoomAutoren um die Nobelpreisträger García Márquez und Vargas Llosa13 erwiesen sich Phänomene wie die von Manifesten sowie viel Verlags- und Mediengetöse begleiteten Projekte der mexikanischen Autoren des sogenannten Crack bzw. der chilenischen ›Gruppe‹ McOndo letztlich (und wohl nicht zu Unrecht) als kurzlebige und wenig überzeugende Versuche, die literarische wie publizistische Vorherrschaft ihrer Vorgänger zu brechen. Ohne auf die Werke dieser Autoren hier näher eingehen zu wollen,14 lässt sich hinsichtlich ihrer mäßigen internationalen Beachtung wohl für alle großen Buchmärkte behaupten, was Sarah Pollack für den US-Markt konstatiert hat: »publishers, critics, and readers seemed to be awaiting the appearance of the successor to García Márquez, a new author-figure around whose persona and work the terms of a new breed of Latin American fiction [could] be fixed.«15 Dass diese Erwartungshaltung in Gestalt von Roberto Bolaños Person und Werk spätestens mit dem Erfolg der 2009 erschienen Übersetzung von 2666 ins Englische erfüllt wurde, ist dabei als Faktum im Kontext dieser Untersuchung weniger interessant als die Frage, welche Lektüremaßstäbe dabei von der Literaturkritik angelegt wurden. Zu prüfen wäre dabei für den deutschsprachigen Kontext etwa Pollacks kritische Einschätzung, wonach »[t]he yellow butterflies and floating beauties of García Márquez’s fiction form no part of the scenery in Bolaño’s novel[s] […]; I would argue, however, that from them a new and equally reductive image of Latin America is emerging in the U.S. collective imagination, one
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Vgl. zur Entwicklung dieser Autorengruppe im deutschsprachigen Raum etwa die einschlägige Arbeit von Müller, Gesine: Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den »großen identitätsstiftenden Entwürfen«. Frankfurt a.M. 2004. Vgl. etwa die Beiträge in Schmidt-Welle, Friedhelm (Hg.): De la (mal) llamada Onda al auto-denominado Crack. Tradición y ruptura en la literatura mexicana contemporánea. In: Revista De Crítica Literaria Latinoamericana 30 (2004), H. 59, S. 5-77. Pollack: Latin America Translated (Again), S. 353.
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that The Savage Detectives unintentionally feeds.«16 Tatsächlich werden auch innerhalb der deutschsprachigen Bolaño-Rezeption noch immer hartnäckig bestimmte Vorstellungen davon sichtbar, welche Funktionen und Inhalte lateinamerikanische Literatur zu bedienen habe. So ist Michael Rössners Einschätzung durchaus zuzustimmen, wonach »das Feuilleton und die Tagespresse in Deutschland auf den Spuren der USA zur Kenntnis genommen [haben], dass die lateinamerikanische Literatur nicht mehr ausschließlich an den Boom-Rezepten gemessen werden kann […]. Das heißt jedoch nicht, dass die Formeln des magischen Realismus obsolet wären. Sie werden vielmehr noch immer zur Bestimmung, Benennung, Einordnung der Texte wenigstens ex negativo verwendet.«17 Wenn also Bolaño immer wieder betont, dass sich seine Generation eben durch die Abgrenzung zu den Gründervätern des Booms bzw. deren Epigonen auszeichne,18 und er andererseits die Werke von Jorge Luis Borges und Nicanor Parra19 zu neuen ästhetischen Orientierungspunkten erhebt und damit das Paradigma der lateinamerikanischen Literatur bzw. ihres prägenden Autorenmodells grundlegend verändert, so spielen derartige Aspekte in den Besprechungen der Romane Bolaños im deutschsprachigen Feuilleton überhaupt keine Rolle. Statt nach derlei ästhetischen Hintergründen zu fragen, 16 17
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Ebd., S. 360. Rössner, Michael: ›Latin Literatures’ New Look‹ im ›alten‹ Europa. Zur Rezeption der neuesten lateinamerikanischen Literatur vor dem Hintergrund der alten Stereotypen aus der Boom-Zeit. In: Schmidt-Welle, Friedhelm; von Römer, Diana (Hg.): Lateinamerikanische Literatur im deutschsprachigen Raum. Frankfurt a.M. 2007, S. 113-130, hier S. 127. Vgl. dazu die folgende Aussage von Bolaño: »El territorio que marca a mi generación es el de la ruptura. Es una generación muy rupturista, es una generación que quiere dejar atrás no sólo el boom sino lo que genera el boom, que es una generación de escritores muy comerciales. Es el territorio del parricidio por un lado. Y por otro lado es el territorio de lo borgiano. Hay que investigar todos los flecos, todos los caminos que ha dejado Borges« (Bolaño: Bolaño por si mismo, S. 99). [»Das prägende Territorium meiner Generation ist das des Bruchs. Es handelt sich um eine Generation des Bruchs, die nicht nur den Boom hinter sich lassen will, sondern das, was aus ihm hervorgeht, nämlich eine Generation von sehr kommerziellen Schriftstellern. Es ist also einerseits das Territorium des Vatermords. Und andererseits das Territorium von Borges. Noch dem kleinsten Detail und allen Wegen, die Borges eröffnet hat, muss man nachgehen.«] Vgl. zur Rezeption von Parra bei Bolaño: Loy, Benjamin: Chistes par(r)a reordenar el canon – Roberto Bolaño, Nicanor Parra y la poesía chilena. In: Romanische Studien 1 (2015), S. 45-60.
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
dominiert eine Fixierung auf ein biografisches Moment Bolaños: das der (gescheiterten) Revolution. Dieses bindet seine Lebensgeschichte weiterhin an die lateinamerikanischen Narrative der Boom-Generation, wenn auch eben, wie von Rössner angedeutet, als Negativ-Folie. So heißt es etwa in der Schweizer Kulturzeitschrift DU, in dem bislang wohl umfangreichsten Schwerpunkt zu Bolaño innerhalb der deutschsprachigen Kritiklandschaft, über Bolaños Präsenz in Chile zum Zeitpunkt des Militärputsches im Jahr 1973: »In Chile nämlich nahm er an der Revolte teil, schloss sich nicht wie seine Muttermuse der Poesie aus Amuleto im Klo der Uni ein, um zu lesen, nein, er wurde verhaftet, hörte die Schreie der Gefolterten.«20 Diese von Bolaño literarisch mehrfach verarbeitete Episode21 generiert in der Lesart der Literaturkritik einen in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzenden Beglaubigungseffekt, durch welchen versucht wird, Bolaño als Überlebenden und Kronzeugen einer ganzen Epoche zu mythologisieren. Geflissentlich hat die Kritik dabei ignoriert, inwiefern der Autor selbst bereits zu einem frühen Zeitpunkt seiner internationalen Rezeption eine Ironisierung dieser angeblichen Heldengeschichte vornimmt: »Estuve detenido ocho días, aunque hace poco, en Italia, me preguntaron: ¿qué le pasó a usted?, ¿nos puede contar de su año y medio en prisión? Y eso se debe al malentendido de un libro en alemán donde me pusieron medio año de prisión. Al principio me ponían menos tiempo. Es el típico tango latinoamericano. En el primer libro que me editan en Alemania me ponen un mes de prisión; en el segundo, en vistas de que el primero no ha vendido tanto, me suben a tres meses; en el tercer libro, a cuatro meses; en el cuarto libro, a cinco meses, y, como siga, todavía voy a estar preso.«22 20 21 22
Zweifel, Stefan: Vor Tränen blind in Blanes. In: DU 819 (2011), S. 15-21, hier S. 16. Vgl. etwa die entsprechenden Episoden in Estrella distante oder der Erzählung Detectives. Bolaño: Bolaño por si mismo, S. 38. [»Ich war acht Tage in Haft, obwohl man mich kürzlich in Italien fragte: Was ist Ihnen zugestoßen? Können Sie ein wenig über Ihre anderthalb Jahre im Gefängnis erzählen? Das ist alles einem Missverständnis in einem deutschen Buch geschuldet, wo man mich für ein halbes Jahr ins Gefängnis gesteckt hat. Am Anfang gab man mir weniger. Das ist der typische lateinamerikanische Tango. Im ersten Buch, das in Deutschland von mir veröffentlich wird, geben sie mir einen Monat im Gefängnis; im zweiten, angesichts der Tatsache, dass sich das erste nicht so verkauft hat, machen sie drei Monate daraus; im dritten Buch dann vier; und im vierten Buch sind es fünf Monate und wenn das so weitergeht, sitze ich irgendwann heute noch im Knast.«]
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Dass selbst diese Version Bolaños, wonach er nach einer Woche durch Zufall und dank zweier dort als Polizisten arbeitender Schulfreunde aus dem Gefängnis freigekommen sei, kaum als realistisch gelten darf, hat später noch einmal in einem Zeitungsinterview der chilenische Dichter Jaime Quezada unterstrichen, bei dem Bolaño nach seiner Ankunft in Santiago de Chile im August 1973 wohnte: »Los que vivimos esa época sabemos que eso no era posible. Roberto había venido de México con una chaqueta militar, hablaba como extranjero, el pelo largo. Llamaba la atención, era esperable que lo detuvieran. Pero no hubo cárcel, sólo lo averiguaron y lo liberaron…Ahí se vino para mi casa, hicimos los trámites con la embajada mexicana y se fue para allá otra vez.«23 Sicherlich lässt sich darüber streiten, inwiefern der gemeine FeuilletonRedakteur zur Überprüfung derartiger biografischer Angaben angehalten ist – wobei dies insbesondere bei einer Publikation wie dem Text von Stefan Zweifel, der als erster deutschsprachiger Journalist Zugang zu den Privatarchiven Bolaños hatte, durchaus erwartet werden durfte. Was jedoch zweifellos aus dieser in keiner Bolaño-Rezension fehlenden Referenz ersichtlich wird, ist ein bestimmtes Narrativ, das Bolaño prädestiniert für seine Rolle als neuer Repräsentant eines lateinamerikanischen Schreibens erscheinen lässt. Dieses Narrativ erwächst fundamental aus der Einfachheit, mit der eine vergleichsweise marginale biografische Episode unter den Prämissen des Literaturbetriebs trefflich zu einer Art ›Che-Guevarisierung‹ des Chilenen nutzbar gemacht werden kann und damit eben jene »Befriedigung des Exotik-Bedürfnisses europäischer und US-amerikanischer Leserschichten«24 perpetuiert, welche sich bereits für die Rezeption der Boom-Autoren als zentral erwiesen hatte.25 23
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Sánchez Mariño, Joaquín: Los rastros y los mitos de Bolaño. In: www.lanacion.com.ar/1808789-los-rastros-y-los-mitos-de-bolano (letzter Zugriff: 26.2.2020). [»Die wir diese Epoche erlebt haben, wissen, dass das nicht möglich war. Roberto war aus Mexiko mit einer Militärjacke gekommen, er sprach wie ein Ausländer, trug das Haar lang. Er erregte Aufmerksamkeit, es war davon auszugehen, dass man ihn verhaften würde. Aber er war nie im Gefängnis, man hat ihn nur befragt und ihn dann gehen lassen…Er kam dann zu mir nach Hause, wir haben die Formulare bei der mexikanischen Botschaft ausgefüllt und dann ist er wieder zurück.«] Müller: Die Boom-Autoren heute, S. 266. Ein besonders interessantes Stück dieser feuilletonistischen Inszenierung des Autors als historischem Zeugen ist eines der wahrscheinlich ersten Zeugnisse über Bolaño innerhalb der deutschen Presselandschaft, in dem der damals noch beim Spiegel an-
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Eine ähnliche Kraft entfalten innerhalb der Rezeptionslandschaft zwei weitere ›Biographeme‹ Bolaños, die das Bild des ›wilden‹ lateinamerikanischen Dichters gewissermaßen vervollkommnen: einerseits die immer wieder in Anlehnung an Bolaños Erzählung Playa und weitere Figuren seines Œuvres kolportierte Drogenabhängigkeit des Autors, wie sie einmal mehr exemplarisch und auf reißerische Weise im Artikel von Stefan Zweifel aufgeworfen wird: »Hoch wogt der Kampf um die Deutungshoheit zwischen der Witwe und frühen Freunden sowie der Skandalpresse. Doch wie wichtig ist das eigentlich, liegt die höchste Droge für Bolaño und für uns Leser nicht: im Wort selbst?«26 Statt die vielfach von verschiedensten Weggefährten Bolaños geäußerten Dementi diesbezüglich ernst zu nehmen, entscheidet sich Zweifel – auch darin stellvertretend für zahlreiche andere Rezensenten – lieber dafür, die Drogensucht für möglich zu halten und wählt damit eine Variante, die dem Narrativ vom poète maudit dienlicher ist.27 Ähnlich gelagert sind – vor allem in den Rezensionen zu dem bekanntlich postum publizierten opus magnum des Autors – die Verweise auf Bolaños Leberkrankheit, die schließlich zu seinem Tod im Juni 2003 führte. Stets wird dabei das heroische Bild des quasi bis zum letzten Atemzug tippenden Schriftstellers bemüht, so als bedürfe ein Werk wie 2666 jenseits seines intrinsischen literarischen Werts immer noch einer zusätzlichen biografischen Dramatisierung seiner Entstehungsgeschichte. Selbst ein ansonsten seriös und informiert gehaltener Artikel wie die Rezension von Maike Albath von 2666 im Deutschlandfunk scheint ohne diese Portion Drama nicht auskommen zu wollen, wenn es über Bolaño
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gestellte Matthias Matussek gemeinsam mit Bolaño eine Begehung des ehemaligen Folterzentrums Villa Grimaldi in Santiago de Chile unternimmt. Vgl. Matussek, Matthias: Monster mit höflicher Maske. In: Der Spiegel 20 (2000), online verfügbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-16409584.html. (letzter Zugriff: 26.2.2020). Zweifel: Vor Tränen blind in Blanes, S. 16. Einen der besten Eindrücke von der Lebenswirklichkeit Bolaños in den 1980er und 1990er Jahren, in denen er an der spanischen Costa Brava den Großteil seines Werkes erschafft, gibt der umfangreichste der wenigen bislang öffentlich zugänglichen Briefwechsel mit seinem chilenischen und zur gleichen Zeit in Barcelona lebenden Dichterfreund Bruno Montané Krebs. Die in der Biblioteca Nacional de España in Madrid einsehbaren Briefe Bolaños, für die seine Witwe Carolina López allerdings keine Zitiergenehmigung erteilt hat, zeichnen das Bild eines extrem sesshaften Autors, der sich kaum aus seinem Wohnort Blanes wegbewegt und beharrlich an seinen Texten arbeitet, während er seinen Freund Montané in regelmäßigen Abständen auf die Jagd nach bestimmten Büchern oder, etwas später, mit seinen Manuskripten zu einschlägigen Verlagen in der katalonischen Hauptstadt schickt.
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heißt: »An Hepatitis C erkrankt, schrieb er mit dem Tod um die Wette und verschob sogar eine Lebertransplantation, weil er die Arbeit nicht unterbrechen wollte.«28 Glaubt man den Worten von Carmen Pérez de Vega, Bolaños Lebenspartnerin in den letzten Jahren vor seinem Tod, scheint die Realität auch hier eine andere gewesen zu sein: »›Su última escritura no es 2666. Es el cuento El policía de las ratas y, en sus últimas semanas, un poema‹, relata Pérez de Vega, quien dice que en febrero de 2003, Bolaño dejó de trabajar en la monumental novela […]. En esos meses finales, ›el ritmo de escritura es mucho más sosegado. Incluso, podían pasar dos o tres días sin abrir el ordenador…Lee, pasea, a menudo va por Barcelona, disfruta de cenas y buena conversación.‹«29 Um Missverständnissen an dieser Stelle vorzubeugen: Es geht in dieser Untersuchung nicht darum, der deutschen Literaturkritik ihre detektivischen Unzulänglichkeiten oder sensationalistischen Tendenzen vorzuhalten. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht geht es vielmehr um das Aufzeigen bestimmter 28
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Albath, Maike: Die Welt als Sarg voller Geschrei. Deutschlandfunk (11.10.2009), online verfügbar unter: www.deutschlandfunk.de/die-welt-als-sarg-voller-geschrei.700.de. html?dram:article_id=84270 (letzter Zugriff: 26.2.2020). García, Javier: Los verdaderos herederos de Bolaño son sus lectores. In: www.latercera.com/noticia/cultura/2013/07/1453-533818-9-carmen-perez-de-vega-losverdaderos-herederos-de-bolano-son-sus-lectores.shtml (letzter Zugriff: 26.2.2016). [»›Sein letzter Schreibakt galt nicht 2666. Es war die Erzählung El policía de las ratas und, in seinen letzten Wochen, ein Gedicht‹, erzählt Pérez de Vega, die berichtet, dass Bolaño im Februar 2003 mit der Arbeit an dem monumentalen Roman aufhörte. […] In diesen letzten Monaten ›entspannt sich der Rhythmus des Schreibens deutlich. Es konnten sogar zwei oder drei Tage vergehen, ohne dass er an den Computer ging…Er liest, geht spazieren, oft fährt er nach Barcelona, genießt die Abendessen und gute Gespräche.‹«] Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang außerdem nach den lebenspraktischen Vorstellungen im deutschen Feuilleton – denn inwiefern lassen sich Lebertransplantationen je nach Beliebigkeit des Empfängers verschieben oder vorziehen? Vgl. dazu auch den sinnfreien Kommentar von Daniel Kehlmann in seiner Rezension zu 2666: »Als Roberto Bolaño 2003 beinahe mittellos an Leberversagen starb, stand sein Name schon seit geraumer Zeit auf der Warteliste für eine Lebertransplantation. Wäre er damals schon der weltberühmte Autor gewesen, der er nach seinem Tod wurde, er hätte wohl eine bessere Krankenversicherung und größere Chancen auf die rettende Operation gehabt« (Kehlmann, Daniel: Vier Kritiker und ein Höllenfall. In: FAZ v. 14.9.2009, online verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse-2009/buecher/roberto-bola-o-2666-vier-kritiker-undein-hoellenfall-1873645.html (letzter Zugriff: 30.9.2016)).
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Narrative innerhalb der Kritik zur Konstruktion bestimmter Autorenbilder, welche eine nicht geringe Tendenz zur Selbstverfestigung zu besitzen scheinen und zugleich entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Autoren und deren Werken haben. Eine Ausnahme innerhalb der an Skurrilitäten nicht eben armen Kommentarflut30 zur Vita Bolaños ist der Artikel von Leonie Meyer-Krentler, die sich als bislang einzige deutschsprachige Kritikerin ernsthaft um eine Relativierung des gängigen Bolaño-Bildes und eine Konzentration auf die literarischen Qualitäten seines Werks bemüht hat. Sie stellt fest: »Nein, es ist nicht einfach nur das wilde Leben, es sind nicht die Drogen und nicht der Exzess, die diesen Autor geprägt haben. Vor allem sind es die schlecht zu vermarktenden, vielen Stunden der Lektüre und des Rückzugs – es ist Bolaños autodidaktische, hart erkämpfte Belesenheit, die ihn zu einem großen Autor gemacht hat.«31 In diesem Zusammenhang lässt sich mit dem steigenden Bekanntheitsgrad Bolaños auch eine weitere Verschiebung mit Blick auf die Frage beobachten, wer denn eigentlich die Autorinnen und Autoren der Rezensionen innerhalb der deutschsprachigen Kritik seines Werks sind: Stammen diese bei Bolaños ersten Übersetzungen häufig noch aus dem lateinamerikaaffinen bzw. dem literaturwissenschaftlichen Bereich und besitzen entsprechendes Spezialistenwissen, wie eben Meyer-Krentler oder auch Burkhard Pohl,32 so wird spätestens 2666 auch von prominenten Kritiker-Figuren in den großen Feuilletons wahrgenommen. Mit dieser Erweiterung nehmen eben jene Simplifizierungen der literarischen Komplexität seines Werks einerseits und die Mythisierungen seiner Person andererseits auf die hier beschriebene problematische Weise zu.
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Eine besondere Blüte aus der US-amerikanischen Kritik ist etwa die befremdete Skepsis, mit der Siddharta Deb kommentiert: »Bolaño’s life, by contrast, doesn’t seem to offer a model worth celebrating; after all, this is a writer who was so short of money and hygiene during his wandering years that he had lost most of his teeth by the end of his travels.« (Deb, Siddharta: Foreword. On Roberto Bolaño. In: López Calvo, Ignacio (Hg.): Roberto Bolaño, a less distant star: critical essays. New York 2015, S. ix-xix, hier S. x.) Meyer-Krentler, Leonie: Roberto Bolaño: Ein James Dean war er nicht. In: www.zeit.de/kultur/literatur/2009-09/roberto-bolano (letzter Zugriff: 26.2.2020). An dieser Stelle danke ich Leonie Meyer-Krentler und Johanna Schwering herzlich für ihre erhellenden Kommentare und Diskussionen bei der Entstehung dieses Artikels. Vgl. etwa Pohl, Burkard: Dichtung und Bosheit. Über Roberto Bolaños neuen Roman Stern in der Ferne. In: Tranvía. Revue der Iberischen Halbinsel 56 (2000), S. 63f.
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III.
Ein romantischer Hund: Bolaño, das literarische Feld und die globale Prestige-Ökonomie
Neben der Mythisierung seiner Biografie ist die Darstellung des Verhältnisses von Roberto Bolaño zum literarischen Feld seiner Zeit ein zweiter zentraler Aspekt in der Konstruktion der Autorfigur Bolaño durch die Literaturkritik. Wie im Falle des mehrfach fiktionalisierten Biographems der Inhaftierung nach dem Putsch speist sich auch dieser Punkt aus der für Bolaños Texte stets zentralen Frage nach der Situierung des Autors bzw. der Literatur in Relation zur Gesellschaft und, genauer, zu den politischen und kulturellen Machtinstanzen sowie den Marktmechanismen des Literaturbetriebs. Die von Bolaño dabei seit seinen neoavantgardistischen Anfängen im Mexiko der 1970er Jahre bezogene Position des gegen das Establishment anschreibenden Außenseiters wird in beinahe all seinen Werken, insbesondere aber in seinen Kurzgeschichten sowie in Los detectives salvajes kultiviert. Auch hier greift die für Bolaños Werk typische, zwischen Fiktion und biografischen Fakten oszillierende Form eines Schreibens, das bewusst autobiografische Elemente integriert, wobei diese eben nicht als eine wie auch immer geartete Version der Bekenntnisliteratur verstanden werden sollen, sondern vielmehr als eine autobiografisch leicht gefärbte Literatur.33 Die verschiedenen alter egos des Autors nehmen dabei stets eine Position der Marginalität ein, wie sie exemplarisch etwa in Erzählungen wie Sensini vorgeführt wird. Das Interessante an diesen Figuren und, wie hier zu zeigen sein wird, am realweltlichen Autor Roberto Bolaño liegt allerdings in der Tatsache begründet, dass diese Marginalität nicht gleichzusetzen ist mit einer vollkommenen Verweigerung gegenüber den Regeln des literarischen Betriebs, oder wie es Andrea Cobas Carral und Verónica Garibotto mit Blick auf Bolaños fiktionales alter ego Arturo Belano formulieren: »El Belano de los 90 se debate así entre dos direcciones: por un lado, lejos de la voluntad de invisibilidad realvisceralista, se preocupa por los vaivenes de la crítica y opta por la publicación de sus novelas dentro del mercado editorial; por el otro, transgrede sus códigos de funcionamiento.«34 33
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Bolaño spricht explizit von einer »literatura teñida ligeramente de autobiografía« (Bolaño: Bolaño por si mismo, S. 76). Vgl. ausführlich zu diesem Thema den lesenswerten Artikel von Chihaia, Matei: Bolaño y yo. Las dos caras de la autoficción en la obra de Robert Bolaño. In: Toro, Vera u.a. (Hg.): La obsesión del yo: la auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana. Madrid 2010, S. 141-153. Cobas Carral, Andrea; Garibotto, Verónica: Un epitafio en el desierto. Poesía y revolución en Los detectives salvajes. In: Faverón, Gustavo; Paz Soldán, Edmundo (Hg.): Bolaño
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
Wenn Bolaño (nicht nur) in der deutschsprachigen Kritik daher immer wieder zu einem Autor stilisiert wird, der »[m]it dem modernen, wohltemperierten (und bürokratischen) Schriftstellertypus, wie er sich im westlichen Literaturbetrieb zuletzt durchgesetzt hat, […] nichts gemein hat«,35 so ignoriert diese Verklärung des radikalen Ästheten einmal mehr die realweltlichen Handlungsmuster Bolaños, um an ihrer Stelle die metaliterarischen Diskurse der fiktionalen Texte des Autors aufzurufen. So inszeniert sich etwa das alter ego Bolaños in der ebenfalls mit der Auto(r)-Fiktion spielenden Erzählung Encuentro con Enrique Lihn als jener literarische Outlaw, dessen Kritik sich in einer bewussten Verletzung der Regeln des Betriebs äußert, wenn es heißt: »Esto les pasa a todos los escritores jóvenes. Hay un momento en que no tienes nada en qué apoyarte, ni amigos, ni mucho menos maestros, ni hay nadie que te tienda la mano, las publicaciones, los premios, las becas son para los otros, los que han dicho ›sí señor‹, repetidas veces, o los que han alabado a los mandarines de la literatura, una horda inacabable cuya única virtud es su sentido policial de la vida, a esos nada se les escapa, nada perdonan.«36 Die bewusste Verweigerungshaltung gegenüber den Förderinstanzen des Betriebs wie Preisen oder Stipendien hat freilich mit der Autorenbiografie Bolaños nicht viel gemein. Sei es die (gescheiterte) Bewerbung um ein Guggenheim-Stipendium 199637 , sei es die bereitwillige Annahme der wichtigsten Roman-Preise der spanischsprachigen Welt (Premio Herralde und Premio Rómulo Gallegos, 1998 bzw. 1999), sei es die Tatsache, dass Bolaño, wie seine Briefwechsel belegen, konstant um eine Platzierung seiner Arbeiten bei literarischen Verlagen bemüht ist: Bolaño bewegte sich seit seiner neoavantgardistischen Zeit in Mexiko mit höchster Aufmerksamkeit im literarischen
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salvaje. Barcelona 2008, S. 163-189, hier S. 183. [»Der Belano der 90er bewegt sich so zwischen zwei Polen: einerseits sorgt er sich, weit entfernt von der bereitwillig in Kauf genommenen realviszeralistischen Unsichtbarkeit, um die schwankenden Bewertungen der Kritik und entscheidet sich für die Veröffentlichung seiner Romane innerhalb des Buchmarkts; andererseits überschreitet er immer wieder dessen Spielregeln«.] Mangold: Wie ein bekiffter Zuhälter. Bolaño, Roberto: Encuentro con Enrique Lihn. In: Bolaño, Roberto: Putas asesinas. Barcelona 2001, S. 217-224, hier S. 218. Vgl. dazu den Abdruck besagter Bewerbung in dem von Bolaños spanischem Verleger herausgegebenen Büchlein: Herralde, Jorge: Para Roberto Bolaño. Santiago de Chile 2005, S. 77-84.
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Feld; er kannte und nutzte dessen Mechanismen, ohne dabei jedoch ästhetische Zugeständnisse zu machen oder bestimmte Grenzen, wie etwa der Anbiederung an bestimmte literarische Figuren der Boom-Generation, zu überschreiten. Michael Pfisters Recherche unter Bolaños ehemaligen infrarealistischen Mitstreitern gelingt es als einem der wenigen Texte in der deutschsprachigen Kritik, etwas zur Korrektur des Bildes vom in radikaler Weltabgewandtheit schreibenden Bolaño beizutragen, wenn er jene wie folgt zitiert: »Im Gegensatz zu seinem Freund [Mario Santiago] soll Bolaño von Anfang an darauf erpicht gewesen sein, seine Gedichte zu publizieren. Er erfand den Gruppennamen, schrieb das Erste Manifest, stilisierte die Jungdichter als ›Infra-Sonnen‹, als ›schwarze Löcher‹ und ›Anti-Materie‹. Auch er schrieb Tag und Nacht, aber diszipliniert, mit Stundenplan; bienenfleissig protokollierte er Gespräche, Porträts, Erlebnisse in sein Heft, knüpfte Kontakte mit Verlegern und Redaktoren.«38 Tatsächlich sucht Bolaño bereits seit den frühen 1970er Jahren die Nähe zu nützlichen Instanzen des literarischen Betriebs in Mexiko und Chile.39 Auch das vielfach in der Kritik auftauchende Narrativ vom wilden Dichter, der das
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Pfister, Michael: Der magische Pfad der Esel und Dichter. In: DU 819 (2011), S. 30-39, hier S. 33. Ein weiterer dieser wenigen informierten Texte ist der Bericht über einen Besuch in der Ausstellung von Bolaños Archiv in: Teutsch, Katharina: Der ganz große Giftzwerg. In: Die Zeit v. 27.3.2013, online verfügbar unter: www.zeit.de/2013/14/roberto-bolano-ausstellung-barcelona (letzter Zugriff: 26.2.2020). Ein Zeugnis dieser Zeit sind etwa die Erinnerungen des bereits erwähnten Jaime Quezada, der zur Jugendzeit Bolaños zwei Jahre im Haus der Familie Bolaño Ávalos in Mexiko City verbrachte. Vgl. Quezada, Jaime: Bolaño antes de Bolaño: diario de una residendencia en México (1971-1972). Santiago de Chile 2007. Auch Tatsachen wie Bolaños erste literaturkritische Publikationen in einer klar zum Establishment der Zeit zählenden Zeitschrift wie Plural über die Avantgardegruppe der mexikanischen Estridentistas dürfen als Beleg für die These von Bolaños ausgeprägtem Gespür für die Distributionsmechanismen von symbolischem Kapital innerhalb des literarischen Feldes gelten. Ähnliches ließe sich etwa auch durch eine Auswertung von Bolaños zu Lebzeiten publizierten Autorenfotografien belegen, welche ihn durch Attribute wie die unvermeidliche Zigarette, Lederjacke oder mit Rucksack, stets in die Nähe jener vagabundierenden, rastlosen und nicht selten exzessiven Dichterfiguren rückt, die seine Werke bevölkern (vgl. etwa die Abbildung im Mittelteil des bereits erwähnten Bandes Bolaño por sí mismo).
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
unter ökonomischen Gesichtspunkten so unrentable Geschäft der Poesie zugunsten der Prosa nur aufgibt bzw. vernachlässigt, weil ihn die Geburt seines ersten Kindes dazu zwingt, muss nach den ersten Sichtungen seines privaten Archivs als eine weitere diskursive Konstruktion eines bestimmten Autorenbildes gelten. Valerie Miles, die Kuratorin der 2013 im CCCB in Barcelona zu sehenden Ausstellung Archivo Bolaño, korrigiert dieses Bild: »Contrary to what has been repeatedly claimed about Bolaño the poet versus Bolaño the prose writer, his notebooks show that he had every intention of becoming a novelist since the moment he arrived in Spain and that he pursued the construction of a narrative voice without renouncing his life as a poet. […] It’s safe to say that writing narrative was not the result of hardship or financial duress, and that poetry was not the only pure form for pursuing truth. One form served as a stimulant to the other, coexisting in happy communion and cross-fertilization.«40 Diese Ausführungen sollen keineswegs die Tatsache verdecken, dass Bolaños steiniger Weg zum anerkannten Autor zu einem Großteil seiner Unangepasstheit, seinen Polemiken und auch seiner über Jahre hinweg durch Entbehrungen geprägten und die literarischen Aktivitäten einschränkenden Lebensform geschuldet waren. Was eine literaturwissenschaftliche Analyse sichtbar zu machen hat, ist eben das Maß an Konstruktion, das der Literaturkritik in ihren untrennbar mit Bolaños Werk verbundenen Ausführungen über seine Biografie – wie z.B. bei der Frage nach seiner »Revolutionsvergangenheit« – und seine Situierung zum literarischen Feld immer schon inhärent ist. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern diese von der Kritik beeinflussten Autor-Konstruktionen innerhalb eines sich zunehmend global verdichtenden Raumes der Weltliteratur zur Ausformung dessen beitragen, was James English als economy of prestige41 bezeichnet. Ohne hier näher auf Englishs lesenswerte Studie eingehen zu können, lässt sich gerade innerhalb der deutschsprachigen Bolaño-Kritik eine bestimmte Form der Konstruktion eines weltliterarischen Prestiges beobachten, so etwa in den Ausführungen Iris Radischs über jene »Tausendseiter aus der Feder tiefmelancholischer, an dem Wahnsinn des spätabendländischen Lebensstils verzweifelnder und von seinen ur-
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Miles, Valerie: A journey forward to the origin. In: Insua, Juan; Miles, Valerie (Hg.): Archivo Bolaño. 1977-2003. Barcelona 2013, S. 136-141, hier S. 137. Vgl. English, James: The economy of prestige: prizes, awards and the circulation of cultural value. Cambridge 2005.
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banen Abgründen inspirierter Autoren wie David Foster Wallace und Roberto Bolaño, neben denen sich dieser deutsche Kleinstadtroman ausnimmt wie ein Hauskätzchen im Raubtierkäfig.«42 Indem Radisch – ähnlich wie Ijoma Mangold – Bolaño explizit hinsichtlich Form und Thematik als weltliterarische Bezugsfolie herausstellt, wird dem Werk Bolaños eben jene literarische Wertigkeit (im Sinne von Englishs Prestige) zugewiesen, die mit als Erklärung dafür dienen kann, warum eine ganze Reihe deutschsprachiger Gegenwartsautoren von Daniel Kehlmann bis Thomas Glavinic wiederholt ihre Begeisterung für den Chilenen geäußert haben. Wenn also gerade ein Meister der medialen Selbstinszenierung wie Daniel Kehlmann anlässlich der Publikation seines Romans F dem Feuilleton »Roberto Bolaño als Paten«43 nennt, so lässt diese Referenz gewiss neben einer rein intertextuellen oder formalen Bezugnahme zugleich immer auch den Versuch einer Art »Prestige-Partizipation« erkennen, die einen Text bzw. seinen Autor für die Kritik mit bestimmten Lektüreschlüsseln ausstatten soll.44 Dass über diese Aneignungsformen hinaus Roberto Bolaños literarischer Erfolg weltweit und in Deutschland auch
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Radisch, Iris: Wie haben wir sie vermisst! In: Die Zeit v. 8.10.2009, online verfügbar unter: www.zeit.de/2009/42/Buch-des-Herbstes-Thome-Text (letzter Zugriff: 30.9.2016). von Lovenberg, Felicitas: Wie fünf Professoren auf Red Bull. In: FAZ v. 27.8.2013, online verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/begegnungmit-daniel-kehlmann-wie-fuenf-professoren-auf-red-bull-12547834.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff: 30.9.2016). Dass für Bolaño selbst ab der Publikation von 2666 die Riege der Autoren, zu denen sein Werk in Bezug gesetzt wird, sich gleichermaßen auf kanonische Autoren der Weltliteratur wie Proust oder Melville ausweitet, hat Menge bereits gut beobachtet (vgl. Menge: Die Rezeption Roberto Bolaños in Deutschland, S. 293.) Des Weiteren könnte man bemerken, dass Bolaño sich in der deutschsprachigen Kritik (wie im Rest der Welt) als neue maßgebliche Referenz etabliert, an der neue lateinamerikanische Autor*innen gemessen werden (der prominenteste Fall in dieser Richtung wären sicherlich die Publikationen der mexikanischen Autorin Valeria Luiselli, vgl. dazu etwa: Breitenstein, Andreas: Eine neue Stimme aus Lateinamerika. In: Neue Zürcher Zeitung v. 6.4.2013, online verfügbar unter: www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-kunst-derkommunizierenden-loecher-1.18058815 (letzter Zugriff: 26.2.2020). Diese Form der Prestige-Generierung lässt sich auch im akademischen Bereich beobachten, wo insbesondere im spanisch- und englischsprachigen, aber zunehmend auch im deutschsprachigen Raum eine wahre Inflation an Arbeiten über Bolaño herrscht, welche – so legen nicht wenige Lektüren nahe – vielfach eher an einer solchen PrestigePartizipation als an tieferen Einsichten in das literarische Werk des Autors interessiert zu sein scheinen.
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
mit genuinen Merkmalen seiner literarischen Produktion zusammenhängt, soll hier abschließend diskutiert werden.
IV.
Die wilde Bibliothek: der Leser Bolaño und die Weltliteratur
Die These, wonach Bolaños weltweiter Erfolg genuin mit einer Anschlussfähigkeit seines Schreibens an unterschiedliche Lektürehorizonte verbunden sei, ist nicht neu: So postuliert etwa Hoyos, »el escritor chileno se hizo global porque ofrece una escritura de la globalidad«45 , und Echevarría stellt eine »infrecuente capacidad de conectar con lectores de todo tipo«46 fest. Tatsächlich reichen die Verweisketten und Einflüsse in Bolaños Fall von klassischer griechischer Dichtung bis zu den Filmen von David Lynch, vom großen Kanon der westlichen Literatur bis zu den marginalen Poeten Mexikos und Chiles, von Poe bis Porno, von Stendhal bis Snuff.47 Eine Analyse der Bezüge zu deutschsprachigen Autoren, die von Wolfram von Eschenbach über Kleist und Kafka bis zu Jünger, Bernhard und Dürrenmatt reichen bzw. der Frage nach der Funktion von Deutschland als Schauplatz seiner Fiktionen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.48 Bemerkenswert allerdings erscheint die Tatsache, dass weder eine solche mögliche ›deutsche‹ Lesart noch eine dezidierte Beschäftigung mit dem Problem der globalen Verflochtenheit eine 45 46 47
48
Hoyos: Bolaño como excusa, S. 95. [»der chilenische Autor wird global, weil er eine globale Form des Schreibens bietet«.] Echevarría: Bolaño internacional, S. 176. [»eine seltene Fähigkeit, Verbindungen zu Lesern aller Art zu knüpfen«.] Vgl. zu diesem Aspekt auch meine umfangreiche Studie zur Intertextualität bei Bolaño: Loy, Benjamin: Roberto Bolaños wilde Bibliothek. Eine Politik und Ästhetik der Lektüre. Berlin/Boston 2019. Vgl. dazu etwa die Überlegungen von Jörg Dünne und Christian Hansen zur Bedeutung Deutschlands als Chiffre einer »phantasmatischen Gegenglobalisierung« in: Dünne, Jörg; Hansen, Christian: Welt, Literatur und Kriegsspiel: Roberto Bolaños El Tercer Reich. In: Müller, Gesine (Hg.): VerlagMachtWeltliteratur. Lateinamerikanisch-Deutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik. Berlin 2014, S. 275-274, hier S. 271. Ein hervorragendes Beispiel für diese Anschlussfähigkeit innerhalb der deutschsprachigen Literaturlandschaft sind etwa die interessanten Lektüren, die sich im Rahmen kollektiver Leserunden seiner Werke im Rahmen der Online-Plattform Wilde-Leser.de ergeben. Mit Blick auf Bolaños Bezüge zu Ernst Jünger auch die Studie von Klengel, Susanne: Jünger Bolaño: die erschreckende Schönheit des Ornaments. Würzburg 2019. Sowie meine Ausführungen in Loy: Roberto Bolaños wilde Bibliothek, S. 172-211.
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nennenswerte Aufmerksamkeit innerhalb der deutschsprachigen Kritik zuteilwird. Dies gilt insbesondere für 2666, welches – wohl auch durch seinen Status als vorgeblich ›unabgeschlossenes‹ postumes Werk – in den meisten Rezensionen stärker im Sinne einer rein additiven Reihung der Teile denn als Einheit mit seinen kaum auszuschöpfenden Querverweisen erfasst wird. Eine problematische Lektüre dieser Art findet sich etwa in Sibylle Lewitscharoffs (insgesamt sehr wohlwollender) Rezension von 2666, wenn sie – neben den üblichen Klischees49 – eben über den fünften und letzten Teil des Buches, also jenen über Benno von Archimboldi und die deutsche Geschichte vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Folgezeit des Zweiten Weltkriegs, befindet, es handele sich dabei um »Murks« und Archimboldi sei »bloß ein Papierwicht aus Papierdeutschland und ein alberner Schriftsteller obendrein«. Was Lewitscharoff dabei verkennt, ist die Tatsache, dass es sich bei Bolaños Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ebenso wie mit den Kopplungen von Kultur und Faschismus in La literatura nazi en América – weder um einen persönlichen Spleen noch eine (aus Sicht der Rezensentin missglückte) Form »realistischer« Geschichtsdarstellung handelt, die sich selbst genug wäre (und aus der Lewitscharoff folgert, der Leser solle sich diesen Teil des Romans sparen und einfach nach dem vierten Kapitel die Lektüre einstellen). Der Schlussteil von 2666 ebenso wie die zahlreichen protofaschistischen Schriftstellerfiguren Bolaños erfüllt im Rahmen jenes dezidiert aus einer globalgeschichtlichen Perspektive verfassten Romans die literarische Funktion, eine – aus Sicht der westlichen Welt – vorgeblich »entfernte« und krude Realität wie die mexikanische des 21. Jahrhunderts mit den historischen Problemstellungen der (für Bolaño stets unabgeschlossenen) Moderne gezielt zu verschalten, oder wie es Markus Messling treffend formuliert hat: »[I]ndem Bolaño die Reflexion des Menschen […] zwischen den kanonischen Grenzen dessen aufspannt, was man ›klassische Moderne‹ nennt, will er doch nicht über die Vergangenheit schreiben, sondern vielmehr die Gewordenheit jener komplexen Welt ausloten, die er vor uns entfaltet. Wenn Avantgarde und Faschismus als Ausdruck eines Willens zur Ermächtigung die to49
»ein hoch amüsanter, wild verzwirbelter chilenischer Macho, der die Frauen und die Bücher liebte«, vgl. Lewitscharoff, Sibylle: Die unerhörten Schreie der Toten. In: Die Welt v. 19.12.2009, online verfügbar unter: https://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article5579384/Die-unerhoerten-Schreie-der-Toten.html (letzter Zugriff: 30.9.2016).
Der Teil der Kritiker. Die deutschsprachige Bolaño-Rezeption
tale Kunst produzieren wollen, in der Kunst und Leben nicht mehr trennbar wären, so führt Bolaño diese biopolitische Dimension, die im Teil des nationalsozialistischen Russlandfeldzugs in all ihren Implikationen von der totalitären Unterwerfung der Subjekte bis zur ›Lebensraum‹-Thematik entfaltet wird, mit dem Problem der Produktivität zusammen.«50 Diese philosophisch-historische Dimension von Bolaños Schreiben über Deutschland bzw. das, was Messling als »pessimistische Anthropologie« bezeichnet, scheint dabei für die deutschsprachige Kritik kaum von Belang gewesen zu sein. Dies wird auch ersichtlich, wenn Autoren wie Kehlmann oder Glavinic die Bedeutung Bolaños für ihr Schreiben auf einer rein formalen und eben nicht auf einer geschichtsphilosophischen Ebene herausstellen.51 Über die Hintergründe dieser reduktiven Lektüren lässt sich an dieser Stelle nur mutmaßen, doch möglicherweise bestehen in Teilen der deutschsprachigen Kritik noch immer jene unterschwelligen (Nicht-)Erwartungshaltungen an lateinamerikanische Autoren und Werke, wie sie sich etwa in Paul Ingendaays Rezension zu Estrella distante finden, wenn der Rezensent angesichts seines positiven Lektüreeindrucks seine Überraschung mit den durchaus kulturchauvinistisch gefärbten Worten zum Ausdruck bringt: »Man erwartet so ein Buch nicht von einem Chilenen.«52 Nicht zuletzt stellt sich bei allen Überlegungen zum Nachleben Bolaños die Frage, wie seine weltweite Rezeption verlaufen wäre, wenn der Autor die Gelegenheit gehabt hätte, sie zumindest teilweise (etwa im Fall von 2666) noch zu erleben und zu begleiten. Es ist anzunehmen – und der Gedanke hat etwas Zynisches –, dass es nicht zuletzt auch diese Unmöglichkeit war, die geschilderten Narrative über sein Werk und seine Person weiter zu beeinflussen, die den verstorbenen Autor zu einer perfekten Projektionsfläche und damit auch zu einem idealen 50
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Messling, Markus: 2666: Die Moderne als Echolot der Globalisierung. Roberto Bolaño und das Erbe Baudelaires. In: Ette, Ottmar; Wirth, Uwe (Hg.): Nach der Hybridität. Zukünfte der Kulturtheorie. Berlin 2014, S. 199-215, hier S. 205. Vgl. etwa die Aussage von Glavinic: »Seine Bücher […] sagen mir, dass die Welt ein unübersichtliches Gewirr von Gefühlen, Ideen, Plänen und Existenzen ist, in dem sich der Einzelne irgendwie zurechtfinden muss, ein Unterfangen, das in den meisten Fällen nicht gelingt« (Glavinic, Thomas: Meine Schreibmaschine und ich. Bamberger Vorlesungen. München 2014, S. 29). Ingendaay, Paul: Hinter dem Schleier von Zentimeterwahrheiten. In: FAZ v. 21.3.2000, online verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-hinter-dem-schleier-von-zentimeterwahrheiten110231.html (letzter Zugriff: 30.9.2016).
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Gegenstand der Vermarktung für einen zentral von (prestige-)ökonomischen Motiven getriebenen Literaturbetrieb verwandelten, dessen Gebaren nicht selten an eine besonders krude Form der intellektuellen Leichenfledderei gemahnt. Die Sinnlosigkeit der Frage nach den alternativen Wegen eines abrupt beendeten Schriftstellerlebens hatte Bolaño dabei zu Lebzeiten einmal mehr am Beispiel eines ebenfalls viel zu früh verstorbenen deutschen Autors deutlich gemacht: »¿Qué hubiera pasado si Büchner no hubiera muerto, qué escritor hubiera habido ahí? […] el silencio de la muerte es el que corta de tajo lo que pudo ser y nunca más va a poder ser, lo que no sabremos jamás […] Y eso mismo se extiende en todo el planeta como una mancha, una enfermedad atroz que de alguna u otra manera pone en jaque nuestras costumbres, nuestras certezas más arraigadas.«53
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Bolaño: Bolaño por sí mismo, S. 45. [»Was wäre geschehen, wenn Büchner nicht gestorben wäre, was für einen Schriftsteller hätte es da gegeben? […] Die Stille des Todes ist die, welche mit einem Schnitt das durchtrennt, was hätte sein können und nie mehr sein wird, was wir nie mehr erfahren werden […] Und das gleiche breitet sich auf dem ganzen Planeten wie ein Fleck aus, wie eine furchtbare Krankheit, die auf die ein oder andere Weise alle unsere Gewohnheiten, unsere am tiefsten verwurzelten Sicherheiten infrage stellt.«]
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur Versuch, Bolaño im Kontext der Kritischen Theorie zu verstehen Chris W. Wilpert »Der Künstler behält sich die ›Traumwelt‹ vor.« Paul Valéry1
Roberto Bolaños Texte sind nicht nur durchdrungen von der gesamten modernen Literaturgeschichte, von Cervantes über Dostojewski und Borges bis hin zu einer Vielzahl seiner Zeitgenossen. In seinem Werk finden sich gerade für das 20. Jahrhundert auffällig viele deutsche Schriftsteller: Celan, Jünger und Böll stehen dort teils unvermittelt nebeneinander.2 Ebenso ist auffällig, wie seine stets von Literatur begeisterten und informierten Figuren gleichzeitig »mit Kommunismus, Faschismus und Surrealismus«3 liebäugeln können. In ihrem (meist) linken Außenseitertum hegen sie Sympathien für alle Marginalisierten, für Benjamins Verlierer der Geschichte – wie Amalfitano in Los sinsabores del verdadero policía –, oder sind zugleich und doch vergeblich bestrebt, die Geschichte neu zu schreiben oder zumindest zu deuten – wie Udo Berger in El Tercer Reich. Vergleicht man diese beiden postum publizierten Romane Bolaños, die exemplarisch für die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Früh- und dem Spätwerk stehen können, so lässt sich daran 1 2 3
Valéry, Paul: Bemerkungen über den Fortschritt. In: ders.: Über Kunst. Essays. Frankfurt a.M. 1973, S. 118-126, hier S. 119. Vgl. Bolaño, Roberto: Das Dritte Reich, Übs. v. Christian Hansen. München 2011, S. 248 (Original: El Tercer Reich. Barcelona 2010, S. 283). Bolaño, Roberto: Die Nöte des wahren Polizisten, Übs. v. Christian Hansen. München 2013, S. 85 (Original: Los sinsabores del verdadero policía. Barcelona 2011, S. 105).
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erkennen: Diese Unterschiede in der Form und Erzählweise sind enorm. Eine chronologische und auf eine Figur zentralisierte Erzählweise in El Tercer Reich steht einer fragmentarischen und dezentralisierten Erzählweise in Los sinsabores del verdadero policía gegenüber. Trotzdem lassen sich an beiden die Denkbewegungen nachzeichnen, in denen Bolaño eine Aneignung und Verwandlung der Kritischen Theorie betrieb, die sein ganzes Werk umspannte. Bolaños Werk versteht sich in seiner Gesamtheit als kritische Auseinandersetzung mit den Katastrophen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Dabei unternimmt es den Versuch, die Trauer über diese Geschichte literarisch darzustellen. Es erzählt damit vom Ende des kurzen 20. Jahrhunderts her dessen Katastrophen in einer eigenen, intertextuell komplexen Verbindung von Literatur und Geschichte als seine Literaturgeschichte. Freilich in dem Wissen um die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens. Denn so sehr Bolaños Werk getragen ist von einer paradoxen, dem Pessimismus trotzenden Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, so wenig »vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie.«4
I.
Pessimismus auf der ganzen Linie
Zu der Parole »Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens«5 hat Antonio Gramsci 1920 in seiner »Rede an die Anarchisten« und im Rekurs auf Romain Rolland gemahnt, dem er die Losung zuschreibt, auch wenn die Nachwelt sie mit Gramsci verbindet. Dem Versuch, Theorie und Praxis, Kritik und Engagement derart vermeintlich dialektisch zu vereinen, gar zu versöhnen, wurde von der Kritischen Theorie häufig widersprochen. Es ist, als sei diese Parole »auseinandergefallen«.6 Walter Benjamin hat den Pessimismus
4 5 6
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970, S. 55. Gramsci, Antonio: Rede an die Anarchisten. In: ders.: Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1980, S. 53-59, hier S. 57. Wohlfarth, Irving: Dialektischer Spleen. Zur Ortsbestimmung der Adornoschen Ästhetik. In: Lindner, Burkhardt; Lüdke, W. Martin (Hg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne. Frankfurt a.M. 1980, S. 310-347, hier S. 325.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
und die Negativität in seinem Sürrealismus-Essay mit Blick auf die Werke Bretons, Aragons etc. zu dem politischen Programm erhoben: »Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und durchaus. Mißtrauen in das Geschick der Literatur, Mißtrauen in das Geschick der Freiheit, Mißtrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Mißtrauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen.«7 Dieses grundsätzliche Misstrauen in den Gang der Dinge zu bewahren, gar der »von Haß geschärfte Blick auf das Bestehende«,8 mag als eines der zentralen Anliegen der Kritischen Theorie gelten, wie sie prominent Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse oder Leo Löwenthal vertreten haben. Durch ein ähnliches Misstrauen und ein ähnliches Verständnis von geschichtlicher Erfahrung zeichnet sich das Werk Roberto Bolaños aus. Obwohl sich kaum direkte, nur indirekte Bezüge zu Gedanken und Theoremen der Kritischen Theorie bei ihm finden lassen, so ist doch eine tiefe Verwandtschaft bis hinein in die ästhetische Konstruktion zu erkennen. Dieser Aufsatz krankt dabei an einem methodischen Defizit: Was unter Kritischer Theorie zu verstehen ist, kann ich nur bedingt erklären. Diese wurde bis heute gleichermaßen zahlreich dokumentiert wie widersprüchlich ausgelegt. Verkürzt ließe sich der Anspruch der Kritischen Theorie aber verstehen als »konkret[e] Kritik entfremdeter und entfremdender gesellschaftlicher Verhältnisse.«9 Zwar attestieren die Vertreter der Kritischen Theorie der Kunst, »stets auch Ideologie«10 zu sein. Aber sie gestehen ihr zu, »Ausdruck für das Leiden«11 zu finden oder die »Rationalität der Negation«12 zu enthalten. Mit diesem heuristischen Anspruch, »Ausdruck für das Leiden« in der Literatur zu finden, die darüber vermittelt gar eine Kritik der Verhältnisse übt, versuche ich, Bolaños Werk im Kontext der Kritischen Theorie zu verstehen. 7
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11 12
Benjamin, Walter: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II, 1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Gerhard Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 295-310, hier S. 308. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung. München 1988, S. 298. Ebd., S. 13. Vgl. Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Bd. 5: »Dialektik der Aufklärung« und Schriften 1940-1950. Hg. v. Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt a.M. 1987, S. 11-290, S. hier 155. Ebd. Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zu Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Übs. v. Alfred Schmidt. Darmstadt/Neuwied 1967, S. 83.
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Bolaño als Geistesverwandten in der Denktradition der Kritischen Theorie zu lesen, geht von einem sehr vermittelten Verständnis von Intertextualität aus. Alleine die Liste der Namen aus der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte, die Bolaños Werk durchziehen, ist enorm. Beinahe beliebig genannt, obwohl dieser Band es an anderer Stelle deutlicher illustriert, seien etwa Hartmann von Aue, Goethe, Franz Kafka, Elias Canetti, Paul Celan, Thomas Bernhard. Ausgerechnet die Namen derjenigen, in deren Denktradition er hier gelesen wird, tauchen aber an keiner mir bekannten Stelle seiner Texte auf. Ob die Spuren ihres Denkens, die sich jedoch zweifelsfrei in seinem Werk identifizieren lassen, daher unter dem direkten Eindrucke der Kenntnis von etwa Benjamin oder Adorno entstanden, ob sie vermittelt über andere Autor*innen oder ob sie als Produkt eines ominösen Zeitgeistes Einzug in sein Werk fanden, ist daher Gegenstand der Spekulation.13 Nicht spekulativ ist jedoch die tiefe Verwandtschaft, die an zahlreichen Stellen mehr als nur zufällig aufscheint und der hier nachgegangen wird.
II.
Dichterisch leben: Los detectives salvajes und Estrella Distante
Karl Heinz Bohrer hat Walter Benjamins Sürrealismus-Essay so gedeutet, als hätte Benjamins »eigene Sprache […] den surrealistischen Klang angenommen« und sich die Maxime des Surrealismus – »Dichterisch leben!« – performativ angeeignet im »Ernstmachen mit dem Moralischen, dem Außerliterarischen, die allererste Witterung der Spur, auf der wir uns heute befinden, die blitzartige Erkenntnis, daß hier nicht einfach ›Dichtung‹ und dort nicht einfach ›Leben‹ ist.«14 Als legitime Erben der Surrealisten und ihrer
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Es gibt wenige weitere Versuche, Bolaño vor der Folie der Kritischen Theorie zu lesen: vgl. Balada Campo, Jordi: Ulises y Rimbaud en Roberto Bolaño, Los detectives salvajes. In : Romanische Studien 1 (2015), online verfügbar unter : www.romanischestudien.de/index.php/rst/article/view/11/66 (letzter Zugriff : 23.4.2017); Vásquez, Malva Marina : Pesimismo histórico y pensamiento apocalíptico en la narrativa de Roberto Bolaño. In: Amerika 15 (2016), online verfügbar unter: http://amerika.revues.org/766 (letzter Zugriff: 23.4.2017). Zur Rezeption der Kritischen Theorie in Lateinamerika gibt u.a. Rodrigo Duarte Auskunft (Deplatzierungen. Wiesbaden 2008). Ich danke Lukas Böckmann für die Hinweise. Bohrer, Karl Heinz: Surrealismus und Terror. In: Bohrer, Karl Heinz; Scheel, Kurt (Hg.): Die Botschaft des Merkur. Eine Anthologie aus fünfzig Jahren der Zeitschrift. Stuttgart 1997, S. 200-218, hier S. 207.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
maximalistischen Haltung, die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzusprengen, gerieren sich mehrere Figuren Bolaños. Die ungreifbaren, aus polyphoner Perspektive geschilderten Dichter Arturo Belano und Ulises Lima und andere Vertreter*innen des viszeralen Realismus in Los detectives salvajes haben »ihre Art, Politik zu machen.«15 Sie reden »über LITERATUR, über POLITIK, an den Pforten des Paradieses« (409/324), aber sie verweigern und entziehen sich konsequent beiden: »Aber je vertrauter sie uns wurden, je besser wir sie kennenlernten, je aufmerksamer wir ihnen zuhörten, um so öder wirkte ihre aufgesetzte Art, die unseren Widerspruch herausforderte. Keine Dichter, keine Revolutionäre, nicht einmal geschlechtliche Wesen, glaube ich« (416/329). Die Ellipse, in der das festzurrende »sie waren« fehlt, verstärkt den Schwebezustand, die Ungreifbarkeit dieser beiden Protagonisten, die nie selbst sprechen. Sie betont, wie sehr ihr politisches und literarisches Programm gerade in dieser Unbestimmbarkeit, im Nicht-Festzurren-Lassen liegt. Denn die Maxime, Dichtung und Leben, Politik und Literatur zu verbinden, macht die Hauptfiguren in Los detectives salvajes immer ungreifbarer. Weder ihre Freund*innen noch die Rezipient*innen vermögen zu sagen, worin sowohl ihre Politik als auch ihre Literatur genau bestünde. Ganz anders verhält es sich bei der Figur von Carlos Wieder, der beides, Literatur und Politik, auf weniger indifferente, sondern geradezu offensive Weise zu vereinen sucht. Wieders Projekt aus Estrella distante (bzw. Carlos Ramírez Hoffman in der Fassung aus La literatura nazi en América) »erscheint als unheimliche Wiederholung der europäischen Avantgarden im konkreten historischen Kontext der lateinamerikanischen Diktaturen nach 1945.«16 In seinen Texten unternimmt Wieder eine »spezifische Verschränkung von Avantgarde und Faschismus«.17 Seine Aktionen, etwa mit einer »Messerschmitt«18 biblische lateinische Texte am Himmel über Santiago de Chile zu schreiben, sind in ihrem flüchtigen Charakter im doppelten Sinne noch als Poetik der
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Bolaño, Roberto: Die wilden Detektive, Übs. v. Heinrich von Berenberg. München 2 2010, S. 405 (Original: Los detectives salvajes. Barcelona 1998, S. 321). Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben direkt im Text nachgewiesen, das Original daneben. Sellami, Samir: Zur Politik der Intertextualität in Roberto Bolaños Estrella Distante. In: Romanische Studien 1 (2015), S. 111-134, hier S. 119. Ebd., S. 116. Bolaño, Roberto: Stern in der Ferne, Übs. v. Christian Hansen. Frankfurt a.M. 1996, S. 40. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben direkt im Text nachgewiesen.
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Vergänglichkeit lesbar. Nichtsdestotrotz sind sie aber in ihrem avantgardistischen Gestus ebenso faschistisch, wie es schon der Kontext und Titel von La literatura nazi en América suggeriert. Es sind Texte, »die sich als größenwahnsinnige Diagramme der gesamten Literaturgeschichte artikulieren.«19 Erst recht aber Wieders Ausstellung von Fotografien schreibt sich in eine faschistische Ästhetik ein. Die Bilder von gefolterten und ermordeten Opfern der Militärdiktatur unter Pinochet nehmen die Vergänglichkeit motivisch wieder auf, negieren sie aber im Medium. Bolaños mehrfache Vermittlung – ein Vorwort weist die Autorinstanz als Verfasser von La literatura nazi en América und einen »Landsmann« von Arturo B. aus (7) – dieser Ästhetik ist nur eines der vielen Beispiele, in denen das Böse in seinem Werk Ausdruck findet. In Estrella distante wird Wieders Dichtung in Analogie gesetzt zu Borges’ berühmtem Urteil über Beckfords Vathek, bei dem »wir es mit der ersten wirklich grauenhaften Hölle der Literatur zu tun haben« (129).20 Jedoch stellt Bolaño »nicht einfach das Böse dar, sondern die Struktur des imaginativen Bewußtseins ist auf eine solche Darstellung angelegt.«21 Anders als es Borges ästhetische Kategorie des Bösen intendiert, ist Bolaños Werk aber nicht nur dort von einer »semantische[n] Organisation«22 des Bösen durchzogen, wo es »sich der Stiftung von Sinn entzieht«.23 Es zeugt so wie in Los detectives salvajes auch von einer Strategie der Verweigerung, dem »Scheitern der Literatur, das Scheitern auch von Estrella Distante, an der Übermacht der historischen Wirklichkeit, gegen die es nur im fiktionalen und letztlich fantastischen Register der Literatur, nicht aber in der Realität Widerstand leisten kann.«24 Diese Gesten des Widerstands, der Verweigerung und des Misstrauens bleiben literarisch, etwa wenn der intradiegetische Bolaño und Arturo B. »anhand des letzten Kapitels [aus Naziliteratur] und des Diktats seiner Träume und Alpträume den jetzt vorliegenden Roman« (7) erstellen; oder wenn das letzte Kapitel, das mit der vermutlichen Ermordung Wieders endet (eine »Vergeltung an der historischen Wirklichkeit«25 ), die der Figur B. weniger Genugtuung als vielmehr Un-
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Sellami: Zur Politik der Intertextualität, S. 111. Vgl. auch: Borges, Jorge Luis: Vorwort. In: Beckford, William: Vathek. Frankfurt a.M./Wien/Zürich 2007, S. 7-11, hier S. 9. Bohrer, Karl Heinz: Das Böse – eine ästhetische Kategorie? In: Bohrer; Scheel (Hg.): Die Botschaft des Merkur, S. 363-378, hier S. 377. Ebd., S. 376. Ebd., S. 377. Sellami: Zur Politik der Intertextualität, S. 134. Ebd.
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behagen bereitet, mit einer Absage an die Welt – und mithin an die Kunst und die Literatur – eingeleitet wird: »Dies ist meine letzte Botschaft vom Planeten der Monster. Nie wieder werde ich in die uferlose Scheiße der Literatur eintauchen« (152). Wie Benjamins Sürrealismus-Aufsatz lässt sich Estrella Distante exemplarisch für andere Werke Bolaños als der Versuch einer »Übertragung individueller in kollektive geschichtliche Erfahrung«26 verstehen. Bolaño seziert mit seinen Figuren die Grenze zwischen Leben und Kunst/Literatur von ideologisch entgegengesetzten Seiten. Belano und Lima und andere Dichter*innen des viszeralen Realismus sympathisieren unzweifelhaft mit der undogmatischen Linken. Wieder dagegen verschreibt sich später den Barbarischen Literaten, einer Bewegung, die er womöglich begründet hat und deren programmatische Selbstbezeichnung ihre faschistische Haltung nicht verhehlt. Bolaño entwickelt hier eine Denkfigur, die an Benjamins Einsicht erinnert, dass der »Schritt zur offenen Sympathie mit dem Faschismus«, wie ihn die Barbarischen Literaturen vollzogen haben, aus der »Position einer Intelligenz« erwächst, »die auf ihre Weise eine barbarische Kultur, nämlich die Kultur barbarischer Eliten proklamierte.«27 Das Bewusstsein darüber, dass »Barbarei […] die andere Seite der Kultur«28 sei, dass sie »im Begriff der Kultur selbst« stecke,29 dass schließlich »niemals ein Dokument der Kultur« sei, »ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein«,30 ist eine der zentralen Einsichten der Kritischen Theorie und ihrer dialektischen Kulturkritik. Bolaños Werk teilt diese Einsicht. Seine Ästhetik des Bösen, so sie denn als solche gefasst werden kann, ist von dem Misstrauen in die Kultur und dem Bewusstsein geprägt, wie schnell diese in Barbarei umschlagen kann. Selbst die in den Texten enthaltenen ironischen Anverwandlungen von Denkfiguren, die näher an der sogenannten Konservativen Revolution zu verorten sind, transportieren dieses Misstrauen. Die 26
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Barck, Karlheinz: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In: Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 386-399, hier S. 391. Lindner, Burkhardt: Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins »Positives Barbarentum« im Kontext. In: ders. (Hg.): »Links hatte noch alles sich zu enträtseln …« Walter Benjamin im Kontext. Frankfurt a.M. 1978, S. 180-223, hier S. 219. Adorno; Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 135. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V, 1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1991, S. 584. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte. Handexemplar. In: ders.: Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß. Bd. 19. Hg. v. Gérard Raulet. Berlin 2010, S. 30-43, hier S. 34.
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Faszination für Faschismus und Nazismus, die Bolaños Werk durchzieht – exemplarisch belegen das schon die Titel La literatura nazi en América und La Tercer Reich –, folgt trotzdem der Perspektive, die Barbarei zu entlarven, die darin steckt.
III.
In einem erinnerungslosen Europa ohne Heldentum und epische Größe: El Tercer Reich
Der Protagonist aus El Tercer Reich teilt gewiss nicht zufällig seinen Nachnamen mit jenem »Berger« aus Ernst Jüngers Afrikanische Spiele.31 Er teilt mit ihm auch eine negative Weltsicht, die sich aus einer Depression gar zu einer Art Paranoia steigert. Er fühlt sich in seinem Spanienurlaub »›[a]llein in einem wüsten Land‹ […]. In einem erinnerungslosen Europa ohne Heldentum und epische Größe.«32 Das Dritte Reich, ein früher, zwar abgeschlossener, aber erst postum veröffentlichter Roman Bolaños,33 erzählt von einem doppelten Spiel. Udo Berger behauptet, er sei kein Nazi, »[e]her schon ein Nazigegner« (272/311). Er ist jedoch begeisterter Spieler des Strategiespiels »Das Dritte Reich«, Leser von Fanzines mit so eindeutig nazistischen Titeln wie Totenkopf (im Original deutsch), Gewaltmärsche (32/im Original 38: »Marchas Forzadas«), Feuersturm und Stahlgewitter (101/im Original 117: »Fuego y Acero«), durchaus mit Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg wie Heimito Gerhardt befreundet, einem »eisernen Mann« von »solcher Redlichkeit«, die »man nur noch in Deutschland finden« könne (33/39), und er spricht emphatisch von »unsere[r] vaterländische[n] Literatur« (40/48). Seine Liebeserklärung an die Hotelbesitzerin Frau Else, mit der er eine Affäre hat, artikuliert er durch die metonymische Personifikation: »Du bist Deutschland« (268/305). Berger arbeitet an einem Artikel über das Brettspiel und findet im Urlaub unverhofft einen interessierten Spielpartner. Ausgerechnet der »Verbrannte«, der zwischen seinen Ruderbooten wie in einem »Kaninchenbau« (90/105) oder einer »Festung« (96/111) haust, spielt schließlich gegen ihn. Für Berger hat er etwas vom »Guten Wilden« (61/72) und wird mit antisemitischen Projektionen
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Vgl. Jünger, Ernst: Afrikanische Spiele. München 1955, S. 5. Bolaño: Das Dritte Reich, S. 102 (Original: El Tercer Reich, S. 117f.). Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben direkt im Text nachgewiesen, das Original daneben. Vgl. die »Anmerkungen des Übersetzers«, in: ebd., S. 316.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
belegt, denn er ist »eine Art emsiger Golem« (123/142). Ebenso wie Frau Elses Mann, der den »Verbrannten« bei dem Spiel heimlich unterstützt, wird er von Berger als »der Feind« (157/180) bezeichnet. Bergers Freund Conrad hält ihn schließlich für den »Teufel« (175/200); das Spiel wird als metaphysischer Kampf inszeniert: »›Was hast du geglaubt, was auf dem Spiel steht? Meine Seele?‹ Ich lachte […] ›Der Faust der Kriegsspiele‹, lachte Conrad wie das aus Stuttgart zurückgeworfene Echo meines eigenen Gelächters« (180/205). Es folgen zahlreiche weitere Warnsignale für die drohende Niederlage, die Berger wahrnimmt, aber in seiner Selbstüberschätzung ignoriert. Er hört den »Klang eines Horns«, das ihn an das »Horn der Gefahr« erinnert, an »den Weckruf der Ahnen, die Stimme des Blutes, die dich warnt« (63/74), wie es in dunkler und raunender Sprache heißt. Eine weitere Vorausdeutung auf den offensichtlichen Ausgang des Spieles ist von Anfang an gegeben, denn die beiden Spieler arbeiten die reale Geschichte nach: Die »globale Situation auf der Karte ähnelte in gewisser Hinsicht der historischen Situation, was übrigens selten vorzukommen pflegt, wenn erfahrene Spieler aufeinandertreffen« (154/175). Entsprechend wiederholt Berger die historischen »Fehler« – »Der gravierendste: So früh die Sowjetunion anzugreifen« (280/319) –, obwohl er sein Interesse an dem Spiel mit der gegenteiligen Intention rechtfertigt: »Diese Art von Spielen weckt einen ziemlich seltsamen dokumentarischen Drang. So als wollten wir alles wissen, was damals gemacht worden ist, um besser zu machen, was man falsch gemacht hat« (237/270). Bergers Motive für das Spiel wandeln sich, aber liegen offen. Aus anfänglich bloßem Zeitvertreib erwächst eine Aufgabe. Über die Motive des »Verbrannten« dagegen kann wie über seinen Charakter nur spekuliert werden, da die auf Berger intern fokalisierte Perspektive nur dessen Projektionen vermittelt. Es bleibt unklar, warum der »Verbrannte« versehrt ist, ob er vielleicht antideutsche Ressentiments hegt – und erst recht, ob diese Berger aus einem Selbsthass heraus anziehen. Während Frau Else Bergers Niederlage als »Sühneleistung« (265/302) antizipiert, droht Frau Elses Mann Berger unverhohlen damit, dass das Spiel im Leben der Figuren fortgesetzt wird: »›Was also wird er mit mir [nach dem Ende des Spiels] machen?‹ ›Was man mit Nazischweinen immer macht, prügeln, bis sie platzen. Im Meer verbluten lassen! Mit Ihrem Freund, dem Windsurfer, nach Walhalla schicken!‹ […] ›Der Verbrannte ist Südamerikaner?‹ ›Warm, wärmer …‹
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›Und die Verbrennungen an seinem Körper …‹ ›Heiß! Gewonnen!‹« (285-286/325-326). Damit erweitert Bolaño den europäischen Kontext des dargestellten Konfliktes und deutet eines seiner später zentralen Themen an: »[d]as lateinamerikanische Trauma«.34 Die Niederlage im Spiel führt schließlich zu dem lange angekündigten Kampf. In der prophezeiten »Sühneleistung« lässt Berger die Bestrafung durch den »Verbrannten« als »Dulder« über sich ergehen: »Ich leistete keinen Widerstand, ich bat um nichts mehr, ich schloss nicht die Augen, außer als ich am Kragen und im Schritt gepackt die Reise ins Innere antrat; da allerdings schloss ich die Augen und fand mich in einem anderen weniger schwarzen, aber nicht hellen Tag wieder, als der ›ungebetene Gast‹ aus Und Friede auf Erden, und sah den Verbrannten die Stadt und das Land verlassen, auf einem gewundenen Weg aus Comicstrips und Albträumen (aber welches Land? Spanien? Die EWG?), als der ewige Dulder« (305/347). Wie lässt sich die Exegese dieses Textes nun in den Kontext der Kritischen Theorie rücken? Auf den ersten Blick scheint kein Text Bolaños davon weiter entfernt zu sein. Die Gestaltung der Figur Bergers weist diesen als Rechtsintellektuellen aus. Der gesamte Text gehorcht einer Ordnung, die ihn als eine Art Pastiche auf Ernst Jünger lesbar machen könnte. Doch genau darin besteht eine entscheidende Differenz. Berger ist zweifelsfrei eine nihilistische Figur, seine Träume sind fatalistisch und sein Geschichtsverständnis folgt mit Blick auf die NS-Vergangenheit, wenn auch keinem revisionistischen Bestreben, so doch einem verklärenden. Mit Blick auf die Zukunft erwächst aus seiner persönlichen Negativität auch eine universelle Verfallsgeschichte, die mit nazistischem Vokabular kontaminiert ist. Daher ist seine negative, pessimistische Weltsicht an keiner Stelle mit dem Misstrauen Benjamins vergleichbar. Die bereits zitierte Referenz auf T.S. Eliot unterstreicht dies. Wenn Berger sich »›[a]llein in einem wüsten Land‹« fühlt, in »einem erinnerungslosen Europa ohne Heldentum und epische Größe« (102/117-118), so ist der raunende Klang seiner Klage unmittelbar in die Nähe des Jargons Spenglers oder anderer Kulturpessimisten gerückt. Allein der Anspruch seines Artikels
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Valdivia Orozco, Pablo: Weltenvielfalt. Eine romantheoretische Studie im Ausgang von Gabriel García Márquez, Sandra Cisneros und Roberto Bolaño. Berlin/Boston 2013, S. 429.
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über das Brettspiel »Das Dritte Reich« gleicht der »hemmungslosen Uebertragung der Thesen des L’Art pour l’Art auf den Krieg«,35 wie sie Benjamin Jüngers Sammelschrift »Krieg und Krieger« attestierte. Bolaños Unterfangen ist in dem Frühwerk bereits ein dezidiert ideologiekritisches, das sich erst recht in La literature nazi en América und Estrella distante fortsetzt, jedoch aus anderer, extern fokalisierter Perspektive. In fast allen folgenden Werken sind die Protagonist*innen Bolaños Schriftsteller*innen (obwohl auch Berger Tagebuch schreibt), Künstler*innen, Kritiker*innen, gesellschaftliche Außenseiter*innen. Berger wird durch die interne Fokalisierung in beängstigender Nähe inszeniert. Darin entsteht das dialektische Spannungsfeld, dass er sich in dem »Verbrannten« einer unzivilisierten Gestalt der Barbarei gegenüber zu sehen meint, deren Ahne er aber selbst ist – so sehr er sich als Kulturmensch geriert. Doch genau hier »ist das Element der Barbarei an der Kultur selber zu durchdringen.«36 Darin sieht auch Pablo Valdivia Orozco den besonderen Beitrag Bolaños, der in »der romanhaften Aneignung von Welt […] vielmehr darin [besteht], dass er ihre Geschichte dadurch gegen die Katastrophe behauptet, dass er den Verlust von Geschichte immer wieder aufs Neue nachzeichnet und sich so gegen die Verfestigung der Katastrophe wendet, gegen die Verkrustung des Sinns und gegen die Kollektivierung der Meinung. Statt um spezifische Positivität geht es um einen spezifischen Widerstand.«37 Dieser Widerstand wird dabei in der ästhetischen Gestaltung entfaltet. El Tercer Reich wird ungewöhnlich konsequent chronologisch erzählt und die Verfallsideologie Bergers verhält sich analog zu seinem Zerfall. In beinahe allen nachfolgenden Werken betreibt Bolaño einen »Exzess des Fragments«.38 Auch wenn postum publizierte Romane wie 2666 und Los sinsabores del verdadero policía notwendigerweise Fragment geblieben sind, so folgen sie doch einer absichtsvollen Ästhetik des Fragmentarischen. Ein kryptisches Lob des 35
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Benjamin, Walter: Theorien des deutschen Faschismus. In: ders.: Kritiken und Rezensionen. Bd. 1. Werke und Nachlaß. Bd. 13.1. Hg. v. Heinrich Kaulen. Berlin 2011, S. 256269, hier S. 259. Adorno, Theodor W.: Spengler nach dem Untergang. In: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften. Bd. 10.1. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt a.M. 1977, S. 47-71, hier S. 71. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt, S. 429. Ebd., S. 426.
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Fragments findet sich in dem Gedicht Dino Campana blickt in der Psychiatrie von Castel Pulci zurück auf sein Leben, in dem der Chemiker und Vagabund erinnert: »Vielleicht Fragmente, ja, und deshalb kam ich in die Irrenhäuser, die Gefängnisse. Fragmente, lichterlohe Silben.«39
IV.
Das Neue, das, was immer schon da war: Los sinsabores del verdadero policía
Adorno befasst sich in seiner (ebenfalls Fragment gebliebenen) Ästhetischen Theorie mit der »Kategorie des Fragmentarischen«. Dort ist »das Bruchstück […] der Teil der Totalität des Werkes, welcher ihr widersteht.«40 Das Fragmentarische ist eine Grundfigur dieser Theorie, nach der es »keine vollkommenen Werke gibt. Existierten sie, so wäre tatsächlich die Versöhnung inmitten des Unversöhnten möglich, dessen Stand die Kunst angehört. In ihnen höbe Kunst ihren eigenen Begriff auf; die Wendung zum Brüchigen und Fragmentarischen ist in Wahrheit Versuch zur Rettung der Kunst durch Demontage des Anspruchs, sie wären, was sie nicht sein können und was sie doch wollen müssen; beide Momente hat das Fragment.«41 Bolaño hat das Fragmentarische zum Programm erhoben. Ebenso kann dies für Bolaños im Spätwerk zentrale Autorfigur Archimboldi gelten. Denn dieser ist jemand, »der nicht vorgab, das Unversöhnliche zu versöhnen, wie es heute Mode ist.«42 Das Urteil über dessen fiktiven Roman Racine ließe sich als Poetologie Bolaños selbst lesen, die mit der im Vorwort zu Los sinsabores del verdadero policía zitierten Briefstelle korrespondiert, der Roman solle »ein aberwitziges Verwirrspiel« sein, »das niemand durchschaut«:43 »Eine fragmentarische, in 39 40 41 42 43
Bolaño, Roberto: Die romantischen Hunde, Übs. v. Heinrich von Berenberg u. Christian Hansen. München 2017, S. 41 (Original: Los perros románticos. Barcelona 2006, S. 47). Adorno: Ästhetische Theorie, S. 74. Ebd., S. 283. Bolaño, Roberto: 2666, Übs. v. Christian Hansen. München 2009, S. 137 (Original: 2666. Barcelona 2004, S. 142). Masoliver Ródenas, Juan Antonio: Vorwort: Zwischen Abgrund und Unglück. In: Bolaño: Die Nöte des wahren Polizisten, S. 7-12, hier S. 7. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben direkt im Text nachgewiesen, das Original daneben.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
kalte Abschnitte unterteilte Biographie ohne erkennbaren roten Faden, vielleicht eine Sammlung von Prosagedichten« (169/207-208). Los sinsabores del verdadero policía ist u.a. eine fragmentarische Biografie des Übersetzers und Literaturwissenschaftlers Amalfitano. Ihm widmete sich schon der zweite Teil von 2666. Dort wird er charakterisiert als »Fußsoldat einer von vornherein verlorenen Schlacht gegen die Barbarei oder, weniger melodramatisch, als de[r], der er letztlich war, ein melancholischer Philosophieprofessor«.44 Er ist geschult in der »Strenge des dialektischen Materialismus« (119/147), unterrichtet »für einen Hungerlohn Hegel, Feuerbach, Marx, Engels, Lenin« (214/258) und teilt eine fundamentale Erkenntnis der Kritischen Theorie, wie sie sich etwa in Adornos berühmter Umkehrung Hegels in »Das Ganze ist das Unwahre«45 findet, als Amalfitano »begriff, was er im Grunde immer gewusst hatte: dass die Totalität unmöglich ist, dass die Erkenntnis eine Methode ist, Bruchstücke zu klassifizieren.« (214/259) Erneut lässt sich diese Äußerung poetologisch deuten. Los sinsabores del verdadero policía entzieht sich bewusst einem roten Faden. Es enthält dabei durchaus Bruchstücke, die dem grundsätzlichen Misstrauen und Pessimismus des Werkes ein zartes Glücksversprechen entgegensetzen. Dieses Glück bleibt aber beschränkt auf die Literatur. Zu Adornos Satz »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen«46 gibt es eine Entsprechung in Bolaños eigenen Reflexionen über die »versetzend[e] Erfahrung des Exils«47 . Denn die »Heimat des wahren Schriftstellers ist seine Bibliothek, die aus Regalen oder aus seinem Gedächtnis besteht.«48 Amalfitanos Geschichte ist die einer zunehmenden Melancholie. Diese ist bedingt durch seine Erfahrung des Exils und zudem durch seine spät entdeckte Homosexualität. Beides steht paradigmatisch für Bolaños Interesse an Außenseitern, das er mit Amalfitano teilt. In einem der »Bruchstücke« oder »Prosagedichte«, die in fragmentarischer Anordnung seine Melancholie nachvollziehen, beklagt er sein »Übel«:
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Bolaño: 2666, S. 148 (Original: S. 152). Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften. Bd. 4. Hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz. Frankfurt a.M. 2003, S. 55. Ebd., S. 98. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt, S. 430. Bolaño, Roberto: Literatur und Exil. In: ders.: Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiographie, Übs. v. Kirsten Brandt u. Heinrich von Berenberg. Berlin 2008, S. 37 (Original: Entre paréntesis. Barcelona 2004, S. 43).
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»Am Ursprung meines ganzen Übels, dachte Amalfitano manchmal, steht meine Bewunderung für Juden, Homosexuelle und Revolutionäre […]. Am Ursprung meines ganzen Übels, dachte er, steht meine Bewunderung für Drogensüchtige […]. Am Ursprung meines ganzen Übels steht meine Bewunderung für Verbrecher, Prostituierte und geistig Verwirrte, sagte sich Amalfitano verbittert. Als Jugendlicher wollte ich Jude sein, Bolschewik, Neger, Homosexueller, Drogensüchtiger und schräger Vogel, am besten noch einarmig, aber ich bin nur Literaturprofessor geworden. Zum Glück habe ich Tausende Bücher lesen können, dachte Amalfitano. Zum Glück habe ich Dichter kennengelernt und Romane gelesen. (Dichter waren für Amalfitano menschliche Wesen so hell wie der Blitz und Romane Geschichten, die der Quelle des Quijote entsprangen.) Zum Glück habe ich gelesen. Zum Glück kann ich noch lesen, sagte er sich skeptisch, halb zuversichtlich« (102/127128). In der dreimaligen Wiederholung der Formel »Am Ursprung meines ganzen Übels« wird Amalfitanos Sympathie für die »Tradition der Unterdrückten«49 markiert. Sie wird unterbrochen von der Erinnerung »Als Jugendlicher«, in der noch einmal alle Marginalisierten aufgezählt werden, denen Amalfitano gleichen wollte. Diese mündet in der Trauer, »nur Literaturprofessor geworden« zu sein. Das »nur« verkehrt die materialistischen Verhältnisse. Sein gesellschaftlicher Status als Professor ist trotz der prekären Lage, in der er sich konkret befindet, und trotz persönlicher Rückschläge um vieles besser als die Aussichten jener Verfolgten, Unterdrückten, Benachteiligten. Aus dem lange nicht-eingelösten Wunsch, in der Reihe dieser Unterdrückten zu stehen, der sich durch seine neu entdeckte Homosexualität gewissermaßen erfüllt, lässt sich eine Resignation ablesen. Doch zugleich darf die Erkenntnis über die Unterdrückten nicht zu einer »Verherrlichung von Differenz und Identität«50 führen. Nur in der »Emanzipation der Gesellschaft als solcher« liegt das »Geheimnis der Emanzipation der Indígenas, Frauen, Homosexuellen, Lesben und aller von der Mehrheitsgesellschaft als ›Andere‹ Bezeichneter«.51 Amalfitanos Resignation gleicht Benjamins Erkenntnis: »Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«52 Doch seine Traurigkeit wird schließlich vom viermali49 50 51 52
Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 35. Gandler, Stefan: Frankfurter Fragmente. Essays zur kritischen Theorie. Frankfurt a.M. 2013, S. 122. Ebd., S. 124. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 592.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
gen Parallelismus »Zum Glück« abgelöst, der Amalfitanos Rettung erfasst: das Lesen. In dieser »Vorstellung des Glücks« schwingt »die der Erlösung mit.«53 Diese glückliche und erlösende Rettung lässt sich abermals mit einem Eintrag Adornos aus der Minima Moralia deuten. Dort heißt es, »kein Glücklicher [kann] je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. […] Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.«54 Auf genau diese Formel kann Amalfitanos Glück gebracht werden. Er drückt seinen Dank an die Literatur aus. Hier deutet sich eine Versöhnung mit der Vergangenheit an, die aber nur auf den literarischen Bildraum beschränkt bleiben kann. Dieses Moment einer angedeuteten Versöhnung enthält damit immer das Moment ihrer Uneinlösbarkeit in der außerliterarischen Welt. Denn »man kann niemals […] positiv ausführen, was das richtige Leben ist.«55 Im negativsten Fall gleicht diese uneinlösbare Versöhnung gar einer Flucht, wie sie in Los detectives salvajes vorgeführt wird. Dort berichtet Ulises Lima von den bedrohlichen Inseln der Vergangenheit und der Zukunft: »Zwei dieser Inseln seien wie aus dem Märchen. Die Insel der Vergangenheit, sagte er, wo einzig die vergangene Zeit existiere, deren Bewohner sich langweilten und einigermaßen zufrieden seien, wo jedoch das Gewicht des Illusorischen so groß sei, daß die Insel mit jedem Tag tiefer im Fluß versinke. Und die Insel der Zukunft, wo einzig und allein die zukünftige Zeit existiere, deren Bewohner verträumt und aggressiv seien, so aggressiv, sagte Ulises, daß sie sich bestimmt eines Tages gegenseitig auffressen würden« (464/366367). Jede der Inseln für sich ist in einer bestimmten Zeit gefangen. Erst die Dialektik aus Vergangenheit und Zukunft weist einen Ausweg aus der destruktiven Versenkung in das eine oder das andere. Amalfitanos Dank für sein Glück, gelesen zu haben, steht dem Dank gegenüber, noch lesen zu können. Wenn Amalfitano sich dabei ein Glück in der Vergangenheit und in der Zukunft vergegenwärtigt, ist das eine optimistische Wendung, die gekoppelt ist an Bolaños tröstende Andeutung eines Glücks, nach der »Reisen, Sexualität und Bücher Wege sind, die nirgendwo hinführen, auf die man sich aber dennoch
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Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 31. Adorno: Minima Moralia, S. 126. Hager, Frithjof; Löwenthal, Leo: Gespräche. In: Hager, Frithjof (Hg.): Geschichte denken. Ein Notizbuch für Leo Löwenthal. Leipzig 1992, S. 28-77, hier S. 74.
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begeben muss, um sich zu verirren und wiederzufinden oder um etwas zu finden, was auch immer, ein Buch, eine Geste, einen verlorenen Gegenstand, irgend etwas, vielleicht eine Methode, mit etwas Glück: das Neue, das, was immer schon da war.«56 Diese Methode ähnelt Benjamins »›Jetzt der Erkennbarkeit‹«, das identisch »wäre mit dem Moment des Erwachens«.57 Das Neue, das immer schon da war, wird erst wahrgenommen, wenn es als Neues erkannt wird. In dieser Paradoxie steckt schon das dialektische Bild einer Gegenwart, die nicht von der Vergangenheit überlagert wird, aber von ihr durchdrungen ist; und die als Jetztzeit nicht nur auf die Zukunft gerichtet ist, sondern diese aus der aktuellen Perspektive und im Eingedenken an die Vergangenheit in den Blick nimmt.
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Der Autor behält sich die »Traumwelt« vor: Last Exit to El Paso
In seinem Roman Last Exit to El Paso nimmt Fritz Rudolf Fries zahlreiche Figuren und Motive aus Bolaños »Weltbuch«58 2666 auf. Fries schreibt die Geschichte von »Bolaños Kritiker[n] Pelletier, Espinoza und Morini, Germanisten mit einem Spezialthema: die Romane des ominösen Benno von Arcimboldi« (31) fort. Sie führen ein »Geistergespräch in einer Huldigung für den chilenischen Autor und seinen Übersetzer Christian Hansen mit den Figuren des Romans [2666]« (7). In einer ständigen Metafiktion werden das Verhältnis von Kunst/Literatur und Leben und das Verhältnis von Literatur zu Literatur verhandelt. In beinahe didaktisch anmutenden rhetorischen Fragen wird resignativ die Aussichtslosigkeit politisch engagierter Literatur vergegenwärtigt: »Denn wer glaubt heute noch, dass eine gesellschaftskritische Literatur etwas am Zustand der Gesellschaft ändern könnte?« (102). Die Durchdringung von Kunst und Leben wird in der paradoxen Wechselwirkung gefasst: »Nichts ist ärger, als wenn das Leben anfängt, die Kunst zu imitieren« (77). Da das Leben hier aber das Leben der Figuren in der erzählten Welt meint, verbleibt diese Frage metafiktionales Spiel. Jedoch nimmt sie noch einmal die Erkenntnis, »daß hier nicht einfach ›Dichtung‹ und dort nicht einfach
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Bolaño, Roberto: Literatur + Krankheit = Krankheit, Übs. v. Peter Kultzen. In: ders.: Der unerträgliche Gaucho. München 2006, S. 142-168, hier S. 168. Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 579. Fries, Fritz Rudolf: Last Exit to El Paso. Göttingen 2013, S. 150. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate mit Seitenangaben direkt im Text nachgewiesen.
Pessimismus des Lebens, Optimismus der Literatur
›Leben‹ ist«,59 ironisch auf. Die Literatur wird bei Fries als Traumgebilde entfaltet, das gleichzeitig von der Fähigkeit zum Erleben imprägniert sein muss: »Im Traum, denkt der alte Mann, ließen sich die Fragmente seiner Vergangenheit zu einem Roman verdichten. Ein Roman, auf den die Kritiker warten müssen, solange das letzte Kapitel nicht geschrieben – nein, erlebt worden ist« (14). Fries zielt dabei auf das konstruierte Spiel ab, alles, was der alte Mann im Folgenden erlebt, könne auch ein Traum gewesen sein, ein »ROMAN ZWISCHEN TRAUM UND WIRKLICHKEIT« (191). Während Fries’ Roman sich fast in der Geste der Huldigung an Bolaño erschöpft (und darum auch weiß), trifft er doch einen entscheidenden Punkt aus dessen Werk. Dort wird der Konstruktionscharakter des Werkes nie derart manifest. Die fragmentarische Gestaltung, ihr »Abgebrochensein« – ob absichtsvoll, wie in zu Lebzeiten publizierten Texten, ob womöglich intendiert, wie in den postumen 2666 und Los sinsabores del verdadero policía – bewahrt das »Rätselhafte der Kunstwerke«.60 In den Romanen El Tercer Reich und Los sinsabores del verdadero policía werden zwei traurige bzw. melancholische Gestalten aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Während Udo Bergers persönlicher Zerfall seine fatalistische und nihilistische Weltsicht spiegelt, rettet Amalfitano sein Verständnis von Dialektik, während er sich sein Misstrauen bewahrt. Obwohl an keiner Stelle explizit auf die Kritische Theorie oder deren Denker verwiesen wird, lässt sich Amalfitanos Verständnis von Kunst und Gesellschaft vor dieser Folie lesen. Die rettenden Momente, ebenso wie die pessimistischen, die in seinem Denken aufscheinen, lassen sich schlaglichtartig als Grundkonzepte von Bolaños Schreiben identifizieren, die alle Phasen seines Werkes durchziehen. Berger wird, wie auch Wieder oder die Protagonisten aus La literatura nazi en América, nicht nur vorgeführt, sondern ideologiekritisch als Stellvertreter einer Politik entlarvt, die Bolaño persönlich ins Exil trieb, die aber auch ein grundsätzliches lateinamerikanisches Trauma bewirkte, bei der die »chilenisch[e] Katastrophe […] mehr [behandelt] als eine nationale Tragödie«.61 Bolaño zeigt, »dass die Wirklichkeit der Literatur […] vielmehr jenes Medium ist, das genau diese Grenze zum Leben immer wieder ausstellt und affirmiert und es dadurch lebendig im Sinne von wi(e)derlesbar hält.«62 Seine Geschichten
59 60 61 62
Bohrer: Surrealismus und Terror, S. 207. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 191. Valdivia Orozco: Weltenvielfalt, S. 476. Ebd., S. 487.
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Chris W. Wilpert
und seine Erzählweise eröffnen auf literarischem Terrain einen dialektischen Blick, der – im Sinne Benjamins – das Misstrauen nicht über den Optimismus siegen lässt und zu sagen scheint: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«63
63
Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandtschaften. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I, 1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1991, S. 123-201, hier S. 201.
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
Reinhard Berron, Dr. des., geb. 1982, Studienrat, bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zentrale Publikationen: Elemente grotesken Erzählens in der europäischen Versnovellistik. Köln 2021 (Kölner Germanistische Studien, Neue Folge); zus. m. Christian Seebald: Die neue Berliner Handschrift mgo 1430. Ein bedeutendes Zeugnis zur Märenüberlieferung des 14. Jahrhunderts. In: ZfdA 145 (2016), S. 319-342; Sibotes ›Frauenerziehung‹; Die Handschrift Rom, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1361. In: ZfdA 143 (2014), S. 24-56; Einige Bemerkungen zu übersetzten Namen in der Diemeringen-Version von Mandevilles ›Reisen‹. In: Christiane Ackermann u. Ulrich Barton (Hg.): »Texte zum Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Tübingen 2009, S. 219-229. Stephanie Catani, Univ.-Prof. Dr. phil., Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität des Saarlandes. Zentrale Publikationen: zus. m. Stephanie Waldow (Hg.): NonPerson. Grenzen des Humanen in Literatur, Kultur und Medien. Paderborn 2020 (Ethik – Text – Kultur, 15); zus. m. Julia Schöll (Hg.): Sibylle Berg. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, H. 225 (1/2020); Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen 2016; Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005 (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie, 28). Gabriele Eckart, Prof. Dr. phil., geb. 1954, Professorin für Deutsch und Spanisch an der Southeast Missouri State University. Zentrale Publikationen: zus. m. Meg Brown: Shifting Viewpoints. Cervantes in Twentieth-Century and Early Twenty-First-Century Literature Written in German. Newcastle 2013;
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Roberto Bolaño: Autor und Werk im deutschsprachigen Kontext
Sprachtraumata in den Texten Wolfgang Hilbigs. New York 1996; So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Köln 1984. Héctor Hoyos, Associate Professor, Ph.D., geb. 1978, Direktor des Instituts für iberische und lateinamerikanische Kulturen und des Arbeitsbereichs für modernes Denken und Literatur an der Stanford University. Zentrale Publikationen: Los Aleph. Bolaño y la novela global latinoamericana. Bogotá 2020; Things with a History. Transcultural Materialism and the Literatures of Extraction in Contemporary Latin America. New York 2019; Beyond Bolaño. The Global Latin American Novel. New York 2015. Susanne Klengel, Univ.-Prof. Dr. phil., Professorin für Literaturen und Kulturen Lateinamerikas am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Zentrale Publikationen: Jünger Bolaño. Die erschreckende Schönheit des Ornaments. Würzburg 2019; zus. m. Alexandra Ortiz Wallner (Hg.): SUR/SOUTH. Poetics and Politics of Thinking Latin America/India. Madrid/Frankfurt 2016; Die Rückeroberung der Kultur. Lateinamerikanische Intellektuelle und das Europa der Nachkriegsjahre (1945-1952). Würzburg 2011; Amerika-Diskurse der Surrealisten. ›Amerika‹ als Vision und als Feld heterogener Erfahrungen. Stuttgart 1994. Arndt Lainck, Dr. phil., geb. 1981, zuletzt an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zentrale Publikationen: zus. m. Enrique Rodrigues-Moura: Magical Realism and the Fantastic. In: Wilfried Raussert u.a. (Hg.): The Routledge Handbook to the Culture and Media of the Americas. London/New York 2020, S. 136-146; La esperanza escondida, la duermevela y el hilo de la vida en Pedro Páramo. In: Pedro Ángel Palou u. Francisco Ramírez Santacruz (Hg.): El Llano en llamas, Pedro Páramo y otras obras (En el centenario de su autor). Madrid u.a. 2017 (Revista de Crítica Literaria Latinoamericana), S. 117-136; La revisión del pasado revolucionario en Los relámpagos de agosto de Jorge Ibargüengoitia. Un narrador se da por vencido/Revising the Revolutionary Past in Jorge Ibargüengoitia’s Los relámpagos de agosto. A Narrator Gives Up. In: Iberoamericana 17 (2017), H. 66 (Septiembre-Diciembre 2017), S. 139-152; Las figuras del mal en 2666 de Roberto Bolaño. Münster 2014 (LIT Ibéricas, 4). Sibylle Lewitscharoff, geb. 1954, Studium der Religionswissenschaften an der Freien Universität Berlin, nach längeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris und Veröffentlichungen von Radiofeatures und Hörspielen Tätigkeit als
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger
freie Autorin in Berlin, Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis 2013. Zentrale Publikationen: Von oben. Roman. Berlin 2019; Apostoloff. Roman. Frankfurt a.M. 2009 (Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2009); Consummatus. Roman. München 2006; Montgomery. Roman. Stuttgart/München 2003; Der höfliche Harald. Berlin 1999; Pong. Berlin 1998 (Auszeichnung mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis 1998). Benjamin Loy, Dr. phil., geb. 1987, wissenschaftlicher Mitarbeiter für romanische Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Zentrale Publikationen: zus. m. Simona Oberto u. Paul Strohmaier (Hg.): Imaginationen des Sozialen. Narrative Verhandlungen zwischen Integration und Divergenz (17501945). Heidelberg 2020; zus. m. Teresa Hiergeist u. Martin Biersack (Hg.): Parallelgesellschaften. Instrumentalisierungen und Inszenierungen in Politik, Kultur und Literatur. München 2019; Roberto Bolaños wilde Bibliothek. Eine Ästhetik und Politik der Lektüre. Berlin/Boston 2019; zus. m. Gesine Müller u. Jorge Locane (Hg.): Re-mapping World Literature. Writing, Book Markets, and Epistemologies between Latin America and the Global South. Berlin/Boston 2018. Timm Reimers, Dr. phil., geb. 1979, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Zentrale Publikationen: Gelehrsamkeit, Politik und Spektakel. Transformationen der deutschen Römertragödie 1800-1900. Berlin/Boston 2016; Zur Funktion des Imaginären in deutschen Römertragödien des 19. Jahrhunderts. In: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 6 (2014), S. 159-174; »Auf dem unsichern Boden eines Schiffes«. Zur interkulturellen Funktion von Kafkas Amerika-Bild. In: Harald Neumeyer u. Wilko Steffens (Hg.): Kafkas »Betrachtung«/Kafka interkulturell. Würzburg 2013, S. 497-509. Joachim Rickes, apl. Prof. Dr. phil., geb. 1956, Professor am Institut für Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zentrale Publikationen: Opitz und Gryphius versus Magister Fleming. Zu zwei poetischen Miniaturen bei Günter Grass und Daniel Kehlmann (erscheint demnächst); Daniel Kehlmann und die lateinamerikanische Literatur. Würzburg 2012; Die Metamorphosen des ›Teufels‹ bei Daniel Kehlmann. »Sagen Sie Karl Ludwig zu mir«. Würzburg 2010; Die Romankunst des jungen Thomas Mann. »Buddenbrooks« und »Königliche Hoheit«. Würzburg 2006.
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Roberto Bolaño: Autor und Werk im deutschsprachigen Kontext
Sascha Seiler, PD Dr., geb. 1972, derzeit Vertretung der W3-Professur für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zentrale Publikationen: Wolfgang Welt (Text + Kritik-Band. Hg. v. Sascha Seiler, erscheint Januar 2021); zus. m. Dieter Lamping (Hg.): Bob Dylan. Sänger und Dichter. Marburg 2017; Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Die Figur des Verschwundenen in der Literatur der Moderne und Postmoderne. Stuttgart 2016 (Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature, 2); zus. m. Martina Kopf (Hg.): Komparatistische Blicke auf Lateinamerika und Europa. Heidelberg 2016 (Intercultural Studies, 6). Jens Steiner, geb. 1975, Studium der Germanistik, Philosophie und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Zürich und Genf, nach beruflichen Tätigkeiten als Lehrer und Verlagslektor Arbeit als freier Autor. Zentrale Publikationen: Weihnachten könnte so schön sein [Kurzgeschichtenband]. Zürich 2018; Mein Leben als Hoffnungsträger. Roman. Zürich 2017; Carambole. Ein Roman in zwölf Runden. Zürich 2013 (Auszeichnung mit dem Schweizer Buchpreis); Hasenleben. Roman. Zürich 2011 (Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2011, Auszeichnung mit dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung 2012). Chris W. Wilpert, M.A. Zentrale Publikationen: zus. m. Robert Zwarg (Hg.): Destruktive Charaktere. Hipster und andere Krisenphänomene. Mainz 2017; Gespräche über Dante. Thomas Harlans Intertextualität im Kontext der Shoahliteratur. In: Jesko Jockenhövel u. Michael Wedel (Hg.): »So etwas Ähnliches wie die Wahrheit«. Zugänge zu Thomas Harlan. München 2017, S. 210-228; zus. m. Christina Olszynski u. Jan Schröder (Hg.): Heimat – Identität – Mobilität in der zeitgenössischen jüdischen Literatur. Wiesbaden 2015.
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de