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German Pages 95 [96] Year 1974
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 10
Urs Herzog
Robert Walsers Poetik Literatur und soziale Entfremdung
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974
Für Herbert Gamper
Den Druck dieser Arbeit hat die Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der Universität Zürich in verdankenswerter Weise unterstützt mit einem Beitrag aus dem Carl Friedrich Naef-Fonds.
ISBN 3 - 4 8 4 - 1 0 - 1 9 7 - 0
©
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974 Alle Redite vorbehalten. Printed in Germany Satz und Druck: Wörner GmbH Stuttgart Einband von Heinr. Koch Tübingen
Vorwort »Sie strichen sich die Gesichter mit Kohle an und kannten einander nicht mehr«, wie oft dachte ich dran. Robert Walser
Vollkommener als jedes Märchen drückt Schneewittchen die Wehmut aus. Theodor W. Adorno
Da in ihm die Bedingungen und Möglichkeiten, mit denen Robert Walsers Dichtung entsteht, Thema sind, stellt das »Sdineewittdien«Dramolett im Walserschen Gesamtwerk einen hervorragenden Schlüsseltext dar, vielleicht den wichtigsten. Hier entwirft sich Walsers Poetik in paradigmatischer Form. Sofern die Existenz einer radikal entfremdeten Dichtung auf dem Spiel steht, geht dieses Spiel von Schneewittchen um die Bedingung und Möglichkeit moderner Dichtung überhaupt und das jetzt und künftig augenfälliger als zur Zeit seiner Entstehung. Die vorliegende Studie beginnt mit der minuziösen Analyse des Stücks in seinem dramatischen Verlauf. Zu beschreiben sind die Opposition und die zunächst verwirrenden Positionswechsel der beiden Hauptakteure Schneewittchen und Königin und ihrer instrumentalen Vertreter in den Figuren von Prinz und Jäger. Der Konflikt von »Denken« und »Gefühl«, von Erinnern und Vergessen, von Wirklichkeit und der Sehnsucht nach ihrer Heilung, als was der Streit zwischen Schneewittchen und Königin stattfindet, ist ein Spiel ohne Ende, ein verrückter Zirkel, der unversöhnt über den Schluß des Stücks hinaus ad infinitum weiter sich drehen müßte. Haben Walsers sämtliche Gestalten »Wahnsinn hinter sich«,1 so hat ihn hier jede in der andern ständig drohend vor sich. Davon ausgehend kann vorsichtig, höchstens im Entwurf eine mögliche »Pathographie« des Autors erstellt werden. Daß dazu sowohl wie zum Verständnis des
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Vgl. u. S. 2.
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»Schneewittchens« und der Walserschen Dichtung insgesamt nur eine psychologische, soziale und ästhetische Theorie hinreicht, die sich als eine dialektische der herkömmlichen ira et studio widersetzt, gibt das »Schneewittchen«-Dramolett
selber klar genug zu verstehen: Des
» Schneewittchens Not« (127)® - mithin der Fall Robert Walser - ist einmalig private und in einem die allgemeinste Not, das versammelte »Weh der Zeit« (113). Selbstentfremdung, die Entfremdung des einzelnen ist - gegen alle Verblendung, mit der die Agenturen der Öffentlichkeit solche Einsicht unterschlagen und ächten - zu begreifen nur als der Ort, w o die objektive, total entfremdete Realität zur Vermittlung kommt. Und nicht anders meint und denunziert die Schuldverstrickung, die »Sünde« zwischen Schneewittchen und Königin den »universalen Schuldzusammenhang«' dieser Welt, eine Communio peccatorum, die bis zur Unkenntlichkeit mystifiziert heute sich verschleiert. Das Ausmaß der Entfremdung ist nidit abzusehen4 - »Mir war, als sei idi im Begriff, in dem Meer der Befremdung zu ertrinken« (II. 107). Was Dichtung, überhaupt was Kunst, die von dieser verzweifeltsten Erfahrung um keinen Preis sich abbringen läßt und die als * Robert Walser, Gedichte und Dramolette, hrsg. v. Robert Mächler, Genf und Hamburg 1971 (R. W., Das Gesamtwerk, hrsg. v. Jodien Greven, Bd. XI). Der Text des »Sdineewittsdiizophrenen Zusammenbrudi< diagnostiziert hat, und der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler sagte einmal, auf jeden hospitalisierten Schizophrenen kämen zehn, die sich in Freiheit befinden«: David Cooper, Psychiatrie und Anti-Psydiiatrie, Frankfurt a. M. 1971 (edition suhrkamp 497), S. 9. Und Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt a. M. '1970 (edition suhrkamp 314), S. 94: »Ein heute in Großbritannien geborenes Kind hat eine zehnmal größere Chance, in eine >Heilanstalt< zu kommen als auf eine Universität.« VI
solche und nur als solche modern zu heißen verdient, gegen den sie ebenso umgebenden wie in ihr Innerstes eingelegten Widerspruch noch vermag, ist - für Walser - dessen dialektische Aufhebung in der ästhetischen Form. Dichtung wird zum halsbrecherischen Abenteuer. Gelingt sie, dann ist Dichtung, wie Walser sie meint, der festliche Anlaß zu »hoher« und gleichermaßen »widersprech'nder Freud'« (143): Nicht vergessend, wie sehr sie der Vergeblichkeit ausgesetzt ist, bleibt ihr das Bewußtsein, mit der Schönheit, die sie rettet, doch authentisches Glück aufzubewahren und vielleicht noch immer »Dämmerung nach vorwärts«5 zu sein.
* Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1959, Bd. 1, S. 131. Vgl. a.a.O., S.242-250 (»Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Sdiein«). VII
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Robert Walsers »Schneewittchen«-Spiel ist 1901 im Septemberheft der »Insel« erschienen. Zur Entstehung wird im Vorwort der zweiten Ausgabe (1919)
berichtet: »Als blutjunger Mensch, das heißt 1899,
hatte idi im Sinn, die Schlacht bei Sempach zu dramatisieren. Ein Literat, dem idi die Absidit mitteilte, riet mir davon ab, indem er mir vorschlug, lieber etwas aus dem Inwendigen zu dichten. Daraufhin schrieb idi >Die Knaben< und bald hernach audi die übrigen Stücke.«1 Walser hat keines dieser Stücke aufgeführt gesehen. »Sie sind ganz Poesie«, steht in einem Brief von 1912, »und durchaus nur für künstlerisch genießende Erwachsene . . . Sie sind auf den Stil und die Schönheit angelegt, und der Genuß des Buches ist daran die Hauptsache. O b sie je aufgeführt werden könnten, etwa mit Musik, ist ganz und gar fraglich und erscheint vorläufig nebensächlich. Sie sind auf Rede und Sprache gestimmt, auf Takt und rhythmischen Genuß. Walter Benjamin hielt das »Sdineewittdien«-Spiel für »eines der tiefsinnigsten Gebilde der neueren Dichtung«. (Von Walser nicht reden zu können, ohne zuvor K a f k a , Morgenstern, Musil oder eben Benjamin aufgerufen zu haben, ist eine feuilletonistische Geschmacklosigkeit, die von Walsers sehr weit gehender Nichtachtung im Literaturbetrieb seiner Zeit bis heute ein Rest ist.) Walter Benjamin ist hier zu zitieren, weil er das »Schneewittchen« im Zentrum seines Walser-Aufsatzes nennt und es zentral trifft. Auf die Frage nach der Herkunft der Walsersdien Gestalten antwortet Benjamin: »Sie kommen aus der Nacht, w o sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der
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R. W., Das Gesamtwerk, XI, S. 422 (Nachwort). a. a. O., S. 423f. ι
Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Es verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben. Will man das Beglückende und Unheimliche, das an ihnen ist, mit einem Worte nennen, so darf man sagen: sie sind alle geheilt. Den Prozeß dieser Heilung erfahren wir freilich nie, es sei denn, wir wagen uns an sein >Sdineewittchen< - eines der tiefsinnigsten Gebilde der neueren Dichtung - , das allein hinreichen würde, verständlich zu machen, warum dieser scheinbar verspielteste aller Dichter ein Lieblingsautor des unerbittlichen Franz Kafka gewesen ist.«* Benjamin erkennt in allen, nicht erst den späteren Walser-Gestalten ein Geheiltsein, das den Wahnsinn »hinter sidi«, das kann heißen ihn zurückgelassen und zugleich bei sich hat. - Rudolf Alexander Schröder spricht, ex post allerdings, von einer »pathologischen Bedingtheit«4 ebenfalls bereits der frühesten Gedichte. Ganz anders Werner Günther, der (in Kenntnis von Benjamins Essay) folgendes für richtig hält: »In diesen Traumspielen (sc. Walsers Märchenkomödien) führt der Gesunde, ja man möchte sagen ein kerngesunder Walser die Feder.« Günther ist der fragwürdigen Meinung, die frühesten sowohl wie die Berliner Werke seien die eines gesunden Walser. Später, nadi der Krise in Berlin, zeige diese einst »kerngesunde« Dichtung zunehmend stärker krankhafte Züge: die Bieler sei eine »>KitschDu feuertest mit Küssen ihn / zu dem SdiatzJäger< verfallen kann, den audi sie vielleidit einmal mit Küssen anfeuert, die Rivalin zu töten...«' Umgekehrt, die Königin stürzt in der Erinnerung ab auf ihre eigene Schuld, ihren Anschlag gegen Schneewittchen durdi den Jäger. Formuliert ist diese Schuld wörtlich so, wie sie Schneewittchen der Königin wiederholt vorgeworfen hat: »Du feuertest mit Küssen ihn...«. »Ich sagte einmal, einmal so - / das ist vorüber« (145), versucht Schneewittchen ein letztes Mal die Vergangenheit und deren Erinnerung vergessen zu machen. Der Schluß des Spiels ist schockierend wie der des zweiten Teils, wo die Königin wie im Märchen wieder den Jäger auf ihre Toditer hetzt. So daß die beiden ersten Versöhnungsversuche auch in ihrer Wiederholung durch den dritten Teil gescheitert sind: Anfangs hat die Mutter die Toditer, dann, erst direkt, anschließend indirekt durch das Gespräch mit dem Jäger, hat die Tochter die Mutter heilen wollen. Doch, zeigt sich jetzt, Schneewittchen küßte den Schein der Versöhnung. Nichts »ist vorüber«. Da die Mutter nicht hat vergessen können, wie sollte Schneewittchen dazu imstande sein! Das Spiel schließt am Anfang, wie anders schon der zweite Teil zurück zum Anfang sich geschlossen hat, wenn Schneewittchen danach vor Trauer krank und wieder der Heilung durch die Mutter bedürftig war. Die Zukunft jenseits des Spiels ist denkbar nur als der Prozeß um Versöhnung, der zum dritten Mal und immer wieder von neuem aufgenommen werden müßte. Zum glücklichen Ende des Märchens kommt das Spiel nicht. Weil die Mutter dem Glück der Tochter nicht geopfert werden darf,
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Werner Günther, a. a. O. 16
ist nicht abzusehen, wann je Schneewittchen seinem »Schatz«, dem Prinzen, angetraut werden könnte. Da es in der Zukunft des Spiels für Walsers Schneewittchen zur Heirat nicht kommen wird, fragt sich, was der »fremde Prinz« (als Dramatis persona so bezeichnet) im Spiel zu tun hat. - Im ersten Teil unterstützt er und vertritt sogleich an Schneewittchens Stelle die Klage gegen die Königin. Wenn er dann im Schloßzimmer mit ihm allein ist, spricht er, statt mit Schneewittchen zu schweigen, »wie ein Wasserfall vom Schweigen« (112).8* Beim Anblick der Umarmung völlig benommen, wendet er von Schneewittchen sich ab, der Königin zu. »Sturm wütet über alles weg« ( n j ) . Wie er mit der Mutter, die »seinen Sinn nun höher reizt« (117), die für ihn reizlose Tochter in Vergleich bringt, der Prinz: »O, ließ ich dich doch in dem Sarg. / Wie schön du darin lagst. ( . . . ) Dies war ein Bild zum Sterben süß: / Hätt' ich es doch gelassen so, / dann kniete Liebe noch vor dir« (116). Schneewittchen bedeutet ihm lebendig weniger als das Bild seiner toten Schönheit. Traurig und doch ruhig bittet Schneewittchen den Prinz zu gehen: »Laß allein / die Blume, die der Einsamkeit / nur ihre volle Blüte zeigt. / Für dich war sie doch nicht bestimmt...« (ii8f.). Kaum hat er sich als Liebhaber der Königin erklärt, ist mit dem mißglückten Spiel im Spiel auch diese Liebe dahin. »O Königin,. / welch eine Schlange seid Ihr doch« (129), empört er sich und besteht auf seinem Mißtrauen bis zum Schluß. Schneewittchen war er von je her nicht bestimmt, der Königin ist er »zu jugendlich«, »zu wankelmütig«. »Solch Lieben, ei, behagt mir nidit« (126), weist sie ihn ab. Als Liebhaber der Tochter wie der Mutter überflüssig, ist der Prinz negativ von Belang, hat Funktion als Beispiel einer Liebe - der »schnellen«, »stürmischen«, falsch zutraulichen (126) - , mit der weder Schneewittchen noch die Königin geliebt sein wollen. Schneewittchen, dem Bild toter Schönheit, müßte Liebe die Blässe nehmen, dem reizend »prangenden« Bild der Königin dürfte sie nicht blind verfallen. - Der Prinz, als Liebhaber jedenfalls untauglich, ist von Bedeutung weniger
In dieser mißglückten »Liebesszene« zwischen Schneewittchen und Prinz ist ein Anklang an Kleists »Familie Schroffenstein« sicher gewollt. Dort, V . i , Ottokar zu Agnes: »Laß uns / Die schöne Stunde innig fassen. Möge / Die Trauer schwatzen, und die Langeweile / Das Glück ist stumm.«
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im Gegenüber zu als in der Vertretung von Sdineewittchen: Er übernimmt im ersten Teil dessen Klage, später, da er nadi dem eingelegten Spiel ebenso wie bei der Schlußversöhnung nicht einlenkt, dessen Mißtrauen gegen die Mutter. Der Prinz vertritt die Tochter und geht, während diese schweigt, in ihrem Sinn zwar richtig, aber immer zu weit vor. Auch in der Liebe zur Mutter: Sind der Prinz und Schneewittdien zum ersten und einzigen Mal allein beisammen, dann verliebt er sich in jene Königin, die er eben noch glaubte schmähen zu müssen. Was ihn am meisten erstaunt, ist Schneewittchens Verhalten, daß es ruhig gefaßt bleibt und ihn mit Empfehlungen entläßt: »O geh doch, ich entlasse didi. / Empfiehl midi meiner Königin.« (117). »Mama«, die Feindin, soll er »auf den Knien« um Verzeihung bitten für Schneewittchen, das »Kind« (118). Daß der Prinz diese Umkehr nidit versteht und zu träumen meint - »das tut zur Sache ja doch nichts. / Geh jetzt, ich bitt* dich« (118). Da jetzt Leidenschaft ihn zur Königin treibt, begreift und behandelt Schneewittchen den Prinzen als Vermittler zwischen sidi und der Mutter. Die Liebe des Prinzen zur Königin ist die der Tochter zur Mutter ohne jene blinde Bewußtlosigkeit, die Sdineewittchen sich verbieten muß. Der Prinz ist vom bloßen Anblick gefangen genommen. Das Bild der Königin in der Umarmung des Jägers »ist hold und süß / dem bloßen Auge, das nur schaut. (...) Dem Geist, der das Vergangne weiß, / ist's häßlidi wie die schlammige Flut / von trübem Wasser« (113). Vom reizenden Bild der Königin angezogen wie der Prinz, kann Sdineewittchen im Unterschied zum Prinz das »Vergangne« nicht vergessen. Der Prinz, vom bloßen Anblick affiziert, folgt blind einem Trieb, den Schneewittchen mit Bewußtsein mäßigt. Damit erfüllt der Prinz als Form einer Liebe, in der dieses die Mutter nicht lieben kann, die andere Funktion von Sdineewittchen. Da er Mitleid hat und Schneewittdien vom Tod verschont, wird der Jäger vom Märchen positiv vorgezeichnet. In Walsers Spiel ist es der Jäger, der Sdineewittchen zur gläubigen Bejahung am ehesten Anlaß gibt. Seine Unsdiuld zu bejahen, bringt es zum Märchen nicht in Widerspruch, hilft ihm vielmehr zu jenem Glauben, der sidi über den Widerspruch, die Schuld der Mutter, hinwegsetzt. Daß der Jäger der ehebrecherische Geliebte ist - Walsers Interpolation des Märdientextes - , daß er unter dem Zwang dieser Liebe den mörderischen 18
Auftrag einst angenommen hatte, das wird von Schneewittchen als Schuld nicht des Jägers, sondern der Mutter veranschlagt. Der Mutter allein macht es Vorwürfe und sperrt sich darum gegen sie: »Nie küss' ich dich. / Mit Küssen feuertest du ja / den Jäger hier zum Töten an« (107). Der Jäger war mit Flehen umzustimmen. Daß er Schneewittchen zu töten versprach, fällt auf die Mutter zurück und vergällt deren Kuß, noch wenn er jetzt im Spiel unschuldige Liebe beweisen möchte. Insofern ist der Jäger Funktion der Mutter, Mittel und Zeichen einer Liebe, die als Liebe töten kann. Und wenn er in der Umarmung der Königin liegt, dann ist er im lebenden Bild der Liebe nur der Schatten, wo das Tödliche mit der Liebe unlösbar sich verbindet. Der Blindheit des Prinzen ist der Jäger in dieser Funktion verkennbar. Eifersüchtig geworden, möchte der Prinz um der Liebe der Königin willen ihn, den »Schurken« (114), den »Kerl« (115), beseitigt sehen. Schneewittchen dagegen beachtet ihn gar nidit, es sieht das Tödliche in der Liebe der Königin, den Kuß und den Dolch. Das Spiel schließt, wenn endlich alles befriedet scheint, bei seinem Anfang. Von diesem Zirkel spricht der Jäger, der den Kuß, mit dem Schneewittchen die Mutter zu versöhnen glaubt, rätselhaft deutet: »End küßt sich in dem End, wenn auch / Anfang noch nicht zu Ende ist« (140). Die Sünde, die im Konflikt Mutter und Tochter getrennt vereint, bleibt unabgegolten und bricht als Erinnerung herein ins Denken, das Schneewittchen krank macht. Die Sünde müßte aufgehoben werden, es müßte zu dem kommen, was Schneewittchen im Finale emphatisch behauptet: »O, es gibt keine Sünde mehr. / Sie starb in diesem Kreise aus, / floh von uns weg« (142). Andernfalls gerät das Denken zur Krankheit, wie das Gefühl, das diesem Denken, seinem realen Grund in der Sünde, nicht standhält, in Illusion sich verliert. Aus der Erinnerung müßte die Sünde in ein Vergessen kommen, das nicht »sündig« (105), nicht »lieblos« (126) und kein »nichtiges Vergessen« (142) wäre. Solange sie dort nicht aufgehoben ist, finden die Spieler bis in die Zukunft ihres Spiels nie den Märchenschluß, der Schneewittchen in ein glückliches neues Leben entläßt. Der Zustand, in den Schneewittchen »denkend« versetzt wird, entspricht ganz dem Krankheitsbild, das seit der antiken Medizin Melancholie heißt: »Ach, den Gedanken, daß Ihr mich / haßt und verfolgt, bring' ich nicht los. / Stets folgt er mir im bangen Sinn / und 19
nie, solang ich lebe, kann / den Sinn idi reinigen davon. / Es klebt wie Schwarz im Herzen mir,
/ verdüstert jeden freud'gen Klang / der
Seele mir« (130). Das ist der klassische Befund des schwerflüssigen (»klebrigen«) schwarzen Saftes, die Verdunklung des innern Klangs als die »aphonia« der Seele.' Innerlich verstummt, sucht Melancholie das Schweigen in der Isolation, den Kierkegaardsdien »Hermetismus« : »jeder Unmut«, schreibt Goethe bezüglich der Wertherkrankheit, »ist eine Geburt, ein Zögling der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was widerspricht ihm mehr als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das, was ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurückgewiesen.«10 Schneewittchen zieht sich ins Schloß zurück mit einer Schwermut, »die der Einsamkeit / nur ihre volle Blüte zeigt« (118). Einem Liebhaber, der sie schweigend nicht einsam zu lassen versteht, bleibt diese Blume verschlossen: »Für dich war sie doch nicht bestimmt; / deshalb sei ruhig. Geh, laß mich / dem Träumen...« (119). Schneewittchen ist blaß im Gesicht: seit je eines der Melancholiesymptome. Die Mittel dagegen sind durchwegs solche der herkömmlichen Melancholiebehandlung: Schneewittchen soll an die »warme«, »frische Gartenluft« ( i o j ) , soll sich bewegen (»Schaff' dir
' Vgl. Jean Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, Basel i960, S. 34. - Marsilius Ficinus, De vita triplici I.9: »Mercurius, Pythagoras, Plato iubent dissonantem animum vel moerentem cithara cantuque tarn constanti quam concinno componere simulatque erigere.« 10 Dichtung und Wahrheit, III.13. Anschließend: »Jener Ekel vor dem Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen; jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen und, bei einer so o f t durchgearbeiteten Materie, nur den Hauptpunkt beachten, w o sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nadit, der Jahreszeiten, der Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir für diese Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich, dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein: man betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last« (a. a. O.).
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Bewegung, spring und lauf«, 105), in Gespräch und Spiel sich erschließen. Das heilsamste, am schwierigsten zu findende Mittel aber wäre das Vergessen: νηπενθής, der Trank des Vergessens. >Kummerlos< wird es geheißen, und >Ohn-Verdruß< und >Vergessen Jegliches Übels< für den, dem's unter den Wein verrührt ward. 1 1
Ein zwanghaftes Grübeln in »der Gedanken Vielerlei« (120) - Denken »grübelt nur so hin und her« (121) - , ist das melancholische Denken selber noch nicht die Krankheit. Über deren Dunkel ist es, obschon verstört, ein Licht, das den Namen des Denkens noch immer verdient. Die antike und vor allem wieder die philosophische Medizin der Renaissance kannten die mantische, geniale Melancholie als ein für Kunst und Wissenschaft hochbegabtes Temperament." So ist auch die Schwermut, die Schneewittchen mit Gedanken belastet, ein »Schwarz im Herzen«, eine Verdiisterung des Herzens und nicht des Kopfes, der, statt den Widerspruch des Märchens, die Realität, zu unterschlagen, unverrückt ihn aushält. Selber noch nicht die Verrücktheit, kann das Denken dodi zu ihr geraten. Zu Beginn des Spiels und wieder im dritten Teil ist Schneewittchen blaß, niedergeschlagen, trostlos traurig: vor Schwermut krank. Verrückt in dem Sinn, daß es den Verstand verlöre, ist es beidemal nicht und wird es das im ganzen Stüdk auch nie. »Ich will mich über mich hinwegsetzen«, steht in Walsers »Dichter«-Dramolett. »Meine Gedanken dürfen nicht Herr werden« (XI.J7). Schneewittchen vermag seine Gedanken zu beherrschen. Der Königin gelingt das nicht immer, einmal in furchtbarer Weise nicht. Die Szene ist allerdings komplex: Im dritten Teil hat die Königin lange mit Geduld Schneewittchen aufzuheitern sich bemüht. Erfolglos, der Trost erreicht es nicht. Schneewittchen besteht darauf: »Die Mutter ist die Mutter nicht. / Die Welt ist nicht die süße Welt. / Lieb' ist argwöhn'scher, stummer Haß« (133). Die Königin verliert die Geduld. Schneewittchen: »Nun haßt Ihr wieder doppelt mich« (133). Jetzt, indem sie Schneewittchen zur Warnung eine Form des ihm drohenden Wahnsinns beschwört, verfällt die Königin im Haß plötzlich selber dem Wahnsinn: »Ich feuerte mit 11 11
Odyssee, 4. Gesang, Vers 2 2 1 f. Vgl. Jean Starobinski, a. a. O., S. 1 j . Erwin Panowsky, Fritz Saxl, Dürers »Melencolia. I«. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig, Berlin 1923 (Studien der Bibliothek Warburg II), S. 16, 28ft.
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Küssen ihn. / Nicht? Ist es nicht so? Sag' es doch! / Schrei in die sanfte Welt es laut, / den Winden, Wolken wiederhol's, / ritz' es in üppiger Bäume Stamm,« - das Signet der Liebe pervertiert in das des Hasses - , »hauch' es den weichen Lüften ein, / daß mit dem feinen Duft sie es / ausstreuen einem Frühling gleich. / O, dann saugt jedermann daran, / preist didi Unschuld'ge, nennt midi schlecht, / da ich den Mord mit Lieb' gespeist, / ihn feuerte mit gift'gem Kuß« (i33f.)· Der Gedanke wird Herr über sie: »Heda, wo steckst du, Jäger. Komm. / Hinweg die Scham, ich küsse dich / und nenne dich den liebsten Mann, / den besten, treusten, stärksten und / den allerholdsten, frechsten Mann. / Schneewittchen, hilf im Preisen mir« (134). Schneewittchen, mit Schrecken geheilt, sorgt sidi um die Mutter: »Genug, genug, es macht Eudi toll« (134). Die Königin: »Zur Hölle mit Verzeihn und mit / Geduld, Scham, Milde. Heda, Knedit« (134)! - Früher hat Schneewittchen der Mutter entgegengehalten, das Urteil dessen, »der nur denkt«, »(sei) blaß und (mache) den Kläger toll« (121). Im Wahnsinn, der hier die Mutter befallen hat, ist als dunkelster Schluß seines Denkens Schneewittchens eigener Wahnsinn reflektiert: die mögliche »Tollheit« des Klägers als dessen Selbstbegegnung im Angeklagten. Soldier Objektivierung eignet ein apotropäisdies Moment. Der drohende Wahnsinn ist zugleidi vergegenwärtigt und ferngehalten in der Distanz des Andern. Im »Spaziergang« (1916), einer längeren Prosa der »Seeland«-Sammlung, hat Walser die selbe Vorkehrung getroffen: Vom Ich-Erzähler heißt es, er sei einmal, da ihn »allerlei Gedanken stark beschäftigten«, dem Biesen Tomzack begegnet. »(Ein) Mensch, ein Ungetüm und Ungeheuer (kam) mir entgegen, der mir die helle Straße fast völlig verdunkelte« (III.229). Es ist das personifizierte völlige Unglück, das »ohne Liebe, ohne Vaterland und Mensdienfreude« (230) umherirrt. »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben schien zu gering, zu eng für ihn zu sein. Für ihn existierte keinerlei Bedeutung; dodi bedeutete wieder er selbst für niemand irgend etwas. Aus seinen Augen brach ein Glanz von Unterwelten- und Überwelten-Gram hervor, und ein unbeschreiblicher Schmerz sprach aus jeder seiner müden, schlaffen Bewegungen. ( . . . ) Jeden Augenblick starb er und vermochte dennoch nicht zu sterben« (230). Der Erzähler sei weitergegangen: »ohne midi nach dem Phantom, bedauernswürdigen Obermenschen, 22
unglücklichen Gespenste näher umzusehen, wozu idi wahrhaftig nicht die geringste Lust haben konnte« (230). »Ich will midi über mich hinwegsetzen«. Denn wenn die Gedanken Herr geworden sind, dann ist die »starke Beschäftigung« des traurigen Denkens dem Wahnsinn ausgeliefert. Vom ersten Verdacht, »die Mutter (sei) die Mutter nicht«, den andern, uneingeschränkt letzten ableiten zu müssen: »die Welt ist nicht die süße Welt« ( 1 3 1 ) - das ist die Stringenz eines Denkens, das Schneewittchen aus der Trauer in den Wahnsinn zu bringen droht. Die Sünde der Mutter, vom leidenschaftlich daran fixierten Gedanken nicht mehr losgelassen, treibt sich auf zum Inbegriff einer Welt, die, zeit- und »wesenlose Wüste«, nur »im Glanz von Unterwelten- und Überwelten-Gram« noch zu sehen, als totale Dunkelheit riesig über dem traurigen wie jedem Denken zusammenschlägt - selbst dem Außenstehenden »die helle Straße fast völlig verdunkelnd«. Die Figur des irren Riesen Tomzack findet sich audi in dem gleichzeitigen selbstbiographischen Stück »Hans« als ein »wilder, böser Mann«, ein »Tragöde« des Wahnsinns, »der mit überlauter Stimme eine Sprache führte und Worte in die Gegend hinausschrie, wie nur ein gegen Gott und Welt ingrimmig sich auflehnender Rebell sie in den Mund nehmen mag, indem er das wildzerrissene Gebäude seiner Empörung gigantenturmhaft bis in den Himmel hinauftürmt, schreckliche Wirkungen verbreitet, grausige Zustände ringsumherschleudert. Offenbar befand sich der Mann in ungezügeltem Aufruhrzustand. Aus seinen entsetzlichen, grauenvollen Gesten, die zehrenden, fressenden Flammen ähnlich zu sehen schienen, redeten, loderten Verachtung, Zorn, Haß und Grimm. Wahrscheinlich war er aber ganz einfach nur im Gemüt und Kopf ernstlich krank; denn in der Regel gehen Einsame still ihren Weg, reden nicht derart mit menschenleerem Raum, mit Bäumen und Winden (...)« (III.306). Wieder das Bild von »gigantenturmhaft« riesig aufgerichtetem Haß und Wahnsinn, der, wie die Königin es beschwört, sich in die Welt schreit: »Idi feuerte mit Küssen ihn. / Nicht? Ist es nicht so? Sag' es dodi! / Schrei in die sanfte Welt es laut, / den Winden, Wolken wiederhol's, / ritz' es in üppiger Bäume Stamm (...)« (133). Das zu tun, läßt sich Schneewittchen vom Wahnsinn der Königin abschrecken. - Zu dieser WahnsinnsBegegnung steht abschließend die Bemerkung, die zum nächsten, eben-
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falls geheimnisvollen »Schauspiel« überleitet: »Die Erinnerung an eine freilich mehr Abscheu wie Mitleid herausfordernde Gestalt blieb als warnendes, abschreckendes Beispiel für Hans immerhin bedeutsam, der jedodi bald hierauf Zuschauer eines wahrhaft schönen Schauspieles wurde« (III.307). »Zu guter Stunde« nämlich traf Hans »zwei Leute oder Leutchen an, die zu dem eben besprochenen sonderbaren Kauz und bösartigen, gegenüber jedweden gesellschaftlichen, staatlichen oder menschlichen Einrichtungen, Plänen, Beständen, Verordnungen in trüblichstem Zwiespalt und Zerwürfnis befindlichen unheimlichen Gesellen im schönsten und angenehmsten Gegensatz standen, nämlich zwei friedlich an einem Waldrand eng nebeneinander am Boden sitzende freundliche Bettlersleute, die ihm eher alles andere als menschenfeindlich und gehässig zu sein schienen« (III.307f.). Der Anblick dieses Bettlerpaares sei »rührend, ja offenbar ergreifend« gewesen, »weil er zeigte, wie hier zwei gänzlich Arme in der Abgesondertheit ehrlich, treu und sorglich zusammenhielten, indem sie, durchaus unelend im Leid, vielmehr fromm und innig und freundlich in ihrer Not beieinandersaßen, um alles, was kommen würde, seelenruhig, und wie es schien, fast heiter abzuwarten« (308). Die beiden machen ein Bild von ruhiger, »fast heiterer« Frömmigkeit. »Ihm kam vor, als wolle aus dem Himmel ein besonders schöner, heller Lichtstrahl auf die Armut herabfallen, die nicht zürnt, sondern in Gottes Namen auf sich nimmt, was ihr vom Schicksal und von den Fügungen zu tragen und dulden befohlen worden ist« (309). Das Bild dieser Armut empfängt und verbreitet um sich himmlisches Licht, wogegen wie um den Riesen Tomzack, der »die helle Straße fast völlig verdunkelte«, auch »rund um den Revoltanten dort auf freiem Felde herum (es stockte) wie dicke, mond- und sternlose Mitternacht; hier beim freundlichen Bettlerpaar aber tönte es wie von Liebes- und Friedensmelodien, flog und flatterte es wie mit Engelsflügeln, war es licht, wie in den Bezirken, wo nach Auffassung aller guten Menschen die Seligen wohnen« (309). Es wird zugestanden, daß nicht anders als dem Schneewittchen dem wahnsinnigen Riesen »vielleicht einmal Unrecht getan worden (sei); doch wohin gelangen wir Menschen, wenn wir kein Unrecht mehr tragen, keine Härte mehr dulden wollen? Bist nicht auch du der Meinung, lieber Leser, daß die
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selig sein sollen, die das Leben, mag es immerhin auch Schlimmes bringen, gutmütig hinnehmen« (309)? Das ist Walsers Bergpredigt der Armut, der Glaube an einen heiterfrommen amor fati, eine »Schicksalsbejahung« ( V I I I ^ ^ ) , 1 1 die, der heidnischen Frömmigkeit näher verwandt als der amor fati Nietzsches (»Wie mancher, bekenne ich mich, bei einer Vorliebe für die Form des Christuskreuzes, in gewissem Sinn zum Heidentum«, I X . 149), doch weniger heidnisch sidi auffaßt denn als Demut christlicher Gelassenheit. »Gott, mach mit uns Menschen, was Du willst. Alles ist gut und gerecht, was Du beschließest« (VII.29), kann dieser Glaube beten. Immer und im voraus schon zu demütigem Vergessen bereit, nehmen die beiden Bettler das einstige wie jedes neue Unrecht, das ihnen angetan wird, als ein »vom Schicksal und von den Fügungen zu tragen und dulden« befohlenes »in Gottes Namen auf sich« und leben so »durchaus unelend im Leid«. Das unglückliche Gegenteil ist Stolz, die riesige Auflehnung, die an den Widerspruch und die Trauer des Unrechts zu denken bis zum Wahnsinn nidit aufhört ( - »Ob der Stolz eine Art Krankheit sei, bin idi zu bequem, zu untersuchen«, I X . 1 5 1 ) . Schneewittchen ist schwerstes Unrecht angetan worden. Es zu vergessen, rät ihm die Mutter, wie Schneewittdien selber, hält es den Widerspruch angesichts des Wahnsinns nicht mehr aus, blind begeistert vergessen möchte. Ins Legendenlicht, das von der Ikone des frommen Bettlerpaares ausgeht, kommen sie beide trotzdem nicht. Denn nadi dem Vorbild der Bettler endgültig, bleibend vergessen zu können das heißt in der Offenheit, die im Unterschied zum verdrängenden Vergessen dieses nadi vorn gegen das Bewußtsein nicht undurchlässig, sondern hin und zurück der Erinnerung zugänglich macht - , je neu vergessen zu können, daran hindern Mutter und Toditer einander
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»Vielleicht sind duldsame Menschen mutiger als ungestüme. Letztere wollen dodi immer nur, so scheint es, eine gewisse Angst überrennen« (III.13 j). »Die unentrinnbare, überall hin verbreitete Not, die Härte und die U n erbittlichkeit, die auf dem Leben lasten, die das Leben umgürten, um es in die Stimmung des Düsteren und Schrecklichen zu taudien, waren ihm lieb. E r liebte das Unweigerliche und Unumgängliche, und er sah den Tod als die goldene hohe Krone, die Idealisierung, Schmuck und letzte Schönheit des Lebens an, welches er nur zu lieben vermochte, weil er audi den Tod liebte, weldies er nur sdiön zu finden vermochte, weil er diesen schön fand« ( V I . 3 8 3 ) .
gegenseitig. Müssen sie sidi hindern, denjt wie eine in ihrer Erinnerung abgeklärte - »Ich sündigte / vielleicht vor langen Jahrn an dir. / Wer mag sich des erinnern noch?« (105) - ist die Sünde nicht zu vergessen, die ihrer Erinnerung neu ent-springt: von ihr ausgehend ihr entgeht (beim eingelegten Spiel, im Wahnsinn der Mutter und ganz zum Schluß des Spiels). »Denk keine Sünd\ Die Sünde soll / vergessen sein« ( I O J ) , bittet die Königin zu Anfang, und zum Sdiluß möchte Schneewittchen sich und allen die Hoffnung machen: »O, es gibt keine Sünde mehr. / Sie starb in diesem Kreise aus, / floh von uns weg« (142). Aber derart ist die Sünde nicht vergessen zu machen, solange sie, vor Jahren tatsächlich an Schneewittchen gesdiehen, in der Mutter nodi immer gegenwärtig, ihr selber unvergeßlich und für Schneewittchen jetzt wie damals gefährlich ist als eine Liebe, die als Liebe töten kann. Davon die Mutter zu heilen, ihrer Liebe das Tödliche zu nehmen, das erst hieße zurecht die Sünde »aussterben«, »wegfliehen« lassen. Weil sie in diesem Kreis noch lebt, ist ein Vergessen, das die Wunde dieser Tatsache verdrängend schließt statt unverheilt, wie sie ist, offen in sich behält, »sündige Vergeßlidikeit« ( I O J ) . Die Sünde »wegzusdierzen mit 'nem Schmeichelwort« (106) geht nicht an, sie ist »zu groß zum nichtigen Vergessen« (142). Von Herzen hätte Schneewittchen das Bedürfnis zum Glauben, zur Bejahung, zum »süßen, nichtswissenden Gefühl« (121). »Mein Gefühl spricht Euch von aller Sünde frei« (121), beteuert es der Mutter, die solch »nichtswissendes Gefühl«, es im Bewußtsein zum Widerspruch der Realität hinzwingend, als Illusion zerstört. - Wie es Schneewittdien aufbringen möchte, wäre dieses Gefühl unzerstörbar: Denn das »nichtswissende Gefühl« ist so, wie es gefeiert wird, ineins auch das »alles-wissende«: »Gefühl denkt scharf. (...) Sein Urteil, allen Urteils bar, / urteilt viel sdiärfer, schlichter auch« als ein Denken, das nicht fühlt. 14 Das »nichtswissende Gefühl«, »es weiß von 14
Die romantisdie Aszendenz des Gedankens sei nur angedeutet: » . . . m a n denkt mit der Seele« (Brentano). »Die falsche Empfindung kommt aus dem Kopfe« (Jean Paul). » . . . Denn (das Herz) allein denkt den größten Gedanken