Römische Briefe: An Johann Pohrt 1793–1798 [Reprint 2019 ed.] 9783111507897, 9783111140704

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Table of contents :
INHALT
FERNOW UND WINCKELMANN
FERNOWS BRIEFE AN JOHANN POHRT
ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER HÄUFIG ZITIERTEN LITERATUR
NACHWORT
PERSONENVERZEICHNIS
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Römische Briefe: An Johann Pohrt 1793–1798 [Reprint 2019 ed.]
 9783111507897, 9783111140704

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FERNOW • RÖMISCHE

BRIEFE

CARL L U D W I G F E R N O W

RÖMISCHE BRIEFE AN J O H A N N P O H R T 1793 — 1798

H E R A U S G E G E B E N VON

H E R B E R T VON E I N E M UND

RUDOLF POHRT

1944 V A L T E R D E G R U Y T E R & CO. B E R L I N

Herausgegeben a u f Veranlassung der WINCKELMANN-GESELLSCHAFT E . V. STENDAL

Mit v i e r

Tafeln

Printed in Germany Archiv-Nr. 31 77

• Gedruckt bei Walter de Gruyter & Co.

Berlin W 35, vormal» G. I. Goschen'sche Verlagshandlung I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl I. Trabner • Veit & Comp.

INHALT Fernow und Winckelmann . . . Fernows Briefe an Johann Pohrt

I .

31

Einführung

33

Die Briefe

64

Anmerkungen

287

Alphabetisches Verzeichnis der häufig zitierten Literatur

363

Nachwort

365

Personenverzeichnis

369

FERNOW UND WINCKELMANN

I „Mein Studium ist Kunst als Gegenstand des Geschmacks und Gefühls, nicht Antiquität als Gegenstand des Wissens." Mit diesen Worten aus seinem Brief an Pohrt vom 8. August 1795 hat Femow das Programm seiner römischen Jahre umschrieben. 1 Nicht als Antiquar sondern als Aesthetiker wollte er in Rom wirken, nachdem er den Plan, Künstler zu werden, hatte aufgeben müssen. In seinen in Rom gehaltenen „Vorlesungen über Aesthetik nach kantischen Prinzipien" 2 und seinen von Weimar aus herausgegebenen „Römischen Studien" 8 hat er dieses Programm verwirklicht. Damit ist unsere Aufgabe gegeben. Wenn wir Fernows Verhältnis zu Winckelmann betrachten wollen, so haben uns in der Hauptsache die aesthetischen Anschauungen beider zu beschäftigen. II Fernow hat dem „reinen und großen Sinn" 4 Winckelmanns die höchste Bewunderung gezollt, doch aber sich auch mehrfach kritisch über ihn geäußert. In seinem Aufsatz über das Kimstschöne sagt er: „Nach Winckelmann war edle Einfalt und stille Größe das Grundgesetz der alten Kunst." 4 Er nennt dieses Prinzip „den ersten Versuch, sich in dem Gebiet der alten Kunst . . . zu orientieren und den Haupteindruck derselben auf einen Begriff zurückzuführ e n . " ' Als vollgültiger Grundsatz der Kunst sei es dagegen „in jeder Hinsicht unzulänglich" 7 . Diese Stelle zeigt uns, daß Fernow in der zentralen Frage des Grundprinzipes der alten Kunst — und da auch für ihn die alte Kunst die bisher reinste Verkörperung der wahren Kunst ist, also der Kunst überhaupt — von Winckelmann abwich. In der Tat können wir von ihr aus den Gegensatz der Anschauungen l*

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am besten klar machen, einen Gegensatz, der keineswegs nur persönlich-sachlich, sondern von allgemein geschichtlicher Bedeutung ist. Man hat längst festgestellt, daß der Satz von der „edlen Einfalt und stillen Größe" traditionelles Gedankengut enthält. So finden wir ihn (um n u r zwei Beispiele zu nennen) bei dem Deutschen Adam Friedrich Oeser 8 (vermutlich der Quelle Winckelmanns) und bei dem Franzosen Dufresnoy, in dessen „Theorie der Malerkunst" von der „majestas gravis et requies decora" der Antike die Rede ist 9 . Aber nicht dieses Satz allein hat seine Vorläufer. Es sind die Grundanschauungen über Schönheit, Idealität und Natur, die Winckelmann der Tradition verdankt 1 0 . Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts (so dürfen wir zusammenfassend sagen) hatte sich in der Kunstlehre ein Kanon ausgebildet, der allen in Einzelfragen oft voneinander abweichenden Meinungen unumstößlich zugrundelag: Ausgangspunkt und Ziel der Kunst (so lautet dieser Kanon) ist die Schönheit. Diese Schönheit wurde als ewige, übersinnliche Idee vorgestellt, von der es in der Wirklichkeit nur getrübte und unvollkommene Abbilder gibt. Das Abbild ist umso schöner, je geringer sein Grad an Materie, umso weniger schön, je stärker sein Grad an .Materie ist. Konsequenzen dieser Anschauung waren, nach der inhaltlichen Seite betrachtet, die Überbewertung der Erfindung, also des Geistigen, zu Ungunsten der formalen Ausführung (wie wir denn bei dem Franzosen F£libien wirklich ausgesprochen finden, „daß Kunst möglich sei und bestehe, rein in der Idee vorhanden, unabhängig vom Stoff und der Hand des Künstlers" 11 ), ferner eine strenge Rangordnung der darzustellenden Gegenstände bzw. der Kunstgattungen, denen jene Gegenstände zugehören, eine Ordnung, die ganz außerhalb der künstlerischen Subjektivität als eine objektive, gleichsam ewige und unaufhebliche besteht.

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Konsequenzen, nach der formalen Seite betrachtet waren die Forderung einer möglichst reinen und charakterindifferenten Form und die Überzeugung von der Lehrbarkeit der Kunst, von dem Vorhandensein eines objektiven, allgemein verbindlichen Kanons, den man in den Werken der Antike geoffenbart glaubte. Diese Schönheitslehre wurde mit der älteren Nachahmungstheorie verbunden, die, wenn auch umgebildet, ihren historischen Ursprung aus einem ganz anderen Gedankenkreis nicht verleugnen kann. Es ist klar, daß die Vorstellung eines über die Wirklichkeit erhabenen und der Wirklichkeit unzugänglichen Idealschönen eine Nachahmung fordert, die sich über die bloße Abschrift der Natur zu einer Verbesserung der Natur erhebt. Hatte die Renaissance die Natur als das unerreichbare, aber ewig vorbildliche Muster über die Kunst gestellt, so wurde diese Anschauung später immer stärker durch den Gedanken der Überlegenheit der Kunst verdrängt. Nicht einfache Nachahmung oder Nachäffung, sondern freie Nachahmung ist die Parole, die wir immer wieder zu hören bekommen. Es ist nun aber sehr lehrreich, daß diese freie Nachahmung als Auslese verstanden wurde und somit der Natur verbunden bleibt. Der Weg zum Idealschönen führt allein über das Naturschöne. Zusammensetzung des in der Natur zerstreuten Schönen in Eins: auf diese Weise glaubte man dem Idealschönen näher zu kommen. Wurde nach der ersten Vorstellung das Schöne gleichsam von oben gesehen und zwar so sehr von oben, daß von dort ein Zusammenhang mit dem Sinnlichen fast unmöglich erscheint, so schlug die Nachahmungstheorie (auch in ihrer abgewandelten Form) den umgekehrten Weg von unten herauf ein. Praktisch gesehen ist für sie das Idealschöne nichts anderes als ein zusammengesetztes Naturschöne, wobei immer ein Rest bleibt, der sich nicht aufheben läßt. 5

Die Problematik dieser ganzen Kunsttheorie liegt, wie sich aus dieser kurzen Andeutung ergibt, in ihrer Vermischung der beiden Sphären Natur und Kunst. Auch bei Winckelmann — grade darin können wir seinen Zusammenhang mit der Tradition deutlich spüren — tritt sie sehr klar zutage. Winckelmann bezeichnet die Schönheit als eines der großen Naturgeheimnisse, deren Wirkung wir alle sehen und empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner deutlicher Begriff unter die unerfundenen Wahrheiten gehört 12 . „Die höchste Schönheit" — so sagt er — „ist in Gott und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Einheit'und der Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet." 13 Er vergleicht die Schönheit dem vollkommensten Quellwasser, „welches, je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen fremden Teilen geläutert ist" u . Die Konsequenz dieser Auffassung ist sein Formideal der menschlichen Gestalt, die er als die höchste der Naturformen ansieht: Einfachheit, aber keine Starrheit, Einheit, aber in ihr Mannigfaltigkeit — daher Bevorzugung des jugendlichen „Gewächses" 1 5 — und (aus der Einheit folgend) Unbezeichnung: d. h. die Formen „dürfen weder durch Punkte noch durch Linien beschrieben werden, als die allein die Schönheit bilden", die Gestalt darf „weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sein noch irgend einen Zustand des Gemüts oder eine Empfindung der Leidenschaft ausdrücken, als welche fremde Züge in die Schönheit mischen und die Einheit unterbrechen" 1 6 . Dieses Ideal zu erreichen kann immer nur annäherungsweise möglich sein. Wie weit aber Winckelmann an seine Realisierbarkeit glaubte, zeigt nichts 6

deutlicher als seine Beschreibung des Apollo von Belvedere, den er als das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums anspricht. Der Künstler — so lauten seine ungemein bezeichnenden Worte — „hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebaut, und er hat n u r eben so viel von der Materie dazu genommen, als nötig war, seine Ansicht auszuführen und sichtbar zu machen . . . Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, u m den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen." 1 7 Wird die Vermischung der Sphären Natur und Kunst hier bereits offenbar, so tritt sie in Winckelmanns weiteren Betrachtungen noch deutlicher hervor. Einen nicht unwesentlichen Bestandteil seiner „Geschichte der Kunst des Altertums" bildet die Lehre von den Idealen, die er zwar geschichtlich an der griechischen Kunst entwickelt, im Sinn seines Werkes als des. „Versuches eines Lehrgebäudes" 1 8 aber übergeschichtlich und also allgemein verbindlich und theoretisch meint. Nicht die Tatsache dieser Lehre ist merkwürdig, wohl aber die Stelle, an der sie steht. Die Lehre von den Idealen beschäftigt sich mit der Stufenfolge der verschiedenen göttlichen und menschlichen Seinsmöglichkeiten und sucht sie gegeneinander abzugrenzen und in ein gesetzliches Verhältnis zu bringen. Sie geht von den untersten Stufen aus, steigt dann höher, sie scheidet Alter, Geschlechter usw., kurz, sie beschäftigt sich nicht mehr mit der Einheit der Idee, sondern mit der Mannigfaltigkeit ihrer Ausprägungen. Grenzt die höchste Stufe männlicher Jugend, der Apoll, oder männlicher Reife, der Zeus, vielleicht ein das Ideal, so sind die unteren Grade u m so weiter von ihm entfernt. Da Winckelmann seine Kunsttheorie in die beiden Abschnitte „Bildung der Schönheit" und „Ausdruck" teilt 19 , erwartet man die 7

Lehre von den Idealen unter „Ausdruck" zu finden. In der Tat aber bringt er sie in dem Kapitel über die Schönheit, ohne das Problem zu berühren, daß die Schönheit, die in der Idee eins ist, durch die Ideale ins Unendliche vermannigfaltigt und abgewandelt wird. Durch die Übernahme und individuelle Formulierung der Nachahmungstheorie wird die hier beobachtete Unscharfe in dem Begriff des Idealen noch offensichtlicher. Verharrt die Nachahmungstheorie, wie wir sahen, durch den Gedanken der Auslese innerhalb der Natur, so bei Winckelmann insbesondere, indem er die Überlegenheit der Kunst soweit wie möglich einschränkt und nur im Hinblick auf das Ganze einräumt. Von gleich tiefer Leidenschaft für die Natur wie für die Kunst beseelt, betont er immer wieder, daß stückweise sich ebenso hohe Schönheiten in der Natur finden, „als irgend die Kunst mag hervorgebracht haben" 20 . Die Natur „hat immer erzeugt und erzeugt noch täglich Bildungen des Gesichtes, die zu vergleichen sind mit den Köpfen der höchsten Schönheit. . . Auch in unseren Tagen sieht man in der Wirklichkeit Gestalten wie die Niobe und den Vatikanischen Apollo" 11 . Praxiteles war es möglich, „seine Cnidische Venus nach seiner Beischläferin Cratina" zu bilden, ohne „von gemeldeten allgemeinen großen Gesetzen der Kunst abzuweichen"18. Es ist klar, daß die Ideenlehre der Schönheit ebensowenig wie die Auslesetheorie der Ausbildung eines Geniebegriffes Raum geben konnte. Gewiß ist der Begriff seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr unbekannt (die antike Tradition mußte sich auch hier wirksam erweisen), aber wo man von Genie sprach, da wurde es mehr im Sinne von Empfindung oder Verstand als von schöpferischer Bildungskraft angewandt. Winckelmann spricht zwar in seiner „Geschichte der Kunst des Altertums" von der eingepflanzten Neigung und

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Begierde des Geistes vernünftig denkender Wesen, sich über die Materie in die geistige Sphäre der Begriffe zu erheben und neue und verfeinerte Ideen hervorzubringen. Er spricht von einer neuen geistigeren Zeugung, von edlerer Geburt und nennt die griechischen Künstler „gleichsam . . . neue Schöpfer" 2 3 . Aber — hier zeigt sich der besprochene Zwiespalt zwischen Idealismus und Naturalismus in besonderer Schärfe — dieses gleichsam Neuschaffen ist doch immer nur ein gedankenvolles Nachbilden des in der Natur obgleich verstreut, vereinzelt und unvollkommen Vorhandenen. Es ist ungemein charakteristisch, daß Winckelmann die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden, von der Fähigkeit, das Schöne hervorzubringen, durchaus nicht trennt, daß er daher im eigentlichen Sinn auch von dem Unterschied des Künstlers und des bloßen Kunstliebhabers nichts weiß. Der innere Sinn, den er für den wahren Künstler fordert, ist nichts anderes als „Empfindung" 2 4 . Die Produktivität liegt für ihn in der Auffindung des Naturschönen und in dem Gefühl für Schönheit überhaupt. Wenden wir uns nun von Winckelmann zu Fernow, so fallen uns zunächst eine Reihe von Übereinstimmungen auf. Es ist keine Frage, daß Fernow von Winckelmann berührt worden ist und wenn auch nicht allein, doch aber wesentlich durch ihn mit dem traditionellen Gedankengut der Vergangenheit zusammenhängt. Die Übereinstimmung betrifft in erster Linie Winckelmanns Entgegensetzung von Schönheit und Ausdruck und seine Lehre von den Idealen. Winckelmann nennt in seiner Geschichte der Kunst des Altertums die reine Schönheit im Hinblick auf die Kunst unbedeutend 25 . Sie genügt nicht, sondern muß in den Stand der Handlung und der Leidenschaft gesetzt werden, „welches wir in der Kunst in dem Worte Ausdruck begreifen" 8 *. Ja, er geht so 9

weit, Ausdruck und Handlung (unter Bezugnahme auf ein antikes Schriftwort) das erste, zweite und dritte Erfordernis f ü r den Künstler zu nennen®. Durch den Ausdruck verändern sich die Züge des Gesichtes und die Haltung des Körpers. Je größer diese Veränderung ist, umso nachteiliger ist sie der Schönheit. Je geringer sie ist, umso reiner erhält sich die Schönheit. „Da aber im Handeln und Wirken die höchste Ruhe, und Gleichgültigkeit nicht stattfindet, und göttliche Figuren menschlich vorzustellen sind, so konnte auch in diesen der erhabenste Begriff der Schönheit nicht beständig gesucht noch erhalten werden 1 8 ." Ist also Ausdruck notwendig, muß er zur Schönheit hinzukommen, um sie gleichsam lebensfähig zu machen, so soll doch die Schönheit die „Zunge an der Waage des Ausdrucks und also die vornehmste Absicht"* 9 der Kunst sein. Dieser Entgegensetzung von Schönheit und Ausdruck entspricht bei Fernow das Verhältnis von Ideal und Kunstideal und von reiner und modifizierter Schönheit. Ideal ist f ü r Femow „das in der Einbildungskraft des Künstlers aus der Idee der Gattung gewisser Naturwesen erzeugte, vor seiner inneren Anschauung schwebende Bild derselben, das ihn zum Urbilde und Muster seiner Darstellungen dient" 3 0 , Kunstideal dagegen „die Darstellung eines besonderen Artbegriffes . . . durch ein demselben entsprechendes Bild" 31 . Das Ideal ist also (ähnlich wie Winckelmanns Schönheit) undarstellbar, das Kunstideal (das jenes Urbild „unter mannigfaltigen charakteristischen Bestimmungen nachzuahmen und sichtbar auszudrücken strebt" 3 8 ) die eigentliche Aufgabe der Kunst. Entsprechend scheidet Fernow auch reine und modifizierte Schönheit. Die reine menschliche Schönheit in ihrer abstrakten „noch von keinem Ausdrucke weder der Größe noch eines bestimmten Charakters" 33 modifizierten Form definiert Fernow als das „sichtbare

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Erscheinen der freien Harmonie der in dem Wesen der Menschheit gegründeten Anlagen an der Gestalt" 34 . Sie ist, so sagt er, „die reinste und abstrakteste, aber eben deshalb ist sie auch leer von allem Interesse und erregt bloß das reine Wohlgefallen des ruhig betrachtenden Gemütes, ohne jedoch die anderen Forderungen, die der Kunstsinn an eine Kunstdarstellung macht, zu befriedigen" 3 5 . Wie Winckelmann vergleicht er sie „mit der reinsten aller Flüssigkeiten, mit dem klaren, lauteren Element der Quelle" 3 6 . Die modifizierte Schönheit dagegen ist wie das Kunstideal durch den Artbegriff bedingt. „Jedes Kunstideal hat durch seinen eigentümlichen Charakter auch seine eigentümliche Schönheit" 37 . In der Lehre von den Idealen hat Fernow die Festgeprägtheit und die Rangordnung von Winckelmann übernommen. Die Ideale — so lesen wir bei Winckelmann — sind alle „nach einer von der Natur selbst angedeuteten Idea bestimmet" 3 8 und zwar so, daß sie immer und überall sofort kenntlich sind, bzw. kenntlich sein müssen. „So wie Antinous bloß aus dem Unterteil seines Gesichts und Marcus Aurelius aus den Augen und Haaren eines zerstümmelten Cameo in dem Museo Strozzi zu Rom erkannt wird, so würde es Apollo sein durch dessen Stirne oder Jupiter durch die Haare seiner Stirne oder durch seinen Bart, wenn sich Köpfe desselben fänden, von denen weiter nichts vorhanden wäre" 3 9 . Diese Festgeprägtheit gilt auch hinsichtlich der Stufenfolge der Ideale. Winckelmann bemerkt ausdrücklich, daß z. B. der Charakter eines Gottes von dem eines Helden in der Darstellung scharf geschieden werden müsse 40 . Aus Fernows Aufsätzen können wir eine Reihe ähnlicher Äußerungen herausziehen, die uns zeigen, wie weitgehend auch f ü r ihn diese Lehre noch Gültigkeit hat. Freilich werden schon hier Abweichungen spürbar, die auf den Gegensatz bzw. den Wandel der Grundanschauungen hindeuten. 11

Neben diesen Elementen der Kunsttheorie ist auch das Geschichtsbild Winckelmanns von Femow übernommen worden. Wie bei Winckelmann so finden wir auch bei Fernow die Lehre von den Gezeiten und von der Parallelität der antiken und neueren Kunstgeschichte. Auch die Epocheneinteilung ist im Wesentlichen die gleiche, ja, selbst das Gegenwartsgefühl, das lebendige Bewußtsein der Kulturkrise des 18. Jahrhunderts und die ungebrochene Zukunftshoffnung, ist noch unverändert fast dasselbe. Wir dürfen freilich nicht vergessen, daß dieses Geschichtsbild, wie es Winckelmann selbst aus der Tradition übernommen hatte, auch für Kant, Schiller und erweitert auch für Goethe noch maßgeblich geblieben ist, und daß erst die Romantik — innerhalb der Kunstgeschichte erst Rumohr — seine Fesseln gesprengt hat 4 1 . Der Gegensatz der Grundanschauungen über Natur, Idealität und Schönheit, zu dem wir nun als dem Hauptanliegen dieser einführenden Betrachtungen kommen, betrifft die Problematik der Lehre Winckelmanns und seiner Vorgänger, die Vermischung von Natur und Kunst, den Zwiespalt zwischen kunstfremdem Idealismus und unüberwundenem Naturalismus. Wo Winckelmann die Grenze zwischen NichtDarstellbarem und Darstellbarem offen läßt und die künstlerische Form allein als Auslese der Natur, also als Nachahmung versteht, da gibt Fernow klare Entscheidungen. Er hebt die Vermischung auf und findet den Begriff einer selbständigen künstlerischen Form. Fernow macht nicht die Schönheit, sondern das Ideal zum Grundbegriff der Kunst. Durch das Ideal wird die Kunst grundsätzlich von der Natur geschieden. Kunst muß, wenn anders sie wahre Kunst sein soll, selbst in der Darstellung niedrigster Gegenstände, die ihr erlaubt sind, immer ideal sein. Natur kann selbst in ihren höchsten Erscheinungen nie ideal sein. Das Ideal wird nicht mehr (wie noch bei Winckel12

mann) als ein objektiv gegebenes verstanden, das der Künstler nachzubilden sucht, indem er sich stufenweise über die Materie erhebt. Vielmehr wird es (wir hörten schon davon) vom Künstler erzeugt und hat daher nur subjektiven Bestand. War es bei Winckelmann ein Naturbegriff, so wird es jetzt ein Kunstbegriff. Aus der Nachahmung einer idealen Naturform wird selbständige Kunstform, aus dem Verhältnis einer Abhängigkeit der Kunst von der Natur eine Analogie. Mit der gleichen Schärfe wie die einfache Naturnachahmung wird daher auch die Methode der Auslese verworfen. Indem der Begriff des Ideals in den Vordergrund gerückt wird, scheint es, als ob das Problem der Schönheit seine zentrale Bedeutung einbüßte. An diesem Schein ist ohne Zweifel etwas Richtiges. Für die frühere Kunsttheorie war das Problem der Idealität und der Schönheit eins 42 . Daraus folgt, daß die Forderung der Idealität gleichbedeutend war mit der Forderung, den Kreis des Darstellbaren zugunsten des Schönen zu beschränken. Fernow trennt Idealität und Schönheit. Für ihn bedeutet die Forderung der Idealität in bezug auf die Schönheit zunächst garnichts. Er betont ausdrücklich, daß die Kunst nicht an die Schönheit gebunden sei, sondern auch unschöne Dinge darstellen dürfe. Wenn er trotzdem Kunst immer nur als schöne Kunst versteht, so muß also auch der Begriff der Schönheit bei ihm einen Bedeutungswandel durchgemacht haben. Wie das Ideal aus einem Naturbegriff ein Kunstbegriff geworden ist, so wird auch in der Schönheit zwischen Natur und Kunst streng geschieden. Der wesentliche Unterschied zwischen Natur- und Kunstschönheit liegt in dem subjektiven Charakter aller Kunstschönheit. Dieses entscheidende subjektive Moment treffen wir schon in Fernows Begriff der inneren oder objektiven Kunstschönheit (jener Schönheit, von der wir bereits sprachen, die ein Teil des 13

Ideals ist). Fernow lehnt es ausdrücklich ab, diese „idealische Schönheit des Inhalts" Naturschönheit zu nennen, und wird nicht müde, zu betonen, „daß, sowie in der Natur durchaus keine Kunstschönheit enthalten ist und sein kann, auch in der Kunst, wenn sie ihrem höheren Zweck treu bleibt und den idealischen Charakter durchgängig behauptet, durchaus keine wirkliche Naturschönheit enthalten sein könne und dürfe, da die Kunst im Ideal eine Natur höherer Ordnung darstellt, die nichts Wirkliches oder dem Wirklichen Nachgebildetes duldet" 43 . Wie der Begriff des Ideals so setzt also auch die strenge Subjektivität des Begriffes der idealischen Schönheit des Inhaltes den Begriff einer künstlerischen Form, den Winckelmann noch nicht kennt, voraus, bzw. dient seiner Bildung. War durch die begriffliche Trennung von Schönheit und Ideal zunächst die Schönheit aus ihrer Vormachtstellung verdrängt, so wird ihr diese doch aber in vollem Umfang wieder zurückgegeben. Denn Schönheit ist auch für Fernow der Wertmaßstab, mit dem die verschiedenen Grade des Idealen gemessen werden. War freilich noch bei Winckelmann jede Abweichung von der Schönheit zugleich eine Abweichung vom Ideal und damit ein künstlerischer Mangel, so ist bei Fernow die Vorherrschaft bloß schöner Gegenstände durchbrochen. Der Gedanke der Subjektivität des Kunstschönen und damit der Autonomie der künstlerischen Form findet seinen klarsten Ausdruck freilich erst in Fernows Begriff der „äußeren oder subjektiven Kunstschönheit", die er von der „inneren oder objektiven Kunstschönheit" streng trennt 44 . Mit ihm wird der entscheidende Fortschritt gegenüber der früheren Ansicht erreicht. Er besagt (wenn man ihn in seiner ganzen Tragweite nimmt), daß die Schönheit nicht mehr (oder nicht mehr in erster Linie) im Gegenständlichen, sondern im Formalen gesehen wird. Die Forderungen 14

der Kunst als schöner Kunst können erfüllt werden, selbst wenn die Gegenstände häßlich sind. Denn auch häßliche Gegenstände können schön dargestellt werden. Künstlerische Darstellung wird nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der bloßen Geschicklichkeit, also des Mechanischen, sondern unter dem Gesichtspunkt der Schönheit, also des Schöpferischen, gesehen. Damit rühren wir an das Problem der künstlerischen Produktivität, an das Problem des Genies. Hatten wir beobachtet, daß Winckelmann den Begriff des Genies noch kaum kennt, daß er die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden, von der Fähigkeit, das Schöne hervorzubringen, nicht scheidet, und auch von dem Unterschied des Künstlers und des bloßen Kunstliebhabers nichts weiß, so ist Fernows ausgebildeter Geniebegriff die notwendige Konsequenz seiner Lehre. Betonung des unbewußt bildenden, nicht verstandesmäßig kalkulierenden Schöpfertums, Unterscheidung von Künstler und Kunstliebhaber, Autonomie des Künstlerischen — so dürfen wir seine Hauptzüge umschreiben. „Nicht die bloße Empfänglichkeit für die Rührungen einer Kunst" (sagt Fernow) „auch nicht Trieb und Lust allein, sondern ein unwiderstehlicher Drang und das gelingende Bestreben, selbst Kunstwerke hervorzubringen, eine an schönen Ideen fruchtbare Begeisterung, sind die Merkmale des echten Kunstgenies"46. Dieser Gegensatz der Grundanschauungen bestimmt nun selbst die Teile von Fernows Kunstlehre, in denen wir ihn Winckelmann folgen sahen. Die Unklarheit des Begrifflichen ist auch hier überwunden. Schönheit und Ausdruck, Darstellbares und Nichtdarstellbares. werden streng voneinander geschieden. Von besonderer Wichtigkeit ist die Korrektur an Winckelmanns Lehre von den Idealen. Wenn Fernow auch ein der Geprägtheit der Ideale festhält, so geht er doch nicht wie Winckelmann und seine 15

Vorgänger von einem System fertiger Naturcharaktere aus, die von dem Künstler n u r nachgebildet werden. Vielmehr sind die Charaktere f ü r ihn das Erzeugnis der schöpferischen Einbildungskraft des Künstlers, also Kunsterzeugnis. War f ü r die f r ü h e r e Vorstellung der Kreis des Darstellbaren geschlossen, die künstlerischen Probleme erschöpfbar, so setzt Fernow der Erfindung neuer Charaktere keine Grenzen. Ja, die Fähigkeit, Charaktere zu erfinden, gilt i h m als Maßstab der Produktivität eines Künstlers und einer Zeit. Diese Verschiebung des Gesichtspunktes — auch hier vom Objektiven zum Subjektiven — hat auf der einen Seite zur Folge, daß die Kunstideale nicht m e h r bloße Versinnbildlichungen abstrakter Begriffe, sondern „idealische Individuen" sind, auf der anderen Seite, daß sie nicht m e h r der Sphäre der Natur verhaftet bleiben, sondern einen durchgängig idealen Charakter tragen. Gerade an d e m Begriff des Kunstideals wird deutlich, wie der Winckelmannsche Zwiespalt zwischen Idealismus und Naturalismus aufgehoben worden ist. Fassen wir den Gegensatz der Grundanschauungen zusammen, so müssen wir sagen: die Vermischung von Natur und Kunst, die Winckelmanns Lehre noch anhaftet, ist bei Fernow überwunden, die Autonomie der künstlerischen Form zur festen Vorstellung geworden. Die Folge dieses Gegensatzes ist ein Wandel auch der kunstpädagogischen Anschauungen. Der Gedanke der Lehrbarkeit der Kunst wird durch den Gedanken der Uniehrbarkeit ersetzt, die Forderung der Nachahmung u n d Auslese der Natur streng abgelehnt. An ihre Stelle tritt die Betonung der schöpferischen Einbildungskraft u n d das Lob des Genies. So wichtig diese Verschiebung des Gesichtspunktes vom Objektiven zum Subjektiven ist, wir dürfen freilich nicht übersehen, daß dieser neue Subjektivismus (bereits wieder, möchte m a n sagen, wenn m a n an die Kunstlehre des sog. Sturm und D r a n g denkt) streng

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objektive Züge trägt. Das Ideal, das der Einbildungskraft des Künstlers vorschwebt, ist nicht Willkür, sondern Urbild, die Schönheit nicht Reiz, sondern Forderung. Das Genie steht umso höher, je gesetzlicher es wie die Natur schafft. Wägen wir in der Gegenüberstellung Gegensatz und Übereinstimmung, so ist der Gegensatz wichtiger. Jedenfalls ist er von geschichtlicher Bedeutung. Hängt Winckelmann mit der Kunsttheorie, wie sie sich von Italien aus die übrigen Länder, vor allem Frankreich, erobert hatte, zusammen, so ist Fernows Ausgangspunkt die Lehre Kants. In der „Kritik der Urteilskraft" finden wir seine neuen Gedanken vorgebildet 46 . Mit ihrem Rüstzeug hat er umgeprägt, was ihm von den Anschauungen Winckelmanns noch Bedeutung zu haben schien. Diesen Zusammenhang hat er selbst mehrfach ausgesprochen. In einem Brief an den Schweizer Bildhauer Heinrich Keller heißt es: „Die ersten allgemeinen Prinzipien des Geschmacks und die tiefere Einsicht in das Wesen des Schönen, die aller Kunst zum Grunde liegen, lassen sich nur philosophisch finden, entwickeln und aufstellen. Und dies war nicht früher möglich als nach der glücklichen Totalreform unserer philosophischen Erkenntnis, die wir den Bemühungen und dem Geiste Kants verdanken." 4 7 Seine Aufgabe in Rom als Theoretiker der Kunst sah er durch Kant bestimmt. „Ich hoffe" — so schreibt er dem dänischen Dichter Jens Baggesen — „es dahin zu bringen, daß wenigstens eine gründlichere Kunstkritik in Gang komme. Denn die Begriffe von Kunst, Schönheit usw., die hier, selbst bei den Menschen, von denen man etwas Besseres zu erwarten berechtigt ist, kursieren, sind erbärmlich und seicht . . . Ich bin bei einigen schon als ein Kantianer . . . bekannt." 4 8 Die Lehre Kants ist also die geschichtliche Scheide, die Femow und Winckelmann trennt. Winckelmann 2

Fernow

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schöpft noch aus dem barocken Glauben an die Objektivität des Seins. Haben die Mächte, die das religiöse Weltbild der Vergangenheit geformt haben, für ihn auch keine Bedeutung mehr, die Objektivität des Seins ist ihm noch eine Wirklichkeit, die er nicht anzweifelt. Fernow dagegen, der Schüler Kants, vollzieht auf dem Gebiete der Kunsttheorie Kants kopernikanische Drehung, die den Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. An die Stelle des Objektiven setzt er das Subjektive, an die Stelle der Bindung der Kunst den Gedanken ihrer strengen Eigengesetzlichkeit. Daß es sich hier um einen echten geschichtlichen Gegensatz handelt, wird deutlich, wenn wir unseren Blick auf die Zeitgenossen wenden. Zu Winckelmann treten (um nur die wichtigsten Deutschen zu nennen) Mengs, Sulzer, Lessing mit seinem Laokoon, zu Fernow Schiller (der neben Kant den bedeutendsten Einfluß auf ihn gewonnen hat), Goethe, Wilhelm v. Humboldt und Heinrich Meyer 49 . Nicht die Probleme, wohl aber die Lösungen, die gefunden werden, sind bei den späteren andere. Zwingt uns die Gleichheit der Probleme, vor allem die gleich starke Verehrung der Antike, die Anschauungen der Späteren noch (oder wieder) als Klassizismus zu bezeichnen, so zwingt uns die Verschiedenheit der Lösungen, beide Klassizismen streng voneinander zu scheiden. Der WinckelmannMengssche Klassizismus ist ein Ende. Man kann die barocken Elemente in ihm nicht übersehen. Der spätere Klassizismus (man könnte ihn den Weimarer Klassizismus nennen) dagegen ist (in genau dem gleichen Sinn und Umfang wie Kants Lehre) ein Anfang. Eine selbständige Entwicklung ist freilich auch ihm versagt geblieben. Was er an Zukunftsgehalt barg, sollte erst durch die fruchtbare Gegnerschaft der Romantik zur Auswirkung kommen. — Dem Gegensatz der Kunstanschauungen, Ausklang dort und Neuanfang hier, entspricht der Gegensatz des Kunst18

schaffens, wir braucheil in der Architektur nur etwa Gontard mit Gilly und Schinkel, in der Plastik Canova mit Thorwaldsen, in der Malerei Mengs mit Carstens zu vergleichen. III. Stellt man Fernow und Winckelmann nebeneinander, so darf man die Betrachtung freilich nicht auf den geschichtlichen Gegensatz beider beschränken, wie wir ihn eben aufzuzeigen versucht haben. Die Bedeutung Winckelmanns liegt tiefer als in der bloßen Weitergabe traditionellen Gedankengutes, die ihn mehr der Vergangenheit als der Zukunft zugehören läßt. Sie liegt in dem, was Fernow Winckelmanns „großen und reinen Sinn" genannt hat, in der Ursprünglichkeit seiner Vision des Griechentums und in seiner unvergleichlichen bildnerischen Kraft, dieser Vision Sprache zu leihen. „Man lernt nichts, wenn man ihn lieset, aber man wird etwas" so hat Goethe sich 1827 zu Eckermann über Winckelmann geäußert 50 . Die Geistesgeschichte des Abendlandes ist eine Geschichte der Auseinandersetzung mit dem überkommenen Erbe der Antike. Es gibt kaum eine Epoche, die nicht versucht hätte, dieses Erbe fruchtbar zu machen. Selbst die Gegnerschaft ist noch Zeugnis seiner Bedeutung. Diese Auseinandersetzung ist bis in das 18. Jahrhundert hinein durch das Christentum bestimmt worden, das auf dem Boden der Antike erwachsen, unlöslich mit ihm verbunden, selbst ein Stück antiken Lebens war. Nichts wäre falscher, als in der Aneignung antiker Formen eine Ablehnung christlichen Denkens sehen zu wollen (wie man es lange Zeit bei der Benaissance zu tun versucht hat). Eine Folge dieser engen Verbindung zwischen Antike und Christentum war die beherrschende Vormachtstellung des Römischen. Nicht die griechische, sondern die römische Antike in der Spätphase ihrer 2*

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Durchdringung mit griechischen, orientalischen und barbarischen Elementen ist das Formbecken gewesen, aus dem die Jahrhunderte der christlichen Kunst (noch zuletzt die herrliche Spätblüte der deutschen Barockarchitektur) geschöpft haben. Erst verhältnismäßig spät — in der Kunstliteratur erst im 17. Jahrhundert 5 1 — stieß man durch das Römische auf die reineren und ursprünglicheren Formen des Griechentums. Aber erst bei Winckelmann müssen wir von einer Wende sprechen. Bei ihm trat an die Stelle des natürlichen Nachlebens der Antike — in tieferem Sinn als selbst bei der Renaissance — die bewußte Erneuerung, wenn freilich selbst sein Blick noch mehr auf die spätere als auf die frühere Kunst gerichtet blieb. Winckelmann beschwor das Griechische gleichsam als Gegenbild des Qhristlichen. Antike und Christentum, bisher vereint, traten nun in Gegensatz. Der Kult des Griechentums wurde gleichsam zum Ersatz der christlichen Religion. In dieser geistesgeschichtlichen Tat (deren innerer Zusammenhang mit den Ideen der französischen Revolution und der Lehre Rousseaus unverkennbar ist), nicht in seiner Kunsttheorie und in seiner antiquarischen Gelehrsamkeit, tritt das Geheimnis seiner geschichtlichen Wirkung zutage. Winckelmanns sprachbildnerische Kraft ist Naturbegabung 82 . Und doch (so möchte man meinen) hängt auch und gerade sie auf das innigste mit der Tiefe seiner neuen Vision zusammen. Die Ursprünglichkeit seines Erlebnisses bedurfte als ihres Organes einer an den Gegenständen selbst gebildeten Sprache. Winckelmann ist der erste, der Werke der Kunst nicht hur antiquarisch beschrieben oder nach vorgeprägten ästhetischen Maßstäben beurteilt, sondern in ihrem individuellen künstlerischen Gehalt gedeutet hat. Für die Geschichte der Bildinterpretation hat sein Name die größte Bedeutung. Auch hier berühren wir den 20

Kern seilies Wesens und seiner geschichtlichen Wirkung. Gemessen an dieser Bedeutung muß Fernow zurücktreten. Zu dem geschichtlichen Gegensatz ihrer Anschauungen tritt der persönliche Gegensatz ihrer Begabungen. Zeigte die Gegenüberstellung der Anschauungen die Fortschrittlichkeit Fernows, das Hinausgehen über den Vorgänger, so offenbart sich uns nun — unbeschadet dieser Fortschrittlichkeit — der geistige Abstand beider. „Ich glaube nicht, daß ein großer Maler aus ihm werden wird, aber ich glaube, er wird ein zweiter, größerer Winckelmann werden können" — diese Erwartung Baggesens hat Fernow nicht erfüllt 53 . Der Hauch der Größe fehlt ihm. Der leidenschaftlichen Ursprünglichkeit Winckelmanns steht Femows Kühle und Nüchternheit gegenüber. Das Neue und Bedeutungsvolle, das seine Schriften für den Historiker so interessant macht, ist ihm nicht aus eigener Schau, sondern aus der Übernahme der von ihm freilich in ihrer Tiefe verstandenen Lehre Kants erwachsen. Ist bei Winckelmann die historische Anschauung wichtiger als die Theorie, so tritt bei Fernow das Geschichtliche hinter der Theorie zurück. Fernow war nicht — ich sagte es schon am Anfang — Historiker, sondern Theoretiker. Das Gefühl für die Individualität des Kunstwerks fehlte ihm. Der sprachschöpferischen Leistung Winckelmanns hatte er — so durchsichtig klar sein Stil ist — nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen. IV. Nichts setzt die Bedeutung Winckelmanns in helleres Licht als seine Nachwirkung. Seine theoretischen Anschauungen mochten der Folgezeit nicht mehr genügen, sein antiquarisches Wissen (so wichtig es als Grundlage und Ausgangspunkt späteren Fortschrittes blieb) bald als verbesserungsbedürftig erkannt worden 21

sein, sein Bild des Griechentums blieb u m der Impulse willen, aus denen es geboren war, der Folgezeit lebendig. In der Geschichte von Winckelmanns Nachr u h m hat Carl Ludwig Fernow einen bedeutenden Platz. Er ist der Herausgeber der ersten Gesamtausgabe von Winckelmanns Schriften in deutscher Sprache. Fernow lebte, als er, bedrückt von schwerer Krankheit, diese seine letzte Arbeit in Angriff n a h m , schon nicht m e h r in Rom, sondern als Bibliothekar der Herzogin Amalie in W e i m a r 6 4 . Seine Ausgabe wurde u n t e r tätiger Anteilnahme Goethes, der Fernow nach Weimar berufen hatte, Heinrich Meyers u n d Johannes Schulzes ein Bekenntnis des Weimarer Klassizismus zu Winckelmanns Griechenbild und sollte in ihrer Entstehung — ein Zug, der i m Bilde dieses späteren Klassizismus allzuleicht übersehen wird — zugleich eine nationale Tat in der Zeit des Zusammenbruchs nach 1806 sein. „Ich k a n n " — so schreibt Goethe selbst am 1. Mai 1807 an den Hofrat v. Voigt 5 5 — „in meiner gegenwärtigen Stille keine anderen Pläne hegen als solche, die darauf hinaus gehen, daß Weimar seinen alten literarischen R u h m erhalten u n d von dieser Seite bedeutende W i r k u n g e n äußern möge, zu einer Zeit, da unsere Widersacher, besonders seit den letzten Unfällen, uns so gern f ü r vernichtet erklären möchten. Einer meiner angelegensten Wünsche seit langer Zeit war, daß eine Ausgabe der Winckelmannschen Werke von hier ausgehen möge. Schon bei Edition seiner Briefe geschah dieser Absicht E r w ä h n u n g . " 5 6 Goethe, der auch nach dem Tode der Herzogin Amalie gegen des Herzogs Wunsch Fernow in Weimar festhalten wollte, schildert dem Hofrat die Arbeitsprobleme der Winckelmann-Ausgabe. „Die Sache" — so schreibt er in jenem Brief weiter — „hat ihre großen Schwierigkeiten: denn es ist hier nicht bloß 22

die Rede, das Gedruckte wieder abdrucken zu lassen, sondern es gehört bei einigen Teilen eine ganz neue Redaktion dazu. Besonders ist die Geschichte der Kunst durch die Wiener Ausgabe 57 und durch Zusätze, welche Winckelmann besonders ediert 58 , in eine Verwirrung geraten, daß eine neue Bearbeitung nötig wird. Auch hat sich seit jener Zeit so manches in der Kunstgeschichte und den Hilfswissenschaften aufgeklärt, es ist so vieles gegen Winckelmann und öfters nicht ohne Grund geschrieben worden, wovon der Herausgeber in beigefügten Noten Rechenschaft ablegen m u ß . " Goethe weist darauf hin, daß „nur durch eine Verbindung mehrerer diese Arbeit glücklich vollbracht werden" könne. Fernow habe sich daher „mit Hofrat Meyer assoziiert, und beide halten . . . regelmäßige Konferenzen, in welchen sie die streitigen Punkte besprechen, und das, was jeder für sich gearbeitet, zusammentragen." Hinzukommt — so schließt Goethe seinen Bericht — „noch der Vorteil, eine in dem Fach wohlversehene Bibliothek in der Nähe zu haben, und ich darf wohl anführen, daß auch aus meinem Hause manches Natur und Kunst sowie griechische und lateinische Sprache Betreffendes beigetragen wird." Es ist Goethe denn auch gelungen, Fernow in Weimar zu halten. Briefe Fernows an den Archäologen Böttiger bestätigen und ergänzen Goethes Äußerungen 59 . Auch bei Fernow, den wir in den Pohrtbriefen noch als Anhänger nicht nur der französischen Revolution, sondern auch der napoleonischen Politik kennen lernen, spüren wir unter den Erfahrungen des Zusammenbruchs von 1806 das Erwachen des Nationalgefühls. Am 30. November dieses Jahres schreibt er: „Fuimus Borussil Aber nicht Fuimus Germani! — Das werden wir Gott zu Ehren und jedem Erbfeinde unserer Germanität zum Trotz doch bleiben, und 23

diese Wahrheit wird alle unsere Feinde überleben. Unsere Deutschheit sitzt tiefer als in den baufälligen Formen unserer gotischen und chaotischen Verfassung, die nur eben noch notdürftig bestand, weil sie einmal da war, und zu deren Zertrümmerung es nur eines Heldenarmes bedurfte. Wäre ich dessen nicht so innig wie meines eigenen Daseins gewiß, so würde ich trauern um des deutschen Reiches Untergang, aber Deutschland und, was mehr ist, deutscher Geist, deutsche Bildung, deutsche Sprache, wird nicht untergehen, was für Kalamitäten uns auch noch betreffen mögen 6 0 ." Ähnlich wie Goethe sali auch Fernow in der Literatur das Gewissen der Nation. „Behalten wir nur unsere Literatur, so bleiben wir auch eine Nation, und wenn unsere Schriftsteller nicht aus Feigheit oder niederträchtigem Ehrgeiz sich ihrer Muttersprache zu schämen anfangen (wie unsere Fürsten längst getan haben, wofür sie nun ihren wohlverdienten Lohn erhalten), sondern im Gegenteil alle ihre Kraft und ihren Nationalgeist aufbieten, sie zu immer höherer Vollkommenheit auszubilden, so werden wir die Zeit der Trübsal nicht nur glücklich überstehen, sondern auch geläutert im Feuer derselben und des eklen Wustes unserer Skribler entledigt, siegreich aus dem langen Kampf hervorgehen, wenn längst die Gebeine unserer stolzen Eroberer zu ihren Vätern versammelt sind 6 1 ." Dieses vaterländische Ethos ist neben dem Bekenntnis zu Winckelmanns Griechenbild der Hintergrund, vor den Fernows Winckelmannausgabe gerückt werden muß. Die Ehre unserer Literatur erfordert es — so lesen wir wiederum in einem Brief an Böttiger 82 — „daß wir uns nicht von den Ausländern, welche schon mehrere vortreffliche Ausgaben von Winckelmanns Geschichte der Kunst veranstaltet haben, an dankbarer Verehrung eines Schriftstellers übertreffen lassen, der 24

zuerst die deutsche Nation von dem Vorwurf, keinen Geschmack in den schönen Künsten zu haben, befreit, und sich an den anderen Nationen, die sich über uns in diesem Punkte weit erhaben dünkten, dadurch gerächt hat, daß er, ein Deutscher, ihnen zuerst den wahren Schönheitssinn und Geist der Antike aufschloß«8." Im Februar 1807 hatte Fernow sich von dem Buchhändler Walter in Dresden, dem Verleger der deutschen Erstausgabe der Geschichte der Kunst des Altertums, Winckelmanns sämtliche Schriften schicken lassen84. Es scheint, daß er zuerst an ein rasches Fortschreiten der Arbeit gedacht und geglaubt hat, sich wesentlich auf eine Biographie Winckelmanns beschränken zu können65. Aber schon im Mai des gleichen Jahres hören wir durch Goethe von den „gemeinsamen Konferenzen mit Meyer" 46 , und in der Tat ist erst im folgenden Jahr mit der Drucklegung der Ausgabe begonnen worden. Allein die beiden Bände des Jahres 1808 nennen Fernow als Herausgeber. Der erste Band enthält Fernows biographische Einleitung, ferner die Jugendschriften, der zweite die „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst" und den „Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst". Die Anmerkungen zum Versuch einer Allegorie sind zum großen Teil von Heinrich Meyer gearbeitet worden 6 '. Ob Meyer schon an den Anmerkungen der übrigen Abhandlungen beteiligt ist, vermögen wir im einzelnen nicht mehr zu sagen. Zunehmende Krankheit machte Fernows Arbeit immer schwieriger. „Der Text für den dritten Teil" — so schreibt er an Böttiger am 22. September 1808 — „mit dem die eigentliche Arbeit anhebt, und welcher den ersten Hauptabschnitt der Kunstgeschichte enthalten wird, ist bereits in Ordnung, an die Noten soll auch bald gegangen werden, und mit Meyers Beihilfe hoffe ich noch das Ganze glücklich zu bestreiten 68 ." 25

Diese Hoffnung trog. Der Tod nahm ihm am 4. Dezember 1808 die Arbeit aus der Hand, ehe noch die Fertigstellung des dritten Bandes erreicht worden war*®. Heinrich Meyer und Johannes Schulde traten Femows Erbe an70. Aber erst im Jahre 1820 ist das von Fernow begonnene Werk vollendet worden. ANMERKUNGEN 1

Vgl. S. 69. Vgl. v. Einem, Carl Ludwig Fernow, Berlin 1935, S. 11. * Drei Bände, Zürich 1806—1808. 4 Römische Studien I, S. 438. 8 Römische Studien I , S. 427f. * Römische Studien I, S. 438. ' Römische Studien I, S. 441. 8 Vgl. dazu Waetzoldt, Deutsche Kunsthistoriker I, Leipzig 1921, S. 79. * Vgl. Kamphausen, Asmus Jacob Carstens, Neumünster 1941, S. 95. 10 Die Verwurzelung Winckelmanns in der Kunsttheorie der Vergangenheit ist am besten aus Julius v. Schlosser, Die Kunstliteratur, Wien 1924, ersichtlich. Für das Verhältnis zur französischen Kunsttheorie vgl. Baumecker, Winckelmann in seinen Dresdner Schriften, 1933. Für Winckelmanns Weltbild im Ganzen ist immer noch Carl Justis unvergleichliches Werk, Winckelmann und seine Zeitgenossen, erste Auflage 1866—1872 heranzuziehen. II Schlosser, a. a. O. S. 598. Vgl. auch in Lessings Emilia Galotti (1. Aufzug, 4. Auftritt) die berühmte Stelle: „Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?" 11 Winckelmanns, Werke, hrsg. von C. L. Fernow, Dresden 1808ff. (Die folgenden Zitate i m m e r nach dieser Ausgabe): Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 38. 18 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 52. 14 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 54. 's Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 57. 14 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 54. ,T Geschichte der Kunst der Altertums VI, S. 260. 18 Vgl. die Vorrede der Geschichte der Kunst des Altertums i n , s . i . I

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Vgl. Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 55. Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 63. 21 Vorläufige Abhandlung von der Kunst der Zeichnung der alten Völker, VII, S. 80. 2! Gedanken üher die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und der Bildhauerkunst I, S. 18. 88 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 71 f. 24 Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kirnst II, S. 354. 85 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 158. 26 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 55. 27 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 135 f. 28 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 138. 28 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 138. 30 Römische Studien I, S. 340. 81 Römische Studien I, S. 41. 82 Römische Studien I, S. 340. 88 Römische Studien I, S. 353. 81 Römische Studien I, S. 353. 85 Römische Studien I, S. 354. 88 Römische Studien I, S. 354. 87 Römische Studien I, S. 403. 88 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 96. 88 Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 96. 40 Vgl. Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 104. 41 Vgl. hierzu Schlosser, a. a. O. S. 283, 458 und 460 und Erwin Panofsky, Das erste Blatt aus dem Libro Giorgio Vasaris. Städel-Jahrbuch 1930. 48 Die Stelle in Geschichte der Kunst des Altertums IV, S. 55 spricht nicht dagegen. 48 Römische Studien I, S. 324 f. 44 Vgl. v. Einem, a. a. O. S. 32 f. 48 Römische Studien I, S. 272. 48 Kants Kritik der Urteilskraft, in erster Auflage 1790 erschienen. 47 Der Brief vollständig abgedruckt bei v. Einem, a. a. O. S. 208. 48 Aus Jens Baggesens Briefwechsel mit Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Heinrich Jacobi, II Leipzig 1831, S. 376. 48 Vgl. hierzu v. Einem, a. a. O. S. 79ff. 80 Eckermann, Gespräche mit Goethe, 16. Februar 1827. 61 Vgl. Schlosser a. a. O. S. 454 und 457 und Kamphausen a. a. O. S. 270. — Vgl. hierzu ferner Walter Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken, Leipzig 1930. 30

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Den., Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland, Germanisch-romanische Monatsschrift XXII, 1934. Ders., Griechentum und Goethezeit Leipzig 1936 und v. Einem, Göttingische Gelehrte Alizeigen 1938, S. 406. 11 Freilich auf das bewußteste ausgebildet. Es wäre eine dankbare Aufgabe, Winckelmanns Sprachstil in seinen Voraussetzungen und in seiner Bedeutung zum Gegenstand einer Spezialuntersuchung zu machen. Diese Aufgabe ist in der Dissertation von Hildegard Jench, Untersuchungen zum Stil Winckelmanns mit besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Kunst des Altertums, Königsberg 1939, nicht einmal gesehen worden. «* Vgl. T. Einem, a. a. O. S. 181, Anm. 15. " Vgl. v. Einem, a. a. O. S. 14f. M Goethes Werke, Weimarer Ausgabe IV, Bd. 19, Nr. 5360. " Gemeint ist Goethes Werk „Winckelmann und sein Jahrhundert", Tübingen 1805, zu dessen Mitarbeitern neben dem Philologen Wolf in Halle und Heinrich Meyer auch Femow gehörte. Vgl. v. Einem, a. a. O. S. 215. 57 Nach dem Tode Winckelmanns 1776 in Wien erschienen. u Gemeint sind die „Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Altertums", Dresden 1767. * 54 Im Besitz der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Ober Veröffentlichungen Tgl. v. Einem, a. a. O. S. 216. 40 Veröffentlicht von Lydia Gerhard, Carl Ludwig Femow, Leipzig 1908, S. 187. — Vgl. dazu die noch versteckt ironischen Sätze Wielands: „In meiner Kindheit wurde mir zwar von allerley Pflichten vorgesagt, aber von der Pflicht, ein deutscher Patriot zu seyn, war damals so wenig die Rede, daß ich mich nicht entsinnen kann, das Wort deutsch (Deutschheit war noch ein völlig unbekanntes Wort) jemahls ehrenhalber nennen gehört zu haben." Über deutschen Patriotismus in Aufsätzen über die französische Revolution 1793. Ges. Werke Bd. 29, Leipzig 1797, S. 471 ff. •i In dem gleichen Brief an Böttiger vgl. Gerhard, a . a . O . S. 189f. •» Brief vom 15.Feburar 1807. Vgl. Gerharda.a.O. S. 199. M Vgl. auch Friedrich August Wolf, in Winckelmann und sein Jahrhundert, Tübingen 1805: „Oft habe ich mich m i t einem Gedanken getragen, den ich beifügen will. Sollte nicht endlich der Wunsch einer vollständigen Sammlung der Schriften Winckelmanns unter dem Volke rege werde»,

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das ihm so vielen nationalen Ruhm bei den Ausländern verdankt?" ** Vgl. Gerhard, a. a. O. S. 199. 45 Am 15. Februar 1807 schreibt er an Böttiger: „Am Text habe ich nur wenig zu tun, dafür muß ich das Leben Winckelmanns ausarbeiten . . . In Jahresfrist könnte dieses •ollendet sein." Vgl. Gerhard, a. a. O. S. 199. •• 1. Mai 1807, vgl. Anm. 55. Vgl. auch die VoiTede zum ersten Band, wo Fernow von den „Teilnehmern" dieser Ausgabe spricht. Goethe selbst, von dem Fernow „einen Aufsatz, eine Einleitung oder etwas ähnliches . . . welches bei dem Liebhaber-Publikum von guter Wirkung sein könnte" (Brief vom 15. Februar 1807 an Böttiger, Gerhard a. a. O. S. 200) erhofft hatte, scheint sich allein auf beratende Mitwirkung beschränkt zu haben. " Fernow schreibt an Böttiger am 22. September 1808: „Haben Sie Meyers Anmerkungen und Zusätze zu Winckelmanm Versuch einer Allegorie gelesen? Ich hoffe, man wird sie wohl aufnehmen, und sie als eine nicht unnütze Beigabe ansehen." (Gerhard, a. a. O. S. 227 f.). •• Gerhard, a. a. O. S. 228. Von Femows Vorarbeiten für die Winckelmannausgabe haben sich noch erhalten: Entwurf zur Winckelmannausgabe, Dresden, Sächsische Landesbibliothek. Abschriften eines Winckelmannmanuskriptes und Winckelmannscher Briefe, Leipzig, Sammlung Kippenberg (vgl. dazu Uhde-Bernays, Zeitschrift für bildende Kunst 1918 und Deetjen, Repertorium für Kunstwissenschaft 1925). •• Vgl. Böttigers Neprolog Fernows in der Zeitung für die Elegante Welt 1808, Dezember: „Der dritte und vierte Band ist für Winckelmanns Hauptwerk, die Geschichte der Kunst bestimmt, wobei die Berichtigung des Textes wie bekannt keine geringe Schwierigkeit hatte. Fernow selbst hat hier noch bei seinem Leben trefflich vorgearbeitet." Vgl. feiner Neue Jenaer Allgemeine Literaturzeitung Intelligenzblatt 20, 1809, S. 197f.: „In einer vor kurzem in der Halleschen Literaturzeitung erschienenen Biographie Femows steht u. a. die Unrichtigkeit: der Verstorbene habe zum Behuf seiner angefangenen Ausgabe von Winckelmanns Werken noch den ganzen Text der Geschichte der Kunst selbst konstituiert. Das Wahre ist: daß Fernow nicht einmal mit der kurzen allgemeinen Einleitung fertig geworden ist. Das begonnene Unternehmen selbst wird aber von nun an ununterbrochen zu Ende geführt werden, wozu sich die Herren Hofrat Meyer und Professor Schulze dergestalt vereinigt haben, daß der letztere die kritische Anordnung des Textes,

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die Auswahl aus Feas Anmerkungen und die (bei den Zitaten oft nötige) Revision der Winckelmannschen besorgt, der erstere aber die folgenden Bände nicht minder als die schon erschienenen mit seinen eigenen Bemerkungen über einzelne vorkommende Gegenstände ausstattet. Welches mit Bewilligung der Herren Herausgeber angezeigt wird, um allen vorlauten Nachrichten schlecht Unterrichteter zuvorzuk o m m e n . " — Besprechungen der Fernowschen Winckelmannausgabe sind angeführt bei Rossetti, II Sepolcro di Winckelmann in Trieste, Venezia 1825. Eine Besprechung Böttigers in seiner Vorrede zu Rossettis Schrift: Winckelmanns letzte Lebenswoche, Dresden 1818. 70 Über Heinrich Meyer, vgl. Brief VI Anm. 9. — Johannes Schulze, Theologe und Altphilologe, geboren 1786 in Bruel, Mecklenburg, gestorben 1869 in Berlin. 1809—1812 in W e i m a r Gymnasialprofessor. 1818 wurde er als Hilfsarbeiter in das neugegründete Kultus- und Unterrichtsministerium berufen, dem er vier Jahrzehnte angehörte, seit 1849 als Direktor der Unterrichtsabteilung, seit 1852 als Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat. E r ist mit dem Minister v. Altenstein der eigentliche Schöpfer des höheren preußischen Bildungswesens. — Der achte Band (das Register) ist von C. G. Sibelis bearbeitet worden.

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FERNOWS BRIEFE AN JOHANN POHRT

I Unter den Briefsammlungen, die sich von Fernows Hand erhalten haben, nehmen die Briefe aus Rom an Johann Pohrt einen besonderen Platz ein. Sie umfassen den Zeitraum von 1793—1798 und geben vom Mai 1796 bis zum Januar 1798 von Posttag zu Posttag regelmäßige chronikartige Berichte über Fernows Leben, Arbeiten und Lektüre, über das deutsch-römische Künstlertreiben, über die politischen und militärischen Ereignisse jener für Rom wie für ganz Italien so schicksalsschweren und turbulenten Jahre des napoleonischen Feldzuges. Eine Fülle von Menschen, Schriftsteller, Künstler, Gelehrte, Weltleute, ziehen an unserem Auge vorüber, verschieden an Nationalität, gesellschaftlicher Herkunft und Interessenrichtung, verbunden durch das gemeinsame Erlebnis der italienischen Landschaft, der weltgeschichtlichen Atmosphäre Roms, der klassischen Antike und der Renaissancekunst. Ebenso fesselnd wie die Einblicke in das Leben der Fremden auf römischem Boden ist die Spiegelung des heimischdeutschen Geisteslebens in der Ferne, die uns die Briefe geben. Die neuesten Werke der Dichtkunst und Philosophie werden mit Sehnsucht erwartet, mit Leidenschaft zum Teil in spärlichen Erstausgaben, die über die Alpen wandern, z. T. in handschriftlichen Auszügen des „treufleißigen' 1 Freundes aufgenommen, angeeignet, kritisiert, abgelehnt, je nach Charakter und Richtung, der sie zugehören. Die Namen Kant, Reinhold, Fichte, Goethe, Schiller, Wieland, Herder und viele andere begegnen immer wieder. Auch von den Spannungen und Parteiungen des deutschen Geisteslebens jener Tage fangen Fernows Briefe charakteristische Züge auf. Zwar noch nicht von der großen Spannung zwischen 3

F«raow

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Klassikern und Romantikern, die erst später in Erscheinung trat und in die auch Fernow später von Weimar mit seinem Carstens-Buch eingreifen sollte (in den Briefen an Pohrt vermutet er noch Goethe als Verfasser der gerade erschienenen „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders"), wohl aber von der Spannung zwischen den in Wollen und Tun verbündeten Weimaranern und Kantianern und der christlich-pietistischen Richtung, wie sie — als Vorbote der Romantik, aber ebensosehr noch gespeist von älteren Vorstellungen — durch den Wandsbecker Boten, vor allem durch die Gebrüder Stolberg, durch Goethes Schwager Johann Georg Schlosser, Friedrich Heinrich Jacobi u. a. vertreten wurde. Fernow begegnete dieser Richtung in Rom im Hause des holsteinischen Edelmannes und Diplomaten Friedrich Karl Grafen v. Reventlow, der zusammen mit seiner Gattin Julie, geb. Gräfin Schimmelmann, in den Jahren 1795—1797 in Italien Heilung schwerer körperlicher Leiden suchte und dessen holsteinische Besitzung Emkendorf später ja noch Zuflucht und Zentrum dieser Richtung blieb. Es ist lehrreich genug, mit welcher Abneigung im Reventlowschen Hause gerade Goethes Schriften aufgenommen wurden (Fernows Briefe zeigen es immer wieder), kennen wir doch auch Goethes hartes und unversöhnliches Urteil über den „christlich-moralisch-aesthetischen Jammer, der sich an den Ufern der Ostsee in der ohnmächtigsten Aufgeblasenheit versammelt". „Es ist weder ein Bund noch eine Gesellschaft" — so schreibt er am 30. Oktober 1796 an seinen Freund Heinrich Meyer nach Florenz, und dieses Urteil deckt sich mit Fernows Ansicht — „sondern der höchste Grad von Schwäche, Armut, Verworrenheit und Eigendünkel, der sie verbindet. Denn im Grunde sind sie miteinander garnicht einig als darin, daß sie gern alles, was sich über das Niveau ihrer Misère er34

hebt, dem Erdboden gleichmachen möchten 4 ". Freilich irrten Goethe und Meyer, wenn sie die dänische Dichterin Friederike Brun, deren Begleiter auf ihrer Italienfahrt von 1795—1796 und Erzieher ihrer Kinder Johann Pohrt war, jenem Kreise zurechneten. Fernow betont mehrfach in seinen Briefen den Gegensatz der Atmosphäre in ihrem und im Reventlowscben Hause, und wir haben keinen Anlaß, ihm, der in beiden ein oft gesehener Gast war, unsern Glauben zu versagen. Wir sehen schon aus diesem kurzen Einblick in ihren Inhalt, daß Fernows Briefe kein anderes Ziel haben, als den Freund an den Freuden und Sorgen seines römischen Daseins teilnehmen zu lassen und umgekehrt durch ihn an dem literarischen Leben der Heimat teilzuhaben. Wie der Schriftsteller Fernow nicht so sehr durch die Kühnheit und Selbständigkeit eigener Ideen als durch die hellsichtige Aufnahme des bedeutendsten Gedankengehaltes seiner Zeit und seine systematische Verarbeitung unsere Aufmerksamkeit verdient, so fesselt auch der Briefschreiber weniger als Persönlichkeit denn als Spiegel seiner Umgebung. Freilich ist seine Persönlichkeit stark genug, um seinen Berichten doch eine unverkennbar eigene Prägung zu geben. Wir lernen Fernow in diesen Briefen als rechtlich liebenswerten Charakter kennen, leidenschaftlich dem geschichtlich Bedeutenden im Geistesleben und in der Politik zugetan, ein Freund des genialisch Starken gegen alles schwächlich Halbe („wer nackte Schönheit und Fülle der lebendigen Natur zu sehen gewohnt ist, der wird auch an der freien Laune des Genies kein Ärgernis nehmen", so verteidigt er Goethe gegen die Reventlows), unerbittlich gegen Herrschaftsansprüche überwundener Anschauungen, unbestechlich dem Guten ergeben. Wir sehen, daß er nicht bloß Theoretiker war. In einem langen Brief (Nr. XXXIII unse3*

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rer Sammlung) setzt er, dessen schriftstellerische Arbeit neben Sprachstudien einzig der bildenden Kunst gewidmet war, seine Ideen über Leben, Tod und Unsterblichkeit auseinander (wobei wir so recht die Lebensmacht des Philosophierens jener Tage gewahr werden). „Das wirksame Leben" — so sagt er ein andermal — „ist doch eigentlich unser Zweck, nicht das kontemplative". Die Tiefe seines Gefühles offenbart uns der Brief vom 14. Oktober 1797, den er vom Krankenlager Carstens' schrieb. So können wir Charlotte Schiller recht geben, die nach ihrer Lektüre von Johanna Schopenhauers Fernow-Buch an die Prinzessin Karoline Luise von Sachsen-Weimar schrieb: „Seinen Verstand haben wir immer sehr geehrt. Aber diese Vielseitigkeit und auch wieder dies Gefühl sieht man doch jetzt erst in seinen Briefen."®

n Carl Ludwig Fernow4 ist 1765 als Kind armer Bauern in Blumenhagen bei Pasewalk geboren. Von früh auf Kunst und wissenschaftlichen Gegenständen mit Leidenschaft zugetan, zwang ihn jedoch die Not, seine Laufbahn als Apotheker zu beginnen. Acht harte Lehrjahre war er in Anklam. 1786 gelang es ihm, an der Ratsapotheke in Lübeck ein Anstellung zu finden. Hier lernte er Carstens kennen. Die Bekanntschaft mit dem neun Jahre älteren Künstler, der eben von seiner ersten Italienreise zurückgekehrt war, entschied über sein ferneres Leben. „Gleichheit der Neigungen" — so berichtet er in seinem Carstensbuch — „knüpfte bald eine innige Freundschaft zwischen beiden. Der Verfasser war damals noch ein Jüngling. Frühe schon von einem lebhaften Trieb zur Kunst beseelt, aber in einem Lande geboren, wo dieser Trieb keine Nahrung finden konnte, hatte er bis dahin noch nie Gelegenheit gehabt, ein Kunstwerk 36

der höheren Gattung zu sehen, geschweige einen Zweck der Kunst zu erkennen, der weiter ginge als auf die bloße Nachahmung des Wirklichen. Wer die prosaischen Gegenden Niederdeutschlands kennt, wo der Verfasser seine Jugend verlebt hat, die Uckermark, Pommern und Mecklenburg, der wird wissen, welche Seltenheit dort Kunstwerke sind, und daß man da wohl. . . sein 20. Jahr verleben kann, ohne je ein historisches Gemälde oder sonst ein gutes Kunstwerk gesehen zu haben. Carstens lehrte ihn zuerst eine höhere Sphäre der Kunst kennen. Der immer rege Enthusiasmus des Künstlers teilte sich der Empfänglichkeit des jüngeren Freundes mit, und der gleiche Trieb, welcher unter ihnen bald das enge und doch freie Verhältnis des Lehrenden und Lernenden erzeugte, knüpfte zugleich das Bernd ihrer Freundschaft mit jedem Tag fester. Die Kunst war der stete Gegenstand ihrer Unterhaltungen, ihrer Übungen, ihrer Wünsche und Pläne f ü r die Zukunft." 6 Als Carstens im Jahre 1788 nach Berlin ging, stand Fernows Plan, den Beruf des Apothekers mit dem des bildenden Künstlers zu vertauschen, fest. Durch Porträtmalen hoffte er sich die Mittel für das Studium an einer Akademie oder für eine Reise nach Rom zu verdienen. Als ihn aber der Zufall 1791 nach Jena f ü h r t e , entschied, wenn auch noch nicht endgültig, das Schicksal anders. Eine Vorlesung des Philosophen Reinhold bewegte ihn so, daß er beschloß, „auf welche Art es auch sei, diese glückliche Gelegenheit zur Aufräumung in seinem Kopf zu nutzen und, wenn auch nur auf ein Jahr, auf der Universität zu bleiben und Reinholds Vorlesung zu besuchen." 6 Fernow lebte zwei Jahre in Jena ganz im Studium der Philosophie. Diese Jahre waren von der größten Wichtigkeit für ihn. Die Wandlung vom praktischen Künstler zum Kunsttheoretiker, die sich endgültig erst in Rom vollzog, bereitete sich, entscheidend vor. 37

Es ist ungemein charakteristisch für die Richtung der ganzen Zeit, wie hier ein angehender Maler seine praktische Ausbildung zurückstellt, um Kopf und Geschmack theoretisch auszubilden. Denn Fernow verzichtete damals noch keineswegs auf den Beruf des bildenden Künstlers. Der Hauptge gen stand seiner jenenser Studien als Schüler Reinholds war die kantische Philosophie. Jena war in diesen Jahren das wichtigste Zentrum für sie. Die Beiträge der von Schütz 1785 gegründeten Jenaischen Allgemeinen Litteraturzeitung und die „Briefe über die Kantische Philosophie", die Reinhold in den Jahren 1786—87 in Wielands Teutschem Merkur hatte erscheinen lassen, hatten mit der Erkenntnis der epochalen Bedeutung Kants in erster Linie den Ruhm der neuen Lehre in Deutschland begründet. Durch die 1790 erschienene „Kritik der Urteilskraft" hatte die kritische Bewegung einen neuen mächtigen Impuls erfahren. Aus Briefen von Reinhold an Kant wissen wir, wie sehr seine KantVorlesungen vom Anfang der 90er Jahre besucht waren. 7 Wir dürfen annehmen, daß es auch ein Kant-Kolleg Reinholds gewesen ist, das Fernow zum Bleibeil in Jena veranlaßt hat. In freundschaftlichem Umgang mit Reinhold, dessen er sehr bald gewürdigt wurde, mußten die dort empfangenen Anregungen noch vertieft werden. Neben Reinhold hat Schiller in Jena die größte Anziehungskraft auf Fernow ausgeübt. Wir wissen, daß er ihn persönlich kennen gelernt hat. Vermutlich wird er (obwohl darüber keine Nachrichten vorhanden sind) im Winterhalbjahr 1792/93 Schillers ästhetische Vorlesungen gehört haben, die in einer ersten Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft schon den Einsatzpunkt seiner eigenen über Kant hinausgehenden Ideen brachten. Mit Kant und Schiller sind beide Namen genannt, die für 38

Fernows Arbeit wesentliche Bedeutung gewinnen sollten. Hier in Jena wurde der Keim gelegt, der freilich erst im unmittelbaren Anschauen der großen Kunstwerke auf italienischem Boden zur Entfaltung kommen sollte. Jena wurde aber noch in anderer Weise für Fernow bedeutungsvoll. Im Sommer 1793 lernte er in Reinholds Hause den dänischen Dichter Jens Baggesen kennen, der auf einer Europareise begriffen war und über die Schweiz Italien, Sizilien und Spanien zustrebte. Baggesen lud Fernow ein, ihn auf seiner Fahrt von Bern aus zu begleiten. Fernow nahm die unerwartete Gelegenheit, sein ursprüngliches italienisches Ziel zu erreichen, wahr. Er brach seine philosophischen Studien ab und machte sich alsbald mit ein paar Wandergenossen zu Fuß von Jena nach Bern auf. Die gemeinschaftliche Reise fand freilich schon in Florenz ein vorzeitiges Ende. Ungünstige Familienverhältnisse zwangen Baggesen, zur Familie seiner Frau nach Bern zurückzukehren. Fernow begleitete ihn und blieb mehrere Monate dort, um sich durch Porträtmalen die Mittel für eine zweite Italienfahrt zu erwerben. Die Ansprüche des von früher Jugend Entbehrungen Gewohnten waren nicht groß. „Ein Stück Brot, ein Stück Leinwand und Studium Raffaels, mehr bedarf es in Rom nicht, um mich glücklich zu machen 8 ." Endlich konnte er, unterstützt durch zwei österreichische Freunde Reinholds, Baron Herbert und den in unseren Briefen häufig erwähnten jungen Grafen Purgstall, im August 1794 den zweiten Versuch unternehmen, der ihn am 19. September desselben Jahres nach Rom brachte. Fernow blieb dort bis zum Jahre 1803. Bis zum April 1795 wohnte er mit Carstens zusammen. Aber auch als Carstens der öffentlichen Ausstellung seiner Werke wegen in die größere Wohnung Battonis and Fernow zu dem Landschaftsmaler Reinhart ge39

zogen war, blieb sein Arbeitsplatz in Carstens' Atelier, bis der Tod i m Mai 1798 den Freund hinwegraffte. In Rom vollzog sich die endgültige Wandlung vom Künstler zum Kunsttheoretiker. I n einem Briefe an Baggesen schreibt e r : „Sie haben, ohne daß wir beide es w u ß t e n , mich einem Zwecke entgegengeführt, der, nach meiner jetzigen Überzeugung, sich eigentlicher f ü r mich schickt als der, welchen ich, meiner f r ü h e r e n Neigung nach, hier zu erreichen wünschte. Der Lauf meiner Schicksale und die Art meiner Geistesbildung scheinen mich, wie ich allmählich einsehen lerne, weniger zum Künstler bestimmt zu haben als mein f r ü h e r u n d auch jetzt noch dauernder Trieb, dem es zu lange an Gelegenheit zur Befriedigung gemangelt h a t 9 . " Dieser Verzicht bedeutete f ü r Fernow keineswegs eine Resignation. Über das persönliche G e f ü h l der Befriedigung hinaus, endlich die seinen Kräften angemessene L a u f b a h n gefunden zu haben, hatte er die Überzeugung, eine Aufgabe von geschichtlicher Bedeutung zu erfüllen. ,,Die philosophische Erkenntnis des Wesens und Zweckes der Kunst von d e m Erhabensten bis zum Unwürdigsten herab haben meine Überzeugung m e h r und m e h r befestigt, daß auch hier, wie in so vielen anderen Mängeln und Gebrechen menschlicher Dinge, die Philosophie den W e g zur A u f n a h m e und Besserung b a h n e n kann u n d soll 1 0 ." Fernows öffentliche Wirksamkeit als Schriftsteller u n d L e h r e r begann i m Jahre 1795. Über seine meist in Wielands Neuem Teutschen Merkur, in Eggers Deutschen Magazin u n d in Meusels Miscellaneen erschienenen Aufsätze brauchen wir hier nicht zu sprechen. Ihre Gedanken haben uns in der Einleitung schon beschäftigt. Die unmittelbare W i r k u n g dieser Arbeiten war nicht groß. F ü r die Begründung seines literarischen Ruhmes war sein römischer Aufenthalt sehr nachteilig. Hätte er damals schon engere Be-

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Ziehungen zu Goethes Kreis gehabt, so hätte die Fremdheit, ja Feindlichkeit nicht entstehen können, die erst später nach persönlicher Bekanntschaft einer Anerkennung, Achtung und Bundesgenossenschaft weichen sollte. Neben Fernows schriftstellerischer Tätigkeit, in der er den zunächst nicht sehr erfolgreichen Versuch machte, in das aesthetische Treiben der deutschen Heimat einzugreifen, standen seine Bemühungen, in Rom selbst an dem von ihm erhofften und prophezeiten Aufschwung der Kunst tätig mitzuwirken. Im Winter 1795/96 hielt er in der Wohnung des Prinzen August von England seine berühmt gewordenen Vorlesungen über Aesthetik nach • Kantischen Prinzipien. „Mein Auditorium, das aus Künstlern, Gelehrten und Kunstfreunden besteht" — so berichtet er an Reinhold — „ist 36 Personen stark. Der Prinz selbst, den solche Dinge nicht interessieren, ist mein Zuhörer nicht. Aber ich habe den Vorteil, sie in seinem Hause halten zu dürfen und dadurch dem Verdacht eines geheimen, verdächtigen Klubs zu entgehen, dem unsere abendlichen Zusammenkünfte gewiß ausgesetzt, wodurch sie vielleicht gar gestört werden könnten. Meine ersten Stunden haben das Glück gehabt, nicht zu mißfallen, und mir das Vertrauen für die künftigen erworben. Ich bestrebe mich, meine Vorlesungen besonders nach Ort und Person und dem Bedürfnis der letzteren einzurichten. Denn so angebaut die Phantasie mancher Künstler ist, so öd und wüst ist mehrenteils der Verstand- Das große Bedürfnis ist nun, diesen Menschen die ganze Wichtigkeit und Würde der Kunst fühlbar zu machen, und dies ist der Hauptzweck meiner Vorlesungen. 11 " Der Optimismus und Enthusiasmus, mit dem Fernow an diese Aufgabe heranging, kann nur vor dem Hintergrund der Zeit recht verstanden und gewürdigt werden, deren Situation und künstlerisches 41

Wollen sich mit besonderer Deutlichkeit in ihnen widerspiegeln. Es ist auffall end, daß hier die Aufgabe der Kunsterziehung von Fernow nicht den staatlichen Akademien überlassen wird. Der Gedanke der Lehrbarkeit der Kunst wird scharf abgelehnt. Da das Schöne nur subjektiv zu erfassen ist, so ist die Aufgabe, durch Einwirkung auf die inneren Kräfte zu seiner Erkenntnis und Hervorbringung zu erziehen. Mit diesem Gedanken machte sich die Kunsterziehung selbständig. Wie Carstens' Bruch mit der Berliner Akademie symbolisch für den neuen Typus des Künstlers ist, so symbolisieren auch Fernows römische Vorlesungen in besonderer Weise die neue Auffassung der Autonomie. Es ist eine Tragik, daß dieser Gedanke der Autonomie, in dem seine Anhänger die Gewähr einer großen Zukunft sahen, in der Tat das Symptom eines Verfalles, ja, eines Endes ist. Auch Fernows Vorlesungen konnten aus diesem Grunde die erhoffte und ersehnte Wirkung nicht finden. Zu dieser erst einer rückschauenden Betrachtung offenbaren Problematik kamen noch gegenwärtige Schwierigkeiten hinzu: das Ungewöhnliche des Ereignisses selbst, die Neuheit der vorgetragenen Ideen und die parteiliche Spaltung unter den Künstlern. So ist es verständlich, daß es bei diesem ersten Versuch geblieben ist. Ein anderer bescheidenerer Gedanke erwies sich für die Folgezeit fruchtbarer: die Einrichtung einer Bücherei und eines Lesezirkels für die deutschen Künstler, die Fernow im Zusammenhang seiner Vorlesungen ins Werk setzte. Es war der erste Versuch überhaupt, ein geistiges Band zwischen den Deutschen Roms und der Heimat zu schaffen.'An der Zahl der Teilnehmer können wir ermessen, daß dieser Gedanke auf fruchtbaren Boden fiel. „Ein eigenartiger Zufall hat es gefügt, daß der Sitz dieser kleinen Bil42

dungsstätte dieselbe Villa Malta war, in deren Garten die von Goethe gepflanzte Palme wuchs, und die durch den Aufenthalt der Herzogin von Sachsen-Weimar und Herders die deutschen Weihen empfangen hatte, um im 19. Jahrhundert ein fester und einflußreicher Mittelpunkt vaterländischen Lebens auf den Trümmern altrömischer Kultur zu werden. 1 2 " Im Jahre 1803 fand Fernows römischer Aufenthalt sein Ende. Die Notwendigkeit, für Frau und Kind zu sorgen — er war seit 1801 mit einer Römerin verheiratet •—• ließen ihn den Wunsch nach einer festen Stellung hegen. Eine unerklärliche Sehnsucht nach dem vaterländischen Boden trieb ihn — wie einst Winckelmann — von Rom fort, ein Schritt, den er später bitter bereut hat. Damals aber konnte er nicht anders. „Sobald das letzte Blatt meiner hier zu vollendenden Arbeiten geschrieben ist" — so heißt es in einem Brief •— ,,will ich zu den geliebten, lichten Fluren der Heimat zurückkehren, die mir auch unter Schnee und Dezemberstürmen schöner dünken als das vielgelobte Paradies Hesperiens." 13 Es gelang ihm, durch Vermittlung des Archäologen Bötiger, eine außerordentliche Professur für Aesthetik an der Jenaer Universität zu bekommen. Humboldt — mit dem Fernow seit 1802 in engem Verkehr stand — gab ihm ein Empfehlungsschreiben an Goethe mit. Fernows akademische Tätigkeit in Jena dauerte freilich nicht lange. Nach zwei durch Krankheit und wirtschaftliche Not getrübten Semestern nahm er das Angebot, als Nachfolger des verstorbenen Jagemann Bibliothekar der Herzoginmutter Amalie zu werden, an und siedelte im Jahre 1804 nach Weimar über. Hier verbrachte er in angenehmen, wenn auch sehr bescheidenen Verhältnissen seine letzte Lebenszeit. „Schwerlich" — so schreibt er nach Rom — „hätte ich in Deutschland eine angenehmere Lage für mich finden können, und die so mit meiner früheren Un43

abhängigkeit zusammenstimmte. Zwar ist mein Gehalt nicht sehr bedeutend und reicht zu meinem Unterhalt nicht hin, indessen ist es doch eine bedeutende Beisteuer dazu, und-meine Geschäfte für die Herzogin sind so gering, daß ich sie eigentlich in Rücksicht auf Zeitverlust garnicht einmal in Anschlag bringen kann . . . Auch in jeder anderen Rücksicht, was den geselligen Umgang betrifft:, habe ich Ursache, zufrieden , zu sein. Goethe und Schiller haben mich seit meinem Hiersein mit freundschaftlichem Wohlwollen behandelt und größtenteils habe ich mich auf den Umgang mit ihnen beschränkt. So fehlt mir denn im Grunde hier bei meinen mäßigen Wünschen wenig anders als — was freilich sehr viel ist, und wonach mich oft das Heimweh ergreift — das Klima Italiens und Rom mit seinen Umgebungen und Kunstgenüssen, der fast immer heitere Himmel und die große malerische Natur." 14 In diesen letzten, durch schweres körperliches Leiden getrübten Lebensjahren erntete Fernow die Früchte seines italienischen Aufenthaltes. In verhältnismäßig rascher Folge erschienen seine Schriften zur Kunst und zur italienischen Sprache und Literatur: drei Bände Römische Studien, die Biographie seines Freundes Carstens, zwei Bände italienische Sprachlehre, 12 Bände raccolta di autori classici italiani u. a. Unvollendet blieb ein umfangreich geplantes Wörterbuch der italienischen Sprache und sein theoretisches Lebenswerk, die Aesthethik für bildende Künstler. 15 Die letzte Arbeit, die Fernow in Angriff nahm, war die Winckelmann-Ausgabe. Nachdem seine Frau ihm im Tode vorangegangen war, starb Fernow, 45jährig, im Jahre 1808. Steht Fernows Persönlichkeit auf Grund seiner Schriften fest umrissen vor uns, und können wir uns sein Leben auf Grund zahlreicher Quellen bis in Einzelheiten vergegenwärtigen, so ist es sehr viel 44

schwieriger, von dem Adressaten unserer Briefe, von Johann Pohrt, ein Bild zu entwerfen. Als Schriftsteller ist er nicht hervorgetreten. Die Briefe an Fernow sind (wie Femows schriftlicher Nachlaß überhaupt) verloren. Nur aus Familienpapieren im Besitz der Nachkommen und aus Nachrichten über seinen Werdegang und seine Freundschaften können wir den treuen, liebenswürdigen Weggenossen Fernows kennen lernen. „Freund Pohrt" — so lesen wir einmal — „gehört zu den Menschen, deren Wert nicht sprechend, nicht laut ist, sondern verborgen wie die Schönheiten manches Gemäldes, aber deren Wert bei Kennern entschieden ist". Johann Pohrt ist 1771 als Sohn eines angesehenen Rigaer Großkaufmanns reichsdeutscher Abstammung in Riga geboren. Über seine Jugend in einem großen Geschwisterkreise wissen wir nur wenig. Im Jahre 1791 bestand er an der Rigaer Domschule die Reifeprüfung. Zum Winter desselben Jahres treffen wir ihn als Studenten der Theologie in Jena, dessen junger Ruf wie vieler seiner Landsleute so auch seine Wahl der Universität bestimmt hatte (die Dorpater Universität war noch nicht wieder eröffnet). Es war das gleiche Jahr, in dem auch Fernow nach Jena gekommen ist. Beider Bekanntschaft und Freundschaft wird schnell geschlossen worden sein: sie begegneten einander am Mittags- und Abendtisch des durch Schiller berühmt gewordenen Hauses der Demoiselles Schramm, in dem Pohrt wohnte, und das ein Treffpunkt nicht allein der in Jena studierenden Balten gewesen zu sein scheint (Fernow spricht von der „Schrammeyschen Nationalversammlung"), ferner als Freimaurer, vor allem im gemeinsamen Studium. Pohrt hat neben seiner Theologie Vorlesungen fast aller Fächer gehört: Philosophie bei Reinhold, Germanistik bei Schütz, Mathematik bei Voigt, Naturwissenschaft bei Batsch, Jura bei Hufeland und endlich 45

Medizin bei Loder. Philosophie und Germanistik scheinen jedoch seine Hauptinteressengebiete gewesen zu sein. Zu Reinhold trat er in enges persönliches Verhältnis 14 . Auch mit Fichte, der als Nachfolger des nach Kiel berufenen Reinhold 1794 in Jena Professor geworden war, muß er in persönliche Berührung gekommen sein. Jedenfalls gehört er zu den Mitbegründern der 1794 von Studenten ins Leben gerufenen „Gesellschaft der freien Männer" (des sog. Jenaer Fichtebundes). Im Herbst 1794 folgte Pohrt Reinhold nach Kiel, wo er sich weiter dem Studium der Philosophie und — bei seinem späteren Schwiegervater Ehlers — der Pädagogik widmete. Wie Fernow in Reinholds Hause durch das Zusammentreffen mit Jens Baggesen die entscheidende Wende seines Lebens erfuhr, so sollte auch für Pohrt in Kiel gerade der persönliche Verkehr mit Reinhold bedeutungsvoll werden. Durch ihn lernte er die Dichterin Friederike Brun kennen, bei der er im Frühjahr 1795 die Stelle eines Hofmeisters und Erziehers ihres Sohnes Karl annahm, die er bis zum Jahre 1798 bekleidet hat 18 . Friederike Brun, Frau des dänischen Konferenzrates Brun und Tochter des bekannten Theologen und Altertumsforschers Friedrich Münter (den Goethe in seiner italienischen Reise als einen „energischen, heftigen Mann" beschreibt)14 stand damals im Begriff, mit ihren Kindern Karl und Lotte eine Reise in den Süden anzutreten. Pohrt begleitete sie. Die gemeinsame Reise ging zunächst nach Karlsbad. Dort trafen sie Goethe, mit dem sie häufig zusammenkamen. Im Herbst ging es über die Schweiz nach Italien. In Lugano schloß sich ihnen die Fürstin Luise Henriette Wilhelmine v. AnhaltDessau mit ihrem Vorleser, dem Dichter Friedrich Matthisson an, die ebenfalls auf einer Italienfahrt begriffen waren. 20 Im November 1795 traf die Reisegesellschaft, von Femow sehnlich erwartet, in Rom 46

ein. Friederike Brun und Pohrt blieben bis zum Mai des folgenden Jahres dort. Friederikes Tagebuch über Rom 1795—96 gibt uns ein anschauliches Bild dieses römischen Aufenthaltes 21 . Ihre schwankende Gesundheit trieb die Dichterin dann tiefer in den Süden. Den Sommer verbrachte sie mit ihren Kindern und Pohrt teils in Neapel, teils in L a Cava (am Golf von Salerno), teils auf Ischia. Nach kurzem abermaligen Aufenthalt in Rom, wo Pohrt und Fernow sich zum letzten Mal gesehen haben, reiste Friederike mit den Ihren im Oktober 1796 in die Schweiz zurück, wo sie auf dem Landgut des ihr (wie ja auch Fernow) befreundeten Schweizer Schriftstellers Karl Viktor v. Bonstetten Valeires bei Orbe den Winter verlebten. Im folgenden Jahr kehrte sie nach Kopenhagen zurück. Ein Jahr blieb Pohrt noch mit Friederike Brun zusammen. Dann zog — nach siebenjähriger Abwesenheit — 1798 die Heimat ihn wieder an sich. 1799 wurde er Pfarrer in Tirsen und Wellan (Livland), 1800 heiratete er Hanna Ehlers, die Tochter des Kieler Philosophen und Pädagogen. Von einer Beziehung zu Fernow nach seiner Rückkehr hören wir nichts mehr. Der Briefwechsel scheint mit dem Jahr 1798 sein Ende gefunden zu haben. Pohrt hat den Freund freilich lange überlebt. Erst 1834 ist er als Pfarrer in Trikaten gestorben. III Fernows erster Brief, nach Jena gerichtet, ist in Bern kurz vor Beginn der gemeinsamen Abreise mit Jens Baggesen geschrieben worden. Fernow wohnte damals „bei einem Herrn Haller, der der jüngste Sohn des großen Haller und ein Onkel der Madame Baggesen ist" 2 2 . Am 3. Dezember 1793 wurde die Reise angetreten. In Zürich trafen die Reisenden 47

Lavater und Fichte. In Richterswyl waren sie mit Pestalozzi zusammen. Die erste größere Station war Wien. Hier blieben sie, durch Briefe des aus Wien gebürtigen Reinhold an- seine Familie und Freunde eingeführt, über einen Monat. Im Februar des folgenden Jahres ging es nach Italien weiter — nun freilich viel zu eilig für Fernow, der von dieser Reise (wie er bekannte) „in artistischer Rücksicht" wenig Nutzen hatte M . Venedig, Padua, Vicenza, Verona wurden nur flüchtig berührt. Über Mantua, Modena, Bologna führte, anders als zunächst vorgesehen, ihr Weg nach Florenz, wo die Reise ihr vorzeitiges Ende fand. In der Folge der Briefe ist nach Fernows erstem Schreiben eine Lücke von 1 % Jahren. Wir können sie — wenigstens zu einem Teil — durch Femows Tagebuch und seine Briefe an Reinhold und seinen Studienfreund Kalmann schließen, die uns ein anschauliches Bild der Reise mit Baggesen wie auch der zweiten Reise, die ihn nach Rom brachte, geben24. Ein Jahr römischen Aufenthaltes lag hinter Fernow, als er den zweiten erhaltenen Brief an Pohrt schrieb. Dieses erste römische Jahr ist für Fernow von wichtigster Bedeutung gewesen. Ja, wir dürfen sagen, daß sich gerade in ihm sein Schicksal endgültig entschieden hat. Den Künstlertraum hatte er ausgeträumt, die Wendung von der Praxis zur Theorie mit der ihm eigentümlichen Energie vollzogen. Zur Theorie, nicht zur Geschichte. So umfassend seine geschichtlichen Studien sein mochten — „je weiter ich im Studium der Kunst fortschreite, desto mehr erweitert sich der Umfang meines Zweckes . . ., sodaß ich den Vorsatz gefaßt habe, Italien nicht eher zu verlassen, bis ich alles Merkwürdige im Vaterlande der Kunst gesehen", so schreibt er an Baggesen ! S — diese Studien waren ihm doch immer nur Mittel zu seinem eigentlichen Zweck einer theoretischen Grundlegung der Kunst. Immer 48

wieder betont er, daß nicht die Geschichte, sondern die Theorie sein Feld sei, und daß er vor allem mit den Antiquaren nichts zu schaffen haben wolle. „Die Antiquare sind, was das Wissen, was Belesenheit, Buchgelehrsamkeit und Gedächtnis betrifft, wahre Kolosse. Sie haben ganze Bibliotheken, Zeit- und Namenregister, ich weiß nicht im Kopf oder im Magen, aber sie sind Zwerge und Krüppel, sobald sie über irgendetwas raisonnieren und nicht Gelerntes sondern Gedachtes sagen sollen 26 ." Wir sind leicht geneigt, in solcher polemischen Einseitigkeit zunächst allein die Grenzen von Fernows Begabung zu sehen (gerade wenn wir die glänzende Erscheinung Winckelmanns vergleichen, der scheinbar so selbstverständlich Theoretisches und Geschichtliches miteinander verband), und in der Tat sind diese Grenzen deutlich spürbar. Aber wir müssen diese Einseitigkeit doch auch als Bewußtsein der besonderen Sendung verstehen, das Fernow erfüllte. „Sie werden sich wundern, wenn ich mit dem Besen der Kritik in ihre Spinngewebe von Schönheits- und Kunsttheorie fahren werde; und das soll bald geschehen.* 7 " In seinen theoretischen Erörterungen, nicht in geschichtlichen Überlegungen liegt ja auch seine Leistung und sein historisches Verdienst. Fernow ist — das müssen wir hier noch einmal betonen — der erste Theoretiker der bildenden Kunst, der Kant in seiner vollen Bedeutung verstanden, der vor allem den inneren Zusammenhang der Kunstbestrebungen seiner Zeit mit den Impulsen der kritischen Bewegung erkannt und bewußt die Konsequenzen aus ihm gezogen hat. Was das besagt, wird gerade aus einem Vergleich mit dem Antiquar Alois llirt deutlich, dem sein Spott in unseren Briefen gilt, und den er auch später noch in einem seiner Aufsätze schaTf angegriffen hat 4 8 : an Gelehrsamkeit Fernow weit überlegen (auch an geschichtlichem Spürsinn) hatte er •

Fernow

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sich in seinen Grundbegriffen trotz Kritik im Einzelnen doch niemals von den Anschauungen der älteren Zeit losreißen können. Es ist nicht Zufall allein der persönlichen Freundschaft, sondern tief begründet, daß Fernow in Rom zum Herold Carstens' werden und Carstens ihn als willkommenen Genossen und Interpreten des eigenen Wollens begrüßen mußte. Die Wendung vom praktischen Künstler zum Kunsttheoretiker ist in diesem ersten römischen Jahr auch schon zu sichtbarer Auswirkung gekommen. 1795 erschien im Neuen Teutschen Merkur sein erster Versuch „Über den Stil in den bildenden Künsten", in der Methode freilich von der älteren Zeit noch nicht völlig frei. Die Aufnahme in Deutschland war denn auch nicht allzu günstig. Wieland, Reinhold, Baggesen äußerten zwar ihre Zufriedenh e i t A b e r Goethe (der zunächst Fichte für den Verfasser gehalten hatte) sah doch sehr richtig die Gefahren des bloßen Theoretisierens, die gerade dieser Aufsatz nicht verbergen kann. Er schrieb an Schillers „Das, worüber wir alle einig sind, ist recht gut und brav gesagt. Aber daß doch der Genius, der den Philosophen vor aller Erfahrung beiwohnt, ihn nicht auch zupft und warnt, wenn er sich bei unvollständiger Erfahrung zu prostituieren Anstalt macht»." Wichtiger als diese erste theoretische Abhandlung — die er später von seinen Römischen Studien ausgeschlossen hat — ist sein Aufsatz „Über einige neue Kunstwerke des Herrn Professor Carstens", der ebenfalls dem ersten römischen Jahr angehört 31 . Im April 1795 hatte Carstens im Hause des verstorbenen Pompeo Battoni (des letzten namhaften römischen Malers der Barockzeit) eine Ausstellung seiner Werke veranstaltet. Femows Besprechung machte Carstens* Bedeutung als Schöpfer eines neuen Kunstideals zuerst in Deutschland bekannt. Bei der parteilichen 50

Zersplitterung der deutschen Künstler in Rom war es freilich nur natürlich, daß sein Aufsatz nicht unwidersprochen blieb. Friedrich Müller — der bekannte „Maler Müller" — machte sich zum Sprecher der verärgerten Kollegen. „Wenn das Gefühl eigener Geringfügigkeit" — so sagte er in seiner Gegenschrift — »ihn zu sehr peinigte, blieb keine andere Form übrig, das zu stillen, als diejenige, seinen Stuhl so unverschämt auf den Nacken einer jetzt lebenden Künstlerschaft hinpflanzen zu wollen?" In diesem Zwist hätten nach Überzeugung und Gesinnung die Weimaraner auf Seiten Carstens' und Fernows stehen müssen. Es ist aber bezeichnend für die damals noch herrschende Unklarheit der Fronten, daß Müllers Aufsatz in die Hören aufgenommen wurde. Schiller, der sachlich nicht orientiert war, freute sich, durch einen literarischen Streit seiner Zeitschrift aufhelfen zu können. Goethe, der damals Carstens noch nicht kannte, und sich von Fernows Erstlingsabhandlung, wie wir sahen, wenig erbaut gezeigt hatte, begrüßte die Gelegenheit, „die taancherlei Albernheiten, die Herr Fernow mit großer Freiheit im Merkur debütiert, mit wenig Worten herausheben zu können". Erst später hat er durch Ankauf des Carstens'schen Nachlasses für den Herzog von Weimar und durch die Berufung Fernows beiden Männern Gerechtigkeit widerfahren lassen i ! . Dieser Kampf um Carstens wardas wichtigste Ereignis von Fernows erstem römischen Jahr. Ihm folgten im Winter 1795/96 die Vorlesungen über Ästhetik und die Einrichtung des Lesezirkels. Mit dem dritten Brief an Pohrt (Nr. IV unserer Sammlung) beginnen die regelmäßigen Berichte, die uns den Alltag seines römischen Lebens schildern. Dieser durch theoretisches und geschichtliches Studium der Kunst erfüllte Alltag wurde in den Jahren des Briefwechsels mit Pohrt und noch darüber hinaus 4*

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überschattet von den politischen und militärischen Ereignissen der Zeit. So erfolgreich Femow um die Unabhängigkeit seiner Existenz, die ihm höchstes Gut war, gegen persönliche Not zu kämpfen vermochte, so wenig konnte und wollte er sich gegen das bewegende Zeitgeschehen abschließen. Die Berichte über das Vordringen der Franzosen in Italien und seine politischen und geistigen Folgen f ü r Sein oder Nichtsein des Kirchenstaates füllten seine Briefe oft über die Hälfte. „Sie können sich vorstellen" — so schreibt er am 15. Dezember 1796 an Baggesen — „daß ich ein mächtiger Politiker oder, wie die Italiener sich ausdrücken, ein Politicone geworden bin und viele Dinge jetzt Interesse für mich haben, die mir sonst gleichgültig waren 3 3 ." Es mag den Leser unserer Briefe erstaunen, so deutlich spüren zu müssen, wie Fernows Sympathien den Kämpfern der französischen Revolution und ihrem Führer Napoleon gehörten. Aus Fernows Grundeinstellung ist diese Haltung leicht zu erklären. Wie die philosophische Bewegung und die künstlerischen Bestrebungen jener Tage so sah er auch die französische Revolution als den Beginn einer Selbstbesinnung der Menschheit nach Jahrhunderten innerer wie äußerer Unfreiheit. Um ihrer Fortschrittlichkeit willen begrüßte er die Ausbreitung ihrer Ideen, und nichts wünschte er sehnlicher als ihren Sieg insbesondere über das Papsttum, dem — wie die Briefe an Pohrt immer wieder zeigen, vor allem die dem Brief vom 19. Mai 1796 beigefügte Petruselegie — Spott und Verachtung seines fortschrittgläubigen Herzens galten. Gerade das Wissen u m den deutschen Anteil, ja der deutschen Führung in dieser gemeinsamen Anstrengung der Menschheit auf dem Wege der Aufklärung zu Freiheit und Selbstbestimmung machte ihn zum Anhänger der französischen Revolution. „Seit Kants Kritik der reinen Vernunft" —. 52

so schreibt er an Pohrt — „hat der deutsche Geist einen entschiedenen Vorsprung gewonnen und wandelt zu Höhen hinauf, deren Dasein der größte Teil der übrigen Völker Europens n u r noch in dunklen Gefühlen ahnden". Kant war ihm Pionier und Repräsentant der deutschen Bemühungen. So wundem wir uns nicht mehr, daß Fernow die Errichtung der römischen Republik von Frankreichs Gnaden als Anbruch eines neuen Zeitalters f ü r Rom mit Begeisterung begrüßte. Aus einem Brief des dänischen Archäologen Georg Zoega an Friederike Brun wissen wir, daß Femow als Volksprediger das Evangelium von Menschenrecht und Pflicht von der Tribüne des Circolo constituzionale verkündete 34 . Es war das Gedankengut des deutschen. Kritizismus, das er hier — vergeblich genug — zum Siege führen wollte. Wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, daß Reinholds Moralvorlesungen, deren Übersetzung und Bearbeitung in den Briefen an Pohrt' eine so große Rolle spielt, seinen Predigten zugrunde lagen. Erst unter dem Eindruck der schmerzlichen Erfahrungen des Jahres 1806 in Deutschland selbst beobachten wir bei Femow das Erwachen verpflichtenden Nationalgefühls und Nationalstolzes — ohne daß er freilich seine Grundanschauung menschheitlicher Fortschrittsaufgaben preisgegeben hätte. Die Ausrufung der römischen Republik erleben wir in unseren Briefen nicht mehr, wohl aber — in lebendigster Schilderung — die Sorgen, bangen Erwartungen und Hoffnuhgen, die zum Teil natürliche, zum Teil künstlich hervorgerufene Spannung unter der Bevölkerung, die dem Einmarsch der Franzosen in die ewige Stadt voranging, und vor allem das erregende Vorspiel der „Kunstplünderungen". Napoleon hatte im Waffenstillstandsvertrag mit dem Papst von 1796 die Auslieferung einer großen Zahl der kost53

barsten und berühmtesten alten und neueren Kunstwerke verlangt, die mit zahllosen Werken anderer Städte und später Länder nach Paris in das geplante französische Nationalmuseum überführt wurden. Fernow teilte die Liste der römischen Werke, die er, erweitert um die Liste der Werke aus den übrigen italienischen Städten auch im Neuen Teutschen Merkur veröffentlichte38, dem Freunde mit. Seine Gefühle gegenüber diesem brutalen Eingriff in den römischen Kunstbesitz waren — wie übrigens die Gefühle vieler Zeitgenossen — geteilt. So schmerzlich ihn der Verlust für Rom berührte, der mögliche Gewinn für die Menschheit ließen ihn den Raub, wenn auch nicht gut heißen, so doch auch nicht verdammen. „Es ist das Schicksal aller endlichen Größe und Herrlichkeit" — so heißt es in dem Merkurbericht — „von einer größeren überwältigt und gebeugt zu werden. Aber es ist zugleich die Stufenleiter der Kultur, und aus seinen Zerstörungen entwickelt sich unaufhörlich der Keim zu neuen Schöpfungen." Freilich nicht die bloße Macht, sondern allein der Wille, dem Genommenen eine Stätte fruchtbarer Wirkung zu bereiten, könne den Raub rechtfertigen. Femow zweifelt, ob die Franzosen diesen Willen haben, aber er sieht doch im Zusammenhang seiner Ideen über die französische Revolution in der gewaltsamen Verpflanzung der bedeutendsten Kunstvorbilder aus dem überalterten römischen Boden in die fortschrittliche französische Nation einen Weg, die Kunst zu einer neuen Blüte emporzuführen — wofern sich die Politik „dem Begriff wahrer Staatsweisheit nähert und Freiheit, Würde und den inneren Zweck der schönen Künste" achtet. „Der Staat wird" — so entwirft er ein Zukunftsbild — „die wieder zu ihrer Würde und eigentlichen Bestimmung erhobenen, mit dem Wohl der Nation unzertrennlich verbundenen Künste seiner unmittelbaren Aufsicht 54

und seines Schutzes würdigen. Er wird durch sie die Spiele, Vergnügungen und Feste des Volkes zu veredeln suchen, ja, er wird keine anderen dulden, die nicht zugleich dem Schönheitssinn Kultur geben. Er wird die Künstler zu rühmlichem Wetteifer im Angesichte der Nation ermuntern, das Talent auszeichnend unterstützen, das Nichttalent von den Künsten entfernen und jedes zur öffentlichen Aufstellung bestimmte Kunstwerk dem Richterstuhl einer strengen, über die Reinheit und Würde des Nationalgeschmacks wachendenZensur unterwerfen 86 .'' — Auch diesem Ereignis gegenüber sehen wir also Fernows unversiegliche Zukunftsgläubigkeit. Sie war — wie sich uns immer wieder zeigt — die eigentliche Triebfeder seines Tuns und Wirkens.