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German Pages 253 Year 1975
Schriften zur Rechtstheorie Heft 40
Richterrecht und Verfassung
Von Jörn Ipsen
Duncker & Humblot · Berlin
JÖRN IPSEN
Richterrecht u n d Verfassung
Schriften
zur
Rechtstheorie
H e f t 40
R i c h t e r r e c h t u n d Verfassung
Von Dr. Jörn Ipsen
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Alle Rechte vorbehalten © 1975 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 19/5 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03309 4
Für
Dorle
Vorwort Die vorliegende Untersuchung über „Richterrecht und Verfassung" ist i m Sommersemester 1974 von der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen als Dissertation angenommen worden. I m wesentlichen war die Arbeit gegen Ende des Jahres 1973 abgeschlossen. Literatur, die nach diesem Zeitpunkt erschienen ist, habe ich i n Einzelfällen noch berücksichtigt. Allerdings darf auch i m übrigen nicht erwartet werden, daß die angeführten Veröffentlichungen den Literaturstand vollständig wiedergeben. Die wachsende Popularität des Themas „Richterrecht", das mittlerweile zu einem bevorzugten Gegenstand von Kongressen, Akademien und Wochenendtagungen geworden ist, und die damit verbundene Fülle von Neuerscheinungen zwang zur Beschränkung auf die typischen Positionen der Richterrechtsdiskussion. Wenn hierbei gelegentlich — vor allem bei den methodologischen Betrachtungen — eine i n der Literatur vertretene Nuancierung vermißt werden sollte, so rechne ich mit der Nachsicht des Lesers für mein Bemühen um Verdeutlichung. A n dieser Stelle darf ein Dankeswort nicht fehlen. Professor Dietrich Rauschning, der die Arbeit betreut hat, sei gedankt für seine vielfältige, gleichermaßen eingehende wie tolerante Förderung meines Dissertationsvorhabens. Dr. Johannes Broermann danke ich für die Aufnahme der Untersuchung i n sein Verlagsprogramm. Besonderer Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes, die durch das mir gewährte Promotionsstipendium beträchtlichen Anteil am Zustandekommen dieser Arbeit hat. Schließlich bin ich der Bremer Stiftung zur Förderung der Wissenschaften und der Universität für ihren großzügigen Beitrag zum Druck dieser Untersuchung zu Dank verpflichtet. Göttingen, i m Januar 1975
Inhaltsverzeichnis Einleitung
21 Erster
Teil
Richterrecht im Spannungsfeld von Methodenlehre und Verfassungsrecht 2. Kapitel Problemstellung 1. Ergebnisse der Methodendiskussion Begriffsbestimmung
24
2. Offene Fragen des Richterrechts U m r i ß der Problematik
26
3. Prämissen der Untersuchung a) Berücksichtigung der neueren Methodenlehre b) Ablehnung der Vorstellung präexistenten Rechts c) Ungenügen materieller Rechtsprechungsbegriffe
29 29 30 32
2. Kapitel Lehrmeinungen zur Abgrenzung von gesetzgebender Gewalt u n d Rechtsprechung 1. Darstellung der Lehrmeinungen a) Rechtliche Determination u n d rechtspolitische Entscheidung (Flume) b) Typen offener Rechtsfortbildung Rechtsnotstand als Voraussetzung richterlicher Gesetzeskorrektur (Larenz) c) Rechtsprechung als Rechtsbewahrung (Peter Schneider) d) Grenzen der Justitiabilität (Esser)
34 34
35 37 39
2. Kritische Würdigung der Lehrmeinungen 41 a) Der Versuch einer Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildung durch die Methoden der Gesetzesauslegung 41 b) Indizien für die „innere Berechtigung" der Rechtsfortbildung 44 c) Der Versuch einer „Wesensbestimmung" der Rechtsprechung . . . . 45 d) Der Begriff der Justitiabilität 46 3. Z u m Verhältnis von methodologischer u n d kompetentieller matik
Proble47
10
nsverzeichnis 3. Kapitel Der Zusammenhang zwischen richterlicher Entscheidung und Richterrecht
1. Der Zugang zur richterlichen Entscheidung
50
2. Rechtsverweigerungsverbot und Rechtsbildung
53
3. Bedingungen der Rechtsentscheidung — Entscheidungsgrundlagen
55
4. Die Entlastungsfunktion der Entscheidungsgrundlagen
56
5. Entlastungsfunktion und Rechtsbildung
58
6. Ergebnis: Rechtsbildungskompetenzen der Rechtsprechung Verfassungsrechtliche Problemstellung
59
7. Z u r Rechtsquellenproblematik
60
8. Differenzierung der Problemstellung u n d Übergang zur Untersuchung richterlicher Rechtsbildungspraxis
61
Zweiter
Teil
Typen des Richterrechts in der Judikatur der Bundesgerichte 1. Kapitel Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht 1. Delegation von Rechtsbildungsbefugnissen an die Rechtsprechung
63
2. Formen der Delegation a) Zielbestimmungsklauseln b) Wertungs- u n d Verweisungsklauseln aa) Beispiele für Wertungs- und Verweisungsklauseln bb) Richterliche Rechtsbildung auf G r u n d von Wertungs- u n d Verweisungsklauseln c) Anpassungs- und Ergänzungsklauseln d) Billigkeits- u n d Härteklauseln
65 65 67 68
3. Das Verfahren der Konkretisierung a) Spezifizierung b) Typisierung
72 73 75
4. Unbestimmter Rechtsbegriff und dilatorischer Formelkompromiß
77
70 71 72
2. Kapitel Gesetzesvertretendes Richterrecht 1. Der Beschluß des Großen Senats des B A G zum Arbeitskampf vom 28. Januar 1955
80
nsverzeichnis 2. Der Beschluß des Großen Senats des B A G zum Arbeitskampf 21. A p r i l 1971
vom
3. Methode u n d F u n k t i o n der Rechtsprechung zum Arbeitskampf a) Entscheidungsgrundlagen u n d politische Relevanz der Beschlüsse
81 83 83
b) Methodische Schritte i n den Beschlüssen zum Arbeitskampf
84
c) Schritte der „Verrechtlichung"
85
d) Die arbiträre F u n k t i o n des Richters
86
e) Die Tendenz zur Kompetenzausweitung
87
3. Kapitel Gesetzeskorrigierendes Richterrecht 1. Judikatur und Gesetzesentwürfe zum Schutz der Persönlichkeit a) Die Anerkennung eines „allgemeinen Persönlichkeitsrechts" durch den Bundesgerichtshof
91 91
b) Das Persönlichkeitsrecht i n den Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentages
93
c) Die Wendung i n der Rechtsprechung des B G H
94
d) Zusammenfassung der Ergebnisse der Judikatur
95
e) Erste Bemühungen u m eine gesetzliche Lösung: Der Referentenentwurf von 1958
96
f) Der Referentenentwurf i m Streit der Meinungen
97
g) Änderungen des Referentenentwurfs u n d Scheitern der gesetzlichen Regelung 98 h) Weitere Entwicklungen i n der Judikatur des B G H i) Der Referentenentwurf von 1967
99 100
2. Die Bestätigung der Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht durch das Bundesverfassungsgericht 100
4. Kapitel Gesetzeskonkurrierendes Richterrecht 1. Erstes Beispiel: Die Rechtsprechung des B G H zum Bewertungsstichtag für die Enteignungsentschädigung nach dem Bundesbaugesetz 104 a) Verfassungsrechtliche Ausgangslage
104
b) Der Bewertungsstichtag i n der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 106 c) Die Modifikation der Entschädigungsregelungen von B a u L B G u n d BBauG durch die Rechtsprechung des B G H 107 d) Kritische Würdigung der Rechtsprechung zum Bewertungsstichtag 108
12
nsverzeichnis
2. Zweites Beispiel: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Dauer der Bausperre (Veränderungssperre) a) Das „Stuttgarter Bausperrenurteil" b) Das „Freiburger Bausperrenurteil" c) Die Regelung des Bundesbaugesetzes d) Das „Spannungsverhältnis" zwischen Judikatur u n d gesetzlicher Regelung e) Reaktionen des Schrifttums auf die Divergenz zwischen Judikatur und §18 BBauG
109 110 111 112 112 113
3. Verfassungsrechtliche Probleme gesetzeskonkurrierenden Richterrechts 114 Dritter
Teil
Verfassungsrechtliche Probleme des Richterrechts 1. Kapitel Grundlegende Verfassungsnormen als Anknüpfungspunkte f ü r die Zuordnung von gesetzgebender u n d rechtsprechender F u n k t i o n 1. Die Bindung des Richters an „Gesetz u n d Recht" (Art. 20 I I I GG) a) Lehrmeinungen zur Auslegung des A r t . 20 I I I GG b) Kritische Würdigung der Lehrmeinungen c) A r t . 20 I I I GG als Ausdruck beschränkter Staatsgewalt 2. Die unmittelbare Geltung der Grundrechte (Art. 1 I I I GG) a) Auswirkungen der unmittelbaren Grundrechtsgeltung auf Kompetenzgefüge b) Geltungsanordnung der Grundrechte u n d Folgeprobleme
117 118 119 120 121 das
3. Die Rechtsweggarantie (Art. 19 I V GG)
122 123 124
2. Kapitel Der Grundsatz der Gewaltenteilung als Schranke des Richterrechts 1. Die Problemstellung
128
2. Die Gewaltenteilung als institutionelle Freiheitssicherung 130 a) Die Rechtsprechung des BVerfG zum Gewaltenteilungsprinzip 131 b) Folgerungen aus der Rechtsprechung des BVerfG für die Richterrechtsproblematik 132 3. Das Gewaltenteilungsprinzip bewältigung
als Gewähr
sachgerechter
Aufgaben133
nsverzeichnis a) Die neuere Lehre von der Doppelfunktion des Gewaltenteilungsprinzips 133 b) Hinweise i n der Judikatur
135
c) Methodologische Aspekte der neueren Gewaltenteilungslehre
136
4. Folgerungen für den weiteren Gang der Untersuchung
136
3. Kapitel Verfahren der Rechtserzeugung 1. Gesetzgebungsverfahren
138
a) Problemimpuls u n d Initiativrecht
138
b) Verfahrensgrundsätze: Diskussion u n d Öffentlichkeit aa) Diskussion
140 140
bb) Öffentlichkeit
141
c) Offenheit des Verfahrens
142
d) Informationsgewinnung
144
e) Bedeutung des Verfahrensgegenstandes
145
f) Veröffentlichung
des Gesetzes
146
g) Korrekturmöglichkeiten
146
2. Revisionsverfahren
146
a) Einzelfallbezogenheit u n d Sachnähe
146
b) Einflußmöglichkeiten
148
c) Informationsgewinnung
149
d) Korrekturmöglichkeiten
153
e) Publizität
154
4. Kapitel Kontrollverfahren 1. Die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 100 GG a) Die Vermutung Gesetze
der
Verfassungsmäßigkeit
155 nachkonstitutioneller 155
b) Methodische Schwierigkeiten bei der Feststellung von Verfassungsverstößen 156 c) Gesetzgeberische Gestaltungskompetenzen
157
d) Die richterliche Kontrollbefugnis als eingeschränkte Konkretisierungskompetenz 158 e) Eindeutigkeit statt Plausibilität des Ergebnisses
160
14
nsverzeichnis f) Die Ausgestaltung des Normenkontrollverfahrens nach A r t . 1001 GG 161 aa) Die Entscheidungserheblichkeit der N o r m 161 bb) Die Überzeugung des Gerichts von der Unvereinbarkeit der N o r m m i t dem Grundgesetz 162 cc) Die Begründung der Vorlage (§ 80 I I BVerfGG) g) Vermeidung „diffuser" Verfassungsinterpretation h) Zusammenfassung
2. Die Normenkontrolle vorkonstitutionellen Rechts a) Unterschiedliche Kontrollverfahren für vor- u n d nachkonstitutionelles Recht? b) Die Rezeptionsnorm für vorkonstitutionelle Rechtsnormen (Art. 123 I GG) c) Die konkrete Normenkontrolle als einheitliches Institut der V e r fassung 3. Die verfassungskonforme Auslegung a) Skizzierung der Rechtsprechung des BVerfG
162 162 163 164 164 166 166 167 167
b) Regelprinzip der Rechtsanwendung oder Sonderfall der Normenkontrolle? 168 c) Praktische Vorteile der verfassungskonformen Auslegung 171 d) Keine Ersetzung der Normenkontrolle durch verfassungskonforme Auslegung 173 e) Besonderheiten der verfassungskonformen Auslegung vorkonstitutionellen Rechts? 174 f) Grenzen verfassungskonformer
Auslegung
176
5. Kapitel Möglichkeiten „verfassungskonformer
Rechtsfortbildung"
1. Die Problemstellung
178
2. Die These von der richterlichen Befugnis zur „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" 178 3. Die Vorherbestimmung gesetzgeberischen Handelns durch das G r u n d gesetz 181 a) Die Gesetzgebungsaufträge des Grundgesetzes
181
b) Die Parallele zum Verwaltungshandeln
182
c) Die Parellele zum Richterriecht
183
d) Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und Bindung durch die V e r fassung 185 4. Verfassungsprinzipien — Anstoß oder Vorherbestimmung richterlicher Rechtsfortbildung? 185
nsverzeichnis 6. Kapitel Die Typen des Richterrechts vor dem Hintergrund der Verfahrensregelungen 1. Die richterliche Konkretisierung von Gesetzen
188
2. Die Bildung gesetzesvertretenden Richterrechts
189
3. Die richterliche Kompetenz zur Gesetzeskorrektur a) Die Verwerfung gesetzlicher Normen b) Die Ersetzung der N o r m
190 190 192
4. Ansätze einer sprechung
Konkurrenz
zwischen
Gesetzgebung
und
Recht194
7. Kapitel Das Erfordernis demokratischer Legitimation rechtsetzender Organe als verfassungsrechtliche Schranke des Richterrechts 1. Demokratische Legitimation als Rechtsbegriff a) Legitimität u n d Legitimation b) Demokratische Legitimation u n d Organkompetenzen c) Demokratische Legitimation i m Verfahren der Bestellung Organwaltern
196 196 197 von 198
2. Demokratische Legitimation des Richters? a) Das Verfahren der Richterwahl b) Unmittelbare u n d mittelbare Legitimation c) Notwendigkeit demokratischer Legitimation politischer Entscheidungsträger durch das Parlament? d) Folgerungen für die richterlichen Rechtsbildungskompetenzen
199 200 201 202 204
3. Andere Möglichkeiten verfassungsrechtlicher Legitimation?
204
8. Kapitel Richterrecht u n d richterliche Unabhängigkeit 1. Richterliche Unabhängigkeit und Gesetzesbindung als Komplementärprinzipien 207 2. Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit des Richters? a) Recht und P o l i t i k b) Politisierung der Richterwahl
durch
„Politisierung" 210 211 213
3. Richterliche Unabhängigkeit u n d Legitimität des Richterrechts
214
4. Richterliche Unabhängigkeit u n d Demokratie
216
16
nsverzeichnis 9. Kapitel Richterrecht u n d Rechtssicherheit
1. Das Prinzip der Rechtssicherheit i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 220 2. Verkehrssicherheit statt individueller Verhaltenssicherheit
222
3. Grundsatzrechtsprechung und Rechtssicherheit
224
4. Das Problem der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen
226
10. Kapitel Ergebnisse Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts 1. Möglichkeiten u n d Grenzen gesetzeskonkretisierenden Richterrechts .. 231 2. Schranken gesetzesvertretenden Richterrechts
233
3. Prinzipielle Unzulässigkeit gesetzeskorrigierenden Richterrechts
235
4. Verfassungswidrigkeit gesetzeskonkurrierenden Richterrechts
236
Schlußbetrachtung
239
Literaturverzeichnis
242
Abkürzungsverzeichnis AcP ALR Amtl. Anh. Anm. AO AÖR AP ArbGG ARSP Aufl. AuR
Archiv für die zivilistische Praxis Allgemeines Landrecht Amtlich Anhang Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgerichtsgesetz Archiv für Rechts- u n d Sozialphilosophie Auflage Arbeit u n d Recht
BAG BBauG BauLBG Bd. BGB BGBl. BGG BGH BK BRatDrucks. BSG BTagDrucks. BVerfG BVerfGG BVerwG BVerwGG
Bundesarbeitsgericht Bundesbaugesetz Baulandbeschaffungsgesetz Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bonner Grundgesetz Bundesgerichtshof Bonner Kommentar Drucksache des Bundesrats Bundessozialgericht Drucksache des Bundestages Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Bundesverwaltungsgerichtsgesetz
DB Diss. DRiZ DJT DVB1. DÖV
Der Betrieb Dissertation Deutsche Richterzeitung Deutscher Juristentag Deutsches Verwaltungsblatt Die öffentliche Verwaltung
EinzelhG
Einzelhandelsgesetz
FGO
Finanzgerichtsordnung
GeschOBReg GeschOBTag GewO GG
Geschäftsordnung der Bundesregierung Geschäftsordnung des Bundestages Gewerbeordnung Grundgesetz
2 Ipsen
18 GGO I I GMH GrStVG GRUR GüKG GVG GWB H A StenoBer HdStR Jb. JJb. JöR JR JZ JuS KuUrhG KVStG Lit. LitUrhG
Abkürzungsverzeichnis Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, sonderer T e i l Gewerkschaftliche Monatshefte Grundstücksverkehrsgesetz Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Güterkraftverkehrsgesetz Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
Be-
Stenographische Berichte des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates Handbuch des Deutschen Staatsrechts Jahrbuch Juristen-Jahrbuch Jahrbuch für öffentliches Recht Juristische Rundschau Juristenzeitung Juristische Schulung Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste u n d der Photographie (Kunsturhebergesetz) Kapitalverkehrssteuergesetz
LM
Literatur Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Werken der L i t e r a t u r und der Tonkunst (Literatururhebergesetz) Lindenmaier-Möhring
MDR ML MRVO
Monatsschrift für deutsches Recht Methodenlehre Militärregierungsverordnung
Neudr. N.F. ndsSOG
Neudruck Neue Folge Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung
NJW OLG
Neue Juristische Wochenschrift Oberlandesgericht
PBefG PRDrucks. PRStenoBer PVS
Personenbeförderungsgesetz Drucksachen des Parlamentarischen Rats Stenographische Berichte des Parlamentarischen Rats Politische Vierteljahresschrift
RdA Rdn. RefE RegE RG RiWahlG Rspr. RVO RVV
Recht der Arbeit Randnummer Referentenentwurf Regierungsentwurf Reichsgericht Richterwahlgesetz Rechtsprechung Reichsversicherungsordnung Rechtsverweigerungsverbot
Abkürzungsverzeichnis SAE SGG StaatsR StGB StRÄndG std.
Sammlungen arbeitsrechtlicher Entscheidungen Sozialgerichtsgesetz Staatsrecht Strafgesetzbuch Strafrechtsänderungsgesetz ständig
UWG
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
Verh. VersammlG VerwArch VerwR VGG VVdStRL VwGO
Verhandlungen Versammlungsgesetz Verwaltungsarchiv Verwaltungsrecht Verwaltungsgerichtsgesetz Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung
WP WRV
Wahlperiode Weimarer Reichsverfassung
ZGB ZPO ZRP ZVuZV ZZP
Schweizerisches Zivilgesetzbuch Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitungsverlag u n d Zeitschriftenverlag Zeitschrift für Zivilprozeß
Einleitung Richterrecht, um diesen immer noch umstrittenen Begriff einmal vorauszusetzen, und Verfassung stehen i n einer doppelten Beziehung zueinander. Judizielle Rechtsentwicklungen werden zum einen nicht selten auf Prinzipien des Grundgesetzes gestützt und sind somit vom Anspruch begleitet, durch die Verfassung vorgeformt zu sein. Andererseits erscheint zum mindesten den K r i t i k e r n des Richterrechts die Verfassung als Schranke richterlicher Rechtsbildungsaktivität. I n der vorliegenden Untersuchung soll beiden Beziehungen zwischen Richterrecht und Verfassung nachgegangen werden. Dabei stellt sich sogleich die Frage, ob auch die verfassungsrichterliche Rechtsprechung, deren rechtsbildende Natur kaum jemals umstitten war 1 , i n die — noch zu umreißende — Problematik einbezogen werden muß. Diese Frage ist zu verneinen. Die scharfe Trennlinie, die i m Laufe der gesamten Untersuchung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den i m Art. 95 GG genannten Gerichtszweigen gezogen wird, findet eine vielfache Begründung 2 . Nur das Bundesverfassungsgericht ist Verfassungsorgan und Gericht zugleich, hat also eine gegenüber den anderen Gerichten unvergleichbare Stellung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist zudem Gegenstand vielfältiger rechtswissenschaftlicher Bemühungen gewesen. Eine neuerliche Erörterung der Eigenart der Verfassungsrechtsprechung und der Funktion des Bundesverfassungsgerichts i m Gefüge des Grundgesetzes erscheint deshalb entbehrlich. Es bedarf nicht einmal mehr des Nachweises, daß die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung sich auch methodologisch von jeder anderen Judikatur abhebt 3 , u m die hier vorgenommene Beschränkung der Fragestellung zu rechtfertigen. Soweit i m Verlaufe der Untersuchung von Rechtsprechung, Gericht und Richter die Rede ist, sind damit ausschließlich die Gerichtsbarkeiten des A r t . 95 GG gemeint. Eine andere Frage mag es sein, ob die schließlich gewonnenen Ergebnisse — partiell — auf die Verfassungsgerichtsbarkeit übertragen werden können.
1 Vgl. n u r Ehmke W d S t R L 20 (1963), S. 68. Dazu eingehend Werner Weber, Festschr. Niedermeyer S. 272 t 3 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 198 f. 2
22
Einleitung
Das hier zu verfolgende Problem der Möglichkeiten und Grenzen des Richterrechts ist nicht neu. Schon Oskar Bülows 1885 erschienene Schrift 4 signalisiert den Beginn eines sich über Jahrzehnte erstreckenden Streites um Freiheit und Gebundenheit des Richters, dessen Marksteine die Arbeiten von Reichel 5 , Heck 6 und Isay 7 darstellen. Ein Neubeginn der Diskussion zeichnet sich mit Essers 1956 erschienenem Werk „Grundsatz und Norm i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" ab. Wieackers Veröffentlichungen aus den Jahren 19568 und 19589 tragen dazu bei, daß ein geschärftes Bewußtsein für den richterrechtlichen Anteil an der Rechtsordnung entwickelt wird. Aber erst in den letzten Jahren, beginnend mit den vorwiegend an der Verfassungsgerichtsbarkeit orientierten Untersuchungen Friedrich Müllers 1 0 und Martin Krieles 1 1 , gewinnt die Problematik richterlicher Rechtsfindung das Interesse einer breiteren literarischen Öffentlichkeit. Die doppelte Beziehung zwischen Richterrecht und Verfassung bleibt noch unerörtert. Nach den Versuchen von Achtmann 1 2 und K a r l 1 3 bietet Göldners 1969 erschienene Dissertation über „Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung" erstmals eine eingehende Abhandlung der i n Rede stehenden Problematik 1 4 . Angesichts noch heute bestehender Uneinigkeit i n der Frage, ob der Terminus „Richterrecht" rechtsquellentheoretisch überhaupt begründbar ist und für welche Bereiche richterlicher Spruchtätigkeit er zu gelten hat, w i r d i m ersten Teil der Darstellung der Versuch unternommen, systematisch nachzuweisen, worauf die Entstehung von Richterrecht 4
Vgl. Oskar Bülow, Gesetz u n d Richteramt, Leipzig 1885. 5 Vgl. Hans Reichel, Gesetz u n d Richterspruch, Zürich 1915. 6 Hier bes. Philipp Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung u. a., Neudr. Bad Homburg v. d. H. 1968. 7 Vgl. Hermann Isay, Rechtsnorm u n d Entscheidung, B e r l i n 1929. 8 Vgl. Franz Wieacker, Z u r rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, Tübingen 1956. 9 Vgl. ders., Gesetz und Richterkunst, Karlsruhe 1958. 10 Vgl. Friedrich Müller, N o r m s t r u k t u r u n d Normativität, Berlin 1966. n Vgl. Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, B e r l i n 1967. 12 Vgl. Nikolaus Achtmann, Möglichkeiten u n d Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung auf der Grundlage des Bonner GG, Diss. Würzburg 1965. 13 Vgl. Georg Karl, Die Grenzen zwischen Rechtsprechung u n d Gesetzgebung i n der Bundesrepublik, Diss. K i e l 1966. 14 Inzwischen hat sich jedenfalls der Begriff „Rieht err echt" w e i t h i n durchgesetzt: vgl. aus dem neuesten Schrifttum Herschel D B 1973, S. 2298 und RdA 1973, S. 147; Hilger, Festschr. Larenz S. 109; Scholz D B 1972, S. 1771; Vossen, insbes. S. 29 ff. u. 121 ff.
Einleitung
23
beruht und i n welcher Disziplin die Grenzen des Richterrechts zu suchen sind. Da die Problematik des Richterrechts nur anhand konkreter Beispiele sinnvoll erörtert werden kann, enthält der zweite Teil dieser Untersuchung eine Auswahl judizieller Rechtsbildungen, die, i n vier Kategorien gegliedert, eine — allerdings nur als vorläufig zu begreifende — Typologie des Richterrechts ergeben. I m dritten Teil folgt die Auseinandersetzung mit der verfassungsrechtlichen Problematik des Richterrechts, die zum Ergebnis führen wird, für welche Typen des Richterrechts die Verfassung inhaltliche Stütze oder Schranke zu sein vermag.
Erster Teil Richterrecht i m Spannungsfeld v o n M e t h o d e n l e h r e u n d Verfassungsrecht 1. Kapitel Problemstellung 1. Ergebnisse der Methodendiskussion Begriffsbestimmung Das Subsumtionsideal ist dahin. Eine erdrückend herrschende Lehre erkennt i n bewußter Abkehr von positivistischen Methodenvorstellungen an, daß die Auslegung eines Rechtssatzes wertende 1 , volitive 2 , voluntative 3 , dezisionäre 4 , rechtsschöpferische 5 Elemente enthält und sich keineswegs auf die Reproduktion eines Vorgedachten beschränkt 6 . Wenngleich Uneinigkeit darüber besteht, wieweit richterliche Rechtsfortbildung 7 , Rechtsetzung 8 , Normbildung 9 , Normsetzung 10 oder Rechtsschöpfung 11 legitim ist, w i r d kaum mehr bestritten, daß die Subsumtion nur den — aus Gründen methodischer Klarheit freilich unverzichtbaren — Rahmen der Rechtsentscheidung darstellt 1 2 . Die eigentliche juristische Arbeit geht dem syllogistischen Schluß voraus 13 . Aus der Fülle der Rechtssätze w i r d ein einzelner als ein1 So Wieacker, Gesetz S. 7. 2 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 245 u. 256. 3 So P. Schneider AöR 82 (1957), S. 14. 4 Vgl. Zippelius N J W 1964, S. 1982; Meder S. 23; Scholz D B 1972, S. 1771. s Vgl. H. P. Schneider S. 10. 6 So Larenz M L S. 344. 7 Vgl. Larenz M L S. 341 ff.; F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 46. 8 Vgl. Redeker N J W 1972, S. 409. ® Vgl. Esser, Grundsatz und N o r m S. 69. 10 Vgl. Fischer, Weiterbildung S. 23. 11 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 52; H. P. Schneider S. 10. 12 Vgl. F. Müller, Normstruktur S. 42 ff.; Esser, Vorverständnis S. 51 f.; Kriele S. 60 ff. 13 So z. B. Esser, Vorverständnis S. 59 ff. u. 65 f.; Kriele S. 51 f.; Larenz M L S. 254 ff.; Meier-Hayoz S. 52.
1. Ergebnisse der Methodendiskussion
25
schlägig beurteilt, interpretiert und auf den zu entscheidenden Fall hin zu einem Obersatz formuliert. Auf jeder Stufe des komplexen Vorgangs der Rechtsfindung ergeben sich verschiedene Möglichkeiten der Bewertung, Unsicherheiten i m Bedeutungsgehalt der Begriffe und Verschränkungen m i t vorangegangenen Entscheidungen. Nur i n den — namentlich i n stark formalisierten Rechtsgebieten — zwar nicht seltenen, aber methodologisch vergleichsweise unproblematischen Fällen eindeutiger Rechtsvorschriften läßt sich dieses Vorgehen als „Gesetzesanwendung" bezeichnen. Taucht dagegen eine durch das Gesetz nicht deutlich vorentschiedene Rechtsfrage auf, kann der Richterspruch vielfach nicht mehr als gesetzlich determiniert begriffen werden. Es entspricht denn auch allgemeiner Meinung, daß der Positivismus die Anforderungen an das Gesetz überspannt und den Anteil eigenständiger richterlicher Wertung schon i m Bereich der Gesetzesinterpretation verkannt hat 1 4 . Dieser Befund t r i f f t erst recht auf die — von der Auslegung allerdings schwer zu trennende 15 — Stufe der Rechtsfortbildung zu. Bei der rechtsbildenden, rechtsfortbildenden Tätigkeit der Rechtsprechung kann das Subsumtionsdogma keinen Platz haben, w e i l das Gesetz — häufig keine eigene Wertung enthält, sondern nur auf außergesetzliche — bisweilen außerrechtliche — Maßstäbe verweist 1 6 ; — notwendig lückenhaft ist und die Auslegung nur die Lücke zutage fördert, der Richter aber entscheiden muß, wie sie zu schließen ist 1 7 ; — einem natürlichen Alterungsprozeß unterliegt, dem die Rechtsprechung Rechnung zu tragen hat, indem sie behutsam neue Bewertungen vornimmt 1 8 . Freilich erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten der erwähnten „herrschenden Lehre" bald, und sie reichen eigentlich nur zu der negativen Bestimmung, — daß der Richter kein Subsumtionsautomat sei 19 ; — daß das Recht nicht nur durch das Gesetz, sondern auch durch den Richterspruch gebildet werde 2 0 ; 14
So vor allem Wieacker, Gesetz S. 5 ff.; Esser, Vorverständnis S. 14 ff.; S. 62; Bachof, Richtermacht S. 7 ff. 15 Vgl. Wieacker, Gesetz S. 6; Larenz M L S. 342; Müller, Normstruktur S. 46; Esser, Vorverständnis S. 117. iß Vgl. Wieacker, §242 S. 15 ff.; Gesetz S. 14 f. 17 Vgl. zur Lückenproblematik grundlegend Canaris, z.B. S. 56 ff.; skeptisch Wieacker, Gesetz S. 6 u n d Kriele S. 63. 18 Vgl. Wieacker, Gesetz S. 4; Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 174. 19 Vgl. H . H . Klein DRiZ 1972, S. 334; Schlüter S. 4. 20 Vgl. Kriele S. 60: „Rechtsetzungsprärogative", nicht „Rechtsetzungsmonopol". Kriele
26
T e i l I, 1. Kap.: Problemstellung
— daß die Rechtsentscheidung nicht nur Kognition, sondern auch Dezision sei 2 1 ; — daß die Auslegung nicht nur logische, sondern auch teleologische Elemente beinhalte 2 2 . Jenseits dieses minimalen Konsenses werden weiterhin Rechtsfindung und Rechtsfortbildung kontrovers diskutiert. Brennpunkt der Diskussion ist der schillernde Begriff „Richterrecht" 23 , der alles das an richterlicher Eigenständigkeit kennzeichnet, was die Auseinandersetzung mit der positivistischen Doktrin ans Licht gebracht hat 2 4 . Unter Richterrecht versteht man somit den Anteil der Rechtsprechung am geltenden Recht, der nicht bloße Auslegung des Gesetzes — freilich mit allen mitgedachten hermeneutischen Unsicherheiten — ist, sondern Ergebnis — und hier bestehen erhebliche terminologische Differenzen — richterlicher Rechtsfortbildung, Rechtssetzung, Rechtsgestaltung, Normbildung, Normgebung oder Normsetzung. 2. Offene Fragen des Richterrechts Umriß der Problematik Das so gewissermaßen i m Subtraktionsverfahren gewonnene Richterrecht w i r f t für Lehre und Rechtsprechung eine Vielzahl von Fragen auf. So w i r d namentlich das Problem diskutiert, ob dem Richterrecht eigene Rechtsquellenqualität zukomme 25 , ob es Gesetzesrecht derogieren könne 2 6 und wie endlich die rechtsgestaltende Tätigkeit der Rechtsprechung mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung zu vereinbaren sei 27 .
21 Vgl. Säcker, Grundprobleme S. 110; Zippelius N J W 1964, S. 1982. Meder S. 23 f.; Buchner, Gedächtnisschr. Dietz S. 184. 22 Vgl. Larenz M L S. 311 ff.; Meier-Hayoz S. 146. 23 So schon Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1957, und die Titel nahezu aller neueren Abhandlungen, namentlich der von H. P. Schneider, Kruse, Arndt N J W 1963, S. 1273 ff.; Brüggemann JR 1963, S. 162 ff.; H. J. Hirsch JR 1966, S. 334 ff.; H . H . Klein DRiZ 1972, S. 333 ff.; Badura; Herschel A u R 1972, S. 129; D B 1973, S. 2298; RdA 1973, S. 147; Hilger, Festschr. Larenz S. 109; Lieb R d A 1972, S. 129; Meier-Hayoz, Festschr. Guldner S. 189; Scholz D B 1972, S. 1771, sowie die Untersuchung von Vossen. 24 Vgl. die bei Rüthers S. 458 aufgeführten Definitionen. Die Beschränkungen dieses Begriffs auf die Normbildung intra legem, so Kruse S. 10, oder contra legem, vgl. H. J. Hirsch JR 1966, S. 341, werden hier außer acht gelassen. 25 Vgl. Adomeit S.37ff.; Esser, Festschr. v. Hippel S. 116 ff.; Kruse S. 3 ff.; Fischer, Weiterbildung S. 9; Scholz D B 1972, S. 1772. 26 Hierzu A. Arndt N J W 1963, S. 1280; Stein N J W 1964, S. 1750; H . H . Klein DRiZ 1972, S. 336; Redeker N J W 1972, S. 413. 27 Dazu etwa P. Schneider AöR 82 (1957), S. 14; Schlüter S. 12 ff.; Achterberg, Funktionenlehre S. 90 ff., 149 ff.
2. Offene Fragen des Richterrechts
27
Richterrecht erreicht zudem eine aktuell politische Dimension. Man argwöhnt, daß der sich vom Gesetz emanzipierende Richter zum Vollstrecker parteilicher Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt werden soll, und sieht hierin eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat 28 . Die Diskussion ist somit von grundlegend differierenden Richterbildern durchzogen. Einerseits erscheint der Richter als „Wahrer autonomer Rechtsgrundsätze" 29 , der der Buntheit gesetzgeberischer Einfälle und einer vielgesichtigen politischen Legislative stabilisierend entgegenw i r k t 3 0 , auf der anderen Seite sieht man eine unverzichtbare Voraussetzung seiner Funktion gerade i n möglichst enger Gesetzesgebundenheit, die eigenständiges Gestalten bereits bedenklich werden läßt 3 1 . Den verschiedenen verfassungstheoretischen — legislativ-, exekutivoder justizfreundlichen 32 — Vorverständnissen fügen sich unterschiedliche methodologische — topik- 3 3 oder systemorientierte 34 — Grundanschauungen an, deren Prämissen schon darauf hinweisen, ob Freiheit oder Gebundenheit des Richters akzentuiert werden soll 3 4 a . Trotz dieser gegensätzlichen Ausgangspositionen kristallisiert sich immerhin eine gemeinsame Fragestellung heraus. Die Methodendiskussion hat zur Einsicht geführt, daß die Gesetzesanwendung ein vielschichtiger Prozeß ist und nicht deutlich von der Rechtsbildung getrennt werden kann 3 5 . M i t den verschwimmenden Grenzen zwischen Rechtsbildung und Rechtsanwendung w i r d auch das Verhältnis von gesetzgebender Gewalt und Richter unscharf 36 . Die Unsicherheit i n der methodologischen Abgrenzung von Rechtsanwendung und Rechtsneubildung und i n der funktionellen von Rechtsprechung und Gesetzgebung führt zu dem Anliegen der Richterrechtsdiskussion, Maßstäbe und Theorien zu entwickeln, die die Richterfreiheit begrenzen. Verschiedene Autoren betonen demgemäß, daß es heute nicht mehr möglich sei, den eigenständigen Anteil der Rechtsprechung an der Rechtsentwicklung zu leugnen oder terminologisch hinwegzudisputie28 So H. H. Klein DRiZ 1972, S. 337. 29 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 222. 30 Vgl. Esser, Grundsatz und N o r m S. 286. 31 Vgl. z.B. H . J . Hirsch JR 1966, S. 342; Forsthoff, V e r w R S. 7. 32 Hierzu Kriele S. 27 ff. 33 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 151 ff.; Kriele S. 114ff. 34 Dazu Larenz M L S. 151 ff.; Diederichsen N J W 1966, S. 697 ff. 34a Zu dieser grundlegenden Frage neuerdings Larenz, Festschr. E. R. Huber S. 292 ff. 35 Vgl. oben A n m . 15; dazu auch F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 46. Larenz, Festschr. E. R. Huber S. 293 ff. 36 Vgl. Arndt N J W 1963, S. 1274.
28
T e i l I, 1. Kap.: Problemstellung
ren 3 7 . Die Rechtswissenschaft müsse vielmehr die Richtermacht systematisch begrenzen und i m Interesse organischer Rechtsfortbildung methodisch leiten 3 8 . Nicht über das „Ob" des Richterrechts werde gestritten, nur das „Wie" stehe zur Debatte. Das Erfordernis methodischer Anleitung der Rechtsfortbildung ist zum durchgängigen Topos der Richterrechtsdiskussion geworden 39 . Freilich herrscht Uneinigkeit darüber, auf welche Weise man die Lösung des Abgrenzungsproblems gewinnt. Die vielfach empfohlene Beobachtung der Praxis 4 0 sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, lediglich die Ergebnisse der Rechtsprechung methodologisch rechtfertigen zu wollen, während doch untersucht werden müsse, ob die Praxis richtig oder falsch sei 41 . Einer vorgefertigten Theorie der Rechtsfortbildung, die die Ergebnisse der Methodendiskussion berücksichtigt, w i r d entgegengehalten, daß sie vorschnell die Richtigkeitsfrage stelle und die Praxis mit unerfüllbaren methodologischen Postulaten überziehe, wo doch die Frage zu klären sei, warum die Rechtsprechung so und nicht anders vorgehe 42 . Darüber hinaus ist die Frage kontrovers, woher überhaupt Maßstäbe zur Begrenzung richterlicher Entscheidungsfreiheit zu gewinnen sind. Einerseits nimmt man an, daß dies eine Angelegenheit der Methodenlehre sei 43 und methodologische Bemühungen ohnehin darauf abzielten, den Bereich legitimer richterlicher Tätigkeit abzustecken 44 . Dieser Auffassung erscheinen Verfassungsnormen als allzu grob, um daraus für die Richterrechtsdiskussion „Honig zu saugen" 45 . Auf der anderen Seite konstatiert man, daß die vielfältigen methodologischen Erörterungen den Blick für den wahren Standort der Problematik verstellt hätten und daß die verfassungsrechtliche Problematik i n erstaunlichem Maße verkannt oder vernachlässigt worden sei 46 . Zu alledem findet sich die Auffassung, daß Richterrecht weder methodo-
37 Vgl. z.B. Wieacker, §242 S. 14; Meyer-Ladewig AcP 161 (1962), S. 106; Säcker ZRP 1971, S. 146. 38 So Meyer-Ladewig AcP 161 (1962), S. 106. 39 Vgl. schon Esser, Grundsatz und N o r m S. 25 f. 40 So etwa Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 14. 41 Vgl. zu diesem Einwand Kriele S. 43 f. 4 2 So z. B. H. P. Schneider S. 10 f. 4 3 Vgl. Esser, Grundsatz und N o r m S. 69. 44 So etwa Kriele S. 35 f., der darin zugleich ein Paradox sieht; vgl. hierzu Larenz, Festschr. E. R. Huber S. 301 f. 45 So Meyer-Ladewig AcP 161 (1962), S. 98. 46 So H. P. Schneider S. 9; ähnlich Redeker N J W 1972, S. 412 u n d Göldner S. 150, der die funktionell-rechtliche Problematik für „Neuland" hält; vgl. aber schon C. Schmitt, H ü t e r der Verfassung S. 19: „Das Problem der Freirechtsbewegung u n d des schöpferischen' Richtertums ist deshalb i n erster Linie ein verfassungsrechtliches Problem", vgl. auch Scholz D B 1972, S. 1774.
3. Prämissen der Untersuchung
29
logisch noch verfassungsrechtlich begrenzt werden könne 47 , wobei die Frage unbeantwortet bleibt, ob es denn gar keine Abgrenzungskriterien gibt. Das Problem ist also hinreichend deutlich, der Lösungsansatz noch i m Streit der Meinungen. Man kann sich deshalb von keinem anderen methodischen Vorgehen Erfolg versprechen als dem, verschiedene Abgrenzungsversuche aus der Literatur daraufhin zu untersuchen, ob ihre Kriterien überzeugen. 3. Prämissen der Untersuchung Eine solche Auswahl von Abgrenzungstheorien muß, soll die Erörterung sich nicht i m Endlosen verlieren, durch Prämissen vorherbestimmt sein, die kurz zu umreißen sind. a) Berücksichtigung
der neueren Methodenlehre
Vorauszusetzen ist, daß hinter die Ergebnisse der neueren Methodendiskussion kein Weg zurückführt 4 8 . Es geht dabei über eine ganze Strecke hinweg nicht um die Frage, ob dem Richter mehr oder weniger Freiheit zugestanden werden soll, sondern u m seinen selbständigen Anteil an Wertung und Wahl zwischen Wertungsgesichtspunkten i n einem Bereich, der aus positivistischer Sicht als problemlose Gesetzesanwendung betrachtet worden sein mag. Dieser Anteil ergibt sich aus einer Analyse der anzuwendenden Rechtssätze, nicht aus einer richterfreundlichen Methodenlehre 49 . Wenn man demgegenüber ausführt, der Richter habe weder zwischen mehreren Entscheidungsmöglichkeiten zu wählen noch nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden, Rechtsprechung sei vielmehr ausschließlich Anwendung von Rechtssätzen 50 , so w i r d damit die Auslegung i n ihrem notwendig produktiven Charakter verkannt. Die an den Juristen gestellte Forderung, das Gesetz entsprechend seiner Technizität auch technisch i m Sinne der Subsumtion durch syllogistischen Schluß zu handhaben 51 , ist entweder unerfüllbar, weil kein Gesetz mit seinen semantischen Unschärfen derart technisch ist 5 2 , oder sie 4 7 und 48 49
So Fischer, Weiterbildung S. 6 f. u. 10. Kritisch zu dieser Auffassung zum Problem i m ganzen: Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 12 ff. So auch Meyer-Ladewig A c P 161 (1962), S. 106; Wieacker, §242 S. 14. Vgl. zu dieser Frage Kriele S. 64. 50 So Bettermann, Gedächtnisschr. Jellinek S. 365 f. So bes. Forsthoff, Umbildung, i n : Rechtsstaat S. 148 u. 153 i m Hinblick auf die Verfassungsrspr. 52 Vgl. hierzu Kriele S. 51 f.
30
T e i l I, 1. Kap.: Problemstellung
ruft dazu auf, bestimmte formale — wenn auch unverzichtbare — Schritte bei Auslegung und Subsumtion vorzunehmen, und verfehlt damit das eigentliche Problem. Auch die vorgeblich durch die Struktur des Rechtssatzes geforderte Beschränkung auf den Savignyschen Methodenkanon 53 , der grammatische, logische, historische und systematische Interpretation i n eben dieser Reihenfolge zuläßt 54 , setzt Gesetze voraus, die auf diese Weise interpretiert werden können und nicht etwa durch unbestimmte Begriffe und Generalklauseln den Interpreten vor die Aufgabe stellen, die Rechtsnorm für den zu entscheidenden Fall erst zu bilden 5 5 . Die so gewonnene Norm mag auf technische Weise gehandhabt werden; Anliegen der Methodenlehre muß es sein, die Vorentscheidungen und Wertungen aufzudecken, die zum konkreten Rechtssatz geführt haben 56 . Der positivistischen Doktrin w i r d ja nicht ihre strenge Gesetzesgebundenheit vorgeworfen. Die K r i t i k beruht vielmehr auf dem Nachweis, daß die getroffenen Wertungen unausgesprochen blieben und unter dem Anschein juristisch-formaler Operationen verborgen wurden 5 7 . Den rechtsstaatlichen Bedenken gegen eine Rechtsprechung, die vorgeblich Entscheidungsräume usurpiert, die kein Gesetz ihr zugestanden hat 5 8 , und dem Unbehagen an einem Richter, der seine Aufgabe in der Verwirklichung von Werten sieht 59 , muß auf andere Weise Rechnung getragen werden als dadurch, Begriff und Möglichkeiten des Gesetzes neuerlich zu überspannen. b) Ablehnung
der Vorstellung
präexistenten
Rechts
Ebenso wie die Forderung an den Richter, sich eigener Wertungen zu enthalten und zur juristischen Methode i m Sinne Savignys zurückzukehren, müssen jene Auffassungen i m folgenden vernachlässigt werden, die die richterliche Entscheidung zu mystifizieren versuchen. Es mag zwar zutreffen, daß das typische Bemühen des Interpreten nach Vorgegebenem sucht 60 und sich gebunden sieht an etwas „Bestimmtes, Eingerichtetes, Objekthaftes, Erkennbares" 61 . Diese Grundhaltung zeich53 Vgl. Forsthoff, Problematik S. 39; Umbildung, i n : Rechtsstaat S. 153. 54 vgl. Forsthoff, Umbildung, i n : Rechtsstaat S. 148; Problematik S. 39. 55 Vgl. Wieacker, § 242 S. 16. 56 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 33; Kriele S. 15 f.; F. Müller, Normstruktur S. 42 ff. 57 v g l . F. Müller, Normstruktur S. 28 u. 42 ff.; Esser, Vorverständnis S. 16. 58 So Forsthoff: Der Jurist, i n : Rechtsstaat S. 196. 59 Vgl. Forsthoff, Umbildung, i n : Rechtsstaat S. 153 f. 60 Vgl. Larenz M L S. 342. 61 So Eichenberger S. 96.
3. Prämissen der Untersuchung
31
net gerade den Juristen aus, der nicht subjektives Dafürhalten zur Grundlage seiner Entscheidung nimmt, sondern Normen und Grundsätze des Rechts 62 . I n dem Augenblick aber, in dem man die Vorgegebenheit nicht mehr auf Normen und Prinzipien des positiven Rechts beschränkt, die rational vermittelt werden können, sondern die Vorgegebenheit allen Rechts — „ius semper loquitur" 6 3 — konstatiert 6 4 , ist der Schritt von der Analyse des Entscheidungsprozesses zur Mystifikation getan 65 . Bei nüchterner Betrachtungsweise weicht die Vorstellung vom präexistenten Recht der Einsicht, daß Rechtsprobleme nach rechtlichen Maßstäben entschieden werden müssen. Die Entscheidbarkeit darf aber nicht zu dem I r r t u m verleiten, die Maßstäbe seien schon immer irgendwie existent, brauchten nur erkannt zu werden und seien nicht etwa erst zu bilden 6 6 . Zweifellos gibt es eine große Zahl von Rechtsproblemen, deren Lösung vorgegeben ist. Hier hat das B i l d des etwas „Objekthaftes" suchenden Richters seinen Platz. Nur sind diese Fälle für die Richterrechtsdiskussion von nachgeordneter Bedeutung, weil hier keine Abgrenzungsschwierigkeiten entstehen 67 . Für die problematischen Entscheidungen dagegen, die die Grenze zwischen Richter und Gesetzgeber undeutlich werden lassen, h i l f t die Vorstellung vom vorgegebenen Recht nicht weiter. Die neueren methodologischen Ansätze bemühen sich darum, juristische Entscheidungsgänge rational einsehbar und kontrollierbar zu machen 68 . I n Anknüpfung an die allgemeine geisteswissenschaftliche Hermeneutik 6 9 sollen Vorverständnisse bei der Interpretation 7 0 und inhaltliche Implikationen 7 1 auf den verschiedenen Stufen der Rechtsfindung herausgearbeitet werden. Diesem Anliegen widerspricht jeglicher Versuch, die notwendigen Wertungen und eigenständigen Normbildungen der Rechtsprechung als schlichte Vorgegebenheit auszugeben. Die Aussage, der Richter richte immer nur nach dem Recht, wenn er es auch erst suchen und finden müsse, bevor er es anwenden könne 72 , ist deshalb trivial. Daß Rechtsprechung nicht W i l l k ü r sein darf, leuchtet sofort ein. Es kommt eben 62 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 15. 63 So Baring JJb. 6 (1965/66), S. 48. 64 So etwa Roellecke S. 144 ff. 65 Kritisch auch Rüthers S. 461. 66 Vgl. hierzu Wieacker, Gesetz S. 6; F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 35 u. 46. 67 Vgl. Kriele S. 91. 68 Vgl. bes. F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 39 u. 68; Kriele, S. 22. 6» Vgl. Esser, Vorverständnis S. 8; F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 13 Anm. 2. 70 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 8. 71 Vgl. F. Müller, Normstruktur S. 28. 72 So Bettermann, Gedächtnisschr. Jellinek S. 365; ähnlich Roellecke S. 146.
32
T e i l I , 1. Kap.: Problemstellung
darauf an, wie der Richter das Recht sucht und auf welche Weise er es findet. Dabei kann das Subsumtionsideal nicht durch eine nicht minder idealistische Vorstellung vom präexistenten Recht ersetzt werden. c) Ungenügen materieller
Rechtsprechungsbegriffe
Weiterhin werden die i m Schrifttum zahlreich anzutreffenden Versuche, den Begriff „Rechtsprechung" näher zu bestimmen 73 , insoweit außer acht gelassen, als sie die rechtsbildende Funktion der Gerichte nicht berücksichtigen. Die Bemühungen um einen materiellen Begriff der Rechtsprechung, namentlich die Definitionen von Thoma 7 4 , Friesenhahn 75 und Eichenberger 76 , betonen die Einzelfallentscheidung als inhaltliches Kriterium. So definiert Thoma Rechtsprechung als den „verselbständigten Ausspruch dessen, was i n Anwendung des geltenden Rechts auf den konkreten Tatbestand i m Einzelfalle rechtens ist" 7 7 . Friesenhahn legt den Akzent auf die Streitentscheidung durch einen unbeteiligten Dritten. Nur dann könne von Rechtsprechung die Rede sein, wenn das „rechtsanwendende Staatsorgan als unbeteiligter Dritter feststellt, was in concreto rechtens ist" 7 8 . Eichenberger, der den Funktionsbegriff zu einem „Wesensbegriff" ausweiten w i l l 7 9 , sieht nicht die Rechtsstreitigkeit zweier Parteien als notwendige Voraussetzung von Rechtsprechung an, sondern nur eine „spezifische Rechtsungewißheit" 80 , die von einem unabhängigen, nicht nur unbeteiligten Dritten durch Rechtsanwendung behoben w i r d 8 1 . Alle diese Definitionen mögen richtig sein und die verschiedenartigen Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt — von der freiwilligen Gerichtsbarkeit bis zur Normenkontrolle — begrifflich umfassen. Sie leisten damit aber nur einen Beitrag zur Grenzziehung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung 8 2 . Wo aber die Trennlinie zur gesetzgebenden Gewalt i m Streit ist, kann eine Begriffsbestimmung nichts nützen, die 73 Vgl. die Ubersichten bei Eichenberger S. 6 ff.; Achterberg, Funktionenlehre S. 98 ff. u. Schlüter S. 20. 74 Vgl. Thoma HdStR I I , S. 127 ff. 75 Vgl. Friesenhahn, Festschr. Thoma S. 21 ff. 76 Vgl. Eichenberger S. 19 ff. 77 Vgl. Thoma HdStR I I , S. 129. 78 Vgl. Friesenhahn, Festschr. Thoma S. 27. 79 So Eichenberger S. 21. so Vgl. Eichenberger S. 17. 81 Vgl. Eichenberger S. 23; ähnlich auch Hesse, Grundzüge S. 219. 82 Vgl. Achterberg, Funktionenlehre S. 98 ff.
3. Prämissen der Untersuchung
33
lediglich auf die Entscheidung des Einzelfalls abstellt 8 3 und damit bereits die positiv-rechtliche Ausgestaltung des Revisionsverfahrens 84 und die durch Gerichtsverfassungs- und Prozeßgesetze den Großen Senaten eingeräumte Befugnis zur Rechtsfortbildung außer acht läßt 8 5 . Sie müßte immerhin andeuten, daß sich namentlich höchstrichterliche Judikate nicht darin erschöpfen, die Rechtsungewißheit für einen konkreten Fall zu beheben, sondern eine — und das läßt sich auch bei ungeklärter Rechtsquellenfrage und fragwürdiger Präjudizienbindung feststellen — über den Einzelfall hinausgehende rechtsbildende Wirkung entfalten.
83 Ähnlich auch Hesse, Grundzüge S. 219 u n d P. Schneider AöR 82 (1957), S. 14 f. 84 So z.B. § 546 I I 3 ZPO; § 72 I A r b G G ; §132 V w G O ; vgl. dazu Henke S. 10 f.; Schwinge S. 52 ff.; Stein-Jonas (Grunsky) vor §545 A n m . I, 2. 85 So § 137 GVG; § 45 A r b G G ; § 11 V w G O ; § 43 SGG; §11 FGO. 3 Ipsen
2. Kapitel Lehrmeinungen zur Abgrenzung von gesetzgebender Gewalt u n d Rechtsprechung Die Versuche, eine Grenzlinie zwischen richterlicher und gesetzgeberischer Funktion zu ziehen und aufzuzeigen, welche Bereiche dem Richterrecht unzugänglich sind, kennzeichnen das Verhältnis beider Funktionen zumeist durch Gegensatzpaare wie „Recht und Rechtspolitik" 1 , „rechtliche und sozialgestalterische Entscheidung" 2 , „Rechtsanwendung und Verfolgung von Sachzielen" 3 oder allgemein mit „Bewahren und Gestalten" 4 . Sie gleichen einander dadurch auf den ersten Blick und lassen vermuten, daß die Grenze legitimer richterlicher Rechtsbildung dort verläuft, wo es um Politik und Sozialgestaltung geht. Freilich sind die Ansatzpunkte der hier zu erörternden Theorien verschieden. Einerseits versucht man, vom Boden der juristischen Methodenlehre her die Schranken richterlicher Rechtsfortbildung zu bestimmen, andererseits dient das „Wesen" der juristischen Entscheidung oder die „Aufgabe" der Rechtsprechung als Abgrenzungskriterium. Von diesem Ausgangspunkt und seiner normativen Begründung hängt es ab, wo das Problem endgültig angesiedelt w i r d und die Maßstäbe zu seiner Lösung zu suchen sind. 1. Darstellung der Lehrmeinungen a) Rechtliche Determination
und rechtspolitische (Flume)
Entscheidung
Flume unterscheidet zwischen rechtlich determinierten Fragen und solchen, die politischer Natur sind und nur von politischen Instanzen entschieden werden können 5 . Rechtlich determiniert, und damit allein zur besonderen juristischen Zuständigkeit gehörig, sind nach seiner 1 2 3 4 s
Vgl. Larenz M L S. 357; Esser, Vorverständnis S. 197 f. Vgl. Schlüter S. 22 ff. Vgl. Flume i n : Verh. 46. D J T Bd. I I , S . K 26. Vgl. P. Schneider AöR 82 (1957), S. 12. So Flume i n : Verh. 46. D J T Bd. I I , S. K 12.
1. Darstellung der Lehrmeinungen
35
Auffassung nur solche Probleme, für deren Entscheidung ein inhaltlich verbindlicher Ansatzpunkt gegeben ist 6 . Wieweit eine verbindliche Weisung existiert, ergibt sich aus der anzuwendenden Subsumtion, die Flume aber nicht länger „naiv" verstanden wissen w i l l , sondern deren Wertungsbedingtheit er einbezieht 7 . Die Methode hat also, was die Unterscheidung der Zuständigkeit juristischer und politischer Instanzen angeht, eine doppelte Funktion: sie wählt diejenigen Normen aus, die inhaltlich so bestimmt sind, daß sie sich für den syllogistischen Schluß eignen, und gewährleistet damit, daß der Richter nicht unterschiedliche Sachziele verfolgt, sondern Recht spricht 8 . Flume verkennt nicht, daß die Grenzen zwischen Rechtsprechung und gesetzgebender Gewalt fließend geworden sind 9 . Die höchst bedenkliche Praxis, gesetzgeberische Entscheidungen dem Richter zu überantworten, dürfe aber nicht dadurch verschlimmert werden, daß man den Richter i n den rechtlich determinierten Bereichen aus seiner Bindung an das Gesetz entlasse. Als Beispiel für einen Uber griff der rechtsprechenden Gewalt i n die Kompetenzen des Gesetzgebers nennt Flume die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Ersatz des immateriellen Schadens bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts 10 . Die Wertentscheidung des BGB sei auch heute noch verbindlich und könne nur durch die gesetzgebenden Instanzen revidiert werden 1 1 . Dagegen betrachtet Flume die Entscheidungen des B G H zur aktiven Parteifähigkeit der Gewerkschaften 12 als Musterbeispiel legitimer Rechtsfortbildung. Hier habe die Rechtsprechung nur der anerkannten Stellung der Gewerkschaften Geltung verschafft, nicht aber ihre Wertung an die Stelle der gesetzgeberischen gesetzt 13 . b) Typen offener Rechtsfortbildung Rechtsnotstand als Voraussetzung richterlicher Gesetzeskorrektur (Larenz) Larenz betont das schöpferische Element juristischer Auslegung 14 , das freilich dem Interpreten kaum bewußt sei, die Auslegung einer Rechtsnorm aber vielfach zur verdeckten Rechtsfortbildung werden 6 So Flume S. K 34. 7 Vgl. Flume S. K 29. 8 Vgl. Flume S. K 32. 9 Vgl. Flume S. K 30. 10 Vgl. n u r B G H Z 25, 349 (Herrenreiter). 11 Vgl. Flume S. K 11. 12 Vgl. B G H Z 42, 210; 50, 325. 13 So Flume S. K 21. 14 Vgl. Larenz M L S. 344. 3*
36
T e i l I, 2. Kap.: Abgrenzung von Gesetzgebung und Rechtsprechung
lasse 15 . Daran kann sich bruchlos die „offene Rechtsfortbildung" anschließen, für die der Begriff der Gesetzeslücke von entscheidender Bedeutung ist. Larenz zufolge dürfen „Lücken" keineswegs mit „Fehlern" des Gesetzes verwechselt werden 1 6 . Während Lücken durch die dem Gesetz immanente Teleologie auffindbar sind, w i r d der Fehler aus kritischer — rechtspolitischer — Sicht des Gesetzes behauptet 17 . Läßt der Grundgedanke des Gesetzes eine Regelung erwarten — und er muß bis hin zum Gerechtigkeitsgrundsatz verstanden werden 1 8 —, so liegt eine Lücke vor. T r i f f t dagegen das Gesetz eine deutlich erschöpfende Regelung, so kann eine Ergänzung nur rechtspolitisch gefordert, nicht i m Wege der Interpretation erreicht werden 1 9 . Die Ausfüllung von — Norm-, Regelungs-, offenen und verdeckten — Lücken 20 , die Rechtsfortbildung „praeter legem", ist nach Larenz' Auffassung unstreitig Aufgabe der Rechtsprechung. Rechtspolitische Postulate darf sie dagegen grundsätzlich nicht verwirklichen. Die Grenze der Rechtsfortbildung „praeter legem" ist dort erreicht, wo über die dem Gesetz immanente Teleologie hinaus die positiven Regelungen umgebildet und neue Rechtsinstitute geschaffen werden 2 1 . Hier von einer „Lücke" zu sprechen, hält Larenz für verfehlt, weil das Gesetz seinen eigenen Wertungen gemäß keine Regelung erwarten läßt 2 2 . Die die Rechtsfortbildung „praeter legem" leitenden methodischen Mittel Analogie, teleologische Reduktion und Extension reichen hingegen bei der Institutsbildung „extra legem" nicht aus, weil das Gesetz selbst nicht mehr den Maßstab bildet 2 3 . Larenz hält dennoch die Rechtsfortbildung „extra legem" für zulässig 24 , wenn ein unabweisbares Bedürfnis des Verkehrs 2 5 , die Natur der Sache26 oder ein rechtsethisches Prinzip 2 7 sie erfordert. Eine dritte, von Larenz herausgearbeitete A r t der Rechtsfortbildung vollzieht sich nun i m Widerspruch zum Gesetz. Die Rechtsprechung is Vgl. Larenz M L S. 343. iß So Larenz M L S. 353 f. 17 Vgl. Larenz M L S. 354. is Vgl. Larenz M L S. 354. 19 So Larenz M L S. 357. 20 Hierzu Larenz M L S. 351 ff. 21 So Larenz M L S. 382 f. 22 Vgl. Larenz M L S. 383. 23 So Larenz M L S. 383. 24 Vgl. Larenz M L S. 383. 25 Vgl. Larenz M L S. 385 ff. 26 Vgl. Larenz M L S. 388 ff. 27 Vgl. Larenz M L S. 394 ff.
1. Darstellung der Lehrmeinungen
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des Bundesgerichtshofs zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und zur aktiven Parteifähigkeit der Gewerkschaften dient wiederum als Beispiel. Genügte zur Rechtfertigung der Rechtsfortbildung „extra legem" ein objektiver Anhaltspunkt, so w i l l Larenz den Richter nur i n eng begrenzten Ausnahmefällen gegen das Gesetz judizieren lassen 28 . Voraussetzungen der Rechtsfortbildung „contra legem" sind nach seiner Ansicht, daß — die gesetzliche Regelung einen „Rechtsnotstand" entstehen läßt, d. h. einen Zustand, i n dem der Rechtsgedanke Schaden leidet 2 9 : — der Rechtsnotstand nicht auf andere Weise als durch Richterspruch beseitigt werden kann, namentlich mit einem Eingreifen des Gesetzgebers nicht zu rechnen ist 3 0 . Ein solcher Rechtsnotstand kann nach Larenz' Auffassung entstehen, wenn ein unabweisbares Bedürfnis des Verkehrs nicht befriedigt w i r d oder die Rechtsordnung ein rechtsethisches Prinzip bzw. die „Natur der Sache" i n „unerträglicher Weise" unberücksichtigt läßt 3 1 . c) Rechtsprechung als Rechtsbewahrung (Peter Schneider) Peter Schneider unterscheidet i m Rahmen seiner Fragestellung, welche Gestalt das Gewaltenteilungsprinzip i m Rechtsstaat der Gegenwart hat, zwischen den sich ergänzenden Grundfunktionen Bewahrung und Gestaltung 32 . Er w i l l damit das seiner Auffassung nach fragwürdig gewordene Gegensatzpaar von Rechtssetzung und Rechtsanwendung ersetzen 33 . Der Begriff „Rechtsbewahrung" kann Schneider zufolge die richterliche Tätigkeit wesentlich besser umschreiben als die bekannten Rechtsprechungstheorien. Zum einen verzichtet dieser Begriff auf das K r i t e r i u m der Streiterledigung und umfaßt damit auch die Normenkontrolle 3 4 , die den Vertretern eines materiellen Rechtsprechungsbegriffs immer Schwierigkeiten bereitet hat 3 5 . Zum anderen berücksichtigt er die der richterlichen Tätigkeit immanenten voluntativen 28 Vgl. Larenz M L S. 399. 29 Vgl. Larenz M L S. 401. 30 Vgl. Larenz M L S. 401. 31 Vgl. Larenz M L S. 401. 32 Vgl. P. Schneider AöR 82 (1957), S. 12; ähnliche Begriffe finden sich bei Forsthoff, Verwaltungsrecht S. 6; Eichenberger S. 97; H . H . Klein D R i Z 1972, S. 335; dagegen A. Arndt N J W 1963, S. 1283. 33 Vgl. P. Schneider AöR 82 (1957), S. 12. 34 Vgl. P. Schneider AöR 82 (1957), S. 13. 35 Dazu auch Roellecke S. 101 f.
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T e i l I, 2. Kap.: Abgrenzung von Gesetzgebung u n d Rechtsprechung
und wertenden Elemente: „Rechtsbewahrung meint nicht nur Anwendung des Rechtssatzes i n seinem grammatikalischen Gefüge, sondern auch Bewährung seines Sinn- und Wertgehaltes i n konkreten Lagen 3 6 ." Schließlich kann auch die Ausbildung von Richterrecht — etwa die judizielle Konkretisierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes — nach Schneiders Ansicht noch Rechtsbewahrung sein. Staatliche Funktionen nämlich würden nicht ausschließlich von einem Organ wahrgenommen; deshalb könne i n der Funktion des Gestaltens das Moment des Bewahrens und umgekehrt in der des Bewahrens das Moment des Gestaltens sichtbar werden 3 7 . Die Grenze der Rechtsprechung sei erst erreicht — und damit schließt Schneider sich der vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung an 3 8 —, „wo der Richter durch reinen Willensakt nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten . .. Recht schafft" 39 . Solange der Richter relativ bestimmte Grundsätze vor sich habe, finde er Recht und bewahre es, denn auch die Konkretisierung von Rechtsgrundsätzen sei Rechtsbewahrung. Schneiders Auffassung über das Wesen der Rechtsprechung hat i n der Literatur zahlreiche Anhänger gefunden. Roellecke z. B. hält das Begriffspaar „Bewahren" und „Gestalten" für die einzige Möglichkeit, die Rechtsprechung sinnvoll gegenüber anderen Staatsgewalten abzugrenzen 40 . Auch Schlüter beruft sich auf Schneider, wenn er der Rechtsprechung jegliche zukunftsweisende Sozialgestaltung abspricht 41 . Nach Schlüters Ansicht liegt kein Gegensatz darin, daß einerseits die gestalterischen Elemente des Rechtsfindungsprozesses anerkannt werden, man andererseits aber der richterlichen Entscheidung die „Gestaltung der Sozialexistenz" bestreitet 42 . Es handele sich u m verschiedene Fragestellungen, die nicht miteinander verquickt werden dürften 4 3 . Das Gegensatzpaar Bewahren und Gestalten beziehe sich nur auf die Tendenz richterlicher Tätigkeit i m allgemeinen, nicht auf die einzelne Rechtsentscheidung. Deren gestalterische oder schöpferische Elemente sind nach Schlüter auf den Einzelfall beschränkt. Zwar sei die Rechtsprechung unstreitig zur Rechtsfortbildung befugt, aber eben nur soweit, wie es der konkrete Sachverhalt erfordere 44 . Nehme sie dagegen den Einzelfall nur zum 36 So P. Schneider AöR 82 (1957), S. 14. 37 So P. Schneider AöR 82 (1957), S. 15. 38 Vgl. B G H Z 11, Anh. S. 51. 39 Vgl. P. Schneider AöR 82 (1957), S. 15. 40 Vgl. Roellecke S. 101. 41 Vgl. Schlüter S. 21. 42 Vgl. Schlüter S. 23 f. 43 So Schlüter S. 23. 44 Vgl. Schlüter S. 24.
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Anlaß, ähnlich wie der Verordnungsgeber, allgemeine Gebote zu bilden, so bewahre sie nicht das Recht, sondern versuche, künftige Sozialabläufe zu steuern 45 . Darin sieht Schlüter eine deutliche Verletzung der der Rechtsprechung gesetzten Grenzen. d) Grenzen der Justitiabilität (Esser) Esser, dessen komplexe Darstellung der Bedingungen richterlicher Rechtsfindung hier nicht nachgezeichnet werden kann, hält weder den Begriff der Lücke noch das Gegensatzpaar Recht und Rechtspolitik für geeignet, die Grenzen der Richterrechtsbildung zu bestimmen. Seiner Auffassung zufolge läßt sich die Lückenfüllung, die noch als Interpretation betrachtet werden kann, qualitativ nicht von der vorgeblich vom „System" geforderten oder über das System hinausgehenden Rechtsfortbildung unterscheiden 46 . Die Feststellung einer Lücke sei keine Aussage über „einen Gegenstand und seine Defektheit" 4 7 und nicht durch einen sich i m Gesetz abzeichnenden Plan bedingt, sondern abhängig vom Vorverständnis darüber, ob und i n welcher Weise ein Konflikt geordnet werden müsse 48 . Er hält deshalb die Vollständigkeitsvorstellung, die i n „symbolisch-suggestiver Redeweise" 49 die Teleologie des Gesetzes und darüber hinaus die Gesamtrechtsordnung und ihre (auch überpositiven) Prinzipien zum Maßstab der Lücke macht, für irreführend. Es seien die Erwartungen — das Urteil, eine Regelung dürfe „nicht aufhören" —, die den Mangel jenseits historischer Vorgegebenheit erkennen ließen 50 . Dieses Vorverständnis schließt eine rechtspolitische Wertung ein; mehr noch, es ist ein rechtspolitisches Vorverständnis. Als „Rechtspolitik" begreift Esser den Durchgriff auf vordogmatische Wertungen 5 1 , die ihrerseits aber keine philosophischen A p r i o r i 5 2 oder politischen Ideologien 53 , sondern konsentierte Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft seien 54 .
45 So Schlüter S. 24. 46 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 175 u. 179. 47 So Esser, Vorverständnis S. 176. 48 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 175. 49 So Esser, Vorverständnis S. 177. 50 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 176. 51 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 159, 161 u. 198. 52 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 161. 53 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 162. 54 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 165.
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Das Recht stellt Esser zufolge kein autonomes Entscheidungssystem dar, das sich i n seiner eigenen Begrifflichkeit genügt 55 . Es ist vielmehr angewiesen auf eine dauernde Kommunikation mit den in der Gesellschaft herrschenden Wertkonsensen und normativen Erwartungen 5 6 . Der rechtspolitische Durchgriff ist dem Richter deshalb nicht nur erlaubt, sondern erscheint als unverzichtbare Voraussetzung dafür, das Recht als Entscheidungssystem leistungsfähig zu erhalten 57 . Nach Essers Auffassung ist das Gesetz nichts Fertiges, schlicht Anwendbares, es muß vielmehr mit gedanklichen Wertungen angereichert werden, die nicht schon i m Normtext liegen 58 . Auf diese Weise stehe jede Norm unter dem Vorbehalt, durch Richterrecht ergänzt, umgebildet oder neu gebildet zu werden 5 9 . Der Normtext ist für Esser kein taugliches K r i t e r i u m für die Begrenzung der Richtermacht, weil sein Verständnis unsicher und von zahlreichen Vorbewertungen abhängig sei 60 . Die Grenze der Justiziabilität, also der justizförmigen Regelung von Konflikten 6 1 , liegt nach Esser dort, wo dem Richter angesonnen wird, politische Kontroversen zu entscheiden: „Die Tatsache, daß alle Interpretation m i t politischer Entscheidung verbunden ist, bedeutet nicht, daß politische Entscheidungen ihrerseits mit Mitteln der Rechtsprechung getroffen werden können 6 2 ." Politische Prinzipien, die noch die „schillernde Vielfalt des nicht ausgetragenen . . . Kampfes um die angemessene Ordnung" in sich trügen 6 3 , seien ohne entsprechende Rahmengesetzgebung keine hinreichende Grundlage für die Rechtsprechung. Es bedarf nach Essers Auffassung rechtsförmiger Kriterien 6 4 , eines konstruktiven Prinzips 65 , u m überhaupt die juristische — dogmatische wie vor dogmatische — Richtigkeit einer Entscheidung zu erweisen 66 . Verfassungsprinzipien böten für sich allein solche Möglichkeiten nicht 6 7 . 55 56 57 58 59 60
Vgl. Esser, Vorverständnis S. 165, 176, 201. So Esser, Vorverständnis S. 162 ff. Vgl. Esser, Vorverständnis S. 179, ähnlich S. 114. Vgl. Esser, Vorverständnis S. 176 ff. u. 194. So Esser, Vorverständnis S. 191. Vgl. Esser, Vorverständnis S. 194.
61 62 63 64 65 66 67
So Esser, Vorverständnis S. 196. So Esser, Vorverständnis S. 197. So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 77. So Esser, Vorverständnis S. 196. Vgl. Esser, Grundsatz und N o r m S. 78. Vgl. Esser, Vorverständnis S. 197 u. 199. Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 76.
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Esser unterscheidet demgemäß deutlich zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und den übrigen Gerichtszweigen 68 . Erstere müsse Zwecke setzen, Ziele und Mittel für eine Gesamtordnung liefern, Entscheidungen über die Staatsraison in justizförmiger Weise treffen 6 9 . Diese Dienste kann seiner Auffassung zufolge ein anderes Gericht nicht leisten, ohne denaturiert zu werden. Aufgabe des Richters sei nicht „social engineering" in kasuistischer Manipulation 7 0 . Der jeder Rechtsentscheidung eigentümliche Durchblick auf die Folgen und die Erwartungen der Umwelt dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, daß das juristische Instrumentarium ungeeignet sei, politisch offene Ordnungsprobleme zu regeln 71 . 2. Kritische Würdigung der Lehrmeinungen a) Der Versuch einer Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildung durch die Methoden der Gesetzesauslegung Nach Flumes Auffassung, die hier nur stellvertretend für die einer Reihe anderer Autoren steht 72 , ist die Möglichkeit juristischer Aussagen und damit die richterliche Rechtsfortbildung prinzipiell durch die Methodenlehre begrenzt. Diese Ansicht bedeutet keineswegs einen Rückfall i n überwundene positivistische Vorstellungen, denn Flume erkennt die Wertungsbedingtheit der Gesetzesauslegung durchaus an 7 3 . Der Versuch, die richterliche Rechtsfortbildung durch die Methoden juristischer Auslegung zu begrenzen, setzt voraus, daß eine gesetzliche Regelung existiert. Lücken in einem solchen Gesetz lassen sich noch als Unvollkommenheit der i m übrigen als vollständig gedachten Normierung begreifen, die durch die anerkannten Methoden der Analogie und Restiktrion zu schließen sind. Schwierigkeiten entstehen aber, wenn einzelne Rechtsgebiete nicht oder nur i n geringem Maße gesetzlich geregelt sind und sich auch kein dem Gesetz gleichrangiges Gewohnheitsrecht herausgebildet hat. Hier kann von Gesetzesauslegung nicht mehr die Rede sein. Man könnte sich zwar damit behelfen, auch in gesetzesfreien Rechtsbereichen eine Lücke anzunehmen, und zwar eine „Lücke i m Recht", nur wäre das ein Spiel mit Worten; denn die Vorstellung einer volles v g l . Esser, Vorverständnis S. 198 f. 69 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 198 f. 70 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 198 f. 71 So Esser, Vorverständnis S. 196 u. 199; ähnlich schon i n Grundsatz und N o r m S. 78. 72 Vgl. n u r H. J. Hirsch JR 1966, S. 338 ff. 73 Vgl. Flume i n : Verh. 46. D J T Bd. I I , S. K 29.
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ständigen Ordnung w i r d ja gerade widerlegt, wenn ein ganzes Rechtsgebiet ohne gesetzliche Normierung bleibt. Auch müßte, wollte man die dann notwendige Rechtsbildungsarbeit als Analogie bezeichnen, dieser Begriff aus seinen engen methodologischen Voraussetzungen herausgelöst werden 7 4 . Damit büßt aber der hier umrissene Versuch zur Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildung einen wesentlichen Vorzug ein. Die begriffliche Klarheit geht verloren, wenn aus der Gesetzeslücke eine Lücke i m Recht w i r d und die Analogie zur Übertragung allgemeiner Rechtsgedanken gerät, die dem Richter notwendig gewisse Freiheit einräumt. Es läßt sich also vorläufig der Schluß ziehen, daß das Begriffsinstrumentarium der Gesetzesauslegung versagt, wenn eine Rechtsmaterie gesetzlich nicht normiert ist. Dennoch sind — und dafür bietet die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts zu den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts und die judizielle Ausgestaltung des Arbeitskampfrechts reiches Anschauungsmaterial — auch in solchen Rechtsgebieten rechtliche Entscheidungen möglich. W i l l man der Enge des skizzierten Ansatzes von Flume entgehen, der offenbar am B i l d der großen Kodifikationen orientiert ist, so bieten sich auf der Suche nach normativen Grundlagen der Rechtsentscheidung — hier allerdings weit über Flumes Intentionen hinausgreifend, aber doch nicht ohne methodische Folgerichtigkeit — übergeordnete Prinzipien, namentlich Grundsätze der Verfassung an. I n dieser Weise hat z. B. der Bundesgerichtshof die richterliche Befugnis zur Konkretisierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes begründet: der Richter brauche zur Entscheidung keine fertige Norm, aber immerhin ein vollziehbares Prinzip, das die Verfassung jedoch mit A r t . 3 I I GG zur Verfügung stelle 75 . Auch bei der richterlichen Ausbildung des Persönlichkeitsschutzes berief sich der B G H auf Grundsätze der Verfassung 76 . Räumt man nun ein, daß dieses Vorgehen methodologisch legitim ist und daß auch Verfassungsgrundsätze i m Wege „richterlicher Prinzipienkonkretion" 7 7 ohne Einschränkung der Rechtsfortbildung nutzbar gemacht werden können, so gesteht man der Rechtsprechung — wohlgemerkt bleibt die Verfassungsgerichtsbarkeit unberücksichtigt — auf dem Wege über die Methodenlehre ein weites Feld zunächst ganz unbestimmter normativer Grundlagen zu 7 8 . 74 Vgl. dazu Larenz M L S. 359 ff.; Esser, Vorverständnis S. 180 ff. 75 Vgl. B G H Z 11, Anh. S. 51. 76 Vgl. z. B. B G H Z 35, 363 (Ginseng-Fall). 77 So Göldner S. 92. 78 Diesen Fehler begeht zunächst Göldner, S. 67 ff., der dann aber zur Kompetenzproblematik gelangt, vgl. S. 148.
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Der Bundesgerichtshof hat argumentiert, die Konkretisierung unbestimmter Begriffe und Generalklauseln sei von jeher eine Aufgabe gewesen, der sich der Richter gewachsen gezeigt habe 79 . Es fragt sich aber, ob der Vergleich zwischen Generalklauseln des einfachen Rechts und Verfassungsprinzipien, die wegen ihres höheren Ranges jedes Gesetz zu derogieren vermögen, haltbar ist 8 0 . Aus methodologischer Sicht ergibt sich hier möglicherweise kein Unterschied; es ist jedoch offensichtlich, daß die richterliche Konkretisierung nicht nur ein methodologisches Problem darstellt, wenn hierdurch ein Gesetz ersetzt — so i m Falle der Rechtsprechung zu Art. 3 I I GG i. V. m. Art. 1171 GG — oder derogiert w i r d — so bei der Judikatur zum Persönlichkeitsschutz. Problematisch ist also nicht nur die Frage, ob der Richter ein Prinzip konkretisieren kann und welche Methoden er anwendet, in gleicher Weise stellt sich die Frage, ob er zur Konkretisierung von Verfassungsprinzipien befugt ist und welche Konsequenzen eine solche Befugnis für das Kompetenzgefüge des Rechtsstaates hat. Eine weitere Erwägung spricht gegen den Versuch, die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung vom Boden der Methodenlehre her zu bestimmen. Flumes Ansatz zur Begrenzung richterlicher Rechtsfortbildung wurde entgegengehalten, daß auch in gesetzlich nicht normierten Rechtsgebieten juristische Aussagen und damit rechtliche Entscheidungen möglich sind, die sich nicht mehr als Lückenfüllung durch Analogie begreifen lassen. Gäbe es solche gesetzesfreien Enklaven 8 1 nicht, brauchte man keine methodologische Anleitung zu einer Rechtsbildung, die sich ohne gesetzlichen Bewertungsrahmen vollzieht. Dieser Gedanke erweist sich auch als tragfähig für die judizielle Ausgestaltung des Gleichberechtigungsgrundsatzes. Hätte der Gesetzgeber den Gesetzgebungsauftrag des Art. 3 I I GG bis zum angegebenen Zeitpunkt erfüllt, so wären methodologische Räsonnements darüber, ob ein solches Prinzip durch den Richter konkretisiert werden kann, überflüssig gewesen. I n beiden Fällen führt also erst die Entscheidbarkeit eines Rechtsproblems, und d. h. konkret: die richterliche Entscheidungszuständigkeit, zur methodologischen Fragestellung. Damit kündigt sich bereits ein Prioritätsverhältnis zwischen richterlichen Kompetenzen und Rechtsfortbildungsmethoden an 8 2 .
79 so 81 82
So B G H Z 11, Anh. S. 52. So auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit Schuppert S. 209. Vgl. Göldner S. 153. Ähnlich Göldner S. 149; dazu auch Scholz D B 1972, S. 1772 ff.
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Teil I, 2. Kap.: Abgrenzung von Gesetzgebung und Rechtsprechung
b) Indizien für die „innere Berechtigung"
der Rechtsfortbildung
Vergleicht man die Voraussetzungen, unter denen Larenz eine Rechtsfortbildung extra oder contra legem für zulässig hält, mit den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen 83 , so zeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten. Die von Larenz vertretenen Voraussetzungen einer Rechtsfortbildung extra oder contra legem — Verkehrsbedürfnis, Natur der Sache oder rechtsethisches Prinzip 8 4 — geben in systematisierter Form die Gründe wieder, deretwegen die Rechtsprechung bestimmte gesetzliche Regelungen ergänzt oder abgeändert hat. Für das „unabweisbare Verkehrsbedürfnis" ist die Rechtsprechung zum Abtretungsverbot unpfändbarer Forderungen ein Beispiel 85 ; mit der „Natur der Sache" mag die Umbildung des Rechts der nicht rechtsfähigen Vereine, insbesondere die den Gewerkschaften entgegen § 50 ZPO eingeräumte aktive Parteifähigkeit begründet werden 8 6 , während man die Ausbildung des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts" und seiner Sanktionen auf ein rechtsethisches Prinzip zurückführen kann 8 7 . Die aufgezeigten Ähnlichkeiten zwischen Larenz und der Rechtsprechung des B G H bestehen nicht zufällig, sondern erklären sich aus seinem Ansatz, Maßstäbe und Methoden richterlicher Rechtsfortbildung aus der Rechtsprechungspraxis zu gewinnen 88 . Der Methodologe nimmt Larenz zufolge zunächst die Tatsache hin, daß die Rechtsprechung das Recht auch über die Gesetzen immanente Teleologie hinaus fortbildet und wertet sie als Indiz dafür, daß dieses Unternehmen unter gewissen Voraussetzungen berechtigt ist. Er untersucht sodann die hierbei angewandten Methoden mit dem Ziel, dem Richter Hilfe für eine „erkenntnismäßig durchsichtige" Rechtsfortbildung zu geben 89 . Eine Antwort auf die Frage, ob solche Gesetzeskorrektur oder -ergänzung dem Richter überhaupt gestattet ist, ist Larenz zufolge i n der Methodenlehre letztlich nicht zu finden: „Die methodologische Fragestellung deckt sich nicht mit der normativverfassungsrechtlichen 90 ." 83 Vgl. n u r B G H Z 4, 153 (158); 4, 208 (216); 4, 219 (223); 9, 157 (164); 13, 360 (367); 34, 64 (70); 48, 134 (141) u n d B A G 1, 279 (280); 5, 187 (195) 13, 1 (13); 13, 79 (89); 15, 335 (339). 84 Vgl. Larenz M L S. 382 ff.; N J W 1965, S. 3. 85 Vgl. B G H Z 4, 153; 13, 360. 86 Vgl. B G H Z 42, 210; 50, 325; dazu Larenz M L S. 391. 87 Vgl. Larenz M L S. 398 f. 88 Vgl. Larenz N J W 1965, S. 3. 89 So Larenz N J W 1965, S. 3. 90 So Larenz N J W 1965, S. 3.
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Die Einwände gegen diese empirische Sicht der Rechtsfortbildung liegen auf der Hand. Wenn Larenz auch dem Vorwurf entgeht, eine praxisferne Theorie aufzustellen 91 , so setzt er sich doch dem Einwand aus, durch seine Betrachtungsweise allzu leicht die Entscheidungspraxis der Gerichte methodologisch zu rechtfertigen 92 . Die Grenze richterlicher Rechtsfortbildung mag zwar dort verlaufen, wo Larenz sie zieht; er kann das normative Problem aber von seinem Ausgangspunkt her gar nicht lösen, sondern nur aussagen, i n welchen Fällen und aus welchen Gründen die Rechtsprechung gesetzliche Regelungen abgeändert hat. Nur diese Tatsache als Indiz dafür zu werten, daß solche Gesetzeskorrekturen auch berechtigt sind 9 3 , verbietet sich schon angesichts der grundgesetzlich verankerten Gesetzesgebundenheit des Richters, die doch immerhin diskutiert werden müßte 9 3 a . Für die normative Fragestellung ist Larenz' Ansatz zwar nicht hinreichend, es läßt sich aber — wie i m vorigen — feststellen, daß die methodologische Problematik, wenn man sie konsequent fortdenkt, zur Kompetenzproblematik wird. c) Der Versuch einer „Wesensbestimmung"
der Rechtsprechung
Der Versuch, das „Wesen" der Rechtsprechung begrifflich zu bestimmen, etwa mit dem Gegensatzpaar „Bewahren und Gestalten" 94 , scheint am ehesten einen Zugang zur normativen Fragestellung nach den Grenzen des Richterrechts zu eröffnen. Der Begriff der Rechtsbewahrung entspricht den i n der Literatur an das Richterrecht gestellten Anforderungen, namentlich dem Gebot der Stabilität und Kontinuität 9 5 , und umfaßt den „gemäßigten Konservativismus" 9 6 , der dem rechtsfortbildenden Richter angeraten wird, ebenso wie den juristischen Begründungszusammenhang 97 , den man bei der Richterrechtsbildung für unabdingbar hält. Dennoch bestehen gegen eine solche Wesensbestimmung als Ausgangspunkt für unsere Fragestellung Bedenken.
91 Dazu Kriele S. 41. 92 Z u diesem Einwand Kriele S. 43. 93 So ausdrücklich Larenz N J W 1965, S. 3. 93a v g l . aber den m i t anderem Akzent versehenen Beitrag von Larenz i n der Festschr. f ü r E. R. Huber, S. 292 ff., i n dem die Frage nach der Gesetzesbindung deutlich w i r d . 94 So P. Schneider AöR 82 (1957), S. 12 ff. 95 v g l . H. P. Schneider S. 39. 96 So Kriele S. 266. 97 Vgl. dazu Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 85; Lerche DVB1.1961, S. 691; Badura, S. 49; Schlüter S. 97.
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T e i l I, 2. Kap.: Abgrenzung von Gesetzgebung u n d Rechtsprechung
Wenn auch das von Peter Schneider i n die Diskussion eingeführte Begriffspaar einige Zustimmung gefunden hat 9 8 , so ist es doch keineswegs unbestritten. Gelegentlich w i r d der Rechtsprechung ein ganz anderers Wesen als das der Rechtsbewahrung zuerkannt. Als Beispiel sei nur Fischers Auffassung genannt, derzufolge die Rechtsprechung heute die Aufgabe hat, „durch Richterrechtsbildung die Wertvorstellung und Wertordnung unseres demokratischen Rechtsstaates zu verwirklichen" 9 9 . Dieser dynamische Begriff von Rechtsprechung dürfte kaum mehr als Rechtsbewahrung zu begreifen sein. Angesichts derart divergierender Auffassungen kann es nicht genügen, das Wesen der Rechtsprechung begrifflich zu umschreiben; man muß vielmehr begründen, warum das Wesen so ist. Auch Schneider beläßt es nicht bei der begrifflichen Abgrenzung, sondern erörtert, ob bestimmte Erscheinungsformen der Rechtsprechung (Normenkontrolle und Richterrechtsbildung) noch Rechtsbewahrung seien. Zweifelhaft ist das insbesondere bei der Ausbildung von Richterrecht, der nach Peter Schneiders Ansicht gestalterische Momente innewohnen 1 0 0 . Da er aber gewisse Funktionsüberschneidungen für zulässig hält, die Rechtsprechung i n beschränktem Umfang also auch gestalten kann, ist die weitere Frage gestellt, wo die Grenze solcher Rechtsgestaltung verläuft. Damit steht Schneider aber unversehens i n der Diskussion um die Kernbereichstheorie des Gewaltenteilungsgrundsatzes. Die begriffliche Umschreibung des „Wesens" der Rechtsprechung ist also nur eine Zusammenfassung der richterlichen Kompetenzen. Der „Wesensbegriff" ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis des Versuchs, eine Abgrenzung zwischen Rechtsprechung und gesetzgebender Gewalt vorzunehmen 101 . Die Kompetenzen, die i n einer Begriffsbestimmung wie der der „Rechtsbewahrung" zusammengefaßt werden, ergeben sich aus der Verfassung und den Prozeßgesetzen, also aus der konkreten Rechtsordnung. Die begriffliche Abbreviatur muß versagen, wenn kein Konsens darüber besteht, wie weit diese Kompetenzen reichen. d) Der Begriff
der Justitiabilität
Die kritischen Anmerkungen, mit denen die skizzierten Lehrmeinungen bisher versehen worden sind, scheinen geradewegs auf den von 98 Namentlich bei Schlüter S. 21 ff. und Roellecke S. 101 ff.; vgl. auch Birke S. 21. 99 So Fischer, BGH-Rechtsprechung S. 34. 100 v g l . p. Schneider AöR 82 (1957), S. 15. 101 Ganz ähnlich f ü r das Rechtsverweigerungsverbot (1968), S. 94 f.
Schumann
ZZP 81
3. Z u r Methoden- und Kompetenzproblematik
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Esser zur Begrenzung des Richterrechts verwandten Begriff der Justitiabilität zuzusteuern 102 . Ist eine Problemstellung nicht justitiabel, so kann dies sowohl heißen, daß die methodischen Möglichkeiten der Rechtsfindung erschöpft sind, als auch bedeuten — und hier wäre der bislang vermißte kompetentielle Ansatz hinreichend deutlich —, daß der Rechtsprechung zur Entscheidung einer solchen Frage die Kompetenz fehlt. Wenn hier dennoch der Begriff der Justitiabilität als Abgrenzungskriterium nicht schlicht übernommen wird, so hat dies seinen Grund darin, daß die Kompetenzen der Rechtsprechung, als deren Zusammenfassung dieser Begriff verwendet werden könnte, eine genauere Bestimmung erfahren müssen. Zwar entspricht es der hier vertretenen Tendenz, die Ausformung der von Esser so genannten „politischen Prinzipien" 1 0 3 für die Sache allein des Gesetzgebers zu halten; noch mangelt es aber am systematischen Zusammenhang, der die richterliche Spruchtätigkeit mit dieser Fragestellung verbindet. So wäre zu klären, wie der Richter überhaupt i n die Lage versetzt wird, Entscheidungen zu fällen, die an sich — wie Esser meint — zum gesetzgeberischen Vorbehaltsbereich gehören und auf welche Weise er sich einer Rechtsbildungsaktivität entziehen kann, die ersichtlich seine Erkenntnismöglichkeiten übersteigt. Wenn auch eine griffige Formel zur Begrenzung des Richterrechts noch nicht gefunden worden ist, so hat sich doch gezeigt, daß die verschiedenen Lösungsansätze unausweichlich in die Frage nach den Kompetenzen der Rechtsprechung einmünden. Das Problem des Richterrechts ist also ein Problem der Zuordnung zweier Staatsfunktionen. Freilich darf neben dieser verfassungsrechtlichen Fragestellung der methodologische Aspekt nicht vernachlässigt werden, denn es zeigt sich alsbald, daß Kompetenz- und Methodenproblematik in einer Wechselbeziehung stehen. 3. Zum Verhältnis von methodologischer und kompetentieller Problematik Dem sich jetzt abzeichnenden Ansatz, die richterliche Rechtsfortbildung als Kompetenzproblem zu begreifen und ihre Grenzen i m Verfassungsrecht zu suchen, könnte man entgegenhalten, daß auch die Verfassung nur m i t bestimmten rechtswissenschaftlichen Methoden ausgelegt werden kann. Lehnt man eine Begrenzungsfunktion der 102 Dazu Esser, Vorverständnis S. 196 ff.; kritisch gegenüber Essers A u f fassung: Larenz, Festschr. E. R. Huber S. 296 ff. 103 So Esser, Grundsatz und N o r m S. 77.
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T e i l I, 2. Kap.: Abgrenzung von Gesetzgebung und Rechtsprechung
Methoden der Gesetzesauslegung und Prinzipienkonkretisierung ab und wendet eben diese auf die Verfassung an, so muß das zunächst widersprüchlich erscheinen. Kriele hat eine ähnliche Frage aufgeworfen und es als paradox empfunden, daß der Versuch unternommen wird, aus dem Grundgesetz eine verbindliche Auslegungsmethode abzuleiten, wo doch die Verfassung zu diesem Zweck mit eben diesen Methoden interpretiert werden müsse 104 . Dieses Paradox t r i f f t unsere Fragestellung nicht, denn hier geht es nicht darum, einer Interpretationsmethode verfassungsrechtliche Verbindlichkeit zuzusprechen. Es bleibt aber, selbst wenn man den von Kriele an die Verfassung gestellten Anspruch nicht verfolgt, ein Spannungsverhältnis zwischen methodologischer und kompetentieller Problematik. Diese Spannung würde zum unauflösbaren Widerspruch, wenn man das Problem ausschließlich dem einen oder anderen Bereich zuordnete. Methodenlehre und Kompetenzbestimmungen stehen aber in einer Wechselbeziehung. Die methodologischen Überlegungen müssen i n die Erörterung richterlicher Kompetenzen einbezogen werden. Sie konturieren das kompetentielle Problem und drängen erst zur Frage, wie weit der diskretionäre Raum des Richters reicht, ob die Konkretisierung von Rechtsprinzipien eine ähnliche Richtigkeitsgewähr wie die Auslegung gesetzlicher Normen bietet und wo die Gefahr besteht, daß der Interpret seine rechtspolitischen Vorstellungen einem Prinzip substituiert. Umgekehrt müssen aber auch die Konsequenzen überdacht werden, die methodologische Billigung etwa der Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze für das Verhältnis zwischen rechtsprechender und gesetzgebender Gewalt nach sich zieht. Diese Fragestellung w i r d um so dringlicher, als eine traditional gefestigte Rechtsbildungsmethode hierfür fehlt 1 0 5 und die zu konkretisierenden Prinzipien vielfach ad hoc gebildet werden. Soweit es sich dabei um Verfassungsprinzipien handelt, ist sogleich deutlich, daß die nur methodologische Sicht — etwa der Vergleich mit der Struktur der Generalklauseln 106 — nicht ausreicht, um die Folgen für das Kompetenzgefüge zu erfassen. I n dieser Wechselbeziehung zwischen methodologischer und kompetentieller Problematik muß freilich der Akzent auf die Kompetenzfrage gelegt werden. Oben wurde bereits angedeutet, daß sich die Methodenfrage erst stellt, wenn die Kompetenz vorhanden ist. Als Beispiel dienten uns der Gleichberechtigungsgrundsatz und Rechtsgebiete, die 104 vgl. Kriele S. 35. los Dazu Esser, Grundsatz u n d Norm S. 69. 106 So zunächst Göldner S. 38 f.
3. Z u r Methoden- und Kompetenzproblematik
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nur i n geringem Maße gesetzlich geregelt sind. In beiden Fällen ist die richterliche Zuständigkeit primär, die methodologischen Probleme ergeben sich erst aus der Entscheidbarkeit von Rechtsfragen. Offenbar ist es nicht umgekehrt, daß etwa eine gerichtliche Zuständigkeit erst begründet wäre, wenn ein hinreichender Normenfundus vorhanden ist. Zwar w i r d häufig gesagt, ein Richter könne nur auf Grund vorgegebener Normen 1 0 7 oder Prinzipien 1 0 8 entscheiden. Das w i l l indes nicht viel besagen, wenn der Nachweis der Vorgegebenheit nicht geführt zu werden braucht, sondern die Normbildung uno actu m i t der Entscheidung erfolgen kann. Eine solche Entscheidung mag sich zwar von der durch die Methodenlehre gezeichneten idealtypischen Rechtsanwendung weit entfernen; besteht aber — sei es auch über den Umweg, daß ein Gesetz wie i m Falle des A r t . 117 I GG außer Kraft t r i t t — die richterliche Zuständigkeit zur Entscheidung, muß auch eine dieser Kompetenz adäquate methodologische Fragestellung einsetzen. Das hier angenommene logische Prioritätsverhältnis von kompetentieller und methodologischer Problematik entspricht dem heute i n der Methodenlehre vertretenen Anspruch, juristische Entscheidungen rational nachprüfbar zu machen 109 . Vorgegeben ist also auch aus dieser Sicht die Entscheidungszuständigkeit des Richters und nicht die anwendbare oder doch einem Rechtsgrundsatz zu entnehmende Norm. Damit w i r d die Methodenlehre zu einer Lehre vom richtigen Entscheiden, zu einer juristischen „Kunstlehre" 1 1 0 , die die Grundlagen und die Struktur von Rechtsentscheidungen analysiert und nachvollziehbar werden läßt und die sich i n ihren Aussagemöglichkeiten an den richterlichen Kompetenzen orientieren muß 1 1 1 .
107 So etwa f ü r die Verfassungsgerichtsbarkeit Leibholz, Strukturprobleme S. 177. 108 So B G H Z 11, Anh. S. 51 f. 109 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 39; Esser, Vorverständnis S. 114.
no So Wieacker, §242 S. 17; Gesetz S. 11. i n Dieser Gesichtspunkt ist i n der Diskussion über das Richterrecht und — soweit ersichtlich — i n der gesamten juristischen Methodendiskussion bislang zu kurz gekommen. Die geringe Hilfe, die die juristische Methodenlehre der praktischen Rechtsfindung bislang zu leisten vermochte u n d die gelegentlich m i t deutlichem Erschrecken konstatiert w i r d , vgl. hierzu Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 12 f., erklärt sich sicher nicht zuletzt daraus, daß man i m Bemühen u m eine rechtswissenschaftliche Hermeneutik die Probleme praktischer Rechtsfindung, u n d d. h. i n erster L i n i e : praktischer Entscheidung rechtlicher Konflikte, vernachlässigt hat. 4 ipsen
3. Kapitel D e r Z u s a m m e n h a n g zwischen r i c h t e r l i c h e r E n t s c h e i d u n g u n d Richterrecht 1. Der Zugang zur richterlichen Entscheidung Ob der Richter i m konkreten Fall entscheiden kann, hängt davon ab, wieweit die Zuständigkeit der Gerichte gezogen ist, denn Rechtsprechung w i r d schon möglich, wenn der Richter eingesetzt ist und seine Zuständigkeiten abgesteckt sind 1 . Die richterlichen Zuständigkeiten werden i m Gerichtsverfassungsgesetz und den Prozeßgesetzen i n der Regel durch Generalklauseln umschrieben, die auf die Eigenart der Rechtsmaterie abstellen und damit die Gerichtsbarkeiten untereinander abgrenzen 2 . Aus diesem Grunde — und nur i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist diese Erscheinung noch relativ neu 3 — läßt sich heute voraussetzen, daß die Klärung einer Rechtsfrage i n den Zuständigkeitsbereich eines Gerichts fällt. Indes könnte der Gesetzgeber — und diese Hypothese soll hier einmal verfolgt werden 3 a — die gerichtlichen Kompetenzen auf diesem Wege auch beschränken. Gesetzestechnisch bietet sich hierzu das Enumerationsprinzip an, das i m Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit bis i n die ersten Nachkriegs jähre vorgeherrscht hat 4 . Der Gesetzgeber könnte mit einer solchen Beschränkung der richterlichen Zuständigkeiten erreichen, daß die Rechtsprechung i m wesentlichen zur Gesetzesanwendung wird. Es ist denkbar, nur für solche Fälle den Rechtsweg zu eröffnen, die bereits i n irgendeiner Form gesetzlich geregelt sind, oder doch die allein zulässigen Klagearten i n ihren Voraussetzungen so einzuengen, daß der Bereich richterlicher Zuständigkeiten und die Ergebnisse der Rechtsprechung absehbar 1 So Noll S. 50. 2 Vgl. §13 G V G ; §40 V w G O ; §2 A r b G G ; §33 FGO; §51 SGG. 3 Vgl. aber schon die Forderung nach einer verwaltungsgerichtlichen Generalklausel bei Jellinek S. 314. 3a A r t . 19 I V GG muß bei einem solchen Gedankengang außer acht gelassen werden. 4 Vgl. hierzu Forsthoff, V e r w R S. 102 ff.; i m einzelnen: Eyermann-Fröhler, V G G §22, A n m . A l l ; Klinger, M R V O Nr. 165 S. 108 ff.; Koehler, B V e r w G G S. X .
1. Der Zugang zur richterlichen Entscheidung
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wären. Ein solches System, das keineswegs auf das öffentliche Recht beschränkt bleiben müßte, ließe sich jeweils dann erweitern, wenn der Gesetzgeber neue Materien geregelt und dem Richter damit anwendbare Normen zur Verfügung gestellt hat. Freilich wäre auch i n einem derartigen Enumerationssystem richterliche Rechtsfortbildung nicht ausgeschlossen, weil gesetzliche Bestimmungen notwendig lückenhaft sind. Immerhin würde sich die judizielle Fortbildung des Rechtsinner halb des gegebenen Gesetzes entwickeln; es bestünde kein gesetzesfreier Raum. Auch ließe sich das judiziell gebildete Recht durch Novellierungen rasch wieder einfangen, so daß die prinzipielle Vollständigkeit des Gesetzes gewahrt bliebe. Man w i r d diesem hypothetischen Gedankengang mit Recht zwei Einwände entgegenhalten. Zum einen vernachlässigt er das fundamentale Bedürfnis jeder Gesellschaft, Streitigkeiten durch einen unbeteiligten Dritten beilegen zu lassen5. Interessenkonflikte — jedenfalls solche, die nicht prinzipieller Natur und deshalb rechtlicher Entscheidung zugänglich sind — können auf die Dauer nicht unvermittelt bleiben. U m einen Rückfall i n archaische Zustände zu verhindern, i n denen die Macht des Stärkeren entscheidet, müssen also Instanzen und Verfahren herausgebildet werden, die die streitenden Parteien anerkennen und deren Entscheidungen sie als verbindlich akzeptieren. Würde der Staat solche Instanzen nicht oder nur in unzureichendem Maße einrichten, so vollzöge sich die Entwicklung vermutlich am Staat vorbei zu einer ausgedehnten Schiedsgerichtsbarkeit. Es steht folglich nicht i m Belieben des Gesetzgebers, ganze Rechtsgebiete von der gerichtlichen Zuständigkeit auszuschließen, wenngleich spezifische Staatsauffassungen und politische Strömungen hinzukommen müssen, um die Akte des Staates selber der judiziellen Streiterledigung zu unterwerfen 6 . Der erste Einwand bezieht sich also auf die Funktion des Richters i m Staate, die offenbar nicht beliebig veränderbar ist, sondern einem tief verwurzelten Bedürfnis nach friedlicher Streitentscheidung entspringt. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Annahme, es sei dem Gesetzgeber möglich, aus eigener Vollkommenheit beliebige rechtliche Regelungen zu treffen. Die Vorstellung von der legislativen Allmacht 7 , die freilich durch die Positivität des Rechts — Geltung auf Grund von Setzung — nahegelegt w i r d 8 , fällt bald i n sich zusammen, wenn man die Entstehung einzelner Gesetze verfolgt. Auch Gesetzgebung vollzieht 5 So der I n h a l t der materialen Rechtsprechungstheorie bei Friesenhahn, Festschr. Thoma S. 27. 6 Vgl. hierzu Forsthoff, V e r w R S. 97 ff. u n d neuerdings Görlitz S. 31 ff. 7 Hiergegen bes. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 294. 8 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 208 ff. 4*
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T e i l I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung u n d Richterrecht
sich nicht i m rechtsleeren Raum: „Sie ist, aufs Ganze der Rechtsordnung gesehen, immer nur Rechtsänderung, nie totaler Neubeginn 9 ." Wenn auch eine Gesetzgebungslehre, die die Bedingungen der Gesetzgebung zu erforschen hätte, bisher nur i n Umrissen vorhanden ist 1 0 , so läßt sich doch mit einiger Sicherheit sagen, daß, abgesehen von sachlogischen Strukturen und normativen Bindungen, die der Gesetzgeber zu beachten hat 1 1 , legislative Normierungen i n hohem Maße durch die Rechtsprechung vorgeprägt sind und sei es nur dadurch, daß die Judikatur Regelungen anbietet, die sich i n der Praxis bewährt haben und als Muster für künftige Entscheidungen dienen können 12 . Rechtsprechung und Gesetzgebung stehen mithin i n einer Wechselbeziehung. Judizielle Fallerfahrung und Konfliktlösung einerseits, formende und systematisierende Gesetzgebung andererseits bedingen einander so weit, daß ein Postulat nach vorgegebenen und die einzelne Entscheidung determinierenden Gesetzen irreal erscheinen muß 1 3 . Wenn also — die richterlichen Kompetenzen nicht beliebig einschränkbar sind, weil es streitentscheidende Instanzen geben muß und — vorgegebene Gesetze nicht postuliert werden können, weil rechtliche Probleme sich erst i n der Fallpraxis ergeben, so läßt sich der Schluß ziehen, daß die richterlichen Kompetenzen immer bis zu einem gewissen Grade unbestimmt bleiben. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen muß es also sein, daß die Generalklauseln der Prozeßgesetze dem Richter nicht vorherbestimmbare Entscheidungsbefugnisse, besser: Befugnisse zu nicht vorherbestimmbarer Entscheidung, einräumen 14 . Ein gewisser Akzent w i r d hier auf den Umstand gesetzt, daß es sich u m Entscheidungsbefugnisse handelt. Entscheiden ist nämlich nicht nur das methodologisch uninteressante Nebenprodukt kunstgerechter Normbearbeitung 15 , von der Notwendigkeit einer Entscheidung müssen vielmehr alle Überlegungen ausgehen 16 ; denn nicht die Auslegung von 9
So Noll S. 76; vgl. auch Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 208 f. i° Gründe hierfür bei Noll S. 9 ff. n Vgl. Noll S. 101 ff. 12 Vgl. Geiger S. 199. 13 Vgl. z.B. Kriele S. 62 f.; Esser, Vorverständnis S. 177; Noll S. 47. 14 Dieser Befund t r i f f t i n beschränktem Maße auch auf ein Enumerationrsystem zu. M i t dem Übergang zur Generalklausel ist aber — vgl. nur Bachof, Vornahmeklage S. 1 ff.; Forsthoff, V e r w R S. 461 ff.; Görlitz S. 31 ff. — ein erheblicher Funktionszuwachs der Rspr. verbunden; vgl. dazu auch Jellinek S. 267 ff. is Vgl. Esser, Vorverständnis S. 79. iß Vgl. dazu Kriele S. 192 u. 194; Hilger, Festschr. Larenz S. 113 ff. und oben 2. Kap. Anm. 111.
2. Rechtsverweigerungsverbot u n d Rechtsbildung
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Rechtssätzen, sondern der Entscheidungszwang steht für den Richter i m Vordergrund 1 7 . Man könnte i n Abwandlung eines Luhmannschen Satzes 18 überspitzt formulieren, daß ein System, das die Entscheidbarkeit aller Rechtsfragen garantiert, nicht zugleich die rechtliche Determination aller Entscheidungen gewährleisten kann. 2. Rechtsverweigerungsverbot und Rechtsbildung Dieser für die Entstehung von Richterrecht wesentliche Befund, daß die Gerichte auch dort zur Entscheidung i n der Lage sind, wo gesetzliche Normierungen fehlen, daß dem Richter Rechtsfragen vorgelegt werden können, deren Lösung i m positiven Recht nicht vorgezeichnet ist, w i r d in der Literatur — sofern er überhaupt zur Sprache kommt — auf das Rechtsverweigerungsverbot zurückgeführt 19 . Das Rechtsverweigerungsverbot, das gewohnheitsrechtlich gilt und das nicht mit einem allgemeinen Rechtsschutzanspruch zu verwechseln ist 2 0 , gebietet hiernach dem Richter, jede an ihn herangetragene Rechtsfrage zu entscheiden. Insofern setzt es die richterliche Entscheidungskompetenz bereits voraus. Das Rechtsverweigerungsverbot ist nicht verletzt, wenn eine Klage als unzulässig abgewiesen wird, w e i l der Rechtsweg nicht eröffnet ist. Ist eine Klage dagegen zulässig, so muß der Richter über sie nach dem Maßstabe des Rechts entscheiden. Auch bei verworrener Rechtslage darf er kein „non liquet" i m Rechtsbereich aussprechen, sondern muß sich zu einer definitiven Aussage durchringen 2 1 . Das Rechtsverweigerungsverbot verhindert somit, daß der Richter die i h m eingeräumte Entscheidungskompetenz nicht nutzt, indem er keine Rechtsantwort gibt, oder daß er sie mißbraucht, indem er, statt ein rechtlich begründetes Urteil zu fällen, zur freien Dezision schreitet 22 . Das Rechtsverweigerungsverbot steht damit fraglos i n einer Beziehung zur Rechtsfortbildung, verpflichtet den Richter aber nicht zur Ausbildung von Richterrecht 23 , sondern verbietet nur bestimmte Entscheidungstypen. Es ist i m Vergleich zu Art. 1 I I ZGB, der den Richter
17 Vgl. Noll S. 49 f. is Vgl. Luhmann, Legitimation S. 21. 1» Vgl. Säcker, Grundprobleme S. 101 f.; Noll S. 49 f.; Mayer-Maly RdA 1970, S. 291; Rüthers R d A 1968, S. 178; Stein N J W 1964, S. 1748; eingehend Roellecke S. 144 ff. 20 So Schumann Z Z P 81 (1968), S. 79 ff. 21 Vgl. Schumann ZZP 81 (1968), S. 80. 22 Vgl. Schumann ZZP 81 (1968), S. 101; hierzu auch Zippelius N J W 1964, S. 1983. 23 Anders Säcker, Grundprobleme S. 116.
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T e i l I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung u n d Richterrecht
ausdrücklich zu eigener Normsetzung auffordert 24 , eher negativ akzentuiert: Das Rechtsverweigerungsverbot ist kein Rechtsfortbildungsgebot. A u f jede rechtlich nicht determinierte Frage sind zwei Antworten denkbar, die gleichermaßen nicht gegen das Verbot der Rechtsverweigerung verstoßen. Der Richter kann unter Hinweis auf fehlende Rechtsgrundlagen einen Anspruch verneinen oder eine dem Kläger günstige Norm bilden 2 5 . Das Verfahren, eher eine Klage abzuweisen als eine Fortbildung des Rechts vorzunehmen, w i r d dem Richter zuweilen auch anempfohlen 26 , von anderer Seite jedoch als mit den Aufgaben der Rechtsprechung unvereinbar abgelehnt 27 . Beide Auffassungen sind i m Hinblick auf das Rechtsverweigerungsverbot vertretbar. Auch ein Blick i n die Judikatur beweist, daß i m gesetzesfreien Raum ohne Verstoß gegen das Verbot der Rechtsverweigerung i m Ausmaß der Rechtsfortbildung durchaus gegensätzliche Entscheidungen gefällt werden können 2 8 . Es ist daher zu bestreiten, daß das non-liquet-Verbot, wie Noll meint, die „Grundnorm des Richterrechts" darstellt 2 9 . Noll gelangt offenbar zu dieser angreifbaren Ansicht, weil er die gänzlich verschieden akzentuierten Vorschriften des Art. 1 ZGB und des A r t . 4 Code Civil inhaltlich nicht unterscheidet 30 . Das Rechtsverweigerungsverbot sagt i n seinem heute vorherrschenden formalen Verständnis 31 wenig über die Entstehung von Richterrecht aus. Zur Grundnorm des Richterrechts könnte es erst werden, wenn es das an den Richter gerichtete Gebot enthielte, bei Schweigen des Gesetzes Normen nach eigener Uberzeugung und bewährter Lehre zu bilden. Bewährte Lehre und eigene Rechtsüberzeugung sind auch i n unserem Rechtskreis die Bestimmungsgründe der Richterrechtsbildung. Da aber 24 Grundlegend hierzu Meier-Hayoz, der freilich zu dem Ergebnis kommt, daß die schweizerischen Gerichte n u r i n seltenen Fällen das Recht offen fortbilden; vgl. S. 123 u. 203 ff. und neuerdings Festschr. Guldener bes. S. 192 ff. 25 Vgl. Säcker, Grundprobleme S. 116 Anm. 272. 26 So etwa H. J. Hirsch JR 1966, S. 341 27 Vgl. Fischer, Weiterbildung S. 28 f. 28 Vgl. die gegensätzlichen Entscheidungen des B A G zur Aussperrung: B A G A P Nr. 1 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 225 R u n d B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 311. 29 Vgl. Noll S. 49. so Vgl. Noll S. 49. 3i Vgl. Säcker, Grundprobleme S. 116 A n m . 272, der sich f ü r ein an der Rechtsidee orientiertes Verständnis des R W einsetzt. Die dem Richter zugewiesene „Sachaufgabe" ergibt sich aber nicht aus dem RVV, sondern aus der Entscheidungszuständigkeit.
3. Bedingungen der Rechtsentscheidung
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eine normative Verpflichtung hierzu dem Rechtsverweigerungsverbot nicht zu entnehmen ist, liegt der Schluß nahe, daß bereits die richterlichen Entscheidungskompetenzen hinreichen, u m die Befugnis des Richters zur Rechtsbildung zu begründen. Eine besondere legislative Gestattung wäre überflüssig 32 und das non-liquet-Verbot nur eine Marginalie des Richterrechts, wenn Entscheidungs- und Rechtsbildungskompetenzen einander voraussetzten. U m den Beweis hierfür zu erbringen, müssen i m folgenden die Bedingungen, unter denen der Richter entscheidet, kurz umrissen werden. 3. Bedingungen der Rechtsentscheidung Entscheidungsgrundlagen Die vorangegangenen Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, die richterliche Rechtsfortbildung als Kompetenzproblem zu begreifen. Die durch die Prozeßgesetze vorgezeichneten Kompetenzen des Richters sind i n erster Linie Entscheidungskompetenzen, w e i l der Richter auch dann den an ihn herangetragenen Rechtsstreit entscheiden muß, wenn gesetzliche Normen fehlen. Das Fehlen gesetzlicher Regelungen bedeutet aber keineswegs, daß der Richter nach Gutdünken judizieren müßte. Seine Normbildung dürfte sich regelmäßig an Problemlösungsvorschläge der Rechtswissenschaft, allgemeine Rechtsgedanken und -prinzipien, gegebenenfalls auch an gerichtliche Vorentscheidungen anlehnen, die sich mit dem Begriff der „Entscheidungsgrundlagen" 33 zusammenfassen lassen. Unter Entscheidungsgrundlagen verstehen w i r somit sämtliche Rechtsquellen und Autoritäten, auf die sich der Richter zur Erarbeitung und Begründung seiner Entscheidung zulässigerweise berufen kann. Der Begriff der Entscheidungsgrundlagen ist also nicht identisch m i t dem der Rechtsquelle. Auch wenn man, der Terminologie Geigers folgend, zwischen Geltungs-, Inhalts- und Einsichtsquellen unterscheidet 34 , ergibt sich allenfalls eine gewisse Nähe zur „Einsichtsquelle" 35 . Ist ein Rechtsgebiet gesetzlich nicht normiert, so können Präjudizien und Lehrmeinungen das Gesetz vollkommen ersetzen, obwohl beide nicht als Rechtsquellen anerkannt sind 3 6 . Es kommt für die Rechtsentscheidung folglich nicht darauf an, daß inhaltlich verbindliche 32 Sie kann aber — so § 137 G V G u n d die entsprechenden Vorschriften — eine wichtige deklaratorische F u n k t i o n haben. 33 Dieser Begriff z. B. bei Meier-Hayoz S. 130 f. 34 Vgl. Geiger S. 169 ff. 3 5 Geiger S. 175. 36 So f ü r viele Enneccerus/Nipperdey I § 45 I u. I I , S. 275 ff. m. w. N.
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T e i l I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung und Richterrecht
Weisungen vorgegeben sind, wichtiger ist es, daß überhaupt Problemlösungsvorschläge 37 und Entscheidungsmuster 38 vorhanden sind, die sich an den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Angemessenheit orientieren 3 9 und den Entscheidenden i n einen Informationsprozeß einbinden 4 0 , der Voraussetzung für eine kontinuierliche Rechtsentwicklung ist. Die normativ nicht verbindlichen Entscheidungsgrundlagen haben für den Richter zunächst eine direktive Funktion. Sie binden ihn nicht, er w i r d aber — so durch unterschiedliche Lehrmeinungen — auf die Vorteile und Nachteile bestimmter Rechtsansichten aufmerksam gemacht und kann sich i n aller Regel anhand vorhandener Problemlösungen seine Überzeugung bilden. Die Entscheidungsgrundlagen können den Richter darüber hinaus bei seiner Uberzeugungsbildung weitgehend entlasten. Dieser Tatbestand w i r d i n Luhmanns Theorie von der Entlastungsfunktion der Konditionalprogramme, auf die kurz einzugehen ist, besonders deutlich. 4. Die Entlastungsfunktion der Entscheidungsgrundlagen Luhmann unterscheidet zwei Arten von Entscheidungen: die zweckprogrammierte und die konditional-programmierte 4 1 . Letztere ist durch ein Programm vorherbestimmt, das an gewisse Tatbestände Folgen knüpft, also eine Wenn-Dann-Formulierung enthält. Ein Konditionalprogramm hat nach Luhmann den Vorzug, erwartbare Ereignisreihen zuverlässig i n Aussicht zu stellen 42 . Das Recht ist Luhmann zufolge ein solch konditionales Entscheidungsprogramm 43 . Der Jurist urteilt nicht nach guten Zwecken oder ethischen Grundsätzen, sondern entscheidet Systemprobleme nach angegebenen Tatbestandsmerkmalen 44 . Er braucht deshalb die von ihm zu lösenden Probleme gar nicht zu übersehen, hat keine Wahrscheinlichkeitsüberlegungen oder Nebenfolgebewertungen anzustellen, sondern muß lediglich sein Programm kennen 45 . Durch das Konditionalprogramm 37
So Wieacker, Gesetz S. 14. 8 So Geiger S. 199. 39 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 69. 40 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 88. 4 * Vgl. Luhmann AöR 94 (1969), S. 3 ff.; Legitimation S. 21 ff.; soziologie I I S. 227 ff. 42 Vgl. Luhmann AöR 94 (1969), S. 4. 43 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 227. 44 Vgl. Luhmann AöR 94 (1969), S. 3. 4 5 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 230. 3
Rechts-
4. Die Entlastungsfunktion der Entscheidungsgrundlagen
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w i r d das Entscheidungsverfahren stark vereinfacht 46 . Der Jurist kann die Verantwortung für seine Entscheidungen gewissermaßen auf das ihm vorgegebene Programm abschieben: „Ungern zugegeben, gehört es gleichwohl zwingend zum S t i l der j u r i s t i schen Entscheidungsarbeit, daß m i t dem Wenn auch das Dann gesetzt ist und i n seinen Konsequenzen hingenommen, aber nicht k a l k u l i e r t u n d bewertet w i r d 4 7 . "
Es sei dahingestellt, wie weit sich in Luhmanns Auffassung ein neuer Rechtspositivismus i n soziologischer Verbrämung ankündigt 4 8 . Man w i r d Luhmanns Unterscheidung zwischen der von Folgenverantwortung entlasteten Rechtsentscheidung und der wirtschaftlichen oder politischen Entscheidung, die Zukunftserforschung nach Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten, Kausalhypothesen und Wirtschaftlichkeitsberechnungen erfordert 4 9 ohnehin nur als idealtypisch verstehen können, denn häufig muß der Richter sein Konditionalprogramm selbst bilden, und dieser Umstand macht ja das Richterrecht methodologisch und verfassungsrechtlich problematisch 50 . Für den vorliegenden Zusammenhang ist es allein wichtig, daß die graduell verschiedene Entlastungsfunktion der Entscheidungsprogramme das Verfahren der Rechtsentscheidung wesentlich vereinfacht. Das leuchtet sofort ein, wenn man den hypothetischen Fall bedenkt, daß der Richter i n einem Rechtsstreit alle Rechtsprobleme, die nicht eindeutig durch das Gesetz vorentschieden sind, selbständig lösen müßte und sich nicht etwa auf anerkannte Rechtsgedanken und dogmatische Figuren stützen könnte. Die Folge dieses Unternehmens wäre eine geringe Entscheidungsleistung der Gerichte. U m das Recht als Entscheidungssystem leistungsfähig zu erhalten, muß der Richter, wenn er nicht schon von erneuter Reflexion und Folgenbewertung entlastet ist — etwa durch Gesetze und anerkannte Rechtsinstitute —, doch immerhin nach solcher Entlastung streben. Diese Eigenart der Rechtsentscheidung w i r d auch i n der neueren Methodenlehre gesehen. — Nach Eichenbergers Auffassung entlastet die Bindung an das Recht, den Richter von der Aufgabe, Ziele zu setzen und Mittel zu ihrer Verwirklichung zu suchen 51 . 46
Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 230. Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 231. 48 Kritisch Esser, Vorverständnis S. 142 ff. u. 202 ff. 49 So Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 232. so Vgl. zur K r i t i k auch Noll S. 252 ff. u n d Larenz, Festschr. E. R. Huber S. 293. Vgl. Eichenberger S. 97. 47
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Teil I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung u n d Richterrecht
— Esser zufolge liegt der Wert der Dogmatik, verstanden als Erarbeitung innersystematischer Beurteilungsmerkmale, darin, eine ständig neue Reflexion bekannter Rechtsprobleme zu vermeiden. I m dogmatischen Apparat werden Lehrmeinungen und Fallerfahrungen gespeichert, die sich schließlich zu Entscheidungsmerkmalen verdichten und die Selektionsleistung juristischer Arbeit steigern 52 . — Eine ähnliche Ansicht vertritt Kriele. Rechtsinstitute und Konstruktionen, von der Wissenschaft ausgebildet und i n der Praxis erprobt, entheben den Richter der Notwendigkeit, bei jeder Entscheidung alle auftauchenden Rechtsfragen selbständig zu beurteilen 5 3 . Die bewährte, anerkannte Uberlieferung ermöglicht es nach Krieles Auffassung erst, daß Judikate i n verhältnismäßig kurzer Zeit ergehen können. Vor allem aber gewährleistet die Entlastungsfunktion der Institutionen, daß das Recht sich kontinuierlich entwickelt 5 4 . 5. Entlastungsfunktion und Rechtsbildung Bisher wurde nur die direktive Funktion der rechtlich nicht verbindlichen Entscheidungsgrundlagen berücksichtigt, also die Frage, wie der Richter entscheidet, wenn das Gesetz keine Regelung trifft. Die jetzt herausgearbeitete Entlastungsfunktion der Entscheidungsgrundlagen erbringt einen zusätzlichen Aspekt: auch i m gesetzlich nicht normierten Bereich kann der Richter von eigener Problemlösung entlastet sein. Ginge es bei der Rechtsentscheidung nur um die inhaltliche Richtigkeit, so würde ein Problemlösungsvorschlag der Wissenschaft auch auf Dauer als „Berufungsquelle" 5 5 genügen. Die einmal als richtig erkannte Lösung einer Rechtsfrage w i r d nicht dadurch „richtiger", daß der Entscheidende sich auf eine größere Anzahl von Autoritäten beruft. Der Hinweis auf Präjudizien und herrschende Lehrmeinungen in den Entscheidungsbegründungen ist nur verständlich, wenn man die Vereinfachungstendenz des Verfahrens sieht. Selbst für den seltenen Fall, daß eine Rechtsfrage von der Wissenschaft unerkannt und gerichtlich noch nicht vorentschieden ist, würde die dann getroffene Entscheidung doch die einzige sein, zu deren Begründung sich der Richter nicht auf ausgeformte Entscheidungsgrundlagen stützen kann. Schon die folgenden Judikate ließen sich mit der Vorentscheidung begründen, wenngleich der Richter durch ein Präjudiz
52 53 54 55
Vgl. Vgl. vgl. Vgl.
Esser, Vorverständnis S. 88. Kriele S. 262. Kriele S. 263. zu diesem Begriff Geiger S. 176 f.
6. Rechtsbildungskompetenzen der Rechtsprechung
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natürlich i n geringerem Maße entlastet ist als durch eine ständige Judikatur. Die Rechtsprechung schafft sich mithin die fehlenden Entscheidungsgrundlagen selbst und entlastet sich von neuer Problembewertung und Reflexion. Sie knüpft ein immer dichter werdendes Netz von Entscheidungsgrundlagen. Das aber ist nichts anderes als die Ausbildung von Richterrecht. 6. Ergebnis: Rechtsbildungskompetenzen der Rechtsprechung Verfassungsrechtliche Problemstellung Haben w i r bisher die Zuständigkeiten des Richters als Entscheidungskompetenzen qualifiziert, die unabhängig davon bestehen, ob und welche Entscheidungsgrundlagen vorgegeben sind, so muß nun ergänzt werden, daß die richterlichen Kompetenzen sich nicht auf den einmaligen Entscheidungsakt beschränken, sondern unausweichlich zur Rechtsbildung führen. Die i m Gerichtsverfassungsgesetz und den Prozeßgesetzen enthaltenen Zuständigkeiten der Gerichte sind, so läßt sich folgern, Kompetenzen nicht nur zur Entscheidung, sondern auch zur Rechtsbildung 56. M i t der Bejahung richterlicher Rechtsbildungskompetenzen, die im Einzelfall mit den Zuständigkeiten des Gesetzgebers kollidieren könnten, zeichnen sich Probleme ab, die der verfassungsrechtlichen Klärung bedürfen. Das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt ist bislang als Problemstellung des Verfassungsrechts vernachlässigt worden 57 . Einer der letzten Bearbeiter dieses Gegenstandes gelangt noch zum Ergebnis, daß die „funktionell-rechtliche Einzelauswertung des GG . . . noch ganz in den Anfängen steckt, wenn nicht überhaupt Neuland betreten werden muß" 5 8 . Mittlerweile aber ist die Auffassung, daß die Grenzen des Richterrechts in der Verfassung zu suchen sind, i m Vordringen begriffen 59 . 56 Dieses Ergebnis deckt sich m i t der Auffassung Krieles S. 60 ff., der zufolge dem Gesetzgeber kein „Rechtssetzungsmonopol", sondern n u r eine „Rechtssetzungsprärogative" zukomme. Freilich beläßt es Kriele bei historischen Reminiszenzen zum Beweis des Rechtsbildungsanteils der Rspr. und verzichtet auf eine eingehende Herleitung. Auch i n den von Kriele angeführten Beispielen (ALR) w a r die Voraussetzung die Entscheidungszuständigkeit des Richters; vgl. S. 61. 57 So zutreffend H. P. Schneider S. 9; vgl. aber schon die Diss, von Achtmann und Karl; ferner die Aufsätze von A. Arndt N J W 1963, S. 1273 ff. u n d Stein N J W 1964, S. 1745 ff.; darauf die A n t w o r t von Larenz N J W 1965, S. 1 ff. 58 So Göldner S. 150. 59 Vgl. Göldner S. 148; H. P. Schneider S. 9 f.; Säcker ZRP 1971, S. 149 ff.; Redeker N J W 1972, S.412; Badura S. 54 f.
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T e i l I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung u n d Richterrecht
Die bislang herausgearbeiteten Rechtsbildungskompetenzen werden also erst ihre Bestätigung und Konturen erhalten, nachdem die verfassungsrechtlichen Fragen — insbesondere die, wieweit Richterrecht gesetzliche Normierungen ersetzen oder umbilden kann — untersucht worden sind. 7. Zur Rechtsqucllenproblematik Die hier vorgenommene Charakterisierung der verfahrensgesetzlichen Zuständigkeiten als Entscheidungs- und Rechtsbildungskompetenzen muß sich entgegenhalten lassen, daß das so gebildete Richterrecht keine eigene Rechtsquelle sei 60 . Ohne die Problematik hier i m einzelnen nachzeichnen zu können, sei dennoch angemerkt, daß die Frage, ob dem Richterrecht Rechtsquellenqualität zukomme, in ihrer Bedeutung weit überschätzt wird. Es läßt sich kaum bestreiten, daß richterliche Rechtsbildungen zur Entscheidungsbegründung herangezogen werden können und den Entscheidenden von Neubewertung und Folgenverantwortung entlasten. Die Berufung auf Präjudizien ist sogar unverzichtbar, wenn es sich um Rechtsbildungen handelt, die i m Gesetzestext keine Stütze finden oder sich als Ausformung von Generalklauseln darstellen 61 . Auf die Frage, ob nach heutiger Rechtslage ein allgemeines Persönlichkeitsrecht anzuerkennen ist, dessen Verletzung zum Ersatz des immateriellen Schadens verpflichtet, w i r d die A n t w o r t nicht ausreichen, daß dem BGB ein solcher Anspruch fremd ist. Das Rechtsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs läßt sich nicht aus der Verfassung ablesen, und das Problem, ob die Aussperrung lösende oder nur suspendierende Wirkung hat, kann nicht ohne die dazu ergangene Rechtsprechung erörtert werden. Die Frage nach der aktuellen Rechtslage bezieht sich also sinnvoll auf den jeweiligen Stand der Judikatur, nicht auf ein ideales Recht. Ob das Richterrecht darüber hinaus echte Rechtsquellenqualität besitzt, hängt davon ab, wieweit neben der faktischen Wirksamkeit auch die normative Verbindlichkeit anzuerkennen ist. Man mag es für unerwünscht halten, daß die rechtliche K r i t i k der Wissenschaft an Richterrechtsbildungen zum rechtspolitischen Räsonnement wird, und verfas-
60 So die w o h l herrschende, wenngleich bestr. Meinung: vgl. Larenz M L S. 407 u n d Enneccerus/ Nipper dey I § 42 I S. 275 m. w. N.; dagegen etwa Kruse S. 4 ff.; differenziert Adomeit S. 37 ff.; vgl. auch die Forderungen nach einem Neubau der Rechtsquellenlehre bei Wieacker, Gesetz S. 15 f. und Esser, Grundsaz u n d N o r m S. 85. ei Esser, Vorverständnis S. 184 spricht von einem „Vergewisserungswert" höchstrichterlicher Entscheidungen.
8. Differenzierung der Problemstellung
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sungsrechtliche Bedenken anmelden, wenn sich der Richter an die höchstrichterliche Judikatur gebunden glaubt 6 2 . Für unsere Fragestellung reicht zunächst die Feststellung, daß die Rechtsprechung auf Grund ihrer Kompetenzen ihre eigenen Entscheidungsgrundlagen bilden kann und damit die aktuelle Rechtslage bestimmt. Ob die Judikate für die Zukunft präsumtiv verbindlich 6 3 oder unverbindlich sind, erscheint daneben als nachrangiges Problem, das sich nur stellt, wenn die Verbindlichkeit postuliert wird. Das Problem des Richterrechts läßt sich also diskutieren, ohne daß geklärt ist, ob w i r es überhaupt m i t „Recht" zu tun haben. 8. Differenzierung der Problemstellung und Ubergang zur Untersuchung richterlicher Rechtsbildungspraxis Das Fazit der Überlegungen zur richterlichen Kompetenz, daß auch ohne gesetzliche Determination allein auf Grund von Zuständigkeitsvorschriften Rechtsprechung und damit Rechtsbildung möglich wird, kennzeichnet einen, aber doch nicht den allein problematischen Fall des Richterrechts. I n der Tat fehlt nur i n wenigen Rechtsgebieten jegliche gesetzliche Regelung. Meist handelt es sich um ein Mehr oder Weniger an Normierung oder darum, daß ein Gesetz seinem Wortlaut oder doch seinem herrschenden Verständnis nach als unbefriedigend und mit gegenwärtigen Rechtsanschauungen unvereinbar angesehen wird. Die verfassungsrechtliche Problematik stellt sich je nachdem, i n welchem Verhältnis sich die Richterrechtsbildung zur gesetzlichen Normierung vollzieht, ganz verschieden. Folgt man herkömmlicher Typologie 64 und nimmt das staatliche Gesetz als Bezugspunkt, so schälen sich zwei verschiedene Gruppen von Richterrechtsbildungen heraus: Zum einen werden gesetzliche Normen ergänzt oder ersetzt, zum anderen bildet die Rechtsprechung Rechtssätze um oder modifiziert sie. I n der ersten Gruppe lassen sich wiederum zwei Typen richterlicher Rechtsbildung unterscheiden, nämlich — die Ausfüllung und Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, deren Verdichtung man „gesetzeskonkretisierendes Richterrecht" nennen könnte und — die Ersetzung gesetzlicher Regelungen, die, sofern die Rechtsprechung verfestigt ist, als „gesetzesvertretendes Richterrecht" zu bezeichnen wäre. 62 v g l . Schlüter S. 49 f. 63 So Kriele S. 245; dagegen Esser, Vorverständnis S. 192. 64 Vgl. z. B. Larenz M L S. 350 ff.
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T e i l I, 3. Kap.: Richterliche Entscheidung u n d Richterrecht
Auch die zweite Gruppe kann untergliedert werden, je nachdem ob — ein Gesetz offen umgebildet w i r d („gesetzeskorrigierendes Richterrecht") oder — die Rechtsprechung eine gesetzliche Norm modifiziert („gesetzeskonkurrierendes Richterrecht"). Das Gesetz ist damit Ausgangspunkt und K r i t e r i u m zur Beurteilung des Richterrechts. Freilich dürfen die Anforderungen an den Gesetzgeber nicht überspannt werden. Es ist zwar zu einem durchgängigen Topos der Richterrechtsdiskussion geworden, dem Gesetzgeber „Versagen" vorzuwerfen 65 , doch verdeckt ein solches Urteil nur den Befund, daß auch die Gesetzgebung bestimmten Schranken unterl i e g t 6 5 3 . Die Rechtswissenschaft hat es bislang versäumt, der Lehre von den Methoden der Rechtsentscheidung eine Gesetzgebungslehre an die Seite zu stellen, die die Wechselbeziehung von Gesetz und Richterrecht auch vom Entstehungsprozeß des Gesetzes her klären könnte 6 6 . Die verfassungsrechtliche Problemstellung hängt nämlich davon ab, ob und i n welcher Weise der Gesetzgeber tätig geworden ist. So macht es einen Unterschied, ob der Gesetzgeber eine bestimmte Materie nicht hat vollständig regeln wollen, um dem Gesetz eine gewisse Flexibilität zu geben, oder ob eine Normierung mangels politischen Konsenses nicht möglich war. Ferner sind die Fälle differenziert zu behandeln, i n denen eine Gesetzesänderung als notwendig erkannt, aber nicht durchsetzbar ist oder die gesetzliche Regelung als abschließend gedacht ist, gleichwohl judiziell modifiziert wird. I n einem zweiten Teil soll deshalb — der oben angedeuteten Typologie folgend — untersucht werden, wie sich i n einzelnen Beispielen aus der Rechtsprechungspraxis das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt darstellt.
es So Kubier JZ 1969, S. 651. 65a Eine eingehende Untersuchung des gesetzgeberischen Versagens i m Bereich des Zivilrechts findet sich nunmehr bei Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers, bes. S. 25 ff. Diederichsen weist an einer Fülle von Beispielen nach, daß der Gesetzgeber sich der Regelung nahezu aller zentralen Probleme des bürgerlichen Rechts entzogen hat. Fraglich bleibt allerdings, w i e weit die gesetzgeberische Untätigkeit gerade auf die wachsende Bereitschaft der Revisionsgerichte zu eigener Normierung zurückzuführen ist. 66 Vgl. aber die grundlegende Arbeit von Noll, bes. S. 49 ff., der diese Fragestellung berücksichtigt; vgl. auch Kubler JZ 1969, S. 645 ff.; Scheuner D Ö V 1960, S. 601 ff.
Zweiter Teil T y p e n des R i c h t e r r e c h t s i n d e r J u d i k a t u r der B u n d e s g e r i c h t e 1. Kapitel Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht 1. Delegation von Rechtsbildungsbefugnissen an die Rechtsprechung Die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen ist eine i m Verhältnis von gesetzgebender und vollziehender Gewalt geläufige Erscheinung. Zunehmend bricht sich der Gedanke Bahn, daß auch die Rechtsprechung zu eigener Rechtsbildung ermächtigt werden kann 1 . Esser zufolge muß man sich daran gewöhnen, die Generalklausel „als Ermächtigung zu richterlicher Institutionenbildung zu benutzen" 2 . Wieacker betont die Notwendigkeit, die Norm aus der Generalklausel erst zu erarbeiten 3 . Auch Friedrich Müller sieht — von seinem hermeneutischen Modell ausgehend — in der Generalklausel keine anwendbare Norm, weil dem häufig vage formulierten „Normprogramm" der „Normbereich" erst durch richterliche Entscheidungen anwachsen müsse4. Die Warnung Hedemanns vor einer „Flucht i n die Generalklausel", durch die der Gesetzgeber sich seiner Gestaltungsmöglichkeit zugunsten der Rechtsprechung begebe5, war noch am Ideal einer vollständigen Kodifikation orientiert. Wenn auch weiterhin K r i t i k am Regelungsstil der heutigen Gesetzgebung geübt w i r d 6 , so entspricht es doch vorherrschender Überzeugung, daß einem Gesetz nicht die letzte 1
Vgl. n u r Werner, Generalklauseln S. 10 u. 19; Kubier J Z 1969, S. 650; Kruse S. 7; Noll S. 268; Badura S. 45 f. 2 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 65. s Vgl. Wieacker, § 242 S. 16. 4 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 202. s Vgl. Hedemann S. 66 ff. 6 Vgl. etwa Wieacker, Gesetz S. 5 („Generalklauseln von nicht zu überbietender Schwammigkeit"); vgl. auch die ausführliche Behandlung dieses Problems bei Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers, bes. S. 25 ff.
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T e i l I I , 1. Kap.: Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht
Bestimmtheit gegeben werden kann und dieser Umstand zur judiziellen Rechtsbildung führt. Zwischen Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze und Rechtsbildungskompetenzen des Richters besteht also eine deutliche Beziehung. Die Delegation von Rechtsbildungsbefugnissen an die Rechtsprechung erfolgt nicht durch formelle Ermächtigung — auch § 137 GVG und die entsprechenden Vorschriften der Verfahrensgesetze sind als (deklaratorische) Bestätigung und Konzentration vorhandener Rechtsfortbildungskompetenzen, nicht als (konstitutive) Ermächtigung zur Rechtsfortbildung zu verstehen —, sondern durch Begriffe und Normen des materiellen Rechts. Nun entspricht es gesicherter methodologischer Erkenntnis, daß nahezu jeder Rechtsbegriff nur relativ bestimmt ist 7 . Zwar läßt sich i n der Regel ein einigermaßen eindeutiger Begriffskern ausmachen, der Begriff shof liegt jedoch nicht von vornherein fest 8 und erreicht seine Konturen möglicherweise erst nach einer Serie von Entscheidungen, i n denen der Begriff m i t konkreten Sachverhalten vermittelt worden ist 9 . Von der gesetzgeberischen Intention her ist freilich ein deutlicher Unterschied zu machen. Verwendet das Gesetz Begriffe, die über das semantisch unumgängliche Maß hinaus unbestimmt sind, so spricht dies dafür, daß der Richter die im Gesetz nicht enthaltene Regel selbst bilden soll 1 0 . Der Anteil der Richterrechtsbildung i n einem Rechtsgebiet bemißt sich also, so kann man vorerst feststellen, nach der Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze und Begriffe 11 . Die Gründe für solche Rechtsbildungsdelegation sind ganz verschieden und die Anforderungen, die „Delegationsnormen" an den Richter stellen, unterschiedlich. Deshalb kann es für diese Untersuchung nicht ausreichen, den Nachweis zu führen, daß die Rechtsprechung neben der Legislative einen konstitutiven Anteil an der Rechtsbildung hat, zu fragen ist vielmehr, „worauf dieser seine objektive Bestimmung erfährt" 1 2 . I m folgenden soll anhand einiger Generalklauseln und unbestimmter Rechtsbegriffe beispielhaft gezeigt werden, welche Delegationsarten zu unterscheiden sind und wie sich demgemäß richterliche Rechtsbildung praktisch vollzieht.
7 Vgl. Engisch, Einführung S. 108 ff.; Zippelius JZ 1970, S. 241. 8 Diese auf Heck zurückgehende Unterscheidung z. B. bei Jesch AöR 82 (1957), S. 172 ff.; ähnlich Geiger S. 262, der von verschiedenen „Bezugsradien" eines Rechtssatzes spricht. 9 Vgl. das anschauliche Modell bei Geiger S. 262. 10 Vgl. Zippelius, Einführung S. 123. n Ähnlich Starck JZ 1972, S. 613 f.; Zippelius JZ 1970, S. 241. 12 So Esser, Vorverständnis S. 39.
2. Formen der Delegation
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2. Formen der Delegation Wenn auch weitgehende Einigkeit darüber besteht, daß Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe die Grundlage richterlicher Rechtsbildungen darstellen, so bereitet eine genauere Bestimmung dieser beiden Delegationsformen doch erhebliche Schwierigkeiten. Werner hält die der Generalklausel eigene Verweisung auf rechtsethische Vorstellungen für ein taugliches K r i t e r i u m zur Abgrenzung vom unbestimmten Rechtsbegriff 13 , Gesetzestechnisch sieht man den Unterschied darin, daß die Generalklausel der kasuistischen Regelung, der unbestimmte Rechtsbegriff aber dem bestimmten Rechtsbegriff gegenübersteht 14 . Zur rechtstheoretischen Differenzierung w i r d angeführt, daß die Generalklausel die Form des Rechtssatzes habe, der unbestimmte Rechtsbegriff dagegen nur ein Tatbestandselement sei 15 . Noll empfiehlt schließlich, den Begriff „Generalklausel" wegen seiner Vieldeutigkeit überhaupt zu vermeiden und stattdessen von generellen und kasuistischen, bestimmten und unbestimmten Regelungen zu sprechen 16 . Eine deutlichere Differenzierung gewinnt man, wenn man auf die Gründe, derentwegen der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln verwendet, und ihre inhaltliche Ausformung abstellt. Von Inhalt und legislatorischer Intention her lassen sich Sätze unterscheiden, — die eine Zielbestimmung enthalten („Zielbestimmungsklauseln"); — die den Richter zur Wertung aufrufen und ihn auf außergesetzliche Tatbestände verweisen („Wertungs- und Verweisungsklauseln"); — die die Anpassung und Ergänzung der gesetzlichen Regelung an bislang unerkannte Tatbestände ermöglichen („Anpassungs- und Ergänzungsklauseln") und die — aus Billigkeitsgründen eine Ausnahme von der strikten Gesetzesanwendung gestatten („Billigkeits- und Härteklauseln"). a) Zielbestimmungsklauseln Es ist eine Eigenart neuerer Gesetzgebungswerke, daß die Ziele, die das Gesetz verfolgt, i n das Gesetz selbst aufgenommen werden 1 7 . Die Zielbestimmungen haben nicht die Struktur eines Rechtssatzes, sonVgl. Werner, Generalklauseln S. 6. 14 v g l . Engisch, Einführung S. 122. is Vgl. Werner, Generalklauseln S. 7. 16 Vgl. Noll S. 264. 17 Hierzu Werner, Generalklauseln S. 12 f. 5 ipsen
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dem sind nach A r t einer Präambel formuliert. Sie erwecken damit den Anschein, als seien sie bloße politische Deklarationen ohne besonderen Rechtsgehalt, die auch divergierende Interessen zu einer i n den gesetzlichen Regelungen nicht erzielbaren Harmonie bringen sollen: — Nach § 1 I V BBauG haben sich die Bauleitpläne nach den sozialen und kulturellen Bedürfnissen, der Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung zu richten. Die Bauleitpläne sollen die von den Kirchen festgestellten Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge ebenso berücksichtigen wie die Bedürfnisse der Wirtschaft, der Landwirtwirtschaft, der Jugendförderung, des Verkehrs und der Verteidigung (§ 1 V BBauG). — Ziele und Aufgaben der Raumordnung bestehen gem. § 1 RaumordG darin, das Bundesgebiet „ i n seiner allgemeinen räumlichen Struktur einer Entwicklung zuzuführen, die der freien Entfaltung der Persönlichkeit i n der Gemeinschaft am besten dient". M i t der Raumordnung soll die Wiedervereinigung Deutschlands ebenso gefördert werden wie die Zusammenarbeit i m europäischen Raum (§ 1 I I und I I I RaumordG). — Nach § 1 I I BSHG ist es die Aufgabe der Sozialhilfe, dem Empfänger die „Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht". A r t und Ausmaß der Sozialhilfe richten sich nach der Besonderheit des Einzelfalls, „vor allem nach der Person des Hilfeempfängers, der A r t seines Bedarfs und den örtlichen Verhältnissen" ( § 3 1 BSHG). Solche prätentiösen und von tatsächlichen Widersprüchen abstrahierenden Ausführungen passen regelmäßig besser i n die Begründung von Gesetzesvorlagen als i n das Gesetz selbst. Dennoch fehlt den Zielbestimmungsklauseln nicht jeder rechtliche Gehalt 1 8 . Sie enthalten zwar keine unmittelbaren Weisungen, können aber als ratio legis zur Auslegung von Rechtsbegriffen nützlich sein. Neben der politisch-deklaratorischen Funktion haben Zielbestimmungsklauseln als Auslegungsrichtlinien auch eine rechtliche Bedeutung. Die i n § 1 BBauG niedergelegten Grundsätze sind i n der Rechtsprechung bereits zur Interpretation anderer Vorschriften des Bundesbaugesetzes herangezogen worden 1 9 . Es kann deshalb von Vorteil sein, wenn der Gesetzgeber die Prinzipien, die i h n bei der Regelung eines Gegenstandes geleitet haben, i n das Gesetz aufnimmt. Freilich bieten solche nicht aus der Zusammenschau verschiedener Normen gewonnene, sondern von vornherein festgelegte Grundsätze dem Richter keine Hilfe, wenn sie nach A r t dilatorischer Formel18 19
Vgl. Werner, Generalklauseln S. 13. Sehr weitgehend neuerdings B V e r w G DVB1. 1974, S. 767.
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2. Formen der Delegation
kompromisse 20 unvereinbare Interessengegensätze verbal harmonisieren, aber keine Prioritäten erkennen lassen. Die dann noch offene Zweckbestimmung, die durch Klauseln der genannten A r t ja gerade festgelegt werden soll, läßt den Richter zum „Mitbestimmer der rechtspolitischen Modellierung" 2 1 werden. b) Wertungs- und Verweisungsklauseln Es ist anerkannt, daß jede Auslegung eines Gesetzes wertende Elemente enthält. Schon die Wahl zwischen zwei vom Wortlaut und Sinnzusammenhang eines Rechtssatzes nahegelegten Begriffsbedeutungen erfordert eine wertende Entscheidung des Rechtsanwenders 22 , möge diese Entscheidung auch durch den syllogistischen Schluß weithin verborgen bleiben 23 . Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe rufen den Richter zu offener Wertung auf. Es geht hierbei nicht mehr um sprachliche Unschärfen, die durch verständige Interpretation zu beseitigen wären, sondern um Rechtssätze, die nicht einmal als vollständig gedacht werden können, weil ihr Anwendungsbereich noch gar nicht feststeht 24 . Solche Generalklauseln sind keine Normen, also keine Weisungen unmittelbarer Art, sondern Ermächtigungen, Normen zu bilden 2 5 . Dabei macht es keinen Unterschied, ob eine Rechtsfolge bereits eindeutig angeordnet ist oder — wie die tatbestandliche Seite — vom Richter erst erarbeitet werden muß. Das Plädoyer gegen die „Flucht i n die Generalklauseln" 26 verkennt, daß es zum mindesten zwei Gründe gibt, deinetwegen das Gesetz notwendig unbestimmt bleibt. Zum einen kann auch der vorausschauende Gesetzgeber nicht ermessen, welche Verhaltensweisen etwa gegen die „guten Sitten" verstoßen. Die Wirklichkeit ist so vielgestaltig, daß eine kasuistische Regelung doch immer lückenhaft bliebe. Der Versuch einer Kasuistik würde aber, und das wiegt bei rechtsethischen Prinzipien besonders schwer, die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers von guten Sitten, Mißbrauch oder Treu und Glauben fixieren und damit verhindern, daß das Gesetz einem gewandelten Rechtsethos angepaßt werden kann 2 7 . 20 Vgl. hierzu C. Schmitt, Verfassungslehre Aufsätze S. 82 u n d 195. 21 So Esser, Vorverständnis S. 157. 22 Vgl. Wieacker, Gesetz S. 7. 2 3 Vgl. dazu F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 42 f. 24 v g l . f. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 202.
S. 31 f.;
Verfassungsrechtl.
25 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 150. 26 Vgl. Hedemann bes. S. 58 ff. u. 68 ff. 27 Vgl. hierzu Engisch, Einführung S. 126; dazu aber auch S. 61 f. 5*
Hedemann
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Generalklauseln dagegen ermöglichen eine Vermittlung des aktuellen Rechtsbewußtseins mit dem Gesetz: die „Kommunikation zwischen ethischen Subs tanz werten und juristischen Form- und Integrationswerten" 2 8 . Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe ermächtigen den Richter aber nicht dazu, sein subjektives Dafürhalten zur Grundlage der Bewertung zu nehmen 29 . Regelmäßig verweisen sie auf außergesetzliche oder außerrechtliche Maßstäbe „von wechselnder empirischer Basis und Dichte" 3 0 . Schon der Begriff der „guten Sitten" ist nicht aus sich selbst heraus verstehbar, sondern verweist auf die „Anschauungen der verständigen, billig und gerecht denkenden Bürger" 3 1 , also einen außergesetzlichen Maßstab. Die Verweisungen unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln sind vielgestaltig und reichen von rechtsethischen Vorstellungen bis zu konkreten Problemen der Volkswirtschaftstheorie. aa) Beispiele für Wertungs- und Verweisungsklauseln A n erster Stelle einer beispielhaften Aufzählung wären die Generalklauseln des BGB zu nennen, die mit Begriffen wie „gute Sitten" (§§ 138, 826 BGB), „Mißbrauch" (§ 1666, ähnlich § 226 BGB) oder „Treu und Glauben" (§§ 157, 162, 242, 815 BGB) auf rechtsethische Vorstellungen verweisen. Werner 3 2 sagt mit Recht, daß diese Vorschriften eigentlich Selbstverständliches beinhalten, da keine Rechtsordnung Sittenwidrigkeit oder Rechtsmißbrauch gestatten könne. Insofern bedeuteten diese Generalklauseln kein Zurücktreten des Gesetzgebers zugunsten der Rechtsprechung 33 . Dem ist zuzustimmen; freilich nur so weit, wie solche Wertungsklauseln als gesetzliche Positivierungen von konsentierten „standards" 34 begriffen werden und nicht dazu dienen, unter Berufung auf eine vorgegebene Wertordnung moralische Maximen zu dekretieren 3 5 . I n Rechtsgebieten, die von starker Eigengesetzlichkeit geprägt sind — etwa dem Wettbewerbs- und Kartellrecht —, verweisen die Generalklauseln nicht nur auf gegebene rechtsethische Vorstellungen; denn welche Verhaltensweisen i m Wettbewerb gegen die „guten Sitten" ver28
So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 60. Vgl. Wieacker, Gesetz S. 13; aber auch Engisch, Einführung S. 127. 30 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 150. 31 So EnneccerusfNipperdey I I , § 1911, S. 1165; vgl. auch Wieacker, Gesetz S. 13. 32 Vgl. Werner, Generalklauseln S. 7. 33 Vgl. Werner, Generalklauseln S. 7 f. 3 4 Hierzu Strache bes. S. 19 ff. u. 67 ff. 35 Dazu Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 61. 29
2. Formen der Delegation
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stoßen (§ 1 UWG) oder einen Mißbrauch der marktbeherrschenden Stellung darstellen (§ 22 I I I GWB), liegt nicht schon auf der Hand, sondern kann erst ermittelt werden, wenn die volkswirtschaftlichen Sachverhalte geklärt sind 3 6 . Zu einer zweiten Gruppe können jene Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe zusammengefaßt werden, die — zuweilen i m Gewand einer Kompetenznorm 37 — auf einen bestimmten Bestand an öffentlichen und privaten Rechtsgütern verweisen. Derartige Wertungsklauseln finden sich vor allem i m Recht der Gefahrenabwehr. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (§ 1 ndsSOG, § 15 VersammlG) bedarf ebenso der Präzisierung wie der gewerberechtliche Begriff der Unzuverlässigkeit (§ 35 I GewO, § 4 I GaststättenG, § 3 I EinzelhG, § 131 PBefG). Ein Gewerbetreibender ist nach ständiger Rechtsprechung unzuverlässig i. S. d. § 35 I GewO, wenn er Sozial- und Krankenversicherungsbeiträge nicht entrichtet 38 , unzuverlässigen D r i t ten einen maßgeblichen Einfluß auf den Gewerbebetrieb einräumt 3 9 oder bestimmte Straftaten begeht 40 . Diese Fallgruppen 4 1 können nicht sogleich aus dem Begriff der „Unzuverlässigkeit", der eher auf eine charakterliche Beurteilung hinzudeuten scheint, geschlossen werden; sie ergeben sich erst aus der (impliziten) Verweisung auf die nicht i n der Gewerbeordnung selber konstituierten Rechtspflichten eines Gewerbetreibenden. Eine weitere Gruppe bilden jene unbestimmten Rechtsbegriffe, durch die der Richter auf den dem Gesetz zugrunde liegenden (häufig w i r t schaftslenkenden) Zweck und damit auf einen realen Sachbereich verwiesen wird. — Nach § 35 I I BBauG können „sonstige" (nicht privilegierte) Vorhaben i m Außenbereich zugelassen werden, wenn „ihre Ausführung oder Benutzung öffentliche Belange nicht beeinträchtigt". § 35 I I I BBauG enthält eine beispielhafte Aufzählung solcher öffentlichen Belange. Sie sind insbesondere beeinträchtigt, wenn das Vorhaben „ u n w i r t schaftliche Aufwendungen" für Verkehrseinrichtungen und Versorgungsanlagen erfordert, die Wasserwirtschaft gefährdet oder die Entstehung einer Splittersiedlung zu befürchten ist 4 2 .
36 Vgl. Rinck, § 32 Rdn. 808. 37 Etwa die polizeiliche Generalklausel, vgl. Werner, Generalklauseln S. 11. 38 Vgl. B V e r w G 23, 280; 28, 202. 39 Vgl. B V e r w G 9, 222. 40 Vgl. B V e r w G DVB1.1966, S. 443. 41 Vgl. i m einzelnen Kienzle S. 16 ff. 42 Dieses Beispiel auch bei Starck JZ 1972, S. 610.
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T e i l I I , 1. Kap.: Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht
— Nach § 9 1 GrdstVG darf die Genehmigung u. a. versagt werden, wenn die Veräußerung eines landwirtschaftlichen Grundstücks eine „ungesunde Verteilung des Grund und Bodens" bedeuten würde 4 3 . „Ungesund" soll die Verteilung gem. § 9 I I GrdstVG regelmäßig sein, wenn die Veräußerung „Maßnahmen zur Verbesserung der Agrarstruktur widerspricht". — Nach § 10 I I I G ü K G ist die Genehmigung zum Güterfernverkehr (§ 3 GüKG) zu versagen, wenn sie „ m i t dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Güterfernverkehrs unvereinbar ist". Die Maßstäbe zur Beurteilung der hier anstehenden Probleme können nicht „aus der Tiefe des Gemüts geschöpft oder auf leere Worte wie ,Sachlage' oder ,Natur der Sache4 " 4 4 gegründet werden. Ob die Wasserwirtschaft gefährdet ist, wann der Verkauf eines Grundstücks der agrarischen Strukturverbesserung widerspricht und welches die Interessen an einem geordneten Güterfernverkehr sind, läßt sich nur auf Grund empirischer Kenntnisse des betreffenden Sachbereichs entscheiden 45 . bb) Richterliche Rechtsbildung auf Grund von Wertungsund Verweisungsklauseln Nicht jeder Zugriff auf außergesetzliche oder außerrechtliche Prinzipien, nicht jede „Empirie i n der Rechtsdogmatik" 46 läßt Richterrecht entstehen. Rechtsnormen lassen sich überhaupt nur aus ihrem W i r k lichkeitsbezug verstehen, sind damit immer „sachbestimmte Ordnungsmodelle" 4 7 , die durch den „Normbereich" konturiert sind 4 8 . Wertungsund Verweisungsklauseln haben aber die Eigenart, den Richter unmittelbar, also ohne engere Bewertungsmaßstäbe auf rechtsethische Prinzipien oder Sachstrukturen hinzuführen. Der Raum für eigene richterliche Willensbildung ist noch verhältnismäßig eng, wo ein bestimmtes Rechtsethos als gegeben angenommen werden kann. Ist der Richter jedoch unmittelbar auf Sachbereiche wie Wettbewerb oder Agrarstruktur verwiesen, so helfen die Wertungsbegriffe „Mißbrauch" oder „ungesunde Verteilung von Grund und 43 Dazu BVerfG 21, 73. 44 So Starck J Z 1972, S. 614. 45 So für § 35 I I I B B a u G auch Starck J Z 1972, S. 614. 46 So der T i t e l von Starck J Z 1972, S. 609. 47 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 168. 48 So F. Müllers durchgehende These, m i t der er einer Trennung zwischen „Recht" u n d „ W i r k l i c h k e i t " entgegentritt; vgl. N o r m s t r u k t u r S. 77 ff. u. passim.
2. Formen der Delegation
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Boden" kaum weiter. Je unmittelbarer dem Richter durch eine Generalklausel der Zugang zu Prinzipien und Sachstrukturen eröffnet ist, desto mehr w i r d man die richterliche Entscheidung als eigenständig betrachten und Richterrecht annehmen müssen. c) Anpassungs-
und
Ergänzungsklauseln
Schon bei den Wertungs- und Verweisungsklauseln wurde deutlich, daß sie neben anderen die Funktion haben, das Gesetz an gewandelte rechtsethische Vorstellungen anzupassen. Derartige Prinzipien entziehen sich weithin gesetzlicher Fixierung. Anders ist es bei den Anpassungsund Ergänziungsklauseln, deren Hauptfunktion darin besteht, noch unbekannte Tatbestände einer bestimmten Rechtsfolge zuzuordnen 49 . Das dem Gesetzgeber zur Verfügung stehende Anschauungsmaterial ist begrenzt. Soll dennoch das Gesetz als E n t w u r f für die Zukunft seine normative K r a f t entfalten, so muß es eine gewisse Flexibilität aufweisen, die eine Lösung auch unerkannter Problemlagen gestattet. Die Generalklausel ist das geeignete Mittel, eine solche Schicht der Unbestimmtheit i n das Gesetz aufzunehmen. Häufig finden sich Anpassungsund Ergänzungsklauseln neben einer kasuistischen Aufzählung oder Regelbeispielen 50 . — Nach § 10 AuslG kann ein Ausländer aus den verschiedensten, auch sehr unbestimmt gehaltenen Gründen ausgewiesen werden. I n § 10 I Nr. 11 AuslG ist dieser Aufzählung eine Ergänzungsklausel hinzugefügt worden, derzufolge ein Ausländer auch dann ausgewiesen werden kann, wenn seine Anwesenheit „erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland aus anderen Gründen beeinträchtigt" 5 1 . — § 15 I I UrhG legt fest, daß der Urheber das ausschließliche Recht hat, sein Werk i n unkörperlicher Form wiederzugeben. Dieses Recht umfaßt „insbesondere" das Vortrags-, Sende- und Wiedergaberecht durch Bild- und Tonträger (§ 15 I I Nr. 1 - 4 UrhG) 5 2 . Die durch Anpassungs- und Ergänzungsklauseln angestrebte Lückenlosigkeit des Gesetzes läßt sich freilich nur erreichen, wenn genügend konkrete Beispiele angegeben sind, die auf gesetzgeberische Vorbewertungen schließen lassen. E i n Gegenbeispiel bildet § 22 I I I GWB, der nach der Amtlichen Begründung „sämtliche möglichen Mißbräuche einer marktbeherrschenden Stellung erfaßt" 5 3 . Hier wurden frühzeitig Zweifel 49
Vgl. dazu Werner, Generalklauseln S. 13 f. Vgl. zur „exemplifizierenden Methode" Noll S. 264 ff. 51 Vgl. dazu Werner, Generalklauseln S. 13 f. 52 Vgl. die zu § 15 I I L i t U r h G ergangene Entscheidung B G H Z 17, 266, die die Nachteile des Fehlens v o n Ergänzungsklauseln deutlich macht. 53 Vgl. BTagsDrucks. IV/2564 S. 15. 50
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Teil II,
. K a p . : Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht
laut, ob der Gesetzgeber die notwendige Vorauswahl zwischen einander widersprechenden Prinzipien getroffen habe, die allein die intendierte lückenlose Anwendung bewirken könnte 5 4 . d) Billigkeits-
und Härteklauseln
Begriffe wie „Unzumutbarkeit", „besondere Härte" und „Unbilligkeit" signalisieren, daß der Gesetzgeber in einzelnen Fällen auf die strikte Anwendung seiner Normen verzichtet 55 . Auch die Billigkeitsklauseln bringen eine über die Auslegungsprobleme hinausgehende Unsicherheit i n den Prozeß der Rechtsfindung, weil erst anhand konkreter Sachverhalte die Auswirkungen dieser Grundsätze abgeschätzt werden können. Beispiele für Billigkeitsklauseln finden sich vor allem i m Abgabenrecht 56 . Nach § 1311 AO können Steuern ganz oder zum Teil erlassen werden, „wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre". Zu dieser Kategorie gehören auch die aus § 242 BGB gestützten richterrechtlichen Institutionen, die — gesetzesergänzend oder -korrigierend 5 7 — eine „Spannung zwischen gesetzlichem ius strictum und richterlichem ius aequum" 5 8 entstehen lassen, die nicht auf das Zivilrecht beschränkt ist, sondern über den Grundsatz von Treu und Glauben auch i m öffentlichen Recht besteht. 3. Das Verfahren der Konkretisierung Die Rechtsprechung kann die ihr übertragene Normbildungsaufgabe nicht wie der Verordnungsgeber in einem Wurf bewältigen; sie bedarf jeweils des konkreten Anlasses i m einzelnen Rechtsstreit. Aus unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln lassen sich deshalb nicht sogleich Einzelweisungen ableiten. Der Richter muß die „Delegationsnormen" erst m i t den zu entscheidenden Fällen vermitteln. Dieses der Delegation von Rechtsbildungsaufgaben entsprechende Verfahren ist die Konkretisierung. Der Begriff Konkretisierung findet zunehmend Eingang i n die methodologische Literatur. Engisch versteht darunter eine A r t des „Bestimmtmachens", die „Verbesonderung eines allgemeinen Gedan54 Hierzu eingehend Ratsch JZ 1965, S. 625 ff. 55 Vgl. Werner, Generalklauseln S. 9 f.; Beispiele für einen solchen Regelungsverzicht des Gesetzgebers bei Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 26 f. 56 Vgl. Werner, Generalklauseln S. 11. 57 Vgl. Wieacker, § 242 S. 21. 58 So Wieacker, § 242 S. 51.
3. Das Verfahren der Konkretisierung
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kens i n eine Reihe ihm untergeordneter spezifischer Grundsätze" 59 . Friedrich Müller setzt den Begriff mit Hermeneutik gleich 60 . Larenz begreift die Konkretisierung als Verdeutlichung des Sinngehaltes eines unbestimmten Rechtsbegriffs i n der Bewertung von Fällen 6 1 . A u f der gleichen Linie liegt Göldner, der Konkretisierung als Verdichtung eines „rechtlichen Gedankens von höchster Allgemeinheit zu einer . . . Problemlösung" definiert 6 2 . Konkretisierung ist also etwas anderes als Auslegung. Wenn auch der Unterschied zwischen Auslegung und Konkretisierung durch die Begriffspaare von Reproduktion und Produktion, Analyse und Synthese, Sinndeutung und Sinngebung 63 eher überzeichnet wird, denn auch der Auslegung sind produktive und sinngebende Elemente eigen, so ist doch deutlich, daß man die Akzente des methodischen Vorgehens verschieden setzen muß. Der Begriff Auslegung ist jedenfalls verfehlt, wenn der Gehalt eines Rechtssatzes weithin i n der Delegation von Normbildungsbefugnissen liegt: der vielberufene „Wille des Gesetzes" läßt sich dort nicht ermitteln, wo i n Wahrheit kein Wille vorhanden ist 6 4 . Der Richter ist jedoch auch hier, wo das methodische Vorgehen nicht als Auslegung oder Deduktion bezeichnet werden kann, nicht i n die Lage versetzt, aus dem Nichts zu judizieren. Unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln enthalten immerhin einen inhaltlichen A n knüpfungspunkt und weisen damit i n die Richtung, i n der sich die Rechtsbildung vollziehen soll. M i t diesem Anknüpfungspunkt — etwa der Verweisung auf rechtsethische standards oder einen Bestand von Rechtsgütern — ist freilich nur der Rahmen für die Konkretisierung abgesteckt. Dem Richter ist damit ein Spielraum gegeben, i n dessen Grenzen sich die Entscheidungen bewegen müssen 65 . Bei der Ausfüllung dieses „Konkretisierungsspielraums" 66 lassen sich zwei Stufen des Vorgehens unterscheiden, die Spezifizierung und die Typisierung. a) Spezifizierung Konkretisierung ist auf der ersten Stufe Spezifizierung 67 eines allgemeinen Grundsatzes oder Begriffes zu einer bestimmten ProblemVgl. Engisch, Konkretisierung S. 78. 60 Vgl. F. Müller, Normstruk'tur S. 13 Anm. 2. ei Vgl. Larenz M L S. 266 Anm. 1. 62 So Göldner S. 91. 63 Vgl. Göldner S. 100 f. 64 So C. Schmitt, Verfassungslehre S. 34. 65 Vgl. hierzu Larenz M L S. 402; Göldner S. 144; Säcker S. 215 ff. 66 So Göldner S. 143. 67 Vgl. hierzu Engisch, Konkretisierung S. 78 u. 147.
ARSP
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lösung 68 . Für die Spezifizierung gibt es gewissermaßen ein „Netz von Orientierungspunkten" 69 . M i t Hilfe einer conditio-sine-qua-non-Überlegung kann für jeden unbestimmten Rechtsbegriff eine Reihe evidenter Anwendungsfälle ermittelt werden. So läßt sich fragen, welche Bedeutung der Begriff „Unzuverlässigkeit" i m Sinne des § 35 I GewO noch haben könnte, wenn nicht ein bestimmtes Verhalten, etwa einschlägige Straftaten 7 0 , hierunter fiele, oder den Gedanken verfolgen, was unter „öffentlichen Belangen" nach § 35 I I BBauG zu verstehen wäre, wenn nicht eine geordnete städtebauliche Entwicklung 7 1 dazu gehörte. Die gleiche Erwägung läßt sich auch bei Begriffen anstellen, die auf rechtsethische Prinzipien verweisen. Eine solche conditio-sine-qua-non-Überlegung führt zunächst dazu, den Begriffskern zu umreißen, weist aber auch den Weg zu einem weiteren Bezugsradius unbestimmter Rechtsbegriffe. Weniger eindeutige Fälle können m i t den evidenten Anweisungsfällen verglichen werden und damit Bezugspunkte i m Begriffshof bilden. Für die schon genannten Beispiele unbestimmter Rechtsbegriffe würde dies bedeuten, daß es zum mindesten naheliegt, das Gewerbe auch dann zu versagen, wenn ein wegen einschlägiger Straftaten unzuverlässiger Dritter maßgeblichen Einfluß auf den Gewerbebetrieb ausübt 72 , und daß zu den „öffentlichen Belangen" des § 35 I I BBauG i m Einzelfall die planerischen Vorstellungen der Gemeinde 73 zu rechnen sind. Spezifizierung bleibt aber trotz dieser und anderer Orientierungshilfen 7 4 ein A k t des Wertens und des Willens und enthält damit für die Rechtsanwendung erhebliche Unsicherheiten. Durch die Spezifizierung gewinnt der Richter nämlich zunächst nur eine Problemlösung für den von ihm zu entscheidenden Fall. Der Einzelfall muß aber i n seinen tatsächlichen Verästelungen gesehen werden und bietet nicht mehr als den Ausgangspunkt für eine allgemeine Regel. Da aber der Bedeutungsgehalt eines unbestimmten Rechtsbegriffs nicht auf die Dauer offen gelassen werden kann, muß zur (nur den Einzelfall betreffenden) Spezifizierung ein zweiter methodischer Schritt, ein wenn auch nicht unmittelbar regelbildendes, so doch „auf Regelbildung abzielendes" 75 Vorgehen kommen, das zutreffend als „Typisierung" bezeichnet wird. 68 Vgl. auch Esser, Grundsatz und N o r m S. 50: „Judizielle (von) Weisungen." 69 So Göldner S. 143. 70 Vgl. B V e r w G DVB1.1966, S. 443. 71 Vgl. B V e r w G 19, 82 (86). 72 Vgl. etwa B V e r w G 9, 222. 73 Vgl. B V e r w G 18, 247 (252 ff.); 26, 287 (293); 28, 148 (149). 74 Dazu i m einzelnen Göldner S. 124 ff. 75 So Göldner S. 109.
Ausprägung
3. Das Verfahren der Konkretisierung
75
b) Typisierung Ist eine Generalklausel oder ein unbestimmter Rechtsbegriff i n einer Reihe von Fällen spezifiziert worden, so ergeben sich Bezugspunkte für den Anwendungsbereich, aber noch keine Rechtsregeln 76 . Aus der einzelnen Entscheidung, die einen Sachverhalt i n seinem ganzen Facettenreichtum betrifft, kann ohne methodische Zwischenschritte keine Norm gebildet werden. Die Leitsatzrechtsprechung der Revisionsgerichte liefert bisweilen Beispiele dafür, daß geradezu Normkarikaturen entstehen, wenn man den konkreten Fall vorschnell ins Allgemeine wendet. Um von der Spezifizierung zur Regelbildung zu gelangen, muß ein gegenläufiger Prozeß einsetzen. Ging es bei der ersten Stufe der Konkretisierung darum, den geringeren Weisungsgehalt einer Generalklausel zu einer einzelnen Problemlösung zu verdichten, kommt es nun darauf an, von den Besonderheiten des Einzelfalles zu abstrahieren, Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und Grundstrukturen der entschiedenen Fälle herauszuarbeiten. Solche Systematisierungsbemühungen erbringen keinen abstrakten Begriff, denn unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln würden durch nicht minder unbestimmte Begriffe ersetzt, versuchte man, sie definitorisch zu erfassen. Aus der Fülle der einzelnen Judikate lassen sich aber die „typischen" Anwendungsfälle herausdestillieren. Der Typus liegt irgendwo zwischen dem allgemeinen Begriff und dem konkreten Fall 7 7 . Er ist allgemein, w e i l von den einzelnen Sachverhalten abstrahiert, aber doch spezifisch, weil nur „wirkliche oder wenigstens wirklich gewesene Objekte" 7 8 ihn ausmachen können. Der Typus macht die unbestimmten Entscheidungsgrundlagen anschaulich und bildet Fixpunkte, nicht lediglich unverbundene Bezugspunkte in dem sich entwickelnden Normbereich. Dieses typisierende Vorgehen läßt sich bei allen unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln verfolgen. Die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuches — etwa die §§ 138, 242 und 826 — sind nicht mehr nur Anfangsgrund einzelner Entscheidungen, sondern werden als Zusammenfassung richterrechtlicher Institutionen und typischer Fälle verstanden 79 . Auch aus § 1 UWG hat die Rechtsprechung verschiedene Fallgruppen herausdestilliert — etwa das Verbot der vergleichenden
76 Vgl. Göldner S. 109. 77 Vgl. Larenz M L S. 425; Engisch, Konkretisierung S. 238. 78 So Engisch, Konkretisierung S. 241. 7» Vgl. etwa Wieacker,
§ 242 S. 22 ff.
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T e i l I I , 1. Kap.: Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht
Werbung 8 0 , des Kundenfangs 81 oder des Abwerbens von Mitarbeitern 8 2 — die „den Charakter selbständiger Gebote und Verbote erlangt haben" 8 3 . Das Gleiche gilt für die schon erörterten Fallgruppen der Unzuverlässigkeit i. S. des § 35 I GewO 8 4 . Das Beispiel des § 35 BBauG zeigt, wie notwendig die Typisierung für die fernere Rechtsanwendungspraxis ist. Pohl/Kerstan zählen bereits 1969 252 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und der Berufungsgerichte zum Begriff der „öffentlichen Belange" 85 . Würde hier nicht über die Spezifizierung hinaus der Versuch gemacht, die typischen Anwendungsfälle herauszuarbeiten, so bliebe der Begriff ohne jede Kontur und zerfiele i n eine Vielzahl von Einzelentscheidungen. Durch Abstraktion von den konkreten Sachverhalten und Erarbeitung von Gemeinsamkeiten w i r d dagegen deutlich, daß etwa — der Planungswille der Gemeinde i n der Gestalt von Flächennutzungsplänen 86 , — vorbereitende Planungen von Bundesfernstraßen 87 , — Geruchs- 88 und Lärmbelästigungen 89 typischerweise zu den öffentlichen Belangen i. S. des § 35 BBauG zählen. Erst der Typus ermöglicht richterliche Regelbildung. Er ist genügend abstrakt, um zu vermeiden, daß die Regel sich i n den Einzelheiten der entschiedenen Fälle verliert, bleibt aber so konkret, daß die judiziell gewonnene Norm einen eigenen Weisungsgehalt aufzeigt. Die zu einer Generalklausel gehörenden Anwendungsfälle können freilich so unterschiedlich sein, daß sich unter dem gleichen Normtext verschiedene richterrechtliche Regeln versammeln 90 . Auch kann die Typisierung noch offen für Korrekturen bleiben. Verweisen Entscheidungen auf die „Umstände des Einzelfalls", so w i r d damit bedeutet, daß der Richter den entschiedenen Fall nicht als typisch erachtet und sich deshalb mit der Regelbildung zurückhält. Die aus der Typisierung folgende Regelbildung „verengt den diskretionären Raum richterlicher Entscheidungen m i t wachsender Präzision 80
Vgl. dazu Rosenthal/Leffmann § 1 Rdn. 64. Vgl. Rosenthal! Leff mann § 1 Rdn. 134. Dazu Rosenthal/Leffmann § 1 Rdn. 135 ff. So Rinck § 26 Rdn. 584. Dazu Kienzle S. 16 ff. Vgl. Pohl/Kerstan S. 40 ff. Vgl. B V e r w G 18, 247 (252); 26, 287 (293). 87 Vgl. B V e r w G 34, 146 (LS). 88 Vgl. B V e r w G 28, 148 (153). Vgl. B V e r w G 29, 286 (289). 90 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 202. si 52 53 54 es 8 6
4. Unbestimmter Rechtsbegriff und Formelkompromiß
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der Typologie" 9 1 . Damit soll nicht gesagt sein, daß eine strenge Bindung an die judiziell gebildeten Normen besteht. Aber die Möglichkeit abweichender Judikate darf nicht zu dem Fehlschluß führen, daß Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe sich fernerhin in ihrem Text erschöpfen. Judizielle Regelbildung und Normtext bilden vielmehr eine Einheit 9 2 und können den Richter von neuerlicher Bewertung und Reflexion genauso entlasten wie die Aufzählung der Fallgruppen i m Gesetzestext. 4. Unbestimmter Rechtsbegriff und dilatorischer Formelkompromiß Die m i t Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen verbundene Delegation von Rechtsbildungsbefugnissen an den Richter erscheint insoweit unbedenklich, als die Richtung und das Ausmaß der judiziellen Normbildung absehbar ist. Die anfängliche Unsicherheit i m Geltungsumfang von „Delegationsnormen" w i r d i m Zuge der Typisierung gemindert, so daß i m Ergebnis gesetzeskonkretisierendes Richterrecht der kasuistischen oder relativ bestimmten gesetzlichen Normierung an Präzision nicht nachsteht. Der Gesetzgeber ermächtigt den Richter aber nicht nur zu eigener Regelbildung, wenn eine gesetzliche Regelung sinnvollerweise unterbleibt; es sind auch Fälle denkbar, in denen der Gesetzgeber eine von ihm nicht getroffene Entscheidung dem Richter aus anderen Gründen zuschiebt. Ist i m parlamentarischen Verfahren keine Einigung über bestimmte, politisch kontroverse Gegenstände zu erzielen, so liegt es nahe, im Gewand eines unbestimmten Rechtsbegriffs oder einer Generalklausel dem Richter die Entscheidung zu übertragen. Solche dilatorischen Formelkompromisse 93 sind nicht leicht nachzuweisen, weil die einzelnen Stadien der Vorbereitung und parlamentarischen Beratung eines Gesetzes untersucht werden müßten. Freilich bietet auch der Gesetzestext einen Anhaltspunkt dafür, ob ein Rechtssatz lediglich ein Formelkompromiß ist. Verweist eine Generalklausel auf einen realen Sachbereich, ohne dem Richter zugleich Kriterien zu dessen Bewertung an die Hand zu geben, so liegt der Grund hierfür nicht selten i n der fehlenden politischen Willensbildung. 91 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 202; ähnlich Wieacker, §242 S. 15. 92 Ähnlich Esser, Festschr. v. Hippel S. 118 f., der freilich hieraus den weitergehenden Schluß zieht, daß Richterrecht u n d Gesetzesrecht nicht trennbar seien; ähnlich auch das B V e r f G 25, 213 (227); 26, 41 (42). 93 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre S. 31 ff.; Beispiele hierfür aus dem Bereich des Zivilrechts auch bei Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 26 f.
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Teil II,
. K a p . : Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht
Raisch vertritt die Auffassung, daß § 22 I I I GWB einen solchen Kompromiß darstellt 9 4 . Abgesehen davon, daß diese Rechtsvorschrift ohnehin nicht m i t gewöhnlichen juristischen Auslegungsmethoden zu interpretieren sei 95 , fehle dieser Generalklausel auch ein eindeutiger Normzweck 96 . Der Gesetzgeber habe nämlich unterlassen, die einander widersprechenden Grundsätze — Gewährleistung des Wettbewerbs, aber auch Zulassung von Marktmacht — i n eine Rangordnung zu stellen, und gebe Behörden und Gerichten damit „plein pouvoir" zur Anwendung i m Einzelfall 9 7 . Der Gesetzgeber müsse, um seiner Normierungsaufgabe zu genügen, zum mindesten die Widersprüche i m Kartellgesetz selbst beseitigen. Verzichte er darauf, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Leitmotive zu Rechtsprinzipien zu konturieren 9 8 , so ließen sich Normvoraussetzungen und -folgen einander nicht zuordnen 99 . Darin liege die Wurzel der Nichtanwendbarkeit der Generalklausel des § 22 I I I G W B 1 0 0 . Gesetzeskonkretisierendes Richterrecht — das w i r d an diesem Beispiel deutlich — liegt i m Spannungsfeld zwischen gesetzgeberischer Zurückhaltung und unterlassener politischer Willensbildung. Es w i r d deshalb die verfassungsrechtliche Frage zu stellen sein, wie weit der Gesetzgeber dem Richter Rechtsbildungsaufgaben übertragen kann, ohne die Verfassung zu verletzen.
94 Vgl. Raisch JZ 1965, S. 629. 95 Dazu Raisch J Z 1965, S. 626 ff. So Raisch JZ 1965, S. 629. 97 So Raisch J Z 1965, S. 629. 98 So Raisch J Z 1965, S. 631. 99 So Raisch JZ 1965, S. 629. 100 so Raisch J Z 1965. S. 630.
2. Kapitel Gesetzesvertretendes Richterrecht Vollzog sich bei dem ersten hier herausgearbeiteten Typus des Richterrechts die Rechtsbildung auf Grund von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, also innerhalb eines — wenn auch zuweilen weitgespannten — gesetzlichen Bewertungsrahmens, so ist es für das gesetzesvertretende Richterrecht charakteristisch, daß der Richter nur wegen seiner Entscheidungskompetenzen an die Stelle des untätig gebliebenen Gesetzgebers tritt. Man mag zwar i m Einzelfall das judiziell gebildete Recht als Abstraktion vorhandener Gesetze oder als Konkretisierung von Verfassungsprinzipien begreifen 1 , also eine gewisse Determination annehmen, doch kann die Berufung auf Sätze der Verfassung nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Richter die Ordnungsgesichtspunkte selber auswählen muß und dabei auf das „Ganze der zeitgenössischen sozialen Wertvorstellungen" 2 blickt. Auch gesetzesvertretendes Richterrecht entsteht nicht i n einem Wurf, sondern ist zumeist Ergebnis einer Reihe tastender und nur Ausschnitte betreffender Entscheidungen. Solch fallbezogenes und schrittweises Vorgehen ist geeignet, den richterrechtlichen Anteil an einem Rechtsgebiet weniger stark hervortreten zu lassen. Auf der anderen Seite finden sich auch höchstrichterliche Entscheidungen, die — ähnlich wie Verordnungen — weit über den einzelnen Fall hinaus allgemeine Gebote aufstellen. Diese Unterschiede i n der Entscheidungspraxis mögen i n der Individualität der verschiedenen Gerichtszweige begründet sein. U m ungeachtet solcher methodischer Divergenzen die Eigenart gesetzesvertretenden Richterrechts zu verdeutlichen, werden i m folgenden als Beispiel zwei Beschlüsse des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampfrecht skizziert, i n denen die Funktion des Gerichts als Vertreter des Gesetzgebers offensichtlich und in der Entscheidung selbst ausgesprochen w i r d 8 .
1 So für die allg. Grundsätze des V e r w R Werner DVB1.1959, S. 527 ff. 2 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 78 für A r t . 3 I I GG. 3 So i n B A G A P Nr. 43 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 315 R.
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s e r e n d e s Richterrecht
1. Der Beschluß des Großen Senats des BAG zum Arbeitskampf vom 28. Januar 1955 Dem Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts war gem. § 45 I I ArbGG die Frage vorgelegt worden, ob ein von der Gewerkschaft beschlossener Streik, der ohne fristgerechte Kündigung der Arbeitnehmer durchgeführt werde, den Arbeitgeber zur fristlosen Kündigung der Streikenden berechtige 4 . Der Große Senat vertrat die Auffassung, daß diese — i n der Literatur kontrovers behandelte — Frage nicht durch das Grundgesetz gelöst werde, sondern daß das Wesen des Streiks als kollektive Kampfmaßnahme den Lösungsweg aufzeige 5 . Arbeitskämpfe seien zwar unerwünscht, da sie volkswirtschaftliche Schäden m i t sich brächten und den sozialen Frieden beeinträchtigten, i n der freiheitlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik aber als ultima ratio zur Erlangung verbesserter Arbeitsbedingungen anerkannt 6 . Der Streik sei ein kollektives Geschehen und der gewerkschaftliche Streikbeschluß die entscheidende Kampfhandlung 7 . Der Große Senat w i r f t der bis dahin herrschenden Meinung vor, durch das Erfordernis fristgerechter Kündigung das kollektive Wesen des Streiks verkannt zu haben 8 . Sie verpflichte die Arbeitnehmer zu einer K ü n digung, die sie i n Wahrheit gar nicht wollten. Ziel der Streikenden sei es vielmehr, die Arbeitsverhältnisse zu suspendieren und nach Beendigung des Arbeitskampfes fortzusetzen. Eine Pflicht zu fristgerechter Kündigung mache überdies den Arbeitskampf praktisch unmöglich, denn ein einheitlicher Streikbeginn sei lebenswichtig für seinen Erfolg 9 . Auch die Möglichkeit, den Streik individualrechtlich anders zu behandeln als kollektivrechtlich, sei verschlossen, denn das Wesen des Streiks liege i m Gesamthandeln der Streikenden und die rechtliche Bewertung müsse dieser Wirklichkeit entsprechen 10 . Der legitime Streik berechtige somit den Arbeitgeber nicht zur fristlosen Entlassung einzelner Arbeitnehmer wegen Vertragsverletzung 11 . Allerdings bedeute dies nicht, daß die Arbeitgeber keinerlei Kampfmittel zur Verfügung hätten. Der Gleichheitssatz verbiete es dem Staat, die Kampfmittel der Sozialpartner ungleich zu behandeln. Aus den Grundsätzen des freiheitlich sozialen Rechtsstaates und der allgemeinen Entfaltungsfreiheit 4 Vgl. B A G A P Nr. 1 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 217. 5 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 220 R. « So B A G a.a.O. 7 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 221. s Vgl. B A G a.a.O. Bl. 221 R. 9 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 223. 10 So B A G a.a.O. Bl. 222 R. 11 Vgl. B A G A P Nr. 1 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 224.
2. Der Beschluß des B A G zum Arbeitskampf v o m 21. 4.1971
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folge die Kampfparität und die Freiheit der Wahl der Kampfmittel: „Dabei darf jede Gruppe i n den Grenzen des legitimen Kampfes das ihr gemäße, historisch überkommene, der Natur der Sache entsprechende Kampfmittel wählen 1 2 ." Dem Streik der Gewerkschaften entspreche auf Seiten der Arbeitgeber die Aussperrung. Indes sei das Wesen der Aussperrung ebenso verkannt worden wie das des Streiks. Auch die Aussperrung sei nur kollektivrechtlich zu erfassen und deshalb ohne Kündigung möglich 13 . Der Große Senat wendet sich sodann gegen die Auffassung, die Aussperrung suspendiere lediglich die Hauptpflichten des Arbeitgebers, führe aber nicht zu einer Lösung der Arbeitsverhältnisse. Hier werde die historische Entwicklung verkannt; die Aussperrung habe von jeher zu einer Lösung der Arbeitsverhältnisse geführt 1 4 . Selbst wenn man die lösende Wirkung nicht als begriffswesentlich ansehe, so fehle doch jeder rechtliche Anhaltspunkt, u m den Arbeitgeber zwangsweise auf die suspendierende Aussperrung zu beschränken: „Ein derartiger Zwang würde mit dem Grundsatz der Freiheit der Kampfmittel unvereinbar sein 15 ." Bei der Abwehraussperrung sei eine nur suspendierende Wirkung überdies sinnlos, weil sie schon durch den Streik erfolgt sei. Eine solchermaßen sachgerechte Verteilung des Risikos sei ein Gebot der verfassungsrechtlich geforderten Kampfparität 1 6 . Aus dem gleichen Grunde verneint das B A G eine Pflicht des Arbeitgebers, die ausgesperrten Arbeitnehmer nach Beendigung des Streiks wiedereinzustellen 17 . Die Wiedereinstellung liege i m unternehmerischen Ermessen, das nur durch das Verbot offensichtlichen Mißbrauchs eingeschränkt sei 18 . Nur wenn die Ablehnung der Wiedereinstellung „den Stempel der Unsachlichkeit und Willkürlichkeit auf der Stirn" trage, sei ein Wiedereinstellungsanspruch gegeben 19 . 2. Der Beschluß des Großen Senats des B A G zum Arbeitskampf vom 21. April 1971 Durch den Beschluß des Großen Senats vom 21. A p r i l 197 1 2 0 wurden die skizzierten Grundsätze zum Arbeitskampf revidiert. Das B A G 12 13 14 is iß 17 is 19 so
So B A G a.a.O. Bl. 224 R. Vgl. B A G a.a.O. Bl. 225. Vgl. B A G a.a.O. Bl. 225. So B A G a.a.O. Bl. 225 R. So B A G a.a.O. Vgl. B A G A P Nr. 1 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 227. So B A G a.a.O. Bl. 227 R. So B A G a.a.O. Bl. 228 R. Vgl. B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 306 ff.
6 Ipsen
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s e r e n d e s Richterrecht
hält die Lösungstheorie nunmehr für angreifbar. Ziel des Arbeitskampfes sei es, einen Tarifvertrag abzuschließen. Wenn aber die Tarifparteien die Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis nur vorübergehend unterbrechen wollten, so sei damit die lösende Wirkung der Aussperrung nicht vereinbar. Der Verlust von Anwartschaftsrechten und Kündigungsschutz gehe als Folge der Lösung des Arbeitsverhältnisses regelmäßig über das rechtmäßige Ziel des Arbeitskampfes hinaus. Überdies habe die Entwicklung des Arbeitsrechtes dazu geführt, daß der Arbeitsplatz in seinem Bestand stärker gesichert werde 2 1 . Das B A G tendiere i n seiner Rechtsprechung zu wachsender Billigkeitskontrolle, prüfe also nicht nur, ob Ermessensmißbrauch vorliege, sondern lege seiner Judikatur den Maßstab „billigen Ermessens" zugrunde 22 . Diesen Tendenzen widerstreite der Beschluß des Großen Senats vom 28. 1. 1955. Das B A G bleibt zwar bei der Beurteilung der Arbeitskämpfe als grundsätzlich unerwünschter Erscheinungen, zieht jedoch neuartige rechtliche Konsequenzen: „ I n unserer verflochtenen und wechselseitig abhängigen Gesellschaft berühren . . . Streik wie Aussperrung nicht nur die am Arbeitskampf u n m i t t e l bar Beteiligten, sondern auch Nicht-Streikende und sonstige Dritte sowie die Allgemeinheit vielfach nachhaltig. Arbeitskämpfe müssen deshalb unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Dabei sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, u n d das Gemeinwohl darf nicht offensichtlich verletzt werden 2 3 ."
Arbeitskämpfe sind nach Auffassung des Großen Senats nur als letztes Mittel der Auseinandersetzung zulässig und dürfen nicht auf Vernichtung des Gegners abzielen. Die Kampfmaßnahmen müssen sich auf das zur Durchsetzung des konkreten Zieles Erforderliche beschränken. Beide Parteien seien durch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verpflichtet, nach beendetem Arbeitskampf den Arbeitsfrieden so bald wie möglich wiederherzustellen 24 . Dem B A G zufolge entspricht es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß die Aussperrung die Arbeitsverhältnisse regelmäßig nur suspendiere. Eine lösende Aussperrung komme erst unter erschwerten Bedingungen i n Betracht. I m Gegensatz zu der früher vertretenen Ansicht hält das Gericht eine suspendierende Aussperrung nicht mehr für sinnlos, weil sie — insbesondere bei Schwerpunktstreiks — als „Warnsignal" dienen könne 2 5 . Entwickle sich der Arbeitskampf besonders intensiv, so sei es nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit 21 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 309. 22 Vgl. B A G a.a.O. 23 So B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 309 R. 24 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 310. 25 So B A G a.a.O. B1.311 R.
3. Methode u n d F u n k t i o n der Arbeitskampfrechtsprechung
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gerechtfertigt, daß der Arbeitgeber zur lösenden Aussperrung übergeht 26 . Rechtswidrige Streiks berechtigten den Arbeitgeber hingegen von vornherein zur Lösung der Arbeitsverhältnisse, da in einem solchen Fall die Tarifautonomie mißbraucht werde 2 7 . Der Große Senat vertritt nun die Ansicht, daß auch nach lösender Aussperrung der Bestandsschutz des Arbeitsplatzes nicht völlig außer acht gelassen werden dürfe. Das rechtliche Band zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei dann zwar beseitigt, doch verbiete es das Ziel des Arbeitskampfes — die Wiederaufnahme der Arbeit unter gewandelten Bedingungen —, die Wiedereinstellung der Arbeitnehmer i n das Belieben des Arbeitgebers zu stellen 28 . Der Beschluß vom 28. 1. 1955 habe nicht genügend berücksichtigt, daß Arbeitskämpfe letztlich auf den Arbeitsfrieden angelegt seien. Die Wiedereinstellung der Arbeitnehmer stehe deshalb nicht i m freien, sondern i m billigen Ermessen des Arbeitgebers 29 . Die Gerichte für Arbeitssachen hätten i m Streitfall zu prüfen, ob der Arbeitgeber nach billigem Ermessen dazu verpflichtet sei, streikende Arbeitnehmer erneut einzustellen. 3. Methode und Funktion der Rechtsprechung zum Arbeitskampf a) Entscheidungsgrundlagen
und politische Relevanz der Beschlüsse
Für beide Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts zum Arbeitskampf ist die Frage nach den gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen eindeutig beantwortet. Das Arbeitskampf recht ist gesetzlich nicht geregelt; auch aus Gesetzen, die den Arbeitskampf erwähnen, lassen sich keine Wertungen gewinnen 30 . Angesichts des Fehlens legislativer Normen kann die Rechtsprechung nicht als „lückenfüllende Ergänzung" eines Gesetzes begriffen werden, das B A G entwickelt vielmehr „gewissermaßen für einen Lebensbereich ein normatives System in relativ freier Gestaltung" 3 1 . Die Kontroversen sind i m wesentlichen offen, der Richter ist nicht durch gesetzgeberische Vorentscheidungen von eigener Bewertung des Arbeitskampfes entlastet. M i t seiner Entscheidung t r i t t er i n den Kreis der aktiv sozialgestaltenden Kräfte. Diese Funktion des Richters ist i m Arbeitsrecht anerkannt und spiegelt sich in den Aussagen wider, der Richter sei der „eigentliche Herr des Arbeitsrechts" 32 , das Bundesarbeitsgericht stelle den „entscheidenden Machtfaktor" 3 3 i m deutschen Arbeitsrecht d a r 3 3 a . 26 Vgl. B A G a.a.O. Bl. 313. 27 Vgl. B A G a.a.O. 28 Vgl. B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 314. 29 So B A G a.a.O. Bl. 314 R. 30 Vgl. G. Müller A u R 1972, S. 3; Richardi RdA 1971, S. 334. 31 So Scheuner RdA 1971, S. 327. 6*
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s e r e n d e s Richterrecht
Es bedarf keiner Definition des Begriffs Politik 3 4 , u m festzustellen, daß die Rechtsprechung zum Arbeitskampf von eminenter politischer Relevanz ist und der Richter, der hier anstelle des Gesetzgebers entscheidet, eine politische Funktion ausübt 35 . Es kann i n diesem Zusammenhang freilich nicht genügen, die politische Natur der Arbeitskampfjudikatur lediglich festzustellen; wichtiger ist es zu verfolgen, wie das Gericht seine Entscheidungskompetenzen i m Spannungsfeld von Recht und Politik wahrnimmt. b) Methodische Schritte in den Beschlüssen zum Arbeitskampf Nach Essers Auffassung können politische Entscheidungen nicht mit Mitteln der Rechtsprechung getroffen werden 3 6 . Das juristische Instrumentarium sei schlechthin unzulänglich, um die weitläufigen Ordnungsprobleme u m Arbeitskampf und Arbeitsfrieden zu regeln 37 . Das mag i m Ergebnis zutreffen. Man müßte jedoch die Frage anschließen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn das Instrumentarium der Rechtsprechung derart überfordert wird. Diese Überlegungen müssen von dem Entscheidungszwang ausgehen, unter dem der Richter nach Maßgabe der Verfahrensgesetze steht, und die Methoden der Rechtsbildung einbeziehen. Grundsätzliche Ausführungen zum Arbeitskampf werden immer politisch akzentuiert sein, denn hier geht es darum, was als gerechte Ordnung i n einem Gebiet sozialer Spannungen und kontroverser Interessen anzusehen ist. Die Einschätzung des Arbeitskampfes als „unerwünscht" 3 8 , die Annahme, man dürfe aus „staatspolitischer Notwendigkeit" 3 9 den Arbeitskampf nicht erleichtern, ist mit rechtlichen Kategorien nicht begründbar, sondern entspringt einem nur politisch ausdeutbaren Vor Verständnis der sozialen Ordnung 4 0 . 32 So Gamillscheg AcP 164 (1964), S. 388. 33 So Ramm J Z 1964, S. 586. 33 a z u r F u n k t i o n des Richterrechts i m Arbeitskampfrecht, insbesondere unter dem B l i c k w i n k e l der Tarifautonomie vgl. auch Herschel A u R 1972, S. 129; D B 1973, S. 2298; R d A 1973, S. 147; Vossen, insbes. S. 121 ff.; durchaus kritisch: Lieb R d A 1972, S. 129 ff. und Scholz D B 1972, S. 1771 ff. 34 Hierzu Grimm JuS 1969, S. 501 ff. 35 So Mayer-Maly D R i Z 1971, S.3251; Reuß A u R 1971, S.353f.; Säcker G M H 1972, S. 287 ff.; Rüthers S. 463 ff. 36 So Esser, Vorverständnis S. 197. 37 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 196. 38 So B A G A P Nr. 1 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 220 R. 39 So B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 G G (Arbeitskampf) Bl. 307 R. 40 Vgl. Reuß A u R 1971, S. 354 u. 356.
3. Methode u n d F u n k t i o n der Arbeitskampfrechtsprechung
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Die politisch akzentuierte K r i t i k an der richterlichen Interessenbewertung darf freilich nicht übersehen, daß die Rechtsprechung darauf abzielt, die zu entscheidenden Fragen aus dem unmittelbaren Gegeneinander der Interessen herauszunehmen und sie durch Ausformung von Begriffen und Grundsätzen rechtlicher Beurteilung zugänglich zu machen 41 . Solche Grundsätze — Kampfparität, Sozialadäquanz und Verhältnismäßigkeit — sind nicht schon vorgegeben. Ihre Ausprägung leitet vielmehr einen dem Interessenkonflikt gegenläufigen Prozeß der „Verrechtlichung" ein. Durch die i n diesem Prozeß rechtlicher Domestizierung entwickelten Begriffe mag die zugrunde liegende Interessenlage zwar noch hindurchschimmern; möglicherweise läßt sich auch ein Zustand, i n dem die zu beurteilende Wirklichkeit zu rechtlichen Figuren gerinnt, i n grundlegend kontroversen Rechtsgebieten gar nicht erreichen. Dennoch muß es als ein Wesenszug der Rechtsprechung betrachtet werden, nach Möglichkeit von der Ebene des unmittelbaren Interessengegensatzes zu abstrahieren und ihn in die Rechtssprache zu überführen 4 2 . Es ist ein leichtes, in den auf diese Weise gewonnenen Begriffen einen politischen Gehalt aufzuspüren, denn sie abstrahieren nur die Wertung. Nur w i r d man sich fragen, ob i n diesem Vorgehen sogleich ein Mißbrauch juristischer Topik zu sehen ist 4 3 oder ob hier die Voraussetzung für die Funktion des Rechts als „Entschärfungssystem" für soziale Konflikte liegt 4 4 . c) Schritte der „Verrechtlichung" Die beiden Beschlüsse des B A G zum Arbeitskampf lassen eine unterschiedliche Zielrichtung erkennen. I m ersten Beschluß ging es darum, adäquate Rechtsformen für die soziale Wirklichkeit des Arbeitskampfes zu finden. Das Gericht berief sich wiederholt auf das „Wesen" des Streiks, u m darzutun, daß die individualrechtliche Betrachtungsweise der tatsächlichen Erscheinungsform des Arbeitskampfes nicht genüge. Der zweite Beschluß hatte erklärtermaßen das Ziel, den Arbeitskampf aus seinem „archaischen" Zustand heraus i n ein Rechtsinstitut zu überführen 4 5 . Vermißte das B A G zu Beginn seiner Judikatur noch jeglichen rechtlichen Gesichtspunkt zur Beschränkung der Kampfmittel und 41
Z u dieser Tendenz G. Müller RdA 1971, S. 323 u. A u R 1972, S. 2. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 303, definiert die Dogmatik demgemäß als „bindende Übersetzung eines Lebenskonfliktes u n d seines ursprünglich durch Erfahrung gewonnenen W e r t - u n d Lösungsschlüssels i n ein t e c h n i sches' Wissens- und Sachgebiet". 43 So Esser, Vorverständnis S. 197. 44 Hierzu Esser, Vorverständnis S. 195; vgl. auch Badura S. 46. 4 s So G. Müller R d A 1971, S. 323 u. A u R 1972, S.5; Scheuner R d A 1971, S. 329. 42
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s e r e n d e s Richterrecht
stellte es nur auf die Kampfparität ab, so fand es später in Gestalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips die rechtliche Begründung dafür, die Tarifparteien in der Wahl ihrer Kampfmittel einzuengen. Der unmittelbare Rekurs auf die zu normierende Wirklichkeit und die „rechtsgestaltende Ableitung normativer Richtlinien aus den allgemeinen Grundlagen" 4 6 machen deutlich, wie sich die judizielle Normbildung vollzieht, wenn gesetzgeberische Vorentscheidungen fehlen. Auch die allgemeinsten Grundsätze des Rechts — das Prinzip der Gleichheit, der Verhältnismäßigkeit und der Billigkeit — dienen zur Entwicklung spezieller Normen. Sie bestimmen nicht von vornherein den Inhalt der richterrechtlichen Normierung, sind also nicht bloßer Deduktion zugänglich. Der Ausgangspunkt der Rechtsbildung bleibt der rechtspolitische „Durchgriff", das Vorverständnis von der Ordnungsbedürftigkeit eines Konflikts 4 7 , wie es sinnfällig zum Ausdruck kommt, wenn der Große Senat von einer „staatspolitischen Notwendigkeit" spricht, Arbeitskämpfe nicht zu erleichtern 48 . Die genannten Prinzipien geben aber der Argumentation ihre spezifisch rechtliche — also an Gerechtigkeitswerten orientierte — Struktur. Damit ist nicht gesagt, daß die judizielle Normierung auch richtig ist. Die von den allgemeinen Rechtsprinzipien vorgeblich geforderten Wertungen mögen verfehlt sein. Es w i r d immer strittig bleiben — gleichgültig, ob der Gesetzgeber oder der Richter die Norm bildet —, was als gerechte Lösung eines Konfliktes anzusehen ist. Für unseren Zusammenhang ist es allein wichtig, daß gesetzesvertretendes Richterrecht sich nicht als Setzung darstellt, sondern daß die Normierung aus einem spezifisch juristischen Begründungszusammenhang folgt. d) Die arbiträre
Funktion
des Richters
Scheuner meint, die vom Bundesarbeitsgericht gefundene Lösung beruhe auf einer „ausgleichenden L i n i e " 4 9 . Damit ist über die skizzierten Beispiele aus der Arbeitskampfrechtsprechung hinaus eine vermutlich wesentliche Funktion des anstelle des Gesetzgebers entscheidenden Richters angesprochen. Der Richter w i r d im gesetzesfreien Raum immer die Extreme zu meiden suchen, die gegensätzlichen Positionen i m Rechtsstreit nach Möglichkeit anerkennen und auf ihren Ausgleich bedacht sein. Er wird, wenn das Gesetz keine Bewertungsgrundsätze angibt, eine Ent46 47 48 49
So Scheuner RdA 1971, S. 327. Hierzu Esser, Vorverständnis S. 175. Vgl. B A G A P Nr. 43 zu Art. 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 307 R. So Scheuner RdA 1971, S. 329.
3. Methode und F u n k t i o n der Arbeitskampfrechtsprechung
87
Scheidung „ex aequo et bono" treffen 5 0 , die an den Prinzipien der Gerechtigkeit und Angemessenheit ausgerichtet ist 5 1 . Diese dem richterlichen Selbstverständnis und der Eigenart des Prozesses als Forum der Streiterledigung 52 entsprechende arbiträre Funktion bedeutet nicht, daß metajuristische Wertungen überflüssig würden. Die Wertungen dürften aber regelmäßig die Interessen beider Parteien des Rechtsstreits berücksichtigen und zu vermitteln suchen 53 . Die arbiträre Funktion des Richters w i r d mit jedem Judikat abnehmen, weil der unmittelbare Rekurs auf allgemeine Rechtsgrundsätze bei zunehmender Dichte der judiziell geschaffenen Normen nicht mehr notwendig ist. Die Entscheidung ex aequo et bono stellt also nur den Beginn einer Rechtsentwicklung dar. Wie bei der Konkretisierung von Generalklauseln verengt sich der diskretionäre Bereich auch hier mit wachsender Bestimmtheit der judiziell geschaffenen Entscheidungsgrundlagen. Das gilt freilich nur für die entschiedene Rechtsfrage. Das anerkannte Prinzip erschöpft sich aber nicht in der einmaligen Anwendung, sondern bietet die Grundlage weiterer Normbildungen. Hierin liegt eine Tendenz zur Ausweitung richterlicher Rechtsbildungskompetenzen. e) Die Tendenz zur
Kompetenzausweitung
M i t dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit, dem das B A G den Arbeitskampf unterwirft, ist nach Gerhard Müllers Auffassung nur die Leitlinie gegeben. Die einzelnen Aspekte und Prioritäten müßten noch herausgearbeitet werden. Die gegenwärtige Situation sei derjenigen vor fünfzig Jahren vergleichbar, als man sich anschickte, den Grundsatz von Treu und Glauben zu typisieren 54 . Das Gericht habe gewissermaßen die Haupteingangstür eines Gebäudes geöffnet; nun müsse man sehen, was sich i n den einzelnen Räumen verberge 55 . Die vom Großen Senat aufgestellten Generalklauseln verlangten auf die Dauer nach näherer Konkretisierung durch typmäßige Gestaltungen. Müller verneint die Frage, ob die vom Gericht in Anspruch genommene Prüfungskompetenz zu einem Lohnamtssystem führen könnte. Eine ins Detail gehende Kontrolle überfordere jedes Gericht. Es müßten volks- und betriebswirtschaftliche Überlegungen angestellt werden; schließlich
so Vgl. Peters Disk. Beitrag W d S t R L 9 (1952), S. 117. si Hierzu Esser, Grundsatz und N o r m S. 69. 52 Vgl. dazu auch C. Schmitt, Hüter der Verfassung S. 67. 53 Zur Rolle des Richters als „arbiter" vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 125. 54 Vgl., G. Müller R d A 1971, S. 323. 55 So G. Müller RdA 1971, S. 325.
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s e r e n d e s Richterrecht
bliebe trotz Gutachten und Gegengutachten eine letzte Ungewißheit 5 6 . Sache des Gerichts sei es lediglich, eine „offensichtliche Ausuferung" des Arbeitskampfes zu verhindern 5 7 . Reuß dagegen befürchtet, daß das B A G die unbestimmten und weitester Auslegung zugänglichen Grundsätze dazu benutzen könnte, „hochpolitische" Entscheidungen zu fällen, die der Gesetzgeber zu treffen nicht bereit sei 58 . So sei es denkbar, daß auf Grund des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine Zwangsschlichtung oder ein Lohnstopp eingeführt oder eine „Abkühlungsperiode" als Zulässigkeitsvoraussetzung von Arbeitskämpfen verfügt werde 5 9 . Die vom Großen Senat geforderte Gemeinwohlverträglichkeit der Arbeitskämpfe setze der richterlichen Kontrolle theoretisch keine Grenzen, was u m so schwerer wiege, als es keinen allgemeingültigen Begriff des Gemeinwohls gebe 60 . Es soll dahingestellt bleiben, ob Reuß' Befürchtung, das Gericht könnte Regelungen treffen, die die Arbeits- und Gesellschaftsverhältnisse grundlegend ändern, berechtigt ist. Immerhin deuten die Auffassungen beider Autoren darauf hin, daß der Judikatur aus den allgemeinsten Grundsätzen eine Tendenz zur Kompetenzausweitung immanent ist. Hier ergibt sich ein unverkennbares Paradox. I n einem Bereich, der nicht durch Gesetz geregelt ist und i n dem der Richter auf fundamentale Rechtsprinzipien zurückgehen muß, um die rechtliche Struktur seiner Begründung zu sichern, sind offenbar besonders nachhaltige Eingriffe der Rechtsprechung i n das Sozialgeschehen zu erwarten. Wo nach dem strengen Maßstab der exegetischen Schule juristische Aussagen eigentlich gar nicht möglich sind und auch aus der Sicht der neueren Methodenlehre Zweifel an der Justitiabilität bestehen bleiben 61 , steht zu befürchten, daß der Richter sogar mehr tut, als es ein Gesetzgeber vermöchte 62. Der Grund für diese — freilich nur vordergründig paradoxe — Erscheinung liegt darin, daß allgemeine Rechtsgrundsätze wie Verhältnismäßigkeit, Gleichheit und Billigkeit aus sich selbst nicht begrenzbar sind. Damit w i r d ein früheres Ergebnis bestätigt, daß die Methodenlehre die richterlichen Rechtsbildungskompetenzen nicht zu beschränken
56 Vgl. G. Müller RdA 1971, S. 324. 57 So G. Müller R d A 1971, S. 324. 58 Vgl. Reuß A u R 1971, S. 354. 59 Vgl. Reuß A u R 1971, S. 354. 60 So Reuß A u R 1971, S. 354. 61 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 196 f. 62 Vgl. Reuß A u R 1971, S. 354.
3. Methode u n d F u n k t i o n der Arbeitskampfrechtsprechung
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vermag 6 3 . Da der Richter aber unter Entscheidungszwang steht und deshalb nicht auf jede Rechtsbildung verzichten kann, andererseits durch die Prinzipien von Gemeinwohl und Verhältnismäßigkeit nahezu jeder A k t der Sozialgestaltung begründbar ist, muß auf der Verfassungsebene nach Kriterien für die Zulässigkeit gesetzesvertretenden Richterrechts und damit für die Zuordnung der gesetzgebenden und rechtsprechenden Gewalt gesucht werden.
63 So i m Ergebnis auch Rüthers S. 445 ff.
3. Kapitel Gesetzeskorrigierendes Richterrecht Einen breiten Raum i n der Diskussion um das Richterrecht nimmt die Frage ein, ob der Richter befugt ist, von gesetzgeberischen Wertungen abzuweichen. I n der Regel handelt es sich hier um Gesetze, die als veraltet und mit neueren Rechtsvorstellungen unvereinbar gelten. Nicht jede judizielle Rechtsfortbildung, die dem ursprünglichen Bewertungsplan des Gesetzgebers widerspricht, ist schon als Gesetzeskorrektur zu qualifizieren; der anerkannte Grundsatz der objektiven Auslegung ermöglicht es dem Richter weithin, ein Gesetz neueren Einsichten anzupassen, ohne daß die Gesetzesgebundenheit angezweifelt würde 1 . Gesetzeskorrigierendes Richterrecht entsteht demgegenüber durch „Entscheidungen gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes"2. Beispiele hierfür finden sich in der Rechtsprechung aller Revisionsgerichte 3 . Der klassische Fall einer Gesetzeskorrektur ist die Judikatur des Bundesgerichtshofs zum Ersatz des immateriellen Schadens bei Ver1
Vgl. hierzu Mennicken S. 53 ff. So der Titel der Diss, von L. Voigt. 3 Der B G H hat Gesetzeskorrekturen vorgenommen i n den Entscheidungen B G H Z 4, 153; 9, 157; 13, 360; i n den Entscheidungen B G H Z 4, 208; 4, 219; 42, 176; 48, 134; 54, 332; B G H N J W 1967, S. 982 hat er dagegen Korrekturen abgelehnt und sie für eine Aufgabe allein des Gesetzgebers gehalten. Das B A G hat i n B A G 13, 1 und 15, 335 Gesetze korrigiert, i n anderen Fällen, z.B. B A G 1, 279; 8, 314; 11, 105; 12, 43; 13, 220, dagegen eine Korrekt u r abgelehnt. Das B V e r w G lehnt Gesetzeskorrekturen grundsätzlich ab: vgl. B V e r w G 4, 317; 8, 245; 25, 277. I n einer Entscheidung (BVerwG 29, 133) findet sich aber doch ein bewußtes Abweichen von der gesetzlichen Regelung (dazu die Entscheidung des Gemeinsamen Senats i n B V e r w G 37, 369). Auch die Rspr. des BSG enthält neben Gesetzeskorrekturen (vgl. BSG 9, 165; 11, 278; 14, 238; 25, 55) die Ablehnung solcher Eingriffe: vgl. n u r BSG 10, 64; 21, 68; 21, 287. Dieses Nebeneinander von Gesetzeskorrekturen u n d deren Zurückweisung unter Berufung auf die Eindeutigkeit des Wortlauts usw. bei Problemen, die allemal als regelungsbedürftig, oder Vorschriften, die als änderungsbedürftig erkannt sind, zeigt schon, daß die Rspr. keiner einheitlichen Linie folgt. M i t Recht bemerkt Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 46 f., daß ein Rechtsnotstand i n keinem F a l l der Gesetzeskorrektur vorgelegen habe. Es muß besonderer Untersuchung überlassen bleiben, warum die Gerichte i m einen F a l l die K o r r e k t u r vornehmen, i m anderen dagegen ablehnen. 2
1. Judikatur u n d Gesetzesentwürfe zum Persönlichkeitsschutz
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letzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 4 . Anderthalb Jahrzehnte nach dem „Herrenreiter-Urteil" ist die Rechtsprechung noch immer i m Streit. Nicht nur, daß kritische Stimmen i n der Literatur nicht verstummen wollen 5 , auch verschiedene Oberlandesgerichte sind nicht gewillt, dem B G H zu folgen 6 . Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zwar i n jüngster Zeit bestätigt 7 , doch dürfte diese Entscheidung keine Klärung der grundsätzlichen Fragestellung erbracht haben. Es soll hier nicht die Aufgabe sein, der Diskussion u m das Persönlichkeitsrecht in ihre einzelnen, namentlich zivilrechtsdogmatischen Verästelungen zu folgen 8 . Statt dessen soll gezeigt werden, wie sich die Judikatur i m Verhältnis zu den parallel laufenden Bemühungen des Gesetzgebers um einen Schutz der Persönlichkeit entwickelt hat. 1. Judikatur und Gesetzesentwürfe zum Schutz der Persönlichkeit a) Die Anerkennung eines „allgemeinen Persönlichkeitsrechts" durch den Bundesgerichtshof Bekanntlich lehnte es das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung ab, ein „allgemeines" Persönlichkeitsrecht anzuerkennen 9 . Das Gericht vertrat die Auffassung, daß die Rechtsordnung nur einzelne Persönlichkeitsrechte — etwa das Namensrecht und das Recht am eigenen Bilde — gewähre. Darüber hinaus wurden negatorische und Schadensersatzansprüche für Beeinträchtigungen der Persönlichkeit verneint 1 0 . Der „Referentenentwurf eines Urheberrechtsgesetzes" vom 15. März 1954 unternahm es, den Kreis der Rechte zu erweitern 1 1 . 4 Vgl. B G H Z 13, 334 (Leserbrief); 15, 249 (Cosima Wagner); 20,345 (Paul Dahlke); 24, 72 (Ärztl. Zeugnis); 24, 200 (Spätheimkehrer); 26, 349 (Herrenreiter); 30, 7 (Caterina Valente); 35, 363 (Ginseng-Wurzel); 36, 77 (Waffenhandel); 39, 124 (Fernsehansägerin); 50, 133 (Mephisto); B G H N J W 1971, S. 698 (Helga). 5 Vgl. z.B. Larenz M L S.402; Giesen N J W 1971, S. 801. e Vgl. z.B. O L G Schleswig JZ 1961, S. 573; O L G F r a n k f u r t N J W 1962, S. 2062; O L G Karlsruhe N J W 1962, S. 2062 u n d B G H N J W 1971, S. 699: „Das Berufungsgericht (OLG München) hat . . . die Klage schon deshalb abgewiesen, w e i l es .. . bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten die Gewährung einer Entschädigung i n Geld zum Ausgleich der erlittenen . . . U n b i l l ablehnt." 7 Vgl. U r t e i l des BVerfG v. 14. 2. 1973 (1 B v R 112/65) N J W 1973, S. 1221 ff.; dazu Menger V e r w A r c h 65 (1974), S. 195 ff. 8 Hierzu Wiese S. 37 ff. 9 Vgl. RGZ 113, 413; RG GRUR 1934, S. 625. i» Vgl. RGZ 113, 413 ff. 11 Vgl. Referentenentwürfe zur Urheberrechtsreform; veröff. durch das Bundes Justizministerium Bonn 1954.
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Teil II,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
§ 85 RefE 1954 schützte den Verfasser und Empfänger von Briefen und „ähnlichen vertraulichen Aufzeichnungen" vor Veröffentlichung. § 87 RefE 1954 sah bei „berechtigtem öffentlichen oder privaten Interesse" eine Ausnahme vom Zustimmungserfordernis vor. I n der Begründung w i r d darauf verwiesen, daß ein allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht anerkannt werde, der Entwurf aber den ohnehin geschützten Rechten eines hinzufügen wolle 1 2 . Als Sanktion für die Verletzung war i n § 101 RefE 1954 der negatorische und der Schadensersatzanspruch vorgesehen. § 101 I I RefE 1954 gewährte zudem einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens, der bislang nicht gegeben war 1 3 . Die Entscheidung des B G H vom 25. Mai 195414 betraf einen solchen Fall, wie ihn § 85 RefE 1954 i n den Schutz des neuen Urhebergesetzes einbeziehen wollte. Der B G H vertrat die Auffassung, daß ein „allgemeines Persönlichkeitsrecht" verfassungsmäßig gewährleistet sei und der Standpunkt des RG deshalb nicht aufrechterhalten werden könne 15 . Der Senat räumt i n dem § 85 RefE 1954 entsprechender Formulierung ein, daß dies Recht durch „berechtigte private oder öffentliche Belange" einschränkbar sei, und hält dann eine Güterabwägung für notwendig. I n einer weiteren Entscheidung bestätigt der B G H diese Rechtsprechung: Aufzeichnungen vertraulichen Charakters dürften nur mit Zustimmung des Verfassers veröffentlicht werden. Dies folge aus dem durch „ A r t . 1 und 2 des Grundgesetzes verfassungsmäßig gewährleisteten Grundrecht des Schutzes der Persönlichkeit" 16 . Der Referentenentwurf von 1954 war i n seinen §§ 85 ff. also bald nach seinem Erscheinen praktisch obsolet geworden, weil er noch einer Rechtsauffassung folgte, mit der das Gericht bewußt brechen wollte. I n der Frage des Ersatzes immaterieller Schäden vertrat der B G H weiterhin die Auffassung des Reichsgerichts 17 . Zwar w i r d eingeräumt, daß die Verletzung von Persönlichkeitsrechten Ersatzansprüche auslösen könne, der immaterielle Schaden sei dagegen nicht zu ersetzen, „ w e i l hier keiner der Fälle vorliegt, in denen das Gesetz den Anspruch eigens darauf erstreckt" 18 .
12 Vgl. RefE 1954 S. 209. is Vgl. RefE 1954 S. 229. 14 Vgl. B G H Z 13, 334 (Leserbrief). 15 So B G H Z 13, 334 (338). 16 So B G H Z 15, 249 (257). 17 So i n B G H Z 20, 345 (Paul Dahlke). 16 So B G H Z 20, 345 (352).
1. Judikatur und Gesetzesentwürfe zum Persönlichkeitsschutz
93
b) Das Persönlichkeitsrecht in den Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentages Die Verhandlungen des 42. Deutschen Juristentages am 13. und 14. September 1957, bei denen der Schutz des Privatlebens gegen Indiskretionen beraten wurde, bilden einen wichtigen Abschnitt i n der Entwicklung des Persönlichkeitsrechtes. Gutachter 19 und Referenten 20 vertraten übereinstimmend die Auffassung, daß — auch unter Berücksichtigung der jüngsten Rechtsprechung — das Privatleben nur ungenügend geschützt sei. Auch war man sich darin einig, daß nur eine Generalklausel gegen die unübersehbaren Möglichkeiten, die Persönlichkeit zu verletzen, ausreichenden Schutz gewähren könne 21 . I n der Frage, wieweit das positive Recht solche Verletzungen zu verhindern geeignet sei, ergaben sich jedoch Differenzen 22 . Bußmann vertrat i n seinem Gutachten die Ansicht, daß aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit eine zusätzliche Gesetzgebung wünschenswert sei 23 . Nipperdey hielt das geltende Recht für ausreichend. Er ermunterte den BGH, seine noch i n BGHZ 20, 345 vertretene Rechtsansicht aufzugeben und i n Zukunft Geldersatz für immateriellen Schaden zu gewähren, um den „Piraten" mit „empfindlich treffenden Schmerzensgeldzahlungen" das Handwerk zu legen 24 . § 253 BGB sei durch die A r t . 1 und 2 GG derogiert worden 2 5 . Larenz meinte demgegenüber, daß die vom B G H entwickelte Generalklausel nichts über die Sanktionsmittel aussagen könne. Er hielt die Forderung nach wirkungsvoller Sanktion für rechtspolitisch begründet, de lege lata aber nicht realisierbar 26 . Der Richter sei zwar aufgerufen, die Rechtsidee zu verwirklichen, doch gelte das gleiche für den Gesetzgeber, der die Grundsätze aufstellen müsse. Auf diesem arbeitsteiligen Zusammenwirken beruhe die Ordnung des Rechtsstaates27. Der Beschluß des Juristentages nannte die Frage der Entschädigung für immaterielle Schäden nach geltendem Recht „umstritten" und empfahl eine gesetzliche Regelung 28 . I n der Regierungserklärung vom
19 so 21 22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Bußmann, Gutachten zum 42. D J T Bd. I Tübingen 1957. Vgl. Larenz u n d Nipperdey, Verh. 42. D J T Bd. I I , S. D 3 ff. Vgl. Bußmann a.a.O. S. 76; Larenz a.a.O. S. D 37. Vgl. Nipperdey a.a.O. S. D 2 1 ; dagegen Larenz S. D 37. Vgl. Bußmann a.a.O. S. 76. So Nipperdey a.a.O. S. D 19. Vgl. Nipperdey a.a.O. S. D 21. Vgl. Larenz a.a.O. S. D 36. Vgl. Larenz a.a.O. S. D 38. Vgl. Verh. 42. D J T Bd. I I S. D 155.
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Teil II,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
29. Oktober 1957 wurde daraufhin eine entsprechende Gesetzesvorlage als „dringend notwendig" angekündigt 29 . c) Die Wendung in der Rechtsprechung des BGH Das am 18. Februar 1958 vom I. Zivilsenat des BGH erlassene „Herrenreiter-Urteil" 3 0 weist einen deutlichen Zusammenhang mit dem Beschluß des Juristentages auf. Es darf angenommen werden, daß die von Nipperdey m i t Verve vertretene Auffassung, unter dem Grundgesetz seien die Vorschriften, die einen Ersatz des immateriellen Schadens für Verletzungen des Persönlichkeitsrechts ausschlössen, unanwendbar, bislang vom BGH aufrechterhaltene Bedenken auszuräumen half. Der Senat schloß sich der Nipperdeyschen These freilich nicht uneingeschränkt an. Er verwies zwar zur Begründung seiner Entscheidung auf Prinzipien der Verfassung, erklärte jedoch den umstrittenen § 253 BGB nicht für verfassungswidrig. Statt dessen behalf sich der BGH mit einer Analogie zu § 847 BGB. Er argumentierte, dem Kläger sei durch die ungenehmigte Veröffentlichung seines Bildes „die Freiheit zur Selbstentschließung über seinen persönlichen Lebensbereich" genommen 31 . Eine solche „Freiheitsberaubung ,im Geistigen'" müsse die gleichen Rechtsfolgen bewirken wie die Entziehung der körperlichen Bewegungsfreiheit. Versage man hierfür einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens, so läge darin eine „nicht erträgliche Mißachtung" dieses Rechts 32 . Die Urteilsbegründung liest sich wie ein engagiertes Plädoyer für den Ausbau eines Persönlichkeitsschutzes mit wirkungskräftiger Sanktion. Sie ist deshalb begrüßt worden, wenngleich sich auch nachdrückliche K r i t i k an den vom B G H angewandten Methoden der Rechtsfortbildung erhob 33 . Insbesondere drei Fragenkreise erschienen durch das „Herrenreiter-Urteil" nicht hinreichend geklärt. Zum einen gab (und gibt) es in § 22 K u U r h G eine gesetzliche Regelung des Rechts am eigenen Bilde, dessen Verletzung eine Geldstrafe (§ 33) und eine Buße (§ 35 KuUrhG) nach sich ziehen konnte (und kann). Es war nicht ohne weiteres einleuchtend, die Sanktion dem Recht der unerlaubten Handlungen zu entnehmen. Zum anderen wurde § 253 BGB noch i n BGHZ 20, 345 (Paul Dahlke) als Analogieverbot gewertet. Der Hinweis, die frühere Rechtsprechung werde nicht aufrechterhalten, 29 30 31 32 33
v g l . Verh. des Dt. BTages 3. WP. Sten. Ber. Bd. 39, S. 21. B G H Z 26, 349. So B G H Z 26, 349 (356). So B G H 26, 349 (356). z. B. bei Larenz Anm. N J W 1958, S. 827.
1. Judikatur und Gesetzesentwürfe zum Persönlichkeitsschutz
95
konnte den Widerspruch zwischen Entscheidung und Wortlaut des Gesetzes nicht beseitigen. Überdies war die Analogie selbst angreifbar. Wenn der Kläger, wie der BGH annahm, i n seiner Entschließungsfreiheit beeinträchtigt war, so doch nur, weil er nicht über sein B i l d verfügen konnte, nachdem es bereits veröffentlicht war. Dem Kläger ging es demgegenüber darum, nicht der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, also um den Schutz seines Ansehens. Die Analogie zu § 847 BGB erwies sich zudem als zu eng, da ja andere Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts als die ungenehmigte Veröffentlichung eines Bildes nicht als „Freiheitsberaubung i m Geistigen" hätten angesehen werden können. Diese Erwägungen legen die Vermutung nahe, daß es sich i m „Herrenreiter-Urteil" um eine juristische Scheinbegründung handelt, die den eigentlichen Schritt der Rechtsfortbildung noch verdecken sollte. Denn immerhin hatte sich der B G H durch diese Entscheidung den Weg zu einer wirkungsvollen Sanktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts freigemacht. Er war damit den gesetzgeberischen Bemühungen vorausgeeilt 34 . I n der Zeit, als das Urteil erging, nahm gerade eine vom Bundesjustizminister eingesetzte Kommission, die Vorschläge zur Neuordnung des Persönlichkeitsschutzrechtes unterbreiten sollte, ihre Arbeit auf. d) Zusammenfassung
der Ergebnisse der Judikatur
Zum Zeitpunkt, als die Vorarbeiten für einen gesetzlichen Schutz der Persönlichkeit auf breiter Basis einsetzten, lagen folgende Ergebnisse der Rechtsprechung vor: — Das „allgemeine Persönlichkeitsrecht" war als „sonstiges Recht" i. S. des § 823 I BGB anerkannt. Eine Verletzung zog Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche nach sich (BGHZ 13, 334; 24,72; 24, 200). — Als besondere Ausprägungen dieses Rechts wurden angesehen: der Schutz von Briefen u n d vertraulichen Aufzeichnungen (BGHZ 13, 334; 15, 249); das Recht am eigenen Bilde, dessen systematischer Standort verändert wurde (statt §§ 22 ff. K u U r h G nunmehr § 823 B G B P u n d das vor Veröffentlichung (BGHZ 26, 349) u n d ungenehmigter Anfertigung (sog. „Bildniserschleichung" — B G H Z 24, 200) schützte u n d das Recht am gesprochenen Wort, das einen Schutz vor ungenehmigten Tonbandaufnahmen bewirkte (BGHZ 27, 284).
— Das allgemeine Persönlichkeitsrecht konnte durch öffentliche oder private Interessen eingeschränkt sein, die i m Streitfall nach dem 34 So Erdsiek N J W 1958, S. 1720. 35 So ausdrücklich B G H Z 26, 349 (357).
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Teil I I ,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
Prinzip der Güterabwägung zu berücksichtigen waren (BGHZ 13, 334; 15, 249; 24, 72 und 24, 200). — Die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts begründete einen Anspruch auf Ersatz auch des immateriellen Schadens, dessen Herleitung und Begrenzung zunächst noch unbestimmt blieben (BGH2 26, 349). e) Erste Bemühungen
um eine gesetzliche Lösung:
Der Referentenentwurf
von 1958
Der Ende September 1958 veröffentlichte, auf den Vorarbeiten der Kommission beruhende Referentenentwurf des Bundes justizministeriums (RefE 19 58) 36 übernahm weitgehend die Ergebnisse der Judikatur, sollte nach den Intentionen der Verfasser aber auch einer möglichen öffentlichkeitsfeindlichen Haltung der Gerichte entgegenwirken und den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens begrenzen 37 . Das nunmehr i n den §§ 12 ff. BGB angesiedelte Persönlichkeitsschutzrecht bestand nach dem Entwurf aus einer Generalklausel (§12 BGBRefE 1958: „Wer widerrechtlich einen anderen i n seiner Persönlichkeit beeinträchtigt, ist i h m zur Beseitigung der Beeinträchtigung verpflichtet.") und einer beispielhaften Aufzählung von Einzeltatbeständen (§§ 13 bis 20 BGB-RefE 1958). Diese gewährten Schutz vor — Namensmißbrauch (§ 13), — unzulässiger Anfertigung und Verbreitung von Bildern (§ 14), — unberechtigter Aufnahme und Verbreitung des gesprochenen Wortes (§ 15), — Abhörvorrichtungen und ähnlichen die Intimsphäre verletzenden technischen Mitteln und — Veröffentlichung von Briefen und vertraulichen Aufzeichnungen (§ 17). Der RefE 1958 enthielt weiterhin Bestimmungen über Beleidigung und nicht erweisliche Tatsachenbehauptungen. Behauptungen über das Privatleben eines anderen sollten nicht als Verletzung des Persönlichkeitsrechts gelten, wenn ein schutzwürdiges Interesse, insbesondere an „angemessener Unterrichtung" der Öffentlichkeit, vorläge (§19). Als Sanktion war ein Anspruch auf Beseitigung und Unterlassung der Beeinträchtigung vorgesehen (§12). Ferner gewährte § 8231 BGB in der Entwurfsfassung den Ersatz des Vermögensschadens, der als Folge bestimmter Beeinträchtigungen (§ 18) durch den eingefügten § 252 a 36 Abgedruckt i n Z V u Z V 1958, S. 949 ff. 37 Vgl. Erdsiek N J W 1958, S. 1720 f.
1. Judikatur u n d Gesetzesentwürfe zum Persönlichkeitsschutz
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BGB widerleglich vermutet wurde. § 847 BGB wurde i m Entwurf ebenfalls geändert. Ersatz des immateriellen Schadens konnte hiernach bei allen Persönlichkeitsbeeinträchtigungen gefordert werden, vorausgesetzt daß Naturalrestitution oder Genugtuung nicht möglich sein würden. Unerhebliche Beeinträchtigungen sollten außer Betracht bleiben. f) Der Referentenentwurf
im Streit der Meinungen
Die innenpolitische Szene i m Jahr 1958 war durch eine heftige Diskussion über Inhalt und Grenzen der Pressefreiheit gekennzeichnet 38 . M i t dem Entwurf zum 5. StRÄndG hatte die Regierung es unternommen, der um sich greifenden Sensationsberichterstattung der Presse Einhalt zu gebieten 39 . Herabwürdigende Äußerungen über das Privatleben fremder Staatsoberhäupter sollten hiernach ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt strafbar sein (§ 103 a StGB-E 5. StRÄndG). Diese sog. „lex Soraya" scheiterte nach erbitterten Auseinandersetzungen i n der Öffentlichkeit 4 0 am 18. J u l i 1958 i m Bundesrat 41 . Die Presse sah den Referentenentwurf zur Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes nun als Versuch an, die Pressefreiheit mittels einer „lex Soraya für jedermann" 4 2 einzuschränken 43 . Der Deutsche Presserat und betroffene Verbände kritisierten vor allem die Generalklausel des Entwurfs und die Unbestimmtheit der Einzeltatbestände 44 . Man vermißte zudem eine Anerkennung der „öffentlichen Aufgabe" der Presse. Die Zeitungen und Zeitschriften bildeten gegen den RefE 1958 eine geschlossene Front 4 5 . Der vorgesehene Persönlichkeitsschutz wurde als „Maulkorbgesetz" 46 apostrophiert und die Zukunft freier Berichterstattung i n düsteren Farben gezeichnet. Die Mitglieder der vom Justizminister eingesetzten Kommission erklärten daraufhin i n einer öffentlichen Stellungnahme, daß sie lediglich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Gesetzesform übernommen hätten und verwiesen zudem auf den Beschluß des Juristentages 47 . 38 Vgl. z. B. Frankenfeld Z V u Z V 1958, S. 1 ff. 3» Vgl. BRat Drucks. 181/58. 40 Vgl. z.B. die Pressestimmen i n Z V u Z V 1958, S. 424 ff.; 477 ff. 41 Vgl. BRat StenBer. 1958, S. 172 ff. 42 So Z V u Z V 1958, S. 983. 43 Vgl. zum Grundtenor der Berichterstattung E. E. Hirsch S. 10 f., 16 f. und 18 ff. 44 Vgl. Z V u Z V 1958, S. 951 u. 984 ff. 45 Vgl. die Beispiele bei E. E. Hirsch S. 10 ff. 46 Vgl. Z V u Z V 1958, S. 1027. 47 Vgl. B u l l e t i n Nr. 198 (v. 24.10.1958), S. 1966. 7 Ipsen
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Teil II,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
I m juristischen Schrifttum schloß sich eine umfangreiche Diskussion an 4 8 . Hierbei war die Auffassung herrschend, daß der Entwurf rechtspolitisch notwendig und i n seiner Konzeption sachlich richtig sei 49 . Freilich zweifelte man gelegentlich an der Opportunität eines Gesetzes50. Daraus sprach die schon bei den Beratungen des Juristentages ausgesprochene Ansicht, daß richterrechtliche und gesetzgeberische Regelung des Persönlichkeitsschutzes weitgehend austauschbar seien. g) Änderungen des Referentenentwurfs und Scheitern der gesetzlichen Regelung Die Änderungsbemühungen der Presseverbände waren frühzeitig erfolgreich 51 . Die Regierungsvorlage vom 19. August 1959 (RegE 1959)52 bescheinigte i n ihrem § 14 I I BGB Presse und Rundfunk nunmehr ein berechtigtes Interesse, „wenn sie im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe die Öffentlichkeit unterrichten oder K r i t i k üben". Die Konzeption des Referentenentwurfs wurde jedoch beibehalten. Die Amtliche Begründung nennt die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze geltendes Recht, verweist aber darauf, daß „die Rechtsprechung noch nicht genügend ins allgemeine Bewußtsein gedrungen (ist), um eine gesetzliche Regelung überflüssig zu machen" 53 . Der Gesetzgeber könne sich der ihm durch Art. 1 GG auferlegten Pflicht nicht entziehen. Seine Sache sei es, die i n den Gerichtsentscheidungen enthaltenen Grundgedanken i n das geschriebene Recht zu übersetzen und die notwendigen Grenzen zu ziehen. Es w i r d betont, daß alle behandelten Fragen sich auch ohne gesetzliche Regelung stellten, der Entwurf also keine neuen Probleme schaffe, sondern nur dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit diene 54 . Auch i n den Einzelvorschriften nimmt der Entwurf jeweils Bezug auf die einschlägige Rechtsprechung 55 . Der RegE 1959 war i n gleichem Maße Gegenstand der politischen Auseinandersetzung wie der Referentenentwurf aus dem Vorjahr. Man mag 48
Aus dem k a u m zu übersehenden Schrifttum seien n u r genannt: E. E. Hirsch, Maulkorb für die Presse, 1959; Weitnauer N J W 1959, S. 313 ff.; Reinhardt JZ 1959, S. 41 ff.; Löffler N J W 1959, S. 1 ff. 49 So alle zitierten Autoren außer Löffler. so So z. B. Reinhardt J Z 1959, S. 46. 51 Vgl. Z V u Z V 1958, S. 1028. 52 BTag Drucks. III/1237. 53 Vgl. BTag Drucks. III/1237 S. 7. 54 Vgl. BTag Drucks. III/1237 S. 8. 55 Vgl. z. B. BTag Drucks. III/1237 S. 7 u. 9.
1. Judikatur und Gesetzesentwürfe zum Persönlichkeitsschutz
99
es auf den geschlossenen Widerstand der Presse zurückführen, daß die Vorlage keine Aussichten hatte, i m Parlament verabschiedet zu werden 5 6 . h) Weitere Entwicklungen
in der Judikatur
des BGH
Unterdessen wurde die Rechtsprechung des B G H zum Persönlichkeitsschutz fortgesetzt und ausgebaut. I n der Entscheidung BGHZ 35, 363 (Ginseng-Wurzel) folgte die Auseinandersetzung m i t § 253 BGB, die man i m „Herrenreiter-Urteil" durch die vorgeschobene Analogie noch umgangen hatte. Der Senat schließt sich inhaltlich der Nipperdeyschen These an, daß das Grundgesetz mit seiner starken Betonung der Menschenwürde eine Sanktion verlange, die geeignet sei, die Respektierung des Personenwerts des einzelnen zu sichern 57 . Abgesehen von dieser nachgelieferten verfassungsrechtlichen Begründung setzt sich der B G H erstmals eingehend mit den näheren Voraussetzungen des Anspruchs auf Ersatz des immateriellen Schadens auseinander. Er übernimmt den i n den Entwürfen zu § 847 BGB enthaltenen Subsidiaritätsgedanken, daß nämlich ein solcher Ersatz nur i n Frage komme, wenn der Schaden auf andere Weise nicht auszugleichen sei5®. Außerdem stellt das Gericht ähnlich wie die Gesetzesentwürfe (§ 847 BGB i m RefE 1958 und RegE 1959) auf die Schwere der Beeinträchtigung, insbesondere den Verschuldensgrad, ab. Die Einschränkungen werden damit begründet, daß der Tatbestand der Persönlichkeitsverletzung „generalklauselartig" sei und ein Geschäft mit dem Persönlichkeitsrecht verhindert werden solle 59 . I m sog. „Fernsehansagerin-Fall" (BGHZ 39, 124) baut das Gericht die Judikatur noch aus. Die grundgesetzlich gewährte Pressefreiheit w i r d gegen das Persönlichkeitsrecht abgegrenzt. Der Senat betont, die Presse habe eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen. Deshalb komme ein Ersatz des immateriellen Schadens nur bei „schwerwiegenden Ubergriffen" i n Betracht 60 . Eine einseitige Privilegierung der Presse w i r d jedoch verneint. Zur Kompetenzfrage führt der B G H aus, daß die Rechtsprechung i m Vergleich zu früheren Auffassungen nunmehr eine größere Freiheit gewonnen habe und der Schutz der Persönlichkeit ihrer Stellung nicht wesensfremd sei 61 . se 57 58 59 60 61 7*
Vgl. Wiese S. 16. So B G H Z 35, 363 (367 f.). Vgl. B G H Z 35, 363 (369). So B G H Z 35, 363 (368). So B G H Z 39, 124 (133). Vgl. B G H Z 39, 124 (133).
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Teil II,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
i) Der Referentenentwurf
von 1967
Der vorläufig letzte Versuch einer gesetzlichen Regelung des Persönlichkeitsschutzes wurde mit dem „Referentenentwurf zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften" vom Januar 1967 unternommen 6 2 . Der Entwurf verzichtet auf eine detaillierte Normierung des Persönlichkeitsrechts und sieht statt dessen nur eine Neufassung der §§ 823 1 und 847 BGB vor, in die das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Schutzgut aufgenommen wird. Beeinträchtigungen sollen einen Anspruch auf Ersatz des Nichtvermögensschadens begründen. Der Gesetzgeber würde mit diesem Entwurf nur die Ermächtigung für die richterrechtliche Lösung der Persönlichkeitsproblematik nachholen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Versuche einer gesetzlichen Regelung i n den verschiedenen Phasen der Rechtsentwicklung inhaltlich aus der Judikatur des Bundesgerichtshofs abgelesen werden konnten. Die Begründungen der Gesetzesentwürfe gingen demgemäß davon aus, daß nur „geltendes Recht" i n „geschriebenes Recht" umzusetzen sei. Die Beurteilung der Rechtsprechung ist bis heute kontrovers geblieben 63 . Einer der Mitverfasser des Kommissionsentwurfs von 1958 meint rückblickend, daß das Scheitern des Entwurfs „ i m Ergebnis vielleicht gar nicht so zu bedauern ist. I m Grunde sind diese Fragen i n den Händen der Judikatur besser aufgehoben" 64 . Demgegenüber erhebt sich K r i t i k daran, daß „fünf Richter . . . Grundsätze mit rechtlichem Geltungsanspruch aufgestellt hatten, die das Parlament, als der berufene Gesetzgeber, aus politischen Gründen nicht in Gesetzesform zu gießen für opportun hielt" 6 5 . 2. Die Bestätigung der Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht durch das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht hatte auf Grund einer Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, die sich gegen ein vom B G H bestätigtes Urteil richtete, durch das der Beschwerdeführer zum Ersatz des Nichtvermögensschadens wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts (er hatte ein erfundenes Interview veröffentlicht) verpflichtet wurde 6 6 . 62
Veröffentl. vom Bundes Justizministerium Bonn 1967. Vgl. z. B. Göldner S. 233 f. u n d Giesen N J W 1971, S. 801. 64 So v. Caemmerer, Festschr. v. Hippel S. 33. 65 So H. J. Hirsch JR 1966, S. 340 f. 66 Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1222 f. 63
2. Persönlichkeitsrechtsprechung u n d Bundesverfassungsgericht
101
Der Beschwerdeführer rügt u. a., daß er i n seinem Grundrecht aus Art. 2 1 GG i. V. m. Art. 20 I I GG verletzt sei, weil das Gericht sich in verfassungswidriger Weise die Befugnisse des Gesetzgebers angemaßt habe. Die Judikatur des B G H sei contra legem entwickelt worden, denn der Ersatz des immateriellen Schadens sei für den vorliegenden Fall weder unmittelbar noch i m Wege der Analogie dem BGB zu entnehmen. Aus der „rechtspolitischen Wünschbarkeit" eines Schutzes der Persönlichkeit folgten nicht schon die Mittel zu seiner Durchsetzung. Das Bundesverfassungsgericht betont, es habe nicht nachzuprüfen, ob die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die Ausformung einer Sanktion „zivilrechtlich möglich und geboten" gewesen sei 67 . Aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel sei lediglich zu fragen, ob auch ohne eindeutige Grundlage i m Gesetz ein Anspruch auf Ersatz des Nichtvermögensschadens habe gewährt werden können 68 . Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß das Recht i. S. des Art. 20 I I I GG mehr bedeute als die Gesamtheit der Gesetze, unter Umständen sogar dem geschriebenen Rechtssatz gegenüber als Korrekt i v zu wirken vermöge 69 . Aufgabe der Rechtsprechung sei es nicht lediglich, Gesetze in den Grenzen ihres Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden; zum Wesen der richterlichen Tätigkeit gehöre es auch, Wertvorstellungen, die i m geschriebenen Recht nicht enthalten seien, „ i n einem A k t des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und i n Entscheidungen zu realisieren" 70 . Eine solche in „schöpferischer Rechtsfindung" getroffene Entscheidung müsse auf rationaler Argumentation beruhen. Insbesondere sei einsichtig zu machen, warum ein Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem zu lösen, nicht erfülle 7 1 . Gegenüber einer Kodifikation wie dem BGB habe der Richter notwendig eine gewisse Freiheit zur schöpferischen Fortbildung des Rechts. Die gesellschaftlich-politischen Anschauungen und sozialen Verhältnisse hätten sich während seiner Geltungszeit so stark gewandelt, daß der Richter einem möglichen Konflikt zwischen gesetzlicher Norm und materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen nicht mit dem Hinweis auf den unveränderten Gesetzeswortlaut begegnen könne, wolle er seine Aufgabe, „Recht" zu sprechen, nicht verfehlen 72 .
67 68 69 70 71 72
Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1224. Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1224. So BVerfG N J W 1973, S. 1225. So BVerfG N J W 1973, S. 1225. Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1225. So BVerfG N J W 1973, S. 1225.
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Teil II,
. Kap.: Gesetzeskoriierendes Richterrecht
Diese Aufgabe habe der B G H mit der Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfüllt. Die Rechtsprechung habe sodann vor der Frage gestanden, ob sie die Lücke, die sich i m Hinblick auf die Sanktion auftat, selbständig schließen oder ein Eingreifen des Gesetzgebers abwarten sollte 73 . Die Verhandlungen des Juristentages und die Begründung des RegE 1959 hätten ein starkes Bedürfnis nach wirksamer Sanktion für die Verletzung des Persönlichkeitsrechts erkennen lassen 74 . Den methodisch-dogmatischen Einwänden stehe die Auffassung einer Mehrheit von Autoren gegenüber, die die Judikatur dogmatisch für unbedenklich halte. Die Rechtsprechung des B G H widerspreche folglich nicht offensichtlich den Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik und biete deshalb keinen Anlaß zu verfassungsrechtlicher Beanstandung 75 . Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts war es auch nicht geboten, eine gesetzliche Regelung abzuwarten. Die Gesetzesentwürfe seien gescheitert, „ohne daß ein gesetzgeberischer Wille erkennbar geworden wäre, es bei dem bisherigen Rechtszustand zu belassen" 76 . Dem Richter sei kein Vorwurf daraus zu machen, daß er nicht auf eine „noch ganz ungewisse künftige Intervention des Gesetzgebers" vertraue 7 7 . Die vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätze seien mithin legitimer Bestandteil der Rechtsordnung. Das Gericht habe sich vom geschriebenen Gesetz „nur i n dem zur Rechts Verwirklichung i m konkreten Fall unerläßlichen Maße entfernt" 7 8 . Obwohl i h m diese Möglichkeit offengestanden hätte, habe der B G H den § 253 BGB nicht für verfassungswidrig erklärt, sondern das Enumerationsprinzip unangetastet gelassen und lediglich die Erstattung des immateriellen Schadens i n einem zusätzlichen Fall für gegeben erachtet 79 . Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, daß die richterliche Gesetzeskorrektur andere Probleme aufwirft als die vorausgegangenen Beispiele richterlicher Rechtsbildung. Zum einen geht es um die Frage, wieweit der Richter an alte Gesetze gebunden ist. Hier w i r d zu erörtern sein, ob die „sibyllinische Formel" 8 0 des Art. 20 I I I GG es gestattet, das „Recht" gegen das „Gesetz" ins Feld zu führen. Damit hängt das vom Bundesverfassungs73 74 75 76 77 78 79 so
So BVerfG N J W 1973, S. 1226. Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1226. So BVerfG N J W 1973, S. 1226. So BVerfG N J W 1973, S. 1226. So BVerfG N J W 1973, S. 1226. So BVerfG N J W 1973, S. 1226. Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1226. So Enneccerus/Nipperdey I § 51 I I 4 b, S. 318.
2. Persönlichkeitsrechtsprechung u n d Bundesverfassungsgericht
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gericht nur am Rande berührte Problem zusammen, ob die richterliche Korrektur eines Gesetzes auch i n anderer Weise als den grundgesetzlich vorgeschriebenen Verfahren der Normenkontrolle erfolgen kann. Schließlich w i r d man es nicht bei der Aussage belassen können, dem Richter sei kein Vorwurf zu machen, wenn er gesetzliche Regelungen nicht abwartet, sondern prüfen müssen, ob der Rechtsprechung für den Fall, daß Gesetzgebungsvorhaben scheitern, eine A r t Reservefunktion zukommt 8 1 , wie das Bundesverfassungsgericht sie i n Umrissen erkennen läßt 8 2 .
si Vgl. hierzu Kubier JZ 1969, S. 650. 82 Die Entscheidung des B V e r f G ist überwiegend kritisch aufgenommen worden. Vgl. n u r Menger V e r w A r c h 65 (1974), S. 195 u n d Knieper ZRP 1974, S. 137 ff.
4. Kapitel Gesetzeskonkurrierendes Richterrecht Zu den bislang herausgearbeiteten Typen richterlicher Rechtsbildungen t r i t t eine vierte Kategorie hinzu, die zwar eine gewisse Nähe zum gesetzeskorrigierenden Richterrecht aufweist, sich i m Ergebnis und der verfassungsrechtlichen Fragestellung aber deutlich von ihm abhebt. Ging es bei der judiziellen Gesetzeskorrektur darum, daß der Richter gesetzliche Wertungen, die mit gegenwärtigen Gerchtigkeitsvorstellungen nicht vereinbar erscheinen, durch eigene ersetzt, so ist das Vorgehen i n den Fällen gesetzeskonkurrierenden Richterrechts ein anderes. Der Richter entscheidet nicht gegen den Wortlaut des Gesetzes, sondern modifiziert gesetzgeberische Normierungen, weil sie seiner Auffassung nach mit übergeordneten Rechtsgrundsätzen zu kollidieren drohen. Diese Annahme liegt nahe, wenn der Regelungsgegenstand ursprünglich durch die Rechtsprechung normiert wurde, eine spätere Gesetzgebung aber von den judiziell entwickelten und möglicherweise als verfassungsrechtlich verbindlich angesehenen Grundsätzen abweicht. Versucht die Rechtsprechung i n einem solchen Falle, die richterrechtliche gegen die gesetzliche Regelung durchzusetzen, so zeichnet sich ein Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Gewalten ab, das verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, die sich i n den bereits erörterten Beispielen richterlicher Rechtsbildungen noch nicht gestellt haben. 1. Erstes Beispiel: Die Rechtsprechung des BGH zum Bewertungsstichtag für die Enteignungsentschädigung nach dem Bundesbaugesetz a) Verfassungsrechtliche
Ausgangslage
Die Konzeption des A r t . 14 I I I GG war i m Parlamentarischen Rat kontrovers. Der Herrenchiemseer Entwurf sah in Anlehnung an Art. 153 WRV vor, daß eine Enteignung nur „gegen angemessene Entschädigung" statthaft sei (Art. 17). Der Grundsatzausschuß ersetzte diesen Vorschlag durch die Formulierung, A r t und Ausmaß der Entschädigung seien „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und des Betroffenen festzusetzen" 1 . i Vgl. hierzu B K (Kimminich) A r t . 14 S. 4 f.
. Die Rechtsprechung des B G H zu
e e r u s
105
Diese Fassung behauptete sich in den Verhandlungen des Hauptausschusses. Ein Antrag, Art. 14 I I I GG dahingehend zu ändern, daß vom Grundsatz der vollen Entschädigung nur abgewichen werden dürfe, „wenn das unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und des Betroffenen dringend geboten erscheint" 2 — also eine Subsidiaritätsklausel —, wurde abgelehnt 3 . Auch dem Plenum des Parlamentarischen Rates lagen Anträge vor, die auf eine Änderung des Entwurfs abzielten, sei es, daß der Begriff der „angemessenen Entschädigung" wieder eingeführt werden sollte 4 oder ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen „angemessener Entschädigung" und „gerechter Interessenabwägung" gefordert wurde 5 . Diese Anträge hatten jedoch keinen Erfolg. I n der Literatur war zunächst noch der Eindruck lebendig, der Verfassungsgeber sei mit Art. 14 I I I GG einen neuen Weg gegangen6 und habe dem Gesetzgeber für die Enteignungsentschädigung ein größeres Ermessen eingeräumt als Art. 153 WRV 7 . Gegenläufige Tendenzen wurden frühzeitig sichtbar. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts betonte man, der Begriff der „Angemessenheit" i n Art. 153 WRV habe eine ähnliche Umschreibung erfahren wie i n Art. 14 I I I GG; die Rechtslage sei also unverändert 8 . Weiterhin wurde ausgeführt, daß die von Art. 14 I I I GG geforderte „gerechte" Entschädigung immer eine angemessene sein müsse9. Schließlich findet sich die Auffassung, daß die Interessenabwägung und damit das gesetzgeberische Ermessen nur auf die A r t der Entschädigung, nicht aber auf das Ausmaß zu beziehen sei. Für die quantitative Fixierung des Ausgleichs bestehe kein gesetzgeberischer Spielraum 1 0 . Kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verneint bereits eine „herrschende Meinung" ein über Art. 153 WRV hinausgehendes Ermessen des Gesetzgebers und verwendet weiterhin den Begriff der „angemessenen Entschädigung" 11 . I n der neueren Kommentarliteratur w i r d deshalb
2 Vgl. PRDrucks. Nr. 402. 3 Vgl. HAStenoBer. S. 578 ff. 4 Vgl. PRDrucks. Nr. 864; vgl. auch PRStenoBer. S. 178. s Vgl. PRDrucks. Nr. 770. 6 Vgl. v. Mangoldt, BGG, 1. Aufl. 1953, A r t . 14 Anm. 5; Dittus/Zinkahn, B a u L B G Einl. S. 30. ' Vgl. Maunz StaatsR 1. Aufl. 1951, S. 108; B K (Abraham) Erstbearb. Art. 14 S. 9. s So etwa v. Mangoldt/Klein B G G 2. Aufl. 1957, Art. 14 Anm. V I I 9 b. 9 So Giese, GG 2. Aufl. 1951, A r t . 14 Anm. 8. 10 So W. Weber, Grundrechte I I , S. 392 f. 11 Vgl. die Literaturangaben bei W. Weber, Grundrechte I I , S. 393 und v. Mangoldt/Klein a.a.O.
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s k o n k r i e n d e s Richterrecht
die Fassung des Art. 14 I I I GG als „ i n der Praxis ohne Bedeutung" gekennzeichnet 12 . b) Der Bewertungsstichtag in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Das Reichsgericht hatte mangels ausdrücklicher Bestimmungen in den Landesenteignungsgesetzen der Weimarer Zeit den Grundsatz entwickelt, daß für die Bemessung der Entschädigung der Zeitpunkt maßgebend sei, in dem der Entschädigungsfeststellungsbeschluß zugestellt wurde. Spätere Ereignisse, die nicht in der Beschaffenheit des Grundstücks lägen, seien bei der Entschädigung nicht zu berücksichtigen 1 3 . Diese ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde vom B G H zunächst ausdrücklich übernommen 14 . Später modifizierte der Bundesgerichtshof seine Auffassung mit der Begründung, die Entschädigung solle dem Enteigneten einen „angemessenen Wertausgleich" gewähren 15 und ihn i n die Lage versetzen, sich gleichwertigen Ersatz zu verschaffen 16 . Das könne er jedoch nicht, wenn die Entschädigung von der Enteignungsbehörde „objektiv" zu niedrig festgesetzt worden sei. Der Betroffene sei i n einem solchen Fall gezwungen, den Rechtsweg zu beschreiten, u m einen angemessenen Ausgleich zu erreichen. Deshalb müsse bei falscher administrativer Entschädigungsfeststellung die letzte Tatsachen Verhandlung als Bewertungsstichtag gelten 17 . „Gegenüber Bedenken, diese Verschiebung des f ü r die Berechnung der angemessenen Entschädigung maßgeblichen Zeitpunkts erschwere die Arbeit der Enteignungsbehörde, belaste das zur Zahlung der Entschädigung verpflichtete Gemeinwesen m i t zunächst unbekannten Risiken und Ausgaben u n d leiste spekulativen Prozessen Vorschub, ist folgendes zu bemerken: Höher als solche Bedenken steht das Gebot der Verfassung, daß der E n t eignete i n jedem Falle die angemessene Entschädigung zu erhalten hat; zur Verwirklichung dieses Gebotes ist jene Verschiebung des f ü r die Berechnung der Entschädigung maßgeblichen Zeitpunkts nötig. Daneben w i r k t sie einer gelegentlich zutage tretenden Tendenz der öffentlichen Hand entgegen, Grund und Boden i m Wege der Enteignung möglichst b i l l i g zu erwerben; die Enteignung ist zwar das Institut zur zwangsweisen Beschaffung eines zur Bewältigung einer öffentlichen Aufgabe nötigen, w e i l anderweit nicht zu erwerbenden oder zu ersetzenden, konkreten Gutes gegen angemessene Entschädigung, aber nicht das Mittel, u m sich ein konkretes Gut unter Einsatz der Hoheitsmacht des Staates billiger zu verschaffen, als es auf dem freien
12 So B K (Kimminich) Zweitbearb. A r t . 14 Rdn. 137. 13 14 15 16 17
Std. Rspr. vgl. RGZ 131, 125 (128). Vgl. B G H Z 12, 357 (374); 13, 378 (389). So B G H Z 14, 106 (109); 25, 225 (231). Vgl. B G H Z 25, 225 (230). Vgl. B G H Z 25, 225 (230); 26, 373; 29, 217 (220); 30, 281 (284).
. Die Rechtsprechung des B G H zu
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M a r k t seinem allgemeinen Verkehrswert entsprechend angeboten w i r d u n d erworben werden k a n n 1 8 . "
c) Die Modifikation der Entschädigungsregelungen von BauLBG und BBauG durch die Rechtsprechung des BGH Diese Rechtsprechung mußte mit den Bestimmungen des Baulandbeschaffungsgesetzes vom 3. August 195319 kollidieren. I n der Begründung des Gesetzentwurfs (zu diesem Zeitpunkt noch „Zweites Wohnungsbaugesetz" genannt) wurde darauf hingewiesen, daß das Gesetz die reichsgerichtliche Judikatur zum Bewertungsstichtag fixieren solle 20 . § 9 I I I BauLBG sah demgemäß vor, daß für die Bemessung der Entschädigung der Zustand des Grundstücks in dem Zeitpunkt maßgebend sei, i n dem die Enteignungsbehörde entscheide. Für die Höhe des Ausgleichs bestimmte § 10 I I BauLBG, die Entschädigung dürfe den zum Zeitpunkt der Enteignung i m gewöhnlichen Geschäftsverkehr zu erzielenden Preis nicht übersteigen. Der Bundesgerichtshof ging nun bei der Erörterung des § 10 I I BauLBG von der Voraussetzung aus, daß „der Gesetzgeber . . . i m Baulandbeschaffungsgesetz hinsichtlich der Entschädigung eine Regelung treffen (wollte), die der Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG entspricht" 2 1 . Da dem verfassungsrechtlichen Entschädigungsgebot nur genügt sei, wenn ein Zustand herbeigeführt werde, der der vor der Enteignung bestehenden Vermögenslage entspreche, sei § 10 I I BauLBG auf den Regelfall zugeschnitten, in dem die Behörde die Entschädigung richtig festgesetzt habe 22 . Von der „Zielsetzung des Gesetzes aus betrachtet und verfassungskonform richtig ausgelegt" 23 stehe § 10 I I BauLBG der Rechtsprechung des B G H nicht entgegen, den Zeitpunkt der letzten Tatsachen Verhandlung für maßgeblich zu befinden. Das Bundesbaugesetz übernahm in seinem § 95 I die Regelung des BauLBG 2 4 : „Maßgebend ist der Verkehrswert in dem Zeitpunkt, in dem die Enteignungsbehörde über den Enteignungsantrag entscheidet." Der B G H hatte sich erneut mit der Ansicht auseinanderzusetzen, daß seine bisherige Rechtsprechung unter dem neuen Gesetz keinen Bestand mehr haben könne. Er führt aus, der Gesetzgeber habe lediglich den vom Reichsgericht und B G H entwickelten Grundsatz zum Bewertungs18 19 20 21 22 23 24
So B G H Z 26, 373 (357). Vgl. BGBl. I S. 720. Vgl. BTagDrucks. 1/2281, S. 21. So B G H Z 31, 244 (252). Vgl. B G H Z 31, 244 (253). So B G H Z 31, 244 (253). Vgl. BTagDrucks. III/336.
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s k o n k r i e n d e s Richterrecht
Stichtag gesetzlich festlegen wollen 2 5 . Es ergäbe sich kein Anhaltspunkt dafür, daß mit § 95 I BBauG auch die Rechtsprechung des BGH in Frage gestellt werden sollte, eine solche Vorschrift finde nur für den Fall „richtiger" Entschädigungsbemessung Anwendung. Da aber dem Gesetz eine Abwendung von der Rechtsprechung nicht zu entnehmen sei, könne offen bleiben, ob es bei einer derartigen Intention überhaupt mit Art. 14 GG zu vereinbaren wäre 2 6 . d) Kritische
Würdigung
der Rechtsprechung zum Bewertungsstichtag
Zunächst ist festzustellen, daß es der B G H trotz gewandelter Verfassungsrechtslage 27 versäumte, die reichsgerichtliche Judikatur zur Enteignungsentschädigung neu zu überdenken und statt dessen — freilich mit Unterstützung der Literatur 2 8 — dem Art. 14 I I I GG den Begriff der „angemessenen Entschädigung" substituierte, von dem der Verfassungsgeber bewußt abgewichen war. Die vom Bundesgerichtshof i n Abkehr von der Rechtsprechung des RG vollzogene Differenzierung zwischen „richtiger" und „falscher" Entschädigungsfeststellung 29 wurde gleichwohl als verfassungsrechtlich gefordert ausgegeben 30 . Die gesetzlichen Bestimmungen des BauLBG, die den vom Reichsgericht aufgestellten Grundsatz zum Bewertungsstichtag fixierten, wurden „verfassungskonform richtig ausgelegt" 31 und damit der Judikatur des B G H angeglichen. Der BGH setzte seine Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Entschädigungsfeststellung auch gegen die Regelung des BBauG durch und begründete dies mit der Erwägung, es sei nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber von der Rechtsprechung habe abweichen wollen. Für den Fall, daß eine solche Intention dem Gesetz zugrunde liege, sei dessen Verfassungsmäßigkeit zweifelhaft 32 . Der BGH betrachtet seine Rechtsprechung zum Bewertungsstichtag also als „Verfassungsrecht" und mißt hieran die Normierung des Gesetzgebers. Er t r i t t jedoch nicht in die verfassungsrechtliche Erörte-
25 So B G H Z 43, 300 (306). 26 So B G H Z 43, 300 (306). 27 So vor allem das BVerfG 24, 367 (421): „Eine starre, allein am M a r k t wert orientierte Entschädigung ist somit dem GG fremd. Es t r i f f t auch nicht zu, daß den Enteigneten stets das ,volle Äquivalent f ü r das Genommene gegeben werden muß'. Der Gesetzgeber k a n n je nach den Umständen vollen Ersatz, aber auch eine darunterliegende Entschädigung bestimmen." 28 Nach Bender S. 217 hat die h. L. die Bedeutung des Art. 14 I I I GG „zunächst verkannt". 29 Vgl. hierzu die K r i t i k von Maury DVB1.1958, S. 816. 30 Vgl. B G H Z 25, 225 (230); 26, 373 (375). 31 So B G H Z 31, 244 (253). 32 Vgl. B G H Z 43, 300 (306).
2. Die Rechtsprechung des B G H zur Dauer der Bausperre
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rung ein, sondern gleicht die strittige Gesetzesvorschrift den von ihm entwickelten Grundsätzen an und stellt die Verfassungswidrigkeit als nicht entfernte Möglichkeit dar. Es mag zweifelhaft sein, worin dieses Beharrungsvermögen der Rechtsprechung gegenüber einer gesetzlichen Regelung begründet ist. Möglicherweise nimmt das Gericht für ursprünglich judiziell entwikkelte Grundsätze auch dann die Urheberschaft und eine gewisse Dispositionsbefugnis i n Anspruch, wenn sie i n Gesetzesform übernommen werden. Immerhin zeigt dieses Beispiel, daß ein Wandel des Verfassungs- und einfachen Gesetzesrechts keineswegs einen Neubeginn auch für die Rechtsprechung bedeuten muß, das Gericht vielmehr i n eine deutlich empfundene Konkurrenz zum Gesetzgeber t r i t t 3 3 . Es w i r d zu prüfen sein, ob das Grundgesetz den Richter tatsächlich i n die Lage versetzt, ein „Spannungsverhältnis" zwischen vorgängiger Rechtsprechung und nachfolgender Regelung anzunehmen 34 , das wiederum durch die Judikatur — etwa mittels verfassungskonformer Auslegung — zu lösen ist 3 5 . 2. Zweites Beispiel: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Dauer der Bausperre (Veränderungssperre) Nach Art. 14 GG können Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt werden, eine entschädigungslose Enteignung ist jedoch unzulässig. I m Schrifttum bestand — auch vor Inkrafttreten des BBauG — Einigkeit darüber, daß eine aus Planungsgründen verhängte Bausperre (erst das BBauG führte den Terminus „Veränderungssperre" ein) grundsätzlich nur den Inhalt des Eigentums bestimmte 36 . Offen war die Frage, unter welchen Umständen die Bausperre zur entschädigungspflichtigen Enteignung werde 3 7 . 33 Vgl. aber die späteren K o r r e k t u r e n i n B G H Z 44, 52 (58) und B G H N J W 1967, S. 2011. I n B G H Z 44, 52 (58) w i r d ausgeführt, daß eine Wertsteigerung für den A n t e i l nicht auszugleichen sei, der durch die Zahlung oder das A n gebot der Entschädigung gedeckt werde. Hier liege der Stichtag fest; insofern gebe es mehrere Stichtage. I n N J W 1967, S. 2011 ergänzt der BGH, daß die angebotene Entschädigung, auch wenn sie objektiv zu niedrig sei, niemals als Teilleistung zu qualifizieren sei u n d m i t h i n nicht abgelehnt werden könne. Den i n früheren Entscheidungen geäußerten Gedanken, daß die Entschädigung den Betroffenen grundsätzlich den Erwerb eines vergleichbaren Grundstücks ermöglichen müsse, nennt der Senat nunmehr n u r „bildhaft". Deutlich ist, daß durch die oben skizzierte Entscheidung weitere Prozesse geradezu herausgefordert wurden, w e i l der B G H Rechtssätze ganz allgemeiner A r t aufstellte. 34 So Pagendarm, Festschr. Riese S. 355 ff. 35 So Pagendarm, Festschr. Riese S. 356; kritisch Dieterich DÖV 1966, S. 850 ff. 36 Vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg § 18 Rdn. 1. 37 Vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg § 18 Rdn. 1.
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s k o n k r i e n d e s Richterrecht
a) Das „Stuttgarter
Bausperrenurteil"
Der Bundesgerichtshof lehnte es i m sog. „Stuttgarter Bausperrenu r t e i l " 3 8 ab, die Dauer einer Bausperre, auf die die Aufbaugesetze der Länder zumeist abstellten, als maßgebendes K r i t e r i u m zur Abgrenzung von Inhaltsbestimmung des Eigentums und Enteignung anzusehen. Die Dauer habe nur Indizwirkung 3 9 . Endgültigen Aufschluß über die Abgrenzung von Inhaltsbestimmung und Enteignung könne nur die causa einer Bausperre geben. Hierbei unterscheidet der BGH zwischen engerer Teilplanung und überörtlichen Planungen. Erstere solle die Bebaubarkeit von Grundstücken ermöglichen. Deshalb sei die zur Sicherung der Planung verhängte Bausperre für die Grundeigentümer kein Nachteil, sondern ein Vorteil, der aus der Beschränkung auch des eigenen Grundstücks erwachse 40 . Die engere Teilplanung liege wegen ihrer Intentionalität grundsätzlich i m Rahmen von Inhaltsbestimmung und Sozialbindung des Grundeigentums. Bei der gesamtstädtischen und überörtlichen Planung bringe dagegen die vorübergehende Beschränkung nicht die erwähnten unmittelbaren Vorteile mit sich 41 . Die Anlage weiträumiger Verkehrsadern, größerer Plätze und Grünflächen, der Bau von Bundesfernstraßen und öffentlichen Gebäuden diene einer weiteren Allgemeinheit und dürfe deshalb nicht auf Kosten einzelner Grundeigentümer verwirklicht werden 4 2 . Bausperren, die zur Sicherung überörtlicher Planung verhängt würden, bewirkten ein zu entschädigendes Sonderopfer. Gesetze, welche eine Entschädigungspflicht für derartige Bausperren ausschlössen, seien verfassungswidrig 43 . Das BVerwG vertrat demgegenüber den Standpunkt, daß für die Inhaltsbestimmung des Eigentums stets Interessen der Allgemeinheit schlechthin maßgebend seien und deshalb die vom B G H vorgenommene Differenzierung dem geltenden Recht fremd sei 44 . Es gebe i m modernen Städtebau keine Planung, die sich auf ein Teilgebiet beschränke. Insofern werde auch dann die „Bebaubarkeit" einzelner Grundstücke intendiert, wenn sie i n die Gesamtplanung einbezogen würden. Vom Standpunkt des einzelnen Grundeigentümers könne es überdies keinen Unterschied machen, ob er seine Bauabsichten wegen örtlicher oder gesamtstädtischer Planungen zurückstellen müsse 45 . 38 39 40 41 42 43 44 45
B G H Z 15, 268. Vgl. B G H Z 15, 268 (282). Vgl. B G H Z 15, 268 (283). So B G H Z 15, 268 (284). Vgl. B G H Z 15, 268 (285). So B G H Z 15, 268 (285). So B V e r w G 4, 120 (122). So B V e r w G 4, 120 (123).
2. Die Rechtsprechung des B G H zur Dauer der Bausperre
b) Das „Freiburger
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Bausperrenurteil"
I m sog. „Freiburger Bausperrenurteil" 4 6 ergänzt der BGH die vom Großen Senat zur Enteignung aufgestellten Grundsätze („Sonderopfertheorie") durch die Erwägung, daß Einschränkungen des Grundeigentums auch aus der „Natur", insbesondere der konkreten Lage des Grundstücks folgen könnten 4 7 . Diese i m „Stuttgarter Bausperrenurteil" angedeutete, später weiterentwickelte „Pflichtigkeitstheorie" 48 läßt das Gericht bei der Frage, wann eine Bausperre zur Enteignung werde, zu folgenden Grundsätzen gelangen: — Aus der Situationsgebundenheit des Grundstücks ergeben sich Beschränkungen seiner Nutzbarkeit, die dem Eigentümer aber keine i h m zustehenden Befugnisse entziehen, sondern nur die Schranken des Eigentums fixieren. — Die Bauplanung ist eine solche sich aus der Natur der Sache ergebende Schranke. — U m eine Planung zu ermöglichen, ist das Institut der Bausperre notwendig, das sich somit auch als „natürliche" Schranke des Grundeigentums darstellt 4 9 . — „Eine Bausperre, die ihre Wurzeln nicht i n der Notwendigkeit hat, die ,örtlichkeit 4 i n diesem Sinne baureif zu machen, ist nicht mehr aus der örtlichen Belegenheit, nicht mehr aus der Situationsgebundenheit herzuleiten, sondern nur aus weiteren Zusammenhängen 50 ." Der B G H räumt ein, daß Planungen zugleich örtlichen und überörtlichen Zwecken dienen können. I n einem solchen Fall sei zu fragen, ob die Bausperre auch unter dem Gesichtspunkt örtlicher Erschließung hätte verhängt werden können, denn nur dann korrespondierten Vorund Nachteile für den einzelnen Grundeigentümer 51 . Eine solchermaßen zulässige Bausperre ist nach Auffassung des BGH jedoch nur für einen begrenzten Zeitraum rechtmäßig: „Die umfangreichen Erfahrungen seit dem Jahre 1948, die Erörterungen i n der öffentlichen Diskussion, das Material aus zahlreichen Prozessen, die Bausperren betrafen, lehren, daß eine Bauplanung unter dem beschränkten Gesichtspunkt der Aufschließung eines verhältnismäßig kleinen Bereichs selbst unter außergewöhnlich schwierigen Verhältnissen bei einer von der Verwaltung zu fordernden Anspannung ihrer Kräfte und bei der gebotenen 46 47 48 49 so 51
B G H Z 30, 338. So B G H Z 30, 338 (342 ff.). Vgl. B G H Z 23, 30 („Grünflächenurteil"). Vgl. B G H Z 30, 338 (345). So B G H Z 30, 338 (346). Vgl. B G H Z 30, 338 (347).
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s k o n k r i e n d e s Richterrecht
Umsicht u n d intensiven Bearbeitung innerhalb von drei Jahren zu Ende geführt werden k a n n 5 2 . "
Das Gericht beruft sich auf zahlreiche Aufbaugesetze und zieht den Schluß: „Soweit demnach eine Bausperre länger als drei Jahre aufrechterhalten w i r d , handelt es sich stets u m einen entschädigungspflichtigen Eingriff i n das Eigentum 5 3 ."
c) Die Regelung des Bundesbaugesetzes Als das „Freiburger Bausperrenurteil" erlassen wurde, lag bereits der Entwurf zum Bundesbaugesetz vor 5 4 . § 22 EBBauG setzte die zulässige Dauer einer „Veränderungssperre" auf fünf Jahre fest. M i t deutlicher Blickrichtung auf das „Stuttgarter Bausperrenurteil" und i n Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerwG wurde in der Begründung des Entwurfs ausgeführt, daß eine differenzierte Behandlung der Veränderungssperren nach ihrem Zweck — Sicherung örtlicher oder gesamtstädtischer Planung — der städtebaulichen Praxis nicht gerecht werden könne. K r i t e r i u m für die Abgrenzung von Sozialbindung des Eigentums und Enteignung sei vielmehr die Intensität des Eingriffs, die in der Dauer der Beschränkung zum Ausdruck komme 5 5 . Erst nach kontroversen Beratungen über die vertretbare Dauer einer Veränderungssperre fand sich die heute geltende Fassung des § 18 BBauG, derzufolge nach Ablauf von vier Jahren eine Entschädigung zu leisten ist. d) Das „Spannungsverhältnis" zwischen Judikatur und gesetzlicher Regelung Der Bundesgerichtshof hat — soweit ersichtlich — zum Gegensatz zwischen seiner Auffassung und der Regelung des BBauG bisher nicht Stellung genommen. Die Äußerungen Pagendarms 56 lassen freilich erkennen, daß i m zuständigen Senat Bedenken gegen § 18 BBauG erhoben wurden. Pagendarm geht mit der Rechtsprechung des BGH davon aus, daß sich die Abgrenzung von Enteignung und Inhaltsbestimmung des Eigentums unmittelbar aus der Verfassung ergebe 57 : 52
So B G H Z 30, 338 (347 f.). 53 So B G H Z 30, 338 (348). 54 BTagDrucks. III/336. 55 Vgl. A m t l . Begründung BTagDrucks. III/336, S. 67. sc Vgl. Pagendarm, Festschr. Riese S. 355 ff. und B G H L M Art. 14 (Ce) GG Nr. 26 Anm. Pagendarm. S7 Vgl. Pagendarm Anm. zu B G H L M A r t . 14 (Ce) GG Nr. 26.
2. Die Rechtsprechung des B G H zur Dauer der Bausperre
113
„ . . . was Enteignung ist, regelt A r t . 14 u n d k a n n nicht durch einfaches Gesetz bestimmt werden; sonst würde die verfassungsmäßige Eigentumsgarantie durch den Gesetzgeber modifiziert u n d teilweise u m ihre W i r k u n g gebracht werden könnenss."
§ 18 BBauG könne i n zweierlei Weise ausgelegt werden. Zum einen lasse er sich dahin interpretieren, daß eine Veränderungssperre grundsätzlich erst nach vier Jahren zur Enteignung werde. Zum anderen bestehe die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber es offenlassen wollte, wann die Veränderungssperre enteignend wirke, nach vier Jahren aber auf jeden Fall eine Entschädigung gewähren wolle, gleichviel, ob eine Enteignung vorliege oder nicht 5 9 . Pagendarm räumt ein, daß Wortlaut und Entstehungsgeschichte für die erste Auslegung sprächen. Sie sei aber mit Art. 14 GG kaum zu vereinbaren. Für die zweite Möglichkeit spreche deshalb der Grundsatz, daß Gesetze verfassungskonform auszulegen seien 60 . Pagendarm führt aus, daß die dem Grundeigentümer auferlegten Beschränkungen i n einem sinnvollen Verhältnis zu den Vorteilen stehen müßten, die er aus der Aufschließung seines Grundstücks ziehe. Sei dieses „angemessene Verhältnis" gestört, was bei einer länger als drei Jahre dauernden Veränderungssperre naheliege, so werde das Eigentum in seinem Wesensgehalt angegriffen. Der Verfasser deutet an, daß der Begriff des „angemessenen Verhältnisses zwischen Vorund Nachteilen" möglicherweise das Spannungsverhältnis zwischen der Judikatur des B G H und der Regelung des § 18 BBauG lösen könne 6 1 : „Es bleibt abzuwarten, in welcher Richtung die Entscheidungen, die letztlich vom B G H als dem nach Art. 14 GG für Enteignung zuständigen Gericht zu treffen sind, ergehen werden 6 2 ."
e) Reaktionen des Schrifttums auf die Divergenz ziuischen Judikatur und §18 BBauG I m Schrifttum zweifelt man an der Vereinbarkeit zwischen § 18 BBauG und Art. 14 GG. Dem einen erscheint es schon bedenklich, daß sich der Gesetzgeber über die Rechtsprechung des B G H „hinweggesetzt" hat 6 3 : eine vierjährige Veränderungssperre sei ohne Entschädi-
58 59 60 61 62 63
So B G H Z 27, 15 (20); 30, 338 (340). Vgl. Pagendarm Anm. zu B G H L M Art. 14 (Ce) GG Nr. 26. v g l . Pagendarm a.a.O. So Pagendarm, Festschr. Riese S. 359. So Pagendarm A n m . zu B G H L M A r t . 14 (Ce) GG Nr. 26. So Schütz/Frohberg § 18 S. 116.
8 Ipsen
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Teil II,
. Kap.: G e s e t z e s k o n k r i e n d e s Richterrecht
gung verfassungswidrig 64 . A n anderer Stelle w i r d die Frage aufgeworfen, ob die Regelung des BBauG „ i m Hinblick auf die Grundsätze des B G H mit Art. 14 GG vereinbar" sei 65 . Verschiedene Autoren stellen fest, daß die Gerichte an die Entscheidung des Gesetzgebers nicht gebunden seien 66 , und folgen damit der Auffassung des BGH, der einfache Gesetzgeber könne nicht über die Abgrenzung von Enteignung und Inhaltsbestimmung des Eigentums befinden 67 . Freilich werden auch Bedenken laut, ob die vom Bundesgerichtshof getroffene Unterscheidung zwischen örtlicher und überörtlicher Planung „ i n das Gesetz hineininterpretiert" 6 8 werden könne. Diesen, kritischen Stellungnahmen stehen Äußerungen gegenüber, die eine stärkere Bindung der Rechtsprechung an die Normierungen des einfachen Gesetzgebers verfechten und nur dem Bundesverfassungsgericht eine größere Freiheit gegenüber dem Gesetz zugestehen wollen 6 9 . Auch konstatiert man, daß die Verfassung die Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums dem Gesetzgeber übertrage, das Gericht also nachweisen müsse, daß nur eine dreijährige Veränderungssperre mit A r t . 14 GG vereinbar sei 70 . Dazu finden sich pragmatische Äußerungen: es sei nicht zu befürchten, daß die Gerichte den Gesetzgeber desavouieren oder das Gesetz korrigieren würden, weil es „ i n den kritischen Punkten vorwiegend auf die obergerichtliche Rechtsprechung der letzten zehn Jahre gegründet wurde" 7 1 . 3. Verfassungsrechtliche Probleme gesetzeskonkurrierenden Richterrechts Die erörterten Beispiele haben gezeigt, daß eine gesetzliche Regelung sich i m Einzelfall nicht ohne weiteres gegen eine festgefügte Rechtsprechung durchzusetzen vermag, daß vielmehr ein Spannungsverhältnis zwischen judizieller und gesetzlicher Normierung besteht, wenn die Judikatur aus der Verfassung begründet wird. Dieses Beharrungsvermögen, das sich bald als echte Funktionenkonkurrenz erweist, w i r f t drei verschiedene Fragen auf, die alle Spezifizierungen der allgemeinen verfassungsrechtlichen Kompetenzproblematik sind. 64 v g l . Schütz/Frohberg § 18 S. 116. 65 Vgl. Schrödter § 18 A n m . 2. 66 So Wambsganz/Zinkahn N J W 1960, S. 1322. 67 Vgl. Ernst/Zinkahn/Bielenberg § 18 Rdn. 7. 68 So Ernst/Zinkahn/Bielenberg § 18 Rdn. 9. 69 v g l . Dittus, Einführung S. 20. 70 So Stich JuS 1961, S. 350. 71 So Dittus, Einführung S. 20; ähnlich Forsthoff
DÖV 1955, S. 196.
3. Gesetzeskonkurrierendes Richterrecht und Grundgesetz
115
— Wenn der B G H ausführt, die Abgrenzung von Inhaltsbestimmung des Eigentums und Enteignung könne nicht durch einfaches Gesetz vorgenommen werden, sondern folge aus der Verfassung 72 , so w i r d damit das Problem berührt, welche Aussagen der Verfassung zu entnehmen sind. Da der B G H mit dieser Auffassung die Zuständigkeit zur Verfassungsinterpretation allein für sich i n Anspruch nimmt, muß geklärt werden, wie das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt sich bei Interpretation und Konkretisierung der Verfassung darstellt. — Der BGH berief sich auf Material aus zahlreichen Prozessen, um darzutun, daß eine dreijährige Dauer für eine Bausperre ausreichend sei 73 . Hiermit w i r f t er die Frage auf, woher die Gerichte die Informationen bekommen, die schließlich i m Gewand von Grundsätzen — etwa dem des „angemessenen Verhältnisses" — zur Modifizierung eines Gesetzes führen. — I n beiden erörterten Fällen war von verfassungskonformer Auslegung die Rede 74 . Es fragt sich nun, wieweit dieser Grundsatz reicht bzw. ab welcher Schwelle das Gericht seine verfassungsrechtlichen Bedenken nur i m Normenkontrollverfahren geltend machen kann.
72 So B G H Z 30, 338 (340). 73 Vgl. B G H Z 30, 338 (347 f.). 74 Vgl. nur B G H Z 31, 244 (253). 8*
Dritter
Teil
Verfassungsrechtliche P r o b l e m e des R i c h t e r r e c h t s 1. Kapitel G r u n d l e g e n d e Verfassungsnormen als A n k n ü p f u n g s p u n k t e f ü r die Z u o r d n u n g v o n gesetzgebender u n d rechtsprechender F u n k t i o n Die Intention des Verfassungsgebers, mit dem Grundgesetz einen Rechtsstaat zu etablieren, i n dem die Beachtung des Verfassungsrechts gesichert und kontrollierbar ist 1 , hat das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt nicht unberührt gelassen. I m einzelnen ist freilich unklar, wie das Grundgesetz die Organe der Gesetzgebung und Rechtsprechung einander zuordnet. Man hat gemeint, der Richter habe eine „ungeahnte Überhöhung" über die anderen Staatsfunktionen erfahren 2 , und noch i n neuester Zeit w i r d die Auffassung vertreten, der Vorrang der Verfassung werde durch einen „Funktionsvorrang des Richters gegenüber dem Gesetzgeber" 3 gewährleistet. Träfe diese Bewertung des Verhältnisses von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt zu, so ergäben sich bei der Ausbildung von Richterrecht verfassungsrechtliche Probleme nur i n geringem Maße. Die judizielle Rechtsbildung könnte, namentlich wenn sie auf die Verfassung gestützt wird, am Funktionsvorrang der Rechtsprechung teilhaben. Damit wäre das hier noch empfundene Kompetenzdefizit des Richters ausgeglichen. Es ist aber zweifelhaft, ob das Grundgesetz der Rechtsprechung eine Vorrangstellung gegenüber der gesetzgebenden Gewalt einräumen w i l l . Der i m Vergleich zur Weimarer Verfassung zu verzeichnende Funktionszuwachs der Rechtsprechung muß nicht sogleich eine Überhöhung über den Gesetzgeber bedeuten; jedoch ergeben sich aus dem Vergleich zur Weimarer Verfassung die verfassungsrechtlichen Normen, auf die die These vom Funktionsvorrang gestützt wird. Dazu gehören die 1
Hierzu Rauschning, Verfassungssicherung bes. S. 15 ff. 2 So Maunz/Dürig/Herzog A r t . 19 I V Rdn. 6. 3 So Göldner S. 169.
1. Die Bindung des Richters an „Gesetz und Recht"
117
Bindung des Richters an „Gesetz und Recht" (Art. 20 I I I GG), die unmittelbare Geltung der Grundrechte (Art. 1 I I I GG) und die Rechtsweggarantie (Art. 19 I V GG). Diese Bestimmungen sind daraufhin zu untersuchen, welches Verhältnis sie zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung konstituieren. Art. 92 GG verspricht demgegenüber keine i n diesem Zusammenhang bedeutsame normative Aussage. Es läßt sich zwar die Ansicht vertreten, daß durch diese Vorschrift die von den Gerichten traditionell i n Anspruch genommenen Kompetenzen — auch zur Rechtsfortbildung — verfassungskräftig festgelegt sind. Der Umfang dieser Kompetenzen, insbesondere die Frage, ob sie i m Einzelfalle zur Gesetzeskorrektur berechtigen, läßt sich aus dem Begriff „Rechtsprechung" jedoch nicht ableiten. Ähnlich wie der bereits erörterte Versuch, das „Wesen" der Rechtsprechung zu bestimmen, kann der i n Art. 92 GG enthaltene Begriff nur eine Zusammenfassung der Kompetenzen, m i t h i n Ergebnis, nicht Ausgangspunkt dieser Untersuchung sein. 1. Die Bindung des Richters an „Gesetz und Recht" (Art. 20 I I I GG) Die Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht" (Art. 20 I I I GG) erscheint manchem als Schlüssel zu der verfassungsrechtlichen Problematik des Verhältnisses von Richterrecht und Gesetzesrecht und damit der Zuordnung beider Staatsgewalten. I n der Tat läßt sich vermuten, daß eine verständige Auslegung der i n Art. 20 I I I GG genannten Begriffe eine Vielzahl der aufgeworfenen Probleme lösen kann 4 . Nun gibt es kaum Begriffe des juristischen Sprachgebrauchs, die so verschiedener Interpretation zugänglich wären wie „Gesetz" und „Recht". Die interpretatorischen Bemühungen führen deshalb gelegentlich dazu, dem Art. 20 I I I GG ganze rechtsphilosophische Systeme zu substituieren und vorzugeben, daß der Begriff „Recht" exakt diese i h m unterlegte Bedeutung habe 5 . Eine solche Auslegung kann nicht belegt werden, läßt den Interpreten nurmehr als „Deuter" von Grundsätzen6 erscheinen und muß deshalb hier vernachlässigt werden. Aber auch jenseits solcher überzeichnenden Interpretationen ergibt sich ein nuancenreiches B i l d von Meinungen 7 . 4 So Achtmann S. 47 u. 130 ff. u n d nunmehr BVerfG N J W 1973, 1225; vgl. auch Birke S. 9 ff. 5 So etwa Darmstädter N J W 1957, S. 769 ff.; vgl. auch Kaufmann, Festschr. Wolf S. 362 ff. 6 So Starck, Gesetzesbegriff S. 282. 7 Vgl. die Übersicht bei Starck, Gesetzesbegriff S. 37 ff., Schnorr AöR 85 L960), S. 124 ff. u n d Birke S. 9 ff.
118
Teil I I I , 1. Kap.: Die Zuordnung von Richter u n d Gesetzgeber
a) Lehrmeinungen
zur Auslegung des Art. 20 III GG
Gelegentlich w i r d die Formel des Art. 20 I I I GG als Tautologie begriffen. „Recht" und „Gesetz" bedeuten hiernach das gleiche. Es ist kein Rang zwischen beidem festgelegt, nur eine differenzierte sprachliche Form für die richterliche Gesetzesgebundenheit gewählt worden 8 . Andere verstehen unter „Gesetz" das geschriebene, unter „Recht" das ungeschriebene Recht. Gesetz und Recht stehen nach dieser Auffassung nicht i m Gegensatz zueinander; das (ungeschriebene) Recht vermag aber i m Einzelfall das Gesetz zu verdrängen 9 . Dazu w i r d der Versuch unternommen, Gesetz und Recht als verschiedene Elemente eines Oberbegriffs zu interpretieren. „Gesetz" soll „Positivität ohne Wertgehalt", „Recht" dagegen „Wertgehalt ohne Positivität" sein 10 . Oberbegriff ist demnach das i n Art. 97 GG genannte „Gesetz", das Wertgehalt und Positivität vereine 11 . Eine verbreitete Meinung nimmt an, daß das i n Art. 20 I I I GG niedergelegte Begriffspaar eine Absage an den Positivismus bedeute 12 . Es solle ausgedrückt werden, daß ein Gesetz nicht seiner Positivität wegen Recht zu sein brauche. Dem Richter sei damit aber keine naturrechtliche oder freirechtliche Judikatur gestattet, Art. 20 I I I GG rufe ihn lediglich dazu auf, ein „Unrechtsbewußtsein" gegenüber dem Gesetz zu entwickeln 1 3 . Bemerkenswert ist die von Schnorr vertretene Ansicht, daß Art. 20 I I I GG nicht einen, sondern verschiedene potentielle Bedeutungsgehalte habe 14 . Gesetz und Recht könnten in einem subsidiären, kumulativen oder alternativen Verhältnis zueinander stehen. Art. 20 I I I GG bedeute für den Rechtsanwender zunächst, daß er, wenn das „Gesetz" fehle, subsidiär nach dem „Recht" zu entscheiden habe, nämlich der Summe von Kunstregeln, die die Jurisprudenz zur Lückenfüllung und Rechtssatzergänzung entwickelt habe 15 . „ K u m u l a t i v " stehen Gesetz und Recht zueinander, wenn man nach der Rechtsquelle fragt: „Gesetz" bedeutet das kraft staatlicher Macht erzeugte Recht, „Recht" dagegen jede s So Jahrreiß N J W 1950, S. 3 ff.; Schräder, Recht — Staat — Wirtschaft I I I , S. 84 f.; vgl. auch Ebsen S. 48 ff. 9 Vgl. Bettermann, Grundrechte III/2, S. 531 ff. 10 So v. Mangoldt/Klein A r t . 20 Anm. V I 4 f. n So v. Mangoldt!Klein Art. 20 A n m . V I 4 f. is Vgl. Maunz!Dürig!Herzog A r t . 20 Rdn. 72; Maunz, StaatsR §111; B K (Wernicke) Art. 20 S. 10; Enneccerus!Nipperdey I § 51 I I 4 b, S. 318; Badura S. 55. is So Maunz!Dürig!Herzog A r t . 20 Rdn. 72. 14 Vgl. Schnorr AöR 85 (1960), S. 129 ff. is Vgl. Schnorr AöR 85 (1960), S. 129.
1. Die Bindung des Richters an „Gesetz und Recht"
119
andere Rechtsnorm, namentlich das Gewohnheitsrecht 16 . Ein Verhältnis der Alternativität ist gegeben, wenn das Gesetz der Rechtsidee widerspricht 17 . b) Kritische
Würdigung
der
Lehrmeinungen
Für die hier skizzierten Lehrmeinungen lassen sich jeweils gute und vernünftige Gründe anführen. Freilich ist keiner der Lösungsversuche zweifelsfrei. Die „tautologische Interpretation" vernachlässigt die historische Situation des Verfassungsgebers, i n der offenbar mehr als ein „besonders feierlicher Pleonasmus" 18 nahelag. Gegen die „kumulative" Auslegung mag eingewendet werden, daß der Begriff des Gesetzes sich herkömmlich nicht auf das geschriebene Recht beschränkt, sondern jede Rechtsnorm umfaßt. Der etwas konstruktivistisch anmutende Versuch, den Begriff „Gesetz" aus Art. 97 GG i n Elemente zu zerlegen, die i n Art. 20 I I I GG enthalten seien, begegnet schon systematischen Bedenken, denn offenbar ist Art. 20 I I I GG die Grundsatzbestimmung (Art. 79 I I I GG). Man könnte nun die Gründe für und wider die einzelnen Auffassungen einander gegenüberstellen, sie auf ihre Plausibilität untersuchen und dann der einleuchtendsten Auslegung des Art. 20 I I I GG den Vorzug geben. Das aber würde nichts anderes bedeuten, als daß nunmehr auch die Frage des Verhältnisses von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt i n Art. 20 I I I GG hineinprojiziert würde, obwohl gar nicht hinreichend deutlich ist, daß dieser Grundsatz überhaupt etwas über die Zuordnung beider Gewalten aussagt. Man kann zwar das Begriffspaar „Gesetz und Recht" auch als Chiffre für die kompetenzrechtliche Zuordnung von Gesetzgebung und Rechtsprechung begreifen, doch müßte angesichts der Unbestimmtheit der Begriffe, die gewisse Freiheiten für den Interpreten mit sich bringt, zuvor nachgewiesen sein, daß i n dem Grundsatz des Art. 20 I I I GG auch die Lösung zu suchen ist. Schnorr hat zutreffend ausgeführt, daß der „Ubelstand" der Lehrmeinungen zu A r t . 20 I I I GG darin liegt, daß ganz unterschiedliche Fragen gestellt und diesem Grundsatz entsprechende Antworten entnommen werden 1 9 . Die dem Art. 20 I I I GG zur Lösung aufgegebenen Probleme entspringen jeweils einem bestimmten Erwartungshorizont. Wem das Verhältnis von Gesetz und Rechtsidee, von geschriebenem und ungeschriebenem Recht, von Naturrecht und positivem Recht proble16 17 is is
Vgl. Schnorr AöR 85 (1960), S. 133. Vgl. Schnorr AöR 85 (1960), S. 134. So Schnorr AöR 85 (1960), S. 123. So Schnorr AöR 85 (1960), S. 128.
1 2 0 T e i l I I I , 1. Kap.: Die Zuordnung von Richter und Gesetzgeber
matisch erscheint, der w i r d eben diese Probleme an Art. 20 I I I GG herantragen, weil der Begriff „Recht" die Lösung zu signalisieren scheint 20 . Genauso steht es mit dem Problem des Richterrechts. Eine justizfreundliche Richtung w i r d stärker die Rechtsgebundenheit, eine exekutiv- oder legislativfreundliche Auffassung eher die Gesetzgebundenheit des Richters betonen 21 . Die sich aus solcher Grundhaltung ergebende Fragestellung zielt auf ein Rangverhältnis zwischen Gesetz und Recht und damit zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt ab. Ob aber Art. 20 I I I GG ein Verhältnis unterschiedlichen Wertes zwischen Gesetz und Recht festlegt, erscheint zweifelhaft. Diese Zweifel werden bestärkt, wenn man Art. 20 I I I GG i m Zusammenhang mit den anderen i n Art. 20 GG niedergelegten Verfassungsgrundsätzen sieht. c) Art 20 III GG als Ausdruck beschränkter
Staatsgewalt
A r t . 201 GG legt die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen fest: das Demokratieprinzip, das Sozial- und Bundesstaatsprinzip. Art. 20 I I GG enthält den Grundsatz der Volkssouveränität und ordnet an, daß die Funktionen der Staatsgewalt von verschiedenen Organen wahrgenommen werden und konstituiert damit den Grundsatz der Gewaltenteilung. Art. 20 I I I GG bestimmt nun, wie die Staatsfunktionen ausgeübt werden: alle Staatsgewalt ist an Gesetz und Recht gebunden. Die Träger staatlicher Gewalt stehen unter dem Recht und sind deshalb nicht frei i n ihrem Handeln. M i t dieser Auslegung w i r d die Bedeutung des Art. 20 I I I GG i m Grundsätzlichen gesehen. Dafür läßt sich anführen, daß Art. 20 GG allgemein nur große Linien festlegt und keine Detailweisungen enthält. Man mag einwenden, daß eine solche Interpretation des Art. 20 I I I GG nur etwas Selbstverständliches enthalte; dieser Einwand wäre aber nur stichhaltig, wenn dargelegt würde, daß diese Vorschrift mehr als eine Selbstverständlichkeit beinhalten muß. Der Vergangenheitsbezug des Grundgesetzes legt es nahe, i n Art. 20 I I I GG nur das gewissermaßen undifferenzierte Bekenntnis zum Rechtsstaat zu sehen und den Akzent auf die Bindung an Gesetz und Recht als Ausdruck beschränkter Staatsgewalt zu legen 22 . W i r d Art. 20 I I I GG i n dieser Weise auf das rudimentär Rechtsstaatliche zurückgeführt, so bleiben sämtliche an diesen Grundsatz üblicherweise herangetragenen Probleme unerledigt. Der naheliegende Vorwurf, daß die durch diese Vorschrift aufgeworfenen Fragen dadurch umgan20
Ähnlich schon Wieacker, Gesetz S. 7. 21 Z u diesen Schulen vgl. Kriele S. 27 ff. u n d Starck, Gesetzesbegriff S. 282. 22 Vgl. Badura S. 55,
2. Die unmittelbare Geltung der Grundrechte
121
gen und nicht beantwortet werden, wäre allerdings erst berechtigt, wenn nachgewiesen würde, daß keine Verfassungsnormen existieren, die einen deutlicheren Rechtsgehalt als Art. 20 I I I GG aufweisen und aus denen sich gesichertere Aussagen über das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt gewinnen lassen. Ein Beispiel möge das verdeutlichen. Aus dem Bundesstaatsprinzip ergibt sich eine Fülle von Folgeproblemen. Es muß geklärt sein, wie die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern abzugrenzen sind, welche Formen der Konfliktslösung bestehen und wie das Steueraufkommen verteilt wird. A l l diese Probleme sind i n Art. 20 I GG gewissermaßen latent vorhanden, sie werden aber natürlicherweise nicht durch das Bundesstaatsprinzip gelöst, sondern durch eine Vielzahl von Einzelvorschriften. Erst wenn eine aus der Bundesstaatlichkeit folgende Rechtsfrage nicht geregelt ist, greift man auf das Prinzip zurück, dem dann ein speziellerer Weisungsgehalt — etwa die Pflicht zum bundesund länderfreundlichen Verhalten — beigegeben wird. Genauso verhält es sich mit dem i n Art. 20 I I I GG niedergelegten Rechtsstaatsprinzip. Die Gesetzes- und Rechtsgebundenheit des Richters w i r f t verschiedene Fragen auf — etwa die, ob das „Recht" das „Gesetz" korrigieren kann —, die nicht durch das Prinzip beantwortet werden, deren Lösung vielmehr i n den einzelnen, i m Grundgesetz verstreuten Vorschriften über die Rechtsprechung zu suchen sind 2 3 . Das Verfassungsprinzip ist also nur eine A r t „allgemeiner Teil" der spezielleren Vorschriften des Grundgesetzes. Man würde den A r t . 20 I I I GG — wie alle anderen i n Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze — überfrachten, wollte man hier die Klärung detaillierter Verfassungsprobleme aufspüren 24 . Für die hier verfolgte Fragestellung, ob dem Grundgesetz, wie behauptet w i r d 2 5 , ein Funktionsvorrang des Richters gegenüber dem Gesetzgeber zu entnehmen ist, weisen bereits die Art. 1 I I I GG und 19 I V GG einen spezielleren Gehalt auf als Art. 20 I I I GG. 2. Die unmittelbare Geltung der Grundrechte (Art. 1 I I I GG) Nach der oben vertretenen Auffassung ermächtigt der Gesetzgeber den Richter durch Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe zu eigener Rechtsbildung. Der Gedanke liegt nahe, daß Art. 1 I I I GG m i t der Anordnung unmittelbarer Geltung der Grundrechte der 23 Ähnlich auch Schnorr AöR 85 (1960), S. 128 f. 24 Vgl. auch Schnorr S. 128 f. 25 Vgl. Göldner S. 169.
1 2 2 T e i l I I I , 1. Kap.: Die Zuordnung von Richter und Gesetzgeber
Rechtsprechung eine Fülle von Generalklauseln mit nahezu unbegrenztem Konkretisierungsspielraum an die Hand gibt und ihr es dadurch möglich macht, den Verfassungssatz gegen den Gesetzgeber auszuspielen. a) Auswirkungen
der unmittelbaren Grundrechtsgeltung auf das Kompetenzgefüge
Carl Schmitt hat für die Weimarer Verfassung die Ansicht vertreten, daß die „Aktualität der Grundrechte", verstanden als Anwendung durch Verwaltung und Rechtsprechung ohne Transformation des Gesetzgebers, geeignet sei, das überkommene gesetzesstaatliche Gefüge aus den Angeln zu heben 26 . Unter Berufung auf die höheren Normen der Verfassung würden die Rechtsanwendungsinstanzen den Gesetzgeber einengen und i m Falle der Kollision zwischen Gesetz und eigener Verfassungsauslegung letzterer den Vorrang geben 27 . Daß Verwaltung und Justiz verpflichtet sind, ein der Verfassung widersprechendes Gesetz nicht anzuwenden, steht für Carl Schmitt außer Zweifel. Problematisch sei es nur, welche Grundrechte einen hinreichend bestimmten Maßstab für die Prüfung eines Gesetzes an der Verfassung abgeben könnten. Eine generelle Vermutung für die unmittelbare Anwendbarkeit des zweiten Hauptteils der WRV würde „nichts anderes bedeuten als die Uberordnung von Justiz und Verwaltung über den einfachen Gesetzgeber" 28 . Hier scheint sich der Kreis zu schließen. Die Beispiele gesetzeskorrigierenden und gesetzeskonkurrierenden Richterrechts haben deutlich gemacht, daß Gerichte i n Einzelfällen ihre Normbildungen aus der Verfassung herzuleiten versuchen. Wenn sich auch die Judikatur des B G H zum Persönlichkeitsrecht gegen ein als veraltet empfundenes Gesetz richtete, so zeigte sich i n den Fällen gesetzeskonkurrierenden Richterrechts die Tendenz, die judizielle Konkretisierung des A r t . 14 GG selbst gegen den nachkonstitutionellen Gesetzgeber durchzusetzen 29 . Die sich hier abzeichnende Konkurrenz zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt wäre, sollte Carl Schmitts Auffassung von den kompetenziellen Auswirkungen der Geltung von Grundrechten auf das Grundgesetz übertragbar sein, durch Art. 1 I I I GG institutionalisiert. Verführerisch nahe liegt die Erwägung, daß die Rechtsprechung beim heutigen Stand der Dinge ihre verfassungsrechtlichen Möglichkeiten 26 Vgl. C. Schmitt, HdStR I I , S. 598 ff. 27 So C. Schmitt, HdStR I I , S. 598. 28 So C. Schmitt, HdStR I I , S. 598. 29 Bes. deutlich bei der Inanspruchnahme alleiniger kompetenz durch B G H Z 27, 15 (20); 30, 338 (340).
Konkretisierungs-
2. Die unmittelbare Geltung der Grundrechte
123
keineswegs ausgeschöpft hat und ein Mehr an verfassungsbezogener Rechtsbildung geradezu durch Art. 1 I I I GG gefordert wird. Diese Richtung scheint in der Tat Göldner einzuschlagen, wenn er von einem „umfassenden Grundsatz der richterlichen Verfassungsunmittelbarkeit" spricht 30 , der Gesetzgeber und Richter zu konkurrierenden Instanzen in der Konkretisierung der Grundrechte werden läßt 3 1 . Ob A r t . 1 I I I GG einen so weitgehenden Gehalt hat, ist freilich zu bezweifeln. b) Geltungsanordnung
kompetenzrechtlichen
der Grundrechte und Folgeprobleme
A r t . 1 I I I GG spricht zunächst aus, was für alle anderen Vorschriften der Verfassung selbstverständlich ist: die Grundrechte zählen zum geltenden Recht. Diese Geltungsanordnung ist nur aus der Diskussion der Weimarer Staatsrechtslehre über die „Aktualität" oder „Positivität" der Grundrechte verstehbar. Der Verfassungsgeber wollte seine A n t i zipationen nicht i m Ungefähren lassen, sondern in bindende Weisungen an die Träger der Staatsgewalt überführen, und hat deshalb die Weimarer Kontroverse 32 verfassungskräftig i m Sinne der Rechtsgeltung der Grundrechte entschieden. Aus der Geltungsanordnung folgt die Bindung aller Staatsorgane an die Grundrechte. Ähnlich wie Art. 20 I I I GG schränkt Art. 1 I I I GG die Staatsgewalt ein und legt sie auf die Beachtung der Grundrechte fest 33 . Kein A k t staatlicher Gewalt darf mithin ein Grundrecht verletzen. Die Bindung an die Grundrechte bezieht sich auf alle Träger der Staatsgewalt. Rechtsprechung und vollziehende Gewalt müssen diese Verfassungsnormen ebenso wie die Gesetzgebung zur Richtschnur ihres Handelns machen 34 . A n dieser Stelle kann noch keineswegs auf eine herausgehobene Stellung der Rechtsprechung geschlossen werden. Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung sind also in gleicher Weise „verfassungsunmittelbar" 35 . Erst die Frage, wer darüber entscheidet, ob die Bindung an die Grundrechte eingehalten worden ist, läßt in Art. 1 I I I GG die Kom30 So Göldner S. 31. 31 Vgl. Göldner S. 181 u. passim. 32 Vgl. C. Schmitt HdStR I I , S. 598 ff.; Anschütz S. 514 ff. 33 Vgl. dazu Hesse, Grundzüge S. 143. 34 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 143, Grundrechtsbeeinträchtigungen sind eben auch von S e i t e n der Rspr. denkbar; vgl. n u r BVerfG 7, 198 u n d 25, 256. 35 So auch Böckenförde S. 82.
124
Teil I I I , 1. Kap.: Die Zuordnung von Richter und Gesetzgeber
petenzproblematik deutlich werden. Wie bei Art. 20 I I I GG stellt sich bald heraus, daß es sich um Folgeprobleme der Geltungsanordnung handelt, die durch Art. 1 I I I GG nicht gelöst werden. Für das Verhältnis von Rechtsprechung und vollziehender Gewalt t r i f f t A r t . 19IV GG die Regelung. Die Prüfung, ob der Gesetzgeber die Grundrechte beachtet hat, erfolgt i n einem besonderen Verfahren der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Carl Schmitts Folgerungen aus der unmittelbaren Geltung von Grundrechten sind auf das Grundgesetz nicht übertragbar, weil die aus Art. 1 I I I GG folgenden Kompetenzprobleme durch besondere Verfahren, die freilich noch i m einzelnen zu behandeln sind, aufgefangen werden. Art. 1 I I I GG hat also die Tendenz, auf das Verhältnis der Funktionsträger einzuwirken, konstituiert aber noch keine Kompetenzen 36 . Die Befugnisse der Rechtsprechung zur Gesetzeskorrektur und zur „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" 37 werden sich an anderer Stelle erweisen müssen. 3. Die Rechtsweggarantie (Art. 19 I V GG) Die Rechtsweggarantie des Art. 19 I V GG w i r d i n der staatsrechtlichen Literatur als „formelles Hauptgrundrecht" 3 8 , als „Schlußstein i m Gewölbe des Rechtsstaates" 39 gewürdigt. Man sieht insbesondere in dieser Vorschrift eine „ungeahnte Überhöhung der ,dritten Gewalt' über die anderen Staatsfunktionen" 40 begründet. Die behauptete Vorrangstellung der Rechtsprechung gegenüber der gesetzgebenden Gewalt 4 1 könnte sich i n der Tat als stichhaltig erweisen, wenn Art. 1 9 I V GG als Komplementärnorm zu A r t . 1 I I I GG dem Richter eine generelle, wenn auch subsidiäre Kontrollkompetenz gegenüber Akten der Gesetzgebung einräumte 42 . Art. 1 9 I V GG stellt sich damit als Prüfstein heraus, ob das Grundgesetz eine Wendung zum „Richterstaat" 4 3 vollzogen hat oder noch einer „gesetzesstaatlichen" Konzeption 4 4 verpflichtet ist 4 5 . BVerfG 12, 205 (249). So Göldner S. 68. So F. Klein W d S t R L 8 (1950), S. 88. So Thoma, Recht — Staat — Wirtschaft I I I , S. 9. So Maunz! Dürig! Herzog A r t . 19 I V Rdn. 6. Vgl. Göldner S. 169. So konsequenterweise Göldner S. 169. Vgl. Marcic bes. S. 405 ff. u. 416; vgl. auch Werner, Vgl. C. Schmitt HdStR I I , S. 602.
36 V g l . h i e r z u
37 38 39 40 41 42 43 44
Richterstaat S. 2 ff.
3. Die Rechtsweggarantie
125
Über die Auslegung des Begriffs „öffentliche Gewalt" i n Art. 19 I V GG herrscht Uneinigkeit. Grundsätzlich sind zwei Auffassungen zu unterscheiden, von denen eine den Begriff „öffentliche Gewalt" mehr i n Richtung der „staatlichen Gewalt" (Art. 1 II, 20 I I GG) rückt 4 6 , während die andere darunter nur die „vollziehende Gewalt" (Art. 1 I I I , 20 II, I I I GG) verstanden wissen w i l l 4 7 . Eine Wortinterpretation erweist sich bald als unzulänglich, w e i l der zum Vergleich herangezogene Begriff der öffentlichen Gewalt i n § 90 BVerfGG 4 8 (nunmehr wäre Art. 93 I Nr. 4 a GG zu nennen) auch die Rechtsprechung umfaßt, während unstreitig Art. 1 9 I V GG „Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter" 4 9 gewährt, weil es offenbar widersinnig ist, „Rechtsprechung gegen Rechtsprechung zu mobilisieren" 50 . Die Verteter der erstgenannten Auffassung argumentieren denn auch weniger begrifflich als teleologisch: die Rechtsweggarantie solle einen möglichst umfassenden Individualrechtsschutz verwirklichen. Dieses Ziel sei nur zu erreichen, wenn die Gerichte auch gegen Rechtsnormen angerufen werden könnten, denn auch vom Gesetzgeber drohten Grundrechtsbeeinträchtigungen 51 . M i t diesem Argument ist aber nur die Frage aufgeworfen, i n welchem Verhältnis die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten zur Rechtsweggarantie des Art. 19IV GG stehen. Zwischen Verfassungsbeschwerde, die allein dem von Art. 19 I V GG intendierten Individualrechtsschutz dienen könnte, und der Rechtsweggarantie w i r d demzufolge ein Verhältnis der Spezialität angenommen: A r t . 19 I V GG beinhaltet danach eine „latente Normenkontrolle" durch das ordentliche Gericht auf Antrag des Bürgers, ist aber von der Verfassungsbeschwerde überlagert 5 2 . Gegen diese Auffassung gibt es gewichtige Einwände: — Seit Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz (Art. 93 I Nr. 4 a GG) ist kein Fall mehr denkbar, in dem die „latente 45 Vgl. dazu Maunz/Dürig/Herzog Art. 19 I V Rdn. 6. 46 Vgl. Maunz/Dürig/Herzog A r t . 1 9 I V Rdn. 18; B K (Wernicke) A r t . 19 S. 13; Hamann A r t . 19 Anm. 14; Hamann/Lenz A r t . 19 Anm. 14; Bettermann, Grundrechte I I I / 2 S. 789 ff.; Seiwerth S.32ff.; Göldner S. 169. 47 Vgl. v. Mangoldt/Klein A r t . 19 Anm. V I I 2 d; Hesse, Rechtsschutz S. 90; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 19 Rdn. 26; Klein V V d S t R L 8 (1950), S. 78 ff.: vor allem aber BVerfG 24, 33 (49). 48 Vgl. Bettermann AöR 86 (1961), S. 153. 49 So BVerfG 15, 275 (280). 50 So Hesse, Rechtsschutz S. 91; vgl. auch B K (Wernicke) A r t . 19 S. 13. 51 Vgl. Maunz!Dürig/Herzog A r t . 19 I V Rdn. 18. 52 Vgl. Seiwerth S. 34; Hamann A r t . 19 Anm. 14.
1 2 6 T e i l I I I , 1. Kap.: Die Zuordnung von Richter und Gesetzgeber
Normenkontrolle" des A r t . 19IV GG an die Stelle der gesetzlich ausgeschlossenen Verfassungsbeschwerde t r i t t 5 3 . — Die Verfassungsbeschwerde kann nicht als Ausprägung der Rechtsweggarantie begriffen werden, weil sie als „außerordentlicher Rechtsbehelf" gerade vom Rechtsweg zur ordentlichen oder Verwaltungsgerichtsbarkeit zu trennen ist 5 4 . — Das nach A r t . 19 I V GG zuständige Gericht wäre gar nicht i n der Lage, eine Norm auf Antrag des Bürgers zu verwerfen, weil es nach Art. 100 I GG zur Vorlage an das BVerfG verpflichtet wäre 5 5 . — Würde man den Rechtsweg nach A r t . 19 I V GG auch unmittelbar gegen Gesetze eröffnen, so wäre damit eine der Verfassungstradition widersprechende Einrichtung geschaffen 56 . Die Bejahung des richterlichen Prüfungsrecht bezog sich immer nur auf anhängige Verfahren. — Schließlich zeigt Art. 19 I V GG deutlich die Tendenz, das schon von der Weimarer Lehre empfundene 57 verwaltungsgerichtliche Defizit zu beseitigen 58 , während die Verfahren der Normenkontrolle offenbar abschließend i n den Art. 93 und 100 GG geregelt wurden 5 9 . Nunmehr ist deutlich geworden, daß weder die Bindung des Richters an Gesetz und Recht noch die Geltungsanordnung des Art. 1 I I I GG, noch die Rechtsweggarantie endgültige Schlüsse auf die Zuordnung von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt zulassen. Es ist deshalb verfehlt, aus einer der genannten Verfassungsnormen oder einer Zusammenschau dieser Vorschriften einen Grundsatz „richterlicher Verfassungsunmittelbarkeit" oder gar einen „Funktionsvorrang" der Rechtsprechung gegenüber der Legislative ableiten zu wollen. Eine verständige Exegese der Verfassungsnormen, an die der Versuch einer Funktionenzuordnung zunächst anknüpfen muß, ergibt vielmehr, daß — A r t . 20 I I I GG nur die Bindung des Richters an das Gesetz ausspricht, i m übrigen aber Probleme aufwirft, die durch diesen Grundsatz nicht sogleich gelöst werden; — A r t . 1 I I I GG speziell die unmittelbare Geltung der Grundrechte und demzufolge die Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte konstatiert, ohne daß bereits eine Regelung für den Konfliktsfall zwischen Richter und Gesetzgeber getroffen wäre; 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. dagegen früher BVerfG 24, 33. So BVerfG 18, 315 (325). Vgl. Hesse, Rechtsschutz S. 90. So BVerfG 24, 33 (49 f.). Vgl. n u r Jellinek S. 314. Vgl. F. Klein V V d S t R L 8 (1950), S. 78 ff. Vgl. dazu BVerfG 24, 33 (50).
3. Die Rechtsweggarantie
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— Art. 19 I V GG den Rechtsweg nur gegen Akte der Exekutive eröffnet und deshalb auch aus dieser Vorschrift keine Vorrangstellung des Richters gegenüber dem Gesetzgeber zu entnehmen ist und daß die hier zu untersuchenden Kompetenzen der Rechtsprechung durch andere Vorschriften der Verfassung ihre Bestätigung oder Begrenzung finden müssen.
2. Kapitel D e r Grundsatz der G e w a l t e n t e i l u n g als Schranke des Richterrechts Richterrecht w i r d nach verbreiteteter Auffassung als Problem der Gewaltenteilung verstanden 1 . Art. 20 I I GG steht deshalb unter den verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkten zur Beschränkung richterlicher Rechtsbildungskompetenzen an erster Stelle. Die breitgefächerte Skala der Lehrmeinungen und die unterschiedlichen Stellungnahmen in der Judikatur lassen freilich kaum eine über das Rudimentäre hinausgehende normative Bestimmung des Gewaltenteilungsprinzips erkennen. Achterberg bemerkt demgemäß eine gewisse Resignation der Staatsrechtslehre gegenüber dem Grundsatz und seinen Durchbrechungen, die zu der paradoxen Erscheinung führt, daß der Gewaltenteilungsgrundsatz zwar regelmäßig als fundamental für die Staatsordnung bezeichnet wird, man ihm aber nur geringe rechtliche Substanz entnimmt 2 . Die Differenzen beginnen bereits bei der Terminologie. Gewaltenteilung und Funktionenordnung, Funktionengliederung und Gewaltentrennung, Gewaltenverschränkung und Funktionenverflechtung werden vielfach als Synonyme gebraucht 3 . Nun mag sich bereits i n der Begriffswahl ein bestimmtes Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips ankündigen. Dennoch ist es fraglich, ob man — wenngleich beachtliche Gründe dafür sprechen 4 — nur aus Gründen terminologischer Klarheit den überkommenen Begriff der Gewaltenteilung aufgeben sollte. 1. Die Problemstellung M i t Hesse ist zwischen den drei Grundfunktionen des Staates Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung zu unterscheiden 5 . Diese 1 Vgl. B V e r f G 3, 225 (247); B G H Z 11, Anh. S. 51 f.; aus der L i t . n u r : H. J. Hirsch JR 1966, S. 339; Redeker N J W 1972, S.413; H . H . Klein DRiZ 1972, S. 333; Kruse S. 12 ff.; Göldner S. 151 ff.; Schlüter S. 10 ff.; Achterberg, Funktionenlehre S. 149 ff.; H. P. Schneider S. 31; Rüthers S. 458; Mayer-Maly DRiZ 1971, S. 326 f.; skeptisch dagegen Fischer, Weiterbildung S. 10; Schuppert S. 213. 2 So Achterberg, Funktionenlehre S. 178. 3 Vgl. dazu Achterberg, Funktionenlehre S. 109 ff. 4 Vgl. Achterberg, Funktionenlehre S. 112. s Vgl. Hesse, Grundzüge S. 196.
1. Die Problemstellung
129
Funktionen, also Formen staatlicher Aufgabenbewältigung, sind verschiedenen Organen — „Gewalten" — zugeordnet. Unter „Gewalt" ist, soweit dieser Begriff i m Grundgesetz gebraucht wird, der Inbegriff der Organe zu verstehen, die eine Funktion wahrnehmen 6 . Gelegentlich findet der gleiche Begriff — etwa „Gesetzgebung" oder „Rechtsprechung" — für die Funktion und den Funktionsträger Verwendung. Hierin liegt eine sprachliche Unschärfe des Grundgesetzes, die an der hier getroffenen gedanklichen Differenzierung 7 jedoch nichts ändert 8 . Der Grundsatz der Gewaltenteilung w i r f t das allgemeine Problem auf, wieweit es verfassungsrechtlich gestattet ist, daß eine „Gewalt" Kompetenzen wahrnimmt, die einem anderen Funktionsträger zugeordnet sind. Die hier zu untersuchende Fragestellung lautet demgemäß, ob das Gewaltenteilungsprinzip die Ausübung rechtserzeugender Funktionen durch die Rechtsprechung verbietet oder beschränkt. Die Untersuchung scheint einen materiellen Begriff der Rechtsprechung zu erfordern, wie er i m vorigen ausgeklammert worden ist 9 : denn nur, wenn deutlich wird, was unter Rechtsprechung als Funktion zu verstehen ist, kann man der Frage nachspüren, ob ein Übergriff der rechtsprechenden Gewalt i n den Bereich der Gesetzgebung vorliegt. Die methodologischen Überlegungen zur Rechtsentscheidung haben allerdings ergeben, daß Rechtsbildung und Rechtsprechung aufs engste verknüpft sind 10 . Man kann deshalb auch bei einem restriktiven Verständnis der rechtsprechenden Funktion nicht jede judizielle Normbildung als Funktionsverschränkung begreifen. Wenn aber die Rechtserzeugung nicht beim Gesetzgeber monopolisiert ist — und dies entspricht einer heute kaum bestrittenen Uberzeugung 11 —, so kann man sich an dieser Stelle damit zufriedengeben, daß der Gewaltenteilungsgrundsatz möglicherweise Schranken für das Richterrecht aufstellt, nicht jede judizielle Rechtsbildung aber verfassungsrechtlich bedenklich ist. Unter dieser Voraussetzung w i r d allerdings fraglich, wie überhaupt ein rechtlicher Maßstab aus dem Prinzip der Gewaltenteilung zu gewinnen ist. Dabei stellt sich schnell heraus, daß der Gewaltenteilungsgrundsatz nur konkretisiert werden kann, indem man ihn auf seine Funktion i m Verfassungsgefüge zurückführt. Anhand materieller Funktionsbegriffe ließe sich zwar jeweils feststellen, ob das Prinzip durch6 Vgl. Küster AöR 75 (1949), S. 401. 7 Z u m Wechselverhältnis von F u n k t i o n u n d Funktionsträger vgl. Eichenberger S. 21 u n d Imboden S. 11. 8 Vgl. Küster AöR 75 (1949), S. 401. 9 Vgl. oben T e i l I, 1. Kap. 3 c. 10 Vgl. oben T e i l I, 3. Kap. 3. 11 Vgl. n u r Kriele S. 60 ff. 9 Ipsen
130
T e i l I I I , 2. Kap.: Gewaltenteilungsprinzip und Richterrecht
brochen ist, die Zulässigkeit der Durchbrechung läßt sich jedoch nur auf Grund zusätzlicher Kriterien beurteilen. Die vom Bundesverfassungsgericht angelegten qualitativen und quantitativen Maßstäbe ergeben sich aus dem dem Gewaltenteilungsgrundsatz zugesprochenen telos und sind m i t i h m variabel. Wenn eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzip dem BVerfG wegen ihrer „Geringfügigkeit" unbedenklich erscheint 12 , so hat der Grundsatz ersichtlich die Bestimmung, schwerwiegende Verschränkungen zu verhindern 1 3 . Ob eine Durchbrechung aber geringfügig oder schwerwiegend ist, richtet sich nach der Funktion der Gewaltenteilung in der Verfassungsordnung. Eine ideengeschichtliche Betrachtung, wie sie bei der Suche nach der Funktion der Gewaltenteilung verschiedentlich angestellt w i r d 1 4 , erweist sich bald als methodischer Irrweg. Das Gewaltenteilungsprinzip ist kein „Dogma von naturrechtlich-zeitloser Geltung" 1 5 , sondern Bestandteil einer konkreten Verfassung. Ein Rekurs auf Montesquieu bringt deshalb die keineswegs neue Erkenntnis, daß die historische Entwicklung der Gewaltenteilung es verbietet, die Montesquieuschen Vorstellungen auf die gegenwärtige Verfassungsordnung zu übertragen 16 . Immerhin kann man an die dem Gewaltenteilungsprinzip herkömmlich zugeordnete Funktion anknüpfen, durch institutionelle Vorkehrungen die Freiheit des einzelnen zu sichern. 2. Die Gewaltenteilung als institutionelle Freiheitssicherung Die Gewaltenteilung w i r d nach herrschender Auffassung als Mittel zur Sicherung individueller Freiheit betrachtet 17 . Die den Bürger bedrohende Staatsgewalt ist hiernach auf verschiedene Funktionsträger verteilt, die sich gegenseitig hemmen und kontrollieren. Nach der einprägsamen Formulierung von Peters besteht ein „Spannungsverhältnis der obersten Staatsorgane . . . , i n dessen totem Winkel die Freiheit der Bürger aufs denkbar beste geschützt ist" 1 8 . Auf dieser Linie liegt auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 12 So BVerfG 4, 387 (400). 13 Vgl. hierzu Achterberg, Funktionenlehre S. 189 ff. 14 Vgl. z. B. Kruse S. 12 ff. is So Hesse, Grundzüge S. 194. iß Vgl. Kägi, Festschr. Huber S. 159; Draht, Faktoren der Machtbildung S. 101 ff.; Imboden S. 13 f.; Peters S. 8 f.; Leisner DÖV 1969, S. 405 ff. 17 Vgl. n u r Maunz!Dürig/Herzog A r t . 20 Rdn. 78; Peters S. 6 ff.; Imboden S. 11; W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 164; Küster AöR 75 (1949), S. 401; Billing S. 102. 18 So Peters S. 6 f.
2. Gewaltenteilung als institutionelle Freiheitssicherung
131
a) Die Rechtsprechung des BVerfG zum Gewaltenteilungsprinzip Das Bundesverfassungsgericht betont allenthalben, daß die Gewaltenteilung zu den grundlegenden Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehöre, ein „tragendes Organisationsprinzip" des Grundgesetzes sei 19 . Nach Auffassung des BVerfG entspricht dem Grundgesetz allerdings keine scharfe Trennung der Gewalten. Die Bedeutung des Grundsatzes der Gewaltenteilung liege vielmehr in der Verteilung politischer Macht, dem Ineinandergreifen der drei Gewalten und der daraus resultierenden Mäßigung der Staatsgewalt, durch die die Freiheit des einzelnen bewahrt werde 2 0 . Das Grundgesetz enthalte zahlreiche Gewaltenverschränkungen und -balancierungen. Es komme darauf an, daß diese von der Verfassung vorgenommene Verteilung der Gewichte erhalten bleibe. Keine Gewalt dürfe deshalb ein Übergewicht über eine andere erlangen. Ein solches Übergewicht hält das BVerfG aber erst für gegeben, wenn eine Gewalt in den Kernbereich einer anderen eingreift 2 1 . Diesem Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips folgend, hat das BVerfG — soweit ersichtlich — nur i n zwei Fällen eine Verletzung des Art. 20 I I GG festgestellt. Zum einen hat es die baden-württembergischen Gemeindefriedensgerichte wegen ihrer engen personellen Verzahnung mit der Gemeindeverwaltung für verfassungswidrig erklärt 2 2 , zum anderen hielt es das sog. Unterwerfungsverfahren nach § 445 AO für unvereinbar mit dem Grundgesetz, weil es zum Kernbereich der rechtsprechenden Gewalt gehöre, Kriminalstrafen zu verhängen 23 . Soweit Richterrecht zur Entscheidung stand, hat das BVerfG den Grundsatz der Gewaltenteilung in keinem Fall als verletzt angesehen. I n der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 117 1 GG führte das BVerfG aus, daß es eine mit dem Gewaltenteilungsprinzip vereinbare Aufgabe der Rechtsprechung sei, ein Verfassungsprinzip ohne gesetzliche Normierung zu vollziehen 24 . Die Entscheidung des BVerfG zur Schmerzensgeld-Judikatur des BGH bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts 25 erwähnt nicht einmal den Grundsatz der Gewaltenteilung als mögliche Schranke des Richterrechts. 19 Vgl. BVerfG 2, 1 (13); 2, 307 (329); 3, 225 (247). 20 So BVerfG 7, 183 (188); 9, 268 (279); 22, 106 (111). 21 Vgl. BVerfG 9, 268 (279); 22, 106 (111); dazu i m einzelnen Achterberg, Funktionenlehre S. 180 ff. 22 So BVerfG 10, 200 (216), wobei schon diese Entscheidung aus dem Gedanken der Freiheitssicherung nicht völlig begründbar ist. 23 Vgl. BVerfG 22, 49 (78). 24 So BVerfG 3, 225 (247 f.). 25 Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1221 ff. *
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T e i l I I I , 2. Kap.: Gewaltenteilungsprinzip und Richterrecht
b) Folgerungen aus der Rechtsprechung des BVerfG für die Richterrechtsproblematik Diese an anderer Stelle noch im einzelnen zu verfolgende Rechtsprechung des BVerfG zum Richterrecht ist von dem skizzierten Verständnis der Gewaltenteilung her zwingend. Sieht man i n diesem Prinzip lediglich die institutionelle Freiheitssicherung, so w i r d es kaum einen hinreichend bestimmten Maßstab dafür abgeben, die Grenzen des Richter rechts zu ziehen 26 . I m Bereich gesetzeskonkretisierenden und gesetzesvertretenden Richterrechts erscheint ein Ubergriff des Richters in den Kernbereich der Gesetzgebung schon deshalb nicht möglich, weil er entweder zur Normbildung ermächtigt oder — wegen Fehlens gesetzlicher Regelungen — gezwungen ist. I n den Fällen gesetzeskorrigierenden und gesetzeskonkurrierenden Richterrechts ließe sich unter Umständen feststellen, daß die Rechtsprechung die ihr gesetzten Grenzen überschritten hat; von einem Übergewicht der rechtsprechenden Gewalt über die anderen Staatsgewalten könnte dennoch nicht die Rede sein. Versteht man die Gewaltenteilung nur als Sicherung individueller Freiheit, könnte sogar ein Mehr an richterlichen Kompetenzen verfassungsrechtlich unbedenklich erscheinen. Aus dieser Sicht wäre es vertretbar, der Rechtsprechung auch über das heute gegebene Maß an Rechtsschutz hinaus die Wahrung individueller Rechte gegenüber einem Gesetzgeber aufzugeben, der womöglich die rechte Mitte eingebüßt hat und m i t Kilfe von Maßnahmegesetzen Sozialverläufe i m einzelnen vorherbestimmen will. Schließlich wäre eine allgemeine richterliche Kompetenz zur Ersetzung und Korrektur von Gesetzen denkbar, für die sich immerhin anführen ließe, daß der Richter anders als das Parlament nicht widerstreitenden Interessen ausgesetzt ist und deshalb das notwendige Maß an Gerechtigkeit — gegebenenfalls auch in Konkurrenz zur Legislative — zu garantieren vermag. Schon die i n dieser Untersuchung angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 27 weisen eine solche Tendenz im Selbstverständnis des Gerichts auf. Demgegenüber muß die behauptete „Bedrohung der Freiheit durch die Macht des Richters" 28 und die Befürchtung, die Rechtsprechung könne versucht sein, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung gegen die politischen Instanzen durchzusetzen 29 , weitgehend unbegründet erscheinen. 26 So auch Schlüter S. 14; anders W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e S. 148 ff. 27 Vgl. n u r B G H Z 26, 373 (375); 27, 15 (20); 30, 338 (340). 28 So der T i t e l des Aufsatzes von W.Weber i n : Spannungen u n d K r ä f t e S. 148 ff. 29 So H. H. Klein D R i Z 1972, S. 337.
3. Gewaltenteilung als Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung
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Wenn dennoch i n Rechtsprechung und Schrifttum der Grundsatz der Gewaltenteilung als mögliche verfassungsrechtliche Schranke des Richterrechts angeführt wird, so ist dies nur aus einer anderen Funktion dieses Prinzips erklärbar. Die zweite Funktion des Gewaltenteilungsgrundsatzes stellt sich bald heraus, wenn man die Ansätze des Bundesverfassungsgerichts konsequent fortdenkt: nicht die Freiheit wird durch die Richtermacht bedroht, sondern ausschließlich das Kompetenzgefüge des Grundgesetzes. I n der Tat nehmen mehrere der Autoren eine über die freiheitssichernde Funktion hinausgehende, verselbständigte Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips an. 3, Das Gewaltenteilungsprinzip als Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung a) Die neuere Lehre von der Doppelfunktion des Gewaltenteilungsprinzips Ansätze für ein differenziertes Verständnis des Gewaltenteilungsprinzips finden sich schon bei Küster 3 0 . Heute w i r d diese Lehre vor allem von Böckenförde 31 , Hesse 32 und Schlüter 33 vertreten; sie ist deutlich i m Vordringen 3 4 . Nach Küsters Auffassung erschöpft sich der Grundsatz der Gewaltenteilung nicht i n der Freiheitssicherung, er diene i n gleicher Weise der „Funktionsklarheit" und damit einer funktionsgerechten Organstrukt u r 3 5 . Die Gewaltenunterscheidung erfordere demgemäß eine der Eigenart jeder Funktion entsprechende Struktur des Funktionsträgers. Gewaltenteilung sei eine „Aufgabe der Funktions- und Verantwortungsklarheit und der funktionsgerechten Organstruktur" 3 6 . Hesse geht gleichfalls davon aus, daß die Funktionen des Staates sachgerecht nur von Organen wahrgenommen werden können, deren Struktur der Eigenart der Funktion angemessen sei 37 . Das Parlament wäre deshalb nicht in der Lage, administrative Detailaufgaben zu erledigen, weisungsgebundene Behörden könnten keine unabhängige Entscheidung i n Rechtsstreitigkeiten fällen, und Gerichte vermöchten so v g l . Küster AöR 75 (1949), S. 402 ff. 31 Vgl. Böckenförde S. 80. 32 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 196 f. 33 Vgl. Schlüter S. 13 ff. 34 Vgl. nur Noll S. 53; Eichenberger S. 21. 35 So Küster AöR 75 (1949), S. 402. 36 So Küster AöR 75 (1949), S. 403. 37 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 196.
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Teil I I I , 2. Kap.: Gewaltenteilungsprinzip und Richterrecht
die Aufgabe der Gesetzgebung nicht sachgemäß zu erfüllen 3 8 . Hesse folgert aus der engen Verzahnung zwischen Funktion und Organstruktur ein „prinzipielles Verbot der Wahrnehmung oder Zuweisung von Funktionen, die der Struktur des Organs und der von i h m wahrzunehmenden Grundfunktion nicht entsprechen" 39 . Der Grundsatz der Gewaltenteilung begrenzt hiernach nicht nur die staatliche Gewalt, sondern enthält zugleich eine Garantie für die Rationalität des Staatsaufbaus und erweist sich erst i n der Zusammenschau seiner konstituierenden, rationalisierenden, stabilisierenden und begrenzenden Funktion als organisatorisches Grundprinzip der Verfassung 40 . Schlüter zufolge hat der Gewaltenteilungsgrundsatz einen Bedeutungswandel erfahren 41 . Gewaltenteilung bedeute nicht nur — negat i v —, daß Machtzusammenballungen verhindert werden sollen, sondern auch — positiv —, daß die staatlichen Funktionen von Organen auszuüben seien, die dafür nach Aufbau und Besetzung hinreichend gerüstet sind 42 . Sei die Kompetenz eines Organs zweifelhaft, so könnten aus seiner Struktur „Rückschlüsse auf seine verfassungsmäßige Funktion und damit auf die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Betätigung gezogen werden" 4 3 . Die Organstruktur ist aber nicht schon durch Art. 20 I I GG festgelegt, sondern kann nur — nach dem Interpretationsgrundsatz der Einheit der Verfassung 44 — aus dem Zusammenhang von Grundsatz und Einzelvorschrift herausgearbeitet werden 4 5 . Schlüter bringt für dieses methodische Vorgehen ein einleuchtendes Beispiel: Würde der Bundestag Rechtsprechungsfunktionen übernehmen, so brauchte nicht geprüft zu werden, ob er damit i n den „Kernbereich" der rechtsprechenden Gewalt eingreift und aus diesem Grunde gegen Art. 20 I I GG verstößt. Art. 92 GG erweist sich als eindeutiger. Wenn die Rechtsprechung den Gerichten anvertraut ist, kann das Parlament sie nicht gleichzeitig ausüben 46 . Die neuere Lehre, so kann man zusammenfassen, sieht das Gewaltenteilungsprinzip nicht nur unter dem Aspekt möglicher Freiheitsverkürzung, sondern mißt i h m eine rationalisierende Wirkung für die Bewältigung der Staatsaufgaben zu. Es mag dahingestellt sein, ob der 38 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 196. 39 So Hesse, Grundzüge S. 197. 40 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 200. 41 Vgl. Schlüter S. 16. 42 Vgl. Schlüter S. 17. 43 So Schlüter S. 18. 44 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 28 u n d für A r t . 20 I I GG S. 194. 45 Vgl. Schlüter S. 14. 46 So Schlüter S. 14.
3. Gewaltenteilung als Gewähr sachgerechter Aufgabenbewältigung
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Grundsatz der Gewaltenteilung — wie Schlüter meint 4 7 — einen Bedeutungswandel erfahren hat. Viel näher liegt der Gedanke, daß diesem Grundsatz immer eine Gewähr für die sachgerechte Wahrnehmung der — sich freilich laufend verändernden — Staatsfunktionen eigen war. Für die gegenwärtige Verfassungslage w i r d diese Funktion des Art. 20 I I GG in keinem Falle mehr zu bestreiten sein. b) Hinweise in der Judikatur Bei genauerer Betrachtung enthalten auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Revisionsgerichte Hinweise auf diese zweite Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips. — Das BVerfG hat das Unterwerfungsverfahren nach § 445 AO nicht deshalb für verfassungswidrig erklärt, weil hierdurch individuelle Freiheit bedroht war, sondern weil eine Kriminalstrafe nur i n einem mit den Garantien des Grundgesetzes versehenen Verfahren verhängt werden darf 4 8 . Einen noch deutlicheren Hinweis auf die hier vertretene Auffassung enthält die Entscheidung des BVerfG über § 31 KVStG. Das BVerfG begründet die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm mit der Erwägung, die Finanzgerichte seien „tatsächlich durchaus i n der Lage, die ihnen durch den unbestimmten Rechtsbegriff in § 3 Abs. 1 K V S t G gestellte Aufgabe zu bewältigen" 4 9 . — Der BGH führte i n seinem Gutachten zu Art. 117 I GG aus, daß die rechtsprechende Gewalt nur dann in den der Legislative vorbehaltenen Bereich eingreife, wenn sie Recht „kraft eigener Willensentschlüsse nach bloßen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten" schaffe 50 . Abgesehen davon, daß das K r i t e r i u m des „bloßen Willensentschlusses" zur Abgrenzung von der Gesetzgebung untauglich ist, denn Gerichte entscheiden notwendig auf Grund von Argumenten und Gegenargumenten, würde auch ein Willensentschluß des Richters nicht i n den Kernbereich der gesetzgebenden Gewalt eingreifen, mithin niemals freiheitsbedrohend sein können, weil es der Legislative jederzeit freistände, den Gesetzgebungsauftrag zu erfüllen. Hinter dem aus Art. 20 I I GG abgeleiteten K r i t e r i u m steht vielmehr der Gedanke, daß „bloße Willensentschlüsse" für Gerichtsentscheidungen atypisch und der Organstruktur inadäquat sind 5 1 . 47 Vgl. Schlüter S. 16. 48 Vgl. BVerfG 22, 49 (78). 49 So BVerfG 13, 153 (164). so So BGHZ, Anh. S. 51 f. 5i Vgl. auch die neueren Entscheidungen B G H N J W 1969, S. 98 ff. u n d B G H JZ 1972, S. 281 ff., i n denen — allerdings ohne ausdrücklichen Bezug zum Gewaltenteilungsgrundsatz — die Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens als Grenze des Richterrechts angesehen w i r d .
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Teil I I I , 2. Kap.: Gewaltenteilungsprinzip und Richterrecht
— Auch die vom B A G 5 2 und vom BVerwG 5 3 gezeigte, zumindest verbale Zurückhaltung bei rechtspolitischen Wertungen läßt sich nicht aus einem Verständnis der Gewaltenteilung als institutioneller Freiheitssicherung begreifen, sondern findet ihre eigentliche Begründung i n der notwendigen Korrespondenz von Funktion und Organstruktur. c) Methodologische Aspekte der neueren
Gewaltenteilungslehre
M i t der skizzierten Auffassung von der Doppelfunktion des Gewaltenteilungsprinzips ist ein Stück Methodenrationalität gewonnen. Die von Achterberg konstatierte Resignation der Lehre gegenüber der Gewaltenteilung 5 4 und das Schwanken der verfassungsgerichtlichen Judikatur 5 5 liegt zum Teil daran, daß man jede Kompetenzfrage durch einen Grundsatz zu klären versucht, der nur einen geringen rechtlichen Gehalt aufweist, wenn er ausschließlich als Mittel der Freiheitssicherung verstanden wird. Begreift man das Gewaltenteilungsprinzip dagegen zugleich als Gewährleistung sachgerechter Kompetenzverteilung unter den Staatsorganen und entnimmt dem Art. 20 I I GG das Verbot, daß ein Staatsorgan Funktionen erfüllt, die seiner Struktur nicht entsprechen, so müssen zunächst die einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes über die Rechtsstellung der Organe und das Bestellungsverfahren der Organwalter herangezogen werden, um einen Verstoß gegen diesen Grundsatz zu begründen 56 . Auf diese Weise nimmt die Zahl der zu prüfenden Gesichtspunkte zu. Das methodische Vorgehen vermindert die Gefahr, daß der Grundgesetzinterpret als „Deuter" 5 7 erscheint, der den Verfassungsprinzipien ungeklärte Inhalte substituiert. 4. Folgerungen für den weiteren Gang der Untersuchung Auf Grund des hier vertretenen Verständnisses des Gewaltenteilungsprinzips wäre nunmehr zu fragen, wieweit mit der Bestellung des Richters, dem Aufbau der Gerichte und der richterlichen Rechtsstellung eine judizielle Kompetenz zur Rechtsbildung vereinbar ist. Diese Fragestellung bliebe aber unvollkommen, weil nicht nur die Struktur eines Organs der von i h m wahrgenommenen Funktion entsprechen muß, sondern auch das Verfahren, i n dem ein Organ tätig wird, Rückschlüsse 52 53 54 55 56 57
Vgl. nur B A G 1, 279 (280). Vgl. B V e r w G 11, 222 (228). Vgl. Achterberg, Funktionenlehre S. 178. Vgl. dazu Achterberg, Funktionenlehre S. 180 ff. Vgl. Hesse, Grundzüge S. 194; Schlüter S. 12 u. 14. So Starck, Gesetzesbegriff S. 282.
4. Folgerungen für die Untersuchung
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auf seine Kompetenz erlaubt 5 8 . U m bei Schlüters Beispiel 59 zu bleiben: das Parlament wäre nicht nur seines Aufbaus wegen ungeeignet, Rechtsprechungsaufgaben zu erfüllen; auch das parlamentarische Verfahren eignet sich nicht zur Rechtsprechung. M i t Recht w i r d deshalb angenommen, daß der von einem Organ wahrgenommenen Funktion sowohl die Organstruktur als auch das Verfahren, i n dem es seine Kompetenzen ausübt, entsprechen müssen 60 . Hier entsteht eine erste Schwierigkeit. I m Grundgesetz finden sich zwar Vorschriften über das parlamentarische Rechtssetzungsverfahren, die gegebenenfalls durch die Verfassungspraxis zu ergänzen sind 6 1 , und eine Regelung der richterlichen Normenkontrolle. Demgegenüber enthält die Verfassung keine einzelnen Bestimmungen über das Gerichtsverfahren, sondern setzt es allenfalls voraus. Man kann aber nicht davon ausgehen, daß die Verfassung beispielsweise das Revisionsverfahren i n seiner gegenwärtigen Ausprägung garantiert. Demgemäß müßten judizielle Rechtsbildungen, die über die Erkenntnismöglichkeiten des Verfahrens hinausgehen, wohl als verfahrenswidrig, nicht aber als verfassungswidrig erscheinen. Die vom Gewaltenteilungsprinzip geforderte Korrespondenz von Funktion, Organstruktur und Verfahren braucht jedoch nicht auf der Verfassungsebene zu liegen, sondern kann sich aus der Zuordnung von einfachem Gesetz und Verfassung ergeben. Für die richterliche Rechtsbildungskompetenz bedeutet dies, daß sie nur soweit reichen kann, als das Verfahren sie ermöglicht. Der Grundsatz der Gewaltenteilung hat somit eine durch einfaches Gesetz auszugestaltende Schwankungsbreite, die ihre Grenzen freilich wieder in der Organstruktur findet. Die oben herausgearbeiteten Typen des Richterrechts haben schon je eine verschiedene verfassungsrechtliche Fragerichtung deutlich werden lassen. Die Frage, wieweit Rechtsbildungsaufgaben an den Richter delegiert werden können und wieweit die judizielle Rechtsbildung das Gesetz zu ersetzen vermag, w i r d anhand der Rechtserzeugungsverfahren zu klären sein. Ob sich der Richter in den Fällen gesetzeskorrigierenden und gesetzeskonkurrierenden Richterrechts Kontrollbefugnisse angemaßt hat, die i h m auf Grund der Verfassung nicht zustehen, muß sich bei der Erörterung der Kontroll verfahren herausstellen.
58 59 60 61
Vgl. Schlüter S. 18. Vgl. Schlüter S. 14. Vgl. nur Hesse, Grundzüge S. 200; Schlüter S. 18. Ähnlich Starck, Gesetzesbegriff S. 157 Anm. 2.
3. Kapitel V e r f a h r e n der Rechtserzeugung Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren sollen auf ihre unterschiedliche Eignung untersucht werden, Rechtsnormen zu erzeugen. Beim Gerichtsverfahren erweist sich bald eine Beschränkung als notwendig. Da hier die Bedingungen der Rechtsbildung zu verfolgen sind, w i r d allein das Revisionsverfahren als typischer Ausgangspunkt — oder doch Kristallisationspunkt — der Richterrechtsbildung behandelt. Nur den Revisionsgerichten ist die besondere Aufgabe zur Wahrung der Rechtseinheit übertragen 1 ; überdies bedürfen die von anderen Gerichten initiierten Rechtsbildungen letztinstanzlicher Bestätigung, um eine gewisse Breitenwirkung als Richterrecht zu entfalten. Das Problem von Kompetenzüberschneidungen zwischen Richter und Gesetzgeber stellt sich — dessen muß man sich erinnern — praktisch nur i n einer schmalen Zone. Auf vielen Rechtsgebieten, namentlich i m Wirtschafts- und Finanzrecht, sind detaillierte Gesetze und Rechtsverordnungen die Regel 2 , so daß für Richterrecht wenig Raum bleibt. Freilich reicht es auch für diesen engen Bereich nicht aus, lapidar festzustellen, daß die Rechtsprechung für legislatorische Aufgaben nicht hinreichend gerüstet sei 3 . Die oben skizzierten Beispiele judizieller Rechtsbildung haben ja gerade deutlich gemacht, daß Richterrecht in der Rechtspraxis das Gesetz weithin ersetzt. 1. Gesetzgebungsverfahren a) Problemimpuls
und Initiativrecht
Das Gesetzgebungsverfahren w i r d auf einen Problemimpuls hin eingeleitet. Darunter sind alle Gründe zu verstehen, die die an der Gesetzgebung beteiligten Organe bewegen, normierend tätig zu werden 4 . 1 Vgl. §137 G V G ; §45 A r b G G ; §43 SGG; §11 V w G O ; §11 FGO und die Vorschriften der Verfahrensgesetze zur Grundsatzrevision. 2 Vgl. die Aufstellung von Hasskarl DÖV 1968, S. 558 ff.: etwa 50 °/o aller erlassenen Gesetze u n d 60 °/o der RVOen gehören zum Finanz- u n d W i r t schaftsbereich; vgl. auch Kühler JZ 1969, S. 648. 3 So Luhmann, Rechtssoziologie I I , S. 236 A n m . 63; Heldrich Jb. I I I , S. 337; Göldner S. 187; abwägend Noll S. 95. 4 So Noll S. 72 f.
1. Gesetzgebungsverfahren
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Der Grund für gesetzgeberische Tätigkeit w i r d regelmäßig weit vor der Ausübung der Gesetzesinitiative liegen. Art. 76 I GG stellt dabei eine hohe Schranke für das Ingangsetzen des Gesetzgebungsverfahrens dar. Nicht alle Problemimpulse erreichen die Dichte einer Vorlage; wenn aber das Initiativstadium (etwa der Kabinettsbeschluß) erreicht ist, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine gesetzliche Regelung ergeht 5 . Problemimpulse entstehen aus einem vorgestellten Wertgefälle zwischen dem vorhandenen und dem wünschenswerten Zustand 6 . Die Beurteilung des geltenden Rechts als unzureichend ist Ergebnis einer Wertung, über die i n der Regel kein Konsens zu erreichen ist, sondern die je nach weltanschaulicher und politischer Richtung und unterschiedlicher Betroffenheit verschieden ausfällt. So bestanden natürlicherweise i n der Frage der Regelungsbedürftigkeit der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erhebliche Auffassungsunterschiede. Während i m juristischen Schrifttum überwiegend eine w i r kungsvolle Sanktion gefordert wurde, sahen Presseverbände u n d ihnen nahestehende Kreise die damalige Rechtslage als befriedigend u n d jede Änderung als verfassungsrechtlich bedenklich an 7 .
Ein Problemimpuls muß stark sein, um die hohe Schwelle des Initiativrechts zu überwinden. Das gilt auch i m Vorfeld gesetzgeberischer Arbeit, namentlich i m Referentenstadium 8 . Es ist allerdings simplifizierend, die Möglichkeit, Aufmerksamkeit für eine ungelöste Aufgabe zu finden, schlechterdings mit Macht gleichzusetzen9, da auch nicht interessengebundene Materien Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit sein können. Immerhin w i r d dadurch, daß die Interessen gesellschaftlich bedeutender Gruppen betroffen sind, ein Problemimpuls erhebliche Verstärkung erfahren. Ist ein Problem Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden, so erhöhen sich die Chancen, daß auch alternative Lösungen i n das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden. Die Aufmerksamkeit politischer Instanzen ist dann bereits auf die zu wägende Frage gelenkt worden, und das verspricht für jeden, der sich an der Diskussion beteiligt, publizistischen Gewinn. Wenn also eine Materie in dieser Weise „politisiert" ist, so stellt Art. 761 GG keine unüberwindbare Schranke mehr dar. 5
Vgl. die Zahlen bei Loewenberg S. 326 f. Die Wahrscheinlichkeit ist davon abhängig, welches I n i t i a t i v o r g a n tätig geworden ist; sie liegt zwischen 90 °/o (Regierung) u n d 40 °/o (Bundestag). 6 Vgl. Noll S. 81 f. 7 Vgl. oben T e i l I I , 3. Kap. 1 f. 8 Vgl. Noll S. 73. 9 So Noll S. 73.
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So kündigte die Bundestagsfraktion der FDP i m Herbst 1958 einen E n t w u r f für ein Bundespressegesetz an, der i m Gegenzug zum umstrittenen RefE 1958 zur „ausdrücklichen Wahrung der Pressefreiheit" dienen sollte 1 0 .
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß wegen des begrenzten Aufmerksamkeitspotentials der Öffentlichkeit und der beschränkten Kapazität der gesetzgebenden Instanzen nicht jedes rechtspolitisch sinnvolle Anliegen präsumtiv gesetzgeberische Aufgabe ist, sondern daß ein erheblicher Problemdruck hinzukommen muß, um eine Regelung im Gesetzgebungsverfahren zu erreichen. b) Verfahrensgrundsätze:
Diskussion und Öffentlichkeit
Starck bezeichnet Diskussion und Öffentlichkeit als die beiden über jede K r i t i k erhabenen Kerngedanken des Gesetzgebungsverfahrens 11 . Auch Rauschning mißt dem Öffentlichkeitsprinzip — trotz mancher Nuancierung — erhebliche Bedeutung innerhalb des parlamentarischen Willensbildungsprozesses bei 1 2 . Auch hier muß man in das Vorfeld der Gesetzesinitiative zurückgreifen, weil bereits das Referentenstadium wechselweise unter dem Zeichen von Diskussion und Öffentlichkeit steht 13 . aa) Diskussion Der Diskussion mit dem Ziel, eine einheitliche Willensbildung der Regierung als Initiativorgan zu erreichen, dienen eine Reihe von Vorschriften der Geschäftsordnung der Bundesregierung und der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien 14 . Nach Möglichkeit sollen Differenzen zwischen den Ministerien unterhalb der Kabinettsebene geklärt werden. Der Bereinigung von Kontroversen dienen auch Ministerbesprechungen unter Vorsitz des Bundeskanzlers. Beschließt die Bundesregierung eine Gesetzesvorlage, so sind alle Mitglieder des Kabinetts an die Mehrheitsauffassung gebunden. Durch den sog. ersten Durchgang i m Bundesrat (Art. 76 I I GG) w i r d die Diskussion verfassungsrechtlich institutionalisiert. Dem Bundestag liegen zu Beginn seiner Beratungen regelmäßig die Amtliche Begrün-
Vgl. 11 Vgl. 12 Vgl. 13 Die lagen. 14 Vgl. Hülshoff
Z V u Z V 1958, S. 1028. Starck, Gesetzesbegriff S. 162. Rauschning, Verfassungssicherung S. 182 ff. nachfolgenden Überlegungen beschränken sich auf Regierungsvorn u r §§16, 17 GeschOBReg; §37 GGO I I (abgedruckt bei Lechner/ S. 414 ff.).
1. Gesetzgebungsverfahren
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dung des Gesetzesentwurfs, die Stellungnahme des Bundesrates und gegebenenfalls eine Gegenäußerung der Bundesregierung vor 1 5 . Auch das parlamentarische Verfahren ist vom Grundsatz der Diskussion beherrscht. Allerdings werden nicht alle Vorlagen i m Plenum beraten 16 . Man kann jedoch davon ausgehen, daß bei politisch kontroversen Vorlagen eine Plenardebatte stattfindet. I n jedem Fall w i r d i n den Ausschüssen diskutiert, die nach eigener Meinungsbildung vielfach Abänderungsvorschläge machen 17 . Der Wechsel zwischen Plenum und Ausschuß i n der parlamentarischen Behandlung von Gesetzesvorlagen und sein zeitliches Auseinanderfallen vermehrt die Möglichkeiten der Diskussion. Sog. Blitzgesetze haben gezeigt, wie bedenklich es sein kann, auf eingehende und zeitlich getrennte Beratungen und damit auf potentielle Änderungen zu verzichten 18 . bb) Öffentlichkeit Für wie wichtig die Öffentlichkeit innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens gehalten wird, beweisen bestimmte organisatorische Vorkehrungen der Geschäftsordnungen für Gesetzesmaterien, die politisch bedeutsam sind 1 9 . Öffentlichkeit kann schon i n einem sehr frühen Stadium der Diskussion hergestellt werden. Namentlich wichtige Entwürfe werden nicht selten veröffentlicht, bevor sie i m Kabinett beraten worden sind 2 0 , zu einem Zeitpunkt also, i n dem der Gesetzesimpuls seine erste konkrete Form angenommen hat 2 1 . Das Gesetzgebungsverfahren ist abwechselnd öffentlich und nichtöffentlich. Der Bundestag verhandelt grundsätzlich i n öffentlicher Sitzung (Art. 42 I GG). Die Ausschußberatungen finden dagegen regelmäßig unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt 2 2 . Das Verfahren w i r d aber „gewissermaßen rückwirkend" öffentlich 23 , weil über die Beratungen der Ausschüsse öffentlich berichtet wird. Informationssitzungen der Ausschüsse (hearings) sind immer öffentlich 24 . Dieses Gebot dient is Vgl. § 42 I I GGO I I . 16 Vgl. die Zahlen bei Rauschning, Verfassungssicherung S. 187. 17 Vgl. auch § 81 GeschOBTag. 18 Vgl. das instruktive Beispiel des Saarl. RundfunkG bei Rauschning, Verfassungssicherung S. 80 f. 1 9 Vgl. n u r §§ 21, 23 I I , 25 GGO I I . 20 Vgl. § 25 I I GGO I I und Rauschning, Verfassungssicherung S. 186. 21 I n dem Beispiel des Persönlichkeitsschutzes sind die RefE von 1954, 1958 und 1967 veröffentlicht worden. 22 Vgl. § 73 I I GeschOBTag. 23 So Starck, Gesetzesbegriff S. 162 24 Vgl. § 73 I I I , V u. V I GeschOBTag.
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dazu, Einflüsse und Gruppeninteressen sichtbar zu machen 25 . Deshalb sind auch bei der Berichterstattung die wesentlichen Ansichten der angehörten Interessenverbände wiederzugeben 26 . Welchen Stellenwert das Öffentlichkeitsprinzip innerhalb des Verfahrens hat und welche Funktion es für die parlamentarische Behandlung erfüllt, läßt sich nicht allgemein feststellen. Skepsis ist gegenüber Behauptungen geboten, daß Öffentlichkeit regelmäßig der Wahrheitsfindung diene; Zwang oder Möglichkeit zu öffentlicher Darstellung können ebenso gut dazu verleiten, mit falschen Argumenten zu arbeiten 2 7 . Öffentlichkeit läßt sich dennoch als die dem demokratischen Prinzip spezifisch entsprechende Verfahrensmaxime qualifizieren 28 . Angesichts des begrenzten Aufmerksamkeitspotentials der Öffentlichkeit eröffnet erst die Veröffentlichung eines Gesetzesentwurfs die Chance zu einer über die Fachkreise hinausgehenden Meinungsbildung. Solche Meinungsbildung kann unversehens i n konkreten politischen Einfluß umschlagen und damit die Einwirkungsmöglichkeiten der regelmäßig schon an den Vorarbeiten beteiligten Interessengruppen relativieren. Öffentlichkeit hat i m Gesetzgebungsverfahren also eine vielfältige Bedeutung. Sie ermöglicht Diskussion und Einflußnahme, gewährleistet erst die prinzipielle Offenheit der Rechtssetzung. Die zu beobachtende Sensibilität gegenüber geheimen Beschlüssen und verdeckter Einflußnahme erweist sich als Spezifikum demokratischer Willensbildung 2 9 . c) Offenheit
des Verfahrens
Noll charakterisiert das Gesetzgebungsverfahren als offen, formlos und informellen Einflüssen „praktisch schrankenlos ausgesetzt" 30 . Es gebe keine definierten Legitimationen und selbst illegitime Einflußnahme auf die Entscheidungsbildung sei nicht ausgeschlossen. Noll unterscheidet demgemäß zwischen dem formellen Gesetzgeber und dem informellen „lawmaker", bei dem die eigentliche Initiative zu einem Gesetz und dessen Ausformung liege 31 .
25 Vgl. Starck, Gesetzesbegriff S. 161. 26 Vgl. § 74 I I GeschOBTag. 27 So Luhmann, Legitimation S. 12. 28 Obgleich nicht erst m i t dieser Staatsform entstanden; vgl. Rauschning, Verfassungssicherung S. 182 f. u. Achterberg, Parlamentsrecht S. 70. 2» So auch Achterberg, Parlamentsrecht S. 70. Vgl. auch Hereth PVS 1970, S. 29 ff. 30 So Noll S. 46. 31 Vgl. Noll S. 45; ähnlich Scheuner DÖV 1960, S. 604 f.
1. Gesetzgebungsverfahren
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Die Offenheit des Gesetzgebungsverfahrens findet ihren Niederschlag an eher versteckter Stelle. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien sieht vor, daß „zur Beschaffung von Unterlagen" die Interessenverbände herangezogen werden können 32 , die Geschäftsordnung der Bundesregierung regelt den „Empfang von Deputationen" 3 3 und die Geschäftsordnung des Bundestages ermöglicht die öffentliche Anhörung von Interessenvertretern 34 . Diese vereinzelten Vorschriften spiegeln nur unzureichend den Einfluß der Interessenverbände i n der Praxis des Gesetzgebungsverfahrens wider. Sie sind aber für die rechtliche Betrachtung von besonderem Wert, weil sie einen formellen Zugang zu den Entscheidungsträgern eröffnen. Die Verbände haben innerhalb des gesetzgeberischen Entscheidungsprozesses nicht nur Einfluß als Vertreter unmittelbar betroffener Interessen; sie treten auch als Repräsentanten einer verfaßten Öffentlichkeit auf und beziehen Stellung zu Fragen, die allgemein politisch bedeutsam sind. I n dieser Funktion tragen sie zusammen mit den Parteien zu breitererer öffentlicher Meinungsbildung bei. So bezogen i n dem erörterten Beispiel des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes nicht nur die unmittelbar betroffenen Verbände Position, nämlich der Bundesverband der deutschen Zeitschriftenverleger, der Deutsche Presserat und der Deutsche Journalistenverband 3 5 , auch andere Verbände und Organisationen, etwa der DGB, die DAG, der Bundesverband der deutschen Industrie und der Deutsche Richterbund schalteten sich i n die öffentliche Diskussion ein 3 6 . Das gleiche gilt selbstverständlich für die Parteien.
Wieweit Verbände — als Interessenvertreter oder „verfaßte Öffentlichkeit" — das Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen vermögen, kann nur im Einzelfall erörtert werden 3 7 . Verfehlt wäre es, aus einer „phobie des groupements" 38 heraus solchen Einfluß von vornherein für illegitim zu erklären. Die Möglichkeiten, einen Gesetzesentwurf in den verschiedenen Stadien des Verfahrens zu beeinflussen, sind die konkrete Folge der Grundsätze des Gesetzgebungsverfahrens. Die Offenheit des legislativen Prozesses steht damit i n enger Beziehung zu den Prinzipien demokratischer Willensbildung 3 ^. Legitimes Ziel solcher Ein32 Vgl. §23 GGO I I ; zur Praxis eingehend Hennis PVS 1961, S. 28 ff.; v. Beyme S. 165 ff. 33 Vgl. §10 I I GeschOBReg.; dazu Hennis PVS 1961, S. 35. S4 Vgl. § 73 I I GeschOBTag; dazu v. Beyme S. 169 f. 35 Vgl. Z V u Z V 1958, S. 951 u. 984. 36 Vgl. Z V u Z V 1958, S. 1026 u. 1028. 37 I n s t r u k t i v hierzu Loewenberg S. 339 ff. für fünf ausgewählte Gesetze. Hierzu Denninger S. 40; vgl. auch Scheuner DÖV 1960, S. 605. Ähnliche Beziehungen bei Scheuner DÖV 1965, S. 578 f.; Maunz/Dürig/ Herzog A r t . 9 Rdn. 14; B K (v. Münch) Art. 9 Rdn. 17.
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flußnahme kann es durchaus sein, Änderungen eines geplanten Gesetzes zu erreichen. So forderten die Presse verbände i m Beispiel des RefE 1958, daß die „öffentliche Aufgabe" der Presse ausdrücklich erwähnt würde, u n d hatten damit bald Erfolg.
Diese Offenheit konturiert — neben den schon genannten Verfahrensgrundsätzen — das Gesetzgebungsverfahren erst als wichtigen Teilbereich des politischen und demokratischen Prozesses. d) Informationsgewinnung Entscheidungen können nur auf Grund der Kenntnis von Tatsachen ergehen. Sollen, wie i m Gesetzgebungsverfahren, künftige Geschehensabläufe beeinflußt werden, ist es von besonderem Interesse, wie die Gewinnung von Informationen institutionell verankert ist. Da Gesetze i m allgemeinen eine unbestimmte Zahl von Fällen regeln, ist es zu ihrem Erlaß erforderlich, generelle Tatsachen („legislative facts") 40 zu verarbeiten. Die Feststellung genereller Tatsachen stößt auf besondere methodische Schwierigkeiten 41 . Es kann dahingestellt bleiben, ob die vorhandenen Möglichkeiten empirischer Forschung 42 i m Gesetzgebungsverfahren ausgenutzt werden, wieweit die Gesetzgebung des Bundestages gut oder schlecht, hinreichend informiert oder spekulativ ist 4 3 . Für die hier angestellte Betrachtung des Verfahrens ist es allein bedeutsam, welche rechtlichen Möglichkeiten zur Tatsachenerhebung bestehen. I m Ministerialbereich sind wiederum die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Heranziehung der Verbände zu nennen. Es ist allgemein anerkannt, daß § 23 GGO I I nicht nur den Interessengruppen Einflußnahme auf gesetzgeberische Vorhaben ermöglicht, sondern auch der Bürokratie breite Informationschancen eröffnet 44 . Die Ministerien sind zudem i n der Lage, Sachverständigenkommissionen zur Vorbereitung von Gesetzen einzusetzen. Das Parlament kann sich Kenntnis von Tatsachen durch öffentliche Anhörung und Berufung von Enquete-Kommissionen verschaffen. Hearings finden i n der Praxis des Bundestages verhältnismäßig selten statt, dafür aber bei wichtigen Gesetzgebungsvorhaben 45 . Die Einsetzung von 40 Z u diesem Begriff — i m Unterschied zu „Einzeltatsachen" — S. 8 f. und Opp S. 16 ff. 41 Vgl. Philippi S. 9. 42 Vgl. dazu Philippi S. 83 ff. 43 Kritisch Noll S. 86. 44 Vgl. n u r Hennis PVS 1961, S. 29. 45 Vgl. v. Beyme S. 169 f.; Loewenberg S. 388 f.
Philippi
1. Gesetzgebungsverfahren
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Enquete-Kommissionen sieht die Geschäftsordnung des Bundestages erst seit jüngster Zeit vor 4 6 . Diese Einrichtung ist besonders geeignet, dem Parlament Informationen über „legislative facts" zu geben. Neben den Möglichkeiten des Parlaments, sich unabhängigen Sachverstand zunutze zu machen, ist die organinterne Spezialisierung von Bedeutung. Die ständigen Ausschüsse bieten hierfür den organisatorischen Anlaß und Rahmen. I m Gesetzgebungsverfahren sind aber nicht nur Informationen über gegenwärtige (oder historische) generelle Tatsachen notwendig, sondern auch Kenntnisse zukünftiger Tatsachen, da Gesetze regelmäßig Geschehensabläufe beeinflussen sollen, die i n der Zukunft liegen. Die Zukunft ist indes prinzipiell unbeobachtbar 47 . Es sind deshalb besondere Methoden notwendig, die wahrscheinliche Aussagen für die Zukunft ermöglichen 48 . Hierbei ist zwischen tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen zu differenzieren; soll ein Gesetz i n seinen Auswirkungen nicht ungewiß bleiben, müssen rechtliche und tatsächliche Folgen (auch Neben- und Spätfolgen) 49 abgeschätzt werden. Das Gesetzgebungsverfahren bietet dafür gewisse, wenngleich nicht immer wahrgenommene rechtliche Möglichkeiten. e) Bedeutung des Verfahrensgegenstandes Das Gesetzgebungsverfahren i n seiner oben umrissenen Form erlaubt auch Rückschlüsse auf seinen Gegenstand. Starck spricht geradezu von einer „Proportionalität zwischen Erzeugungsverfahren und Wichtigkeit der Regelung" 5 0 : das Gesetzgebungsverfahren sei daraufhin angelegt, möglichst dauerhafte, weitsichtig vorausgeplante und gut abgewogene Regelungen zu wichtigen politischen Fragen hervorzubringen 51 . Verfassungsrechtlich bieten die Gesetzesvorbehalte einen Anhalt dafür, ob eine Regelung wichtig ist 5 2 . Die Gesetzes vorbehalte der Grundrechte haben demzufolge eine doppelte Funktion. Über ihre Qualität als rechtsstaatliche Vorbehalte hinaus konturieren sie gesetzgeberische Kompetenzen 53 und lassen damit einen Schluß auf die Wichtigkeit und die Komplexität der Materie zu. Fundamentale Lebensbereiche, so Kommunikation, Berufsausübung und Eigentum, müssen durch Gesetz 46 Vgl. §74 a GeschOBTag; Achterberg, Parlamentsrecht S. 21. 47 So Philippi S. 125 f. 48 v g l . Philippi S. 126, zum Prognoseverfahren S. 129 ff.; vgl. auch Noll S. 120 f. u n d Opp S. 126 ff. 49 v g l . hierzu Noll S. 156 ff. so Vgl. Starck, Gesetzesbegriff S. 171. 51 So Starck, Gesetzesbegriff S. 170. 52 Vgl. Starck, Gesetzesbegriff S. 173. 53 So Starck, Gesetzesbegriff S. 173.
10 Ipsen
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geregelt werden. Soweit die Grundrechte einen Regelungsvorbehalt enthalten, also kein förmliches Gesetz erfordern, kann das Parlament über den Vorrang des Gesetzes seinen maßgeblichen Einfluß sichern 54 . Veröffentlichung
des Gesetzes
A r t . 82 I GG schreibt die Verkündung des Gesetzes i m Bundesgesetzblatt vor. Das Ergebnis des Verfahrens findet also eine formelle Publizität, die dem Verfahrensgrundsatz der Öffentlichkeit entspricht. Wenngleich durch gängige Gesetzgebungstechnik Gesetze heute keineswegs knapp und allgemeinverständlich abgefaßt sind, besteht doch immerhin i n der Tendenz die Möglichkeit für den Adressaten des Gesetzes, sich über die Rechtslage zu informieren 5 5 . Informelle Publikationsmittel wie Pressekonferenzen, Anzeigen i n Zeitungen und Verteilung von Informationsmaterial können neben der Veröffentlichung i m Bundesgesetzblatt dazu beitragen, daß ein Gesetz i n das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit eingeht 56 . g) Korrekturmöglichkeiten Ein erlassenes Gesetz kann zu jedem Zeitpunkt geändert werden. Es zeigt sich, daß ein großer Teil der gesetzgeberischen Tätigkeit i n der Novellierung von Gesetzen besteht 57 . Dennoch ist das Gesetzgebungsverfahren i n der hier beschriebenen Form nicht auf Flexibilität, sondern auf dauerhafte Regelungen angelegt 58 . Instrument zu schnellen Veränderungen ist typischerweise die Rechtsverordnung. Das Gesetz enthält demgegenüber gewöhnlich eine grundlegende Normierung. Dieser Inhalt entspricht dem Verfahren. Die Aufmerksamkeit für Problemimpulse ist begrenzt; Diskussion über den gleichen Gegenstand kann nicht uneingeschränkt stattfinden. Die konstatierte Abgewogenheit gesetzlicher Regelung als Funktion des Verfahrens hilft also, neue Normgebungsverfahren i n derselben Sache zu vermeiden. 2. Revisionsverfahren a) Einzelfallbezogenheit
und Sachnähe
Gerichte entscheiden nur auf Antrag, nicht auf Grund von i m voraus beschlossenen Richtlinien und Planungen. Die an die Rechtsprechung 54 55 56 57 58
Vgl. Vgl. vgl. vgl. Vgl.
Starck, Gesetzesbegriff S. 173. dazu Krüger S. 69 ff. Heldrich Jb. I I I S.339; Noll S. 57. Noll S. 77. Starck, Gesetzesbegriff S. 170.
2. Revisionsverfahren
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herangetragenen Einzelfälle begrenzen daher auch prinzipiell ihre Wirkungsmöglichkeiten. Freilich wäre es ein Irrtum, i n der Unterscheidung von Einzelfall und genereller Regelung das entscheidende Zuordnungskriterium für die gesetzgebende und rechtsprechende Gew a l t zu sehen. Das Revisionsrecht läßt, von der Streitwertrevision abgesehen, nur Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung an die Obersten Gerichtshöfe gelangen 59 . Die Entscheidung grundsätzlicher Rechtsfragen und damit die Sicherung einheitlicher Rechtsprechung muß notwendig über den Einzelfall hinausgehen, denn der einzelne Rechtsstreit w i r d für sich i n jeder Instanz „einheitlich", also für die Parteien bindend, entschieden. Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zum Revisionsverfahren muß es also sein, daß kraft der Verfahrensvorschriften 60 den Revisionsgerichten zwar Einzelfälle vorliegen, diese sich aber nicht i n ihren individuellen Elementen erschöpfen, sondern eine stellvertretende Funktion für andere Fälle — eben eine grundsätzliche Bedeutung — haben 61 . Typischerweise geht der Problemimpuls für judizielle Rechtsbildungen folglich vom Einzelfall aus. Die Einzelfallbezogenheit der Rechtsprechung weist gegenüber dem Gesetzgebungsverfahren mit seiner notwendigen Abstraktionshöhe beträchtliche Vorteile auf. Dem Richter liegt Anschauungsmaterial aus der Praxis vor. Er kann beurteilen, wie sich eine bestimmte Rechtsnorm auswirkt, demgemäß auch vom Gesetzgeber nicht vorhergesehene Probleme erkennen und Wege zu ihrer Lösung aufzeigen. Diese dem Gerichtsverfahren allgemein, dem Revisionsverfahren i m Hinblick auf Grundsatzfragen i m besonderen eigene Sachnähe, d. h. die Kenntnis der konkreten Auswirkungen einer Rechtsnorm, eröffnet der Rechtsprechung die verfahrensmäßigen Möglichkeiten, anhand des Einzelfalls, aber doch über ihn hinausgehend, Regeln aufzustellen, Grundsätze zu bilden und Lösungsmodelle zu erproben. Das Verfahren eignet sich deshalb i n erster Linie zur Gesetzeskonkretisierung. Nur auf Grund der Kenntnis tatsächlicher Folgen einer Rechtsnorm können Begriffe wie „Härte", „öffentliches Interesse" oder „wichtiger Grund" mit Inhalt gefüllt werden. Darüber hinaus kann i m Revisionsverfahren auch gesetzesvertretendes Richterrecht gebildet werden. Stehen Einzelfälle wiederholt zur Entscheidung, so ist damit die 59 Z u m hier nicht weiter zu verfolgenden Streit u m Grundsatz- und Streitwertrevision: Stein/Jonas (Grunsky) vor §545 A n m . 12; Fischer, B G H Rspr. S. 12 f.; Schwinge S. 26 ff.; Henke S. 10 f.; Schlüter S. 27 f.; Rosenberg §§ 143 I, 4,144 V 2. 60 Vgl. nur § 546 ZPO; § 72 A r b G G ; § 132 V w G O . 61 Vgl. hierzu Schwinge S. 52 ff. 10*
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Voraussetzung zur Grundsatzbildung, die nur aus breiter Fallanschauung folgen kann, gegeben. Die i m Vergleich zum Gesetzgeber engere, dafür aber eingehendere Problemsicht des Richters birgt nicht nur Chancen zur Rechtsbildung, sondern läßt auch ihre Grenzen erkennen. Vom Einzelfall oder — je nach Geschäftsordnungspraxis der Gerichte — auch einer Vielzahl von Einzelfällen kann nicht endlos abstrahiert werden 6 2 . Generalisierung bedeutet gleichzeitig Vereinfachung 63 . Wieweit ein .Fall von seinen individuellen Elementen entkleidet und ins allgemeine gewendet werden kann, läßt sich nicht abstrakt feststellen 64 . Immerhin kann man den Satz aufstellen, daß die aus der Sachnähe des Revisionsverfahrens folgende Eignung zur Rechtsbildung nur so lange und so weit besteht, wie die zu entscheidenden Einzelfälle i n ihrer Problematik und dem durch sie vermittelten Anschauungsmaterial reichen. b) Einflußmöglichkeiten Das Gesetzgebungsverfahren wurde als offenes, informeller Einflußnahme fast unbegrenzt zugängliches Verfahren bezeichnet. Das Gerichtsverfahren unterscheidet sich davon grundlegend. Die Prozeßordnungen eröffnen nur den unmittelbar beteiligten Parteien die Möglichkeit eines — überdies formalisierten — Einflusses. Der Zugang zum Verfahren ist definiert und begrenzt 65 . Informelle Versuche, auf den Inhalt der richterlichen Entscheidung einzuwirken, müßten, sofern sie nicht ohnehin Straftatbestände erfüllen 6 6 , als illegitim zurückgewiesen werden, w e i l sie geeignet sind, die Unbefangenheit des Gerichts zu beeinträchtigen. Grundlage des Urteils darf nur sein, was nach den Vorschriften des Prozeßrechts i n das Verfahren eingebracht worden und dem Prozeßgegner bekannt ist. Das Revisionsverfahren ist insofern auch offen, aber i n anderer Weise als das parlamentarische Verfahren der Gesetzgebung. Dort heißt Offenheit, daß informeller Einfluß und am Verfahren nicht unmittelbar beteiligte Kreise, politisches Gewicht vorausgesetzt, auf die Gesetzgebungsorgane einwirken können. Hier ist das Verfahren i n dem Sinne offen, daß es zu keiner Zeit als festgelegt erscheinen darf und gerade deshalb der Zugang definiert und begrenzt sein muß 6 7 . 62 So aber die v o m B A G geübte Praxis i n den Fällen der Weihnachtsgratifikationen, vgl. B A G 13, 129 ff. 63 So Noll S. 58. 64 Z u den Grenzen der Generalisierung vgl. Noll S. 58 u n d Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 236. 65 Vgl. Noll S. 46. 66 z. B. den der Richterbestechung, § 334 I I StGB. 67 Vgl. Noll S. 46 f.
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Das Beispiel des Persönlichkeitsschutzrechts k a n n auch diesen Unterschied illustrieren. Die auf die Veröffentlichung des RefE 1958 folgenden Stellungnahmen der Presseverbände, ihre Versuche, i m Justizministerium u n d beim Bundeskanzler Gehör zu finden® 8 , erscheinen als legitimes Unternehmen, ein Gesetzgebungsvorhaben i n seiner Entstehungsphase zu beeinflussen. Absurd wäre demgegenüber der Gedanke, daß der Bundesverband der deutschen Zeitungsverleger eine Eingabe an den i n einem einschlägigen F a l l entscheidenden Zivilsenat des B G H macht oder u m ein persönliches Gespräch m i t den Richtern nachsucht, u m ein i h m nachteilig erscheinendes U r t e i l zu verhindern.
Zu dem Umstand, daß informeller Einfluß i m Revisionsverfahren keinen Adressaten fände, kommt hinzu, daß die Entscheidung während des Prozesses nicht feststeht. Liegt i m Gesetzgebungsverfahren immerhin ein Entwurf als Diskussionsgrundlage vor, die i m Hinblick auf Intentionen und Folgen kritisiert werden kann, so müßte i m Gerichtsverfahren eine derartige K r i t i k ins Leere gehen, w e i l der Gegenstand noch nicht existiert. c) Informationsgewinnung Weitgehend ungeklärt, obwohl eines der Kernprobleme des Richterrechts, ist die Frage, auf welche Weise Informationen i n das Revisionsverfahren einfließen 69 . Vorauszusetzen ist auch hier die Unterscheidung von Einzeltatsachen und generellen Tatsachen 70 . Die Einzeltatsachen machen die Besonderheit eines bestimmten Falles aus. Sie sind i n der Regel Gegenstand der Beweisaufnahme i n den Tatsacheninstanzen, an deren Feststellungen das Revisionsgericht gebunden ist 7 1 . I n den oben erwähnten Beispielen aus der Rechtsprechung handelt es sich u m Einzeltatsachen, wenn festgestellt wurde, daß — der Kläger i m Herrenreiter-Urteil auf dem Reklame-Photo abgebildet w a r 7 2 ; — i m Fall des Freiburger Bausperrenurteils die Verwaltung i n der Lage gewesen wäre, ihre Planungen innerhalb von drei Jahren abzuschließen 73 ; — die Croupiers, über deren Aussperrung das B A G zu entscheiden hatte, i n den Streik getreten waren 7 4 . es Vgl. zu den einzelnen Stadien Z V u Z V 1958, S. 338, 1026 u. 1028. 69 Z u diesem Problemkreis Schlüter S. 32; Noll S. 95; Heldrich S. 338. 70 Vgl. Philippi S. 7. 71 Vgl. n u r § 561 ZPO. 72 Vgl. B G H Z 26, 349 (351). 73 Vgl. B G H Z 30, 338 ff. 74 Vgl. B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 304 ff.
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Diese Einzeltatsachen, die weitgehend mit der „Tatfrage" des Revisionsrecht identisch sind 7 5 , sind hier nicht weiter zu verfolgen. Demgegenüber liegen generelle Tatsachen (legislative facts) vor, wenn i n den genannten Entscheidungen ausgeführt wird, daß — sich seit 1900 tiefgreifende technische und soziale Veränderungen vollzogen haben, die für den Gesetzgeber schlechthin unvorhersehbare Möglichkeiten schufen, Persönlichkeitsgüter besonders nachhaltig zu verletzen 7 6 ; — die Bauplanung i n einem verhältnismäßig kleinen Bereich „selbst unter außergewöhnlich schwierigen Verhältnissen" innerhalb von drei Jahren bewältigt werden kann 7 7 ; — Arbeitskämpfe volkswirtschaftliche Schäden mit sich bringen und deshalb unerwünscht sind 7 8 . Generelle Tatsachen, deren Auswahl natürlicherweise wertungsgebunden ist 7 9 , sind —ebenso wie i m Gesetzgebungsverfahren — Grundlage und Anlaß von Richterrechtsbildung. So würde das umstrittene Schmerzensgeld nicht gewährt worden sein, wenn die technische Entwicklung ebenso zu beurteilen wäre wie i m Jahre 1900. Der B G H hätte eine vierjährige Veränderungssperre nicht als Enteignung qualifiziert, wenn die Planung nur in diesem Zeitraum zu verwirklichen gewesen wäre, und schließlich ist es fraglich, ob das B A G den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf Arbeitskämpfe angewandt hätte, wenn keine volkswirtschaftlichen Schäden zu befürchten wären. Die Frage ist also zunächst, wie generelle Tatsachen i m Revisionsverfahren festgestellt werden können. Angesichts fehlender prozessualer Möglichkeiten, Kenntnis genereller Tatsachen durch Beweisaufnahme zu erlangen 80 — und an diesem Punkt w i r d deutlich, wie notwendig es ist, prinzipiell zwischen dem BVerfG und den übrigen Gerichten zu unterscheiden 81 —, fließen die Informationen durch die zu entscheidenden Fälle i n das Verfahren ein. Tatsachenfeststellungen anhand eines Einzelfalls können aber nicht beliebig generalisiert werden 8 2 . Auch eine Mehrzahl von anhän75 Vgl. hierzu Kuchinke S. 126; Henke S. 258 ff.; Schwinge S. 52 ff. 76 So B G H Z 39, 124 (139). 77 So B G H Z 30, 338 (347 f.). 78 So B A G A P Nr. 1 zu A r t . 9 G G (Arbeitskampf) Bl. 220. 79 Vgl. hierzu Schwinge S. 55; Henke S. 269 ff. so So §561 I, I I ZPO; vgl. dazu Stein/Jonas (Grunsky) §561 I I , A n m . I I 2 g, I V 1; Schönke/Kuchinke § 78 I I . 81 Vgl. aber zu den Bemühungen, das B V e r f G an die Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers zu binden, Philippi S. I ff. 82 Vgl. Noll S. 58; zum „Richtliniencharakter" vgl. Schwinge S. 52 ff.
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gigen Verfahren braucht noch keine zutreffenden Informationen über generelle Tatsachen zu vermitteln. Die Vielfalt der Sachverhalte macht es unter Umständen unmöglich, ein hinreichend genaues B i l d der „legislative facts" zu erreichen 83 . Überdies wäre zu prüfen, welche Methoden die Revisionsgerichte anwenden, um von Einzelfällen auf generelle Tatsachen zu schließen, und welchen wissenschaftlichen Aussagewert diese Methoden besitzen 84 . Damit soll nicht die i n Anschauung des Falles gewonnene Sachkenntnis der Revisionsgerichte i n Zweifel gezogen werden. Denkbar ist es, daß die Gerichte trotz ungenügender prozessualer Informationsmöglichkeiten bessere „Gesetzgebung" betreiben als das Parlament, das generelle Tatsachen durch Enquete-Kommissionen oder Sachverständige leichter feststellen kann 8 5 . Die Generalisierbarkeit des Einzelfalles begrenzt aber spürbar die Eignung des Revisionsverfahrens für quasi-legislatorische Aufgaben 86 . Eine solche Grenze war i n der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit des Heimarbeitsgesetzes erreicht 87 . Der Senat führte aus, er habe es nicht für vertretbar gehalten, ohne Kenntnis von der Zusammensetzung, Arbeitsweise und praktischen Bedeutung der Heimarbeitsausschüsse zu entscheiden. I n entsprechender Anwendung des § 293 ZPO habe das Gericht deshalb sachkundige Personen gehört 88 . Der Gedanke, daß sich ein Revisionsgericht die Erfahrungsgrundlagen selbst müsse beschaffen können, gegebenenfalls in Anlehnung an § 293 ZPO, war schon vorher aufgetaucht 89 . Es mag dahinstehen, ob eine Analogie zu dieser Vorschrift den Revisionsgerichten ermöglichen kann, ihre Enquete selbst zu betreiben 90 . Aus alledem w i r d aber deutlich erkennbar, daß das Verfahren hier Schranken setzt, die eine verfassungsrechtliche Betrachtung berücksichtigen muß. Der B G H hat i n zwei neueren Entscheidungen die Erkenntnismöglichkeiten des Verfahrens als Grenze judizieller Rechtsbildungsbefugnis anerkannt. I n der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des sog. Quotenvorrechts der Sozialversicherungsträger (§ 1542 RVO) 9 1 kommt der B G H zum Ergebnis, daß das i h m zugängliche Material nicht auf
83 Vgl. Schlüter S. 32 m i t dem Hinweis, daß Erfahrungswissen erst am Ende einer langjährigen J u d i k a t u r stehen könne. 84 Hierzu Philippi S. 86 ff. 85 Ähnlich Noll S. 95. 86 v g l . Luhmann, Rechtssoziologie I I , S. 236; Schlüter S. 32. 87 Vgl. B A G R d A 1972, S. 247. 88 Vgl. B A G R d A 1972, S.248; ein weiterer F a l l i n B V e r f G 18, 224. 89 Vgl. Wiedemann SAE 1969, S. 265. 90 Dafür Wiedemann SAE 1969, S. 265; kritisch Schlüter S. 32. 91 Vgl. B G H N J W 1969, S. 98 ff.
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eine willkürliche Ungleichbehandlung schließen lasse 92 . Eine Änderung der gefestigten Rechtsprechung sei auch deshalb abzulehnen, weil das Gericht i m Gegensatz zum Gesetzgeber keine Erhebungen über die gesamtwirtschaftlichen Folgen einer Rechtsänderung anstellen könne und nicht i n der Lage sei, Übergangsregelungen zu schaffen 93 . M i t ähnlicher Begründung lehnt es der B G H ab, eine Geschlechtsänderung auf Grund operativer Geschlechtsumwandlung i n das Geburtenbuch eintragen zu lassen 94 . Nur der Gesetzgeber habe die umfassenden Informationsmöglichkeiten und Mittel, u m die Auswirkungen einer rechtlich anerkannten Geschlechtsumwandlung zu ordnen 95 . Die richterliche Rechtsfortbildung sei i n einem solchen Fall überfordert. Noch größere Schwierigkeiten ergeben sich für die revisionsgerichtliche Entscheidung, wenn zukünftige Tatsachen festzustellen sind. Da von gegenwärtigen Tatsachen nicht ohne weiteres auf die Zukunft geschlossen werden kann, müssen besondere Prognosemethoden angewandt werden 9 6 . Wie oben kann man zwischen tatsächlichen und rechtlichen zukünftigen Auswirkungen unterscheiden. U m zukünftige Auswirkungen tatsächlicher A r t handelt es sich z. B., wenn die Versicherungsgesellschaften infolge einer bestimmten Revisionsentscheidung ihre Prämien erhöhen 97 oder die Sozialversicherungsträger wegen des Wegfalls des Quotenvorrechts weniger leistungsfähig wären 9 8 . Solche Auswirkungen lassen sich auf Grund des Einzelfalls kaum vorhersagen. Zwar können die Revisionsbegründungen einen Anhalt für derartige Folgeerscheinungen geben, das Revisionsverfahren bietet aber keine Möglichkeiten, Gutachten einzuholen, u m Prognosen zu überprüfen. Ähnlich ist es mit rechtlichen Auswirkungen. Die rechtlichen Nebenfolgen einer Entscheidung sind genauso schwer kalkulierbar wie die tatsächlichen Auswirkungen 9 9 . Hinzu kommt, daß eine — wenn auch generalisierende — Entscheidung anhand eines Einzelfalls i n ihren Aussagemöglichkeiten beschränkt ist. Übergangsregelungen, wie sie zur gesetzgeberischen Lösung von Folgeproblemen typisch sind, kann der Richter nicht erlassen 100 . Zwar 92 So B G H N J W 1969, S. 100. 93 So B G H N J W 1969, S. 100. 94 Vgl. B G H J Z 1972, S. 281 ff. 95 So B G H JZ 1972, S. 283. 96 Vgl. dazu Philippi S. 126. 97 So das Beispiel von Fischer, BGH-Rspr. S. 12. 98 Vgl. B G H N J W 1969, S. 100. 99 Z u dieser Problematik B G H JZ 1972, S. 283. 100 So auch B G H N J W 1969, S. 100.
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w i r d gelegentlich eine Neigung von Gerichten festgestellt, derartige Nebenfolgen i m voraus durch obiter dicta zu bewältigen 1 0 1 ; es ist jedoch zu berücksichtigen, daß hypothetische Fälle nicht die Anschauung wirklicher Sachverhalte ersetzen können 1 0 2 . d) Korrekturmöglichkeiten Eine verbreitete Auffassung nimmt an, daß gerichtliche Entscheidungen nur schwer korrigierbar seien 103 . Wieweit das für die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung i m Hinblick auf § 31 BVerfGG zutrifft, mag hier offenbleiben 104 . Bei den hier zur Diskussion stehenden Gerichtszweigen w i r d man zu einer solchen Behauptung nur gelangen können, wenn man eine strikte Präjudizienbindung voraussetzt 105 . Eine solche Bindung läßt sich aus dem positiven Recht nicht begründen, allenfalls kann von einer „präsumtiven" Verbindlichkeit der Vorentscheidungen 106 die Rede sein. Für eine präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien läßt sich auf Grund der revisionsrichterlichen Aufgaben manches anführen; denn judizielle Rechtsentwicklungen müssen eine gewisse Stabilität haben 1 0 7 . Ohne Konstanz der Judikate könnte sich kein Richterrecht entwickeln: einander laufend widersprechende Entscheidungen ließen keine Rechtsbildung zu, w e i l niemand wüßte, was gilt. Stabilität des Richterrechts bedeutet aber nicht, daß die Revisionsgerichte gehindert sind, m i t ihrer festgefügten Rechtsprechung zu brechen. Insofern bestehen Ähnlichkeiten m i t dem Gesetzgebungsverfahren, das auf dauerhafte Ergebnisse angelegt ist 1 0 8 , die aber dennoch korrigiert werden können. Gegenüber dem parlamentarischen Rechtssetzungsverfahren zeigt das Revisionsverfahren eher eine flexible Tendenz 109 . Der Richter kann zudem nach Einzelfällen differenzieren, ohne gleich die festgefügte Rechtsprechung umstoßen zu müssen 110 . Damit soll nicht der Scheinbegründung das Wort geredet sein, die die Innovation als altes Recht ausgibt 1 1 1 . Aus der Anschauung der Einzelfälle ergeben sich aber Differenzierungsmöglichioi !02 i°3 104 los 106 107 los 109 no in
Dazu bes. Schlüter S. 28 ff. Vgl. dazu Esser, Vorverständnis S. 67; Noll S. 130. Vgl. n u r Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 236. Dazu Kriele S. 290 ff. w i e es Luhmann, Rechtssoziologie I I S. 236 offenbar tut. So Kriele S. 243. vgl. H. P. Schneider S. 39. Vgl. Starck, Gesetzesbegriff S. 170. So auch A. Arndt N J W 1963, S. 1276. Vgl. A. Arndt N J W 1963, S. 1276. Vgl. dazu Luhmann, Rechtssozioiogie I I , S. 237.
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keiten und Konstruktionschancen, die dem auf generelle Regelung und Formulierung bedachten Gesetzgeber nicht offenstehen 112 . Darüber hinaus ist das Gericht nicht gehindert, von festgefügter Rechtsprechung abzuweichen. Es entspricht auch der Praxis der Revisionsinstanzen, eine als nicht mehr haltbar erkannte Rechtsprechung offen aufzugeben. e) Publizität Gerichtliche Entscheidungen brauchen nicht veröffentlicht zu werden; eine dem A r t . 82 GG entsprechende Vorschrift fehlt. Man könnte allerdings aus der Veröffentlichungspraxis der Revisionsgerichte den Schluß ziehen, daß i m Hinblick auf die Publizität die Verfahren sich gleichen 113 . Damit würde aber verkannt, daß die grundgesetzlich angeordnete Verkündung von Gesetzen zu den übrigen Verfahrensmaximen in Beziehung steht. Einem öffentlichen, informellen Einfluß zugänglichen Verfahren entspricht die Publizierung des Ergebnisses. Demgegenüber hat eine Entscheidung, die i n einem von öffentlichem Einfluß abgeschirmten Verfahren am Einzelfall gewonnen wird, gleichwohl von grundsätzlicher Bedeutung ist, geringere Chancen, i n das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit einzugehen 114 . Die Veröffentlichung in den Entscheidungssammlungen, die ohnehin nur der Fachmann überblicken kann, vermag hieran nichts zu ändern. Gesetzesrecht bietet deshalb die besseren Chancen für allgemeine Rechtskenntnis 115 .
112
Ähnlich Esser, Vorverständnis S. 155. Nicht alle Entscheidungen werden publiziert; vgl. Noll S. 57. 114 v g l , dazu Heldrich Jb. I I I , S. 339. us Ähnlich Noll S. 57. 113
4. Kapitel Kontrollverfahren 1. Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG Die Institutionalisierung, nicht Begründung 1 des richterlichen Prüfungsrechts i n Art. 100 I GG hat die i n der Weimarer Staatsrechtslehre 2 an erster Stelle diskutierten funktionell-rechtlichen Konsequenzen einer richterlichen Kontrollkompetenz gegenüber dem Gesetzgeber i n den Hintergrund treten lassen. Es muß deshalb betont werden, daß die Normenkontrolle nicht nur hermeneutische Probleme aufwirft und folglich nicht allein auf der Ebene des Normwiderspruchs und seiner Lösung verstehbar ist, sondern daß die Zuständigkeit für die Entscheidung, welche Norm i n welcher Auslegung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist, zugleich das Verhältnis zwischen kontrollierender und kontrollierter Instanz bestimmt 3 . Der Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz hat insofern die Tendenz, auch eine Vorrangstellung der zur verbindlichen Auslegung der Verfassung berufenen Organe zu begründen 4 . Kann die Interpretation nur i n einem festgelegten Verfahren erfolgen, so ist davon auszugehen, daß damit die funktionell-rechtlichen Probleme gelöst werden sollten. a) Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit nachkonstitutioneller Gesetze Nach Auffassung des BVerfG gibt es eine Rechtsvermutung, die für die Vereinbarkeit nachkonstitutioneller Gesetze mit dem Grundgesetz spricht 5 . I m Schrifttum bestreitet man diese Vermutung vielfach und stellt ihre Nützlichkeit i n Frage 6 . 1 So allg. Meinung: vgl. B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 6. 2 Vgl. hierzu v. Hippel HdStR I I , S. 546 ff.; Thoma AöR 43 (1922), S. 267 ff.; Triepel AöR 39 (1920), S.536f.; C. Schmitt HdStR I I , S. 602 ff.; einen Überblick gibt Maurer DÖV 1963, S. 638 ff. 3 So schon C. Schmitt HdStR I I , S. 606. 4 Vgl. C. Schmitt HdStR I I , S. 602, dessen Behauptung, die „Hierarchie der Normen" führe zur Hierarchie der Rechtsanwendungsinstanzen, angesichts des A r t . 100 I GG natürlich nicht aufrechterhalten werden kann. s So B V e r f G 2, 266 (282) std. Rspr. 6 z . B . von B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 168; Michel JuS 1961, S. 274; ähnlich
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T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
Die Auffassung des BVerfG w i r d zunächst durch den Wortlaut des A r t . 1001 GG gestützt. Ist der Richter nicht von der Verfassungswidrigkeit eines geprüften Gesetzes überzeugt, so muß er es anwenden. Diese Vorschrift wäre ohne die vom BVerfG aufgestellte Vermutung kaum verständlich 7 . Stünde dem Gesetzgeber nicht die Vermutung der Rechtmäßigkeit seiner Akte zur Seite, müßte schon der Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit, nicht erst die Uberzeugung von der Verfassungswidrigkeit zur Vorlage an das BVerfG Anlaß geben8. Weiterhin bestätigen die vielfachen Vorkehrungen des Gesetzgebungsverfahrens zur Sicherung des Verfassungsrechts die Ansicht des BVerfG 9 . Durchläuft eine Vorlage die verschiedenen Stationen des parlamentarischen Rechtssetzungsverfahrens mit ihren unterschiedlichen dichten Filtern, so w i r d man die Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung immerh i n vermuten können. Spricht aber eine Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit nachkonstitutioneller Gesetze10, so stellt sich die konkrete Normenkontrolle als ein Verfahren dar, das einer Ausnahmesituation des Richters zwischen Gesetzesbindung und Verfassungstreue Rechnung trägt 1 1 . b) Methodische Schwierigkeiten bei der Feststellung von Verfassungsverstößen Die Bemühungen, Prinzipien der Verfassungsinterpretation zu erarbeiten, haben zu der Erkenntnis geführt, daß die generalklauselartigen Formulierungen namentlich des Grundrechtsteils ein Urteil darüber, ob ein Gesetz m i t der Verfassung übereinstimmt oder nicht, methodisch schwierig machen 12 . Es geht hier nicht einmal i n erster Linie u m die positive Aussage von Grundrechten, die i n ihrer rigiden Fassung häufig nichts an Klarheit zu wünschen übrig lassen, sondern um die Grenzen, Schranken und Wesensgehalte der Grundrechte und damit Haak S. 203 u n d Bogs S. 21; f ü r das BVerfG: Maunz/Dürig/Herzog A r t . 20 Rdn. 63; Hesse, Grundzüge S. 33; Eckardt S. 40 f. Grundlegend die Untersuchung von Meder, bes. S. 56 ff. 7 Vgl. hierzu B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 168, der daraus n u r „verfahrensrechtliche Schlüsse" zieht. 8 Vgl. Eckardt S. 41. 9 Vgl. i m einzelnen Rauschning, Verfassungssicherung S. 148 ff. 10 Eckardt S. 40 f. n i m m t eine solche Vermutung auch für vorkonstitutionelle Gesetze an. 11 Diese Ausnahmesituation bildet schlechthin den Ausgangspunkt der Diskussion u m das richterliche Prüfungsrecht. Vgl. etwa v. Hippel HdStR I I , S. 547; Radbruch S. 352 ff.; bes. Rüthers S. 74 ff. 12 Vgl. n u r Ehmke V V d S t R L 20 (1963), S.82ff.; Hesse, Grundzüge S. 20 ff.; Kriele S. 53; Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 78; F. Müller, Normstruktur S. 81, 139, 159, 201 u n d Grundrechte S. 79 f.; Rauschning, Verfassungssicherung S. 42. F ü r A r t . 100 GG vgl. Brinckmann S. 54 ff. u n d Berkemann AöR 99 (1974), S. 55 ff.
1. Die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 100 G G
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u m die Ausgestaltung rechtlicher, folglich begrenzter Freiheit 1 3 . Evidente Ergebnisse sind bei der Grundrechtsinterpretation so wenig ausgeschlossen wie i n anderen Rechtsbereichen. Nur sind sie nicht die Regel, denn über das evidente Ergebnis w i r d kein Streit entstehen 14 . Für die meisten Rechtsfragen, die der Grundrechtsteil aufwirft, liegt die Lösung dagegen nicht auf der Hand. Es gibt eine Vielzahl von Meinungen, die gleichermaßen vertretbar sind. Auch entspricht es gesicherter hermeneutischer Erkenntnis, daß verschiedenartige Vorverständnisse und Bewertungskriterien zu unterschiedlichen Entscheidungen führen können 15 . Was dem Grundgesetz inhaltlich entspricht und was i h m entgegensteht, ist also keineswegs klar und eindeutig. c) Gesetzgeberische
Gestaltungskompetenzen
I m staatsrechtlichen Schrifttum ist die Rede davon, daß der Gesetzgeber die Grundrechte zu „konkretisieren" habe 16 . Demgemäß erscheint die judizielle Konkretisierung von Generalklauseln, wie sie oben skizziert worden ist, und die gesetzgeberische Konkretisierung von Grundrechten (oder Verfassungsprinzipien) methodologisch als ähnlich und weitgehend austauschbar 17 . Diese Gleichsetzung verwischt gewichtige Unterschiede zwischen dem Vorgehen des Gesetzgebers und dem des Richters. Die Konkretisierung wurde oben als ein „auf Regelbildung abzielendes Verfahren" gekennzeichnet 18 , das die Spezifizierung unbestimmter Begriffe und eine Typisierung entschiedener Fälle umfaßt. Dieses Denkmodell t r i f f t nicht das legislatorische Vorgehen. Der Gesetzgeber kann Normen setzen, er braucht nicht auf Regelbildung abzuzielen. Hinzu kommt, daß die Judikatur aus Generalklauseln nur dann Rationalitätsgarantien enthält, wenn sie i n den einzelnen Phasen ihrer Entwicklung zurückverfolgt werden kann, es also einsehbar ist, daß die judizielle Rechtsbildung ihren Ursprung i m Gesetz hat und sich organisch vollzieht. Gesetzgeberische Normierungen brauchen hingegen nicht aus der Verfassung „ableitbar" zu sein, weil sie sich i n ihrer Geltung nicht auf die inhaltliche Vorformung durch die Verfassung gründen.
is Vgl. Hesse, Grundzüge S. 133 u n d F. Müller, Grundrechte S. 17 ff. 14 Vgl. Kriele S. 91; Hesse, Grundzüge S. 21; Brinckmann S. 61. is Vgl. n u r Esser, Vorverständnis S. 133 ff.; Ehmke V V d S t R L 20 (1963) S. 56 f.; Hesse, Grundzüge S. 26; Kriele S. 27 ff. iß Vgl. Hesse, Grundzüge S. 128. 17 So Göldner S. 104 ff. is Vgl. oben T e i l I, 1. Kap. 3 a.
158
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
Beim Gesetzgeber spricht man deshalb besser von Gestaltung 19 als von Konkretisierung. Wo die Verfassung für die gesetzgeberische Regelung von Grundrechtsvorbehalten bindende Richtlinien enthält, ist der Begriff „Ausgestaltung" angemessen20. Die Verfassung weist dem Gesetzgeber an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Gründen die Kompetenz zu, Grundrechte auszugestalten. Zum einen sind hier die rechtsstaatlichen Vorbehalte zu nennen, zum anderen setzt das Grundgesetz an verschiedenen Stellen voraus, daß eine komplexe Materie nur durch Gesetz geregelt werden kann (so i n A r t . 3 I I GG und A r t . 6 V GG). Die dem Gesetzgeber eingeräumten Kompetenzen bergen eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten, deren Rahmen zwar durch die Verfassung festgelegt ist, die i m einzelnen aber — namentlich i n den entscheidenden Fragen des sozialen Lebens — durch gesetzgeberische Vorstellungen von einer wünschenswerten Ordnung bestimmt werden. Schon an dieser Stelle w i r d deutlich, daß die Feststellungen zur Delegation von Rechtsbildungsaufgaben an die Rechtsprechung auf die Grundrechte nicht leicht zu übertragen sind. Während Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe für den Richter i n letzter Instanz bestimmt sind, ist i n erster Linie der Gesetzgeber Adressat der hier zur Rede stehenden Verfassungsnormen. d) Die richterliche Kontrollbefugnis als eingeschränkte Konkretisierungskompetenz Kontrolle ist nur möglich, wenn die Verfassung interpretiert wird: Verfassungsauslegung ist notwendig Verfassungskonkretisierung 21 , also „Verbesonderung" von Grundrechten und Prinzipien auf eine durch einen konkreten Fall nahegelegte Problemlage. Dennoch zielt die Kontrolle am Maßstab der Verfassung auf ein anderes Ergebnis ab als die judizielle Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen des einfachen Rechts (und gegebenenfalls der Verfassung, wenn der Gesetzgeber untätig bleibt). Diese Eigenart der Kontrolle w i r d gelegentlich mit der dem Verwaltungsrecht entlehnten Wendung umschrieben, der Richter dürfe sein Ermessen nicht an die Stelle des gesetzgeberischen stellen 22 . Wenn auch 19 Dieser Begriff auch i n der neueren Rspr. des BVerfG: vgl. Hesse, Grundzüge S. 227 Anm. 81. 29 Vgl. hierzu auch Hesse, Grundzüge S. 128. 21 Vgl. Hesse, Grundzüge S. 25 f. 22 So etwa Maunz/Dürig/Herzog A r t . 20 Rdn. 69 u n d BVerfG 3, 162 (182) u n d die folgenden Entscheidungen zu A r t . 3 I GG; vgl. auch BVerfG 9, 334 (337).
1. Die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 100 G G
159
diese Parallele nicht ohne Gefahren ist, weil die starke Abhängigkeit der Verwaltung von der Rechtsprechung für das Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt nicht eben beispielhaft sein muß 2 3 , steckt i n diesem Gedanken der Ansatz zur Lösung. Die gesetzgeberischen Gestaltungskompetenzen bleiben nur gewahrt, wenn der Richter sich darauf beschränkt, den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers herauszuarbeiten, und prüft, ob eine gesetzliche Norm als Ausfüllung dieses Spielraums gelten kann 2 4 . Die judizielle Konkretisierung zielt bei der Normenkontrolle — anders als i n den Fällen gesetzeskonkretisierenden Richterrechts — also nicht auf eine inhaltlich bestimmte Einzellösung ab, sondern sucht den gesetzgeberischen Spielraum zu umreißen 25 . Verkürzend läßt sich der Unterschied zwischen der richterlichen Kontrolle von Rechtssätzen und der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe folgendermaßen darstellen: bei der Kontrolle ist zu fragen, ob die gesetzliche Wertung „falsch", d. h. verfassungswidrig, ist, während die judizielle Konkretisierung eine unter mehreren möglichen Wertungen als „richtig" ausgibt 26 . Auch bei der Kontrolle fehlen somit nicht die methodischen Schwierigkeiten, die der Konkretisierung eigen sind. Der Richter ist aber der Notwendigkeit enthoben, juristisch zu begründen, was nicht begründbar ist: daß die von i h m gewählte Lösung als einzig richtig anzusehen ist. Dieses Ergebnis, Normenkontrolle als eingeschränkte Konkretisierungskompetenz zu betrachten, w i r d durch Bachofs Forderung nach einer „broad interpretation" der Verfassung gestützt 27 . Bachof geht davon aus, daß die der Verfassung eigene, zur Anpassung an veränderte soziale und wirtschaftliche Entwicklungen notwendige Elastizität immer mehrere Auslegungen möglich erscheinen lasse, von denen nicht behauptet werden könne, sie seien „falsch": „ H ä l t sich der Gesetzgeber i m Rahmen dieser Auslegungsmöglichkeiten, so sollte sein Gesetz nicht deshalb als verfassungswidrig bezeichnet werden können, w e i l der Richter einer anderen Auslegung zuneigt. . . . Ich weiß, daß 23 Vgl. bes. Lerche AöR 90 (1965), S. 343 f. u n d i m einzelnen unten T e i l I I I , 5. Kap. 3. 24 Vgl. Göldner S. 110 u n d 204; beispielhaft die Formulierung i n RGZ 128, .18 (33). Vgl. auch Berkemann AöR 99 (1974), S. 68. 25 Das n i m m t das BVerfG i n std. Rspr. für den Gleichheitssatz an: vgl. BVerfG 3, 162 (182) bis 27, 111 (127); ansonsten ist die Eigenart der Kontrolle i n der Rspr. des B V e r f G weniger deutlich. 26 Ähnlich wie hier Rüthers S. 76 ff., der die Ablehnung des Satzes „ M a r k gleich M a r k " i m Aufwertungsurteil RGZ 107, 78 ff. für gerechtfertigt hält, die richterliche Festsetzung eines neuen Währungskurses aber als Kompetenzüberschreitung ansieht; vgl. auch Meder S. 51 u. 62 f. 27 Vgl. Bachof V V d S t R L 12 (1954), S. 54.
160
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
diese Auffassung deutscher richterlicher Tradition wenig entspricht, u n d ich denke auch nicht daran, Entsprechendes für die Auslegung anderer Rechtsnormen zu empfehlen. Auch mag für das Messen von Handlungen der Exekutive u n d von Gerichtsentscheidungen ein strengerer Maßstab angezeigt sein. Für das Verhältnis von Verfassung u n d (einfachem) Gesetz entspricht jener Grundsatz aber einer durchaus richtigen Einsicht i n die Aufgabenstellung zwischen Gesetzgeber u n d Richter . . . 2 8 . "
Der Grund, dessentwegen der Grundsatz der „broad interpretation" nicht für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts herangezogen werden kann, liegt i n dem Umstand, daß unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln einfacher Gesetze Rechtsbildungsbefugnisse an den Richter delegieren und damit eine „Letztkonkretisierung" erfordern. e) Eindeutigkeit
statt Plausibilität
des Ergebnisses
Ergebnisse juristischer Auslegung und Konkretisierung können normalerweise nicht mehr als plausibel sein 29 . Die Bemühungen der neueren Methodenlehre sind demgemäß von der Absicht bestimmt, „vertretbare" von „unvertretbaren" Interpretationen zu unterscheiden 30 . Unter den verschiedenen vertretbaren Auffassungen läßt sich jedoch mit den Prinzipien der Methodenlehre nicht eine allein „richtige" ermitteln. Die Normenkontrolle zielt i n dem hier entwickelten Verständnis demgegenüber nicht nur auf plausible, sondern auf eindeutige Ergebnisse ab. Das BVerfG spricht bisweilen davon, daß der Verstoß des Gesetzgebers gegen die Verfassung „evident" sein müsse 31 . Davon kann nicht die Rede sein, soweit damit die „Offensichtlichkeit" des Verfassungsverstoßes gemeint ist; auch die verborgene Verfassungswidrigkeit führt zur Verwerfung der Norm. Man spricht deshalb besser von „eindeutiger" 3 2 oder „ k l a r e r " 3 3 Verfassungswidrigkeit. Da aber über die Eindeutigkeit eines Verstoßes gegen die Verfassung durchaus verschiedene Meinungen bestehen können, ist zu fragen, welche verfahrensrechtlichen Vorkehrungen A r t . 100 I GG enthält, um eindeutige Ergebnisse zu garantieren.
28 So Bachof V V d S t R L 12 (1954), S. 54. 29 Vgl. Kriele S. 55. 30 So Kriele S. 55; Meder S. 62 f.; Berkemann AöR 99 (1974), S. 68. 31 Vgl. B V e r f G 12, 281 (296); vgl. auch B V e r f G 13, 97 (107) und Hesse, Grundzüge S. 134. 32 So Hesse, Grundzüge S. 226. 33 So Ehmke W d S t R L 20 (1963), S. 75.
1. Die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 100 G G
f) Die Ausgestaltung
des Normenkontrollverfahrens
161
nach Art. 1001 GG
A r t . 1001 GG und die entsprechenden Regelungen des BVerfGG stellen für den Vorlagebeschluß drei Voraussetzungen auf: — Die Gültigkeit oder Ungültigkeit des vorzulegenden Gesetzes muß entscheidungserheblich sein. — Das Gericht muß von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt sein. — Das Gericht muß seine Auffassung i m Vorlagebeschluß begründen. aa) Die Entscheidungserheblichkeit der Norm Aus der von A r t . 100 GG geforderten Entscheidungserheblichkeit der Norm folgt zunächst, daß die Gerichte nicht die Befugnis haben, Verfassungsverstöße des Gesetzgebers i m allgemeinen aufzudecken und die Entscheidung des BVerfG darüber zu erwirken. Da der Prozeßausgang von der Gültigkeit der inkriminierten Norm abhängen muß, stellt sich die Vorlagepflicht nach A r t . 100 I GG als Ausweg für den Richter dar, der an Gesetz und Verfassung gleichermaßen gebunden ist. Dieses Erfordernis ist aus der historischen Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts verstehbar, die zu einer Lösung der zwiespältigen Situation führte, i n der sich der Richter befand, wenn er ein Gesetz anzuwenden hatte, das er nicht als Recht empfand 34 . Die richterliche Prüfungskompetenz hat sich auch unter dem Grundgesetz nicht zu einem Institut der allgemeinen Sicherung des Verfassungsrechts gewandelt, so daß der konkrete Rechtsstreit nur der Anlaß wäre, verfassungswidrige Normen aus der Rechtsordnung auszusondern; sie bleibt vielmehr auf die Lösung von Konfliktslagen beschränkt. Dieses Ergebnis w i r d dadurch bestätigt, daß dem Gerichtsverfahren zur Nachprüfung von Gesetzen die entsprechenden Erkenntnismöglichkeiten fehlen, „legislative facts" regelmäßig nicht auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft werden können. Das Vorlageverfahren dürfte deshalb gewöhnlich auch nicht auf einer generellen Wertung eines Gesetzes beruhen, sondern darauf zurückzuführen sein, daß ein bestimmter Rechtssatz eine Rechtsfolge anordnet, die der Richter m i t Gerechtigkeitspostulaten für unvereinbar hält.
34 Vgl. hierzu Rüthers S. 74 ff.; v. Hippel HdStR I I , S. 547; Radbruch S. 352 ff.; vgl. auch Maurer D Ö V 1963, S. 638 ff. Z u r Entscheidungserheblichkeit vgl. auch die Untersuchung von Brinckmann, bes. S. 87 ff. I i ipsen
162
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
bb) Die Überzeugung des Gerichts von der Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz Das Gericht muß sich eine feste Meinung darüber gebildet haben, ob die Norm verfassungswidrig ist oder nicht. Zweifel an der Übereinstimmung der Norm m i t dem Grundgesetz reichen nicht aus 35 . Es ist nicht zu verkennen, daß m i t dieser Zulässigkeitsvoraussetzung das verfahrensrechtlich Mögliche getan ist, ein eindeutiges Ergebnis i m Kontollverfahren zu gewinnen. Der Richter ist davon entlastet, seine Zweifel an der Gültigkeit eines Gesetzes zu artikulieren, wenn sie sich nicht zu einer Überzeugung verdichten. Diese Vorschrift entspricht dem oben skizzierten Vorgehen bei der Normenkontrolle. K o m m t es nämlich darauf an, einen Spielraum herauszuarbeiten und zu prüfen, ob eine gesetzliche Norm (noch) als Ausfüllung des gesetzgeberischen Gestaltungsraums begriffen werden kann 3 6 , stellt sich also die Frage nach der Überschreitung gesetzter Grenzen, so hat diese Zulässigkeitsvoraussetzung den Zweck, die angezweifelte Norm als verfassungsmäßig zu qualifizieren, ohne daß beurteilt werden müßte, ob sie auch „richtig" ist. Es genügt, daß die gesetzgeberische Gestaltung nach Auffassung des Fallgerichts nicht „falsch" ist, u m eine Vorlage hinfällig zu machen. cc) Die Begründung der Vorlage (§ 80 I I BVerfGG) Der Zwang, die Vorlage zu begründen (§ 80 I I BVerfGG) trägt zur Rationalität des Normenkontrollverfahrens bei. Die verhältnismäßig strengen Anforderungen, die das BVerfG an die Begründung der Entscheidungserheblichkeit stellt 3 7 , bestätigen die hier vertretene Auffassung, A r t . 1001 GG als Ausweg aus einer Konfliktsituation für den Richter anzusehen. Die Notwendigkeit, auch den Verfassungsverstoß unter Angabe des einschlägigen Artikels zu begründen 38 , mindert die manchen Grundrechten und Verfassungsprinzipien innewohnende Gefahr, daß ihnen beliebige rechtsethische Gehalte substituiert werden, u m eine unbillig oder ungerecht erscheinende Entscheidung zu verhindern. g) Vermeidung
„diffuser"
Verfassungsinterpretation
Die Pflicht zur Vorlage eines für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes soll nach Auffassung des BVerfG verhüten, daß das einzelne 35 Vgl. B V e r f G 1, 184 (189) std. Rspr.; Maunz!Dürig/Herzog A r t . 20 Rdn. 68; B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 108 m. Nachw. 36 Vgl. Göldner S. 110 u. 204. 37 Vgl. BVerfG 19, 138 (141); B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 175. 38 Vgl. hierzu Maunz/SiglochfSchmidt-Bleibtreu/Klein §80 Rdn. 296 ff.; Leibholz/Rupprecht § 80 Rdn. 31.
1. Die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 100 G G
163
Gericht sich über Akte des Gesetzgebers hinwegsetzt. Dieses „negative Entscheidungsmonopol" 38a des BVerfG hat zur Folge, daß eine Auslegung des Grundgesetzes, die sich gegen den Bestand eines (nachkonstitutionellen) Gesetzes richtet, vom BVerfG bestätigt werden muß. Durch eigenverantwortliche Interpretation der Verfassung kann ein Gericht die Norm i n ihrem Bestand also nur erhalten. Die Vorlagepflicht ist damit eine institutionelle Vorkehrung gegen „diffuse" Verfassungsauslegungen 39 , die als Folge der unmittelbaren Geltung der Grundrechte befürchtet wurden 4 0 . M i t der Vorlagepflicht ist zwar nicht jede Pluralität i n der Interpretation des Grundgesetzes ausgeschlossen, und die Rechtsprechung von Bundesverwaltungsgericht und Bundesgerichtshof weist nicht selten interpretatorische Divergenzen auf 4 1 . Sofern aber Gesetze als verfassungswidrig verworfen werden sollen, mithin die Grenzen gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit bestimmt werden, garantiert A r t . 100 I GG eine einheitliche Auslegung der Verfassung und damit eine einheitliche Entstehung von Verfassungsrecht. h) Zusammenfassung Die Überlegungen zur konkreten Normenkontrolle lassen sich i n folgenden Punkten zusammenfassen: — Die Normenkontrolle nach A r t . 100 I GG ist kein Institut zur „Reinhaltung" des Rechts von Verfassungsverstößen, sondern löst eine Konfliktsituation, i n der sich der an Gesetz und Verfassung gleichermaßen gebundene Richter befindet. — Die Normenkontrolle unterscheidet sich methodologisch von der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, w e i l sie auf Feststellung dessen abzielt, was „falsch" ist, nicht aber eine unter mehreren Gestaltungsmöglichkeiten als „richtig" hinstellt. — Die Verfahrensregeln tragen der methodischen Eigenart der Normenkontrolle Rechnung. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit soll nur eingeschränkt werden, wenn der Verfassungsverstoß eindeutig, nicht nur plausibel ist.
38a So B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 10; vgl. auch BVerfG 6, 222 (232). 39 Vgl. dazu B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 18 m. Nachw. 40 Namentlich von C. Schmitt HdStR I I , S. 598 f. 41 Vgl. nur B G H Z 15, 268 ff. einerseits u n d B V e r w G 4, 120 ff. andererseits: Der B G H wollte bei der Entschädigungspflicht für Bausperren zwischen überregionaler Planung u n d Teilplanung unterscheiden, während das B V e r w G eine solche Unterscheidung ablehnte; vgl. oben Teil I I , 4. Kap. 2 a. Ii«
164
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
— Das Vorlage verfahren verhindert „diffuse" Verfassungsinterpretationen und zielt damit auf die einheitliche Entstehung von Verfassungsrecht ab. 2. Die Normenkontrolle vorkonstitutionellen Rechts Bekanntlich beschränkt das BVerfG i n ständiger Rechtsprechung die Vorlagepflicht nach A r t . 100 I GG auf nachkonstitutionelle Rechtsnormen 4 2 . Für vorkonstitutionelle Gesetze hat jeder Fallrichter die Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz. Das BVerfG begründet diese Auffassung zunächst mit der Erwägung, nur der nachkonstitutionelle Gesetzgeber bedürfe des von A r t . 100 I GG intendierten Schutzes 43 . Es mag dahinstehen, wieweit dieser Schutzgedanke verfassungsrechtlich zwingend ist. Schon die Teilrevision der Rechtsprechung — „ A u f nahme i n den Willen des Gesetzgebers" 44 — hat gezeigt, daß die Theorie des BVerfG jedenfalls nicht ohne Einschränkungen durchzuhalten ist. Auch erscheint heute die Ansicht berechtigt, daß der Gesetzgeber zum mindesten alle größeren Gesetzgebungswerke i n seinen Willen aufgenommen hat 4 5 . Es w i l l nicht einleuchten, daß Gesetze, die über einen längeren Zeitraum hinweg angewandt worden sind, nicht dem nachkonstitutionellen Gesetzgeber zugerechnet werden. Eine solche i m Schrifttum empfohlene 46 , ausdehnende Anwendung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze könnte der Fehlvorstellung entgegenwirken, das vorkonstitutionelle Gesetz habe eine geringere Geltungskraft als das nachkonstitutionelle 47 . Derartige Vorstellungen werden freilich dadurch begünstigt, daß das BVerfG das vorkonstitutionelle Gesetz nicht i n seiner verselbständigten Geltung, sondern als Schöpfung eines historischen Gesetzgebers sieht 48 . a) Unterschiedliche Kontrollverfahren für vor- und nachkonstitutionelles Recht? Die weitere Begründung, die das BVerfG für die Beschränkung der Vorlagepflicht auf nachkonstitutionelle Gesetze gibt, erweckt den Eindruck, als sei deren Prüfung qualitativ etwas anderes als die 42 43 44 45 46 47 48
v g l . B V e r f G 2, 124 ff., st. Rspr.; vgl. auch BVerfG 18, 241 (252). So B V e r f G 2, 124 (129 f.). So B V e r f G 6, 55 (65): „Ob das der F a l l ist, muß jedoch ermittelt werden." Vgl. B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 93. Vgl. B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 93. I n dieser Richtung Bender M D R 1959, S. 446 u n d Michel JuS 1961, S. 281. Vgl. BVerfG 2, 124 (131).
2. Die Normenkontrolle vorkonstitutionellen Rechts
165
Kontrolle nachkonstitutioneller Normen. Das BVerfG führt aus, daß Gesetze, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen worden seien, nicht auf ihre Übereinstimmung mit der ranghöheren Verfassungsnorm geprüft würden, sondern daß lediglich festgestellt werde, ob „der spätere gesetzgeberische Wille dem abweichenden früheren gesetzgeberischen Willen vorgeht" 4 9 . Ohne Bedeutung sei es i n diesem Zusammenhang, daß das spätere Gesetz zugleich ein ranghöheres sei. Die Prüfung nachkonstitutionellen Rechts stelle sich m i t h i n als Problem der Kollision von jüngerem und älterem Recht dar 5 0 . Diese Erwägung mag für das Verhältnis von (früherem) Landesrecht zu (späterem) Bundesrecht, also für Recht gleicher Regelungsintensität, zutreffen 51 , für das Verhältnis zwischen Grundgesetz und vorkonstitutionellem Gesetzesrecht erweist sie sich als nicht tragfähig. Die Derogationskraft jüngeren Rechts beruht darauf, daß es die gleiche Materie regelt wie ältere Rechtsnormen und sie damit verdrängt und ersetzt. Werden Rechtssätze dagegen an der Verfassung gemessen und stellt sich ihre Unvereinbarkeit m i t grundgesetzlichen Wertungen heraus, so entsteht typischerweise eine Lücke, die — von Ausnahmen abgesehen — durch die Verfassung nicht ausgefüllt werden kann. Die Diskussion über die richterliche Konkretisierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes, die i n der Behauptung gipfelte, Art. 117 I GG sei eine verfassungswidrige Verfassungsnorm 52 , erhielt ihre Schärfe, weil A r t . 3 I I GG der Rechtsprechung „jenseits des Interpretablen" eine Rechtsbildungsaufgabe stellte, für die das Grundgesetz weder Maßstäbe noch Konstruktionsmittel lieferte 5 3 . Das bis dahin geltende Eheund Familienrecht wurde nicht durch neue gesetzgeberische Akte verdrängt, sondern am Grundsatz der Gleichberechtigung geprüft und gegebenenfalls nicht angewendet. Die Kassation setzt immer einen verschiedenen Rang von Prüfungsnorm und zu prüfender Norm voraus. Der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori" würde dagegen keine Verwerfung oder Nichtanwendung, sondern nur eine Ersetzung des älteren Rechtssatzes ermöglichen. Die Verfassung kann aber i n der Regel Rechtsnormen nicht ersetzen. Für den Beispielsfall folgt das aus A r t . 1171 GG selbst, denn die hier genannte Frist setzt geradezu voraus, daß die durch A r t . 3 I I GG ent-
49 So BVerfG 2, 124 (130). so So B V e r f G 2, 124 (130). 51 Vgl. dazu Maunz/Sigloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein Brinckmann S. 84 m. w. N. 52 Vgl. B V e r f G 3, 225 (231 ff.). 53 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 83.
§80 Rdn. 71; so auch
166
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
stehenden Lücken nur durch den Gesetzgeber geschlossen werden können. Damit ist deutlich, daß die Prüfung vorkonstitutionellen Rechts qualitativ nicht von der Kontrolle nachkonstitutionellen Rechts zu unterscheiden ist. Die Normenkontrolle setzt für beide Rechtsmassen den erhöhten Rang der Verfassung voraus und bereitet i n beiden Fällen die gleichen methodischen Schwierigkeiten 54 . Die allgemeine richterliche Befugnis, die Derogation älteren Rechts durch neueres festzustellen, hat folglich mit der Normenkontrolle nichts zu t u n und begründet — entgegen der Auffassung des BVerfG 5 5 — deshalb keine Unterschiede zwischen der Prüfung vorkonstitutionellen und der Kontrolle nachkonstitutionellen Rechts. b) Die Rezeptionsnorm
für vorkonstitutionelle (Art 1231 GG)
Rechtsnormen
A r t . 123 I GG bestimmt, daß vorkonstitutionelles Recht fortgilt, wenn es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Diese Rezeptionsnorm ist — ähnlich wie Art. 100 I GG — eine Spezialvorschrift zu Art. 20 I I I GG, die eine durch die Rechtsgebundenheit des Richters aufgeworfene Frage, nämlich die Bindungswirkung vorkonstitutioneller Rechtssätze, klärt. Ist die Schwelle des Art. 123 I GG überschritten, so bindet das Recht den Richter, weil A r t . 20 I I I GG nunmehr keine Differenzierung zwischen vor- und nachkonstitutionellem Recht zuläßt. Ob Recht fortgilt oder nicht, muß der Richter i m Wege der Normenkontrolle feststellen. Verfehlt ist deshalb die Vorstellung, durch A r t . 1231 GG würden „automatisch" Lücken i n die Rechtsordnung geschlagen, die durch richterliche Rechtsbildung zu schließen seien 56 . Hier w i r d verkannt, daß Verwerfung oder Rezeption nicht „automatisch" erfolgen, sondern daß darüber i n bestimmten Verfahren entschieden wird. A r t . 123 I GG eröffnet — entsprechend der bereits umrissenen methodischen Eigenart verfassungsrechtlicher Prüfung — nur die Alternative der Nichtanwendung oder Fortgeltung. Auch die Kontrolle vorkonstitutionellen Rechts zielt m i t h i n auf ein eindeutiges Ergebnis ab. c) Die konkrete Normenkontrolle als einheitliches Institut der Verfassung Vor- und nachkonstitutionelle Rechtsnormen unterscheiden sich dadurch, daß zugunsten ersterer keine Vermutung der Verfassungsmäßig54 Vgl. BVerfG 10, 124 (128), wo dies i n einem Nebensatz eingeräumt wird. 55 Anzeichen einer Änderung i n BVerfG 10, 124 (128). 56 So aber Bogs S. 75 f.
3. Die verfassungskonforme Auslegung
367
keit spricht 5 7 ; denn der historische Gesetzgeber hat sich nicht am Grundgesetz orientieren können 5 8 . Dieser Umstand führt freilich nur dazu, den Richter zu erhöhter Sorgfalt aufzurufen, wenn er vorkonstitutionelles Recht anwendet, nicht aber begründet er Unterschiede für das Kontrollverfahren. Das BVerfG hat mit seiner Rechtsprechung zur Prüfung vorkonstitutioneller Gesetze kein Normenkontrollinstrument eigener A r t geschaffen, auch nicht schaffen können, sondern lediglich den nach A r t . 100 I GG obligatorischen Ubergang zum Bundesverfassungsgericht abgeschnitten. Die konkrete Normenkontrolle bleibt demnach ein einheitliches Institut, gleichgültig, welches Gericht letztlich über die Fortgeltung einer Norm entscheidet. Bis auf die Vorlagepflicht gelten deshalb sämtliche Verfahrensvorschriften des A r t . 100 I GG auch für die Kontrolle vorkonstitutionellen Rechts 59 : die fragliche Norm muß entscheidungserheblich sein, das Gericht die Überzeugung von ihrer Unvereinbarkeit m i t dem Grundgesetz gewonnen haben und sie unter Anführung des Artikels begründen. Auch bei vorkonstitutionllen Gesetzen w i r k t sich der bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer Norm zu deren Gunsten aus. Das folgt nicht aus einer — hier nicht begründbaren — Vermutung für die inhaltliche Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 60 , sondern aus dem verfassungsrechtlichen Gebot, daß gesetzgeberische Gestaltung den Richter bindet, sofern er die Grenzen seines Spielraums eingehalten hat. 3. Die verfassungskonforme Auslegung a) Skizzierung
der Rechtsprechung des BVerfG
Das BVerfG geht von dem Grundsatz aus, daß ein Gesetz nicht für verfassungswidrig zu erklären ist, wenn es i m Einklang mit der Verfassung ausgelegt werden kann 6 1 . Aus diesem Grunde sei — vorausgesetzt, eine Norm lasse verschiedene Deutungen zu — immer die Auslegung vorzuziehen, die der Wertentscheidung des Grundgesetzes besser entspreche 62 . Widerspreche die Norm dagegen i n jeder möglichen Auslegung der Verfassung, so müsse das Gericht sie als verfassungs57 58 59 60 ei 62
Anders Eckardt S. 40 f. So Michel JuS 1961, S. 281. So zutreffend Eckardt S. 55 f ü r die Nichtanwendung. So aber Eckardt S. 40 f. Vgl. BVerfG 2, 266 (282) std. Rspr. Vgl. BVerfG 8, 210 (221).
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T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
w i d r i g verwerfen. Eine gesetzliche Bestimmung sei aber verfassungsmäßig, wenn lediglich eine bestimmte Interpretation mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, eine andere aber zu einem der Verfassung entsprechenden Ergebnis führe. I n diesem Falle müsse die Norm verfassungskonform ausgelegt werden 6 3 . Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung sind in der Rechtsprechung des BVerfG nur undeutlich ausgeprägt. Das Gericht ließ es dahingestellt sein, „wie weit das Gebot der verfassungskonformen Auslegung es dem Richter allgemein erlaubt, den gesetzgeberischen Willen zu begrenzen oder zu ergänzen" 64 . Immerhin hat es ausgeschlossen, daß das gesetzgeberische Ziel mittels verfassungskonformer Auslegung i n einem wesentlichen Punkte verfehlt oder verfälscht würde. Eine Auslegung, die dem klaren Wortlaut einen geradezu entgegengesetzten Sinn gäbe, verletze nicht nur die gesetzgeberischen Kompetenzen, sondern auch die des BVerfG nach A r t . 1001 GG 6 5 . Dieser Ansatz verdichtet sich an anderer Stelle zum Grundsatz, daß die verfassungskonforme Auslegung ihre Grenze dort finde, „wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers i n Widerspruch treten würde" 6 6 . Welches aber der „Wille des Gesetzgebers" ist, bleibt zweifelhaft. Der subjektive Wille soll nicht maßgebend sein. Vielmehr könne auch dann von der Absicht des Gesetzgebers „das Maximum dessen aufrechterhalten (werden), was nach der Verfassung aufrechterhalten werden konnte" 6 7 , wenn seine Absichten weitergingen, als dies die richterliche Auslegung zugestehe 68 . I m übrigen hält es das Gericht für unerheblich, ob dem subjektiven Willen des Gesetzgebers die als verfassungswidrig erkannte Auslegung eher entsprochen hätte als die verfassungskonforme 6 9 . b) Regelprinzip oder Sonderfall
der Rechtsanwendung der Normenkontrolle?
I n ihren Grundgedanken findet die so skizzierte verfassungskonforme Auslegung allgemeine Anerkennung 7 0 . Streitig ist allerdings, wie sie einzuordnen ist und wo ihre Grenzen zu ziehen sind. e» So B V e r f G 19, 1 (5). 64 So B V e r f G 8, 28 (34). 65 Vgl. B V e r f G 8, 28 (34). 66 So BVerfG 18, 97 (111); ähnlich BVerfG 19, 242 (247); 21, 292 (305). 67 So BVerfG 9, 194 (200). 68 So BVerfG 9, 194 (200). 69 Vgl. B V e r f G 12, 45 (61). 70 Vgl. zur Rspr. d. B V e r f G bes. Schach JuS 1961, S. 270 ff. u n d Bogs S. 63 ff.
3. Die verfassungskonforme Auslegung
Verschiedene Autoren vertreten die Auffassung, daß man die verfassungskonforme Auslegung als Regelprinzip jeder Rechtsanwendung nicht i n die Nähe der richterlichen Normenkontrollkompetenz rücken und von dort her begrenzen dürfe 7 1 . Man könne deshalb auch nicht zwischen „herkömmlicher" und „verfassungskonformer" Auslegung unterscheiden 72 . Beide Interpretationsmethoden gehörten zu einem einheitlichen Verständnisvorgang der Rechtsnorm 73 . N u n mag es sein, daß die verfassungskonforme Auslegung „an sich" lediglich als Interpretationsgrundsatz — etwa als Unterfall der systematischen Auslegung 74 — zu begreifen und jegliches „verfassungsgeleitete Normverständnis" 7 5 ihr zuzurechnen ist. I n der Rechtsprechungspraxis findet sich dieser Begriff allerdings nur, wenn eine zunächst naheliegende Interpretation eines Rechtssatzes auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt und man ihn dennoch vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit retten w i l l . Mittels verfassungskonformer Auslegung soll also regelmäßig die Verwerfung, Nichtanwendung oder Vorlage einer Norm verhindert werden 7 6 . Würde man nun nicht zwischen „herkömmlicher" und „verfassungskonformer" Auslegung unterscheiden, so bliebe dieser der Normenkontrolle verwandte 7 7 Regelfall verdeckt. Die herkömmliche, Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systemzusammenhang berücksichtigende Interpretation wäre, sofern sie verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, nur ein methodischer Irrweg, denn die fragliche Norm würde ja bei „richtiger", verfassungskonformer Auslegung nie Anlaß zu Zweifeln an ihrer Vereinbarkeit m i t dem Grundgesetz gegeben haben. Kurz, die Problematik resultierte nur aus einem Mißgriff i n der Auslegungsmethode. W i r d eine solche Anpassungs- oder Harmonisierungsautomatik behauptet, ist freilich Skepsis geboten. Allzu leicht werden Interpretationsaktivitäten und -Verantwortlichkeiten überdeckt, wenn man das Ergebnis der verfassungskonformen Auslegung zu deren Ausgangspunkt
nimmt.
Die verfassungskonforme Auslegung i n dem hier erörterten Sinne — also deutlich unterschieden vom verfassungsgeleiteten Verständnis von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen, denen ein 71 Vgl. Göldner S.46; Bogs S. 32 f. 72 So Bogs S. 26; dagegen Michel JuS 1961, S. 277. 73 Vgl. Bogs S. 26. 74 So Bogs S. 25. 75 Vgl. Bogs S. 31. 76 So schließlich auch Bogs S. 69; vgl. auch S. 16 f. 77 Vgl. Michel JuS 1961, S. 275.
170
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
bestimmter Inhalt erst beigegeben werden muß — ist eine Stufe eines mehrstufigen Prüf ungs verfahr ens 78 . Ausgangspunkt ist eine Rechtsnorm i n ihrem herkömmlichen Verständnis 79 — etwa nach Wortlaut, Genese, Systemzusammenhang und Teleologie —, die einen — wirklichen oder gedachten — Fall i n einer Weise löst, die aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich erscheint 80 . Da aber ein einschlägiger Verfassungsrechtssatz regelmäßig nicht auf der Hand liegt, muß die vermutete Verfassungswidrigkeit erst dadurch erhärtet werden, daß man den Satz der Verfassung konkretisiert. Die Norm w i r d also i n ihrem herkömmlichen Verständnis an einer konkretisierten Verfassungsnorm gemessen. Das Vorgehen ist hier das gleiche wie bei der Normenkontrolle 8 1 . Gelangt man zu dem Ergebnis, daß die Norm i n ihrer herkömmlichen Auslegung mit der gewonnenen Verfassungsnorm nicht vereinbar ist — etwa weil der gesetzgeberische Gestaltungsraum überschritten ist —, so w i r d weiter untersucht, ob die fragliche Gesetzesnorm auch in einer Weise interpretiert werden kann, die die verfassungsrechtliche Konkretisierung berücksichtigt. Regelmäßig entsteht dabei das Problem, ob der Rechtssatz die aus der Verfassung gewonnene Inhaltsbestimmung noch zuläßt 82 , und das BVerfG versucht ja auch, von dieser Fragestellung her die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung zu bestimmen. M i t anderen Worten: der Verfassungssatz w i r d so verdichtet, daß er den Inhalt der umstrittenen Rechtsnorm vorgibt. Ist diese Konkretisierung nicht mehr mit dem Wortlaut oder der Entstehungsgeschichte des Gesetzes — oder wie auch immer die Grenzen zu ziehen sein mögen — i n Einklang zu bringen, so ist der Versuch der Normerhaltung gescheitert: die aus der Verfassung gewonnene Auslegung kann nicht als die vom Gesetzgeber „gewollte" angesehen werden. Läßt dagegen der Wortlaut die verfassungskonforme Interpretation — noch — zu, so ist die Norm vor der Verwerfung oder Nichtanwendung bewahrt, inhaltlich aber festgelegt. Man kann also zusammenfassend drei verschiedene methodische Schritte unterscheiden, die der eigentlichen „verfassungskonformen Auslegung" vorangehen: — die herkömmliche Auslegung, die das verfassungsrechtliche Problem überhaupt erst auf w i r f t ; 78 Ähnlich Michel JuS 1961, S. 275. 7» Vgl. Michel JuS 1961, S. 277. 80 Z u diesem Entstehungstatbestand einer rechtlichen Problematik allg. Kriele S. 162 ff. 81 Eine Ähnlichkeit der Verfahren muß auch Bogs, S. 33, einräumen. 82 Vgl. etwa B V e r f G 8, 28 (34); 10, 59 (80); 19, 242 (247); 19, 248 (253); 21,292 (305).
3. Die verfassungskonforme Auslegung
— die „Normenkontrolle", die erst Aufschluß darüber gibt, ob die herkömmliche Auslegung mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht; — die Inhaltsbestimmung des fraglichen Rechtssatzes durch die Verfassung (Konkretisierung), damit verbunden die Frage, ob der Wortlaut (oder was immer man als Grenze ansieht) diese Inhaltsbestimmung zuläßt oder nicht. Damit ist deutlich geworden, daß die verfassungskonforme Auslegung i n der hier eingeschränkten, der Rechtsprechungspraxis aber entsprechenden Begriffsbedeutung methodologisch eine Mischung des Normenkontrollverfahrens und der Verfassungskonkretisierung darstellt 8 3 . Sie kann überspitzt als ein Kontrolle und Konkretisierung verbindendes Verfahren zur Erhaltung von Gesetzesrecht bezeichnet werden. c) Praktische
Vorteile
der verfassungskonformen
Auslegung
Die verfassungskonforme Auslegung ist das von den Revisionsgerichten deutlich bevorzugte Verfahren, Widersprüche zwischen Verfassung und einfachem Gesetz auszuräumen. Die Vorlage nach Art. 100 I GG und die damit intendierte Nichtigkeitserklärung von Rechtsnormen scheint, soweit Zahlen darüber Aufschluß geben können, von den höchsten Gerichten eher gemieden zu werden 8 4 . Bis zum 31.12.1970 sind insgesamt 1244 Vorlagen nach Art. 100 GG beim Bundesverfassungsgericht anhängig gewesen; davon waren 107 Vorlagen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erledigt. Von den verbleibenden 1137 Vorlagen erledigten sich 623 auf andere Weise als durch Entscheidung, während 514 entschieden wurden 8 5 . Die Amtliche Sammlung enthält bis zum Stichtag 317 Entscheidungen i n Vorlageverfahren. Von diesen Vorlagen stammen zwei vom Bundesgerichtshof i n Zivilsachen 86 , eine vom Bundesarbeitsgericht 87 und sieben vom Bundesverwaltungsgericht 88 . Vergleichbare Zahlen über die verfassungskonforme Auslegung durch diese Gerichte kann es natürlicherweise nicht geben; doch läßt sich i n der Rechtsprechungspraxis der Bundesgerichte eine deutliche Tendenz zur verfassungskonformen Auslegung nachweisen 89 . 83
84 85 86 87 88 89
I m Ergebnis ähnlich w i e hier: Bogs S. 67. Vgl. auch Bogs S. 16 u n d S. 22. Sämtliche Zahlen aus: Das B V e r f G 1951 - 1971, S. 204 ff. Nämlich B V e r f G 6, 222; 29, 348. B V e r f G 7, 342. BVerfG 9, 39; 10, 264; 11, 64; 11, 203; 25, 1; 27, 220; 30, 83. Vgl. nur die Aufstellung bei Bogs S. 151 m i t vielfachen Nachweisen.
172
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
Die Beliebtheit dieses Verfahrens liegt i n den unbestreitbaren Vorteilen, die die verfassungskonforme Auslegung für die Rechtspraxis bietet. Man kann schon darin einen praktischen Vorteil der verfassungskonformen Auslegung sehen, daß ein förmliches Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG überhaupt vermieden w i r d 9 0 . Größere Gesetzgebungswerke— man denke nur an das BBauG — sind das Ergebnis eines langwierigen politischen Klärungsprozesses, i n dem Kompromisse geschlossen und Gruppeninteressen berücksichtigt werden. Häufig beenden sie einen Zustand der Rechtszersplitterung und Rechtsunsicherheit. W i r d dem Gesetzgebungsverfahren, das vielfach mehrere Jahre i n Anspruch nimmt, durch die Vorlage eines Revisionsgerichtes ein Verfahren ähnlicher Länge nachgeordnet, so entsteht erneut Rechtsunsicherheit. Die Verwaltungsarbeit, die sichere Normen voraussetzt, kann beeinträchtigt werden, erhebliche Verzögerungen mögen die Folge sein. Schlimmstenfalls ist ein Gesetz veraltet, wenn es nicht mehr i n Frage gestellt wird. Die verfassungskonforme Auslegung kann nun ein M i t t e l sein, solche Verzögerungen zu vermeiden und gleichzeitig der Rechtspraxis — namentlich der Verwaltung — jene Sicherheit der Normanwendung geben, deren sie bedarf. Ein zweiter Grund für die häufige Anwendung dieses Verfahrens mag sein, daß eine Gesetzesnovelle vermieden wird. Die mit der Vorlage angestrebte Verwerfung einer Rechtsnorm durch das BVerfG schafft eine Lücke, die i n der Regel durch eine neue gesetzliche Regelung geschlossen werden müßte 9 1 . Damit würde dem langwierigen Normenkontrollverfahren ein Gesetzgebungsverfahren i n seiner ganzen Kompliziertheit folgen. I n der Zwischenzeit wäre aber die Rechtspraxis wiederum ohne feste Orientierung. Ein Verfahren, das Kontrolle und Verfassungskonkretisierung verbindet, das die verworfene (Teil-)Bedeutung eines Rechtssatzes sogleich wieder ersetzt, muß namentlich dann einige A t t r a k t i v i t ä t haben, wenn es u m kleinere Korrekturen eines Gesetzes geht 9 2 . Für die Revisionsgerichte hat die verfassungskonforme Auslegung dazu den Vorteil, daß die Zuständigkeit für die Auslegung einfachen Rechts bei ihnen verbleibt. Vielfach legt nämlich das BVerfG die zu prüfende Norm seinerseits verfassungskonform aus und weicht von der herkömmlichen Interpretation ab. Das vorlegende Gericht überantwortet dem BVerfG — jedenfalls nach herrschender, wenngleich bestrittener 9 3 Übung — also nicht nur die verbindliche Entscheidung so 91 92 93
v g l . hierzu Bogs S. 16. Vgl. Hesse, Grundzüge S. 33, u n d auch Bogs S. 16. I n dieser Richtung: BVerfG 8, 28 (34) u n d Bogs S. 68. Vgl. etwa Haak S. 274.
3. Die verfassungskonforme Auslegung
über die Verfassungswidrigkeit, sondern auch das dogmatische Substrat, aus dem die Auslegung folgt 9 4 . Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Revisionsgerichte sich auch wegen dieser Praxis m i t Vorlagen nach A r t . 1001 GG zurückhalten und es vorziehen, der Norm i n eigener Zuständigkeit eine nach ihrer Auffassung m i t der Verfassung vereinbare Deutung zu geben. d) Keine Ersetzung der Normenkontrolle durch verfassungskonforme Auslegung Weist die verfassungskonforme Auslegung für die Rechtspraxis auch beträchtliche Vorteile auf, so muß dennoch bestritten werden, daß sie — auch streckenweise — das Normenkontrollverfahren nach A r t . 100 I GG zu ersetzen vermag. Die Normenkontrolle wurde als ein auf Eindeutigkeit und Einheitlichkeit abzielendes Verfahren gekennzeichnet. Die verfassungskonforme Auslegung hat diese Eigenarten nicht; sie drängt zu freier Auslegung und kann bei extensiver Handhabung gerade jene Nachteile und Unsicherheiten i m Verhältnis von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt m i t sich bringen, die man durch die Institutionalisierung der Normenkontrolle vermeiden wollte 9 5 . M i t der verfassungskonformen Auslegung zielt man i m Gegensatz zur Normenkontrolle nicht auf Feststellung dessen ab, was „falsch" ist, ihr Ziel ist es vielmehr, ein „richtiges" Ergebnis zu erreichen. Zwar gehört methodisch ein A k t der Kontrolle zur verfassungskonformen Auslegung — wie wüßte man sonst, ob die fragliche Interpretation der Norm verfassungswidrig ist? —, auf einer nächsten Stufe w i r d aber eine verfassungsmäßige, eben „verfassungskonforme" Deutung gesucht. Dieses Verfahren kann dazu verführen, nicht nur den gesetzgeberischen Gestaltungsraum zu umreißen, sondern eine bestimmte Konkretisierung als allein mit der Verfassung vereinbar hinzustellen; denn einer solchen Vorgehensweise fehlt die der Kontrolle eigene Beschränkung i n der Fragestellung und damit die Tendenz zur Eindeutigkeit. Die verfassungskonforme Auslegung läßt überdies den für die Normenkontrolle charakteristischen Zug zur Einheitlichkeit vermissen. Wenn ein Gericht i n eigener Zuständigkeit eine (Teil-)Bedeutung einer Norm des nachkonstitutionellen Rechts zu verwerfen befugt ist, so kann das i n diesem Bereich zu einer der Intention des A r t . 100 I GG zuwiderlaufenden Pluralität der Verfassungsinterpretation führen. Fehlt 94 V g l . h i e r z u a u c h Eckardt S. 68 u n d Bogs S. 28 95 Vgl. hierzu B K (Stern) A r t . 100 Rdn. 18.
f.
174
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
nämlich der Übergang zum Bundesverfassungsgericht, so müßten unterschiedliche Auffassungen verschiedener Gerichte über die Auslegung einer Verfassungsnorm kontrovers bleiben. Das kann zur Folge haben, daß unklar bleibt, was eigentlich geltendes Verfassungsrecht ist, die Gerichte gleichwohl den Gesetzgeber an ihre Auslegung des Grundgesetzes für gebunden halten. Eine solche Pluralität von Verfassungsinterpretation w i r d weiter dadurch begünstigt, daß die verfassungskonforme Auslegung nicht i n einer dem § 80 BVerfGG vergleichbaren Weise begründet werden muß. Ist ein Gericht der Überzeugung, eine nachkonstitutionelle Norm sei verfassungswidrig, so w i r d es i n der Begründung des Vorlagebeschlusses nicht lediglich seine eigene Konkretisierung des GG anführen, sondern eine Entscheidung auf möglichst breite Grundlagen stellen. Eben diese A r t der Begründung ist bei verfassungskonformer Auslegung nicht gefordert. Hier besteht die Gefahr, daß eine bestimmte Auslegung eines Gesetzes deswegen für verfassungswidrig gehalten wird, weil sie nicht m i t der Rechtsprechung dieses Gerichtes übereinstimmt. e) Besonderheiten der verfassungskonformen Auslegung vorkonstitutionellen Rechts? Vielfach w i r d angenommen, der Richter habe gegenüber dem vorkonstitutionellen Gesetz eine größere Freiheit als gegenüber nachkonstitutionellen Rechtssätzen 96 . Die Annahme einer solchenmaßen gelockerten Bindung gibt auch der verfassungskonformen Auslegung neue Konturen. Sie erscheint dann als das methodische Mittel, vorkonstitutionelles Recht einer gewandelten Verfassungslage anzupassen. Diese Auffassung hat manches für sich. Sie w i r d vor allem durch die Erwägung gestützt, daß es den Gesetzgeber überfordern würde, fortlaufend Rechtsbereiche i n einer Weise zu revidieren, die dem aktuellen Rechtsbewußtsein genügt 97 . Dennoch wäre es verfehlt, die verfassungskonforme Auslegung als Revisionsinstrument für vorkonstitutionelles Recht anzusehen. Die Methodenlehre trägt dem Alterungsprozeß der Gesetze ohnehin dadurch Rechnung, daß sie den „objektiven Willen" als Ziel der Auslegung angibt 9 8 . Extension und Restriktion, dogmatische Konstruktionen aller A r t bieten die anerkannten Möglichkeiten, Recht umzu96 So z.B. Bender M D R 1959, S.446 u n d Michel JuS 1961, S. 281; dagegen Eckardt S. 55 f. 97 v g l . dazu Bender M D R 1959, S.446; Michel JuS 1961, S. 281. 98 Vgl. dazu Mennicken S. 52 ff. und 78 ff.
3. Die verfassungskonforme Auslegung
gestalten und zeitbedingte Grundgedanken i n dem Maße zu vernachlässigen, i n dem sie veralten". Wenn nun diesen selbstverständlichen Mitteln juristischer Arbeit noch die verfassungskonforme Auslegung an die Seite gestellt wird, u m vorkonstitutionelles Recht umzubilden, so liegt darin eine wesentliche Akzentverschiebung i n bezug auf den Wortlaut des Gesetzes. Die „klassischen" Methoden der Rechtsprechung — Restriktion und Extension — müssen i n ihrem tastenden Vorgehen grundsätzlich den Wortlaut des Gesetzes unberührt lassen, wenngleich auch hier eine unscharfe Zwischenzone zu beobachten ist, die objektive Auslegung notwendig mit sich bringt. Verfassungskonforme Auslegung i n dem hier skizzierten Verständnis drängt zu freierer Handhabung des Wortlauts, trägt geradezu die Tendenz zur Normmanipulation i n sich 100 , da sie sich ja immer auf Normen höheren Ranges bezieht. A n diesem Punkt aber gerät die verfassungskonforme Auslegung m i t dem Normenkontrollverfahren i n Konflikt. Es mag noch dahingestellt bleiben, wie weit der Gesetzeswortlaut ein zuverlässiges Abgrenzungskriterium zwischen legitimer und unzulässiger Rechtsfortbildung bietet. Für die verfassungskonforme Auslegung jedoch läßt sich feststellen, daß die Grenzen dieses interpretatorischen, wenngleich notwendig mit Kontrollelementen vermischten Verfahrens dort zu suchen sind, wo von Interpretation nicht mehr die Rede sein kann, sondern das Gesetz zur formalen Hülle einschlägiger Rechtsprechung zu werden droht. Vorkonstitutionelles Recht steht deshalb nicht unter einem allgemeinen Revisionsvorbehalt durch die Rechtsprechung. Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Beschränkung i n der Verfahrenstypik des Grundgesetzes, dem eine allgemeine „Rechtsumbildungszuständigkeit" der Gerichte — auch für vorkonstitutionelles Recht — fremd ist. Eine weitere, spezifisch prozeßrechtliche Erwägung spricht gegen die Annahme, der Richter habe gegenüber vonkonstitutionellem Recht eine größere Freiheit als gegenüber nachkonstitutionellen Rechtssätzen. Bekanntlich kann vorkonstitutionelles Recht auch zum Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle gemacht werden. Der viel zu wenig beachtete § 76 Nr. 2 BVerfGG gibt den dort genannten Antragstellern die Möglichkeit, ein von einem Gericht (oder einer Behörde) wegen seiner Unvereinbarkeit m i t dem Grundgesetz nicht angewandtes Gesetz dem BVerfG zur Prüfung vorzulegen 101 . 99 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 174; Wieacker, Gesetz S. 4. 100 v g l . Bogs S. 69. 101 Vgl. hierzu Maunz/Sigloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein
§ 76 Rdn. 23.
176
T e i l I I I , 4. Kap.: Kontrollverfahren
Das BVerfG interpretiert den Begriff „Nichtanwendung" verhältnismäßig weit. Es soll genügen, daß das Gericht oder die Behörde den fraglichen Rechtssatz nicht beachtet haben 1 0 2 . Dennoch ist nicht zu übersehen, daß jedenfalls Klarheit darüber herrschen muß, ob das Gesetz angewandt worden ist oder nicht. Solche Klarheit und m i t h i n die Entscheidung über die Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß man die Alternative von Bindung oder Nichtanwendung auch für vorkonstitutionelles Recht beachtet. Die verfassungskonforme Auslegung zeigt aber die gegenläufige Tendenz. Soweit i m Schrifttum eine extensive A n wendung bei vorkonstitutionellem Recht empfohlen w i r d 1 0 3 , wäre der Grundsatz verfassungskonformer Auslegung geeignet, das Antragsrecht nach § 76 Nr. 2 BVerfGG zu unterlaufen: ein Verfahren, das Kontrolle und Konkretisierung verbindet, umgeht die Nichtanwendung einer Norm. Eine „Sowohl-als-auch-Entscheidung" verträgt sich aber nicht mit § 76 Nr. 2 BVerfGG, der eine Kontrollentscheidung voraussetzt. Es mag dahingestellt bleiben, ob eine weiter u m sich greifende Neigung der Rechtsprechung, der Normenkontrolle die verfassungskonforme Auslegung vorzuziehen und damit die Verfahrenstypik des GG i n Frage zu stellen, zu einer noch extensiveren Interpretation des § 76 Nr. 2 BVerfGG zwingen könnte, als das BVerfG sie ohnehin für geboten hält. Es wäre nicht abwegig, schon dann den Antrag nach § 76 Nr. 2 BVerfGG für zulässig zu halten, wenn der Antragsteller geltend macht, die betreffende Norm sei i n bezug auf die Verfassung umgebildet worden. Für den Augenblick genügt es festzuhalten, daß eine endgültige Entscheidung darüber, ob vorkonstitutionelles Recht fortgilt, über § 76 Nr. 2 BVerfGG vom BVerfG erlangt werden kann und aus diesem Grunde klar sein muß, ob das über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm befindende Gericht sie anwendet oder verwirft. f) Grenzen verfassungskonformer
Auslegung
Es entspricht allgemeiner Meinung, daß verfassungskonforme Auslegung nicht zur Gesetzeskorrektur berechtigt 104 . Das w i l l indessen wenig besagen, w e i l Auslegung und Korrektur eines Gesetzes einander begrifflich ausschließen. Negativ lassen sich die Grenzen verfassungskonformer Auslegung nachkonstitutioneller Rechtssätze dahingehend umreißen, daß sie jedenfalls keine Kompetenzgrundlage für die „Ver102 v g l . B V e r f G 12, 205 (221). 103 So etwa von Bender M D R 1959, S. 446 u n d Michel JuS 1961, S. 281. 104 So B V e r f G 8, 28 (34); Bogs S.33; Eckardt S. 56; Hesse, Grundzüge S.33.
3. Die verfassungskonforme Auslegung
besserung" von Gesetzen darstellt und die Rechtsprechung nicht ermächtigt, ihre „Kontrollzuständigkeit von dem Fall klarer Verfassungswidrigkeit auf den Fall zweifelhafter 'Verfassungsmäßigkeit auszudehnen" 1 0 5 . Ebensowenig begründet die verfassungskonforme Auslegung eine allgemeine Anpassungszuständigkeit der rechtsprechenden Gewalt für vorkonstitutionelles Recht 106 . Hier ist jedoch eine gewisse Unschärfe i n der Begrenzungsfunktion des Wortlauts einzuräumen, die durch die objektive Auslegungsmethode bedingt ist. Für beide Rechtsmassen aber muß gelten, daß objektive und subjektive Methode nicht vollkommen i n ihrer Alternativität belassen werden 1 0 7 ; eine stark objektiv orientierte Auslegung nachkonstitutionellen Rechts kann schließlich dazu verleiten, dem Gesetzgeber lediglich den „Willen" zu substituieren, nicht verfassungswidrig handeln zu wollen 1 0 8 .
los 106 107 los
So Ehmke Entgegen Vgl. dazu So B G H Z
12 Ipsen
V V d S t R L 20 (1963), S. 75. Bender M D R 1959, S. 446 u n d Michel JuS 1961, S. 281. Mennicken S. 58 ff. u n d 78 ff. 31, 244 (252).
5. Kapitel M ö g l i c h k e i t e n „verfassungskonformer
Rechtsfortbildung"
1. Die Problemstellung Göldner w i r f t die Frage auf, ob sich dem Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung, den er freilich i m Gegensatz zur hier vertretenen Auffassung nicht als „Sonderprinzip der Normenkontrolle, sondern als Regelprinzip jeder Interpretation" 1 verstanden wissen w i l l , ein „Verfahren der verfassungskonformen Rechtsfortbildung" an die Seite stellen läßt 2 . M i t Recht hält Göldner es für unzulässig, die Grundsatzfrage, inwieweit das Verfassungsprinzip in Akte richterlicher Rechtsfortbildung einfließen kann, aus funktionell-rechtlichen Gründen zu verneinen, bevor sie richtig gestellt ist 3 . Wichtige Beispiele judizieller Rechtsfortbildung — und die hier getroffene Auswahl von Entscheidungen bestätigt diesen Befund — sind inhaltlich auf Sätze der Verfassung gestützt worden und bieten für sich schon hinreichenden Anlaß, dem Problem „verfassungskonformer Rechtsfortbildung" nachzugehen. Freilich darf dabei die funktionell-rechtliche Problematik i n keinem Augenblick außer acht gelassen werden. Begreift man nämlich die juristische Methodenlehre als Lehre vom richtigen Entscheiden, nicht nur als Lehre vom Verstehen von Rechtssätzen, so kann ein Dualismus von Methode und Kompetenz von vornherein nicht entstehen: Methode und Kompetenz stehen i n einem Wechsel Verhältnis 4. Soweit Entscheidungskompetenzen bestehen, müssen die Entscheidungen auch von einer rational kontrollierbaren Methode geleitet sein; umgekehrt erübrigt sich der Nachweis „methodisch richtiger" Aussagen in Bereichen, die richterlicher Entscheidung unzugänglich sind. 2. Die These von der richterlichen Befugnis zur „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" Göldners Versuch, ein Prinzip der „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" nachzuweisen 5 , läßt sich, sieht man einmal von dem i So Göldner S. 67. * v g l . Göldner 4 Vgl. oben T e i l I, 2. Kap. 3. s Vgl. Göldner S. 67 ff.
S. 68.
3 v g l . Göldner
S. 73.
2. „Verfassungskonforme Rechtsfortbildung" — Kompetenz des Richters? 179
begrifflichen Rankenwerk ab, in relativ knapper Form zusammenfassen. Rechtsfortbildung ist nach Göldner Feststellung und Ausfüllung von Lücken 6 . Lücken i n der gesetzlichen Rechtsordnung werden nicht logisch deduzierend, sondern teleologisch wertend festgestellt 7 . Fraglich ist nun, von welchem Bezugssystem her beurteilt werden kann, ob die Rechtsordnung lückenhaft ist. Larenz nimmt die dem Gesetz immanente Teleologie zum Maßstab und hält eine Lücke für gegeben, wenn das Gesetz nach seinen eigenen Grundgedanken eine Regelung erwarten lasse8. Göldner ist dieser Maßstab zu eng 9 . Nach seiner Auffassung muß die „Rechtsordnung als Ganzes", das „Rechtsganze" Wertungsgrundlage für die Ermittlung von Lücken sein 10 . Damit ist der Weg frei, auch das Verfassungsprinzip als Maßstab zur Lückenermittlung zu benutzen. Es dient darüber hinaus dazu, die aufgespürten Lücken zu füllen, und ist somit „mitwirkender inhaltlicher Bestimmungsgrund richterlicher Rechtsfortbildung" 11 . Göldner ist sich freilich bewußt, daß er mit seiner Auffassung „dem Richter den abstrakt nahezu unbegrenzten Aktionsrahmen der Verantwortung für das ,Gesamtrechtssystem'" 12 zuweist. Ein mögliches Korrektiv liegt seiner Meinung nach i n einem stark einzelfallbezogenen methodischen Vorgehen 13 . Indes bieten Göldners Überlegungen zur „richterlichen Prinzipienkonkretion" 1 4 nicht den gewünschten methodischen Halt. Die immer wieder auftauchende Parallele zwischen Verfassungsprinzip und § 242 B G B 1 5 verleitet i h n vielmehr dazu, die judizielle Konkretisierung von Verfassungsprinzipien zu akzentuieren und einer „verfassungskonkretisierenden Gesetzgebung" 16 gegenüberzustellen, so daß sich das Verhältnis von Gesetzgeber und Richter als das zweier „konkurrierender Konkretisierungsinstanzen" ausnimmt 1 7 .
e So Göldner S. 75. 7 So Göldner S. 77. 8 Vgl. Larenz M L S. 383. 9 Vgl. Göldner S. 78. 10 So Göldner S. 79. So Göldner S. 80. 12 So Göldner S. 82. 13 Vgl. Göldner S. 83. 14 Vgl. Göldner S. 185 und passim, is Vgl. Göldner S. 76, 97, 106. 16 So Göldner S. 89. 17 So Göldner S. 91. 12*
180
T e i l I I I , 5. Kap.: Verfassungskonforme Rechtsfortbildung?
Erst nachdem der Verfasser die kompetenzrechtliche Problematik der „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" erkannt hat 1 8 , gewinnt seine Untersuchung eine restriktive Tendenz. Göldner sieht die Gefahr einer Unterminierung des positiven Rechts durch judizielle Verfassungskonkretisierung 19 und fragt sich, ob es Garantien dagegen geben könne, daß der Richter „sein persönliches Werturteil der verfassungsrechtlichen Wertung substituiert und sodann unter Berufung auf den Verfassungsvorrang der gesetzlichen Einzelproblemlösung überordnet" 2 0 . Die von Göldner herausgearbeiteten Kennzeichen von Verfassungsprinzipien, — inhaltliche Universalität; — verfassungsrechtlicher Geltungsvorrang und — Mangel an konkreter Regelungssubstanz 21 , führen zur grundsätzlichen Frage, was das Grundgesetz inhaltlich für die Rechtsfortbildung herzugeben vermag. Es ist dies — i n einem systematischen Zusammenhang gestellt — ein Problem der Verfassungslehre, das auf seine Lösung i n einer materialen Verfassungstheorie hinsteuert. Ehmke hat bereits das Fehlen einer solchen — auch nur umrißhaften — Theorie festgestellt 22 . Angesichts der stark divergierenden Grundpositionen, die namentlich i n der Grundrechtstheorie ausgeprägt sind, ist man heute von einem Konsens über die inhaltliche Tragweite von Grundrechten und Verfassungsprinzipien noch weit entfernt. Die ganze Spannweite der Meinungen w i r d deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Grundrechte einerseits als werthierarchisches System 23 , andererseits als mehr punktuelle Regelung 24 , als Verstärkung einzelner Lebensbereiche angesehen werden. Erhalten die vorgetragenen Auffassungen überdies einen weltanschaulichen Akzent, der nur geglaubt oder verworfen werden kann 2 5 , so erscheint ein Brückenschlag vollends unmöglich. Als relativ unbestrittener Ausgangspunkt bieten sich immerhin die grundgesetzlichen Gesetzgebungsaufträge an. Die inhaltliche Vorformung von Gesetzgebung durch die Verfassung dürfte auch Schlüsse auf die richterliche Rechtsfortbildung erlauben. is Vgl. Göldner S. 147 f. 19 Vgl. Göldner S. 175 so So Göldner S. 176. 21 So Göldner S. 175. 22 Vgl. Ehmke V V d S t R L 20 (1963), S. 64. 23 Vgl. n u r Maunz/Dürig/Herzog A r t . 1 Abs. 1 Rdn. 5 ff. 24 v g l . Hesse, Grundzüge S. 12. 25 Vgl. Lerche AöR (1965), S. 343.
3. Vorherbestimmung gesetzgeberischen Handelns durch das Grundgesetz 181
3. Die Vorherbestimmung gesetzgeberischen Handelns durch das Grundgesetz a) Die Gesetzgebungsaufträge
des Grundgesetzes
Der Gesetzgeber w i r d an den verschiedensten Stellen des Grundgesetzes verpflichtet, ermächtigt oder angeregt, einen bestimmten Lebensbereich oder einen Teil staatlicher Organisation gesetzlich zu regeln. Die Gründe hierfür sind verschieden. Sie können darin liegen, daß ein Teilbereich der Rechtsordnung nicht mehr mit der Verfassung übereinstimmt (so etwa das dem Art. 3 I I GG entgegenstehende Recht), daß ein rechtsstaatlicher Vorbehalt das Gesetz für Grundrechtsbeschränkungen voraussetzt oder daß die vom Grundgesetz vorgeschriebene Konstituierung von Staatsorganen ohne genaue gesetzliche Regelung nicht möglich ist (etwa durch ein Wahlgesetz, vgl. Art. 38 I I I GG). Alle diese, den Gesetzgeber zum Tätigwerden verpflichtenden, ermächtigenden oder auch nur anregenden Normen kann man — wenn man den Begriff weit faßt — als Gesetzgebungsaufträge bezeichnen. Gewöhnlich versteht man unter diesem Begriff nur die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, ein bestimmtes Rechtsgebiet am Maßstab des Grundgesetzes zu regeln. Zu denken ist hierbei i n erster Linie an die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 311 GG i . V . m . Art. 1171 GG) und die Anpassung der Rechtsstellung der unehelichen Kinder an die der ehelichen (Art. 6 V GG). Nimmt man als Beispiel für einen Gesetzgebungsauftrag i m engeren Sinn den Gleichberechtigungsgrundsatz, so w i r d sogleich deutlich, daß er m i t „inhaltlicher Universalität" und „Mangel an konkreter Regelungssubstanz" 26 zutreffend gekennzeichnet ist. Der Anwendungsbereich des A r t . 3 I I GG ist universal; zu ihm gehören alle Gebiete des öffentlichen und privaten Rechts. Eine konkrete Regelung — etwa für das eheliche Güterrecht — ist dem Gleichberechtigungsgrundsatz dagegen nicht zu entnehmen. Esser hat diese Eigenart des Verfassungsprinzips dahin umschrieben, daß es selektiv wirke, an seinem Maßstab also das entgegenstehende Recht ausgesondert werden könne, nicht aber konstruktiv, denn A r t . 3 I I GG bot keinen Ersatz für die nach Ablauf der i n A r t . 1171 GG vorgesehenen Frist nunmehr verfassungswidrigen Rechtsinstitute 27 . Dem Gesetzgeber war also eine, aus der Sicht des Verfassungsgebers, nur legislatorisch zu bewältigende Neubildungsaufgabe übertragen worden. Als zweites Beispiel sei Art. 141 GG angeführt. Dem Gesetzgeber fällt hier — i m Sinne einer „Ermächtigung" oder „Berechtigung" — 2« So Göldner S. 175. 27 v g l . Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 78.
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Teil I I I , 5. Kap.: Verfassungskonforme Rechtsfortbildung?
die Aufgabe zu, Inhalt und Schranken des Eigentums zu bestimmen. Auch Art. 14 I GG läßt neben seiner universalen Geltung einen Mangel an konkreter Regelungssubstanz erkennen. Die das Eigentum besonders tangierenden Gebiete etwa des Baurechts und des Steuerrechts sind in ihrer Konzeption aus dem A r t . 14 I GG nicht ablesbar oder ableitbar; sie werden überhaupt nicht erwähnt. Dem Art. 14 I GG ist zunächst nur zu entnehmen, daß die Gesetze mit ihrer Inhalts- und Schrankenbestimmung noch „Eigentum" übrig lassen müssen. Das Grundrecht w i r k t also, bei aller durch Art. 14 I I GG gebotenen Einschränkung, affirmativ, nicht konstruktiv. Dem Gesetzgeber ist die Kompetenz eingeräumt, das Eigentum auszugestalten, ohne daß für diese Gestaltungsaufgabe genaue Weisungen der Verfassung vorlägen. Vielmehr darf vorausgesetzt werden, daß das Grundgesetz angesichts der zentralen Stellung der Eigentumsgarantie in jeder Verfassung nur den demokratisch legitimierten Gesetzgeber prinzipiell für kompetent hält, diese Aufgabe zu lösen. Dem entspricht es, daß Inhalt und Schranken des Eigentums i n einem offenen, auch verschiedenem politischen Einfluß zugänglichen Verfahren bestimmt werden. Ein drittes Beispiel findet sich i m Sozialstaatsprinzip 28 . Hier von einem „Gesetzgebungsauftrag" zu sprechen, mag manchem schon zu weit gehen, denn dieses Verfassungsprinzip w i r d i m Grundgesetz — anders als das Rechtsstaatsprinzip — i m einzelnen nicht ausgeformt 29 . Man spricht deshalb auch besser von einer „Anregung" für die Gesetzgebung, u m klarzustellen, daß hier nur i n eine bestimmte Richtung gewiesen wird, die staatliche A k t i v i t ä t einzuschlagen hat. Das Sozialstaatsprinzip enthält also ein — wenn auch unbestimmtes — Programm für den Gesetzgeber, weist ihn auf nicht erfüllte Aufgaben hin, ohne daß die Rechtsbereiche für das Programm ausdeutbar wären 3 0 . b) Die Parallele zum Verwaltungshandeln Die skizzierten Gesetzgebungsaufträge haben — abgesehen von ihrem unterschiedlichen Verpflichtungscharakter — eines gemeinsam: Sie sind sachliche Richtsätze, „ i n die Zeit hineinwirkende, sich kontinuierlich erprobende" Linien 3 1 , i m Grunde nur „Anstoßnormen" für gesetzgeberische A k t i v i t ä t 3 2 . Neben der Anregungsfunktion kommt den „Verfassungsdirektiven" 33 , um den engeren Begriff des „Gesetzgebungs28 Vgl. auch Lerche AöR 90 (1965), S. 348. 29 Vgl. Badura S. 47. 30 Vgl. hierzu Lerche AöR 90 (1965), S. 348. 31 So Lerche AöR 90 (1965), S. 347. 32 Vgl. Lerche AöR 90 (1965), S. 348. 33 Dieser Begriff bei Lerche AöR 90 (1965), S. 341 f.
3. Vorherbestimmung gesetzgeberischen Handelns durch das Grundgesetz 183
auftrags" einmal zu vermeiden, auch eine Begrenzungsfunktion zu. Der Gesetzgeber muß einen bestimmten Rahmen, der namentlich durch die Grundrechte vorgezeichnet ist, einhalten. Die M i t t e l zur Ausgestaltung sind ihm jedoch freigestellt, und die von den Direktiven gewiesene Richtung gibt Raum für ganz unterschiedliche Gestaltung, auch mit verschiedener gesellschaftspolitischer Akzentuierung 3 4 . Dieses Verständnis der grundgesetzlichen Gesetzgebungsaufträge — Anregung und Begrenzung legislatorischen Handelns mit unterschiedlicher Verpflichtung 35 — und die damit verbundene Betonung gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit schließt es aus, Gesetzgebung m i t Begriffen des Verwaltungsrechts zu versehen. Lerche hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß den Begriffen „Verfassungsvollzug", „gesetzgeberisches Ermessen" — werde dies auch weit gespannt — und „Ermessensfehler" eine „verwaltungsnahe" Vorstellung von Gesetzgebung zugrunde liegt: es werde ein Stück Verwaltungsrecht i n das Verfassungsrecht übertragen 36 . I n der Konsequenz dieser verwaltungsrechtlichen Parallele liegt es, die Verfassung als „unerschöpflichen Quell von sehr detaillierten Inhalten" zu verstehen, „die der Gesetzgeber nur ans Tageslicht zu heben habe" 3 7 . Die Folge dieser Auffassung ist eine starke Abhängigkeit der Gesetzgebung von der rechtsprechenden Gew a l t 3 8 . Über die oben gekennzeichneten Kontrollverfahren hinaus wäre auch eine stärkere inhaltliche Bindung des Gesetzgebers für diese „verwaltungsnahe" Vorstellung nur folgerichtig. Sie könnte gegebenenfalls mit der verwaltungsrechtlichen Figur der „Ermessensreduzierung" begründet werden. Diese Auffassung w i r d der Eigenart der Verfassungsdirektiven nicht gerecht und ist deshalb scharf abzulehnen. c) Die Parallele zum Richterrecht I n gleicher Weise unzutreffend ist die namentlich von Göldner mit dem Begriff der „Prinzipienkonkretisierung" angebotene Parallele zum Richterrecht. Oben wurde — insoweit i n Übereinstimmung mit Göldner 3 9 — Konkretisierung als ein „auf Regelbildung abzielendes Verfahren" gekennzeichnet 40 , das über die Stationen der Spezifizierung und Typi34
35 36 37 38 39 40
So auch Rauschning, Verfassungssicherung S. 38. So Badura S. 54. vgl. Lerche AöR 90 (1965), S. 344. So Lerche AöR 90 (1965), S. 349. Vgl. hierzu Badura S. 48. Vgl. Göldner S. 109. Vgl. oben Teil I I , 1. Kap. 3 a.
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T e i l I I I , 5. Kap.: Verfassungskonforme Rechtsfortbildung?
sierung Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen allmählich einen Normbereich anwachsen läßt 4 1 . Soll der Begriff der Konkretisierung nun nicht jede Kontur verlieren, so muß man i h n auf die Rechtsprechung beschränken. Gesetzgebung ist kein „auf Regelbildung abzielendes Verfahren", sondern Setzung von Recht. Bei dem hier skizzierten Verständnis der Verfassungsdirektiven ist der Gesetzgeber — anders als der Richter — nicht gezwungen, Prinzipien der Verfassung zu „verbesondern" und zu typisieren, er empfängt nur Anstöße durch die Verfassung, bleibt aber frei i n seiner Rechtsgestaltung. Dieses Vorgehen unterscheidet sich grundsätzlich von der judiziellen Konkretisierung von Generalklauseln. Generalklauseln sind zunächst durch ihren Delegationsgehalt charakterisiert. Sie enthalten darüber hinaus eine inhaltliche Leitlinie, also ein Normprogramm, hingegen keinen bestimmten Normbereich. U m für die juristische Arbeit einigermaßen sicheren Boden zu gewinnen, muß die inhaltliche Leitlinie auf bestimmte Fälle — spezifizierend und typisierend — übertragen werden. Der typische Fall erscheint dann aber als Ergebnis, als „Unterfall" der Generalklausel. Ganz anders ist das gesetzgeberische Vorgehen. Die einschlägigen Sozialgesetze sind keine „Unterfälle" des Sozialstaatsprinzips, das Gleichberechtigungsgesetz war keine „Konkretisierung" des Art. 3 I I GG, das Bundesbaugesetz kann kaum als „Verbesonderung" des Art. 14 I GG begriffen werden. Die Vorstellung des Verhältnisses der Verfassung zum einfachen Gesetz als das eines Allgemeinen zum Besonderen ist gänzlich verfehlt, weil die Verfassungssätze nicht das einfache Gesetz vorherbestimmen, sondern nur Anregung und Begrenzung gesetzgeberischer Gestaltung sind 4 2 . Es bleibt ein i n Göldners Untersuchung unaufgelöster, von seinem Musterbeispiel des Persönlichkeitsschutzrechtes freilich nahegelegter Widerspruch, trotz der Qualifizierung des Verfassungsprinzips als inhaltlich universell, aber ohne konkrete Regelungssubstanz den Begriff „gesetzgeberischer Konkretisierung" 4 3 angeführt zu haben 44 . Auch i m Fall des Persönlichkeitsschutzrechtes dürfte es nicht die Ausgangsposition des Gesetzgebers gewesen sein, das Prinzip der Menschenwürde spezifizieren und typisieren zu wollen. Es sollte vielmehr eine als dringlich erkannte rechtspolitische Aufgabe gelöst werden.
Vgl. 42 Vgl. 43 Vgl. 44 Vgl. zwischen
oben T e i l I I , 1. Kap. 3. auch Badura S. 53 ff. Göldner S. 89. auch Hesse, Grundzüge S. 128, der einen graduellen Unterschied „Ausgestaltung" u n d „Konkretisierung" annimmt.
4. Verfassungsprinzipien u n d richterliche Rechtsfortbildung
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d) Gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit und Bindung durch die Verfassung Durch diese Überlegungen ist ein Verfassungsverständnis vorgezeichnet, das die Offenheit des Grundgesetzes betont 4 5 . Nicht alles staatliche Handeln w i r d durch das Grundgesetz vorherbestimmt 4 6 . Häufig finden sich nur punktuelle Regelungen. Die Verfassung erhebt nicht den Anspruch, lückenlos zu sein. Sie ist mithin kein unerschöpflicher Quell detaillierter Inhalte, die nur sichtbar gemacht werden müßten. Es gibt keinen Vorbehalt der Verfassung in dem Sinne, daß sich alles staatliche Handeln aus der Verfassung erschließen lassen müsse 47 . Nicht einmal i m Bereich der Organisation der Staatsorgane, i n dem sich am ehesten systematische Geschlossenheit vermuten ließe, sind die Vorschriften des Grundgesetzes lückenlos 48 . Soweit aber die Verfassung Sachbereiche nur umrißhaft oder gar nicht regelt, liegt hierin eine „verfassungskräftige Gewährleistung freier Entscheidung" 49 . Der Gestaltungsfreiheit namentlich des Gesetzgebers entspricht es, daß er an die vorhandenen Verfassungsnormen gebunden ist: Gestaltungsfreiheit und Gebundenheit durch Verfassungssätze stehen in einem Wechselverhältnis. Die grundgesetzlich geregelten Verfahren der Rechtserzeugung und Rechtskontrolle bieten nach der hier vertretenen Auffassung eine Gewähr dafür, daß der Gesetzgeber die Bindungen durch die Verfassung einhält, seine Gestaltungsfreiheit aber gewahrt bleibt 5 0 . 4. Verfassungsprinzipien — Anstoß oder Vorherbestimmung richterlicher Rechtsfortbildung? Die so gekennzeichnete Eigenart von Verfassungsnormen — Anstoß und Begrenzung staatlichen, insbesondere gesetzgeberischen Handelns — w i r f t die Frage auf, ob Verfassungssätze für die rechtsprechende Gewalt eine andere Qualität haben als für den Gesetzgeber. Spricht man nämlich von „verfassungskonformer", i m Sinne inhaltlich durch die Verfassung geprägter und bestehendes Recht korrigierender Rechtsfortbildung, muß der Verfassung offenbar doch mehr an konkreter Regelungssubstanz zu entnehmen sein, als i m Verhältnis zum Gesetzgeber angenommen wurde.
45 46 47 48
Vgl. Hesse, Grundzüge S. 12. So Rauschning, Verfassungssicherung S. 38. So Rauschning, Verfassungssicherung S. 38. Vgl. Rauschning, Verfassungssicherung S. 37.
49 So Hesse, Grundzüge S. 14. so Ähnlich Hesse, Grundzüge S. 13.
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T e i l I I I , 5. Kap.: Verfassungskonforme Rechtsfortbildung?
Man kann bei dieser Frage das schon behandelte Normenkontrollverfahren, i n dem die Verfassungssätze für den Richter Prüfungsmaßstab sind, an dem Gesetze gemessen werden, ausscheiden. I n der Tat ist i m Kontrollverfahren methodisch eine weitgehende Konkretisierung der Verfassungsnormen erforderlich, bei nachkonstitutionellem Recht unter Vorbehalt verfassungsgerichtlicher Bestätigung. Es wurde aber deutlich gemacht, daß der kontrollierende Richter nicht die „richtige" Lösung herauszufinden hat, sondern nur feststellen kann, ob der dem Gesetzgeber gesetzte Rahmen eingehalten worden ist. Anders als die Kontrolle zielt richterliche Rechtsfortbildung darauf ab, eine „richtige" Lösung zu erreichen. Erwägt man nun den Gedanken Krieles von der „Rechtssetzungsprärogative" des Gesetzgebers 51 und nimmt den Göldnerschen Begriff von der „subsidiären Konkretisierungskompetenz" des Richters 52 hinzu, stellt man also fest, daß richterliche Rechtsfortbildung sich statt gesetzlicher Regelungen vollzieht, so ist eigentlich nicht einsehbar, warum Sätze der Verfassung auch für den Richter mehr als Anstoßnormen i m Sinne Lerches sein sollen. Wenn nach anfänglichem Zögern i n der Lehre nunmehr anerkannt ist, daß die Rechtsprechung Rechtsbildungskompetenzen hat, weitgehend aber nur den untätig gebliebenen Gesetzgeber ergänzt oder ersetzt, so können die normativen Grundlagen richterlicher Rechtsbildung doch nicht weiter reichen als die der Gesetzgebung selbst. Die hier verfolgte Rechtsprechungspraxis vermittelt dagegen den Eindruck, daß der Mangel an normativen Grundlagen des einfachen Rechts durch den Rückgriff auf Verfassungsnormen kompensiert werden soll. Kriele spricht geradezu von einer „Unsitte", die grundgesetzlichen Generalklauseln der Art. 1, 2 und 20 GG als Grundlage der Rechtsfortbildung zu nehmen und „das judiziell geschaffene Recht als Verfassungsrecht auszugeben" 53 . Eine solche Tendenz mag dann i n der Feststellung kumulieren, daß durch einfaches Gesetz nicht bestimmt werden könne, was Enteignung sei, weil die verfassungsrechtliche Garantie des Eigentums dann durch den Gesetzgeber modifiziert werde 5 4 . Nun muß man sich allerdings fragen, warum Verfassungssätze nicht doch als Grundlage richterlicher Rechtsfortbildung dienen können, da ihnen, wenn sie auch zunächst nur den Anstoß zur Rechtsbildung geben, i m Laufe der Zeit — wie bei den Generalklauseln — ein Normbereich anwachsen kann 5 5 . si 52 53 54 55
Vgl. Kriele S. 60 f. v g l . Göldner S. 202. So Kriele S. 256. Vgl. B G H Z 27, 15 (20 f.); 30, 338 (340). Vgl. dazu F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 202.
4. Verfassungsprinzipien und richterliche Rechtsfortbildung
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Die Begründung dafür, daß Generalklauseln des einfachen Gesetzesrechts und Verfassungsprinzipien für richterliche — wohlgemerkt nicht verfassungsrichterliche — Rechtsbildung eine verschiedene Funktion haben, ist einfach: sie folgt aus dem Geltungsvorrang der Verfassung. Stellen sich nämlich judizielle Rechtsbildungen als Verfassungskonkretisierung dar, ist der Gesetzgeber notwendig an sie gebunden. Das dogmatische Substrat — die Verfassungsprinzipien — kann durch einfaches Gesetzesrecht nicht geändert werden. Die „subsidiäre Konkretisierungskompetenz" 56 entwickelt sich zu einem Vorrang des Richterrechts. Wenn auch bei einer Kollision von Judikatur und nachfolgendem Gesetz die prozessuale Möglichkeit besteht, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, das i m Wege der abstrakten Normenkontrolle endgültig über das Rangverhältnis von Richter- und Gesetzesrecht entscheiden würde 5 7 , so ist damit das prinzipielle Konkurrenzverhältnis nicht beseitigt. Das hier deutlich gewordene funktionell-rechtliche und rechtshierarchische Problem kann nur dadurch gelöst werden, daß man sich der Ausgangslage des Richterrechts bewußt bleibt. Der Richter tritt, entweder ermächtigt durch Delegationsnormen oder aber gezwungen durch seine Entscheidungskompetenzen, an die Stelle des Gesetzgebers. Judizielle Rechtsbildungen haben deshalb keinen höheren Rang als einfache Gesetze, sondern stehen unter dem Vorbehalt abweichender gesetzlicher Regelung. Die Verfassungsnormen sind für den Richter — wie für den Gesetzgeber — Anstoß und Begrenzung rechtsbildender Tätigkeit; nicht aber bestimmt die Verfassung die einzelne Normbildung inhaltlich vorher. Aus der Verlegenheit der Rechtsprechung um normative Entscheidungsgrundlagen kann sich keine Teilhabe des Richterrechts am Geltungsvorrang der Verfassung entwickeln 5 8 . Der Begriff der „verfassungskonformen Rechtsfortbildung" ist, obschon durch manche Beispiele aus der Judikatur nahegelegt, überflüssig. Daß Rechtsfortbildung, wie jede andere staatliche Tätigkeit, in Übereinstimmung mit der Verfassung zu vollziehen hat, versteht sich von selbst. Darüber hinaus vermag die Verfassung richterlicher Rechtsfortbildung nur Anstöße zu geben. 56 Vgl. Göldner S. 202. 57 So § 76 Nr. 2 B V e r f G G ; vgl. dazu Maunz/Sigloch/Schmidt-Bleibtreu/Klein § 76 Rdn. 23. 58 Das B V e r f G n i m m t hingegen i n seiner Rspr. i n beschränktem Maße am Geltungsvorrang der Verf. teil; für das B V e r f G stellen sich Verfassungssätze weitgehend als „Delegationsnormen" dar, die wegen des Entscheidungszwanges zu konkretisieren sind. Freilich hat auch das B V e r f G die gesetzgebende Gestaltungsfreiheit zu respektieren. Die Stellung des B V e r f G ist aber — nicht zuletzt aus diesen Gründen — m i t der der anderen Gerichte nicht zu vergleichen; so auch W. Weber, Festschrit Niedermeyer S. 272 f. u n d Esser, Vorverständnis S. 198 f.
6. Kapitel D i e T y p e n des Richterrechts v o r d e m H i n t e r g r u n d der Verfahrensregelungen 1. Die richterliche Konkretisierung von Gesetzen Der dem Gerichtsverfahren adäquate Typus judizieller Rechtsbildung ist, so läßt sich nach der vorangegangenen Erörterung resümieren, das gesetzeskonkretisierende Richterrecht. Auf diesen Bereich w i r d i n erster Linie die Auffassung zu beziehen sein, daß Gesetzgeber und Richter arbeitsteilig zusammenwirken, daß dem Gesetzgeber zwar eine Prärogative, nicht aber ein Monopol der Rechtsetzung zukomme 1 . Die richterliche Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln bietet, da sie am Einzelfall vollzogen wird, eine gewisse Gewähr für die methodische Richtigkeit und inhaltliche Konstanz der Rechtsbildung 2 und erfüllt dadurch die Forderung nach Stabilität und Kontinuität, die an das Richterrecht — wie an das Recht überhaupt — zu stellen ist 3 . Wenn auch noch zu prüfen ist, wieweit der Grundsatz der Rechtssicherheit der Delegation von Rechtsbildungsaufgaben an den Richter Schranken setzt, so können doch von den Verfahren — und damit dem Gewaltenteilungsprinzip — her keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen gesetzeskonkretisierendes Richterrecht erhoben werden. I n Einzelfällen mag eine detaillierte gesetzliche Regelung wünschenswert und der Vorwurf berechtigt sein, der Gesetzgeber habe seine Normierungsaufgabe nur ungenügend erfüllt 4 . Dabei ist jedoch zu bedenken, daß auch der Gesetzgeber bei der Normierung gewissen Schranken unterliegt. Das Gesetzgebungsverfahren hat nur eine begrenzte Kapazität, überdies ist die Auswirkung eines Gesetzes nicht für jeden Fall vorauszusehen: die Aufstellung allgemeiner Grundsätze kann also den beschriebenen Eigenarten von parlamentarischen Rechtsetzungsverfahren und Revisionsverfahren durchaus entsprechen. Ein solcher Bewertungsrahmen ist allerdings auch notwendige Voraus1 Dazu Kriele S. 60 ff. Vgl. dazu Esser, Vorverständnis S. 139 ff. 3 So H. P. Schneider S. 39. 4 Vgl. Wieacker, Gesetz S. 5; Diederichsen, Flucht des Gesetzgebers S. 35 ff. 2
2. Die B i l d u n g gesetzesvertretenden Richterrechts
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Setzung gesetzeskonkretisierenden Richter rechts. Verweist eine Generalklausel lediglich auf einen normativ nicht überformten Sachbereich, i n dem etwa „Mißbräuche" zu verhüten seien, so muß der Richter die vom Gesetzgeber unterlassene Willensbildung nachholen 5 . Für diese Willensbildung ist aber das — offene — Gesetzgebungsverfahren durch die Verfassung konstituiert worden. Der Richter wäre also gezwungen, eine Aufgabe zu bewältigen, die seinem Verfahren nicht entspricht, und müßte deshalb Elemente des Gesetzgebungsverfahrens i n das Gerichtsverfahren übernehmen. Die Prozeßordnungen begrenzen eine solche Möglichkeit aber deutlich, so daß sich hier bereits eine mit dem Gewaltenteilungsprinzip kaum vereinbare Wahrnehmung ausschließlich gesetzgeberischer Kompetenzen durch den Richter abzeichnet. 2. Die Bildung gesetzes vertretenden Richter rechts Bei der Ausbildung gesetzesvertretenden Richterrechts w i r d das Gesetzgebungsverfahren vollständig durch das Gerichtsverfahren ersetzt. Damit sind die Grenzen eines justizförmigen Verfahrens erreicht. Der zur Entscheidung gezwungene Richter muß die normativen Grundlagen seiner ferneren Judikatur selbst bilden. Da aber nicht immer absehbar ist, welche Fallkonstellationen und Interessenkonflikte sich noch ergeben, werden gewöhnlich allgemeine Rechtsgrundsätze gebildet; die Rechtsprechung erläßt also in die Zukunft wirkende Richtlinien. Die Grundsatzentscheidung kann sich nicht mehr mit der Beilegung einer „ausgereiften Kontroverse" begnügen 6 , sondern muß vielfach am Anfang einer Rechtsentwicklung stehen. Für eine solche Richtlinienjudikatur stellt das Revisionsverfahren nicht die entsprechenden Erkenntnismittel zur Verfügung. Die Entscheidungen mögen zwar sachgerecht, angemessen und ausgewogen sein, i n ihrer Qualität vergleichbare Gesetze sogar übertreffen, dennoch darf nicht übersehen werden, daß das Revisionsverfahren nicht auf Erhebung genereller Tatsachen und damit nicht auf eine antizipierende Rechtsgestaltung zugeschnitten ist. Die fehlenden prozessualen Informationsmöglichkeiten sind aber nur der eine Gesichtspunkt, aus dem die Eignung des Gerichtsverfahrens zu quasilegislatorischer Rechtsbildung zweifelhaft wird. Grundsätzlich dürfte auch das offene, informeller Einflußnahme zugängliche Gesetzgebungsverfahren der Regelung grundlegender, Staat
5 Vgl. oben Teil I I , 1. Kap. 4. 6 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 241.
190
Teil I I I , 6. Kap.: Richterrechtstypen und Verfahrensregelungen
und Gesellschaft betreffender Fragen eher entsprechen als das vergleichsweise geschlossene Gerichtsverfahren 621 . A n die richterliche Rechtsgewinnung sind bestimmte methodologische Anforderungen zu stellen. Sie erscheinen, nicht zuletzt aus Gründen der Nachprüf barkeit eines juristischen Argumentationszusammenhanges, als Deduktion aus gegebenen Rechtssätzen. Die rechtliche Gestaltung grundlegender Probleme des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ist aber nicht schon vorgegeben. Auch das Grundgesetz kann für die spezielle Regelung einzelner Rechtsbereiche keine hinreichende Stütze bieten. W i r d die richterrechtliche Normierung nun — notwendigerweise — i m Wege juristischer Subsumtion vorgenommen, so liegt hierin ein Verlust an offener Willensbildung. Dem demokratischen Staat, der seine Ausprägung auch i m Gesetzgebungsverfahren gefunden hat, entspricht aber der offene, von Interessengegensätzen gekennzeichnete Prozeß der Willensbildung, nicht das Dekret. Welche Folgerungen für das gesetzesvertretende Richterrecht im einzelnen zu ziehen sind, w i r d noch zu erörtern sein. Schon hier ist aber deutlich, daß Unterlassungen des Gesetzgebers zu Kompetenzausweitungen der Rechtsprechung führen können, die von der Verfahrensordnung nicht abgedeckt sind und deshalb dem Prinzip der Gewaltenteilung widersprechen. 3. Die richterliche Kompetenz zur Gesetzeskorrektur a) Die Verwerfung
gesetzlicher Normen
Das Grundgesetz stellt mit dem Normenkontrollverfahren nach A r t . 100 I GG ein Institut zur Verfügung, das die richterliche Prüfungskompetenz gesetzlicher Normen kanalisiert und erschöpft. Neben der Normenkontrolle, die ein einheitliches Verfahren ist und je nach Herkunft der Norm den Richter auch zur Verwerfung berechtigt, gibt es keine Möglichkeit, Normen — auch teilweise — außer Kraft zu setzen7. Der BGH 8 und das B A G 9 nehmen i n ihrer Judikatur zur richterlichen Gesetzeskorrektur eine Befugnis in Anspruch, die der Rechtsprechung ß a Vgl. Scheuner DÖV 1960, S. 609: „Der Gesetzgebung kommt i m demokratischen Staate auch deshalb die erste Rolle zu, w e i l sie — abgesehen von ihrer Wahrnehmung durch Repräsentanten des Volkes — i n einem öffentlichen u n d kontrollierbaren Verfahren vor sich geht. I h r müssen deshalb die obersten Entscheidungen vorbehalten bleiben." 7 Vgl. Badura S. 54; Stein N J W 1964, S. 1748 ff. 8 Vgl. nur B G H Z 4, 153 (158); 13, 360 (367); 34, 64 (70). 9 Vgl. nur B A G 1, 279 (280); 5, 187 (195); 13, 79 (89); 15, 335 (339).
3. Die richterliche Kompetenz zur Gesetzeskorrektur
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von der Verfassung nicht eingeräumt ist. Auch Larenz 1 0 ist entgegenzuhalten, daß das Grundgesetz keine contra-legem-Entscheidungen zuläßt, die nicht i m verfassungsrechtlich geregelten Verfahren der Normenkontrolle erfolgen. Nur dieses Verfahren sichert die Einhaltung der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Soweit es durch verfahrensrechtliche Regelungen möglich ist, w i r d gewährleistet, daß gesetzgeberische Normierungen nur bei eindeutigem Verstoß gegen die Verfassung nicht angewendet oder für nichtig erklärt werden 1 1 . Für die Rechtsprechung des B G H zum Ersatz immaterieller Schäden bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts bedeutet dies zunächst, daß das Gericht die Verfassung dadurch verletzt hat, daß es nicht in erkennbarer Weise den § 253 BGB an den Normen des Grundgesetzes geprüft und — wozu es i n eigener Zuständigkeit berechtigt gewesen wäre — als verfassungswidrig außer Anwendung gelassen hat. Das BVerfG hat i n seiner Entscheidungsbegründung dieses Vorgehen des B G H zwar als problematisch erkannt 1 2 , aber eine inkonsequente Folgerung daraus gezogen. I h m gilt die Tatsache, daß der BGH den „§ 253 BGB weder i m ganzen als nicht mehr bindendes Recht betrachtet noch gar als verfassungswidrig bezeichnen" wollte, sondern lediglich die Fälle, i n denen das Gesetz den Ersatz immaterieller Schäden vorsieht, u m einen erweiterte, als Beweis dafür, daß das Gericht weder „das System der Rechtsordnung verlassen" noch seinen „eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht" hat 1 3 . Genau umgekehrt müßte der Schluß lauten: gerade dadurch, daß der Bundesgerichtshof die Prüfung der Norm am höherrangigen Verfassungsrecht nicht i m Normenkontrollverfahren vorgenommen und den § 253 BGB teilweise außer Kraft gesetzt hat, ohne ihn als verfassungswidrig zu bezeichnen, hat er gegen das Grundgesetz verstoßen. Das BVerfG hätte das möglicherweise rechtspolitisch wünschenswerte Ergebnis besser damit begründet, daß sich i m Fall des Persönlichkeitsschutzrechts die Judikatur trotz anfänglicher Verfassungswidrigkeit wegen der breiten Anerkennung, die ihr zuteil wurde, zu Gewohnheitsrecht verdichtet hat. Damit ist freilich nicht gesagt, daß jede gesetzliche Norm in ihrem Bestand unverändert bleiben muß. Der Grundsatz der objektiven Auslegung bietet hinreichende Möglichkeiten, Gesetze gewandeltem Rechtsbewußtsein anzupassen 14 , und das BGB selbst schafft i n § 242 10 Vgl. Larenz M L S. 399 ff. 11 Vgl. oben Teil I I I , 4. Kap. 1 e. 12 Vgl. BVerfG N J W 1973, S. 1226. 13 So BVerfG N J W 1973, S. 1226. 14 Vgl. Mennicken S. 48 ff.
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T e i l I I I , 6. Kap.: Richterrechtstypen und Verfahrensregelungen
die Ermächtigung zu judiziellen Korrekturen 1 5 . Diese Möglichkeiten der Rechtsdogmatik zu gewissen Randkorrekturen bleiben von diesen Ausführungen unberührt. Setzt der Richter sich aber i n Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut und herrschenden Verständnis einer Norm, so kann i h m das Legitimitätsrisiko, das er angesichts der grundgesetzlich verankerten Gesetzesbindung eingeht 16 , nicht dadurch abgenommen werden, daß man zwischen den noch als Auslegung und Grundsatzbildung zu begreifenden Korrekturen und dem formellen Normenkontrollverfahren eine dritte Möglichkeit judizieller Gesetzeskorrektur für gegeben hält, die zwar i n der Sache Ausübung richterlicher Prüfungskompetenzen ist, i n der Form aber die Verfahrensgrundsätze der Normenkontrolle meidet 17 . b) Die Ersetzung der Norm W i r d eine gesetzliche Norm i m Wege der Normenkontrolle für verfassungswidrig erklärt — und auch hier macht es keinen Unterschied, ob es sich u m ein vor- oder nachkonstitutionelles Gesetz handelt —, so stellt sich die Frage, durch wen und auf welche Weise die verworfene Vorschrift zu ersetzen ist. I n vielen Fällen bedarf es keines Ersatzes für die mit dem Grundgesetz unvereinbare Norm, denn der verfassungsmäßige Zustand kann schon dadurch hergestellt sein, daß die geprüfte Norm nicht mehr existiert (im Falle des § 31 BVerfGG) oder doch als verfassungswidrig und damit unanwendbar bezeichnet wird. Anders liegen die Dinge, wenn ein Gesetz nicht mehr verständlich oder vollziehbar ist, ohne daß an die Stelle der verworfenen Norm eine neue Regelung träte. Das BVerfG räumt dem Richter die Befugnis ein, die gesetzliche Regelung zu ersetzen, sofern nur eine Gestaltungsmöglichkeit als verfassungsmäßig erscheint 18 . Es kann dahingestellt bleiben, welche Grundrechte i n welchen Fällen die rechtliche Gestaltung derart zwingend vorzeichnen. Das hier vertretene Verständnis der Grundrechte und Verfassungsprinzipien drängt zu skeptischer Beurteilung der Versuche, aus der Verfassung rechtliche Regelungen spezieller Natur zu deduzieren. Immerhin läßt sich auf Grund der is v g l . Wieacker § 242 S. 21. 16 Vgl. Wieacker §242 S. 42: „ . . . er muß hier m i t ,Furcht u n d Zittern 4 entscheiden." 17 Dieses Ergebnis t r i f f t auch auf die Entscheidungen des B G H zur aktiven Parteifähigkeit der Gewerkschaften entgegen § 50 I I ZPO zu; vgl. B G H Z 42, 710 u. 50, 325. Auch hier hätte das Gericht die fragliche N o r m als verfassungsw i d r i g verwerfen müssen. Die F o r m der K o r r e k t u r , die der B G H wählte, widerspricht der Verfahrenstypik des GG. is Vgl. etwa B V e r f G 2, 336 (340); 8, 28 (34).
3. Die richterliche Kompetenz zur Gesetzeskorrektur
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oben vorgenommenen Charakterisierung der Rechtserzeugungsverfahren entscheiden, i n welchen Fällen die Ersetzung verworfener Normen durch Richterrecht unzulässig ist. Das Gesetzgebungsverfahren wurde i m Gegensatz zum Revisionsverfahren als prinzipiell offen und informeller Einflußnahme zugänglich gekennzeichnet 19 . Die zu regelnden Gegenstände müssen eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erlangt haben, um die Schwelle des Art. 76 GG zu überwinden. Das Gesetzgebungsverfahren eignet sich seiner Offenheit, seiner Erkenntnismöglichkeiten und seiner politischen Bedingtheit wegen zur Regelung grundsätzlicher, Staat und Gesellschaft betreffender und deshalb i m allgemeinen politisch kontroverser Materien 2 0 . W i r d eine rechtliche Normierung i n diesem Verfahren angestrebt, ist also ein Gegenstand i n der skizzierten Weise politisiert und haben sich gegensätzliche Positionen i n Parlament und Öffentlichkeit herausgebildet, so würde es einen Verlust an Offenheit und politischer Willensbildung bedeuten, wenn die Regelung i m vergleichsweise abgeschlossenen und politischer Einflußnahme unzugänglichen Revisionsverfahren erfolgte. Die richterliche Gesetzesgebundenheit muß sich deshalb schon i m Vorfeld des Gesetzeserlasses auswirken: die Rechtsetzungsprärogative des Parlaments w i r d zur Prärogative des parlamentarischen Rechtsetzung sv erfahr ens; gleichgültig, welches Ergebnis das Verfahren erbringt. Würde man den Vorrang des Gesetzes nicht auch als Vorrang des Gesetzgebungsverfahrens begreifen, so könnten sich die Fälle mehren, i n denen trotz Scheiterns einer Vorlage i m Parlament die angestrebte rechtliche Regelung durch Richterspruch i n Kraft gesetzt w i r d 2 1 . Die öffentlichen Auseinandersetzungen, die Austragung politischer Gegensätze i m vorparlamentarischen und parlamentarischen Bereich — m i t h i n die dem parlamentarischen Rechtsetzungsverfahren eigene Form der Willensbildung — würden zur Farce, wenn ihr — auch negatives — Ergebnis keine Auswirkungen auf die judizielle Rechtsbildungskompetenz hätte. Der Gedanke liegt nicht fern, daß die politischen Instanzen gerade i m Vertrauen auf das Eingreifen des Richters eine gesetzliche Regelung kontroverser Materien unterlassen. Eine solche Reservefunktion der Rechtsprechung, wie sie sich i n der Entscheidung des BVerfG zur Schmerzensgeld-Judikatur des B G H abzeichnet 22 , ist nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht begründbar. Dem BVerfG muß entgegengehalten werden, daß es aus 19 20 21 22
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
13 ipsen
oben Teil I I I , 3. Kap. 1 c. oben T e i l I I I , 3. Kap. 1 d. Göldner S. 124 u. 196. BVerfG N J W 1973, S. 1226.
194
Teil I I I , 6. Kap.Richterrechtstypen und Verfahrensregelungen
dem Scheitern der Gesetzesentwürfe den falschen Schluß gezogen hat. Es handelt sich nicht u m die Frage individueller Zumutbarkeit 2 3 , wenn der Richter verpflichtet wird, dem Gesetzgebungsverfahren den Vorrang zu geben. Auch ist es irrelevant, daß i n der Behandlung der Gesetzesentwürfe kein „gesetzgeberischer Wille erkennbar geworden wäre, es bei dem bisherigen Rechtszustand zu belassen" 24 . Es geht allein um das Problem, i n welchem Verfahren und von welchen Instanzen eine rechtspolitisch wünschenswerte und von Gerechtigkeitsgrundsätzen geforderte Änderung des geltenden Rechts, die wegen eindeutiger legislativer Sperrnormen 25 nicht i m Wege der Auslegung erreichbar ist, vorgenommen werden kann. 4. Ansätze einer Konkurrenz zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung Ein „Spannungs Verhältnis" zwischen vor gängiger judizieller Rechtsbildung und nachfolgender gesetzlicher Regelung und damit eine Konkurrenz zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung kann es nach der grundgesetzlichen Verfahrenstypik nicht geben. Zeigt die Rechtsprechung dennoch gegenüber gesetzlichen Regelungen gelegentlich die Neigung, Modifikationen vorzunehmen, so liegt hierin eine Verkennung der Normenkontrolle und der richterlichen Verfassungskonkretisierung. Die verfassungskonforme Auslegung hat — wie nachgewiesen wurde — einen engen Anwendungsbereich. Sie muß sich i m Rahmen des Interpretablen halten und stellt keineswegs die Kompetenzgrundlage zur „Verbesserung" von Gesetzen dar 2 6 . Bei eindeutigem Wortlaut einer gesetzlichen Norm scheidet die verfassungskonforme Auslegung grundsätzlich aus 27 . Mögliche Zweifel an der Vereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz muß der Richter in einem Vorlagebeschluß nach Art. 100 I GG artikulieren. Unterläßt er die Vorlage und unternimmt er den Versuch, eine dem Gesetz nicht voll entsprechende Rechtsauffassung durchzusetzen, so liegt hierin eine Verletzung der gesetzgeberischen und der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen 2 7 0 . I n den Beispielsfällen gesetzeskonkurrierenden Richterrechts hätte der Bundesgerichtshof die i h m verfassungsrechtlich bedenklich er23 So aber B V e r f G a.a.O.: „ D e m . . . Richter k a n n deshalb kein V o r w u r f gemacht werden . . . " 24 So BVerfG N J W 1973, S. 1226. 25 Vgl. dazu Göldner S. 219. 2 6 Vgl. Ehmke V V d S t R L 20 (1963), S. 75. 27 Vgl. Stein N J W 1964, S. 1750. 27a Ebenso Dieterich D Ö V 1966, S. 855.
4. Konkurrenz zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung
195
scheinenden Normen dem BVerfG nach Art. 100 I GG vorlegen müssen. I n der Begründung des Vorlagebeschlusses wäre nachzuweisen gewesen, daß der Gesetzgeber mit § 95 I BBauG und § 18 BBauG den i h m durch Art. 14 I I GG gewährten Gestaltungsspielraum überschritten hat. Nur ein solches Verfahren kann das Mißverständnis vermeiden, die judizielle Regelung, die zunächst wegen Fehlens eines Gesetzes auf Verfassungsnormen gestützt wird, für Verfassungsrecht auszugeben und das Gesetz dann an der Judikatur zu messen. Die Verfassung hat für den Richter die gleiche Aussagekraft wie für den Gesetzgeber. Die richterliche Verfassungskonkretisierung nimmt also ebensowenig wie das Gesetz, das ein Grundrecht ausgestaltet, am Rang der Verfassung teil 2 8 . Der Richter vermag also auch dann seinen Entscheidungen keine erhöhte Bestandskraft zu verleihen, wenn er sie auf Normen des Grundgesetzes stützt. Die richterliche Verfassungskonkretisierung steht damit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Diesen Befund hat der B G H i n seiner Judikatur zum Bewertungsstichtag für die Enteignungsentschädigung und zur Dauer der Veränderungssperre verkannt 2 9 . Auch die zitierten Autoren 3 0 haben übersehen, daß dem Bundesgerichtshof — wie allen Obersten Gerichtshöfen des Bundes — nicht die Kompetenz zur autoritativen Auslegung der Verfassung zukommt. Anders als die Generalklauseln des einfachen Gesetzesrechts sind Grundrechte und Verfassungsprinzipien nicht auf die „Letztkonkretisierung" durch den Richter, sondern auf Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Der dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum muß vom Richter beachtet werden. Erst wenn der Nachweis erbracht ist, daß der Spielraum überschritten worden ist, die gesetzgeberische Regelung nicht mehr als Ausgestaltung der Verfassung begriffen werden kann, erweist das Grundgesetz gegenüber dem Gesetzgeber seine begrenzende Funktion. Bei dieser Prüfung ist zu berücksichtigen, daß i m Gesetzgebungsverfahren generelle Tatsachen regelmäßig sicherer festgestellt werden können als i m Revisionsverfahren. Das dem Richter vorliegende Anschauungsmaterial ist durch den anhängigen und die bereits entschiedenen Fälle begrenzt. Auch aus dieser Sicht w i r d das hier gewonnene Ergebnis bestätigt, daß ein Konkurrenzverhältnis zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung der grundgesetzlichen Verfahrensgestaltung und damit Kompetenzverteilung widerspricht. Die angeführten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes verletzen m i t h i n eindeutig die Kompetenzordnung des Grundgesetzes. 28 V g l . d a z u Badura S. 53 f . 2« Vgl. oben Teil I I , 4. Kap. 1 u n d 2. so Vgl. oben T e i l I I , 4. Kap. 2 e; wie hier: Dieterich 13=
DÖV 1966, S. 855.
. Kapitel Das E r f o r d e r n i s demokratischer L e g i t i m a t i o n rechtsetzender Organe als verfassungsrechtliche Schranke des Richterrechts M i t der Frage, ob die rechtsprechende Gewalt zur Normbildung demokratischer Legitimation bedarf, wieweit eine solche Legitimation gegeben ist und welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, ist terminologisch wie verfassungsrechtlich unsicherer Boden betreten. Zwar wird, namentlich i n der neueren Diskussion u m das Richterrecht, das Erfordernis demokratischer Legitimation vielfach als verfassungsrechtliche Schranke judizieller Rechtsbildung angeführt 1 ; es bleibt aber unklar, was unter dem Begriff zu verstehen ist. 1. D e m o k r a t i s c h e L e g i t i m a t i o n als Rechtsbegriff
a) Legitimität
und
Legitimation
Man kann voraussetzen, daß die Frage nach demokratischer Legitimation der Rechtsprechung nicht gleichzusetzen ist mit dem Problem der Legitimität von Herrschaftsausübung. Geht es Max Weber bei seiner Typologie der rationalen, traditionalen und charismatischen Herrschaft darum, die soziologischen Bedingungen aufzuzeigen 2 , so ist demgegenüber „demokratische Legitimation" ein reiner Rechtsbegriff. Es wäre zwar reizvoll, anhand etwa der Auffassung Luhmanns, der Legitimität als „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen . . . hinzunehmen" 3 , betrachtet und den Grund hierfür i n einer generellen Anerkennung des Verfahrens findet 4 , zu untersuchen, aus welchen Gründen die judizielle Normierung eines kontroversen Gegenstandes eher durchzusetzen ist als die gesetzgeberische 5. Jedoch würde hieraus keine normative Begrenzung ableitbar sein. Der (soziologische) Legitimitätsbegriff ist also vom Rechtsbegriff „demokratische Legitimation" streng zu unterscheiden. Hier soll es nur um den letzteren gehen. 1 2 3 4 6
Vgl. n u r Redeker N J W 1972, S. 414. Vgl. Max Weber S. 124 ff. So Luhmann, Legitimation S. 28. Vgl. Luhmann, Legitimation S. 30. Vgl. n u r das Beispiel des Persönlichkeitsschutzes T e i l I I , 3. Kap.
1. Demokratische Legitimation als Rechtsbegriff
b) Demokratische
Legitimation
197
und Organkompetenzen
Der Begriff der demokratischen Legitimation wurde i n der neueren Literatur zunächst i m Streit u m das Verhältnis von Parlament und Exekutive verwandelt. Vor allem Jesch vertrat die Auffassung, daß das Verhältnis beider Staatsfunktionen sich gegenüber dem konstitutionellen Staat gewandelt habe 6 , die Exekutive unter dem Grundgesetz ihre demokratische Legitimation erst über das Parlament empfange 7 und sie deshalb prinzipiell gegenüber dem Bürger auch bei der Vergabe von Begünstigungen nur auf Grund gesetzlicher Ermächtigung handeln dürfe 8 . Jeschs Lehre vom „Totalvorbehält" des Gesetzes hat i n der Literatur lebhaften Widerspruch gefunden. Böckenförde hält dem „demokratischen Argument" entgegen, daß i m Gegensatz zum konstitutionellen Staat, i n dem die Exekutive das nichtdemokratische Element der Verfassung darstellte, i m demokratischen Verfassungsstaat jede Funktion demokratisch legitimiert sei, weil sie auf der Grundlage der demokratischen Verfassung stehe: der Gesetzgeber halte i m demokratischen Verfassungsstaat nicht mehr das Monopol demokratischer Legitimation 9 . Ähnlich argumentiert Bullinger 1 0 . Seiner Ansicht nach läßt sich aus der „gewandelten Verfassungsstruktur" 11 ebensogut die Folgerung ableiten, daß der Verwaltung, weil von einer parlamentarisch gebildeten Regierung gelenkt, eine gewisse Eigenständigkeit zukomme: nunmehr sei auch die Verwaltung „mittelbar demokratisch legitimiert" 1 2 . I n der Auseinandersetzung geht es u m den Umfang exekutivischer Kompetenzen. Jesch zufolge sind sie i m Vergleich zum konstitutionellen Staat stark eingeschränkt; die Exekutive soll namentlich Leistungen und Begünstigungen nicht ohne gesetzliche Grundlage erbringen dürfen 1 3 . Böckenförde und Bullinger dagegen vertreten die Ansicht, daß aus der Verfassung keine Vermutung für eine umfassende Kompetenz des Parlaments herzuleiten sei 14 . Die Kompetenzen der Exekutive sind also bestritten, unsicher geworden. Der Begriff der demokratischen Legitimation w i r d — von Jesch wie von seinen Gegnern — benutzt, u m die bestrittene, der Verfassung nicht zweifelsfrei zu entnehmende 6 Vgl. Jesch, Gesetz und V e r w a l t u n g S. S. 171 ff. 7 Vgl. Jesch, Gesetz u n d V e r w a l t u n g S. 171 ff. s So Jesch, Gesetz u n d V e r w a l t u n g S. 175 ff. 9 Vgl. Böckenförde S. 79. 10 Vgl. Bullinger S. 94. 11 So Jesch, Gesetz u n d V e r w a l t u n g S. 171. 12 Vgl. Bullinger S. 94. is Vgl. Jesch, Gesetz u n d V e r w a l t u n g S. 205. 14 Vgl. Böckenförde S. 81 u n d Bullinger a.a.O.
198
T e i l I I I , 7. Kap.: Demokratische Legitimation u n d Richterrecht
Kompetenz — je nach Standpunkt — entweder einzuschränken oder zu behaupten. Aus ganz ähnlichen Gründen ist der Begriff der demokratischen Legitimation i n die Richterrechtsdiskussion eingeführt worden. Auch hier sind Kompetenzen — nämlich die richterliche Kompetenz zur Rechtsbildung — bestritten. Der Legitimationsbegriff soll nun als spezifisch normative Kategorie, die auf den allgemeinen Demokratiegrundsatz zurückgeführt w i r d 1 5 , die Kompetenzen der rechtsprechenden Gewalt begrenzen 16 . Damit ist immerhin klar, daß Legitimation und Kompetenz voneinander zu unterscheiden sind, obwohl sie als „Befugnis" einerseits und „Berechtigung" oder „Auftrag" andererseits sprachlich dicht nebeneinander liegen. Fraglich bleibt aber, was unter „demokratischer Legitimation" als Rechtsbegriff zu verstehen ist. Böckenförde setzt den Begriff gleich mit der Konstituierung durch die Verfassung: Jede Funktion „ w i r d durch die Verfassung allererst konstituiert, aber eben dadurch auch demokratisch legitimiert" 1 7 . Er stützt dieses Begriffsverständnis auf Art. 20 I I GG, nach dem alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, also jede Funktion verfassungsunmittelbar und nicht von einer anderen abgeleitet ist 1 8 . I n dieser Definition erscheint der Begriff der demokratischen Legitimation entbehrlich, denn Böckenförde gelangt kaum über die Tautologie hinaus, daß die von der demokratischen Verfassung errichteten Organe durch die Verfassung legitimiert sind. Allenfalls kommt Böckenfördes Begriff von demokratischer Legitimation ein polemischer Akzent gegen dualistische Souveränitätsvorstellungen zu 1 9 . Die Bedeutung des Rechtsbegriffs bleibt jedoch undeutlich. Demokratische Legitimation muß also, w i l l man sie als normative Kategorie verwenden, begrifflich nicht nur von der Kompetenz, sondern auch von der Konstituierung eines Organs durch die Verfassung abgehoben werden. c) Demokratische Legitimation im Verfahren der Bestellung von Organwaltern Ist demokratische Legitimation weder mit Kompetenz noch mit der grundgesetzlichen Konstituierung von Staatsorganen gleichzusetzen, so is Vgl. etwa Schuppert S. 213 u n d Säcker ZRP 1971, S. 149; Billing S. 95. 16 Vgl. Kriele S. 15; Redeker N J W 1972, S. 414; Kühler D R i Z 1969, S.383; Schuppert S.213. 17 So Böckenförde S. 79. is Vgl. Böckenförde S. 82. 19 Vgl. Böckenförde S. 80.
. Demokratische Legitimation
s Rchter
199
bleibt als mögliche Ausdrucksform nur ein „grundgesetzlich bestimmtes oder zugelassenes Verfahren demokratischer Amtsbestellung und -innehabung" 2 0 . Demokratische Legitimation drückt sich also i n der Bestellung der Organwalter aus 21 . Der Begriff ist jedoch mit dem Bestellungsverfahren keineswegs gleichzusetzen. Das Verhältnis von demokratischer Legitimation und Bestellung von Organwaltern läßt sich am besten so erklären, daß das Verfahren den Organwalter mit dem Volkswillen vermittelt, m i t h i n eine — unmittelbare oder mittelbare — Beziehung zwischen Organwalter und Volkswillen hergestellt w i r d und Art. 20 I I GG nicht bloße Fiktion bleibt, sondern letztlich jeder A k t der Staatsgewalt auf den Souverän zurückführbar ist 2 2 . Dem naheliegenden Einwand, daß A r t . 20 I I GG bereits ausdrücklich festlegt, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und deshalb eine solche Vermittlung entbehrlich ist 2 3 , ist zu entgegnen, daß dieser Grundsatz durchaus Raum läßt für eine „demokratische Rangordnung" unter den Staatsorganen. Dieses Argument erkennt auch Böckenförde als stichhaltig an 2 4 . Seine auf wahlsoziologischen Ergebnissen fußende Entgegnung, Wahlen seien zunehmend Kanzler- und immer weniger Parlamentswahlen, schon deshalb sei ein höherer demokratischer Rang des Parlaments i m Vergleich zur Exekutive fraglich 25 , vermag verfassungsrechtlich jedoch nicht zu überzeugen. 2. Demokratische Legitimation des Richters? Der so umrissene Begriff demokratischer Legitimation — Vermittlung des Volkswillens durch Bestellung der Organwalter — zeichnet sich auch i n den Beiträgen zur Richterrechtsdiskussion ab. Freilich kann von einer „herrschenden Meinung" noch keine Rede sein. Die Frage, ob die Richter demokratisch legitimiert sind, ist durchaus umstritten. Sie kann auch nur dann sinnvoll erörtert werden, wenn man sich die möglichen Konsequenzen ihrer Beantwortung überlegt. Es wurde bereits erwähnt, daß der Begriff der demokratischen Legitimation i m Streit u m unsicher gewordene Kompetenzen eingeführt wurde. Die durch das Bestellungsverfahren vermittelte Rückbindung der Organwalter an den Souverän soll also Rückschlüsse auf die Kompe20 So H. P. Ipsen, Verh. 40. D J T Bd. I I , S. C 15. 21 So auch Billing S. 93, 95 f., der zudem auf den Vertrauensbegriff abstellt; auch Achterberg, Funktionenlehre, unterscheidet zwischen „Organ" u n d „Organwalter", vgl. S. 206. 22 So Billing S. 93; ähnlich H. P. Ipsen a.a.O. 23 V g l . e t w a Böckenförde S. 82. 24 Vgl. Böckenförde S. 80. 25 Vgl. Böckenförde S. 81.
200
T e i l I I I , 7. Kap.: Demokratische Legitimation und Richterrecht
tenzen des Organs präzisiert werden.
erlauben 26 .
Dieser
Ansatz
muß
freilich
noch
Ausgangspunkt der Erörterung ist die parlamentarische Kompetenz zur Rechtssetzung. Das Parlament, genauer: die Abgeordneten sind durch unmittelbare Wahlen demokratisch legitimiert. Die Frage muß also lauten, ob die Legitimation des Richters unmittelbar vom Parlament abgeleitet werden kann. Trifft das zu, ergeben sich jedenfalls aus dem Legitimationserfordernis keine Schranken richterlicher Rechtsbildungsbefugnisse. Ist die Legitimation der Richter dagegen nicht unmittelbar auf das Parlament zurückzuführen, w i r d die judizielle Kompetenz zur Rechtsbildung zumindest zweifelhaft. a) Das Verfahren
der Richterwahl
Die Richter an den Obersten Gerichtshöfen des Bundes werden gem. Art. 95 I I G gemeinsam vom für den Gerichtszweig zuständigen Bundesminister und einem Richterwahlausschuß berufen. Der Richterwahlausschuß setzt sich aus den für das jeweilige Sachgebiet verantwortlichen Landesministern und einer gleichen Zahl von Mitgliedern zusammen, die vom Bundestag gewählt werden. Nach § 10 RiWahlG haben der zuständige Bundesminister und die Mitglieder des Richterwahlausschusses ein Vorschlagsrecht. Bei der Abstimmung, bei der die einfache Mehrheit entscheidet, hat der Bundesminister kein Stimmrecht 27 . Allerdings muß er der Wahl zustimmen, bevor er die Ernennung beim Bundespräsidenten beantragt 28 . K n u t Ipsen bezeichnet das i n A r t . 95 I I GG vorgeschriebene Wahlverfahren als Kombination des parlamentarischen und exekutiven Strukturmodells, i n dem dem exekutiven Element zumindest das gleiche Gewicht wie dem parlamentarischen, i n der Praxis jedoch ein Übergewicht zukomme 29 . Das Übergewicht der Exekutive bei der Berufung der Richter — das Grundgesetz vermeidet i m Unterschied zu Art. 94 I GG den Begriff „Wahl" — dürfte indes auch rechtlich begründbar sein. Nach Art. 95 I I GG entscheiden Bundesminister und Richterwahlausschuß „gemeinsam". Die Einwirkung des Bundesministers ist zwar auf Vorschlags- und Vetorecht beschränkt, da aber der Richterwahlausschuß zur Hälfte von Landesministern besetzt ist, kann jedenfalls gegen die Exekutive kein Kandidat zum Richter gewählt oder berufen werden. M i t Recht stellt K n u t Ipsen deshalb fest, daß das Bestellungs26 Ähnlich Redeker N J W 1972, S.414; Säcker D R i Z 1972, S. 338. Vgl. § 9 I RiWahlG. 28 Vgl. § 13 RiWahlG. 29 Vgl. K . Ipsen DÖV 1971, S. 472.
ZRP, S. 149f.;
H.H.Klein
. Demokratische Legitimation
s Rchter
201
verfahren nach Art. 95 I I GG „immerhin eine gewisse Nähe zu der traditionellen Richterberufung durch die Exekutive" aufweist 30 . Fraglich ist nun, ob das Berufungsverfahren nach A r t . 95 I I GG die Richter demokratisch legitimiert. Darüber gehen die Ansichten weit auseinander. b) Unmittelbare
und mittelbare
Legitimation
Uberwiegend w i r d eine demokratische Legitimation des Richters verneint. Redeker zweifelt, „ob das Ernennungs- und Beförderungsrecht des zuständigen Ministers zur demokratischen Wahl ausreicht" 31 . Kübler meint, daß die politische Verantwortung des jeweiligen Ressortministers nicht als Legitimationsbasis ausreicht 32 . Auch Meyer-Ladewig hält den Richter nicht für „vom Volke her" legitimiert 3 3 . Für Schuppert erscheint es ganz unproblematisch, daß „durch Ernennung seitens der Justizverwaltung" das demokratische Legitimationsprinzip nicht eingehalten w i r d 3 4 . Säcker dagegen sieht i m Berufungsverfahren nach A r t . 95 I I GG eine Möglichkeit demokratischer Legitimation 3 5 , hält freilich eine breitere Basis für wünschenswert und empfiehlt eine Änderung des Art. 95 I I GG, durch die das Verfahren dem der Wahl der Verfassungsrichter angeglichen werden sollte 36 . Friesenhahn 37 und Hans H. K l e i n 3 8 halten den Richter für demokratisch legitimiert, folgern hieraus aber auch deutliche Beschränkungen der rechtsprechenden Gewalt. Die skizzierten Stellungnahmen gehen von der Fragestellung, ob die Richter demokratisch legitimiert sind oder nicht, aus. Diesem Ansatz ist — insofern i n Ubereinstimmung mit Bullinger 3 9 — entgegenzuhalten, daß es nicht um ein „Ja" oder „Nein" gehen kann, sondern daß die Frage lauten muß, ob die nach Art. 20 I I GG für alle Staatsorgane notwendige demokratische Legitimation unmittelbar zum Volk führt oder erst vermittelt ist. I n einer repräsentativen Verfassung wie dem Grundgesetz ist das Parlament das dem Souverän nächste Verfassungsorgan, weil allein die Abgeordneten unmittelbar gewählt worden sind 4 0 . so So K . Ipsen, D Ö V 1971, S. 472. 31 Vgl. Redeker N J W 1972, S. 414. 32 Vgl. Kübler D R i Z 1969, S. 383. 33 Vgl. Meyer-Ladewig AcP 161 (1962), S. 128. 34 Vgl. Schuppert S. 213. 35 Vgl. Säcker ZRP 1971, S. 149. 36 Vgl. Säcker ZRP 1971, S. 150 A n m . 54. 37 Vgl. Friesenhahn D R i Z 1971, S. 173. 38 Vgl. H. H. Klein DRiZ 1972, S. 338. 39 Vgl. Bullinger S. 94. 40 Vgl. Achterberg, Funktionenlehre S. 206; Scheuner D Ö V 1960, S. 609.
2 0 2 T e i l I I I , 7. Kap.: Demokratische Legitimation und Richterrecht
Nur das Parlament kann also demokratische Legitimation vermitteln. Das führt keineswegs zu einer umfassenden Kompetenzvermutung zugunsten des Parlaments, wie Böckenförde argwöhnt 4 1 , sondern ist nur die gedankliche Brücke, die Bestellung der Organwalter mit A r t . 20 I I GG zu verbinden. Wenn aber nur das Parlament unmittelbar demokratisch legitimiert ist, so kann die Legitimation aller anderen Organwalter lediglich vermittelt werden. Prüft man unter diesem Gesichtspunkt das Bestellungsverfahren nach Art. 95 I I GG und dem RiWahlG, so ergibt sich eine höchst komplizierte Legitimationskette 4 2 . Eine direkte Beziehung zwischen Parlament und Richterwahlausschuß besteht nur bei den Mitgliedern kraft Wahl, die freilich nicht selbst Abgeordnete zu sein brauchen. Hier vermittelt das Parlament selbst Legitimation, und diese Vorstellung lag der Konzeption des Entwurfs zu Art. 95 GG zugrunde. Nach Auskunft der Materialien sollte „durch die M i t w i r k u n g von Personen, die vom Vertrauen des Parlaments getragen seien, . . . für die Bestellung der Richter eine breite und fundierte Basis geschaffen 43 werden. Die Mitglieder kraft Amtes und der den Vorsitz i m Richterwahlausschuß führende Bundesminister können dagegen nur vermittelte Legitimation weitervermitteln. Das Parlament wählt nur den Bundeskanzler, auf dessen Vorschlag werden die Bundesminister ernannt. Die Länderverfassungen treffen ähnliche Regelungen. Die Bundes- wie Landesminister stehen also in der Legitimationskette i m Vergleich zu den Mitgliedern kraft Wahl an nachgeordneter Stelle. Die nach A r t . 95 I I GG gewählten Richter an den Obersten Gerichtshöfen des Bundes sind demokratisch legitimiert. Ihre Legitimation ist aber nur eine mittelbare. Sie geht auch nur zum Teil direkt auf das Parlament zurück. Die an der Wahl beteiligten Minister können dagegen nur vermittelte Legitimation vermitteln. Angesichts des grundgesetzlich verankerten Einflusses des zuständigen Bundesministers, gegen dessen Willen kein gewählter Richter ernannt werden kann, t r i t t sogar das parlamentarische Element hinter das exekutivische zurück. c) Notwendigkeit demokratischer Legitimation politischer Entscheidungsträger durch das Parlament? Gäbe es einen aus Art. 20 I I GG ableitbaren Rechtsgrundsatz, daß außerhalb des Parlaments Recht nur von Organen gesetzt werden kann, die unmittelbar vom Parlament legitimiert sind, so ließen sich 41 Vgl. Böckenförde S. 81. 42 Dieser Begriff von Billing S. 95. 43 Vgl. v. Doemming/Füßlein/Matz JöR 1 (1951), S. 705.
. Demokratische Legitimation
s Rchter
203
aus dem Bestellungsverfahren nach Art. 95 I I GG Rückschlüsse auf die richterlichen Kompetenzen zur Rechtsbildung ziehen. Für einen solchen Rechtsgrundsatz fehlt es aber an vergleichbaren Größen. Schuppert führt den Obersatz an, daß politische Entscheidungsträger unter dem Grundgesetz durch das Parlament legitimiert sein müßten 4 4 . Dieser Ansatz könnte insofern weiterführen, als hier das Bundesverfassungsgericht zum Vergleich herangezogen werden kann. Die Unterschiede der Bestellungsverfahren nach A r t . 941 GG und A r t . 95 I I GG sind evident 4 4 a . Das BVerfG hat als Verfassungsorgan und Gericht, das über das „Recht des Politischen" entscheidet, einen gewissen Anteil an der Staatsleitung 45 . Auch sind die Entscheidungen des BVerfG bindend 4 6 , i n verschiedenen Fällen kommt ihnen sogar Gesetzeskraft zu 4 7 . Zwischen diesen Kompetenzen, die weit i n den Bereich des Politischen hineinragen und das Gericht — namentlich i n jüngster Zeit — zu einem Machtfaktor innerhalb des Staates werden lassen, und der Wahl nach A r t . 941 GG kann man unschwer eine Beziehung herstellen: Richter m i t so weitgehenden Kompetenzen müssen von dem volksnächsten Organ legitimiert werden. Durch die parlamentarische Bestellung w i r d ein Stück demokratischer Kontrolle beim Werden von Macht ausgeübt 4 8 . Die Berufung der Richter nach Art. 95 I I GG enthält gegenüber der Richterwahl nach A r t . 94 I GG ein Minus an demokratischer Legitimation. Auch hier liegt der Schluß nahe, daß das Berufungsverfahren den Kompetenzen der Gerichte proportional sein sollte. Dagegen läßt sich nicht einwenden, der Verfassungsgeber habe die Problematik des Richterrechts gar nicht gesehen 49 . Die Materialien geben andere Auskunft. So sollte die Formulierung des Entwurfs zu A r t . 95 GG, das Oberste Bundesgericht entscheide „ i n Fällen" von grundsätzlicher Bedeutung, zum Ausdruck bringen, daß das Gericht keine abstrakten Normen schaffe, sondern Einzelfälle entscheide 50 . Das freilich kann den Rückschluß vom Bestellungsverfahren auf die Kompetenzen nur bestätigen. 44
Vgl. Eichenberger S. 103 ff. Die W a h l der Bundesverfassungsrichter durch den Bundesrat k a n n als Besonderheit des bundesstaatlichen Aufbaus außer Betracht bleiben. 45 So allg. Meinung; vgl. etwa Leibholz, Strukturprobleme S. 176 ff.; Ehmke W d S t R L 20 (1963), S. 65. 4 ® Vgl. § 311 BVerfGG. 47 Vgl. § 31 I I BVerfGG. 4 ® So Billing S. 95. 4 « So Schuppert S. 213. so v g l . v. Doemming/Füßlein/Matz JöR 1 (1951), S. 704. 44a
2 0 4 T e i l I I I , 7. Kap.: Demokratische Legitimation u n d Richterrecht d) Folgerungen
für
die richterlichen
Rechtsbildungskompetenzen
Vom Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation her ist es den Gerichten verwehrt, sich i n ein irgendwie geartetes Konkurrenzverhältnis zur Legislative zu begeben. Das bedeutet i m Augenblick freilich nur eine erneute Betonung der parlamentarischen Rechtssetzungsprärogative 51 , doch besteht auch Anlaß, den Vorrang des Parlaments gegenüber judizieller Rechtsbildung zu betonen. Da politische Entscheidungsträger, namentlich das Bundesverfassungsgericht, i n einem engeren Legitimationsverhältnis zum Parlament stehen als die Mitglieder der Obersten Bundesgerichte, spricht die Vermutung dagegen, daß die Gerichte die Kompetenz zu weittragenden sozialgestalterischen Entscheidungen haben. Wenn das Bundesarbeitsgericht gelegentlich als „eigentlicher Herr des Arbeitsrechts" 52 oder als „entscheidender Machtfaktor" 5 3 bezeichnet wird, so ist damit die tatsächliche Situation beschrieben. Die demokratische Legitimation der Richter reicht für eine solche Stellung nicht aus. Wenn auch wegen möglicher Inkongruenz von Entscheidungskompetenzen und Entscheidungsgrundlagen der Rechtsprechung notwendigerweise eine gewisse sozialgestalterische und damit politische Funktion zukommt, so können solche aus dem Entscheidungszwang folgende Kompetenzen doch nur als vorläufig begriffen werden. Je weiter aber die Entscheidungen i n den Bereich des Politischen hineinragen und je spärlicher die normativen Grundlagen sind, wenn sie nicht überhaupt fehlen, desto mehr muß sich der Richter bewußt sein, daß er sein eigentliches Terrain verläßt. Ein Ausweg mag darin liegen, daß die Kompetenzen eher restriktiv als extensiv ausgeübt werden, daß — insbesondere i n den Entscheidungsbegründungen — wenig generalisiert w i r d und dadurch zum Ausdruck kommt, daß auf der unanfechtbaren Grundlage des Prozeßrechtes, aber doch ohne hinreichende demokratische Legitimation, Rechtsbildungsaufgaben für das Parlament wahrgenommen werden. 3. Andere Möglichkeiten verfassungsrechtlicher Legitimation? Das Ergebnis dieser Überlegungen, daß die rechtsprechende Gewalt nur mittelbar demokratisch legitimiert ist und deshalb ihre Kompetenzen zur Rechtsbildung, namentlich wenn sie i n den Bereich der Sozialgestaltung hineinreichen, nur als vorläufig zu begreifen und restriktiv zu handhaben sind, w i r f t die Frage auf, ob unter dem Grundgesetz 51 Vgl. dazu aus der Sicht der Legitimation Achterberg, S.206. 52 So Gamillscheg AcP 164 (1964), S. 388. 53 So Ramm JZ 1964, S. 586.
Funktionenlehre
3. Andere Möglichkeiten verfassungsrechtlicher Legitimation?
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noch andere Möglichkeiten der Legitimation für den Richter und damit für das Richterrecht bestehen. Essers Polemik gegen das „etatistische Rechtsquellenmonopol" 54 , gegen den „legislativen Totalitarismus" 5 5 weisen auf eine nicht-parlamentarische Legitimation des Richters hin. Seiner Auffassung nach ist der Richter „Wahrer autonomer Rechtsgrundsätze" 56 , liegt die Autorität judiziell gebildeter Prinzipien „jenseits von legislativer Delegation i m Justizauftrag selbst begründet" 5 7 . Auch Larenz' Ansicht, der Richter sei zur Gesetzeskorrektur befugt, wenn andernfalls der „Rechtsgedanke Schaden leiden" müßte 5 8 , weist i n diese Richtung. Indes ist daran festzuhalten, daß es nach A r t . 20 I I GG nur eine Form der Legitimation, nämlich die über das Parlament vermittelte demokratische Legitimation, gibt 5 9 . I n einer parlamentarischen Demokratie, so führt Scheuner überzeugend aus, kann die Legitimation von Amtsinhabern nicht aus einem Fachauftrag oder gar einer Idee folgen 60 . „Justizauftrag" und „Rechtsidee" sind keine abgrenzbaren Rechtsbegriffe. Leitet man aus ihnen Kompetenzen ab, so hat man den einigermaßen gesicherten Boden des Verfassungsrechts verlassen. Letztlich ist m i t einer — wie auch immer verstandenen — „Rechtsidee" jede Kompetenz begründbar und das BVerfG hat bekanntlich seine Befugnis, auch Normen der (ursprünglichen) Verfassung zu überprüfen, damit zu rechtfertigen versucht, daß es seine Autorität „ i n gewisser Weise auf die Idee des Rechts selbst" stützte 61 . Aber abgesehen von einer so außergewöhnlichen Ausdehnung richterlicher Kompetenzen gerät jede andere als die demokratische Legitimation i n notwendige Konkurrenz zum Parlament. Eine dualistische Vorstellung des Inhalts, daß das Parlament durch den Souverän, die rechtsprechende Gewalt dagegen durch die Rechtsidee legitimiert sei, ist jedoch mit Art. 20 I I GG nicht zu vereinbaren. Soweit Essers K r i t i k am „etatistischen Rechtsquellenmonopol" dazu dienen sollte, den eigenständigen Beitrag der Rechtsprechung zur Rechtsbildung bewußt zu machen 62 , verdient sie Unterstützung. Wenn Esser aber ein nicht-staatliches „Volksrecht" postuliert, ein „unpolitiSo Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 10; vgl. auch S. 242 ff.; S. 293 ff. 55 So Esser, Vorverständnis S. 189 Anm. 3. 56 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 229. 57 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 188. 58 Vgl. Larenz M L S. 401. 59 So auch Lerche AöR 90 (1965), S. 345. 60 Vgl. Scheuner, A m t und Demokratie S. 33. 61 Vgl. B V e r f G 3, 225 (235). 62 So etwa Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 11 u n d passim.
2 0 6 T e i l I I I , 7. Kap.: Demokratische Legitimation und Richterrecht
sches ius commune" 6 3 , als dessen Wahrer der Richter auftritt 6 4 , muß i h m nachdrücklich widersprochen werden 6 5 . Es ist schon fraglich, ob die soziologischen Bedingungen für ein solches „gemeines Recht" heute bestehen, da kaum die Existenz von Gewohnheitsrecht nachgewiesen werden kann 6 6 . Der schwerwiegendere Einwand gegen Essers Auffassung liegt aber darin, daß auch der Richter nach dem Grundgesetz staatliche Gewalt ausübt 67 und das von i h m gebildete Recht staatliches Recht ist 6 8 . Wenn es um die Reichweite seiner Kompetenzen geht, so kann er sich nicht auf einen vorgeblichen „Justizauftrag" oder die „Rechtsidee" berufen, denn allein über das Parlament w i r d die von i h m ausgeübte Staatsgewalt mit dem Souverän vermittelt.
63 Vgl. Esser, Vorverständnis S. 190. 64 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 229. 65 Eine eingehende Auseinandersetzung m i t Essers Thesen m i t ähnlicher Tendenz wie hier findet sich bei Göldner S. 189 ff. 66 Vgl. Fischer, Weiterbildung S. 8. 67 Vgl. dazu Göldner S. 191. 68 Vgl. Göldner S. 193.
. Kapitel Richterrecht u n d richterliche U n a b h ä n g i g k e i t Die richterliche Unabhängigkeit ist ein Konstitutionsprinzip des Rechtsstaates. Uber die Wichtigkeit dieses Prinzips, das zugleich Bestandteil der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung" ist 1 , w i r d man nicht streiten. Dagegen erscheint es notwendig, die richterliche Unabhängigkeit auf ihren Sinn- und Zweckbezug zurückzuführen. 1. Richterliche Unabhängigkeit und Gesetzesbindung als Komplementärprinzipien Das in Art. 97 I GG niedergelegte Prinzip ist nicht u m seiner selbst willen vorhanden, sondern steht in einer finalen Beziehung. Der hier — wie bei anderen Verfassungsprinzipien — zu beobachtende Zug zur Verselbständigung 2 läßt zwar den Zweck nur noch umrißhaft erscheinen, es dürfte jedoch feststehen, daß die persönliche und sachliche Unabhängigkeit kein Privileg der Richter ist, kein Vorrecht und keine persönlich gewährte Sonderstellung, sondern daß Weisungsfreiheit und Unabsetzbarkeit der Organwalter eine gerechtigkeitsorientierte Spruchtätigkeit der Gerichte garantieren sollen 3 . Richterliche Unabhängigkeit ist also eine personenbezogene organisatorische Vorkehrung, ein Mittel, und zwar eines unter mehreren, das eine sachund rechtsrichtige Entscheidung gewährleisten soll 4 . Die dem Unabhängigkeitsprinzip zugrunde liegende Annahme, ein Spruch, der „ohne Rücksicht auf äußere oder innere Bindungen .. . und ohne störende Einmischungen fremder Herkunft" 5 gefällt wird, sei auch i n der Verarbeitung von Tatsachen richtig und i m Ergebnis materiell gerecht, erscheint zunächst recht optimistisch. Dieser Optimismus ist aber weniger an Personen als am Recht orientiert: das Recht, das i m Richterspruch verwirklicht wird, verträgt keine Einmischungen; das Gesetz, das seinerseits gerechtigkeitsorientiert ist, muß sich selbst, 1 2 3 4 s
Vgl. B V e r f G 2, 1 (13). Vgl. Eichenberger S. 91. Vgl. Eichenberger S. 83 f. Vgl. auch Billing S. 92 So Eichenberger S. 84.
208
T e i l I I I , 8. Kap.: Richterrecht u n d richterliche Unabhängigkeit
das aber heißt dem Richterspruch, überlassen bleiben. Damit w i r d sogleich deutlich, daß richterliche Unabhängigkeit und Gesetzesbindung Komplementärprinzipien sind 6 : Das eine ist nicht ohne das andere denkbar. Man kann beide Prinzipien überdies i n eine Kausalbeziehung stellen. Der Richter ist unabhängig, weil er an die Gesetze gebunden ist 7 . Das ist nicht einmal eine „vordergründig paradoxe" 8 Feststellung. Geht man davon aus, daß die Verfassung mit Art. 97 I GG nicht einen Stand privilegieren wollte, sondern daß die Unabhängigkeit sachlich motiviert ist, so bleibt nur die Annahme, daß der Richter frei von Einmischung und Repression soll entscheiden können, weil das Gesetz eine hinreichende Bindung bietet und W i l l k ü r verhütet 9 . Der richterlichen Unabhängigkeit entspricht deshalb ein Gesetz, das den Richter wirklich zu binden vermag, mithin ein gewisses Maß an inhaltlicher Bestimmtheit hat 1 0 . Fehlt diese Bindung, w i r d das Prinzip selbst fraglich: aus der Unabhängigkeit könnte W i l l k ü r werden. Gesetzliche Normierungen dieser Dichte fehlen aber i n verschiedenen Bereichen unserer Rechtsordnung. Damit wäre freilich noch nicht erwiesen, daß das der Unabhängigkeit komplementäre Prinzip der Bindung fehlt, denn der Richter ist auch an das „Recht" gebunden, also an die nicht gesetzlich fixierten Bestandteile der Rechtsordnung. Auch die Bindung an das Recht kann das notwendige Gegengewicht zur Unabhängigkeit bilden. Begreift man sie aber als „Verpflichtung auf erkenntnismäßige Tätigkeit und zugleich Bindung an etwas Vorgegebenes, Bestimmtes, Eingerichtetes, Objekthaftes und Erkennbares" 1 1 , so liegt wiederum die Annahme präexistenten Rechts nahe, die bereits als möglicher Ansatz für die Erörterung des Richterrechts kritisiert wurde. Sie mag zwar den Intentionen des Richters bei der Entscheidung entsprechen 12 , verfehlt aber die spezifische Problematik des Richterrechts. Von den erörterten Beispielen richterlicher Rechtsbildung würde das gesetzeskonkretisierende Richterrecht noch dem Grundsatz der Gesetzesgebundenheit entsprechen. Hier stützt sich der Richter auf eine gesetzliche Generalklausel oder einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die unvermeidbar dezisionären Elemente der Gesetzeskonkretisierung sprechen nicht gegen die Bindung durch das Gesetz, denn eine voll6 Vgl. Eichenberger S. 95; Badura S. 55; Stein N J W 1964, S. 1748. 7 Vgl. Bettermann, Grundrechte III/2, S. 531. 8 So Eichenberger S. 95. 9 Vgl. Stein N J W 1964, S. 1748. 10 Vgl. Eichenberger S. 98. 11 So Eichenberger S. 96. 12 Vgl. Larenz M L S. 342.
1. Unabhängigkeit und Gesetzesbindung als Komplementärprinzipien 209
ständige Determination ist nicht erreichbar und nicht erstrebenswert, weil sie rasch m i t der sich verändernden Wirklichkeit in Konflikt geriete. Das Beispiel gesetzesvertretenden Richterrechts ist mit der Vorstellung der Bindung an etwas „Vorgegebenes", „Bestimmtes" oder „Eingerichtetes" schon nicht vereinbar. Man würde die richterliche Entscheidung i n unvertretbarer Weise verklären und sich überdies den Zugang zu kritischen Maßstäben verstellen, begriffe man die skizzierten Beschlüsse des B A G zu Streik und Aussperrung als rechtlich vorgegeben. Die oben angeführten Fälle gesetzeskorrigierenden und gesetzeskonkurrierenden Richterrechts passen vollends nicht zur Vorstellung vom gesetzesgebundenen Richter, denn i n diesen Beispielen wurde eine Lockerung der Bindung durch das Gesetz angestrebt. Zwar beriefen sich die Entscheidungen auf Normen höheren Ranges. Nach der hier vertretenen Auffassung können die Verfassungsnormen aber nur eine schwache Stütze solcher Innovationen abgeben. Hinzu kommt, daß sie nur i m Verfahren der Normenkontrolle zulässig sind. Richterrecht und richterliche Unabhängigkeit lassen sich nicht dadurch harmonisieren, daß man rechtliche Determination fingiert, wo sie nicht oder nur i n geringem Maße besteht. Kennzeichnend namentlich für die Arbeitskampfrechtsprechung ist es, daß ein „normatives System i n relativ freier Gestaltung" 1 3 entwickelt wird: das bindende Recht w i r d geschaffen. Diese Grundaporie des Richterrechts, daß der Richter das ihn bindende Recht selbst bildet, muß bei der Erörterung des Unabhängigkeitsprinzips berücksichtigt werden. Die oben aufgestellte Kausalbeziehung zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzes- und Rechtsgebundenheit läßt sich für einen solchen Fall nicht aufrechterhalten. Zwar bleibt es grundsätzlich bei der Bindung, für das einzelne Rechtsgebiet jedoch fehlt das der Unabhängigkeit korrespondierende Prinzip. Das Gleichgewicht zwischen den Grundsätzen des Art. 97 I GG ist gestört. Aus diesem Ergebnis kann man allerdings nicht den Schluß ziehen, daß es der richterlichen Unabhängigkeit in gesetzlich nicht geregelten Rechts gebieten an innerer Berechtigung fehle, denn das Fehlen gesetzlicher Normierung ist ein Versäumnis des Gesetzgebers. Auch steht Art. 971 GG nicht zur Disposition. A n das festgestellte Ungleichgewicht zwischen Unabhängigkeit und Bindung lassen sich aber einige Überlegungen zur inhaltlichen Ausformung gesetzesvertretenden Richterrechts anknüpfen.
13 Vgl. Scheuner RdA 1971, S. 327. 14
Ipsen
210
Teil I I I , 8. Kap.: Richterrecht u n d richterliche Unabhängigkeit
2. Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit durch „Politisierung" des Richters? Eichenberger meint, richterliche Unabhängigkeit lasse sich auf die Dauer nicht bewahren, wenn die Rechtsbindung, möglicherweise gerade m i t der Begründung, die Unabhängigkeit bewahren zu wollen, gestört werde 1 4 . U m von einer Rechtsbindung sprechen zu können, sei aber ein gewisses Maß an inhaltlicher Bestimmtheit der Rechtsnormen notwendig 1 5 . Fehle diese Bestimmtheit oder werde die Schranke der Rechtsgebundenheit eingerissen, so treibe die richterliche Unabhängigkeit der Selbstauflösung zu. Ähnlich argumentiert Hans H. Klein. Nach seiner Auffassung stehen richterliche Unabhängigkeit und soziale Gestaltungsmacht i n einem Gegensatz. Nehme der Richter diese i n Anspruch, so könne er jene nicht lange behaupten 16 . A n den Begriff der Sozialgestaltung knüpft auch Schlüter an. Die rechtsprechende Gewalt müsse sich auf die rechtsbewahrende Funktion beschränken und sich jeder zukunftsweisenden Sozialgestaltung enthalten 17 . Ein schöpferisches Handeln bringe den Richter i n Abhängigkeit von Interessen, zwinge i h n zu Kompromissen und Rücksichten auf politische Gegebenheiten. Solche Aktivitäten seien geeignet, den Eindruck des Beteiligtseins zu erwecken und das Vertrauen i n die richterliche Unabhängigkeit zu zerstören 18 . Diese Befürchtungen können sich offenbar nicht darauf beziehen, daß die verfassungsrechtliche Stellung der Richter beeinträchtigt wird, etwa durch eine Änderung des A r t . 97 GG, die genannten Autoren haben vielmehr — abgesehen von der Weisungsfreiheit und Unabsetzbarkeit — die „innere" Unabhängigkeit des Richters i m Auge, die durch ein Ausgreifen der rechtsprechenden Gewalt i n den politischen Raum Schaden nehmen könnte. Die Skepsis richtet sich gegen den politisch aktiven Richter, der bewußt und zielgerichtet in den Kreis der sozialgestaltenden Kräfte eintritt und sich damit vom traditionellen B i l d des „ i n der Sphäre der Kontemplation" verbleibenden Richters 19 deutlich abhebt. Es muß besonderer Untersuchung überlassen bleiben, ob sich ein neuer „Richtertyp" entwickelt oder ob das traditionelle Richterbild jemals zuteffend war. Die Beziehung des Richters zur Politik w i r d 14 is iß 17 is 19
Vgl. Eichenberger S. 97. Vgl. Eichenberger S. 98. Vgl. H. H. Klein D R i Z 1972, S. 337. Vgl. Schlüter S. 22. Vgl. Schlüter S. 22. So Eichenberger S. 97.
2. Richterliche Unabhängigkeit und „Politisierung" des Richters
211
kaum dadurch erhellt, daß man einerseits argwöhnt, er werde zum „parteilichen Instrument zur Verwirklichung sozialistisch-marxistischer Vorstellungen von gesellschaftlichem Fortschritt" 2 0 , und andererseits die Gefahr sieht, daß die rechtsprechende Gewalt sich zum „obrigkeitsstaatlich-konservativen Bremsklotz gesellschaftspolitischer Veränder u n g " 2 1 entwickelt. Diese zu Überspitzungen neigenden Auffassungen verstellen den Zugang zu den Fragen, deren Beantwortung allein Aufschluß darüber geben kann, wieweit sozialgestalterische A k t i v i t ä t mit richterlicher Unabhängigkeit vereinbar ist. Zunächst wäre zu fragen, ob politische Gehalte i n der richterlichen Entscheidung überhaupt vermeidbar sind. Verneint man diese Möglichkeit, müßte geprüft werden, welchen Einfluß die politische Funktion der Rechtsprechung auf ihren Unabhängigkeitstatus hat und welche Rückwirkungen sich auf den Inhalt der Entscheidungen ergeben. a) Recht und Politik Die starre Entgegensetzung von Recht und Politik, wie sie noch in der neueren Diskussion u m das Verfassungsrecht vorzufinden war 2 2 , ist differenzierter Betrachtung gewichen. Recht und Politik sind danach nicht Gegensätze, sondern stehen i n einem vielschichtigen Wechselverhältnis zueinander. So kann Recht Zweck, Produkt und Werkzeug, aber auch Rahmen und Maßstab von Politik sein 23 . Eine genauere Zuordnung von Recht und Politik und damit eine Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Richter verlangt nach begrifflicher Erfassung des Politischen wie des Rechts. Wenn hier dennoch darauf verzichtet wird, den zahlreichen Definitionsversuchen des Begriffs Politik einen weiteren hinzuzufügen, so hat das zwei Gründe. Zum einen liegen zahlreiche Definitionen inhaltlich so dicht beieinander, daß sich eine eingehendere Erörterung für den hier verfolgten Zweck erübrigt. Es macht nur einen geringen Unterschied, ob man Politik als „Kampf u m die rechte Ordnung" ansieht 24 oder ob man sie als Bestreben definiert, die Vorstellung einer wünschenswerten sozialen Ordnung durchzusetzen 25 . Kennzeichnend für diese Begriffsbestimmungen ist es, Politik nicht als Selbstzweck, sondern als M i t t e l zur Durch20 So H. H. Klein D R i Z 1972, S. 337. So Säcker ZRP 1971, S. 149. ä2 Vgl. Kaufmann V V d S t R L 9 (1952), S. 4 ff. 23 Hierzu bes. Grimm JuS 1969, S. 501 ff. 24 So v. d. Gablentz bes. S. 23. 25 Vgl. dazu Grimm JuS 1969, S.501; Schuppert 14*
S. 117 ff.
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Teil I I I , 8. Kap.: Richterrecht und richterliche Unabhängigkeit
Setzung von Gerechtigkeitsvorstellungen — einer „Rechtsidee" —, mithin einer bestimmten sozialen Ordnung zu begreifen 26 . Zweifel erscheinen allerdings angebracht, wenn das Recht lediglich als neuer Aggregatzustand der Politik betrachtet wird, als i n bestimmten Normen „geronnene P o l i t i k " 2 7 . Diese Vorstellung mag auf den Regelfall zutreffen, i n dem der Rechtsetzung Auseinandersetzungen in Parlament und Öffentlichkeit vorangehen, eine bestimmte Ordnungsvorstellung sich durchsetzt und in die Form des Gesetzes gegossen wird. Weite Teile des Rechts dürften dagegen kaum als „geronnene Politik" zu verstehen sein, denn nicht an jeder gesetzlichen Regelung können sich die politischen Geister scheiden. Rechtsetzung ist eben auch eine Frage sachbestimmter Zweckmäßigkeitserwägungen. Dazu erreichen bestimmte Materien nicht einmal das Stadium politischer Auseinandersetzung, sondern „gerinnen" zu Recht, ohne überhaupt politisiert worden zu sein. Das B i l d verschiedener Aggregatzustände — ursprünglich offene „politische Frage", sodann „geronnenes Recht" — paßt also nicht zu den Rechtsgebieten, i n denen der Richter an die Stelle des Gesetzgebers tritt. Auch die idealtypische Kennzeichnung der Politik als etwas „Dynamisch-Irrationalem" und des Rechts als etwas „StatischRationalem" 2 8 kann i n diesem Bereich nicht weiterhelfen, weil die Entscheidung eines politischen Problems i m justizförmigen Verfahren ihm nicht seine Dynamik nimmt, sondern sie allenfalls entschärfen kann. Oben wurde am Beispiel der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zu Streik und Aussperrung deutlich, wie sich der Vorgang der „Verrechtlichung" darstellt 2 9 . Die Begriffe „Gemeinwohl" und „Verhältnismäßigkeit" lassen erkennen, daß die zu entscheidenden Fragen noch nicht so weit rechtlich domestiziert sind, daß sich eine relativ offene Bewertung der Interessen erübrigte. Es bleibt also das Ergebnis, daß die Frage nach der — auch i n einem Teilbereich — wünschenswerten sozialen Ordnung nicht dadurch ihre politische Natur einbüßt, daß man ihre Entscheidung einem gerichtsförmigen Verfahren anheimgibt. Man müßte nun untersuchen, welche Rechtsprobleme noch eine derart offene Wertung erfordern, mithin, welchen Rechtsfragen politische Relevanz zukommt. Dieses allgemeine Problem braucht hier nicht verfolgt zu werden, und hier liegt der zweite Grund für den Verzicht, das Politische be26 27 28 29
v g l . Eichenberger S. 123 ff.; Grimm JuS 1969, S. 501; Schuppert So Grimm JuS 1969, S. 502. So Leibholz, Strukturprobleme S. 176. Vgl. oben T e i l I I , 2. Kap. 3 b.
S. 119.
. Richterliche Unabhängigkeit und
itii
des Richters
213
griff lieh näher zu umreißen; die oben angeführten Beispiele gesetzesvertretenden, gesetzeskorrigierenden und gesetzeskonkurrierenden Richterrechts haben allesamt einen unverkennbar politischen Bezug: — Die Arbeitskampfrechtsprechung regelt eines der Kernprobleme der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ohne daß durch gesetzliche Normen Vorentscheidungen getroffen wären. — Der Grund für die judizielle Ausgestaltung des Persönlichkeitsschutzrechts lag darin, daß die gesetzliche Ordnungsvorstellung nicht mehr ausreichend erschien. Angesichts der machtvollen Interessengegensätze zeigte sich der Gesetzgeber außerstande, eine Neuordnung des Verhältnisses von Presse und einzelnem vorzunehmen. — Die gesetzliche Ausgestaltung des Eigentums entsprach in den erwähnten Fällen nicht den vom Bundesgerichtshof entwickelten Vorstellungen von einer gerechten Lastenverteilung zwischen Eigentümer und Allgemeinheit. Der Richter erfüllt also unvermeidbar politische Gestaltungsaufgaben. Sie ergeben sich i n erster Linie durch die festgestellte Inkongruenz zwischen Entscheidungskompetenzen und gesetzlicher Normierung; aber auch die anderen Beispiele, die freilich verfasungsrechtlich bedenklich sind, zeigen die Tendenz der Rechtsprechung zu — selbst über das Gesetz hinausgehender — freierer Sozialgestaltung. Man kann den Richter angesichts dieses Befundes nicht mehr als „unpolitisch" betrachten. Die rechtsprechende Gewalt ist — jedenfalls in dem hier zu untersuchenden Grenzbereich — auch handelnde Staatsfunktion, die bestimmte Vorstellungen von einer wünschenswerten sozialen Ordnung durchzusetzen sucht. U m Mißverständnissen vorzubeugen: der Rechtsfragen politischer Relevanz entscheidende Richter ist nicht schon deshalb parteiisch. Es gilt aber zu bedenken, daß je weniger die gesetzliche Norm oder der anerkannte Rechtsgrundsatz die Entscheidung stützt, je geringer also die Entlastungsmöglichkeiten sind, die Auseinandersetzung mit der richterrechtlichen Norm einen desto stärkeren politischen Akzent erhält. Darüber hinaus liegt es nahe, daß die politischen Instanzen ihren Einfluß auf den Rechtsfortgang durch Personalentscheidungen geltend zu machen versuchen. b) Politisierung
der Richterwahl
Der Einfluß politischer Gesichtspunkte auf die Richterwahl ist gelegentlich beklagt worden 3 0 . Es soll dahingestellt bleiben, wieweit
so Vgl. die Bemerkung bei Redeker N J W 1972, S. 415.
214
T e i l I I I , 8. Kap.: Richterrecht und richterliche Unabhängigkeit
die Praxis der Richterwahl tatsächlich zu Bedenken Anlaß gibt, ob gegebenenfalls sogar die richterliche Unabhängigkeit bedroht ist. Man sollte aber nicht verkennen, daß zwischen richterlicher Sozialgestaltung und Richterwahl eine direkte Beziehung besteht. Wäre der Richter der vielberufene „Gesetzesanwender", gäbe es die Problematik der politisierten Richterwahl nicht 3 1 . Es ist nicht von vornherein illegitim, wenn bei der Richterwahl auch die Frage nach dem Verhältnis des Kandidaten zum Politischen gestellt wird. Ebenso wie regelmäßig nur solche Persönlichkeiten zu Verfassungsrichtern berufen werden sollten, die etwas vom Wesen der Politik verstehen 32 , läßt es sich vertreten, daß nur ein solcher Richter mit politisch relevanten Entscheidungsaufgaben betraut wird, der politisch bewußt handelt. Freilich ist die Grenze zur Berufung lediglich parteipolitischer „Sympathisanten" unscharf. Bei der Wahl der Verfassungsrichter bietet das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit eine Schranke für derartige Bestrebungen. Ob der starke exekutivische Einfluß bei der Richterberufung nach Art. 95 GG eine ähnliche Gewähr bietet, kann hier nicht entschieden werden 3 3 . Nimmt man aber einen vermehrten Einfluß politischer Instanzen auf die Personalentscheidungen als Hypothese an, so läßt es sich nicht von der Hand weisen, daß die richterliche Unabhängigkeit gefährdet werden könnte 3 4 . 3. Richterliche Unabhängigkeit und Legitimität des Richterrechts Das Unabhängigkeitsprinzip erschöpft sich nicht i n seiner Funktion, den sach- und rechtsrichtigen Richterspruch zu gewährleisten, sondern ist zugleich ein legitimierender Faktor für den Richter Spruch. Es kann als Voraussetzung dafür gelten, daß das konkrete Judikat nicht lediglich als „dezisionistischer Staatsakt" hingenommen, sondern als Emanation des Rechts, als „rechtsmaterial bestimmender Entscheid" anerkannt w i r d 3 5 . Diese Anerkennung erstreckt sich über die einzelne Entscheidung hinaus auf die Funktion der rechtsprechenden Gewalt allgemein, so daß Eichenberger zu dem Ergebnis kommt, daß auf Grund der Unabhängigkeitsgarantie dem Organ, der Funktion und dem Richterspruch Autorität und Legitimität zukommt, gleich, ob die konkrete Entscheidung gebilligt oder mißbilligt w i r d 3 6 . Hier findet der Legitimi31 32 33 34 35 36
So Säcker ZRP 1971, S. 145. Vgl. Leibholz, Strukturprobleme S. 181. Skeptisch K . Ipsen D Ö V 1971, S. 472; vgl. auch Baur D R i Z 1971, S. 401 ff. Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie I I , S. 242. So Eichenberger S. 89. Vgl. Eichenberger S. 90.
3. Richterliche Unabhängigkeit und Legitimität des Richterrechts
215
tätsbegriff Luhmanns, der von einer „generalisierten Bereitschaft" spricht, inhaltlich unbestimmte Entscheidungen als verbindlich anzuerkennen 37 , seine Bestätigung. Offenbar bedarf gerade die parlamentarische Demokratie parteienstaatlicher Prägung dieser Legitimitätsform. „Neutralität", „unabhängiger Sachverstand", der „unbeteiligte Dritte" sind allesamt Begriffe mit positivem Zeichenwert. Die Überhöhung der Unabhängigkeit, das w i l l in der Regel heißen: der parteipolitischen Ungebundenheit, erklärt sich möglicherweise durch einen immer noch virulenten antiparteistaatlichen Affekt, nach dem die parteipolitisch beeinflußbaren Entscheidungen, gleich von welchem Organ sie getroffen werden, leicht dem Verdacht des Eigennutzes und der Orientierung an Partikularinteressen ausgesetzt sind. M i t aller Vorsicht darf vermutet werden, daß die richterliche Entscheidung hier ein gewisses Gegengewicht bietet. Diese Vermutung w i r d bestätigt durch das Beispiel des judiziell entwickelten Persönlichkeitsschutzes, der offenbar von den betroffenen Kreisen akzeptiert wurde. Jedenfalls fand eine dem Streit u m die gesetzgeberische Regelung vergleichbare Auseinandersetzung mit der Judikatur des B G H nicht statt. Die Rechtsprechung wurde bei späteren Entwürfen zudem immer als Beweis dafür angeführt, daß die Ersetzung immaterieller Schäden bei Verletzung des Persönlichkeitsrechtes geltendes Recht sei 38 . Diese Anerkennung des Richterspruchs und damit des Richterrechts, die jedenfalls partiell Funktion des Unabhängigkeitsprinzips ist, kann zum einen durch den Einfluß politischer Kräfte auf die personelle Besetzung der Gerichte beeinträchtigt werden. Doch ist das nur die eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit. Die Legitimität des Richterrechts kann aber auch durch den Richter selbst bedroht werden. Schlüters Befürchtung, der sozialgestaltende Richter gerate i n Abhängigkeit von Parteiinteressen, er sei gezwungen, Kompromisse zu schließen und Rücksicht auf politische Handlungsmöglichkeiten zu nehmen 3 9 , erscheint nicht unbegründet. Freilich w i r d man einer solchen Gefahr nicht mit der apodiktischen Feststellung begegnen können, das Wesen der Rechtsprechung sei Rechtsbewahrung 40 , wo doch dem Richter unvermeidbar Kompetenzen zufallen, die auf die Gestaltung des sozialen Lebens einwirken. Es kann sich also nicht um die Frage handeln, ob der Richter sozial37 38 39 40
Vgl. Luhmann, Legitimation S. 28. Vgl. BTagDrucks. III/1237 S. 7 u. 9. Vgl. Schlüter S. 22. So aber Schlüter S. 21 ff.
216
T e i l I I I , 8. Kap.: Richterrecht und richterliche Unabhängigkeit
gestaltend und damit „politisch" handelt, sondern wie er die Gestaltungsaufgaben wahrnimmt. Die Erörterung des Revisionsverfahrens hat ergeben, daß Informationsmöglichkeiten und Einflußchancen so stark auf die Einzelfallentscheidung ausgerichtet sind, daß aus der Verfahrensart nur auf begrenzte Rechtsbildungskompetenzen der Rechtsprechung geschlossen werden kann 4 1 . Die Überlegungen zur demokratischen Legitimation führten zur Erkenntnis, daß der Richter für weittragende Sozialgestaltungsaufgaben nicht hinreichend legitimiert ist 4 2 . Das Unabhängigkeitsprinzip i n seiner legitimierenden Funktion deutet in die gleiche Richtung. Fehlt der richterlichen Unabhängigkeit i m Bereich gesetzesvertretenden Richterrechts das Komplementärprinzip der Gesetzesbindung, so läßt sich die Legitimität judizieller Rechtsbildungen nur dadurch bewahren, daß der Richter seine Entscheidungskompetenzen restriktiv und seine Normbildungen als vorläufig begreift. Die bisher erörterten Schranken des Richterrechts lassen in Umrissen einen verfassungsrechtlichen Begriff der richterlichen Selbstbeschränkung erkennen, der über seine Anwendung i m Verfassungsrecht und dort namentlich i m Bereich der auswärtigen Gewalt 4 3 auch i n den Rechtsgebieten Anerkennung finden sollte, in denen der Richter auf Grund seiner Entscheidungskompetenzen an die Stelle des Gesetzgebers tritt. 4. Richterliche Unabhängigkeit und Demokratie Eichenberger glaubt, einen bleibenden Widerstreit zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Demokratie aufdecken zu können 44 . Zwar seien beide Prinzipien i n ihren Wurzeln eng miteinander verbunden, es bleibe aber eine unauflösbare Antinomie zwischen Unabhängigkeit und Demokratie 4 5 . Eichenberger sieht das Wesen der Demokratie i n der Verantwortlichkeit der Herrschenden gegenüber den Beherrschten. Die Festlegung richterlicher Entscheidungen mache solche Verantwortlichkeit überflüssig. Da aber nicht zu verkennen sei, daß Rechtsbindung nicht Determinierung bedeute und die Rechtsprechung gestaltend i n den sozialen Ablauf eingreife, müsse man anerkennen, daß es eine han-
41 Vgl. 42 Vgl. 43 Vgl. Schuppert 44 Vgl. 45 Vgl.
oben T e i l I I I , 3. Kap. 2 b u n d c. oben T e i l I I I , 7. Kap. 2 c. B V e r f G Urt. v. 31. 7.1973 — 2 B v F 1/73 — J Z 1973, S. 589; vgl. auch S. 207 ff. Echenberger S. 103 ff. Eichenberger S. 112.
. Richterliche Unabhängigkeit und
e m t i e
217
delnde Staatsgewalt gebe, die in einem „maximalen Maß der Verantwortung entzogen ist" 4 6 . Eine erweiterte Verantwortung des Richters sei verfahrensmäßig schwer zu verwirklichen. Auch würde der Richter sich solcher Verantwortung zu entziehen suchen. Die Folge sei eine Abneigung der Demokratie gegen Bestrebungen, dem Richter gegenüber der Norm eine größere Freiheit zu gewähren. Die i n den politischen Raum hineinragende judizielle Rechtsbildung werde deshalb der Demokratie in gewissem Maße immer widerstreiten 4 7 . Ob aus diesen Überlegungen eine „transzendente" Begrenzung des Unabhängigkeitsprinzips herzuleiten ist 4 8 , muß angesichts dieses partikulären Demokratieverständnisses fraglich bleiben. Auch w i r d durchaus bestritten, daß die Verantwortlichkeit i m politischen, das heißt parlamentarischen Bereich stark ausgeprägt ist 4 9 . Dennoch stellt das Demokratieprinzip einen — wenn auch groben — Maßstab für die Beurteilung des Richter rechts. So sehr i m einzelnen streitig sein mag, wie das Demokratieprinzip inhaltlich zu erfassen ist 5 0 , es dürfte immerhin Konsens darüber bestehen, daß es der demokratischen Staatsform angemessen ist, wichtige Regelungen in einem prinzipiell offenen Willensbildungsprozeß zu treffen, der die Beteiligung möglichts breiter Bevölkerungkreise zuläßt. Demgegenüber entspricht dem Demokratieprinzip nicht ein Entscheidungsmodus, der dekretorisch ist und, soweit es sich u m Rechtssetzung handelt, vorgegebenes Recht prätendiert, wo Recht „gesetzt" wird. Ein solch dekretorischer Stil, der das Recht als „apodiktisch strahlende Gewißheit" 5 1 erscheinen läßt und i n der Rechtsprechungspraxis nicht selten anzutreffen ist, muß vor allem dort auf Skepsis stoßen, wo der Richter an die Stelle des Gesetzgebers tritt, die zu entscheidende Frage also eine deutlich offene Bewertungsqualität hat. Die i m Gerichtsverfahren gering, zum mindesten aber auf Grund der Unabhängigkeit geringer als bei anderen Entscheidungsorganen ausgeprägte Verantwortlichkeit bietet nur ein zusätzliches Argument. Man könnte hier — wie bei der Erörterung der Verfahren — eine Proportionalität zwischen Verantwortlichkeit und Entscheidungskompetenzen aufstellen. Da der Richter wegen des Rechtsverweigerungs46 47 48 49
So Eichenberger S. 113. So Eichenberger S. 115. Vgl. Eichenberger S. 103, 113. So Rauschning, Verfassungssicherung S. 279 ff. 50 Vgl. nur aus staatsrechtlicher Sicht v. Simson und Kriele V V d S t R L 29 (1970), S. 3 ff.; S. 46 ff.; aus politikwiss. Sicht Scharpf, Demokratietheorie, bes. S. 21 ff. si So Luhmann, Rechtssoziologie I I , S. 289.
218
T e i l I I I , 8. Kap.: Richterrecht u n d richterliche Unabhängigkeit
Verbots sich der Entscheidung nicht entziehen kann, müßte sich ein solcher Grundsatz der Proportionalität auf den Umfang der Entscheidungen und ihre Begründung auswirken. Damit drängt auch das Demokratieprinzip i n die Richtung richterlicher Selbstbeschränkung 52 .
52
So insbes. Schuppert
S. 207 ff. für die Verfassungsgerichtsbarkeit.
. Kapitel Richterrecht u n d Rechtssicherheit Das Prinzip der Rechtssicherheit w i r d i n rechtsphilosophischer Betrachtung der „Rechtsidee" zugeordnet und erscheint neben materieller Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit als deren drittes Element 1 . Geiger 2 — und i n seinem Gefolge Henkel 3 und Zippelius 4 — untergliedern Rechtssicherheit zunächst i n den Bestimmtheitsgrundsatz, der „Orientierungssicherheit" oder „Ordnungsgewißheit" mit sich bringt, also Voraussetzung dafür ist, daß der Rechtsgenosse weiß, „welche Pflichten und Rechte für ihn bestehen und mit welchen Rechtsfolgen seines Verhaltens er zu rechnen hat" 5 . Zum anderen bedeutet Rechtssicherheit Durchsetzbarkeit des Rechts, i n Geigers Terminologie „Realisierungssicherheit" oder „Ordnungszuversicht": der einzelne muß darauf vertrauen können, daß i h m sein Recht durch Anrufung von Gerichten oder Behörden wirklich zuteil w i r d 6 . Das so gekennzeichnete Rechtssicherheitsprinzip kann mit der materiellen Gerechtigkeit in Widerspruch treten, es besteht eine „Antinomie" 7 , eine „Polarität" 8 innerhalb der Elemententrias der Rechtsidee. Richterrecht, das w i r d sogleich deutlich, dient der Rechtssicherheit. Indem der Richter die einzelne Gesetzesnorm auslegt und ihr typisierend Bestimmtheit verleiht, schafft er die Voraussetzung dafür, daß der Rechtsunterworfene sich am Recht orientieren kann. Die dem Richterrecht eigene Tendenz zur Generalisierung läßt Vertrauen in die Durchsetzbarkeit des erkannten Rechts entstehen. Richterrecht kann dem Prinzip der Rechtssicherheit aber auch entgegenwirken. Vorschnelle Abstraktionen i n der Judikatur mögen gerade Orientierungsunsicherheit zur Folge haben, später notwendige Korrekturen lassen aber an der Durchsetzbarkeit des Rechts zweifeln 9 . 1
Vgl. etwa Radbruch S. 168 ff.; Henkel S. 333 ff.; Zippelius, 2 Vgl. Geiger S. 102 f. 3 Vgl. Henkel S. 334, 337. 4 Vgl. Zippelius, Wesen S. 108. s So Henkel S. 335; ähnlich Zippelius, Wesen S. 108. 6 Vgl. Geiger S. 103; Henkel S. 337. 7 Vgl. Radbruch S. 168. 8 Vgl. Henkel S. 339. 9 Vgl. auch Schlüter S. 46 u n d 56 f.
Wesen S. 107 ff.
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T e i l I I I , 9. Kap.: Richterrecht u n d Rechtssicherheit
Das Prinzip der Rechtssicherheit ist somit Grund und Grenze des Richterrechts. 1. Das Prinzip der Rechtssicherheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht folgt in seiner Rechtsprechung der oben skizzierten Linie. Rechtssicherheit ist hiernach staatsrechtsdogmatisch ein Element des Rechtsstaatsprinzips 10 . Das BVerfG räumt ein, daß das Rechtssicherheitsprinzip keine „ i n allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote von Verfassungsrang" 11 enthalte, stellt aber für die gesetzgeberische Tätigkeit eine Reihe von Grundsätzen auf, die namentlich für den Bereich gesetzeskonkretisierenden Richterrechts von Bedeutung sind. Daß der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, hält das BVerfG für unbedenklich 12 . Allerdings müsse eine gesetzliche Norm „ i n ihren Voraussetzungen und i n ihrem Inhalt so formuliert sein, daß die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können" 1 3 . Gesetze, die eine „unklare, mißverständliche oder widerspruchsvolle Regelung" enthielten, können nichtig sein 14 . Freilich verstoße ein Gesetz noch nicht gegen den „Grundsatz der Normklarheit" 1 5 , wenn es lediglich auslegungsbedürftig sei 16 . Auch mißt das BVerfG die Praktikabilität und Bestimmtheit eines Gesetzes nicht nur an dessen Wortlaut, sondern begreift das Gesetz und die darauf beruhende Rechtsprechung als Einheit. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar Rechtsvorschriften aus dem Steuerrecht 17 und Strafrecht 18 , an deren Bestimmtheit besonders scharfe Anforderungen zu stellen sind, mit dem Hinweis für verfassungsmäßig gehalten, die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs habe erwiesen, daß die angegriffenen Vorschriften praktikabel seien, bzw. die Norm sei durch eine „jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden" 1 9 . 10 So BVerfG 7, 87 (92); 20, 323 (331); 22, 322 (329). 11 So BVerfG 7, 87 (92). 12 Vgl. BVerfG 21, 73 (79). 13 Vgl. BVerfG 21, 73 (79). 14 Vgl. BVerfG 25, 215 (227); auch schon BVerfG 1, 14 (45). is So BVerfG 27, 1 (8). 16 Vgl. BVerfG 21, 245 (261). 17 So BVerfG 25, 216 (227). 18 Vgl. BVerfG 26, 41 (42). io So BVerfG 26, 41 (42).
1. Das Rechtssicherheitsprinzip i n der Rechtsprechung des BVerfG
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Diese Rechtsprechung wendet sich an die Rechtsprechung und stellt zugleich Gebote für den Gesetzgeber auf. Wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, daß unbestimmte Rechtsbegriffe in Gesetzen — von Grenzfällen abgesehen — verfassungsrechtlich unbedenklich seien, so liegt darin zugleich die Aussage, daß die gesetzeskonkretisierende Rechtsbildung der Gerichte nicht gegen die Verfassung verstößt. Die Unbestimmtheit von Gesetzen führt, das wurde nachgewiesen, allemal zu einem Kompetenzzuwachs der Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Prinzip der Rechtssicherheit nur Grundsätze für den Fall entwickelt, daß der Gesetzgeber tätig geworden ist. Es hat — abgesehen von Vorbehaltsmaterien — darauf verzichtet, den Gesetzgeber zur Normsetzung zu verpflichten. Ein an den Gesetzgeber gerichtetes Gebot, gesetzlich nicht geregelte Gebiete zu normieren, w i r d aber durch das Rechtssicherheitsprinzip durchaus nahegelegt. Freilich müßte eine solche Verpflichtung ohne Konturen bleiben. Zum einen sind die nicht oder gering normierten Rechtsgebiete so verschieden — man vergleiche nur die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts mit dem vom B A G entwickelten Arbeitskampfrecht —, daß schon aus diesem Grunde eine allgemeine Verpflichtung des Gesetzgebers nicht i n Frage käme. Zum anderen wäre eine Verpflichtung — selbst wenn sie positives Verfassungsrecht wäre — ohne feste Terminierung nicht wirkungsvoll 2 0 . Dazu würde aber das Prinzip der Rechtssicherheit keine ausreichende Grundlage bieten. Vielmehr wäre ein vom BVerfG an den Gesetzgeber gerichtetes Gebot der Normsetzung aus Gründen der Rechtssicherheit wiederum dem Vorwurf ausgesetzt, daß die Rechtsprechung zu stark i n den Bereich der Legislative eingreift, denn auch der Verzicht auf eine gesetzliche Regelung kann eine Form politischer Artikulation sein 21 . Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit läßt sich deshalb kein verfassungsrechtliches Gebot ableiten, sondern allenfalls ein verfassungspolitisches Postulat, daß der Gesetzgeber wichtige Rechtsgebiete auf die Dauer nicht ungeregelt läßt. Findet auf diese Weise auch das gesetzesvertretende Richterrecht nicht generell seine Schranke i m Grundsatz der Rechtssicherheit, so können doch Folgerungen für die einzelne judizielle Rechtsbildung daraus abgeleitet werden. Dazu muß allerdings der nur individualistische Bezug des Rechtssicherheitsbegriffs aufgegeben werden.
20 Das hat sich bei Art. 6 V GG gezeigt, vgl. BVerfG 25, 167 (178 ff. bes. S. 185); vgl. aber BVerfG Beschl. v. 14.3.1972 — 2 B v R 41/71 — JZ 1972, S. 357 zum Strafvollzug. 21 Soweit keine Vorbehaltsmaterien wie i m o. g. Beschluß berührt sind.
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Teil I I I ,
. Kap.: Richterrecht und
chticheheit
2. Verkehrssicherheit statt individueller Verhaltenssicherheit I n Rechtsprechung 22 und Schrifttum 2 3 w i r d der individuelle Aspekt der Rechtssicherheit betont: der einzelne müsse i n die Lage versetzt werden, sein Verhalten nach möglichst klaren Rechtsnormen einzurichten. Das ist ein Teilaspekt der Rechtssicherheit. Wieweit er i n einem hochdifferenzierten Rechtssystem, i n dem Recht weitgehend eine Sache der Experten ist, reicht, soll hier dahingestellt bleiben. Henkel sagt mit Recht, daß nicht nur die Rechtsgewißheit des Bürgers, sondern auch die des Rechtsanwenders durch das Recht gewährleistet werden müsse, daß Rechtssicherheit also nicht ein „Interesse", sondern eine sachlich-objektive Anforderung an das Recht sei 24 . Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn Rechtssicherheit hat ganz andere Dimensionen, als sie durch den Begriff individueller Verhaltenssicherheit nahegelegt werden. Eine vielfach beobachtete, wenngleich theoretisch kaum bearbeitete Erscheinung des Rechtslebens ist der Musterprozeß 24a . I n einem solchen Rechtsstreit, dessen Ziel regelmäßig eine höchstrichterliche Entscheidung ist, geht es nur vordergründig um Anspruch oder Beschwer des auftretenden Klägers. Hinter dem geltend gemachten Anspruch steht eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle. Die Prozeßparteien repräsentieren regelmäßig nur die Bürokratien — gleich ob staatliche oder privatwirtschaftliche —, deren Aufgaben von solchermaßen offenen Rechtsfragen berührt sind. Bürokratien, also differenzierte Verwaltungssysteme des Staates und der Wirtschaft, haben starken Bedarf an bindenden Entscheidungen und lassen sich auf neue Entscheidungen — etwa Gesetze — nur schwer umstellen. Das leuchtet sogleich ein, wenn man bedenkt, daß etwa in der staatlichen Verwaltung Verwaltungsvorschriften usw. erlassen werden müssen, um neue Entscheidungen in die Praxis umzusetzen, und daß i m privatwirtschaftlichen Bereich Kalkulationen und Planungen von möglichst festen Daten auszugehen haben. Die starke Rechtsprechungsabhängigkeit moderner Bürokratien — i m staatlichen Bereich durch Art. 19 I V GG festgelegt — macht die Gerichte zum Adressaten für diesen Normenbedarf. Die rechtsprechende Gewalt, die dem Gesetz erst seine soziale Geltung verleiht, kann detailliertere Weisungen geben als der Gesetzgeber und i m Stadium der Gesetzgebung noch unbekannte Umstände berücksichtigen. Außerdem hat der Richter regelmäßig das letzte Wort in einem Rechtsstreit. 22 So etwa BVerfG 21, 73 (79). 23 v g l . nur Geiger S. 102; Zippelius, Wesen S. 108. 24 So Henkel S. 334. 24a vgl. Hilger, Festschr. Larenz S. 120.
2. Verkehrssicherheit statt individueller Verhaltenssicherheit
223
Der Normenbedarf der Bürokratien zielt mehr auf eine sichere, bindende, „revisionsfeste" als auf eine materiell richtige Entscheidung. Was Radbruch für den einzelnen Prozeß sagt, es sei wichtiger, daß dem Streit der Rechtsansichten ein Ende gesetzt werde, als daß ihm ein gerechtes Ende gesetzt werde 2 5 , gilt für den bürokratischen Bereich i n verstärktem Maße. Der Grundsatz der Rechtssicherheit dient also nicht nur der individuellen Verhaltens Sicherheit, sondern muß als allgemeiner Grundsatz der Verkehrssicherheit begriffen werden. Die Forderungen, die der moderne Rechtsverkehr an die rechtsprechende Gewalt stellt, und der Einfluß, den diese auf ihn ausübt, dürften kaum zu überschätzen sein. I m Bereich des Privatrechts wäre am ehesten zu denken an das Versicherungsrecht, das Grundstücksrecht und das Recht der Kreditsicherung. Die Rechtsprechung, zumal der Obergerichte, w i r d zur Grundlage der Kalkulationen gemacht, i n die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Formularverträge aufgenommen 26 . Ein Schwanken der Gerichte i n ihren Entscheidungen bewirkt gleichzeitig, daß die Kalkulationsgrundlagen unsicher werden und Risiken eingeplant werden müssen 27 . Das führt zu unabsehbaren Folgen. Das Arbeitsrecht ist das typische Gebiet des Musterprozesses. Hinter dem einzelnen zu entscheidenden Fall steht häufig eine große Anzahl gleichgelagerter Rechtsstreitigkeiten 28 . Da es schon aus Gründen der Entscheidungskapazität der Gerichte kaum möglich ist, auch nur die anhängigen Fälle i n einem vertretbaren Zeitraum zu entscheiden, findet sich in der Rechtsprechung — namentlich des B A G — gelegentlich ein Verordnungsstil, der über den entschiedenen Fall hinaus allgemeine Grundsätze aufstellt 2 9 . Auch i m Verwaltungsrecht — hier wäre das Beispiel der staatlichen Ersatzleistungen zu nennen — besteht ein über den Einzelfall hinausgehender Normenbedarf. Bauplanung z. B. ist nur möglich, wenn die Kosten einigermaßen abschätzbar sind. Hier kann eine unsichere höchstrichterliche Rechtsprechung zu einer Prozeßflut führen, die die Planung stark erschwert. Das Steuerrecht und das Sozialrecht sind i n besonderem Maße „Massenrecht". Die Rechtsprechung w i r d i n EDV-Programme einbe-
25 Vgl. Radbruch S. 169. 26 Vgl. Grunsky S. 26. 27 Vgl. Fischer, BGH-Rechtsprechung S. 12 f. 28 Vgl. Grunsky S. 24. 29 Vgl. die J u d i k a t u r zu den Weihnachtsgratifikationen B A G 13, 129 ff. und dazu Schlüter S. 175 ff.
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Teil I I I ,
. Kap.: Richterrecht und
chticheheit
zogen und zur Grundlage automatisierter Verwaltungsakte gemacht 30 . Offene Rechtsfragen oder unsichere Entscheidungen können solche Programme wertlos machen und die Verwaltungsarbeit verzögern. Das Bedürfnis der Bürokratie nach bindenden Entscheidungen geht so weit, daß vereinzelt die Möglichkeit einer höchstrichterlichen Kompetenz zur Entscheidung ohne Rechtsstreit erwogen w i r d 3 1 . Der starke Normenbedarf, die für die modernen Massenverwaltungen unabdingbare „Verkehrssicherheit", läßt einen Sog auf die Gerichte entstehen, möglichst viele Rechtsfragen — auch ohne unmittelbaren Zwang durch den anhängigen Fall — zu entscheiden. Eine solche Tendenz ist besonders bedenklich, wenn die Problematik und die Auswirkungen noch nicht voll absehbar sind 3 2 . Höchstrichterliche Judikate gewinnen sehr schnell ein Eigenleben. Die Leitsatzrechtsprechung der Revisionsgerichte zeigt schon das Bemühen, vom konkreten Fall zu abstrahieren. Die gleiche Tendenz ergibt sich bei den Begründungen, nicht nur bei den „tragenden" Gründen einer Entscheidung. Was zunächst nur als nebensächliche Rechtsausführung erschien, mag im Rechtsverkehr fernerhin als bindende Entscheidungsgrundlage aufgefaßt werden. Die Begründungspraxis der Gerichte kann bei der zentralen Bedeutung der Rechtsprechung für den Rechtsverkehr schnell zu einer Gefahr für die Rechtssicherheit werden 3 3 . Hier liegt das eine verfassungsrechtliche Problem. Problematisch erscheint aber auch die Rückwirkung der Rechtsprechung, von der danach zu sprechen ist. 3. Grundsatzrechtsprechung und Rechtssicherheit M i t der richterlichen Begründungspraxis hat sich namentlich Schlüter auseinandergesetzt. Seiner Auffassung zufolge gefährden Rechtsausführungen in den Entscheidungsbegründungen, die nicht der Lösung des konkreten Streitfalles dienen, die Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung 34 . Nach herrschender Meinung seien obiter dicta nicht ausgleichspflichtig 35 . Die fehlende prozessuale Möglichkeit einer internen oder externen Vorlage lasse die Rechtsauffassungen unvermittelt nebeneinander bestehen und sei deshalb eine Gefahr für die Einheitlichkeit der Judikatur 3 6 . Die Kontinuität der Rechtsprechung 30 Vgl. hierzu Wannagat S. 23. 31 So Wannagat S. 22. 32 Vgl. Schlüter S. 56 f. 33 Vgl. Schlüter S. 40 ff. 34 Vgl. Schlüter S. 40 ff. 35 Vgl. die Nachweise bei Schlüter 36 Vgl. Schlüter S. 41 ff.
S. 42 A n m . 19, 20 u. 21.
3. Grundsatzrechtsprechung und Rechtssicherheit
225
sei dadurch betroffen, daß eine Bindung der Gerichte an die eigenen Rechtsausführungen nicht bestehe — und auch nicht erstrebenswert sei —, das Vertrauen auf den Fortbestand der Rechtsprechung aber auch durch obiter dicta geweckt werde 3 7 . I m Ergebnis fordert er, daß der Richter sich darauf besinnt, welche rechtlichen Aussagen anhand des Einzelfalls möglich sind, ohne die nur durch diesen erreichbare „Richtigkeitsgewähr" zu beeinträchtigen 38 . Das Bundesverfassungsgericht hat gemeint, es liege „ i n der Natur der Tätigkeit der höheren Gerichte, daß sie bei der Entscheidung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle das Prinzipielle hervorheben und zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze zu gelangen suchen" 39 . Diese Ausführungen stimmen durchaus mit dem vorherrschenden Verständnis des Revisionsverfahrens überein und dürften kaum auf Widerspruch stoßen. Die entscheidende Frage ist aber, wann die Voraussetzungen zu judizieller Grundsatzbildung vorliegen. Die Erörterung des Revisionsverfahrens hat ergeben, daß die am Einzelfall erreichbaren Informationen kaum zur Generalisierung hinreichen. Esser bezeichnet es nachgerade als „Mißverständnis unserer Gerichte", „am Einzelfall i m voraus generelles Recht festlegen zu wollen" 4 0 . Grundsatzentscheidungen könnten nur das Produkt einer Reihe von Präjudizien sein, die an der Normbildung teilnehmen 41 . Aus dem Rechtssicherheitsprinzip folgen nun zwei Bedenken. Zum einen prätendiert die Rechtsprechung gelegentlich nur einen Grundsatz, verweist aber i m übrigen „auf die Umstände des Einzelfalles". I n solchen Fällen leistet sie keinen echten Beitrag zur Rechtsbildung, sondern spricht nur Selbstverständliches aus, daß nämlich auch in Zukunft das Gericht entscheiden werde. Diese A r t der Grundsatzbildung, die lediglich als perpetuierter Urteilsvorbehalt erscheint, ist entbehrlich. Bedenken bestehen auch gegen Grundsätze, die zu weit gefaßt sind und deshalb später eingeschränkt werden müssen 42 . Als Beispiel für diese Vorgehensweise können die früheren Entscheidungen zum Persönlichkeitsrecht dienen, die allgemein einen Ersatz des immateriellen Schadens zusprachen 43 , später aber dahingehend korrigiert werden mußten, daß nur „schwere Verletzungen" des Persönlichkeitsrechts diesen Anspruch begründeten 44 . Die Gefahr, daß Grundsätze zu 37 Vgl. Schlüter S. 46 f. 38 Vgl. Schlüter S. 45, 57. 39 So BVerfG 18, 224 (237). 40 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 268. 41 Vgl. Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 268. 42 Vgl. Schlüter S. 46. 43 So etwa B G H Z 26, 349 ff. 44 Vgl. B G H Z 35, 363 (368). 15
Ipsen
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. Kap.: Richterrecht u n d
chticheheit
weit gefaßt werden, besteht insbesondere dann, wenn noch nicht genügend Einzelfälle, aus denen sich die Differenzierungen ergeben würden, zur Entscheidung standen. Ein extensiv formulierter Grundsatz fordert weitere Rechtsstreitigkeiten geradezu heraus. Mag man auch der Auffassung sein, daß das Vertrauen i n einen solchen Grundsatz nicht berechtigt ist, so w i r d man doch nicht bestreiten können, daß eine vorschnell generalisierende Begründungspraxis dem Gebot der Rechtssicherheit widerspricht. Es w i r d deshalb zu Recht an die Rechtsprechung die Forderung erhoben, bei der Ausbildung von Grundsätzen Zurückhaltung zu üben, nur so weit das Prinzipielle eines Falles hervorzuheben, als es auch absehbar ist 4 5 . Den Erkenntnismöglichkeiten des Verfahrens und dem Grundsatz der Rechtssicherheit entspricht ein tastendes Vorgehen und zurückhaltende Generalisierung. Berücksichtigt die rechtsprechende Gewalt diese vom Rechtssicherheitsprinzip nahegelegten Postulate nicht, besteht die Gefahr, daß an die Stelle der konkreten — generalisierbaren — Problemlösung und des aus einer Reihe von Entscheidungen entwickelten Rechtsgrundsatzes das judizielle Programm tritt, das dann freilich fatale Ähnlichkeit mit der Begründung von Gesetzgebungsentwürfen und Regierungsprogrammen aufweist. 4. Das Problem der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen Das Problem, inwieweit das Rechtsstaatsprinzip der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen Grenzen setzt, ist noch weithin ungeklärt 4 6 . Es w i r d jedoch eine Reihe von Lösungsmodellen angeboten. Bei diesen Überlegungen müssen die Bereiche des Strafrechts 47 und Steuerrechts 48 ausgeklammert werden, weil hier anerkanntermaßen die Rückwirkung stärker eingeschränkt ist als i n den übrigen Rechtsgebieten 48a . Ausgangspunkt der Diskussion über die Zulässigkeit rückwirkender Judikatur ist die Frage, ob die zur Rückwirkung von Gesetzen entwickelten Grundsätze auf die Rechtsprechung übertragbar sind 4 9 . 45 v g l . Esser, Grundsatz und N o r m S. 267 ff.; Schlüter S. 30. 46 Vgl. die Beiträge von Grunsky S. 6; Kruse S. 17 ff.; Kisker S. 120 ff.; Knittel S.58ff.; Schlüter S. 53 ff.; Adomeit S. 66; H.-W. Arndt, bes. S. 78 ff.; Buchner, Gedächtnisschr. Dietz S. 179 ff. 47 Vgl. Schreiber JZ 1973, S. 713 ff.; H.-W. Arndt S. 13 ff. 48 Vgl. n u r Vogel N J W 1960, S. 1182 ff. 48a Hierzu die neue Untersuchung von Hans-Wolfgang Arndt, bes. S. 13 ff. (Strafrecht) u n d 53 ff. (Steuerrecht). 49 So Grunsky
S. 6; Buchner,
Gedächtnisschrift Dietz S. 177 ff.
4. Das Problem der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen
227
Das Bundesverfassungsgericht steht einer solchen Anwendung skeptisch gegenüber, weil sie dazu führen könnte, „daß die Gerichte an eine einmal feststehende Rechtsprechung gebunden wären, auch wenn diese sich i m Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar erweist" 5 0 . Dieser Standpunkt dürfte auch der i m Schrifttum vorherrschenden Auffassung entsprechen, daß das Gebot der Rechtssicherheit jedenfalls nicht eine Änderung der Rechtsprechung ausschließt 51 . Eine Versteinerung oder auch nur erschwerte Abänderbarkeit der Judikatur ließe sich nur vertreten, wenn man ihr die Qualität von Gewohnheitsrecht zuspräche, das nur durch neues Gewohnheitsrecht oder Gesetz derogiert werden kann 5 2 . Schon die Qualifizierung der Rechtsprechung als Rechtsquelle eigener A r t 5 3 läßt die Befugnis der Gerichte, mit ihrer Rechtsprechung zu brechen, unberührt 5 4 . Dieser Umstand erweist zum wiederholten Male die zweitrangige Bedeutung der Rechtsquellenfrage für das Richter recht 55 . Die möglichen Grenzen der Rückwirkung betreffen also nur den konkreten Fall, aus dessen Anlaß die Rechtsprechung geändert wird. Hier soll es darauf ankommen, ob das Vertrauen der Prozeßpartei i n den Fortbestand der Rechtsprechung schutzwürdig ist 5 6 . Weder reicht es aus, daß die Partei tatsächlich auf die Judikatur vertraut hat, noch w i r d der Vertrauensschutz aussgeschlossen, wenn sie gar nicht auf den Bestand der Rechtsprechung vertrauen konnte 5 7 . Die Frage ist rein normativ, ob nämlich die Partei auf die Rechtsprechung vertrauen durfte. Die Antwort auf diese Frage muß je nach der Eigenart der hier herausgearbeiteten Bereiche des Richterrechts verschieden ausfallen. Dabei kann aber vorweggenommen werden, daß — wenn auch i m einzelnen zweifelhaft ist, ob das Vertrauen i n den Fortbestand der Rechtsprechung schutzwürdig ist — es keinem Zweifel unterliegen dürfte, daß das Vertrauen i n den Bestand des Gesetzes berechtigt ist. Präziser gesagt: eine Prozeßpartei muß sich darauf verlassen können, daß ein Gesetz von der Rechtsprechung in seinem Geltungsumfang so So BVerfG 18, 224 (240). 51 Vgl. Grunsky S. 9. 52 Vgl. Kisker S. 120, 123. 53 So etwa Kruse S. 12. 54 Vgl. Kruse S. 15. 55 Vgl. auch Grunsky S. 14. 56 So Grunsky S. 10 f.; Knittel auch H.-W. Arndt S. 110 ff. 57 Vgl. dazu Grunsky S. 11 ff. 15*
S. 20 ff.; Kisker
S. 122; Schlüter
S. 55; dazu
2 2 8 T e i l
III,
. Kap.: Richterrecht und
chticheheit
unberührt gelassen wird. Freilich t r i f f t dieser Grundsatz nur auf das gültige Gesetz zu: das Vertrauen der Partei auf das Gesetz ist also nur so weit schutzwürdig, als das Gesetz gilt. Die Geltung eines Gesetzes ist aber nur i n den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Verfahren der Normenkontrolle — gleich ob sie vom BVerfG oder von einem anderen Gericht vorgenommen w i r d — zu beseitigen. Von dem Risiko, auf ein verfassungswidriges Gesetz vertraut zu haben, kann man keine Partei befreien 58 . Dieses Risiko muß aber das einzige bleiben. Damit ist auch aus Gründen des Vertrauensschutzes die richterliche Gesetzeskorrektur ausgeschlossen, die nicht i m formellen Normenkontrollverfahren und unter den darin liegenden Garantien erfolgt. Der gleiche Grundsatz, der freilich nur auf i m Wortlaut eindeutige Gesetze — wie bei § 253 BGB — anwendbar ist, gilt für den Bereich gesetzeskonkurrierenden Rieht er rechts. Auch diese Form der Richterrechtsbildung findet ihre Grenze darin, daß das Vertrauen i n den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes, der eine Schranke für die verfassungskonforme Auslegung bildet, schutzwürdig ist. Ganz anders stellt sich das Problem i m Bereich gesetzeskonkretisierenden Richterrechts. Unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, namentlich den Wertungs- und Ergänzungsklauseln wohnt von vornherein eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Dynamik inne, die das Vertrauen i n den Fortbestand der Rechtsprechung sicher nur i n Ausnahmefällen schutzwürdig macht. Das bedeutet nicht, daß nicht auch die Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen kontinuierlich erfolgen muß. Nur werden Wertungsbegriffe i n Gesetzen gerade dazu verwandt, dem Recht die Möglichkeit schneller Anpassung an veränderte moralische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Auffassungen zu geben. Sie sind deshalb auch nicht abschließend bestimmbar. Der BGH hat mit Recht die Ansicht vertreten, der Begriff des Mißbrauchs etwa liege nie genau fest 59 . Das Vertrauen einer Partei i n die Beständigkeit einer höchstrichterlichen Auslegung eines solchen Begriffes sei deshalb nicht schutzwürdig, insbesondere wenn i m Schrifttum schon nachdrücklich eine Änderung gefordert worden sei 60 . I m Bereich gesetzesvertretenden Richterrechts liegt es dagegen durchaus nahe, die zur Rückwirkung von Gesetzen entwickelten Grundsätze auf die Rechtsprechung zu übertragen. Hier müßte der Gedanke des Vertrauensschutzes schon deshalb eingehender geprüft werden, weil ss Ä h n l i c h Grunsky S. 20 ff.; zurückhaltend H.-W. Arndt 59 Vgl. B G H Z 52, 305 ff. ßo Vgl. B G H Z 52, 365 (370).
S. 110 ff.
4. Das Problem der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen
229
kein Gesetz besteht, das den Rahmen möglicher Änderungen der Judikatur absteckt. Da aber eine Bindung der Gerichte an die gefestigte Rechtsprechung auch in diesem Bereich weder verfassungsrechtlich begründbar noch rechtsquellentheoretisch erforderlich ist, lautet die Frage, ob die geänderte Rechtsprechung bereits auf den zu entscheidenden Fall oder nur in Zukunft anzuwenden ist. Die Argumente gegen ein „prospective overruling" 6 1 liegen auf der Hand. Richterrecht kann nur i m konkreten Rechtsstreit entstehen und geändert werden. Auch wenn eine Revision der Judikatur angesichts gewandelter Rechtsauffassungen i m Schrifttum schon überfällig ist, kann der Richter sie doch nur in einem ihm zur Entscheidung vorliegenden Fall vornehmen. Diese Gelegenheit bietet die Partei, die gegen die bis dahin herrschende Rechtsprechung angeht und damit einen Beitrag für die Rechtsfortbildung leistet. Es wäre geradezu widersinnig, und der Große Senat des B A G hat diesen Standpunkt bekräftigt, wenn die Kläger „nicht einen Rechtsvorteil dieser Änderung erfahren und zudem die Kosten des Rechtsstreits tragen müßten" 6 2 . Das Prozeßrisiko erstreckt sich nach Ansicht des B A G auch auf die erstmals ausgesprochene Änderung gefestigter Rechtsprechung. Diese Auffassung erscheint für die von den Grundsätzen des Zivilprozesses beherrschten Rechtsgebiete einzig richtig. Man könnte freilich erwägen, ob de lege ferenda die Kostenregelung modifiziert werden sollte. Das Vertrauen auf den Fortbestand gefestigter Rechtsprechung ließe sich dadurch prämieren, daß die Kosten des Rechtsstreits vom Staat getragen werden 6 3 . Es ist aber nicht zu verkennen, daß der Stil der Entscheidungsbegründungen eng mit dem Vertrauensschutz zusammenhängt. Je mehr eine höchstrichterliche Entscheidung den Charakter einer „Setzung" hat, gestützt durch eine apodiktische Begründungsweise, desto abrupter muß der Wandel der Judikatur ausfallen 64 . Eine eher vorsichtige, „tastende" Rechtsbildung und eine i n gleicher Weise sich vollziehende gegenläufige Entwicklung 6 5 würde das Problem des Vertrauensschutzes nicht so scharf stellen wie die judizielle Normsetzung und -änderung.
ei Hierzu Grunsky S. 23 ff.; Schlüter S. 53 ff.; H.-W. Arndt S. 109 ff. 62 So B A G A P Nr. 43 zu A r t . 9 GG (Arbeitskampf) Bl. 315 R.; dazu Buchner, Gedächtnisschr. Dietz S. 192 ff. 63 Vgl. Grunsky S. 23. 64 Vgl. dazu Schlüter S. 40. 65 Gegebenenfalls könnte der Wandel angekündigt werden, vgl. Kisker S. 124; Grunsky S. 25, oder eine Ubergangsregelung getroffen werden; vgl. Buchner, Gedächtnisschr. Dietz S. 196.
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Teil I I I ,
. Kap.: Richterrecht und
chticheheit
Freilich können diese Lösungsvorschläge nur Randkorrekturen an der eigentlichen Problematik bewirken. Das Hauptproblem liegt darin, daß gesetzesvertretendes Richterrecht sich unauflösbar i m Spannungsfeld zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung befindet. Der Form nach und i n der Wirkung für den zu entscheidenden Fall haben w i r es mit Rechtsprechung zu tun, dem Inhalt und der Wirksamkeit für künftige Fälle nach mit quasilegislatorischer Tätigkeit. Die aus dieser Spannung herrührenden Probleme lassen sich endgültig nur dadurch lösen, daß das zur Gesetzgebung berufene Verfassungsorgan die Regelung trifft, sei es auch, nachdem die Rechtsprechung den Fragenbereich i n eigener Zuständigkeit abgesteckt und Lösungsmodelle erprobt hat. Auf die Dauer ist die rechtsprechende Gewalt methodisch, organisatorisch und politisch überfordert, wenn sie die grundlegenden Fragen des Gemeinschaftslebens ohne gesetzlichen Bewertungsrahmen entscheiden muß.
10. Kapitel Ergebnisse Verfassungsrechtliche Schranken des Richterrechts Richterrecht unterliegt, so läßt es sich nach den Überlegungen zum Gewaltenteilungsprinzip und damit verbunden zu den Verfahren der Rechtserzeugung und Kontrolle, zur demokratischen Legitimation, zur richterlichen Unabhängigkeit und zum Prinzip der Rechtssicherheit zusammenfassen, einer Vielzahl von Schranken, die durch die Verfassung vorgezeichnet sind. Diese Schranken wirken sich je nach dem Grund der Entstehung von Richterrecht verschieden aus. 1. Möglichkeiten und Grenzen gesetzeskonkretisierenden Richterrechts Folgt man der hier entwickelten Typologie, so werden gegen gesetzeskonkretisierendes Richterrecht nur in seltenen Fällen verfassungsrechtliche Bedenken zu erheben sein. Es entspricht vernünftiger Einsicht i n die Bedingungen parlamentarischer Rechtserzeugung und judizieller Rechtsentscheidung, daß die Ausbildung des geltenden Rechts nur i m Wege der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter erfolgen kann. Der parlamentarische Gesetzgeber, das dem Souverän nächste und durch ihn unmittelbar legitimierte Organ, verfügt über die Möglichkeit, sich die zur rechtlichen Regelung notwendigen Kenntnisse genereller Tatsachen zu verschaffen, und w i r d i n einem prinzipiell offenen, also politischer Einflußnahme zugänglichen Verfahren tätig, das sich als Ausprägung demokratischer Grundsätze darstellt 1 . Der Richter hingegen hat die Anschauung des konkreten Falles, vermag die Auswirkungen verschiedener Interpretationen und Konkretisierungen eines Rechtssatzes zu überblicken und kann i h m — nach einer Reihe von Entscheidungen — typisierend Bestimmtheit verleihen 2 . Namentlich i n Bereichen, i n denen es u m die Frage nach gerechter und angemessener Wertung grundlegend kontroverser Interessen i n Staat und Gesellschaft geht, bietet das Gesetz, sofern es die politischen Vorentscheidungen 1 Vgl. oben Teil I I I , 3. Kap. 1 c. 2 Vgl. oben T e i l I I I , 3. Kap. 2.
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Teil I I I , 10. Kap.: Schranken des Richterrechts — Ergebnisse
enthält und damit die normative Linie vorzeichnet, für den Richter eine Stütze, die das hier empfundene Minus an demokratischer Legitimation i m Vergleich zum parlamentarischen Gesetzgeber 3 auszugleichen und das notwendige Komplementärverhältnis zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung zu wahren vermag. Doch ist dies ein idealtypisches B i l d der Aufgabenverteilung zwischen Richter und Gesetzgeber. Nicht immer findet die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln ihren Grund i n der gesetzgeberischen Erkenntnis, daß abstrakte Regelungen nicht unbedingt die gerechte Lösung auch des einzelnen Falles ermöglichen. Zuweilen w i r d dem Richter angesonnen, die fehlende Willensbildung des Gesetzgebers nachzuholen 4 . Diese Annahme liegt besonders nahe, wenn ein unbestimmter Rechtsbegriff oder eine Generalklausel auf einen normativ nicht überformten Sachbereich verweist, der Richter also seine Maßstäbe ohne gesetzlichen Bewertungsrahmen bilden muß. Diese Gruppe von Verweisungsklauseln delegiert an den Richter Rechtsbildungsbefugnisse, die verfassungsrechtlich kaum noch zu rechtfertigen sind. Freilich ist der Richter, selbst wenn die normativen Entscheidungsgrundlagen derart spärlich sind, gezwungen, eine rechtliche Entscheidung zu treffen. Angesichts der verhältnismäßig großzügigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmtheit von Rechtssätzen5 sind i n solchen Fällen auch kaum wirksame Sanktionen, etwa die Verwerfung eines unbestimmten Rechtssatzes als verfassungswidrig, zu erwarten. Doch sollte man sich bewußt sein, daß schon i m Bereich der Delegation von Rechtsbildungskompetenzen eine Gewichtverschiebung zwischen gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt einsetzen kann, die Auswirkungen auch über die konkrete Rechtsbildungsaufgabe hinaus haben könnte. Einen Maßstab, mit dessen Hilfe man die verfassungsrechtlich noch unbedenkliche Delegation von der bereits kompetenzwidrigen zu unterscheiden vermöchte, gibt es natürlicherweise nicht. Zu den Indizien, die für eine Überschreitung verfassungsrechtlich legitimer Delegation sprechen — die A r t der Verweisung und die politische Relevanz der geregelten Materie —, ließe sich aber als normativer Leitgedanke der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 I GG heranziehen. Zwar bestehen zwischen richterlicher
Rechtsbildung
u n d Rechtsetzung
im
Verordnungs-
wege prinzipielle Unterschiede, die eine analoge Anwendung der für die rechtsetzende Funktion der Verwaltung bestimmten Vorschriften 3 Vgl. oben Teil I I I , 7. Kap. 2 b. 4 Vgl. oben T e i l I I , 1. Kap. 4. 5 Vgl. oben T e i l I I I , 9. Kap. 1.
2. Schranken gesetzes vertretenden Richterrechts
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unmöglich machen; dennoch bleibt ein Rest an gemeinsamer Problematik. Die nicht-parlamentarische Rechtsetzung soll durch Normen des Gesetzgebers vorherbestimmt sein, und der nach dem Grundgesetz zuständige Normengeber soll sich der Erfüllung seiner Aufgaben nicht dadurch entledigen können, daß er sie an andere Staatsorgane überträgt, ohne ihnen das Ausmaß der Normierung hinreichend bestimmt zu haben. Diese Überlegungen setzen allerdings voraus, daß man i m Grundsatz die Delegation von Rechtsfortbildungsbefugnissen an den Richter anerkennt und die Forderung nach Bestimmtheit auf die Delegation bezieht 6 ; fordert man dagegen, daß eine Norm so bestimmt sein soll, daß sie sich ohne Wertung und Willensakt des Richters für den syllogistischen Schluß eignet 7 , so w i r d die produktive Tätigkeit der rechtsprechenden Gewalt verkannt und dem Gesetzgeber eine A r t der Normsetzung abverlangt, die er nicht zu leisten vermag. Eine solche Auffassung läßt freilich den ohnehin vorhandenen Graben zwischen methodologischer Doktrin und praktischer Richterrechtsbildung noch tiefer werden. 2. Schranken gesetzesvertretenden Richterrechts Gesetzesvertretendes Richterrecht entsteht durch eine Inkongruenz von gesetzlichen Entscheidungsgrundlagen und richterlichen Entscheidungskompetenzen. Diese Inkongruenz bedeutet allerdings nicht in jedem Falle eine verfassungsrechtlich bedenkliche Gewichtsverschiebung zwischen Gesetzgeber und Richter. Bestimmte Rechtsmaterien verschließen sich, solange sie sich i n der Entwicklung befinden, dem kodifikatorischen Zugriff des Gesetzgebers. Dieser Umstand wurde besonders i n der Diskussion um Sinn und Notwendigkeit eines Verwaltungsverfahrensgesetzes betont. Die Gegner eines solchen Gesetzgebungsvorhabens führten vor allem an, daß die Begriffsbildung i m Fluß sei und eine Unterbrechung durch gesetzliche Festlegungen sich schädlich auswirken könne 8 . Die Befürworter des Kodifikationsplanes beriefen sich demgegenüber auf den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Demokratieprinzip, die gleichermachen eine Bindung der Gerichte an Normen forderten, die von der Legislative geschaffen seien9. Dieses Beispiel zeigt, daß gesetzgeberische Zurückhaltung bei der Normierung bestimmter Rechtsmaterien der Rechtsentwicklung förderß Vgl. dazu oben T e i l I I , 1. Kap. 1. 7 Vgl. Flume i n : Verh. 46. D J T Bd. I I , S . K 32. e Vgl. Werner (Gutachten) Verh. 43. DJT, Bd. I, 2. T e i l B, S.33 ff.; Weber (Referat) Verh. 43. DJT, Bd. I I , S. D 48. » Vgl. Spanner (Gutachten) Verh. 43. DJT, Bd. I, 2. T e i l B, S. 8 f.
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Teil I I I , 10. Kap.: Schranken des Richterrechts — Ergebnisse
lieh sein kann. Die i m Abschnitt über das gesetzeskonkretisierende Richterrecht skizzierte methodische Eigenart der judiziellen Normbildung — ein an den einzelnen Fall gebundenes, aber doch über ihn hinausgehendes, tastendes Vorgehen — erfüllt auch i m Bereich gesetzesvertretenden Richterrechts eine sinnvolle Funktion. Der Richter ist in der Lage, Lösungsmodelle zu erproben, anhand neuer Problemgestaltungen Differenzierungen vorzunehmen und dogmatische Figuren zu entwickeln. Einen solchen Beitrag zu kontinuierlicher Entwicklung des Rechts kann der Gesetzgeber i m Wege der Setzung kaum leisten. Indes muß berücksichtigt werden, daß ein solch tastendes Vorgehen seinen Platz nur in rechtlich bereits domestizierten Gebieten hat. Geht es u m die grundlegend kontroverse Frage, was in einer Gesellschaft als gerechte Ordnung anzusehen ist und wie widerstreitende Interessen zu vermitteln sind, also um Probleme von offener Bewertungsqualität, so werden die verfahrensmäßigen Erkenntnismöglichkeiten des Richters und seine Stellung i n der Verfassung überfordert. Man mag zwar den Prozeß auch i n solchen Fällen für das geeignete Befriedigungsmittel halten und i m Recht eine A r t sozialen Entschärfungssystems sehen 10 , doch dürfte auch diese Funktion der richterlichen Entscheidung auf enge Grenzen stoßen. Die geringe normative Dichte der Entscheidungsgrundlagen und der notwendige Rückgriff auf Rechtsgrundsätze allgemeiner Natur — wie Gerechtigkeit und Billigkeit — lassen die arbiträre Funktion des Richters deutlich werden 1 1 . Diese Funktion ist der richterlichen Stellung auch i n einem hochdifferenzierten Rechtssystem nicht fremd; es werden hier jedoch Aufgaben erfüllt, die nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes dem parlamentarischen Gesetzgeber zugeordnet sind. Wenn der Richter sich auch dem Zwang zur Entscheidung nicht entziehen kann, so muß dennoch deutlich bleiben, daß mit solcherart gesetzesvertretender Judikatur die Grenzen der richterlichen Verantwortung überschritten sind. Es läge zwar am Gesetzgeber, einer solchen Kompetenzverschiebung ein Ende zu bereiten. Doch auch der Richter ist aufgerufen, die verfassungsrechtlichen Unterschiede der Verfahren und Organstellung zu wahren. Nimmt der Richter Normierungsaufgaben wahr, die ersichtlich Sache des Gesetzgebers wären, so sollte i n den Methoden der Rechtsbildung erkennbar sein, daß sie nur vorläufig und aus dem Zwang zur Entscheidung heraus — gewissermaßen treuhänderisch — erfüllt werden 1 2 . Vgl. dazu Esser, Vorverständnis S. 195. n Vgl. oben Teil I I , 2. Kap. 3 d. 12 Vgl. oben Teil I I I , 7. Kap. 3; 9. Kap. 4.
3. Prinzipielle Unzulässigkeit gesetzeskorrigiedenden Richterrechts
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Der Richter darf dagegen nicht die verfassungsrechtlich ohnehin bedenkliche Verschiebung der politischen Gewichtungen dadurch verschärfen, daß er, weil nicht wie der Gesetzgeber politischer Einflußnahme ausgesetzt, stärker in das Wirtschafts- und Sozialleben eingreift, als dies dem parlamentarischen Gesetzgeber möglich wäre 1 3 . Seine demokratische Legitimation reicht für eine so weitgehende sozialgestalterische Tätigkeit nicht aus. Überdies fehlt i n den Fällen gesetzesvertretenden Richterrechts gerade das der Unabhängigkeit, die den Richter zur Normierung ohne Rücksicht auf die politischen Kräfte befähigt, komplementäre Prinzip der Gebundenheit an die gesetzliche Norm, die seine Entscheidung vorzeichnet. 3. Prinzipielle Unzulässigkeit gesetzeskorrigierenden Richterrechts Gesetzeskorrigierendes Richterrecht, zuweilen als der allein problematische Fall des Richterrechts angesehen 14 , w i r f t die Frage nach der Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Richter in besonderer Schärfe auf. Auszugehen ist bei der Beurteilung judizieller Gesetzeskorrekturen von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzesgebundenheit des Richters: der Richter ist grundsätzlich nicht befugt, ein Gesetz abzuändern oder zu umgehen. Dieses Prinzip gilt jedoch nur für das verfassungsmäßige Gesetz. Für die Fälle, i n denen die Übereinstimmung eines Gesetzes mit den Wertungen des Grundgesetzes zweifelhaft ist, stellt die Verfassung das Normenkontrollverfahren zur Verfügung. Die Normenkontrolle ist — gleich ob vor- oder nachkonstitutionelles Recht zur Prüfung steht — ein einheitliches Institut, das bestimmte Garantien dafür enthält, daß der Richter sich über gesetzliche Normierungen nur dann hinwegsetzt, wenn sie eindeutig gegen die Verfassung verstoßen 15 . Es ist jedoch einzuräumen, daß Gesetze einem natürlichen Alterungsprozeß unterliegen, ihr normativer Gehalt nicht unverändert bleibt und sie einer gewandelten sozialen Wirklichkeit angepaßt werden müssen 16 . Diesem Umstand trägt der anerkannte Grundsatz der objektiven Auslegung Rechnung. Die Grenze der objektiven Auslegung ist jedoch dort erreicht, wo gegen den eindeutigen Wortlaut und Sinnzusammenhang verstoßen wird. Gelegentlich w i r d die Begrenzungsfunktion des Gesetzeswortlauts bestritten, weil er „so vage und . . . mani13 14 is iß
Vgl. Reuß A u R 1971, S.354; Scheuner DÖV 1960, S. 609. Vgl. H. J. Hirsch JR 1966, S. 341. Vgl. oben Teil I I I , 4. Kap. 2 c. Hierzu Kübler JZ 1969, S. 645.
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T e i l I I I , 10. Kap.: Schranken des Richterrechts — Ergebnisse
pulierbar" sei, daß er als Abgrenzungskriterium praktisch nichts mehr bedeute 17 . Diese Auffassung ist abzulehnen. Reißt man den möglichen Wortsinn als Schranke richterlicher Rechtsbildung ein, so w i r d man schwerlich eine neue errichten können. Es ist deshalb daran festzuhalten, daß der Wortlaut eines Gesetzes, unterliege er auch einem gewandelten Verständnis, die Auslegung prinzipiell begrenzt 18 . Eine Judikatur gegen den klaren Wortlaut eines Gesetzes mag gegenwärtiger Rechtsauffassung entsprechen und rechtspolitisch wünschenswert sein; i m Wege der Auslegung läßt sie sich jedoch nicht erreichen. Die Gesetzeskorrektur wiederum kann nur i m Normenkontrollverfahren erfolgen. Die richterliche Gebundenheit an das Gesetz w i r k t sich also auch i m Vorfeld des Gesetzeserlasses aus. Da i m Grundgesetz für politisch kontroverse Materien das offene und informeller Einflußnahme zugängliche Verfahren vorgesehen ist, ist der Richter, sofern der Gesetzgeber sich einer Materie angenommen hat, an das — auch negative — Ergebnis dieses Verfahrens gebunden. Der Rechtsprechung kommt also keine Reservefunktion bei der Normsetzung zu, dem Richter ist es vielmehr verwehrt, eine i m Parlament nicht erreichbare gesetzliche Regelung durch seine Judikate i n Kraft zu setzen. Diese aus dem Vorrang des Gesetzes und des Gesetzgebungsverfahrens folgende Schranke judizieller Rechtsbildungskompetenz setzt freilich voraus, daß die bestehende Regelung nicht als eindeutig verfassungswidrig erkannt wird. I n einem solchen Fall muß aber der Nachweis hierfür i m Verfahren der Normenkontrolle geführt werden. Dieses Ergebnis w i r d nicht nur von der durch Verfahren und Organstellung bestimmten grundgesetzlichen Kompetenzordnung gefordert, sondern erweist sich auch als Folge des Rechtssicherheitsprinzips 19 . Das Vertrauen auf den Bestand des Gesetzes muß so weit geschützt sein, als das Gesetz nicht i n einem verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren abgeändert wird. Die den Richter zur Gesetzeskorrektur veranlassende Sorge um die materielle Gerechtigkeit darf nicht zu einer Einbuße an Rechtssicherheit führen. Auch aus diesem Grunde kommt dem Gesetz, das Übergangsregelungen vorsehen kann und die größere Chance für allgemeine Rechtskenntnis bietet, bei der Änderung bestehenden Rechts der Vorrang zu. 4. Verfassungswidrigkeit gesetzeskonkurrierenden Richterrechts Die i m Rahmen dieser Untersuchung nachgewiesenen Beispiele gesetzeskonkurrierenden Richterrechts geben Anlaß, auf die Grenzen 17 So Kriele S. 223. So überzeugend F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 157 ff.: „ . . . der Wortlaut i n seiner Funktion als äußerste Grenze möglicher Konkretisierung . . . " (S. 157). 19 Vgl. oben Teil I I I , 9. Kap. 4. 18
3. Prinzipielle Unzulässigkeit gesetzeskorrigiedenden Richterrechts
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verfassungskonformer Auslegung hinzuweisen. Die verfassungskonforme Auslegung ist kein Institut, mit dessen Hilfe der Richter Gesetze gegen ihren Wortlaut verbessern oder zweckmäßiger gestalten könnte, sie dient vielmehr dazu — und dies entspricht den Intentionen des Bundesverfassungsgerichts bei der Rechtsprechung zu diesem Auslegungsgrundsatz 20 —, mögliche, von Wortlaut und Sinnzusammenhang nahegelegte Interpretationsmöglichkeiten, die sich als verfassungswidrig erweisen, auszuscheiden und der verfassungsmäßigen Auslegung den Vorrang zu geben 21 . Bei der Frage, ob eine bestimmte Interpretation m i t dem Grundgesetz vereinbar ist, gelten die gleichen Grundsätze, wie sie i n der Normenkontrolle anzuwenden sind: nur wenn der Gesetzgeber den ihm durch die Verfassung eingeräumten Gestaltungsspielraum eindeutig überschritten hat, darf der Richter eine Norm verfassungskonform auslegen. Ist aber die von ihm beabsichtigte Auslegung nicht mit dem Wortlaut vereinbar, kann sie nicht mehr als „Wille des Gesetzes" begriffen werden, so scheidet die verfassungskonforme Auslegung als Verfahren der Rechtskontrolle aus. Der Richter muß die fragliche Norm i m Wege der Normenkontrolle prüfen und gegebenenfalls dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 I GG vorlegen. Die verfassungskonforme Auslegung hat mithin einen sehr viel kleineren Anwendungsbereich, als vielfach angenommen w i r d 2 2 . Sie ist — auch bei vorkonstitutionellem Recht — kein allgemeines Revisionsinstrument für Gesetze am Maßstab der Verfassung, sondern umfaßt nur die Fälle, i n denen eine von mehreren Auslegungsmöglichkeiten wegen Widerspruchs zur Verfassung als unbeachtlich zu gelten hat. Bei der Prüfung, ob eine Norm oder eine bestimmte Auslegung eines Rechtssatzes sich i m Widerspruch zur Verfassung befindet, muß berücksichtigt werden, daß das Grundgesetz namentlich in den Grundrechten dem Gesetzgeber einen — wenn auch verschieden großen — Gestaltungsspielraum einräumt 2 3 . Das Modell der judiziellen Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen ist auf die Beziehung zwischen Gesetzgeber und Verfassung nicht übertragbar. Die Verfassung verhält sich zum einfachen Gesetz nicht wie das Allgemeine zum Besonderen, wobei letzteres inhaltlich umfaßt wird, sondern ist Anregung und Schranke der i m übrigen ungebundenen gesetzgeberischen Sozialgestaltung 24 . Diese Gestaltungsfreiheit, vom 20 Vgl. 21 Vgl. 22 Vgl. 23 Vgl. 24 Vgl.
oben oben oben oben oben
Teil Teil Teil Teil Teil
III, III, III, III, III,
4. Kap. 4. Kap. 4. Kap. 4. Kap. 5. Kap.
3 a. 3 d. 3 b u. e. 1 c. 3 d.
238
Teil I I I , 10. Kap.: Schranken des Richterrechts — Ergebnisse
Bundesverfassungsgericht immer wieder betont, ist vom Richter zu respektieren. Sofern ein Gesetz (noch) als Ausgestaltung des dem Gesetzgeber eingeräumten Spielraums begriffen werden kann, ist für verfassungskonforme Auslegung oder Normenkontrolle kein Anlaß gegeben. Das gilt auch i n den Fällen, i n denen die judizielle Normierung eines Rechtsgebietes der gesetzgeberischen vorausgegangen ist. Der bei solcherart vorläufig gesetzesvertretendem Richterrecht notwendige Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze — auch der Verfassung — läßt die richterliche Entscheidung nicht am Vorrang des Grundgesetzes teilhaben. Das Richterrecht empfängt wie das Gesetzesrecht Anregung und Begrenzung durch die Verfassung, es ist aber — ebensowenig wie ein Gesetz, das ein Grundrecht ausgestaltet — nicht selbst Verfassungsrecht 25. Richterrecht steht damit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Weicht er bei seiner Normierung von der ursprünglichen Judikatur ab, ist der Richter hieran gebunden; es sei denn, er führe den Nachweis, daß der Gesetzgeber die ihm durch die Verfassung gesetzten Grenzen eindeutig überschritten hat. I m übrigen ist es dem Richter verwehrt, sich i n ein Konkurrenzverhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber zu begeben.
25 Vgl. oben T e i l I I I , 5. Kap. 4.
Schlußbetrachtung Unsere Überlegungen zu den Typen des Richterrechts drängen zu der Forderung nach richterlicher Selbstbeschränkung. Dieser Begriff ist inhaltlich schwer zu umreißen. Er kann verallgemeinernd i n der Weise umschrieben werden, daß der Richter — und hier ist, wie i m Laufe der ganzen Untersuchung, i n erster Linie der Revisionsrichter gemeint — die Grenzen seiner rechtsbildenden Tätigkeit von den Verfahrensregelungen und dem durch sie und Grundsätze der Verfassung konstituierten Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber her bestimmen muß. Die grundgesetzliche Zuordnung von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt läßt sich nicht als die des Gegensatzes von Politik und Recht begreifen. Dieser Befund bleibt auch dann bestehen, wenn man — wie hier geschehen — einen deutlichen Trennungsstrich zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Revisionsgerichten zieht. Recht und Politik sind verschiedene Pole sozialer Gestaltung, nicht aber wesensmäßige Gegensätze. Richterliche Selbstbeschränkung i n dem hier verstandenen Sinne bedeutet deshalb nicht, daß der Richter die Möglichkeit haben soll, sich der Entscheidung einer politisch relevanten, weil offene Bewertung fordernden Streitfrage zu entziehen. Das Ausmaß richterlicher Verantwortung kann unter dem Grundgesetz nicht durch eine political-question-Doktrin 1 festgelegt werden. Ins Positive gewendet, erfordert richterliche Selbstbeschränkung ein methodisches Vorgehen, das den hier als verfassungsrechtlich prinzipiell zulässig erkannten Typen des Richterrechts die Garantie der Rationalität, Stabilität und Kontinuität vermittelt 2 . Das bedeutet zunächst, daß Richterrecht nur aus einem einsehbaren juristischen Begründungszusammenhang 3 entstehen kann. Der Mangel an Rationalität läßt sich — anders als bei Gesetzesrecht — nicht durch die verbindliche Setzung kompensieren, sondern führt bei Richterrecht zu einer Einbuße an Legitimität, läßt die Rechtsfortbildung als weniger „geglückt" 4 er1 Vgl. hierzu Scharpf, Grenzen richterlicher Verantwortung bes. S. 9 ff. u. 225 ff. 2 Vgl. H . P . Schneider S.38f.; Kriele S. 262 ff. 3 So Esser, Grundsatz u n d N o r m S. 52, 85 u. 238; Lerche DVB1. 1961, S. 691; Badura S. 49; Schlüter S. 97. 4 Vgl. Larenz, Kennzeichen geglückter Rechtsfortbildungen S. 5 ff.
240
Schlußbetrachtung
scheinen. Berechtigt ist deshalb die Forderung nach deutlicher Subsumtion und die K r i t i k daran, daß aus „Bildern" oder „Vorstellungen" statt aus Normen Rechtsfolgen abgeleitet werden 5 . Diese K r i t i k setzt freilich nicht voraus, daß die anzuwendenden Normen schon vorgegeben und nicht etwa judiziell zu bilden seien; sie beruht vielmehr auf der Forderung, daß auf jeder Stufe der Rechtsbildung einsichtig werden muß, welche Erwägungen mit welchem anerkannt rechtlichen Gehalt zu einer konkreten Norm führen. Nur ein rechtlicher Begründungszusammenhang vermag auch Stabilität und Kontinuität des Richterrechts zu gewährleisten. Eine sprunghafte Rechtsprechung könnte die an das Recht zu stellenden Anforderungen nicht erfüllen, ihr würde allenfalls eine tatsächliche Verbindlichkeit, nicht aber allgemeine Anerkennung zukommen. Richterliche Selbstbeschränkung bedeutet hier, daß der Einzelfall nur zögernd und nur so weit generalisiert wird, als die Folgen der Rechtsbildung abzusehen sind. Wenn auch das Richterrecht die an das Recht zu stellenden und das Recht konstituierenden Postulate weitgehend erfüllen kann, so bleibt die Grundaporie jedes Rechts, „die Forderung nach maximaler Objektivität trotz und gerade in geschichtlicher und sozialer Kontingenz" 6 für das Richterrecht unaufhebbar. Der Richter, der das aktuelle Rechtsbewußtsein vermittelt, aber auch prägt 7 , ist eingebunden in bestimmte gesellschaftliche Anschauungen von Gerechtigkeit und Angemessenheit. Diese Bedingtheit des Richterrechts w i r f t mit aller Schärfe die Frage auf, wer die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre Entwicklung bestimmen soll. Dem Richter kommt hierbei i n jeder Rechtsordnung ein großer Anteil und ein hohes Maß an Verantwortung zu. Das Grundgesetz hat die richterlichen Kompetenzen besonders weit gezogen. Dennoch muß bestritten werden, daß es die Befugnis auch zu weitgehender Gestaltung der gesellschaftlichen Grundprobleme enthält. Auch dem Grundgesetz entspricht das arbeitsteilige Zusammenwirken von Gesetzgeber und Richter, das sich in der Zuständigkeit des ersteren für die Normierung grundlegender Fragen und i n der einzelfallentscheidenden und regelbildenden Tätigkeit des letzteren manifestiert. Manche Linie mag hier unscharf geworden sein; für die Annahme eines Konkurrenzverhältnisses zwischen Richter und Gesetzgeber bietet die Verfassung jedoch keinen hinreichenden Anhaltspunkt. 5 Vgl. für das BVerfG Rauschning JZ 1967, S. 349. 6 So F. Müller, N o r m s t r u k t u r S. 39. 7 Vgl. Larenz M L S. 222 ff.
Schlußbetrachtung
241
Zwar erscheint die Befürchtung nicht unbegründet, es könnte ein neuer Rechtspositivismus aufkommen, der sich nicht mehr am sprachlich gedrängten und für Interpretation offenen Gesetz, sondern an den gänzlich anders strukturierten Begründungen richterlicher Entscheidungen orientiert 8 . Auch liegt der Gedanke nicht fern, daß m i t vermehrter Rechtsbildungspraxis der Revisionsgerichte eine Einbuße an Rechtskontrolle verbunden sein könnte, da ja die kontrollierenden Instanzen regelmäßig die Neubildungen des Rechts selbst initiieren 9 . Diese Tendenzen werden begünstigt durch einen unübersehbaren Bedarf des Wirtschaftslebens und der staatlichen Bürokratie an bindenden Entscheidungen. Der Richterstaat jedoch vermag die vermeintliche Schwäche des Gesetzgebungsstaates nicht auszugleichen 10 .
8
Vgl. Schlüter S. 50. 9 So Göldner S. 186. 10 Vgl. Badura S. 44. 16
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